Tagebücher als Quellen: Forschungsfelder und Sammlungen seit 1800 [1 ed.] 9783737011792, 9783847111795


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Tagebücher als Quellen: Forschungsfelder und Sammlungen seit 1800 [1 ed.]
 9783737011792, 9783847111795

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L’Homme Schriften Reihe zur Feministischen Geschichtswissenschaft

Band 27

Herausgegeben von Caroline Arni/Basel, Gunda Barth-Scalmani/Innsbruck, Ingrid Bauer/Wien und Salzburg, Mineke Bosch/Groningen, Boz˙ena Chołuj/Warschau, Maria Fritsche/Trondheim, Christa Hämmerle/Wien, Gabriella Hauch/Wien, Almut Höfert/Oldenburg, Anelia Kassabova/Sofia, Claudia Kraft/Wien, Ulrike Krampl/Tours, Sandra Maß/Bochum, Claudia Opitz-Belakhal/Basel, Regina Schulte/Berlin, Xenia von Tippelskirch/Berlin, Heidrun Zettelbauer/Graz

Die Bände dieser Reihe sind peer-reviewed.

Li Gerhalter

Tagebücher als Quellen Forschungsfelder und Sammlungen seit 1800

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Instituts für Geschichte der Universität Wien, dem Institut für Historische Sozialforschung, der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien, dem Verein zur Förderung der Dokumentation von Frauennachlässen, der Fakultätsvertretung Geisteswissenschaften an der Universität Wien und dem Verein zur Förderung von L’Homme. Z. F. G. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: »Ohne Titel« (2018) von Anna Reschl Fachlektorat: Brigitte Semanek, Korrektorat: Katharina Gerhalter Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2509-565X ISBN 978-3-7370-1179-2

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zielsetzung, Auswahl der Forschungsfelder und Thesen Theoretische Rahmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . Räume, Zeiten und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau der Studie und inhaltliche Vorausschau . . . . .

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1) »Mit warmem Herzen und offenem Sinn«: Elterntagebücher in der Säuglings- und Kleinkinderforschung ab 1800 . . . . . . . . . . . . . . 1.1) Die Verwissenschaftlichung der Kindheit . . . . . . . . . . . . . 1.2) Elterntagebücher in der Pädagogik ab 1800: August Ludwig von Schlözer und Joachim Heinrich Campe . . . . . . . . . . . . . . 1.3) Elterntagebücher in der evolutionsbiologischen Forschung ab 1880: William T. Preyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4) Erziehungsratgeber als praktische Umsetzung der Kinderforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5) Populäre Elterntagebücher und Lai/innenforschung um 1900: Gertrud und Ernst Scupin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6) Elterntagebücher in der Psychologie ab 1900: Clara und William Stern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.7) Spätere Einschätzungen der ›Tagebuchmethode‹ in der Entwicklungspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2) »Einstweilen die ergiebigste und sicherste Quelle«: Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1) Die Verwissenschaftlichung der Jugend . . . . . . . . . . . . . . 2.2) Erste Sammlungen von Selbstzeugnissen Jugendlicher: Fritz Giese und Siegfried Bernfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3) Zwei jugendpsychologische ›Standardwerke‹ auf der Grundlage von Tagebüchern: Eduard Spranger und Charlotte Bühler . . . .

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Inhalt

2.4) Das Psychologische Institut in Wien ab 1922: Charlotte Bühler und ihre Forschungsgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5) Tagebücher in der Jugendpsychologie ab 1919 . . . . . . . . . . 2.6) Tagebuchforschung in Konjunktur: Charlotte Bühler und Siegfried Bernfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7) Soziale Schicht als Analyseperspektive in der Jugendpsychologie 2.8) Geschlecht als Analyseperspektive in der Jugendpsychologie . . 2.9) Die Materialität der Tagebuchsammlungen – und ihr Verschwinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.10) Tagebücher in der Jugendpsychologie nach 1945 . . . . . . . . . 3) »Ich freue mich darüber, dass meine Mutter in dieser Form weiterleben wird«: Tagebücher in historisch ausgerichteten Sammlungen ab den 1980er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1) Tagebücher in den Geschichtswissenschaften ab den 1980er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2) Historisch ausgerichtete Sammlungen für Selbstzeugnisse seit 1956 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3) Typisierungen von Sammlungen für Selbstzeugnisse . . . . . . . 3.4) Übergeber/innen von Selbstzeugnissen an Sammlungen als »Citizen Scientists« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5) Soziale Schicht als Analyseperspektive: Tagebücher von Arbeiter/innen und Dienstbot/innen in Sammlungen . . . . . . 3.6) Geschlecht als Analyseperspektive: Tagebücher von Frauen und Männern in Sammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4) »Von nun an wird dieses Buch der Brunnen aller meiner Geheimnisse sein«: Historische Tagebücher von Mädchen kulturwissenschaftlich gelesen um 2020 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1) »Erwartungshaltungen« an das Genre Tagebuch . . . . . . . . . 4.2) Anlässe und Motivationen zum Tagebuchschreiben . . . . . . . 4.3) Anlässe und Motivationen, ein »kommerzielles Fertigtagebuch« zu verwenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4) Das Geheimnis als eine Funktion des Tagebuchschreibens . . . .

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»Nun muß ich noch schreiben, daß alles (…) als Gedanken der Zeit aufgefaßt werden muß«: Abschluss und Ausblicke . . . . . . . . . . . . .

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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

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Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verzeichnisse . . . . . . . . Sammlungen und Archive Forschungsliteratur . . . Tabellen und Diagramme

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Einleitung

Im Oktober 1921 veröffentlichte Charlotte Bühler (geb. Malachowski, 1893–1974) die Studie »Das Seelenleben des Jugendlichen« im renommierten Fachverlag Gustav Fischer in Jena. Das Buch war innerhalb von fünf Monaten vergriffen und wurde zu einer der Grundlagen des wissenschaftlichen Erfolgs der jungen Psychologin.1 Aufgebaut war die Publikation unter anderem auf den Tagebüchern von drei Jugendlichen. In der zweiten Auflage von 1923 stellte Bühler fest: »Ich kann mir einstweilen noch keine bessere Quelle als das Tagebuch denken und bin nach wie vor für weitere, die mir zur Verfügung gestellt werden, überaus dankbar.«2 Der Aufruf war erfolgreich, und sie konnte in den folgenden Jahren gemeinsam mit ihrer Forschungsgruppe am Psychologischen Institut in Wien eine umfangreiche Sammlung von Selbstzeugnissen zusammenstellen. »Das Seelenleben des Jugendlichen« wurde in modifizierten Ausgaben bis 1929 insgesamt fünfmal aufgelegt. Bühler wird zugeschrieben, das »Tagebuch als Quelle jugendkundlicher Forschung entdeckt zu haben.«3 Diese prominente Position näher zu kontextualisieren war der Ausgangspunkt für dieses Buch.

Zielsetzung, Auswahl der Forschungsfelder und Thesen Das Ziel der Studie ist es, die Verwendung von Tagebüchern als wissenschaftliche Quellen zu historisieren. Wie wurden sie zu unterschiedlichen Zeiten in verschiedenen Disziplinen beforscht, und wie wurden sie gesammelt? Wer waren die Akteur/innen? Welche Erkenntnisinteressen haben sie verfolgt? Wessen Tagebücher wurden ausgewertet? Und was wurde dabei jeweils als Tagebuch verstanden? 1 Charlotte Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen. Versuch einer Analyse und Theorie der psychischen Pubertät, Jena 1923², S. VII. 2 Ebd.: S. VIII. 3 Gerald Bühring: Charlotte Bühler oder Der Lebenslauf als psychologisches Problem, Frankfurt am Main/u. a. 2007, S. 70.

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Einleitung

Der Fokus liegt zudem auf Forschungsfeldern, die sich wissenschaftlich mit Aufzeichnungen dezidiert von Personen beschäftigt haben, die nicht in einer prominenten Öffentlichkeit standen. Es geht nicht um die Arbeit mit Tagebüchern etwa von Schriftsteller/innen, Politiker/innen oder ›Kriegsherren‹, sondern um jene Forschungen, die sich zum Beispiel mit Selbstzeugnissen von Lehrer/ innen, Näher/innen oder Jugendlichen auseinandergesetzt haben. Einen solchen Schwerpunkt verfolgten die Pädagogik und Kleinkinderforschung des 19. ›langen‹ Jahrhunderts (→ Kapitel 1), die bereits erwähnte Jugendpsychologie der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts (→ Kapitel 2) sowie die alltags-, kulturund frauen-/geschlechterhistorisch ausgerichtete Geschichtsforschung seit den 1980er-Jahren (→ Kapitel 3 und 4). Diese drei Forschungsfelder stehen nicht in einem direkten Bezug zueinander und in keiner genealogischen Logik, auch gab es zwischen ihnen keinen wesentlichen inhaltlichen Austausch. Die Gemeinsamkeit – und damit der rote Faden der Untersuchung – liegt in der entscheidenden Rolle, die die Verwendung von diaristischen Aufzeichnungen hier gespielt hat oder noch spielt. Diese waren dabei in den jeweiligen Anfängen der drei Forschungsfelder zentrale Quellen; jede dieser (Teil-)Disziplinen hat (mit völlig unterschiedlichen Fragestellungen) grundlegendes Wissen darauf aufgebaut. Tagebücher begegnen uns hier als äußerst ergiebige und gleichermaßen flexible Quellen mit vielfältigem Aussagewert für wissenschaftliche Auswertungen. Während in der Pädagogik, der Kleinkinderforschung und in der Jugendpsychologie die dort sogenannte Tagebuchmethode in ihrer Bedeutung abgelöst wurde, ist die Selbstzeugnisforschung in der Geschichtswissenschaft ein derzeit prosperierendes Feld. In diesem Buch werden die Entwicklungen dieser unterschiedlichen selbstzeugnisbasierten Forschungsfelder nachgezeichnet. Der Fokus der Darstellung liegt dabei weniger auf den Inhalten, die in den einzelnen Disziplinen auf der Grundlage von Tagebüchern erarbeitet wurden. Er liegt vielmehr auf den Arbeitswegen, die dabei zurückgelegt worden sind. Es wird gefragt, wer hier jeweils aktiv gewesen ist, wie geforscht wurde und woher die Quellen gekommen sind. Die verschiedenen Formen der Organisation der Forschungs- und Sammeltätigkeiten stehen exemplarisch für zeitgebundene Wissenschaftspraktiken. Der Bogen spannt sich entsprechend über unterschiedliche Kontexte und personelle Zusammensetzungen: Die Pädagogen und Physiologen des 19. Jahrhunderts waren zum Großteil Autodidakten. Und sie waren ausschließlich Männer. Unter den Psycholog/innen und Sprachwissenschafter/innen der Jahrhundertwende waren auch vereinzelt Frauen zu finden. Alle Kleinkinderforscher/innen haben ihre Quellengrundlagen selbst zusammengetragen – häufig sogar selbst geschrieben. Insgesamt haben wir es hier mit einigen wenigen Akteur/innen zu tun. Die Jugendpsycholog/innen der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts hatten alle eine akademische Ausbildung durchlaufen. Die hier tätigen Frauen zählten

Zielsetzung, Auswahl der Forschungsfelder und Thesen

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durchwegs zu den ersten Absolvent/innen der für sie neu geöffneten Universitäten. Einige der Vertreter/innen haben umfangreiche Quellensammlungen angelegt, die auch ihre Fachkolleg/innen und Studierenden nützen konnten. Das wissenschaftliche Feld war inzwischen sehr viel breiter geworden, in der noch jungen Disziplin der Jugendpsychologie war es aber ebenfalls noch überschaubar. Sowohl die Kinder- als auch die Jugendforscher/innen wollten auf Basis von Tagebuchaufzeichnungen ein standardisiertes Wissen über die menschliche Entwicklung erarbeiten. Die alltagshistorisch ausgerichtete Geschichtsforschung des späten 20. Jahrhunderts war völlig anders ausgerichtet. Sie verfolgte klare zivilgesellschaftliche Ansprüche. Die Schreiber/innen wurden hier nicht als stereotype Proband/innen verstanden, deren Identitäten in den Publikationen anonymisiert werden, vielmehr waren gerade subjektive Aspekte ihrer persönlichen Lebensgeschichten oder individuelle Praktiken von Interesse. Tagebücher und andere Selbstzeugnisse wurden und werden jetzt zu verschiedensten Zwecken im Rahmen von unterschiedlichsten Initiativen gesucht, gesammelt, ausgewertet und ediert. Diese Projekte waren und sind nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der akademischen Sphäre angesiedelt. Dementsprechend ist die aktuelle Arbeit mit Selbstzeugnissen im Umfeld der Geschichtsforschung ein kaum noch überschaubares Feld – mit einem enormen Potential. Diese hier grundrissartig skizzierten veränderten Forschungspraktiken werden in den einzelnen Kapiteln des vorliegenden Buches detailliert dargestellt. Grundgelegt ist dabei die folgende These: Eine historische Darstellung von Konjunkturen der Selbstzeugnisforschung kommt nicht aus ohne eine entsprechende historische Darstellung der Selbstzeugnissammlungen. Genügend verfügbare Quellen sind die Voraussetzung für jede wissenschaftliche Arbeit. Wie leicht oder schwer die Forscher/innen Zugang dazu haben, hat einen wesentlichen Einfluss auf ihre inhaltlichen Ergebnisse. Wer Quellen erst selbst aufspüren oder ›herstellen‹ muss, wird viel Zeit damit verbringen. Wer Quellen in Archivbeständen vorfindet, die bereits für den Zweck der zukünftigen wissenschaftlichen Auswertung aufgebaut wurden, hat es entsprechend einfacher. Wohl ist auch die Recherche- und Forschungsarbeit in einem Archiv zeitaufwändig. Der Weg zur Analyse der dort verfügbar gemachten Wissensbestände ist jedoch abgekürzt.4 In dem eingangs gebrachten Zitat von Charlotte Bühler ist das bereits 4 Die Debatte um die Begrifflichkeiten »Archiv« und »Sammlung« wird in dieser Studie nicht vertieft. Die Begriffe werden alternierend verwendet bzw. entsprechend der Selbstbezeichnungen der einzelnen genannten Einrichtungen. In den formalisierten Archivwissenschaften sind sie klar definiert. Eine Position ist auf der Website des Österreichischen Staatsarchivs ausgeführt: »Der populäre Sprachgebrauch verwendet den Begriff ›Archiv‹ heute derart inflationär, dass beinahe alles, was Altes, aber noch Wertvolles bzw. Nützliches aufbewahrt und zugänglich macht, als Archiv bezeichnet wird.« Die Bewegungsaktivist/innen Cornelia Wenzel und Jürgen Bacia schildern eine andere Position: »Die Selbstbezeichnungen [vieler Samm-

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Einleitung

angesprochen worden: Sie würde noch »weitere« Tagebücher suchen.5 Hilfe erhoffte sie sich dabei von den Leser/innen ihrer Publikation. Hier knüpft die zweite dieser Studie grundgelegte These an: Die Selbstzeugnisforschung wird von drei Akteur/innengruppen getragen. Es sind das erstens die Forscher/innen, die ein wissenschaftliches Interesse an diesen bestimmten Quellen haben, zweitens die Archivar/innen, die sie sammeln und aufbereiten, sowie drittens jene Personen, die die persönlichen Aufzeichnungen »zur Verfügung« stellen. Die Formulierung »zur Verfügung stellen« verwendete auch Charlotte Bühler – und sie versprach, sie sei für alle weiteren Tagebücher »überaus dankbar«. Die drei Akteur/innengruppen haben durchaus verschiedene Interessen, sie bedingen sich aber gegenseitig. Ziel der Darstellung ist es, sie gleichrangig in den Blick zu nehmen, zumindest soweit das anhand der verfügbaren Informationen möglich ist. Um die zentrale Rolle der Übergeber/innen von Selbstzeugnissen in der selbstzeugnisbasierten Forschung auch sprachlich zu markieren, schlage ich zudem vor, sie mit dem aktuellen Begriff »Citizen Scientists« zu bezeichnen.6 Hier angeknüpft ist die dritte dieser Studie grundgelegte These: Die inhaltlichen Schwerpunkte der selbstzeugnisbasierten Forschungs- und Sammlungstätigkeiten hatten und haben einen wesentlichen Einfluss darauf, welche auto/ biografischen Formate überhaupt wissenschaftlich wahrgenommen und damit sichtbar gemacht wurden – und welche nicht. Anhand der beispielhaft vorgestellten drei Disziplinen kann einerseits gezeigt werden, wie wissenschaftliche Interessenslagen die Archivierung und Edition bestimmter Formate beeinflusst haben. Damit wurden diese dauerhaft gesichert. Andererseits wird deutlich, dass die Forscher/innen und Sammler/innen zugleich aktiv an der Herstellung jener Quellengrundlagen beteiligt waren, die sie für ihre eigenen wissenschaftlichen Fragestellungen benötigten. Das gilt – auf den ersten Blick vielleicht überraschend – auch für auto/biografische Aufzeichnungen. Auch deren Inhalte und Formate sind mitunter durch inhaltlich gestaltete Sammlungs- und Schreiblungseinrichtungen] lauten nicht unbedingt Archiv, sondern zum Beispiel auch: Informationsstelle, Dokumentationszentrum, Bibliothek, Bildungszentrum, Pressearchiv oder Infoladen. Dabei spielen historisch gewachsene Definitionen der ›klassischen‹ Einrichtungen und deren Sparteneinteilung kaum eine Rolle. Viele [Einrichtungen] sind von ihren Beständen her eine Mischform aus Archiv, Bibliothek, Dokumentationsstelle und manchmal auch Museum. Das wäre an sich zu verkraften.« Österreichisches Staatsarchiv: Kleines Archiveinmaleins (o. J)., unter: www.oesta.gv.at/benutzung/glossar.html; Jürgen Bacia und Cornelia Wenzel: Die Archive der Protest-, Freiheits- und Emanzipationsbewegungen. Ein Überblick, in: Archivar, Jg. 70, 2017, Heft 2, S. 130–142, S. 130. (Alle in diesem Kapitel zitierten Websites und Webressourcen wurden zuletzt aufgerufen am 7. Oktober 2020.) 5 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 1923², S. VIII. 6 Dazu Peter Finke: Citizen Science. Das unterschätzte Wissen der Laien, München 2014 und Susanne Hecker, Muki Haklay, Anne Bowser, Zen Makuch und Johannes Vogel (Hg.): Citizen Science: Innovation in Open Science, Society and Policy, London 2018.

Theoretische Rahmungen

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aufrufe wissenschaftlich gesteuert worden. Dazu kann wiederum das Zitat von Charlotte Bühler als Beleg herangezogen werden: Sie war »dankbar« für ganz bestimmte Quellen (Jugendtagebücher). Nach diesen hat sie gesucht – und diese hat sie auch bekommen.

Theoretische Rahmungen Definitionen der Begriffe ›Tagebuch‹, ›Selbstzeugnis‹ und ›auto/biografisch‹ In den bisherigen Ausführungen wurden die Begriffe ›Tagebuch‹ und ›Selbstzeugnisse‹ teilweise synonym verwendet. Hier zeigt sich bereits: Diese Studie zu »Tagebüchern als Quellen« handelt nicht nur von Tagebüchern. Der Grund dafür liegt im Umstand, dass die zu unterschiedlichen Zeiten praktizierte Tagebuchforschung oft nicht zu trennen ist von der Forschung mit Selbstzeugnissen allgemein. Diese Feststellung kann als ein Ergebnis der Arbeit bereits hier herausgegriffen werden. Die Kleinkinderforschung im 19. Jahrhundert hat sich noch ausschließlich mit (einer bestimmten Form von) Tagebüchern beschäftigt. Entsprechend kann sich auch die Darstellung darauf beschränken. Sowohl für die Jugendpsychologie im frühen und die Geschichtswissenschaften seit dem späten 20. Jahrhundert würde ein derartig enger Fokus auf dieses einzige Genre aber nicht sinnvoll sein. In beiden Forschungsfeldern waren bzw. sind Tagebücher eines von mehreren auto/biografischen Formaten, die als Quellen gesammelt und ausgewertet wurden bzw. werden. Entsprechend gibt es derzeit keine historisch ausgerichtete Sammlung, die nur Tagebücher in ihrem Bestand hat. Dieser Befund ist ein weiteres der allgemeinen Ergebnisse der vorliegenden Studie. Die durchwegs gängige vermischte Verwendung von unterschiedlichen Selbstzeugnissen sowohl in der Forschung als auch in den Sammlungen führt also dazu, dass auch die Ausführungen in diesem Buch zuweilen ( je nach Thema) auf verschiedene auto/biografische Formen rekurrieren. Damit werden aber gleichzeitig Möglichkeiten eröffnet, die wissenschaftliche Verwendung von Tagebüchern im Vergleich zur wissenschaftlichen Verwendung anderer Formate zu konturieren. Als ›Tagebuch‹ oder ›diaristische Aufzeichnungen‹ werden in dieser Studie auto/biografische Formate mit den folgenden vier Merkmale verstanden: Sie haben Einträge, die 1) nach Tagen strukturiert sind, 2) eine zeitliche Nähe zu den festgehaltenen Ereignissen haben, 3) eine gewisse Regelmäßigkeit aufweisen und 4) eine subjektive Perspektive der Verfasser/innen erkennen lassen. Die Inhalte, Formen und Formate können dabei vielfältig sein und historisch wandelbar. Sie sind möglicherweise introspektiv, nüchtern berichtend, auf ein bestimmtes Thema beschränkt, in Prosa oder in Stichworten geschrieben, in unauffälligen

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Einleitung

Schreibheften, in Kalendern, auf losen Zetteln, in schmucken Büchern mit einem seitlich angebrachten Schloss oder am Computer. Dieses offene Genreverständnis ist eingebettet in aktuelle literatur- und kulturwissenschaftliche Diskussionen.7 Diese werden nicht zuletzt auf der Grundlage von immer weiteren neuen Quellenbeständen geführt und weiterentwickelt, die in den in → Kapitel 3 beschriebenen historisch ausgerichteten Sammlungen inzwischen zur Verfügung stehen. Tagebücher oder diaristische Aufzeichnungen sind eine bestimmte Erscheinungsform von ›Selbstzeugnissen‹. Auch in Bezug auf diesen übergeordneten Begriff plädiere ich für eine dezidiert offen gefasste Kategorisierung. Nach meinem Verständnis sind alle geschriebenen (mehr oder weniger individuell und ich-bezogenen) »Selbstaussagen«8 als Selbstzeugnisse zu bezeichnen. Ich schließe damit an Definitionsvorschläge an, die im Rahmen der historischen »life writing-Forschung« diskutiert werden.9 Das theoretische Fundament dazu wurde einerseits im Zuge der Beschäftigung mit Formen der ›popularen Autobiographik‹ erarbeitet,10 andererseits im Zuge der feministischen Auseinandersetzung mit auto/biografischen Praktiken.11 Das hauptsächliche Motiv war und ist dabei, den literaturwissenschaftlich bisweilen eng gefassten Gattungsbegriffen »offenere Konzepte« gegenüberzustellen, »die der Vielfalt und Unterschiedlichkeit autobiographischen Schreibens besser gerecht werden« könnten.12 7 Als Überblick dazu u. a. Christa Hämmerle und Li Gerhalter: Tagebuch – Geschlecht – Genre im 19. und 20. Jahrhundert, in: Li Gerhalter und Christa Hämmerle (Hg.): Krieg – Politik – Schreiben. Tagebücher von Frauen (1918–1950), Wien/Köln/Weimar 2015, S. 7–31. 8 Peter Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften. Geschichte der Jugendforschung in Deutschland und Österreich, Opladen 1990, S. 198. 9 Als ersten Überblick zu einer geschlechtsspezifischen historischen »life writing-Forschung« siehe Claudia Ulbrich, Gabriele Jancke und Mineke Bosch: Editiorial des Themenhefts Auto/ Biographie von L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft (Z. F. G.), Jg. 24, 2013, Heft 2, S. 5–10. Begriff auf S. 5. 10 Der Begriff ›populare Autobiographik‹ wurde geprägt von Bernd Jürgen Warneken: Populare Autobiographik. Empirische Studien zu einer Quellengattung der Alltagsgeschichtsforschung, Tübingen 1985. Ein komprimierter Überblick zu verschiedenen Positionen der seit mehreren Jahrzehnten dazu geführten Diskussion findet sich in Volker Depkat: Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, München 2007, S. 23–32. 11 Proponentinnen dieser vor allem im angloamerikanischen Raum geführten Debatten sind u. a. die Literaturwissenschafterinnen Sidonie Smith, Julia Watson und Liz Stanley. Eine umfangreiche Textsammlung früher Beiträge ist zusammengefasst in Sidonie Smith und Julia Watson: Women, Autobiography, Theory. A Reader, Madison 1998. Ein aktuelles Diskussionsangebot findet sich u. a. in dies.: Reading Autobiography. A Guide for Interpreting Life Narratives. Second Edition, Minneapolis 2010. 12 Interview von Gabriele Jancke und Claudia Ulbrich mit Julia Watson: Autobiographical Acts, in: L’Homme. Z. F. G., Jg. 24, 2013, Heft 2, S. 119–124, S. 120. Wiederabdruck in Ingrid Bauer, Christa Hämmerle und Claudia Opitz-Belakhal (Hg.): Politik – Theorie – Erfahrung. 30 Jahre feministische Geschichtswissenschaft im Gespräch, Göttingen 2020, S. 237–244.

Theoretische Rahmungen

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Der ebenfalls übergeordnete Begriff ›auto/biografisch‹ wird im Anschluss an die feministische Soziologin und Literaturwissenschafterin Liz Stanley gebraucht. Sie hat unter diesem Terminus alle Formen »of writing a life« zusammengefasst.13 In meiner Verwendung geht das Auto/biografische insgesamt noch über die geschriebenen Formen hinaus. In Anlehnung an das Konzept der »life narratives« von Sidonie Smith und Julia Watson14 werden hier jegliche Varianten von Selbstaussagen miteingeschlossen. Das umfasst neben geschriebenen oder audio/visuellen Darstellungen auch mündliche Erzählungen. Genau genommen also alle Quellen, »in denen Individuen etwas über ihr persönliches Leben und ihre Gefühle erzählen oder preisgeben«, wie es der Historiker Thomas Etzemüller in seiner Überblicksdarstellung zur Biografieforschung definiert hat.15 Mit einem solchen weiten Verständnis davon, was auto/biografische Aussagen sein können, werden zwei Absichten verfolgt: 1) Es soll der Kreis historischer Akteur/innen erweitert werden, denen damit Gehör verschafft werden kann. Wenn etwa von Textilarbeiterinnen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Archiven bisher keine Tagebücher vorliegen (→ Abschnitt 3.5), müssen schlichtweg andere Formate wie zum Beispiel die Antworten auf Schreibaufrufe berücksichtigt werden. 2) Es sollen damit sowohl die Formenvielfalt als auch der performative Gehalt16 betont werden, welche allen Selbstzeugnissen immer innewohnen. Wichtig erscheint mir dabei insbesondere das Moment der Nachahmung bzw. Überformung.17 Diese Aspekte werden in → Kapitel 4 im Rahmen einer historisch-kulturwissenschaftlichen Auswertung am Beispiel der Tagebücher von jugendlichen Mädchen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts näher ausgeführt. Die Wahl fiel dabei nicht zuletzt deshalb auf dieses (Sub-)Genre, da es wohl besonders stark mit Aspekten wie ›Innerlichkeit‹, ›Spontaneität‹ etc. in Verbindung gebracht wird. Diese Zuschreibungen wurden u. a. von Charlotte Bühler bereits in den 1920er-Jahren statuiert (→ Kapitel 2).18 Solche mit Vorur13 Liz Stanley: Moments of Writing: Is there a feminist Auto/Biography?, in: Gender and History, Jg. 2, 1990, Heft 1, S. 58–67, S. 59; dies.: Process in Feminist Biography and Feminist Epistemology, in: Teresa Iles (Hg.): All sides of the subject. Women and biography, New York 1992, S. 109–125; dies.: The Auto/biographical I. The Theory and Practice of Feminist Auto/ biography, Manchester 1995. 14 Smith und Watson: Reading Autobiography, 2010, S. 1–19. 15 Thomas Etzemüller: Biografien. Lesen – erforschen – erzählen, Frankfurt am Main 2012, S. 62f. 16 Jancke und Ulbrich mit Watson: Autobiographical Acts, 2013, S. 120; Smith und Watson: Reading Autobiography, 2010, S. 63–101. 17 Christiane Holm: Montag Ich. Dienstag Ich. Mittwoch Ich. Versuch einer Phänomenologie des Diaristischen, in: Helmut Gold, Christiane Holm, Eva Bös und Tine Nowak (Hg.): @bsolut privat!? Vom Tagebuch zum Weblog, Heidelberg 2008, S. 10–50, S. 35. 18 Dazu u. a. Charlotte Bühler: Die Bedeutung des Tagebuchs für die Jugendpsychologie, in: dies. (Hg.): Zwei Knabentagebücher (Quellen und Studien zur Jugendkunde, Bd. 3), Jena 1925, S. V–XIV, S. VIIIf.

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Einleitung

teilen behafteten und gleichermaßen langlebigen »Erwartungshaltungen«19 zu hinterfragen ist einer der Ansprüche dieser Studie.

Definition von ›hergestellten‹ und ›vorgefundenen Selbstaussagen‹ Bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit auto/biografischen Formaten fällt über kurz oder lang auf, dass diese auf zwei verschiedene Weisen entstanden sein können: 1) Sie wurden von ihren Verfasser/innen zu einem anderen Zweck (mehr oder weniger) in Eigeninitiative geschrieben und dann (zumeist zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt) den Forscher/innen oder Sammler/innen übergeben. 2) Sie wurden auf direkte Anregung der Wissenschafter/innen hin angefertigt. Beide Möglichkeiten ziehen sich durch alle in der Studie vorgestellten Forschungsfelder und beide konnten und können sehr unterschiedlich gestaltet sein, wie die folgenden Beispiele von angeregten Formaten exemplarisch zeigen: Die Schreiber/innen der wissenschaftsgeleiteten Elterntagebücher entnahmen die strengen Vorgaben zu deren Gestaltung vornehmlich aus fachspezifischen Publikationen (→ Kapitel 1). Jugendpsycholog/innen gaben Schulaufsätze in Auftrag und führten Experimente wie Intelligenztests durch (→ Kapitel 2). Aktuell lancieren historisch ausgerichtete Sammlungseinrichtungen thematische Schreibaufrufe oder initiieren Oral History-Projekte (→ Kapitel 3). So unterschiedlich diese Fälle gelagert sind: In allen zeigt sich deutlich ein Zusammenhang von wissenschaftlichen Themenkonjunkturen und dem Generieren von (neuen) Formen auto/biografischer Aufzeichnungen. Die Forscher/innen regten die Quellen an, die historischen Akteur/innen produzierten sie. Um die zwei verschiedenen Entstehungsweisen zu benennen, wurden in der Forschungsliteratur unterschiedliche Formulierungen verwendet. Ich greife zwei davon auf, um daraus einen eigenen Vorschlag zu formulieren. Thomas Etzemüller hat zwischen »hergestelltem und vorgefundenem Material« unterschieden,20 der Erziehungswissenschafter Peter Dudek sprach von »spontanen und provozierten Selbstaussagen«.21 Meine Ableitung daraus sind die gegenübergestellten Begriffspaare der ›hergestellten Selbstaussagen‹ und der ›vorgefundenen Selbstaussagen‹. Diese Formulierungen sollen jene Prozesse bezeichnen und betonen, in denen auto/biografische Aufzeichnungen wie Tagebücher zu wissenschaftlichen Quellen gemacht werden. Hier spielen sowohl die Forscher/ innen oder Sammler/innen als auch die Schreiber/innen oder Sprecher/innen 19 Renate Hof: Einleitung: Gender und Genre als Ordnungsmuster und Wahrnehmungsmodelle, in: dies. und Susanne Rohr (Hg.): Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay, Tübingen 2008, S. 7–24, S. 14. 20 Etzemüller: Biografien, 2012, S. 81. 21 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 198.

Theoretische Rahmungen

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eine jeweils aktive – und gleichberechtigte – Rolle.22 Die einen geben ihre Selbstaussagen ab – die anderen suchen sie und finden sie vor. Oder sie regen sie an und stellen sie damit erst her. Diese Beobachtung verstehe ich als einen zentralen Aspekt für die Auto/biografie- bzw. Selbstzeugnisforschung, deren Debatten sich ja u. a. an der Frage der ›Authentizität‹ bzw. ›Unmittelbarkeit‹ der verschiedenen Formate abarbeiteten. Im Zusammenhang mit den in diesem Buch exemplarisch besprochenen drei Forschungsfeldern lässt die Auswahl der jeweiligen auto/biografischen Formen viele Rückschlüsse zu. Sie legt zum einen offen, welche auto/biografischen Formen die Wissenschafter/innen wahrgenommen haben. Diese Auswahl soll nicht als ein Abbild vergangener Aufzeichnungspraktiken missverstanden werden. Zum anderen lässt sich daran ablesen, wessen Selbstaussagen für die Forschung zuweilen Relevanz hatten, und wem dadurch welcher Grad von Mitgestaltungsmöglichkeiten an den Inhalten zugestanden wurde. Ein detaillierter Abriss der aktuell gesammelten und beforschten ›vorgefundenen‹ und ›hergestellten‹ Formen wird in → Kapitel 3 geboten. Die exemplarische Auswertung eines konkreten Formats, der Tagebücher von Mädchen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in → Kapitel 4.

›Analyseperspektive soziale Schicht‹ Die Studie folgt insgesamt einem intersektionalen Anspruch.23 Die Frage danach, wessen auto/biografische Aufzeichnungen überhaupt von wem und mit welchen Intentionen gesammelt oder beforscht wurden, bezieht sich auf die »Analyseperspektiven« ›Geschlecht‹ und ›soziale Schicht‹. Diese werden – nach Mög-

22 Die Definition von Thomas Etzemüller bezieht sich rein auf die Position der Forscher/innen oder Sammler/innen. Die Verfasser/innen kommen im Begriff »Material« nicht vor, wohl aber in der Formulierung »Selbstaussagen« von Peter Dudek. Sein Vorschlag der »spontane[n] Selbstaussagen« wurde nicht vollständig übernommen, weil darin wiederum der Aspekt nicht zum Ausdruck kommt, dass das Verfassen jeglicher Selbstzeugnisse immer auch in einer gewissen Weise von außen angeregt ist. 23 »Intersektionalität« wir hier im Sinn der Definition von Heike Mauer verstanden als die »Verwobenheit von Geschlechterverhältnissen mit anderen gesellschaftlichen Struktur- bzw. Identitätskategorien und den damit verbundenen Machtdifferenzen, Herrschaftsverhältnissen und Ungleichheiten.« Heike Mauer: Intersektionalität operationalisieren! Theoretische und methodische Überlegungen für die Analyse des Prostitutionsdiskurses in Luxemburg um 1900, in: Veronika Helfert, Jessica Richter, Brigitte Semanek, Alexia Bumbaris und Karolina Sigmund (Hg.): Frauen- und Geschlechtergeschichte un/diszipliniert? Aktuelle Beiträge aus der jungen Forschung, Innsbruck/Wien/Bozen 2016, S. 119–142, S. 122.

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lichkeit – konsequent verfolgt. Mit der Begrifflichkeit ›Analyseperspektive‹ folge ich einem Vorschlag der Historikerin Claudia Opitz-Belakhal.24 Die Frage nach der ›Analyseperspektive soziale Schicht‹ geht in dieser Studie in zwei Richtungen: Zum einen wird danach gefragt, welche Bevölkerungsgruppen zu unterschiedlichen Zeiten von der selbstzeugnisbasierten Forschung in den Blick genommen worden sind. Sowohl die Pädagogik und Kleinkinderforschung des 19. Jahrhunderts als auch die Jugendpsychologie der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts stellt sich dabei rasch als einseitig heraus. Das Bürger/innentum hat sich hier sozusagen selbst beforscht. Tendenzielle Einschätzungen der jugendkundlichen Schwerpunkte werden durch die Auswertung der Literaturverzeichnisse von zwei Studien ermöglicht. Als zeitgenössisches Beispiel wird dazu »Das Seelenleben des Jugendlichen« von Charlotte Bühler aus dem Jahr 1929 gewählt, aus der Fachgeschichte die umfangreiche Arbeit »Jugend als Objekt der Wissenschaften« von Peter Dudek von 1990. Eine Rolle bei der genannten einseitigen Perspektive spielten nicht zuletzt die personellen Überschneidungen der Jugendforschung mit der bürgerlichen Jugendbewegung, die sich von Beginn an selbst dokumentiert und auch analysiert hat. Einer der bekanntesten Akteure war hier der Pädagoge und Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld (1892–1953). Bildungsfernere Schichten wurden stattdessen vornehmlich gekreuzt mit Fragen nach ›Devianz‹ beforscht. Dieser Blickwinkel wird auch in der 1933 veröffentlichten Studie »Aus dem Seelenleben verwahrloster Mädchen« eingenommen.25 Dabei handelt es sich um die einzige Monografie zu Tagebüchern von proletarischen Diaristinnen aus der Zwischenkriegszeit, weswegen sie entsprechend besondere Erwähnung finden soll. In den alltags- und frauenhistorischen Projekten der 1980er- und 1990er-Jahre stellte sich die Situation genau umgekehrt dar. Einrichtungen wie die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen an der Universität Wien fokussierten in ihren Anfängen konkret auf Schreiber/innen der damals sogenannten ländlichen Unterschichten. Damit wurde auch eine eigene Richtung bei den Publikationstätigkeiten eingeschlagen: Die veröffentlichten Texte trugen Titel wie »Mit neun Jahren im Dienst« oder »Aus dem Leben einer Sennerin«26 und erreichten mit hohen Auflagen ein breites Publikum. Dadurch waren sie 24 Claudia Opitz-Belakhal: Gender in Transit – oder am Abgrund? Ein Diskussionsbeitrag zu Stand und Perspektiven der Geschlechtergeschichte, in: L’Homme. Z. F. G., Jg. 28, 2017, Heft 1, S. 107–114, S. 113. 25 Annelies Argelander und Ilse Weitsch: Aus dem Seelenleben verwahrloster Mädchen auf Grund ihrer Tagebuchaufzeichnungen (Reihe »Quellen und Studien zur Jugendkunde«, Bd. 10), Jena 1933. 26 Maria Gremel: Mit neun Jahren im Dienst. Ein Leben im Stübl und auf dem Bauernhof 1900– 1930 (»Damit es nicht verloren geht …«, Bd. 1), Wien/Köln/Weimar 19831; Barbara Waß: »Für sie gab es immer nur die Alm…« Aus dem Leben einer Sennerin (»Damit es nicht verloren geht …«, Bd. 16), Wien/Köln/Weimar 1994.

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ebenso genrebildend wie die um 1900 stark rezipierten Memoiren von Vertreter/ innen der Arbeiter/innenbewegung.27 Hier lassen sich also einerseits wieder historische Kontinuitäten aufzeigen, andererseits wird auch ein neuerliches Moment der Nachahmung bzw. Überformung von auto/biografischen Formaten sichtbar. Neben der Untersuchung, was in den einzelnen Wissenschaftsfeldern geforscht und publiziert wurde, wird aus einer zweiten Blickrichtung zum anderen danach gefragt, wessen Selbstzeugnisse in den Sammlungen vorhanden waren oder sind. Wären inhaltlich anders gelagerte Forschungen überhaupt möglich gewesen? Mit einer quantitativen Auswertung der Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler und ihrer Wiener Forschungsgruppe wird versucht, diese Frage exemplarisch für die Zwischenkriegszeit zu klären. Für die Gegenwart wurden die Bestände von drei historisch ausgerichteten Sammlungen sowie von zwei Dokumentationseinrichtungen der Arbeiter/innenbewegung in Österreich und Deutschland ausgewertet. Die Suche konzentrierte sich dabei konkret auf Tagebücher von Arbeiter/innen und Dienstbot/innen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie viele und welche solcher Quellen sind hier derzeit dokumentiert? Zudem wurde nach Editionen gesucht, in denen auto/biografische Aufzeichnungen aus proletarischen Zusammenhängen des frühen 20. Jahrhunderts veröffentlicht wurden. Diese ›Grabungen‹ fanden vor der Folie der derzeit weiterhin offenen Forschungsfrage statt, ob bzw. in welchem Ausmaß Personen aus bildungsferneren Schichten in der Vergangenheit überhaupt Tagebücher (oder andere Selbstzeugnisse) geschrieben haben.

›Analyseperspektive Geschlecht‹ Die Frage nach der ›Analyseperspektive Geschlecht‹ zieht sich ebenfalls anhand mehrerer Beobachtungsstränge durch die gesamte Arbeit.28 Sie wird dabei je nach Thema auf unterschiedliche Weisen gestellt: Eine erste Dimension ist frauengeschichtlich ausgerichtet. Dabei wird gefragt, welche Handlungsspielräume und 27 U. a. Adelheid Popp: Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin. Von ihr selbst erzählt. Mit einem Geleitworte von August Bebel, München 1909. 28 Zu aktuellen Debatten der Standortbestimmungen der Frauen- und Geschlechtergeschichte siehe u. a. die darüber geführten Diskussionen in der Zeitschrift L’Homme. Z. F. G. Zuletzt: Opitz-Belakhal: Gender in Transit – oder am Abgrund?, 2017 und Céline Angehrn: Nicht erledigt. Die Herausforderungen der Frauengeschichte und der Geschlechtergeschichte und die Geschichten des Feminismus, in: L’Homme. Z. F. G., Jg. 28, 2017, Heft 1, S. 115–122 oder den Beitrag Veronika Helfert, Jessica Richter, Brigitte Semanek, Alexia Bumbaris und Karolina Sigmund: Bestandaufnahmen und Herausforderungen. Blicke auf die gegenwärtige Frauen- und Geschlechtergeschichte, in: dies. (Hg.): Frauen- und Geschlechtergeschichte un/ diszipliniert, 2016, S. 7–21.

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Möglichkeiten der Partizipation Frauen ab Ende des 19. Jahrhunderts als Akteurinnen in der Kleinkinder- und Jugendforschung hatten. Korrespondierend mit der sukzessiven Öffnung der höheren Bildungseinrichtungen und der Universitäten waren Frauen federführend in den Aufbau dieser Wissenschaften involviert. Mit der Lai/innenforschung sowie dem Phänomen der Arbeitspaare werden zwei zeitspezifische Phänomene des frühen 20. Jahrhunderts vorgestellt, die im Zuge der zunehmenden Professionalisierung des Wissenschaftsbetriebes wieder verschwunden sind. Die Positionen, Themen und Legitimationsstrategien der frühen Tagebuchforscherinnen zu erschließen sowie zeitgenössische Ausschlussmechanismen sichtbar zu machen, wird als ein erster Schritt verstanden, auf dem gegebenenfalls weiterführende geschlechterhistorische Fragestellungen aufgebaut werden könnten. Der Fokus konkret auf die Situation von Frauen wird dabei als »kritische Perspektive« oder als »provokante[r] Hinweis« eingeordnet, wie Céline Angehrn es pointiert formuliert hat.29 Diese ›Provokationen‹ bieten Grundlagen für einen möglichen weiterführenden Geschlechtervergleich. Entsprechend könnten die in → Kapitel 4 erarbeiteten Ergebnisse der historischkulturwissenschaftlichen Analyse der diaristischen Praktiken von jugendlichen Mädchen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als eine solche Vergleichsfolie für weitere Studien dienen. Die zweite Dimension bezieht sich auf die Frage, ob bzw. wie die ›Analyseperspektive Geschlecht‹ in den untersuchten Forschungsfeldern eingenommen wurde. Waren die Ergebnisse der Pädagogik und Kleinkinderforschung des 19. Jahrhunderts geschlechtlich markiert? Mit welchen Thematiken wurden speziell Mädchen und Frauen sowie Burschen und Männer in der Jugendpsychologie wissenschaftlich in Verbindung gebracht? Bezogen auf die im Umfeld von Charlotte Bühler in Wien in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts durchgeführten Arbeiten sprach Gerhard Benetka in seiner fachhistorischen Darstellung von einer »völlig gleichwertig[en] Mädchenforschung«, die hier systematisch verfolgt worden sei.30 Um diesen Befund zu prüfen, werden wiederum die Literaturverzeichnisse von Charlotte Bühler (1929) und Peter Dudek (1990) quantifizierend ausgewertet. Aber wie haben es andere erfolgreiche Fachvertreter/innen wie etwa Eduard Spranger (1882–1963)31 mit dem Geschlechtervergleich gehalten? 29 Angehrn: Nicht erledigt, 2017, S. 121. 30 Gerhard Benetka: Psychologie in Wien. Sozial- und Theoriegeschichte des Wiener Psychologischen Instituts 1922–1938, Wien 1995, S. 173. 31 Zur Arbeit und dem Lebenslauf von Eduard Spranger u. a. Benjamin Ortmeyer: Eduard Spranger und die NS-Zeit. Forschungsbericht, Frankfurt am Main 2008; Michael Fontana: »… jener pädagogische Stoß ins Herz«. Erziehungswissenschaftliche und biographisch-politische Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Leben und Werk Eduard Sprangers, Frankfurt am Main/u. a. 2009.

Räume, Zeiten und Quellen

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In einer dritten auf die Kategorie Geschlecht bezogenen Dimension wird in dieser Studie schließlich ein direkter Geschlechtervergleich unternommen. Dabei wird einerseits wiederum gefragt, in welchem Verhältnis Mädchen und Burschen in der Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler und ihrer Wiener Forschungsgruppe dokumentiert waren. Auch für die historisch ausgerichteten Sammlungen wird ein solcher Vergleich angestellt. Beteiligten und beteiligen sich Frauen und Männer auf gleiche oder auf unterschiedliche Weisen an den Erinnerungsund Sammelprojekten, die seit dem späten 20. Jahrhundert initiiert worden sind? Dazu werden drei Bestände aus Österreich und Deutschland untersucht. Lassen sich hier geschlechtsspezifische Übergabepraktiken feststellen? Worauf beziehen sich diese gegebenenfalls? Und welche Erklärungen könnte es dann dafür geben?

Räume, Zeiten und Quellen Der Betrachtungsraum dieser Studie umfasst Österreich und Deutschland, jeweils bezogen auf ihre historischen Grenzen. An einzelnen Stellen werden Referenzbeispiele aus den USA, der Sowjetunion und aus Großbritannien gebracht. Im Zusammenhang mit der frühen Kleinkinder- und Jugendforschung wäre eine nationalstaatlich klare Abgrenzung nicht zweckmäßig. Beide fachwissenschaftlichen Diskurse haben im deutschsprachigen Raum überregional vernetzt stattgefunden. Diese internationalen Netzwerke lassen sich am Beispiel des Arbeitsumfelds von Siegfried Bernfeld pointiert skizzieren: Der »junge Wilde«32 aus Wien war über die bürgerliche zionistische Jugendbewegung eng mit dem Philosophen Walter Benjamin (1892–1940) aus Berlin befreundet. Wissenschaftliche Unterstützung für sein im Jahr 1913 gegründetes Archiv für Jugendkultur erhielt er von William Stern (1871–1938), dem renommierten Lehrstuhlinhaber in Hamburg. Dessen Ehefrau Clara Stern (geb. Joseephy, 1877–1948) war die ältere Cousine von Walter Benjamin und seiner Schwester, der Nationalökonomin Dora Benjamin (1901–1946). Die regionalen Gewichtungen in den einzelnen Kapiteln folgen ihren inhaltlichen Schwerpunkten. Wie die Pädagogik und die Kleinkinderforschung hat sich auch das Fach Psychologie von Deutschland aus etabliert. Die jugendpsychologische Tagebuchforschung der Zwischenkriegszeit fand wiederum hauptsächlich in Wien statt. Die Entwicklung der historisch ausgerichteten Sammlungen für Selbstzeugnisse hat seit dem späten 20. Jahrhundert in Österreich und Deutschland gleichermaßen stattgefunden. Daher wird in deren Darstellung der 32 Ulrich Herrmann: Nachwort. Siegfried Bernfeld als Historiker, in: ders. (Hg.): Siegfried Bernfeld. Trieb und Tradition im Jugendalter (Sämtliche Werke, Bd. 7), Gießen 2015, S. 217– 244, S. 221.

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gesamte deutschsprachige Raum in den Blick genommen. Aufgrund der Vielzahl an Initiativen, die inzwischen bestehen, wird der Fokus in Bezug auf einzelne Fragen wiederum auf österreichische Projekte und Einrichtungen eingeengt. Der Betrachtungszeitraum dieser Studie reicht insgesamt vom späten 18. Jahrhundert bis in die unmittelbare Gegenwart. Es besteht dabei kein Anspruch auf eine lückenlose Darstellung. Die Schilderungen beziehen sich je nach Thema schwerpunktmäßig auf verschieden Zeiten. In der Zusammenschau werden dabei auch längerfristige Konjunkturen und Kontinuitäten der tagebuchbasierten Forschung sichtbar. Diese hat sich im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelt und erreichte mit der Jugendpsychologie der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts einen ersten Höhepunkt. Gleich hier werden auch Bruchlinien sichtbar, die vor allem in der Zeit des Nationalsozialismus entstanden sind und die für die Tagebuchforschung irreversible Folgen hatten. Der zweite Höhepunkt der Tagebuch- und Selbstzeugnisforschung nahm seinen Anfang in den 1980er- und 1990er-Jahren. Die hauptsächlichen Forschungsfelder waren und sind jetzt die Literatur-, die Kultur- und die Geschichtswissenschaften. Hier stehen wir derzeit. In → Kapitel 3 wird dazu eine Bestandsaufnahme der zurzeit insgesamt verfügbaren Quellenbasis vorgestellt, in → Kapitel 4 eine in die aktuellen theoretischen Debatten eingebettete, thematisch gewählte inhaltliche Auswertung.

Quellengrundlagen dieser Studie Der Großteil der Ergebnisse dieser Studie wird mittels schriftlicher Quellen erarbeitet. In Bezug auf die Pädagogik, Kleinkinderforschung und Jugendpsychologie sind das vornehmlich publizierte Studien bzw. Quelleneditionen. Die in den beiden historisch ausgerichteten Kapiteln zitierten handschriftlichen Tagebuchaufzeichnungen habe ich in 13 Sammlungen in Österreich und Deutschland recherchiert.33 Zwei Originale wurden mir aus Privatsammlungen zur Verfügung gestellt, einzelne Quellenbeispiele sind auch aus Editionen entnommen. Die Vorstellungen der historisch ausgerichteten Sammlungen für Selbstzeugnisse basieren auf deren Selbstbeschreibungen, die zum Großteil online zugänglich sind. Die Motive und Übergabestrategien jener Personen, die Tagebücher oder andere auto/biografische Aufzeichnungen übergeben haben, wurden aus den jeweiligen Begleitkorrespondenzen herausgearbeitet. Solche Quellen konnte ich in fünf Einrichtungen einsehen. Zu mehreren Fragestellungen wurden auch quantitative Auswertungen vorgenommen, deren Ergebnisse zum Großteil in Diagrammen auch grafisch dargestellt sind. Die Daten dazu wurden teilweise veröffentlichten Literatur- oder 33 Bestände aus fünf weiteren Institutionen werden genannt, aber nicht ausgewertet.

Aufbau der Studie und inhaltliche Vorausschau

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Inventarlisten entnommen. Die Nennung von Mädchen und Burschen in Charlotte Bühlers tagebuchbasierten Publikationen wurde in den entsprechenden Studien ausgezählt. Die Auskünfte zu den Zusammensetzungen der aktuellen Bestände des Deutschen Tagebucharchivs in Emmendingen sowie der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen in Wien wurden mir dankenswerterweise von den Betreuer/innen dieser Einrichtungen zur Verfügung gestellt. Die Datengrundlagen zum Bestand der Sammlung Frauennachlässe in Wien habe ich selbst erhoben, der Bestand von Tagebüchern von Wiener Mädchen und Frauen wurde im Jahr 2012 in Zusammenarbeit mit Kolleginnen im Rahmen eines Rechercheprojekts erfasst.34 Eine weitere Quellenressource dieser Studie sind schließlich Informationen, die mir mündlich mitgeteilt worden sind. Zum ungeklärten Verbleib der Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler und ihrer Wiener Forschungsgruppe konnte ich als Zeitzeugin eine ehemalige Bibliotheksmitarbeiterin befragen. Zur Diskussion mehrerer Themenschwerpunkte wurden Expert/innengespräche mit Fachkolleg/innen und Mitarbeiter/innen von Archiven in Österreich, Deutschland, der Schweiz, Italien, Belgien und den USA geführt. Diese sind jeweils in den Fußnoten ausgewiesen. Die vorliegende Studie handelt von Forschungsnetzwerken – und sie ist innerhalb von solchen entstanden. Diese Hinweise sollen das dezidiert sichtbar machen.

Aufbau der Studie und inhaltliche Vorausschau Die vier Kapitel dieser Studie sind jeweils unterschiedlich gestaltet, zusammengenommen ergeben sie zwei inhaltliche Teile: Der erste Teil umfasst Kapitel 1 und Kapitel 2. Beide enthalten fachhistorische Darstellungen der selbstzeugnisbasierten Forschungsfelder und Sammlungsaktivitäten in der Pädagogik und Kleinkinderforschung im ›langen‹ 19. Jahrhundert sowie der Jugendpsychologie in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts. Diese Forschungsfelder sind in sich abgeschlossen und zudem nicht mehr aktiv. Unter dieser Voraussetzung können sie erschöpfend historisiert werden. Der zweite inhaltliche Teil umfasst Kapitel 3 und Kapitel 4. Beide haben die Geschichtswissenschaften im Blick. Kapitel 3 schildert Entwicklungen in den alltags-, mikro- und frauen-/geschlechterhistorisch ausgerichteten Schwerpunkten. Dabei wird die bis dahin verfolgte Darstellungsweise geändert: Wie bereits erwähnt, wurde die wissen34 Das von der Magistratsabteilung 57 | Frauenabteilung der Stadt Wien finanzierte Rechercheprojekt wurde von der Sammlung Frauennachlässe durchgeführt. Weitere Informationen und die Ergebnisse sind online verfügbar unter: www.univie.ac.at/Geschichte/sfn/forschung/ projekte.

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schaftliche Beschäftigung mit Selbstzeugnissen in den historischen Fächern im Rahmen einer breit zusammengesetzten »Geschichtsbewegung«35 etabliert. Und sie ist derzeit ein zuhöchst lebendiges Arbeitsfeld innerhalb und außerhalb der Universitäten. Die Anzahl der Sammlungs-, Erinnerungs- und Forschungsprojekte, die hier seit den 1980er-Jahren initiiert wurden, ist kaum noch überschaubar. Es kann als Beschreibung davon auch das effektvolle Wort ›Explosion‹ verwendet werden. Aus diesem Grund wird in → Kapitel 3 der Fokus eingeengt. Er liegt hauptsächlich auf der Darstellung der inzwischen aufgebauten Sammlungen. Deren Beschreibung lässt aber auch Schlüsse auf geschichtswissenschaftliche Forschungskonjunkturen zu, die in der direkten Darstellung aber zurückgestellt werden. Stattdessen wird in → Kapitel 4 eine exemplarisch gewählte inhaltliche Analyse von Tagebuchquellen vorgenommen. Die dazu gewählten historisch-kulturwissenschaftlichen Fragestellungen sind eine Möglichkeit der Herangehensweisen, mit denen diaristische Aufzeichnungen aktuell geschichtswissenschaftlich ausgewertet werden. Die Ergebnisse der Analyse sind gleichzeitig ein weiterer Beitrag dazu. Konkret werden in den vier einzelnen Kapiteln die folgenden Inhalte behandelt:

Kapitel 1) Elterntagebücher in der Säuglings- und Kleinkinderforschung ab 1800 Die fachhistorische Darstellung in Kapitel 1 stellt Tagebücher als Quellen vor, die Eltern über ihre kleinen Kinder angefertigt haben. Diese waren jene Datengrundlagen, mit denen die hauptsächlichen Erkenntnisse der frühen Säuglingsund Kleinkinderforschung des ›langen‹ 19. Jahrhunderts erarbeitet worden sind. Es wird beschrieben, wie diese Elterntagebücher gestaltet waren und wie sie zunehmend normiert und professionalisiert wurden. Der derzeit früheste bekannte Impuls dazu kam von dem ›universalgelehrten‹ Aufklärer August Ludwig von Schlözer (1735–1809). Er hat im Jahr 1771 Eltern dazu aufgerufen, die körperliche und geistige Entwicklung ihrer Kinder systematisch zu dokumentieren und die Ergebnisse der Forschung zur Verfügung zu stellen. Genau genommen richtete sich sein Aufruf an Väter – wie auch die Publikationen des Pädagogen Joachim Heinrich Campe (1746–1818). Von ihm wurden 1789 zwei solche Vätertagebücher ediert und damit Vorbilder für weitere Aufzeichnungen geschaffen. Für die Bezeichnung dieser speziellen diaristischen Form wird die Begriffskombination ›wissenschaftsgeleitete Vätertagebücher‹ verwendet. Sie ist im 35 Hanne Lessau: Sammlungsinstitutionen des Privaten. Die Entstehung von Tagebucharchiven in den 1980er und 1990er Jahren, in: Janosch Steuwer und Rüdiger Graf (Hg.): Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2015, S. 336–365, S. 338.

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Zusammenhang mit der Historisierung der Tagebuchforschung besonders spannend: Das wechselseitige Verhältnis des auto/biografischen Schreibens und der wissenschaftlichen Auswertungen war hier besonders eng verschränkt und bestand zudem über einen ausgesprochen langen Zeitraum. Um diese spezielle Form zu kontrastieren, werden exemplarisch einzelne Referenzformen von zeitgenössischen auto/biografischen Aufschreibepraktiken aus dem (Hoch-) Adel sowie andere Formate aus dem Bürger/innentum vorgestellt. Im Laufe des 19. Jahrhunderts begannen auch andere Fachrichtungen damit, Elterntagebücher als Quellen zu nützen. Die Akteure blieben aber dieselben: Sie waren Wissenschafter und bürgerliche Väter. Häufig waren sie das auch in einer Person, das heißt, in vielen Fällen dokumentierten die Forscher das Aufwachsen ihrer eigenen Kinder. Ein bekannter Vertreter war Charles Darwin (1809–1882).36 Mütter waren hiervon vorerst ausgeschlossen. Der erste Aufruf, der sich auch an Frauen richtete, wurde erst 1893 veröffentlicht. Lanciert hat ihn der zeitgenössisch berühmte Physiologe William T. Preyer (1841–1897).37 Die Autorin einer daraufhin erfolgreichen Publikation war die Lehrerin Gertrud Scupin (1880– 1947) aus Breslau/Brassel/Wrocław in Schlesien.38 Sie und ihre Ehemann stehen für die zeitgenössischen Phänomene der Arbeitspaare und der Lai/innenforschung. Beides waren um 1900 verbreitete Erscheinungen im wissenschaftlichen Feld, bevor sich die universitär beglaubigten ›Expert/innen‹ durchgesetzt haben. Eine perfektionierte Ausführung der Dokumentationsform Elterntagebuch erstellte Clara Stern ebenfalls in Breslau. Dazu hat sie mit »warmem Herzen und offenem Sinn«39 ihre drei Kinder über den Zeitraum von 1900 bis 1918 beobachtet. Die daraus resultierenden Ergebnisse wurden zusammen mit ihrem Ehemann William Stern sprachwissenschaftlich ausgewertet und publiziert.40 Er war zu der Zeit einer der bekanntesten deutschen Entwicklungspsychologen, als Arbeitspaar werden sie gemeinsam zu »den Begründern der entwicklungspsychologischen Tagebuchmethode« gezählt.41 Wie sie dabei vorgegangen sind, und welche weiteren Co-Produktionen von elterntagebuchschreibenden Müttern und Vätern es gegeben hat, wird in dem Kapitel geschildert. Als Beispiel für

36 Charles Darwin: Biographische Skizze eines kleinen Kindes (18781), in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis, Jg. 20, 2005, Heft 1–2, S. 138–148. 37 Wilhelm Preyer: Die geistige Entwickelung in der ersten Kindheit, nebst Anweisungen für Eltern, dieselbe zu beobachten, Leipzig/u. a. 1893. 38 Ernst und Gertrud Scupin: Bubis erste Kindheit. Ein Tagebuch über die geistige Entwicklung eines Knaben während der ersten drei Lebensjahre, Leipzig 1904. 39 William Stern: Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahre, Leipzig 1914, S. 10. 40 Clara und William Stern: Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung. Monographien über die seelische Entwicklung des Kindes, Leipzig 1907. 41 Wissensportal Wikipedia (o. J.) unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Tagebuchmethode.

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die praktische Umsetzung der Erkenntnisse der Kleinkinderforschung wird schließlich das Genre der Erziehungsratgeber vorgestellt.

Kapitel 2) Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren Die fachhistorische Darstellung in Kapitel 2 stellt Tagebücher als Quellen vor, die Jugendliche geschrieben haben. Diese waren zentrale Datengrundlagen der erst aufgebauten Jugendpsychologie der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts. In den historischen Abrissen der tagebuchbasierten Jugendforschung werden allgemein insbesondere die Arbeiten von Charlotte Bühler aus den 1920er- und 1930er-Jahren hervorgehoben, in letzter Zeit auch jene von Siegfried Bernfeld.42 Beide werden in diesem Kapitel auch entsprechend ausführlich vorgestellt. Die Jugendpsychologie entwickelte sich seit Beginn der 1920er-Jahre innerhalb von nur wenigen Jahren ausgesprochen rasch. Für jene Richtung, die sich dabei mit Tagebüchern beschäftigt hat, kann der ›Skandal‹ um eine 1919 veröffentlichte Tagebuchedition als ›Motor‹ eingestuft werden. Das Buch wurde von der Psychoanalytikerin Hermine Hug-Hellmuth (geb. Hug Edle von Hugenstein, 1871– 1924) herausgegeben und von Sigmund Freud (1856–1939) gefördert.43 Weiters besprochen wird die Arbeit des Berliner Psychologen Eduard Spranger44 und jene des jungen Forschers Fritz Giese (vermutlich 1890–1935). Giese hat bereits 1914 eine elaborierte psychologische Abhandlung zum auto/biografischen Schreiben Jugendlicher veröffentlicht.45 Er kann in der vorliegenden Studie als wiederentdeckter Tagebuchforscher und -sammler neu vorgestellt werden. Neben der Quellensammlung von Giese werden jene von Bernfeld und von Bühler und ihrer Wiener Forschungsgruppe näher vorgestellt. Die Sammlung von Bühler kann dabei bezüglich ihrer konkreten Zusammensetzung befragt werden. Wie umfangreich war sie insgesamt? Enthielt sie neben Tagebüchern auch andere auto/ biografische Genres? Wessen Aufzeichnungen wurden hier dokumentiert und wie haben Bühler und ihre Mitarbeiter/innen diese lukrieren können? Die Machtergreifung durch die Nationalsozialist/innen bedeutete für die entwicklungspsychologische Forschung in Österreich, Deutschland und den besetzten Gebieten eine gewaltsame Zäsur. Wie zahlreiche andere Fachvertreter/ innen fanden sich Charlotte Bühler und Siegfried Bernfeld als Verfolgte wieder 42 Dazu u. a. Siegfried Bernfeld: Trieb und Tradition im Jugendalter. Kulturpsychologische Studien an Tagebüchern, Leipzig 1931, in: Ulrich Herrmann (Hg.): Siegfried Bernfeld. Trieb und Tradition im Jugendalter (Sämtliche Werke, Bd. 7), Gießen 2015, S. 3–216. 43 Hermine Hug-Hellmuth (Hg.): Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens (Von 11 bis 14 1/2 Jahren) (Quellenschriften zur seelischen Entwicklung, Bd. 1), Leipzig/Wien/Zürich 19191. 44 Eduard Spranger: Psychologie des Jugendalters, Leipzig 19241. 45 Fritz Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, Leipzig 1914.

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und mussten flüchten. Beide verbrachten ihr weiteres Leben zum Großteil in den USA. Ihre Arbeit mit diaristischen Quellen führten sie dort nicht weiter. In dem Kapitel ist nach dem Verbleib ihrer Quellenbestände zu fragen. Dazu können fünf überraschend wiedergefundene Tagebücher aus der Sammlung von Bühler präsentiert werden. Anhand dieser einzelnen Bände ist es möglich, zahlreiche Fragen zur Beschaffenheit dieses Archivbestandes zu klären, die bislang im Dunklen lagen. Abschließend werden einzelne jugendpsychologische Studien vorgestellt, die nach 1945 auf der Grundlage von Tagebüchern erarbeitet worden sind. Aber was hat es mit den Jugendtagebüchern auf sich, die die Künstlerin Felice Wolmut (geb. Gertrud von Landesberger, 1889–1989) in den 1980er-Jahren aus den USA nach Wien übersandt hat?

Kapitel 3) Tagebücher in historisch ausgerichteten Sammlungen seit den 1980er-Jahren In Kapitel 3 liegt der Fokus auf jenen Sammlungen für Tagebücher und andere Selbstzeugnisse, die seit dem späten 20. Jahrhundert auf- und ausgebaut werden. Im Rahmen des »paradigmatischen Wandels, der sich seit den siebziger Jahren in den Sozial- und Geisteswissenschaften«46 vollzogen hat, erfuhren auch Tagebücher als Quellen eine völlig neue Aufmerksamkeit. Dazu werden die theoretischen Grundlagen und Einflüsse aus den Literaturwissenschaften und der Volkskunde kurz skizziert. Die aktuelle Vitalität des Forschungsfeldes wird exemplarisch anhand von drei Sammelbänden gezeigt, die im Jahr 2015 veröffentlicht wurden. Alle drei beschäftigen sich mit Tagebüchern in der Zeitgeschichte. Die einzelnen Beiträge wurden von insgesamt 35 Autor/innen verfasst.47 Alleine dieser Umstand lässt erahnen, wie breit aufgestellt die historische Tagebuch- und Selbstzeugnisforschung derzeit ist. Die historisch ausgerichteten Sammlungen, auf denen sie aufbaut, stehen dann im hauptsächlichen Fokus dieses Kapitels. Um die Quellenbestände der verschiedenen Einrichtungen systematisch sondieren zu können, werden verschiedene Typisierungen vorgeschlagen. Unterschieden wird dabei 1) nach den dokumentierten Genres, 2) nach den do46 Günter Müller: »Vielleicht hat es einen Sinn, dacht ich mir«. Über Zugangsweisen zur popularen Autobiographik am Beispiel der »Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen« in Wien, in: Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag, Jg. 5, 1997, Heft 2, S. 302–318, S. 302. 47 Frank Bajohr und Sybille Steinbacher (Hg.): »…Zeugnis ablegen bis zum letzten.« Tagebücher und persönliche Zeugnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust, Göttingen 2015; Gerhalter und Hämmerle: Krieg – Politik – Schreiben, 2015; Steuwer und Graf: Selbstreflexionen und Weltdeutungen, 2015.

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kumentierten Personen sowie 3) nach den Entstehungsgeschichten der Sammlungen. Dazu kommen die Wiener Historiker/innen Michael Mitterauer und Edith Saurer (1942–2011) zu Wort. Sie haben mit der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen sowie der Sammlung Frauennachlässe in den 1980er-Jahren zwei solche Initiativen gestartet. Dabei sprachen beide nicht von einer konkreten Entscheidung, sondern von einem »Prozess«.48 Als Anlass, diesen Prozess in Gang zu setzen, benannte Edith Saurer das Fehlen der Quellengrundlagen für die geänderten Forschungsinteressen.49 Welche weiteren Beweggründe Sammlungen für Selbstzeugnisse als Ergebnis haben konnten, wird in diesem Kapitel anhand von zahlreichen Beispielen nachgezeichnet. Insgesamt verfolgten und verfolgen diese Initiativen einen zivilgesellschaftlichen Anspruch, der sich mit der wissenschaftlichen Arbeit produktiv kreuzte und kreuzt. In diesem Sinn wird in dem Kapitel der Position jener Personen, die die Tagebücher oder andere Selbstzeugnisse an die Archive übergeben, ausführlich Raum gegeben. Gefragt wird nach ›Übergabepolitiken‹, also nach den Motiven und Absichten, die die einzelnen Personen damit verfolgen. Die quantitativen Auswertungen verschiedener Sammlungsbestände aus Österreich und Deutschland ermöglichen einen tendenziellen Eindruck der aktuellen Zusammensetzungen dieser Wissensressourcen. Dabei wird zuallererst rasch deutlich, dass dabei ein nur auf Tagebücher gerichteter Fokus wenig Sinn machen würde. Wie schon erwähnt hat keine der Einrichtungen im deutschsprachigen Raum ausschließlich diaristische Aufzeichnungen im Bestand. Diese Tatsache bietet die Chance, Tagebücher als eines von verschiedenen auto/biografischen Formaten in den Beständen zu verorten. Damit kann die Frage gestellt werden, welche verschiedenen Genres in welchem Umfang in den Beständen dokumentiert sind. Eine zweite Frage richtet sich auf die schichtspezifische Zusammensetzung. Dazu wird exemplarisch nach Tagebüchern von Arbeiter/innen und Dienstbot/innen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert gesucht. Wie viele solcher Aufzeichnungen sind derzeit in den Archiven verfügbar? Die dritte Frage nimmt die geschlechterspezifische Zusammensetzung in den Blick. Sind hier 48 Michael Mitterauer: Lebensgeschichten sammeln. Probleme um Aufbau und Auswertung einer Dokumentation zur popularen Autobiographik, in: Hermann Heidrich (Hg.): Biographieforschung. Gesammelte Aufsätze der Tagung des Fränkischen Freilandmuseums am 12. und 13. Oktober 1990, Bad Windsheim 1991, S. 17–35, S. 17f. 49 Edith Saurer: »For Women, the Act of Writing – Whether Letters or Diaries – Expresses their Identity, their Life’s Ambition, the Will to Survive«, in: Kristina Popova u. a. (Hg.): Women and Minorities: Ways of Archiving, Blagoevgrad/Vienna 2009, S. 16–19, S. 16. Vgl. dazu auch u. a. Christa Hämmerle und Gabriella Hauch: »Auch die österreichische Frauenforschung sollte Wege der Beteiligung finden …« Zur Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an der Universität Wien, in: Karl Anton Fröschl u. a. (Hg.): Reflexive Innenansichten aus der Universität Wien. Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik, Göttingen 2015, S. 97–109.

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Unterschiede feststellbar? Übergeben eher Frauen oder Männer Selbstzeugnisse an eine Sammlung? Geben sie dabei vielleicht bevorzugt bestimmte Genres ab? Und welche verschiedenen Formen von Tagebüchern von Mädchen und Frauen sind derzeit in Wiener Beständen zu finden?

Kapitel 4) Historische Tagebücher von Mädchen kulturwissenschaftlich gelesen um 2020 In Kapitel 4 wird der ›Faden‹ der verschiedenen Formen von Tagebüchern direkt weitergesponnen. Es wird dazu ein Bündel ausgewählter historisch-kulturwissenschaftlicher Lesarten des diaristischen Schreibens formuliert und ausgearbeitet. Aufgeschlagen werden dazu konkret Tagebücher von Mädchen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben wurden. Die meisten davon habe ich in den in → Kapitel 3 vorgestellten Sammlungen recherchiert, was eine erste Querverbindung ist. Mit der inhaltlichen Auswahl wird zudem an die in → Kapitel 2 behandelte jugendpsychologische Forschung der Zwischenkriegszeit angeknüpft, die mit exakt solchen Quellen gearbeitet hat. Dabei wurden andere Fragestellungen verfolgt, die Ansätze von Siegfried Bernfeld erweisen sich dennoch als verblüffend anschlussfähig für aktuelle Forschungsfragen. Entlang der Schlagworte ›ein Tagebuch bekommen‹, ›ein Tagebuch haben‹ und ›ein Tagebuch anfangen‹ werden verschiedene Aufzeichnungsformen und -motivationen aufgefächert. Was waren Anlässe für Mädchen, mit dem Schreiben zu beginnen? Wie waren ihre Tagebücher materiell beschaffen? Hatte jedes ein seitlich angebrachtes Schloss, wie es gängige Bilder vorgeben? Als eine mögliche Funktion des diaristischen Schreibens insbesondere von Jugendlichen wird schließlich das Thema Geheimnis aufgegriffen. Mit der Literaturwissenschafterin Nicole Seifert gesprochen ist das »Wort Tagebuch […] im allgemeinen Verständnis nahezu ein Synonym für Geheimnis.«50 Nach meiner Lesart ist das Tagebuchschreiben als »eine Form des kommunikativen Handelns« zu verstehen.51 Das kann wiederum anhand von drei Aspekten gezeigt werden, die ich als ›gelüftete Geheimnisse‹, ›kommunikative Geheimnisse‹ und ›geteilte Geheimnisse‹ klassifiziert habe.

50 Nicole Seifert: Von Tagebüchern und Trugbildern. Die autobiographischen Aufzeichnungen von Katherine Mansfield, Virginia Woolf und Sylvia Plath, Berlin 2008, S. 64. 51 Claudia Schirrmeister: Geheimnisse. Über die Ambivalenz von Wissen und Nicht-Wissen, Wiesbaden 2004, S. 33.

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Einleitung

Dabei ist zu fragen, an wen sich Beschwörungen wie »Tagebuch bitte nicht lesen! Bei Deiner Würde!«52 gerichtet haben könnten, mit dem die damals 15-jährige Helga M. Frey 1955 ihre Aufzeichnungen begonnen hat. Mit Sicherheit kann ich sagen: Nicht an die Leser/innen dieser Studie. Helga M. Frey hat ihre Jugendtagebücher Anfang des 21. Jahrhunderts an die Sammlung Frauennachlässe übergeben. Sie ist also eine jener »Citizen Scientists«, die ihre Selbstzeugnisse für die wissenschaftliche Auswertung zur Verfügung stellten und dadurch die Arbeit mit Tagebüchern als Quellen möglich machten. Wie dieses Forschungsfeld im 19. Jahrhundert angelegt war, ist das Thema des ersten Kapitels von diesem Buch.

52 Helga M. Frey (geb. Hochhäusl, geb. 1940): Tagebuch, Gengenbach in Bayern, Jänner 1955, ohne Tagesdatierung, Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien, NL 68.

1)

»Mit warmem Herzen und offenem Sinn«: Elterntagebücher in der Säuglings- und Kleinkinderforschung ab 1800

In diesem Kapitel wird dargestellt, wie und von wem Elterntagebücher seit etwa 1800 als wissenschaftliche Quellen verwendet worden sind. Als Elterntagebücher werden dabei Aufzeichnungen verstanden, die Eltern über die Entwicklung ihrer Säuglinge und kleinen Kinder angefertigt haben. Wie gezeigt werden kann, wurden die Inhalte dieser diaristischen Form über einen langen Zeitraum in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen als zentrale Datengrundlagen herangezogen. Nach der frühen Pädagogik ab etwa 1800 waren das ab den 1880erJahren die evolutionsbiologischen Forschungszweige und ab etwa 1900 die Entwicklungspsychologie und Sprachwissenschaften. Die Wissenschafter/innen haben dabei zunehmend systematische Aufschreibepraktiken entwickelt, für die ich im Laufe des Kapitels den Begriff ›wissenschaftsgeleitete Elterntagebücher‹ verwende. Wie die Institutionalisierung des Faches Psychologie allgemein, fand auch die fachliche Ausdifferenzierung der Quelle Elterntagebücher im deutschsprachigen Raum im 19. Jahrhundert auf dem Gebiet des damaligen Deutschlands statt. Die Entwicklung dieses Subgenres wird anhand von mehreren veröffentlichten Beispielen nachgezeichnet. Daran angeknüpft wird einerseits eine Skizze der jeweiligen zeitgenössischen Schwerpunkte in der Verwissenschaftlichung von Kindheit. Andererseits lassen sich auch die Veränderungen im Arbeitsfeld Wissenschaft nachvollziehen, das bis 1900 zunehmend professionalisiert und institutionalisiert wurde und das seit Beginn des 20. Jahrhunderts sukzessive auch neue Handlungsspielräume für Frauen eröffnet hat. Als praktische Anwendungsformen der verschiedenen fachlichen Ergebnisse, die (u. a.) durch die Analyse von Elterntagebüchern gewonnen wurden, wird exemplarisch das Genre Erziehungsratgeber vorgestellt. Als wissenschaftliche Quellen wurden Elterntagebücher von den Forscher/ innen vorwiegend selbst angefertigt, die dazu ihre eigenen Kinder teilweise über lange Zeiträume hindurch beobachtet und dokumentiert haben. Im 19. Jahrhundert betätigten sich hier ausschließlich Väter. Im frühen 20. Jahrhundert traten in diesem Feld auch mehrere Forscher/innenehepaare auf, die als zeitge-

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Elterntagebücher in der Säuglings- und Kleinkinderforschung ab 1800

nössisches Phänomen vorgestellt werden. Gleichzeitig handelte es sich bei ›wissenschaftsgeleiteten Elterntagebüchern‹ eindeutig um ›hergestellte Selbstaussagen‹ (→ Einleitung sowie Abschnitte 2.3 und 3.1). Diese zu führen wurde von Wissenschaftern seit 1800 in verschiedenen Veröffentlichungsformen propagiert. Mütter wurden dabei aber erst ab den 1890er-Jahren direkt als mögliche Autorinnen adressiert. In den Anleitungen wurde der allgemeine Anspruch formuliert, beim Verfassen eines Elterntagebuchs mit »warmem Herzen und offenem Sinn«1 vorzugehen, also gleichermaßen empathisch, aufmerksam und systematisch. ›Wissenschaftsgeleiteten Elterntagebücher‹ sind nach meiner Auslegung als eine besondere Erscheinungsform in die Auto/Biografieforschung zu integrieren. Sie belegen zum einen einen außergewöhnlich starken wechselseitigen Einfluss von auto/biografischen Praktiken sowie wissenschaftlichen Erkenntnissen und Anleitungen, der zum anderen über einen bemerkenswert langen Zeitraum bestand.

1.1) Die Verwissenschaftlichung der Kindheit Die historische Forschung hat inzwischen plausibel dargelegt, auf welch umfassende Weise der »Wissenschaft als gesellschaftliches Teilsystem seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmende Prägekraft für andere gesellschaftliche Teilbereiche« zukam. Diese weitgefasste Definition des Begriffes »Verwissenschaftlichung« stammt von den zwei Historikern Uffa Jensen und Daniel Morat. Sie haben sich in ihrer Überblicksskizze mit jenen Disziplinen auseinandergesetzt, die sich um 1900 mit dem »Emotionalen« beschäftigt haben.2 Die »andere[n] gesellschaftliche[n] Teilbereiche« konnten nun die Politik sein, die Wirtschaft und die Kultur, das öffentliche oder auch das ›private‹ Leben. Insbesondere die Forschung über das ›private‹ Leben wurde in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende sowohl stark ausgebaut als auch methodisch ausdifferenziert. Das zog neben einer Ausweitung der verwendeten Methoden auch jene der herangezogenen Quellen nach sich. Wissenschaftshistorisch ist bereits ab 1800 und speziell für den Zeitraum von 1880 bis 1930 ein deutlicher Schub der Professionalisierung, Institutionalisierung und fachlichen Ausdifferenzierung einzelner Disziplinen wie der Pädagogik und Physiologie bzw. Physiognomik festzustellen. Weitere Fächer wie die Psychologie, Soziologie oder die 1 William Stern: Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahre, Leipzig 1914, S. 10. 2 Uffa Jensen und Daniel Morat: Die Verwissenschaftlichung des Emotionalen in der langen Jahrhundertwende (1880–1930), in: dies. (Hg.): Rationalisierungen des Gefühls. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Emotionen 1880–1930, München 2008, S. 11–34, S. 21 und S. 21, FN 44.

Die Verwissenschaftlichung der Kindheit

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Psychoanalyse entstanden Ende des 19. Jahrhunderts überhaupt erst neu.3 Im Rahmen des Ausbaus der Universitäten auf der einen Seite, und im Zuge der Forschungspopularisierung auf der anderen »kam es nicht nur zu einer Verwissenschaftlichung des Sozialen, sondern auch des Emotionalen«.4 Ein Beispiel für diese ›Verwissenschaftlichung des Emotionalen‹ war die Kleinkinderforschung, die in diesem Kapitel im Zentrum steht.

Forschungsfokus auf das Individuum In der frühen empirischen Sozialforschung des angehenden 20. Jahrhunderts waren nicht einzelne Menschen der Mittelpunkt des Interesses. Hier wurden vielmehr die z. B. mittels Fragebögen erhobenen persönlichen Aussagen von möglichst vielen Einzelnen zu quantitativen Daten verarbeitet. Damit sollten soziale Phänomene bzw. gesellschaftliche Entwicklungen statistisch erhoben und erklärt werden.5 Die bürgerlich situierten Forscher/innen haben sich in diesem Zusammenhang insbesondere mit den »besitzlosen Klassen«,6 also dem Proletariat, beschäftigt. In Fächern wie der Pädagogik, der Physiologie und der Psychologie verhielt es sich genau umgekehrt: Hier stand jeweils am Beginn der fachlichen Auseinandersetzungen gerade der einzelne Mensch als ›Individuum‹ im verwissenschaftlichten Blick – wobei der Gegenstand der ganz frühen Forschungen seit dem späten 18. Jahrhundert insbesondere die menschliche Entwicklung von Geburt an gewesen ist. Bei den Proband/innen handelte es sich hauptsächlich um Angehörige der ›eigenen Schicht‹ der Wissenschafter/innen. Das Bürgertum beforschte sich hier (vorwiegend) selbst – bzw. die eigenen Säuglinge und Kinder. Dabei haben sich zwei bevorzugte Herangehensweisen etabliert: Erst in der Pädagogik und später auch in der Psychologie (ab ca. 1880) wurde – jeweils fachlich ausdifferenziert und gewichtet – der soziale und kontextuelle Charakter der individuellen seelischen Befindlichkeiten betont (→ Kapitel 2). In den zeitgenössischen evolutionsbiologischen Forschungszweigen wie der Physiologie bzw. der Physiognomik (ebenfalls ab ca. 1880) wurden Emotionen hingegen als 3 Ebd., S. 14. 4 Ebd., S. 21. 5 Siehe dazu das Kapitel »›Präzis und überprüfbar.‹ Subjektive Daten und auto/biografische Formate in den Sozialwissenschaften seit 1900« in: Li Gerhalter: Tagebücher als Quellen. Diaristische Aufzeichnungen als Forschungs- und Sammlungsgegenstände in den Sozialwissenschaften bis in die 1930er-Jahre und in den Geschichtswissenschaften ab den 1980erJahren, Dissertation, Wien 2017, S. 29–86. 6 Alf Lüdtke: Erwerbsarbeit und Hausarbeit. Arbeiterinnen in den 1920er Jahren, in: DTAV, Arbeiterinnensekretariat (Hg.): Mein Arbeitstag – Mein Wochenende. 150 Berichte von Textilarbeiterinnen, Hamburg 1991 (Orig. Berlin 1930), S. XVII.

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physische »Hirntätigkeiten«7 eingestuft, »als abgrenzbare und objektivierbare Gegenstände im Sinne von Körperfunktionen«.8 Diese beiden Forschungsrichtungen werden im Folgenden in ihren Grundrissen nachgezeichnet, wobei die Darstellung vor allem auf den wissenschaftshistorischen Arbeiten des Historikers Andreas Schulz und des Erziehungswissenschafters Till Kössler aufgebaut ist.9 Konkret wird gefragt, auf welche Weise Elterntagebücher in der frühen Kleinkinderforschung als Quellen verwendet wurden. Zur Kontextualisierung der Geschichte der Tagebuchforschung ist ein historischer Blick auf die pädagogische, medizinische und psychologische Forschung zur Kindheit insbesondere spannend, weil diaristische Aufzeichnungen dabei eine zentrale Rolle als Quellen gespielt haben. Für die Darstellung der fachinternen Entwicklungen werden als Literaturgrundlage neben den bereits genannten vornehmlich die Publikationen der Historikerin Miriam Gebhardt und der Erziehungswissenschafterin Pia Schmid herangezogen.10 Schmid verfolgt in ihren Arbeiten auch einen geschlechterspezifischen Fokus.11 Die Autor/innen haben sich jeweils aus verschiedenen Blickwinkeln mit der Produktion und der Reproduktion des »medizinischen und pädagogischen Gebrauchswissens«12 seit Mitte des 18. Jahrhundert auseinandergesetzt und diese Entwicklung in Verbindung zum auto/biografischen Format der Elterntagebücher gebracht. Nach ihren Darstellungen fand die frühe wissenschaftliche Beschäftigung mit diesen Tagebuchaufzeichnungen im deutschsprachigen Raum hauptsächlich im Deutschen Kaiserreich statt. Damit ergibt sich auch der geografische Fokus dieses Kapitels.

7 Andreas Schulz: Der »Gang der Natur« und die »Perfektibilität« des Menschen. Wissensgrundlagen und Vorstellungen von Kindheit seit der Aufklärung, in: Lothar Gall und Andreas Schulz (Hg.): Wissenskommunikation im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2003, S. 15–39, S. 34. 8 Jensen und Morat: Die Verwissenschaftlichung des Emotionalen, 2008, S. 19. 9 Schulz: Der »Gang der Natur«, 2003; Till Kössler: Die Ordnung der Gefühle. Frühe Kinderpsychologie und das Problem kindlicher Emotionen (1880–1930), in: Jensen und Morat: Rationalisierungen des Gefühls, 2008, S. 189–210; dazu weiters Florian Eßer: Die verwissenschaftlichte Kindheit, in: Meike Sophia Baader, Florian Eßer und Wolfgang Schröer (Hg.): Kindheiten in der Moderne. Eine Geschichte der Sorge, Frankfurt am Main/New York 2014, S. 124–153. 10 Miriam Gebhardt: Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert, München 2009. 11 U. a. Pia Schmid: Vätertagebücher des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Zu Anfängen der empirischen Erforschung von Säuglingen und Kleinkindern, in: Imke Behnken und Jürgen Zinnecker (Hg.): Kinder. Kindheit. Lebensgeschichte. Ein Handbuch, Seelze-Velber 2001, S. 325–339; dies.: Pädagogik im Zeitalter der Aufklärung, in: Klaus Harney und Heinz-Hermann Krüger (Hg.): Einführungskurs Erziehungswissenschaft. 3. Einführung in die Geschichte von Erziehungswissenschaft und Erziehungswirklichkeit, Opladen 2006, S. 15–36. 12 Schulz: Der »Gang der Natur«, 2003, S. 18.

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(Elterliche) Emotionen als Gegenstand der historischen Forschung In den Geschichtswissenschaften können Arbeiten zur Emotionsgeschichte aktuell einen regelrechten ›Boom‹ verzeichnen, der im 2008 eingerichteten Forschungsbereich »Geschichte der Gefühle« am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin auch bereits institutionalisiert worden ist.13 Uffa Jensen und Daniel Morat identifizierten als Gegenstand einer Wissenschaftsgeschichte der Gefühle »die Frage, welche wissenschaftlichen Aussagen über welche Art von Emotionen gemacht wurden und in welchem historischen und disziplinären Zusammenhang dies geschah«.14 Ganz allgemein setzte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die als ›bürgerlich‹ bezeichnete Lebensführung als hegemoniales Konzept durch.15 Damit verknüpft war auch ein spezifisches »Emotionsregime der langen Jahrhundertwende«, das geprägt war von einer »Balance zwischen Kontrollieren und Zulassen von Emotionen«.16 Mit einem Fokus auf ›den bürgerlichen Mann‹ wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten insbesondere das Thema ›Männlichkeit und Emotionen‹ in zahlreichen Studien herausgearbeitet.17 Während in der frühen Frauengeschichte die kritische Historisierung und Kontextualisierung des Phänomens ›Mutterliebe‹ eine der Problemstellungen gewesen ist,18 liegt ein Schwerpunkt in der Geschichtsschreibung der Gefühle 13 Entsprechend der Konjunktur des Themas sind auch die Publikationen dazu vielfältig. Frühe Überblicke zur Wissenschaftsgeschichte der Emotionen sowie eine umfangreiche Literaturliste bieten u. a. Jan Plamper: Wie schreibt man die Geschichte der Gefühle? William Reddy, Barbara Rosenwein und Peter Stearns im Gespräch mit Jan Plamper, in: WerkstattGeschichte, Jg. 19, 2010, Heft 54, S. 39–69 oder Bettina Hitzer: Emotionsgeschichte – ein Anfang mit Folgen, in: H-Soz-Kult, 2011, unter: www.hsozkult.de/literaturereview/id/forschungsberichte -1221. (Alle in diesem Kapitel zitierten Websites und Webressourcen wurden zuletzt aufgerufen am 7. Oktober 2020.) 14 Jensen und Morat: Die Verwissenschaftlichung des Emotionalen, 2008, S. 17. 15 Das Thema ›Bürger/innentum‹ ist ein in der Geschichtswissenschaft ausführlich behandeltes Forschungsfeld. Frühe Überblicksdarstellungen mit einem Fokus auf Deutschland sind dabei u. a. Ute Frevert: Bürgertum im 19. Jahrhundert: Deutschland im europäischen Vergleich, München 1988; Jürgen Kocka: Bürgertum im 19. Jahrhundert: Einheit und Vielfalt Europas, Göttingen 1995. Siehe dazu weiters u. a. Andreas Schulz: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005. 16 Jensen und Morat: Die Verwissenschaftlichung des Emotionalen, 2008, S. 25. 17 Grundlegend zu Männlichkeitskonzepten Raewyn Connell: Masculinities, Berkeley 20052; als historische Überblicke mit verschiedenen räumlichen Schwerpunkten siehe u. a. Wolfgang Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000), Wien/Weimar/Köln 2003; John Tosh: A Man’s Place, Masculinity and the Middle-Class Home in Victorian England, New Haven/London 2007; weiters u. a. die Beiträge in: Manuel Borutta und Nina Verheyen (Hg.): Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit und Emotion in der Moderne, Bielefeld 2010. 18 Dazu u. a. Elisabeth Badinter: Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute, Frankfurt am Main 1983; Yvonne Schütze: Mutterliebe – Vaterliebe. Elternrollen in der bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts, in: Ute Frevert (Hg.): Bürgerinnen und Bürger.

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aktuell auf der Historisierung der Rolle der Väter und Ehemänner. Im Rahmen des stark reglementierten (bürgerlichen) Liebeskonzepts19 seit dem 18. Jahrhundert wurde auch die »Gefühlshaltung«20 von Männern normiert. Wie u. a. die Historikerin Ines Rebhan-Glück auf der Grundlage von zwei Paarkorrespondenzen aus den 1860er- und 1870er-Jahren darstellen konnte, war dabei das Ideal nicht eine »Gefühlslosigkeit«, sondern vielmehr eine ›Kultivierung‹ der Gefühle der (bürgerlichen) Männer.21 Dieser Befund ist vor der Folie der vielzitierten polarisierten »Geschlechtscharaktere« (Karin Hausen)22 vielleicht überraschend. Wie Rebhan-Glück ausführt, wurde von den Männern nicht erwartet, keine Gefühle zu haben, es sollten vielmehr die ›richtigen‹ Gefühle sein. Entsprechend erfuhr auch das Idealbild der (bürgerlichen) ›Vaterliebe‹ verschiedene zeitgebundene und geschlechtsspezifische Normierungen. Diskutiert wurden also sowohl die Rollen, die die Mütter in der Erziehung ihrer Kinder idealerweise einnehmen sollten, als auch jene der Väter. Diese wissenschaftlichen Diskurse und ihre gesellschaftlichen Implikationen sind in der Forschungsliteratur inzwischen ausführlich und plausibel dargestellt worden.23 Zwei gegensätzliche Pole der zeitgenössischen Diskussionen zu dem

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Geschlechterverhältnisse im 19. Jahrhundert, Göttingen 1988, S. 118–133; Überblicke bzw. kritische Kommentare dazu u. a. in Claudia Opitz-Belakhal: Pflicht-Gefühl. Zur Codierung von Mutterliebe zwischen Renaissance und Aufklärung, in: Querelles. Jahrbuch für Frauenund Geschlechterforschung, Bd. 7, 2002, S. 154–170; dies.: Aufklärung der Geschlechter, Revolution der Geschlechterordnung, Münster 2002, S. 39–59. Dazu u. a. Ingrid Bauer und Christa Hämmerle (Hg.): Liebe schreiben. Paarkorrespondenzen im Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2017. Ann-Charlotte Trepp: Gefühl oder kulturelle Konstruktion. Überlegungen zur Geschichte der Emotionen, in: Querelles, Bd. 7, 2002, S. 86–103, S. 95. Ines Rebhan-Glück: Gefühle erwünscht. Normiertes Liebeswerben in Verlobungskorrespondenzen aus den 1860er/70er Jahren?, in: Bauer und Hämmerle: Liebe schreiben, 2017, S. 57–85; Dazu auch Anne-Charlott Trepp: Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen 1996; Rebekka Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (1750– 1850), Göttingen 2000. Karin Hausen: Der Aufsatz über die »Geschlechtscharaktere« und seine Rezeption. Eine Spätlese nach 30 Jahren, in: dies.: Gesellschaftsgeschichte als Geschlechtergeschichte, Göttingen 2013, S. 83–105. Dazu u. a. Schütze: Mutterliebe – Vaterliebe, 1988; Yvonne Knibiehler: Geschichte der Väter. Eine kultur- und sozialhistorische Spurensuche, Freiburg 1996; Überblicke bzw. kritische Kommentare dazu u. a. in Till van Rahden: Vaterschaft, Männlichkeit und private Räume. Neue Perspektiven zur Geschlechtergeschichte des 19. Jahrhunderts, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, Jg. 11, 2000, Heft 3, S. 147–156; Ute Planert: Historische Einblicke in ›the private life of man‹. Sexualität, Familie, Männlichkeit und Politik in neueren Arbeiten zur englischen Sozialgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 40, 2000, S. 295–320; Opitz-Belakhal: Aufklärung der Geschlechter, 2002, S. 21–38; Hugh Cunningham: Die Geschichte des Kindes in der Neuzeit, Düsseldorf 2006, S. 66–119; James Marten: Family Relationships, in: Colin Heywood (Hg.): A Cultural History of Childhood and Family, Bd. 5: In the Age of Empire, Oxford/New York 2010, S. 19–38.

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Thema lassen sich an den Positionen der Philosophen John Locke (1632–1704) und Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) ablesen. Beide wurden in Europa und Nordamerika seit dem 17. Jahrhundert stark rezipiert und waren im intellektuellen Diskurs der damaligen Zeit – in mehrerlei Hinsicht – sehr einflussreich. Auch ihre Publikationen zum Thema Kindererziehung wurden jeweils mehrfach aufgelegt und übersetzt, wobei sich die Konzepte der beiden Theoretiker gerade in Bezug auf die idealisierten Rollenverteilungen zwischen den Eltern stark voneinander unterschieden: Der Brite Locke vertrat in seiner 1693 in London erschienenen Abhandlung »Some Thoughts Concerning Education« die Meinung, Männer sollten sich stärker in die Kindererziehung einbringen, da Frauen (aufgrund der ihnen zugeschriebenen natureigenen ›weichen‹ »Geschlechtscharaktere«) dem Nachwuchs »›durch Verhätschelung und Zärtlichkeit‹ Schaden zufügen« würden.24 Diese Haltung wurde schon seit der Renaissance auf verschiedene Weise propagiert. Der aus der Schweiz stammende Rousseau sah das genau umgekehrt. In seinem siebzig Jahre später in Amsterdam herausgebrachten Bestseller »Emile oder über die Erziehung« (»Émile ou De l’éducation«) (1762) wurde argumentiert: »Ehrgeiz, Habgier, Tyrannei, die irrige Voraussicht der Väter, ihre Nachlässigkeit, ihre Grobheit sind hundertmal schädlicher für ein Kind als die blinde Liebe einer Mutter.«25 Bevor der Frage nachgegangen wird, auf welche Weise sich diese zwei Positionen auch in den seit Ende des 18. Jahrhunderts belegten Tagebuchaufzeichnungen von Eltern über das Heranwachsen ihrer Kinder nachvollziehen lassen, soll an dieser Stelle noch ein zentraler Hinweis zumindest kurze Erwähnung finden, den die Geschlechterhistorikerin Claudia Opitz-Belakhal zusammengefasst hat: Auch wenn im philosophischen Diskurs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Rolle der Frauen in der Kindererziehung verschiedentlich hervorgehoben wurde, haben sich die rechtlichen Herrschaftsverhältnisse in den bürgerlichen Gesellschaften nicht geändert und die Ehemänner und Väter blieben sowohl gegenüber ihren Ehefrauen als auch gegenüber den Kindern die Autorität.26 Zudem waren die Familienstrukturen der sozialen »Mittelschichten«,27 um die es in den intellektuellen Auseinandersetzungen ja vorrangig ging, bis in das 20. Jahrhundert hinein ziemlich starr, wie es der US-amerikanische Historiker James Marten verallgemeinernd formuliert hat: »Most family structures and relationships that prevailed in the West in the nineteenth century had 24 Cunningham: Die Geschichte des Kindes in der Neuzeit, 2006, S. 99. 25 Ebd., S. 101. 26 Bezogen auf Deutschland Ute Gerhard: Verhältnisse und Verhinderungen. Frauenarbeit, Familie und Rechte der Frauen im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1978, S. 145; Frevert: Bürgerinnen und Bürger, 1988, S. 21; Opitz-Belakhal: Aufklärung der Geschlechter, 2002, S. 31. 27 Begriff nach Cunningham: Geschichte des Kindes in der Neuzeit, 2006, S. 99.

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developed long before 1800 and would survive well past 1900.«28 Welche »family structures« waren das nun genau, mit denen die Forschung sich beschäftigt hat?

Kindheit als Forschungsgegenstand seit der Mitte des 18. Jahrhunderts Historische Darstellungen zur Geschichte der Kindheit als zeitlich wandelbares Konzept in den ›westlichen Gesellschaften‹ können inzwischen auf einer extrem breiten Basis an Forschungsliteratur aufbauen.29 Frühe sozialhistorische Überblicksdarstellungen zu dem Thema entstanden bereits in den 1970er-Jahren.30 Im Brennpunkt lagen dabei die Fragen nach der ›Entdeckung‹ der Kindheit als eigene Lebensphase, der (Kern-)Familie als hauptsächlichen Ort, an dem Sozialisation stattfand (und stattfindet), sowie den sich verändernden Einflüssen der Institutionen Kirche und Staat auf das Aufwachsen der Kinder. Die zunehmenden staatlichen Regulierungsansprüche drückten sich u. a. in der Durchsetzung der Schulpflicht, in einer eigenen Jugendfürsorge oder im Auf- und Ausbau der außerhäuslichen Kinderbetreuung aus. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Wissenschaft, in der ›Kindheit‹ zu einem eigenen Forschungsgegenstand etabliert wurde, und die die Formulierungen der spezifischen ›Bedürfnisse‹ von Säuglingen und Kindern lieferte.31 Als einen hauptsächlichen Grund für das Arbeiten an einem standardisierten Wissen um die (Erhaltung der) Gesundheit der Bevölkerung und die verschiedenen Initiativen des entstehenden Wohlfahrtsstaates seit Ende des 18. Jahrhunderts betonte Andreas Schulz die hohe Kindersterblichkeit dieser Zeit.32 Zwar waren die verschiedenen sozialen Schichten unterschiedlich davon betroffen, 28 Marten: Family Relationships, 2010, S. 19. 29 Als Überblick mit einer geschlechterdifferenzierenden Perspektive mit Fokus auf Deutschland u. a. Baader, Eßer und Schröer: Kindheiten in der Moderne, 2014. 30 Philippe Ariès: Geschichte der Kindheit, München 1975; Lloyd DeMause: Hört ihr die Kinder weinen. Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit, Frankfurt am Main 1977. Als populärwissenschaftliche Überblicksdarstellung u. a. Jack Goody: Geschichte der Familie, München 2002. 31 Überblicke zu den verschiedenen fachlichen Entwicklungen bieten z. B. Jürgen Zinnecker: Forschen für Kinder – Forschen mit Kindern – Kinderforschung. Über die Verbindung von Kindheits- und Methodendiskurs in der neuen Kindheitsforschung zu Beginn und am Ende des 20. Jahrhunderts, in: Michael-Sebastian Honig, Andreas Lange und Hans Rudolf Leu (Hg.): Aus der Perspektive von Kindern? Zur Methodologie der Kindheitsforschung, Weinheim/München 1999, S. 69–80; Heinz-Hermann Krüger und Cathleen Grunert: Geschichte und Perspektiven der Kindheits- und Jugendforschung, in: dies. (Hg.): Handbuch Kindheitsund Jugendforschung, Opladen 20102, S. 11–42; Schwerpunktheft Historische Kindheitsforschung der Zeitschrift Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, Jg. 5, 2010, Nr. 3; Eßer: Die verwissenschaftlichte Kindheit, 2014. 32 Schulz: Der »Gang der Natur«, 2003, S. 20.

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insgesamt war es aber ein Problem für alle. Das konkrete Ausmaß der Todesrate unter Säuglingen und Kindern lässt sich klarerweise nicht in absoluten Zahlen angegeben, als Tendenz machte die Erziehungswissenschafterin Pia Schmid jedoch folgende Angaben: »Für den deutschsprachigen Raum wird davon ausgegangen, dass ein Drittel bis ein Fünftel der Neugeborenen im 18. Jahrhundert maximal ein Jahr alt wurde und nur die Hälfte das zehnte Lebensjahr erreichte.«33 Vor der Folie der Vermeidung tödlicher Krankheiten zielte die Betreuung kleiner Kinder also vorerst vor allem auf deren unmittelbare Versorgung ab. Kinderbetreuung und ›Erziehung‹ stützte sich bisweilen hauptsächlich auf praktische Erfahrungen. Dabei hatten sowohl jeweils verschiedene konfessionell vorgegebene Praktiken ihren fixen Platz als auch ›magische‹ Handlungen oder Talismane etc.34 Die Produktion von medizinischem Wissen wurde insbesondere durch Experimente vorangetrieben, die sich kaum von den zeitgenössich an Tieren vorgenommenen Versuchen unterschieden haben.35 Im Fall der Kinderheilkunde wurden diese nicht zuletzt in Findelhäusern durchgeführt.36 Um nur einzelne Schlaglichter auf diese interdisziplinären Debatten zu werfen: Es wurde begonnen, die frühe Kindheit in einzelne Entwicklungsstadien einzuteilen, wobei noch bis in das ausgehende 19. Jahrhundert wissenschaftlich diskutiert wurde, inwieweit es sich bei Säuglingen überhaupt bereits um ›ganze Menschen‹ handeln würde. So bildete »der Vergleich der Kinderpsyche mit derjenigen von Tieren, aber auch von Naturvölkern, ein wesentliches Moment der frühen Kinderforschung«.37 Die hier von Beginn an verbreitete Annahme, Säuglinge hätten kein Schmerzempfinden, hielt sich sogar bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.38

33 Pia Schmid: Bürgerliche Kindheit, in: Baader, Eßer und Schröer: Kindheiten in der Moderne, 2014, S. 42–71, S. 45. 34 Schulz: Der »Gang der Natur«, 2003, S. 20. 35 Pascal Eitler: Übertragungsgefahr. Zur Emotionalisierung und Verwissenschaftlichung des Mensch-Tier-Verhältnisses im Deutschen Kaiserreich, in: Jensen und Morat: Rationalisierungen des Gefühls, 2008, S. 171–187. 36 Vgl. dazu: Ingrid Matschinegg, Verena Pawlowsky und Rosa Zechner: Mütter im Dienst – Kinder in Kost. Das Wiener Findelhaus, eine Fürsorgeeinrichtung für ledige Mütter und deren Kinder, in: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft (Z. F. G.), Jg. 5, 1994, Heft 2, S. 61–80. Zu einer konkreten medizinischen Maßnahme siehe Heinz Flamm und Christian Vutuc: Geschichte der Pocken-Bekämpfung in Österreich, in: Wiener klinische Wochenschrift, Jg. 122, 2010, Heft 9–10, S. 265–275, S. 268. 37 Kössler: Die Ordnung der Gefühle, S. 192. 38 Adelheid Müller-Lissner: Narkose für Neugeborene – eine Revolution, in: Der Tagesspiegel (17. Juli 2014), online verfügbar unter dem Titel.

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Wie wurde das medizinische und psychologische Wissen popularisiert? Im Zusammenhang mit der Verwissenschaftlichung von Kindheit ist zu fragen, wie sich das zunehmend medizinisch ausgerichtete Wissen seit Mitte des 18. Jahrhunderts gesellschaftlich durchsetzen konnte, sodass es langsam seinerseits zur normativen Vorgabe wurde. Ganz allgemein kann dazu allemal das Argument der zeitgenössisch beginnenden Säkularisierung der westlichen Gesellschaften und der Professionalisierung der einzelnen Wissen(schaft)szweige vorgebracht werden. Auch wenn sich der Zweck des rasch etablierten standardisierten medizinischen Wissens und der verschiedenen Einrichtungen des entstehenden Wohlfahrtsstaates mit der Bekämpfung lebensgefährlicher Krankheiten so leicht wie drastisch benennen lässt, ist es spannend, nachzuvollziehen, mit welchen konkreten Mitteln die ständig generierten neuen Erkenntnisse in die Bevölkerung getragen werden konnten. Die einschlägigen Publikationen dürften eher nur innerhalb fachwissenschaftlicher Diskurse zirkuliert sein, und möglicherweise daraus abgeleitete praktische Konsequenzen lassen sich nicht direkt benennen.39 Wiederum Andreas Schulz hat diesbezüglich hervorgehoben, dass auch im zunehmend »wissenschaftsgläubige[n] 19. Jahrhundert« die beiden Wissenssphären »Erfahrungswissen« und »Wissenschaft« in der Kinderbetreuung und -erziehung noch in Konkurrenz zueinander standen – oder höchstens in Co-Existenz funktioniert haben: »Auch in bürgerlichen Kreisen trat man den tödlichen Risiken der frühen Kindheit eher mit einem Talisman in der Hand entgegen als mit einem Erziehungsratgeber unter dem Arm.«40 Noch weniger unmittelbar als die Umsetzung von medizinischen Wissensständen lässt sich die Wirkung der Debatten rund um die ›Seele‹ oder die ›Psyche‹ von Kindern klar benennen, die ab etwa 1880 in die wissenschaftliche Aufmerksamkeit rückten.41 Wie Till Kössler oder die britische Historikerin Carolyn Steedman in ihrer Überblicksdarstellung zur bürgerlichen Kindheit im 19. Jahrhundert vermutet haben, sind auch die psychologischen Diskussionen als primär fachinterne Angelegenheiten zu interpretieren. Das Lesepublikum der kinderpsychologischen Publikationen waren also wohl vornehmlich praktizierende Mediziner/innen und Studierende.42 Zunehmend waren es aber auch wissenschaftlich interessierte Eltern – und genau hier kommen die Elterntagebücher ins Spiel, die in dieser Sache sozusagen eine Scharnierfunktion einnahmen. Besonders hervorhebenswert ist dabei nach meiner Auslegung, dass die diesbezüglich interessierten Eltern nicht nur als Konsument/innen der wissenschaftlich ge39 40 41 42

Schulz: Der »Gang der Natur«, 2003, S. 32. Ebd., S. 24. Kössler: Die Ordnung der Gefühle, 2008, S. 190. Carolyn Steedmann: Strange Dislocations, Childhood and the Idea of Human Interiority, Harvard 1998, S. 63–76.

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nerierten Erkenntnisse einzustufen sind. In direkter Wechselwirkung wurden die Beobachtungen, die sie an ihren Kindern jeweils durchführten, wiederum von Wissenschafter/innen aufgenommen und weiterverarbeitet.43 Mit einem aktuellen Begriff können die Schreiber/innen von wissenschaftsgeleiteten Elterntagebücher also als (vor-)moderne »Citizen Scientists« bezeichnet werden (→ Abschnitt 3.4). Wie fand der Austausch ihrer Daten mit den Wissenschafter/innen aber nun konkret statt?

1.2) Elterntagebücher in der Pädagogik ab 1800: August Ludwig von Schlözer und Joachim Heinrich Campe Als Elterntagebuch wird in diesem wissenschaftlichen Kontext jenes auto/biografische Format bezeichnet, in dem Mütter oder Väter die körperlichen und geistigen Entwicklungen ihrer Kinder von Geburt an regelmäßig und genau notiert haben. Oft wurde diese Art der Aufzeichnungen auch über einen längeren Zeitraum geführt. Die bisher frühesten bekannten Beispiele sind aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts belegt. Aufgrund der zentralen Rolle, die diese Dokumentationen als Quellen für die frühe pädagogische und medizinische Forschung spielten, wurden sie bisher insbesondere in fachhistorischen erziehungswissenschaftlichen Darstellungen breit behandelt. Beiträge dazu haben hier Siegfried Hoppe-Graff und Hye-On Kim, Pia Schmid oder Sabine Andresen vorgelegt,44 eine (populärwissenschaftliche) historische Monografie wurde von Miriam Gebhard erarbeitet.45 Für die Auto/Biografie- und Tagebuchforschung sind diese frühen Elterntagebücher meiner Einschätzung nach aus viererlei Gründen bemerkenswerte Quellen: 1) Keine anderen Formen von subjektiven (Selbst-)Dokumentationen wurden so früh, so lange und in einem solchen Ausmaß von wissenschaftlichen 43 Kössler: Die Ordnung der Gefühle, 2008, S. 192; Schulz: Der »Gang der Natur«, 2003, S. 30f. 44 Schmid: Vätertagebücher des ausgehenden 18. Jahrhunderts, 2001, S. 325–339; Siegfried Hoppe-Graff und Hye-On Kim: Von William T. Preyer zu William Stern: Über die Durchführung und Nutzung von Tagebuchstudien in den Kindertagen der deutschen Entwicklungspsychologie, in: Journal für Psychologie, Jg. 15, 2007, Heft 2, S. 1–15; dies.: Tagebuchaufzeichnungen im Kontext. Varietäten einer traditionellen Methode der Kleinkindforschung, in: Heidi Keller und Annette Rümmele (Hg.): Handbuch der Kleinkindforschung, Bern 2011, S. 820–844; Sabine Andresen: Die Produktion von Wissen im Tagebuch. Eine historische Diskursanalyse über die Bedeutung von Tagebüchern für die Forschung über Kindheit und Jugend, in: Susann Fegter u. a. (Hg.): Erziehungswissenschaftliche Diskursforschung. Empirische Analysen zu Bildungs- und Erziehungsverhältnissen, Wiesbaden 2015, S. 75–88; Siegfried Hoppe-Graff und Hye-On Kim: Die Stern-Tagebücher. Würdigung und Aktualität eines historischen Dokuments der Entwicklungspsychologie, in: Psychologische Rundschau, Jg. 70, 2019, Heft 3, S. 195–206. 45 Gebhardt: Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen, 2009.

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Erkenntnissen beeinflusst. 2) Bei keinen anderen Formen von auto/biografischen Aufzeichnungen wurden wissenschaftlich fundierte Schreibanleitungen so stark akzeptiert und übernommen.46 3) Im Gegenzug wurden keine anderen Formen in einem vergleichbaren Maß und über einen so langen Zeitraum als Quellengrundlagen für wissenschaftliche Analysen herangezogen und in so vielen verschiedenen Fächern ausgewertet.47 4) Keine anderen Formen wurden über einen so langen Zeitraum mit dezidiert wissenschaftlichen Absichten ediert und veröffentlicht.48 Diese vier Aspekte werden im Folgenden näher ausgeleuchtet. Abgesehen von anderen Funktionen, die das Führen von Elterntagebüchern selbstredend auch haben konnte, sind sie also ein auto/biografisches Format, das dazu herangezogen werden kann, die Rezeptionen, Übernahmen oder Ablehnungen von bestimmten zeitgenössischen Forschungskonjunkturen relativ direkt aufzuspüren. Wie aber ging diese Korrelation des Elterntagebuchschreibens und der Forschung vonstatten? Und wer waren hier die hauptsächlichen Akteur/ innen?

Elterntagebücher als Aufzeichnungen von Gelehrten Wie Miriam Gebhardt zusammengefasst hat, können Dokumentationen von Eltern über das Heranwachsen ihrer Kinder für ihre Verfasser/innen sowohl ein »Instrument der Erkenntnis, Dokumentation, Kontrolle und, nicht zuletzt, der Rechtfertigung und Erinnerung« sein.49 Wissenschaftshistorisch sieht Gebhardt 46 Das unterschied diese Schreibanleitungen etwa von den ebenfalls sehr populären Briefstellern. Dazu u. a Carmen Furger: Briefsteller. Das Medium »Brief« im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2010. 47 Einen Überblick zur pädagogischen Forschung mit Elterntagebüchern bietet u. a. Egle Becchi: Otto papà illuminati, in: dies. und Monica Ferrari (Hg.): Formare alle professioni. Sacerdoti, principi, educatori, Milano 2009, S. 319–360. Einen Überblick zur psychologischen Forschung mit Elterntagebüchern gibt z. B. Siegfried Jaeger: The Origin of the Diary Method in Developmental Psychology, in: Georg Eckardt, Wolfgang G. Bringmann und Lothar Sprung (Hg.): Contributions to a History of Developmental Psychology: International William T. Preyer Symposium, Berlin/New York/Amsterdam 1985, S. 63–74. Ein früher Überblick der sprachwissenschaftlichen Forschung mit Elterntagebüchern ist Friedrich Richter: Die Entwicklung der psychologischen Kindersprachforschung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts: Ein Beitrag zur Geschichte der Kinderseelenkunde, Münster 1927. 48 Dieser wissenschaftliche Anspruch der Editionen, die insbesondere ein Nachahmen ermöglichen sollten, um wiederum neue Quellen für die weiteren Auswertungen zu generieren, unterscheidet die Elterntagebücher deutlich von anderen auto/biografischen Formaten wie Paarkorrespondenzen oder Lebenserinnerungen (vornehmlich berühmter Männer), die ebenfalls eine lange Tradition der Veröffentlichung haben. 49 Miriam Gebhardt: Mit Waage und Papier – Die Erfindung des modernen Elterntagebuchs, in: Janosch Steuwer und Rüdiger Graf (Hg.): Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher

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darin »die wohl wichtigste Wendung in der Geschichte des Aufwachsens«: vom ›gottgegebenen‹ Menschenbild hin zu einem ›naturgegebenen‹.50 Der dem zugrunde liegende theoretische Unterbau bestand in der Idee der ›Perfektibilität‹. Damit ist die Annahme gemeint, dass der einzelne Mensch dazu fähig sei, sich bilden und vervollkommnen zu lassen – und dass er dabei auch gesteuert werden könne.51 Steuerbar schien offenbar auch das Anfertigen von Aufzeichnungen über die Entwicklung von Kindern. Zumindest riefen Mitglieder der pädagogischen Reformbewegung des Philanthropismus bereits im späten 18. Jahrhundert dazu auf, Elterntagebücher zu führen, um damit eine »›natürliche‹ Erziehung« zu veranschaulichen.52 Als sehr frühes Beispiel dafür identifizierte die Erziehungswissenschafterin Simone Austermann eine bereits im Jahr 1771 formulierte Forderung des ›universalgelehrten‹ und weitgereisten Aufklärers August Ludwig von Schlözer (1735–1809).53 Für die Propagierung des Mediums erscheint mir als wesentlich, dass neben den Aufrufen bald auch Beispiele von entsprechenden Aufschreibungen veröffentlicht wurden, die Interessierte als Leitsysteme für etwaige eigene Dokumentationsprojekte heranziehen konnten. Nach Simone Austermanns Darstellung wurde die erste entsprechende Publikation 1787 herausgebracht. Es handelte sich um die »Beobachtungen über die Entwicklung der Seelenfähigkeiten bei Kindern« des Philosophen und Linguisten Dietrich Tiedemann (1748–1803) aus Kassel bzw. Marburg.54 Der Text des Tagebuchs war in der Veröffentlichung als Prosaerzählung gestaltet. Die Aufzeichnungen waren zur Publikation also bearbeitet worden. Sie beginnen mit einer allgemeinen Vorstellung: »Der Knabe, von dem die Rede im Folgenden sein wird, wurde geboren am 23. August 1781.« Nach einer mehrzeiligen Erläuterung, warum es wichtig sei, das genaue Geburtsdatum anzugeben, geht es (vorerst indirekt) wieder um den Säugling. Dabei gibt sich der Autor als

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in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2015, S. 47– 62, S. 47. Ebd. Vgl. dazu als Überblick Schmid: Pädagogik im Zeitalter der Aufklärung, 2006. Gebhardt: Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen, 2009, S. 38. Simone Austermann: Die »Allgemeine Revision«. Pädagogische Theorieentwicklung im 18. Jahrhundert (Beiträge zur Theorie und Geschichte der Erziehungswissenschaft, Bd. 32), Bad Heilbrunn 2010, S. 18, FN 15. Austermann: Die »Allgemeine Revision«, 2010, S. 18; Dietrich Tiedemann: Beobachtungen über die Entwicklung der Seelenfähigkeit bei Kindern (Hessische Beiträge zur Gelehrsamkeit und Kunst, Bd. 2), (o. O.) 1787, S. 213–333 und S. 486–502. In einem Nachdruck von 1897 wurde Tiedemann vom Herausgeber, einem Bürgerschuldirektor, als »Begründer der Kinderpsychologie« benannt, was wohl etwas vorgegriffen war. Chr. Ufer: Einleitung des Herausgebers, in: ders. (Hg.): Dietrich Tiedemanns Beobachtungen über die Entwickelung der Seelenfähigkeiten bei Kindern. Mit Einleitung, sowie mit einem Litteraturverzeichnis zur Kinderpsychologie, Altenburg 1897, S. III.

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Kenner der menschlichen Sinnesregungen: »Bekanntlich wenden die Kinder gleich anfangs und hernach, so oft sie erwachen, ihre Augen nach dem Lichte, ein Beweis, daß das Licht einen an sich angenehmen Eindruck macht.« Nach wiederum längeren Erläuterungen, warum Erwachsene dies häufig anders empfinden, lernen die Leser/innen den kleinen Probanden nun direkt kennen: »Gleich am folgenden Tage, als die Wärterin dem Knaben einen Finger in den Mund steckte, sog er daran, doch nicht anhaltend, sondern schmatzend. Wie man aber etwas Süßes, in ein Läppchen gewickelt, ihm in den Mund steckte, sog er anhaltend: ein Beweis, dünkt mich, daß das Saugen nicht angeboren, sondern erlernt ist.«55 Dieser kurze Ausschnitt zeigt bereits die Tendenz, welcher inhaltlichen Gewichtung diese bestimmte Form von Elterntagebüchern folgen sollte. Das Kind stand zwar im Mittelpunkt der Beobachtungen, schriftlich registriert wurden aber vorwiegend seine körperlichen Funktionen und Reaktionen. Persönliche Eindrücke oder sozialhistorische Schilderungen können in dem Text nicht erwartet werden. Diese finden sich aber gegebenenfalls indirekt wieder, wie hier etwa im Hinweis auf die »Wärterin«, also das Kindermädchen, die das Neugeborene offenbar betreut hat. Aus dem bisher Gesagten fällt auf, dass sowohl die Personen, die in den 1870er- und -80er-Jahren diese Schreibprojekte initiiert haben, als auch jene, von denen entsprechende Quellen als Publikationen vorliegen, Männer gewesen sind. Es hat sich dabei (vorerst) um eine auto/biografische Praxis von gebildeten Vätern aus dem Bürger/innentum gehandelt – zumindest bei der öffentlich verhandelten Form. Dadurch wurde auch der »Habitus des forschenden Vaters«56 geprägt und etabliert. Aus diesem Grund verwende ich für diese Art der nach (vor-)bestimmten rationalen Kriterien angefertigten Aufzeichnungen im Weiteren den Begriff ›wissenschaftsgeleitete Vätertagebücher‹.57 Von ihnen sind mehrere veröffentlichte Beispiele erhalten – die, wie erwähnt, auch im Fokus der bisherigen fachhistorischen Darstellungen standen.

Pädagogisch geleitete Vätertagebücher Im Zusammenhang mit der Etablierung der wissenschaftsgeleiteten Vätertagebücher wird in der Forschungsliteratur besonders Augenmerk auf die Aktivitäten des aus Niedersachsen gebürtigen Joachim Heinrich Campe (1746–1818) 55 Tiedemann: Beobachtungen über die Entwicklung der Seelenfähigkeit bei Kindern, 1897, S. 4. 56 Gebhardt: Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen, 2009, S. 38. 57 Der Begriff »Vätertagebücher« wird auch von Pia Schmid verwendet, vgl. dies.: Vätertagebücher des ausgehenden 18. Jahrhunderts, 2001. Insgesamt findet sich in der Forschungsliteratur eher der Begriff »Elterntagebücher« ohne geschlechterspezifische Markierung.

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gelegt.58 Der Pädagoge, Prediger, Verleger und Schriftsteller war u. a. Hauslehrer der Familie Humboldt gewesen. 1789 publizierte er in dem von ihm einige Jahre herausgegebenen »Braunschweigische[n] Journal philosophischen, philologischen und pädagogischen Inhalts«59 die Fragmente von zwei Vätertagebüchern. Um diese Protokolle zu lukrieren, hatte Campe zuvor das Mittel einer »Preisfrage« bemüht, die er ebenfalls im »Braunschweigische[n] Journal« veröffentlicht hat.60 Es finden sich in der Forschungsliteratur keine Hinweise, wie viele Rückmeldungen es auf diese »Preisfrage« gegeben haben könnte. Campe hatte nirgends angegeben, ob nur die zwei von ihm veröffentlichten Aufzeichnungen eingereicht worden waren, oder möglicherweise noch weitere. Auch gibt es keine Informationen über die ursprüngliche Form oder den Verbleib der Originale. Als Editionen trägt der eine Text jedenfalls den Titel »Tagebuch eines Vaters über sein neugeborenes Kind«, sein Verfasser war Major Moritz Adolf (Adolph) von Winterfeld (1744–1819).61 1790 wurde im »Braunschweigische[n] Journal« die »Beantwortung einiger Entwürfe des Herausgebers des Tagebuchs eines Vaters von dem Verfasser des Tagebuchs« veröffentlicht, 1791 die »Fortsetzung des Tagebuchs eines Vaters«.62 Damit erweist sich dieses Unternehmen als längerfristiges Projekt, das offenbar über mehrere Jahre verfolgt wurde. Das kann einerseits als Hinweis für das anhaltende Interesse an solchen Veröffentlichungen interpretiert werden. Andererseits zeigt es auch das anhaltende Interesse des wissenschaftsgeleiteten Vätertagebuchschreibers an dieser Forschungsarbeit. Simone Austermann hat zu Moritz Adolf von Winterfeld angegeben, er habe »sich sein Wissen primär im Selbststudium« angeeignet.63 Im Brotberuf war er Militärangehöriger, nach Dienstschluss dann als Autodidakt Rezipient von progressiven Wissenschaftsjournalen und engagierter Laienwissenschafter.64

58 Die biografischen Daten wurden entnommen dem Wissensportal Wikipedia (o. J.) unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Joachim_Heinrich_Campe. 59 Einen Überblick über die zeitgenössischen Fachzeitschriften bieten Georg Eckardt und Matthias John: Anthropologische und psychologische Zeitschriften um 1800, in: dies. u. a. (Hg.): Anthropologie und empirische Psychologie um 1800, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 133– 185. 60 Dazu u. a. Austermann: Die »Allgemeine Revision«, 2010, S. 18f. 61 Erschienen in: Braunschweiger Journal, 1789, Nr. 5, S. 404–441. Die Angaben zum vollständigen Namen des Schreibers sowie zu seinen Lebensdaten sind entnommen aus Becchi: Otto papà illuminati, 2009, S. 352. 62 Jaeger: The Origin of the Diary Method in Developmental Psychology, 1985, S. 74. 63 Austermann: Die »Allgemeine Revision«, 2010, S. 49. 64 Moritz Adolf von Winterfeld veröffentlichte Abhandlungen zu noch weiteren wissenschaftlichen Fragen, u. a. zum Thema Suizid, was ebenfalls die Antwort auf eine »Preisfrage« in einem Wissenschaftsjournal war. Vgl. Vera Lind: Selbstmord in der Frühen Neuzeit. Diskurs, Lebenswelt und kultureller Wandel, Göttingen 1999, S. 101–103. Zum Thema Schreibwettbewerbe siehe auch → Abschnitt 2.2.

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Auch der Autor des zweiten Manuskripts, das Campe 1789 veröffentlichte, war offenbar in mehreren intellektuellen Fächern bewandert. Die Berufe von Friedrich Wilhelm Jonathan Dillenius (1754–1815) werden in der Forschungsliteratur mit »Schulmann«, Pfarrer, Übersetzer und Autor von Schulbüchern angegeben. Sein wissenschaftsgeleitetes Vätertagebuch führte er über seine 1786 geborenen Tochter Friederike.65 Wie die Aufzeichnungen von Moritz Adolf von Winterfeld wurden auch die von Dillenius als Fortsetzung herausgegeben. Der zweite Teil wurde 1790 publiziert. Dabei hat Campe seine fachlichen Kommentare als Fußnoten gleich direkt in die Texte eingefügt: »Den 6ten Jul. [1786]. Als ich heute mit ihm [dem Kind, L. G.] spielte, und ihm etliche – (denn v i e l e halte ich nicht für gut *) neue Gegenstände vor die Augen brachte, sah es mich s e h r a u f m e r k s a m an, lächelte, und lallte: ahn – ahn! Als ob es mir antworten wollte. […] *) Sehr richtig! Campe. Den 14ten Jul. Jetzt will das Kind immer auf der Gasse, und unter Menschen seyn. Also […] G e s e l l s c h a f t s t r i e b . Wenn es unter andern Menschen ist, so lacht es bald gegen den, bald gegen jenen, wie wenn es sich ihren Beyfall, Liebe und Achtung zu erwerben suchen wollte. Folglich […] T r i e b , s i c h a n d e r n g e f ä l l i g z u m a c h e n : o d e r T r i e b z u r M e n s c h e n l i e b e *). […] *) Das wohl noch nicht; sondern nur erst sympatherisches [sic!] Mitgefühl bey den Ausdrücken froher oder widriger Empfindungen, welche das Kind in den Mienen, Blicken, Gebehrden und in dem Ton anderer Menschen wahrnimmt. Campe.«66

Die Aufrufe und die Publikationen, die zuvor August Ludwig von Schlözer oder jetzt Joachim Heinrich Campe lanciert haben, trugen sicherlich zur Popularisierung dieser jeweils ›in Auftrag gegebenen‹ Form der elterlichen Aufzeichnungen bei. An dieser Stelle ist aber auch die Annahme stark zu machen, dass die Wissenschafter für ihre Forschungsprojekte umgekehrt Quellenformate aufgegriffen haben dürften, die ihnen bereits geläufig waren, aus welchen Zusammenhängen auch immer. Ich gehe davon aus, dass das Schreiben von Elterntagebüchern im späten 18. Jahrhundert eine in bürgerlichen Kreisen bereits bekannte Praxis war, die wahrscheinlich auf verschiedene Weisen umgesetzt wurde, während sie parallel dazu in den Fokus wissenschaftlicher Interessen geraten ist.

65 Austermann: Die »Allgemeine Revision«, 2010, S. 18–19. Ob Dillenius nur über seine erstgeborene Tochter Friederike Aufzeichnungen anfertigte oder ob er auch seinen 1891 geborenen Sohn, den späteren Pfarrer, Dichter und Heimatforscher Ferdinand Ludwig Immanuel Dillenius und ggf. noch weitere Kinder auf diese Weise dokumentiert hat, ist nicht bekannt. 66 Friedrich Wilhelm Jonathan Dillenius: Vätertagebuch, 6. und 14. Juli 1786. Wie die Veröffentlichung des weiter vorne genannten Dietrich Tiedemann wurden auch die Aufzeichnungen von Dillenius später wiederabgedruckt. Dieses Zitat ist entnommen aus dem Wiederabdruck in: [o. A.] Ehrenfeld: Ferdinand’s Ehrenfelds Jugendjahre. Ein Beitrag zur neuern Pädagogik. Zur Beherzigung für Eltern, Lehrer und Erzieher, welchen das Wohl ihrer Kinder am Herzen liegt, Leipzig 1798, S. 409f. [Hervorhebungen im Original].

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Diese Annahme kann mit dem Beispiel von »Ferdinand’s Ehrenfelds Jugendjahre. Ein Beitrag zur neuern Pädagogik. Zur Beherzigung für Eltern, Lehrer und Erzieher, welchen das Wohl ihrer Kinder am Herzen liegt« gestützt werden. Der Verfasser dieser Aufzeichnungen ist nicht namentlich ausgewiesen, bekannt ist jedoch, dass er im Brotberuf ein Lehrer gewesen sein soll. Das Buch wurde 1798 in Leipzig herausgegeben und umfasst auf 437 gedruckten Seiten pädagogische Überlegungen, die der Autor entlang des Aufwachsens seines Kindes Ferdinand darlegt. Ferdinand war 1750 geboren worden, also fast ein halbes Jahrhundert vor dem Erscheinen der Aufzeichnungen über seine »Jugendjahre« – und beinahe 40 Jahre vor dem Aufruf von Joachim Heinrich Campe. Die sehr detaillierten Angaben über die Ernährung, die Ferdinand als Säugling verabreicht wurde, oder über das Spielzeug, das er als Bub zu bestimmten Zeiten bevorzugt hat, lassen vermuten, dass der Text auf Notizen aufgebaut gewesen sein dürfte, die zeitgleich angefertigt worden waren. Insgesamt ist das Buch als Erziehungsratgeber konzipiert, der vor allem Vorschläge für Väter enthält. So stellte der Autor u. a. fest: »Eines der angenehmsten Spiele war für unsern Ferdinand das Ballspiel, ein Spiel, dessen selbst Männer sich nicht schämen dürfen«67 – eine Ansicht, die es um 1800 unter bürgerlichen Vätern offenbar erst zu etablieren galt. Weniger umstritten war inzwischen wahrscheinlich die Ansicht über den möglichen Nutzen des Elterntagebuchschreibens. Die konkrete Form der wissenschaftsgeleiteten Aufzeichnungen konnte dabei nicht zuletzt auf verschiedene Vor- und Referenzformen aufbauen, was hier besonders betont werden soll. Diese Vorformen sind insbesondere in den verschiedenen Selbstdokumentationspraktiken des (Hoch-)Adels zu finden, die hier zumindest kurz entsprechend vorgestellt werden sollen.

Referenzformen aus dem (Hoch-)Adel und dem Bürger/innentum Eine den wissenschaftsgeleiteten Elterntagebüchern verwandte Form sind die (Selbst-)Dokumentationen von adeligen Körpern, die in der Forschung bereits für das 17. Jahrhundert belegt wurden.68 Sehr frühe Aufzeichnungen über ein 67 Ehrenfeld: Ferdinand’s Ehrenfelds Jugendjahre, 1798, S. 37. 68 Siglinde Clementi: Körper, Selbst und Melancholie. Die Selbstzeugnisse des Landadeligen Osvaldo Ercole Trapp (1634–1710) (Selbstzeugnisse der Neuzeit; Bd. 26), Köln/Weimar/Wien 2017. Zum Thema Schwangerschaft und Geburt siehe zuletzt Hannah Fischer-Monzón: Verhütung auf Um-Wegen. Vom kumber und der ausbliebenden sach in den (Reise-)Tagzetteln Johanna Theresias von Harrach, 1676, Madrid-Wien und Christian Standhartinger: An everyday miracle. Three birth descriptions in count Ferdinand Bonaventura von Harrach’s diary (1674–1676), beide in: Avisos de Viena. Viennese Siglo de Oro Journal, Jg. 1, 2020, Heft 0, S. 29–33 und S. 34–43. Zu Krankheit siehe auch u. a.: Gudrun Piller: Private Körper. Spuren des Leibes in Selbstzeugnissen des 18. Jahrhunderts (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 17), Köln/

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hochadeliges Kind sind von Jean Héroard (1551–1628) erhalten, dem Leibarzt von Louis (Ludwig) XIII. (1601–1643), dem späteren König von Frankreich und Navarra.69 Darin sind die Gesundheit, der Ernährungsplan und etwaige Behandlungsmethoden des Thronfolgers verzeichnet, aber auch Veränderungen seiner Gestik, Sprache und Interessen, sein Stundenplan, die Beschäftigungen und Erziehungsmaßnahmen. Weitere Notizen betreffen die Geschwister und Halbgeschwister des Dauphin sowie finanzielle Belange. Die ebenfalls enthaltenen Kritzeleien des kleinen Zöglings vermitteln den Eindruck, dass der Mediziner die Notizen im Beisein des Kindes angefertigt haben dürfte. Die Aufzeichnungen wurden schließlich über den Zeitraum von 27 Jahren geführt, Grund für das Ende war der Tod des Verfassers. Mit höfischen Kindheiten im 18. Jahrhundert beschäftigte sich die Historikerin Claudia Kollbach. Sie hat dazu in einer umfangreichen Studie Adelsfamilien der Grafschaften Hessen-Darmstadt und Baden-Durlach verglichen.70 Als Quellengrundlagen verwendete sie die verschiedensten Genres von Selbstzeugnissen, die in den Familienarchiven zur Verfügung stehen. U. a. sind das »Krankenjournale«, die die Fürstinnen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts über ihre Kinder anlegten,71 wobei Kollbach darauf verwiesen hat, dass »Journale in Form von medizinischen Aufzeichnungen oder von Protokollen, die allgemeine Phänomene des Erziehungsprozesses verzeichneten, […] sich in Adelskreisen schon für frühere Jahrhunderte [als dem 18., L. G.] nachweisen« lassen.72 Eine weitere Quelle ist ein »Erziehungstagebuch«, das die Gouvernanten der Hessen-Darmstädtischen Prinzessinnen Karoline (geb. 1746), Friederike (geb. 1751), Amalie (geb. 1754), Wilhelmine (geb. 1755) und Luise (geb. 1757) über die Mädchen führten.73 Darin wurden ihre Tagesabläufe festgehalten sowie ihre Fortschritte im Handarbeiten, im Briefeschreiben, im höfischen Repräsentationsverhalten und bezüglich ihrer Tischmanieren etc. dokumentiert.74 Die »ausführlichen Darstellungen des Fehlverhaltens der Kinder, die stark moralisierenden Bewertungen ihres Benehmens ebenso wie die gelegentlich übertrieben wirkende Empörung der Gouvernante« in den Einträgen lassen vermuten,

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Weimar/Wien 2007 oder die Beiträge in Martin Dinges und Vincent Barras (Hg.): Krankheit in Briefen im deutschen und französischen Sprachraum, Stuttgart 2007. Madeleine Foisil: Die Sprache der Dokumente und die Wahrnehmung des privaten Lebens, in: Philippe Ariés und Roger Chartier (Hg.): Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3: Von der Renaissance zur Aufklärung, Augsburg 2000, S. 333–370. Claudia Kollbach: Aufwachsen bei Hof. Aufklärung und fürstliche Erziehung in Hessen und Baden, Frankfurt am Main 2009. Ebd., S. 89, S. 97. Ebd., S. 374. Die Namen und Geburtsdaten der fünf Prinzessinnen wurden entnommen dem Wissensportal Wikipedia (o. J.) unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Ludwig_IX._(Hessen-Darmstadt). Kollbach: Aufwachsen bei Hof, 2009, S. 197, S. 200.

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dass die Mädchen diese gelesen haben – womit das Buch also auch als ein »Erziehungsinstrument« funktionierte.75 Die von den fünf Prinzessinnen im Schulunterricht durchgemachten Themen fanden hingegen keine Erwähnung,76 dieser Schwerpunkt ist wiederum in den Aufzeichnungen des Lehrers der badischen Prinzen aus den 1770er-Jahren zu finden.77 Damit lässt sich einerseits die geschlechterspezifische Gewichtung des höfischen Unterrichts nachvollziehen, andererseits sicherlich auch eine geschlechterspezifische Dokumentationsgewichtung. Wie Claudia Kollbach darstellte, änderten sich dabei im Laufe des 18. Jahrhunderts die involvierten Akteur/innen. Zunehmend beteiligten sich nun auch die Fürstinnen selbst an der Erziehung ihrer Kinder, über die sie sich dann brieflich miteinander austauschten. Gleichzeitig waren in diesem sozialen Milieu aber immer auch Erzieher/innen und Leibärzte mit der Betreuung und der Dokumentation der adeligen Kindheit beschäftigt. Die Erziehungsarbeit einer hochadeligen Diaristin aus dem 19. Jahrhundert hat Sheila Patel erforscht. Sie hat sich mit Gräfin Maria Esterházy-Galántha (geb. Plettenberg-Mietingen, 1809–1861) beschäftigt, deren Tagebücher u. a. Dokumentationen enthalten, die sie zwischen 1844 und 1861 über ihre drei Söhne Paul (geb. ca. 1835), Max (geb. 1837) und Nicolas (geb. 1839) angefertigt hat.78 Auffallend ist hier, dass Maria Esterházy-Galántha die Aufzeichnungen über ihre Kinder erst begonnen hat, als der älteste bereits um die acht und der jüngste vier Jahre alt gewesen ist. Dass sie dabei von zeitgenössischen medizinischen Publikationen oder von Editionen von Vätertagebüchern inspiriert worden war, lässt sich vermuten. Jedenfalls führte sie das Buch dann über einen Zeitraum von 17 Jahren. Auch am Ende dieses Tagebuchprojektes stand der Tod der Schreiberin, bei dem jeder der dokumentierten Söhne das 20. Lebensjahr bereits überschritten hatte, was beides an die Aufzeichnungen über Louis XIII. erinnert. Maria Esterházy-Galánthas Notizen beginnen mit detaillierten Beschreibungen des Aussehens und der körperlichen Konstitutionen der Buben: »Paul ist groß für sein Alter, sehr schlank seine Züge noch wenig entwickelt – seine Stirn ist hoch, seine Nase klein und schmal, so daß noch alles aus ihr werden kann; seine grauen Augen sind groß und Augenwimpern lang und dunkeler als seine blonden Haare – der Mund ist hübsch, seine kleinen Milchzähnchen wechselt er, die neuen sind lang und breit und jetzt noch nicht gut verzirt – seine Ohren sind groß und spitz, seine Gesichtsfarbe […] er wird erwachsen gewiß seinem lieben Vater 75 76 77 78

Ebd., S. 199. Ebd., S. 222. Ebd., S. 253. Sheila Patel: Adeliges Familienleben, weibliche Schreibpraxis. Die Tagebücher der Maria Esterházy-Galántha (1809–1861) (Geschichte und Geschlechter, Bd. 66), Frankfurt am Main 2015.

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ähnlich sehen – Möge er es auch durch die Eigenschaften seines Herzens werden.«79 Sheila Patel identifiziert diese Form der Beschreibung als eine traditionelle adelige (Selbst-)Darstellungsweise, in der vom Aussehen auch Rückschlüsse auf den Charakter der Kinder gezogen wurden. Insbesondere die Kommentare der Gräfin zu charakterlichen Eigenschaften ihrer Söhne werden als eine »Anpassung an adelige Normen« interpretiert.80 Eine Verbindung zwischen adeligen Schreibpraktiken und der frühen (Klein-) Kinderpsychologie hat Andreas Schulz im Zusammenhang mit den Aufzeichnungen von Prinzessin Alice Maud Mary von Großbritannien und Irland (1843– 1878) hergestellt. Als verheiratete Großherzogin von Hessen und bei Rhein hat die britische Prinzessin zwischen 1863 und 1874 das Aufwachsen ihrer sieben Kinder diaristisch festgehalten und gleichzeitig auch brieflich an ihrer Mutter Queen Victoria (1819–1901) berichtet.81 Unerwähnt bleibt bei Schulz, dass sich Prinzessin Alice in der öffentliche Gesundheitspflege speziell von Wöchnerinnen engagiert hat. Sie begründete 1867 in Darmstadt den »Alice-Frauenverein für Krankenpflege«82 und später eine konfessionslose Krankenpflegerinnenausbildung. Ihr Interesse an der Entwicklung ihrer eigenen Kinder könnte also auch in Zusammenhang mit einem praktischen, professionellen Interesse zu sehen sein. Eine solche Verbindung haben Andreas Schulz, Till Kössler und Miriam Gebhard in ihren auf wissenschaftliche Disziplinen fokussierten fachhistorischen Fragestellungen im 18. und 19. Jahrhundert für bürgerliche Männer dargestellt. Sie waren ja auch die jeweiligen Proponenten in der zeitgenössischen universitären Wissensproduktion. Frauen waren hiervon noch ausgeschlossen. Sie waren einstweilen gegebenenfalls in anderen Feldern wie etwa der ›Wohltätigkeit‹ aktiv. Ein zentraler Hinweis auf die individuellen Gestaltungen persönlicher Schreibpraktiken einzelner Schreiber/innen, die ja immer sowohl von Konventionen als auch von selbst bestimmten Funktionen beeinflusst sind (→ Kapitel 4), lässt sich wiederum aus dem schriftlichen Nachlass von Gräfin Maria Esterházy-Galántha ziehen. Wie Sheila Patel dargestellte, hat sie die Aufzeichnungen über ihre Kinder parallel zu gleich mehreren weiteren Tagebüchern geführt, die jeweils anderen inhaltlichen Schwerpunkten folgten. Insgesamt sind zwölf verschiedene Diarien von ihr erhalten, die sie (mit Unterbrechungen) ab ihrem 15. Lebensjahr (1824) geschrieben hat. Ab 1844 verfasste sie – neben ihren inzwischen etablierten ichbezogenen Tagebüchern – zusätzlich das vorgestellte Müttertagebuch, ab 1846 79 Maria Esterházy-Galántha, Müttertagebuch, 26./27. Mai 1844, zitiert nach: Patel: Adeliges Familienleben, 2015, S. 234. 80 Ebd., S. 234. 81 Schulz: Der »Gang der Natur«, 2003, S. 30–31, S. 37. Die biografischen Daten wurden entnommen dem Wissensportal Wikipedia (o. J.) unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Alice_von _Großbritannien_und_Irland. 82 Vgl. die Angaben unter: www.darmstadt-stadtlexikon.de/a/alice-frauenvereine.

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ein Notizenbuch »für allerhand«, ab 1849 zudem ein »Wirtschaftstagebuch«.83 Das Aufwachsen ihrer drei Söhne ist dabei bereits vor Beginn des fokussierten Müttertagebuches in Maria Esterházy-Galánthas anderen Tagebüchern dokumentiert, wo u. a. die Schwangerschaften und Geburten beschrieben und immer wieder auch Notizen zu den Buben festgehalten wurden: »[…] die lieben Kinder sind Gottlob wohl und wachsen zusehends – Paul hat einen schwer zu leitenden Character doch auch viel Gutes.«84 Das Thema blieb in dem ich-bezogenen Tagebuch auch nach Beginn des Müttertagebuches präsent. Das Aufwachsen der jungen Grafen wurde seit 1844 also gleichzeitig an verschiedenen schriftlichen Orten dokumentiert. Bezogen auf die ›wissenschaftsgeleiteten Elterntagebücher‹ stützen diese Beispiele die Annahme, dass Schreiberinnen (und womöglich Schreiber, was anhand weiterer Archivbestände zu prüfen wäre) aus bestimmten sozialen Kontexten bereits detaillierte Aufzeichnungen über ihre Kinder geführt haben, noch bevor das durch neue, wissenschaftliche Schwerpunkte ›in Mode‹ kam, gefördert wurde und zu einer eigenständigen, thematisch zugespitzten auto/biografischen Form avancierte. Gleichzeitig kann hier ein wechselseitiger Kulturtransfer zwischen als ›adelig‹ und als ›bürgerlich‹ markierten Praktiken nachvollzogen werden. Dazu können auch Familienchroniken gezählt werden, die ich als eine weitere Referenzform der wissenschaftsgeleiteten Elterntagebücher vorschlage. Mit dem »Geburts und Tauf Verzeichniß« des Wiener Juweliersohn und Leinenhändler Franz de Paula Resch (1773–1844) kann dazu auch ein bisher unveröffentlichtes Quellenbeispiel aus dem innerstädtischen Bürger/innentum vorgestellt werden. Das Verzeichnis wurde zwischen 1803 und 1825 geführt und beinhaltet Angaben zu den zehn Kindern des Verfassers.85 Die Einträge sind alle gleich aufgebaut: Auf den wiederkehrend verwendeten Satz »Nach der gnadenreichen Geburt Jesu Christi Ein Tausend Acht=Hundert [Jahr] ist mein liebes Kind zur Welt gebohren worden« folgt jeweils das Datum, der Wochentag und die Uhrzeit der Geburt. Weiters notiert sind die Taufpfarrer, deren Pfarrzuständigkeiten, die Pat/innen, die als Adelige, »Papierfabrikantengattinnen« o. ä. ausgewiesen sind, deren Familienstand und gegebenenfalls Vertretung – und schließlich die Namen und Lebensdaten der acht Söhne und zwei Töchter. Ein zweites Blatt enthält jeweils den »Tauf-Schein« für die Neugeborenen. Das Buch funktionierte somit also auch als amtliches Dokument. Die Mutter der Kinder blieb unerwähnt. Aus genrehistorischer Sicht ist zudem erwähnenswert, dass die Einträge in diesem Verzeichnis ab 1869 von Franz de Paula Reschs Sohn Josef Resch wei83 Patel: Adeliges Familienleben, 2015, S. 19–42. 84 Maria Esterházy-Galántha: Müttertagebuch, 8. April 1843, zitiert nach: Patel: Adeliges Familienleben, 2015, S. 235. 85 Franz de Paula Resch: »Geburts und Tauf Verzeichniß«, Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien (SFN), NL 38 II.

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tergeführt wurden. Der 45-jährige »Mühlenbesitzer« notierte dabei den Tod seines Vaters im Jahr 1844 sowie den seiner 26-jährigen Schwester 1848. Als Anlass für die Nachträge wird der Tod seiner bisher in dem Buch nicht genannten Mutter Elisabeth Resch (geb. Moser, 1786–1869) angegeben. Im Fall dieser Familie handelte es sich beim Verzeichnen der Mitglieder also um eine generationsübergreifend umgesetzte Praxis sowie um eine Sache der Väter bzw. Söhne, die dazu vor allem standardisierte nüchterne Formulierungen verwendet haben. Dass die zeitgenössischen Darstellungsformen in solchen Chroniken auch auf andere Weisen gestaltet gewesen sein können, lässt sich anhand der Aufzeichnungen belegen, die von Verwandten der Familie Resch vorliegen. Von Johann Anton Reichel (1744–1815) aus Neulengbach im Wienerwald sind vier verschiedene chronistische Aufzeichnungen erhalten, die er ab 1771 geführt hat. Eingetragen wurden dabei Begebenheiten im sozialen Umfeld der niederösterreichischen Kleinstadt, die Witterung, der Kuhbestand, das Vermögen, die Besitzverhältnisse und Ereignisse in der Familie.86 Johann Anton Reichel war der Angestellte der Eisenwarenhändlerin Johanna Reichel (geb. Bruckmüller, 1742– 1811) gewesen. Sie war bereits dreifache Witwe, als sie ihn 1776 heiratete. Seine Aufzeichnungen über ihr gemeinsames Leben beginnen mit dem Vermerk der Eheschließung. Im Jänner 1777 findet sich folgende Ankündigung: »777: den 19. Jan. früh um 5 Uhr hat Gott der allmächtige meine liebe Ehewirthin ihrer Leibes Bürde glücklich entlediget, und uns beyde mit zweye gesunden und wohlgestalten Knäblein erfreyet, in der Heil. Tauf, welche Heil:Handlung der [Pfarrer] verrichtet, habe ihnen die Nahmen der 2 Heil. Gebrüder Johann und Paule geben lassen.« Im Vergleich zu den 25 Jahre später geführten Aufzeichnungen des Wieners Franz de Paula Resch sind diese Notizen in einem weitaus persönlicheren und empathischeren Ton gehalten, der sich auch fortsetzt: »783: In Monat Jänner haben meine Kinder die Blattern bekommen, als Erstlich der Paullel den 10, dito der Donnel den 22, dito und die Sallerl den 25, ditto welche Krankheit Sie alle Gott sey Dank Glücklich überstanden.« Eine Gemeinsamkeit der inhaltlich und auch sprachlich unterschiedlich gestalteten Aufzeichnungen von Johann Anton Reichel und Franz de Paula Resch ist, dass auch diese Chronik im 19. Jahrhundert von einem Nachfahren ergänzt und fortgeführt worden ist, was auf den Stellenwert solcher Selbstdokumentationen innerhalb des bürgerlichen Kontextes verweist. Ihre Ausgestaltung erfolgte dabei nach dem individuellen Geschmack der Verfasser/innen. Das unterscheidet sie wesentlich von den wissenschaftsgeleiteten Elterntagebüchern, die zeitgleich durch Wissenschaftsjournale bekannt gemacht wurden. Es ist davon auszugehen, dass die von dieser Seite formulierten Vorgaben und erwarteten Ergebnisse die Form der zeitgenössischen Elterntagebücher ganz all86 Johann Anton Reichel: Chronistische Aufzeichnungen, SFN, NL 38 I.

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gemein sukzessive beeinflusst und normiert haben, auch wenn die Verfasser/ innen gar keine ambitionierten wissenschaftlichen Absichten damit verfolgten (→ Abschnitt 1.3). Was sahen diese Vorgaben nun konkret vor?

Vorgegebene Inhalte in pädagogisch geleiteten Vätertagebüchern Der inhaltliche Auftrag, den die Pädagogen im späten 18. und im 19. Jahrhundert an jene Väter vergaben, die mittels wissenschaftsgeleiteten Elterntagebüchern die Entwicklung ihrer Kinder diaristisch dokumentieren wollten, war jedenfalls klar umrissen. Es sollte die ›Vervollkommnung‹ und die ›Bildungsfähigkeit‹ eines einzelnen (kleinen) Menschen dargestellt werden. Persönliche Kommentare oder gar Emotionen der Schreibenden sollten demgegenüber unterbleiben, das Credo war »Beobachtung«87 und Dokumentation. Wie noch gezeigt wird, hat sich genau diese Art der Aufzeichnung schließlich bis in das 20. Jahrhundert gehalten, wobei die Vorschläge, wie und was in den wissenschaftsgeleiteten Elterntagebüchern aufgezeichnet werden sollte, zunehmend rigide wurden und die Forscher/innen gleichzeitig auch selbst Aufzeichnungen anlegten (→ Abschnitt 1.6). Diese Entwicklung hin zur professionellen Umsetzung lese ich als ein Zeichen für den langfristigen Erfolg des Mediums, wovon auch abgeleitet werden kann, dass eine solch pointierte Fokussierung auf ›Fakten‹ (zumindest zahlreichen) potentiell Schreibenden durchaus entgegengekommen sein dürfte. Entsprechendes hat etwa der calvinistische Theologe Friedrich Wilhelm Krummacher (1796–1868) retrospektiv von seinem Vater berichtet. Friedrich Adolf Krummacher (1767–1845) war ebenfalls Theologe, als er mit 29 Jahre Vater wurde. Dabei fand er »unter allem Getümmel in der Welt Ruhe und Humor genug, um sich im Namen seines kleinen Erstgeborenen ein Tagebuch anzulegen, in welches alles, was sein Säuglingsleben berührte, wie geringfügig es auch war, sorgfältig eingetragen, namentlich aber die wahrgenommenen Fortschritte in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung unter feuriger Dankbezeugung zu Gott stark hervorgehoben wurden. Wann das Knäblein zuerst seine Eltern angelächelt, wie es dann ein in der Stube herumfliegendes Vöglein aufmerksam mit seinen Blicken verfolgt und dadurch seine Sehkraft documentiert, und sonderlich, wie es angefangen habe, an der Aussprache der schweren Worte: Mama und Papa zu studiren, dies alles stand in dem Büchlein.«88 Dies alles sollte aber auch in dem 87 Gebhardt: Mit Waage und Papier, 2015, S. 49. 88 Abgedruckt in: Irene Hardach-Pinke: Kinderalltag. Aspekte von Kontinuität und Wandel in autobiographischen Zeugnissen 1700 bis 1900, Frankfurt am Main/New York 1981, S. 171f., zitiert nach Gebhardt: Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen, 2009, S. 36, vgl. auch dies.: Mit Waage und Papier, 2015, S. 48. Das Geburtsjahr von Friedrich Wilhelm Krummacher wird hier mit 1795 angegeben, auf dem Wissensportal Wikipedia mit 1796. Alle weiteren Angaben

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Büchlein stehen – zumindest nach Ansicht der Herren Wissenschafter, die ja alle vorschlugen, die kleinen Kinder nach rationalen Kriterien zu beobachten. Entsprechend ist in diesen Aufzeichnungen auch nicht »alles, was sein Säuglingsleben berührte […] sorgfältig eingetragen«, wie es Krummacher über die Notizen seines Vaters von 1796 eingangs festhielt, sondern »namentlich [vor allem] die wahrgenommenen Fortschritte in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung«, wie er im Anschluss präzisierte. Die Erwähnung »feuriger Dankbezeugung zu Gott«, wenn das Kind etwas Neues konnte, entsprach nun wohl weniger den wissenschaftsgeleiteten Vorgaben, wie sie etwa Joachim Heinrich Campe für neue Quellen für seine pädagogischen Auswertungen im Kopf gehabt haben wird. Vielmehr dürfte das ein Ausdruck des »Humors« des Vaters gewesen sein, was auch als positive Emotionen interpretiert werden kann – etwa die Freude, die der junge Mann mit seinem kleinen Söhnchen hatte, die damit in den Aufzeichnungen zumindest indirekt angesprochen wird. Als historische Quellen können diese Vätertagebücher noch andere Hinweise auf die Lebenswelten ihrer Verfasser enthalten. Mit dem Bericht über das Interesse seines kleinen Kindes an dem frei im Zimmer fliegenden Ziervogel gab Friedrich Adolf Krummacher indirekt auch Informationen über die zeitgenössischen Wohngepflogenheiten im Bildungsbürger/innentum.89 In seinen Aufzeichnungen ist die Schilderung der familieninternen Haustierhaltung eine unbeabsichtigte Nebeninformation. Der junge Theologe notierte sie, um damit das stärker gewordene Sehvermögen seines Buben und dessen Wahrnehmung der Umwelt zu dokumentieren. Beides wurde für die Entwicklung als relevant eingestuft – und somit zum Untersuchungsgegenstand. Für Historiker/innen liegt damit aber nun auch eine – unabsichtlich angefertigte – sozialgeschichtlichen Quelle vor.

Bezüge auf Fachdiskussionen in pädagogisch geleiteten Vätertagebüchern Bezugnahmen auf die zeitgenössischen Fachmeinungen bzw. Diskussionen können in einzelnen veröffentlichten Beispielen von wissenschaftsgeleiteten Vätertagebüchern teilweise direkt nachvollzogen werden. Der Theologe Immanuel David Mauchart (1764–1862)90 benannte etwa gleich im Titel seiner 1798 in Nürnberg herausgebrachten Aufzeichnungen auch deren wissenschaftlichen wurden entnommen dem Wissensportal Wikipedia (o. J.) unter: https://de.wikipdia.org/wiki/ Friedrich_Adolf_Krummacher. Nach meinem derzeitigen Recherchestand ist nicht zu sagen, ob diese Aufzeichnungen von Friedrich Adolf Krummacher auch veröffentlicht wurden. 89 Zum Thema Zimmervogelhaltung siehe das laufende Dissertationsprojekt von Thomas Tretzmüller (Wien). 90 Lebensdaten aus Becchi: Otto papà illuminati, 2009, S. 352.

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Kontext. Das »Tagebuch über die allmählige körperliche und geistige Entwicklung eines Kindes. Geb. am 7. April 1794. Nach Camp’scher Methode«,91 rekurrierte also auf Joachim Heinrich Campe – was unmissverständlich auch gleich im Titel bekannt gegeben wurde. Friedrich Wilhelm Jonathan Dillenius wiederum sah eine seiner Beobachtungen an der kleinen Tochter Friederike als geeignet an, um damit eine kritische Rezension der Arbeiten von Campe (dem Herausgeber seiner Aufzeichnungen) zu widerlegen: »Wenn man mit ihm [dem Kind, L. G.] an der Treppe ist, drängt es schon fort – auf die Gasse, und wenn das Treppenglöckchen schellt, so sieht es sich um, wo dies Schellen herkomme? Es will also die Ursache davon wissen. Ist dies nicht Vernunft? Und – wenn es so ist – hat nicht der Recensent […] dem Hrn. Rath Campe ohne Grund widersprochen, wenn er sagt: er zweifle, ob die Vernunft bei einem Kinde im dritten und vierten Viertel des Jahres erwache?«92 Das Gefolge vom Herrn »Rath Campe« lieferte die Daten, wenn welche gebraucht wurden. Das besonders Bemerkenswerte in der Geschichte der Rezeption dieser Vätertagebücher ist, dass diese in zwei Richtungen verlief: Einerseits scheinen engagierte bürgerliche Männer solche Veröffentlichungen gelesen und auch als Anleitungen übernommen zu haben. Andererseits dienten ihre Aufzeichnungen als Grundlagen für verschiedene Forschungsschwerpunkte, die damit vorangetrieben werden konnten. Für diese ehrenamtliche Wissensarbeit von Lai/innen wird seit dem späten 20. Jahrhundert der Begriff »Citizen Scientists« verwendet.93 Es waren aber nicht nur gesammelte Aufzeichnungen von betriebsamen Bildungsbürgern, die von den Wissenschaftern ausgewertet wurden. Auch Notizen, die sie selbst über ihre eigenen Kinder angefertigt haben, wurden von mehreren von ihnen als Basis für ihre Forschung verwendet. Der Philosoph und Linguist Dietrich Tiedemann hatte seine 1787 veröffentlichte Arbeit auf Daten aufgebaut, die er seit 1781 über die erste Lebensphase seines ältesten Sohnes gesammelt hatte. Tiedemanns Bekanntheit war nicht zuletzt auf diesem Projekt aufgebaut.94 Insbesondere erfolgreich wurden auf eine solche Weise William T. Preyer oder

91 Erschienen in Allgemeines Repertorium für empirische Psychologie und verwandte Wissenschaften, Bd. 4, Nürnberg 1798, S. 269–294. Die Schreibweise wird zitiert nach Jaeger: The Origin of the Diary Method in Developmental Psychology, 1985, S. 73 sowie Becchi: Otto papà illuminati, 2009, S. 353. 92 Friedrich Wilhelm Jonathan Dillenius: Vätertagebuch, 2. August 1786, zitiert aus dem Wiederabdruck in: Ehrenfeld: Ferdinand’s Ehrenfelds Jugendjahre, 1798, S. 411. Diese Passage wurde von Herausgeber Campe im Übrigen nicht kommentiert. 93 Dazu u. a. Peter Finke: Citizen Science. Das unterschätzte Wissen der Laien, München 2014; Susanne Hecker, Muki Haklay, Anne Bowser, Zen Makuch und Johannes Vogel (Hg.): Citizen Science: Innovation in Open Science, Society and Policy, London 2018. 94 Dazu u. a. Carol Magai und Susan H. McFadden: The Role of Emotions in Social and Personality Development: History, Theory and Research, New York 1995, S. 93.

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Clara und William Stern, die im Folgenden vorgestellt werden (→ Abschnitt 1.3 und 1.6).

1.3) Elterntagebücher in der evolutionsbiologischen Forschung ab 1880: William T. Preyer Wie in anderen Wissenschaftsdisziplinen setzten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in der Kleinkinderforschung naturwissenschaftliche Fragestellungen, Herangehensweisen und Methoden durch. Die Psychologie wurde zu einer neuen »Leitdisziplin«, wobei auch diese Forschung seit den 1880er-Jahren hauptsächlich »naturwissenschaftlich fundiert« war.95 Damit ist vielleicht erklärbar, dass die Institutionalisierung der Psychologie als eigenes Fach an den deutschsprachigen Universitäten (wie allgemein) noch mehrere Jahrzehnte dauern würde. Die Forschungen waren vorerst zumeist entweder an medizinischen oder an philosophischen Institutionen angebunden. Dass das zu der Zeit noch kein Widerspruch gewesen ist, zeigt die Berufsbiografie von Wilhelm Maximilian Wundt (1832–1920). Insgesamt ging die Entwicklung der Fachrichtung Psychologie maßgeblich von Deutschland aus.96 Die weltweit erste spezifische Institution wurde 1879 mit der Experimental-Psychologischen Versuchsanstalt von eben jenem Wilhelm Maximilian Wundt in Leipzig eingerichtet.97 Die Versuchsanstalt wurde von ihm privat initiiert. 1883 wurde sie von der Universität Leipzig offiziell anerkannt. Ab 1884 wurde sie als Institut für experimentelle Psychologie von der Universität Leipzig auch unterhalten, und Wundt wurde zum weltweit ersten Lehrstuhlinhaber im Fach Psychologie. Zuvor hatte der promovierte Mediziner erst in Zürich und dann in Leipzig eine Professur für Philosophie bekleidet.98 Mit dieser spe-

95 Schulz: Der »Gang der Natur«, 2003, S. 34. 96 Einen Überblick über einflussreiche Publikationen bzw. Instituts- und Verbandsgründungen im deutschsprachigen Raum findet sich in Mitchell G. Ash und Ulfried Geuter (Hg.): Geschichte der deutschen Psychologie im 20. Jahrhundert. Ein Überblick, Opladen 1985, S. 340– 361. Einen historischen Abriss lieferten u. a. Susanne Guski-Leinwand und Helmut E. Lück: Geschichte der Psychologie. Strömungen, Schulen, Entwicklungen, Stuttgart 2007. 97 Für Österreich-Ungarn sind die frühesten Initiativen für die Einrichtung eines experimentalpsychologischen Laboratoriums bereits seit 1874 durch den aus Deutschland gebürtigen Franz Clemens Brentano (1838–1917) in Wien dokumentiert. Er war damit aber nicht erfolgreich. Die erste entsprechende Einrichtung wurde erst 1894 in Graz eröffnen, die zweite 1896 in Innsbruck (→ Abschnitt 2.4). Gerhard Benetka: Vom Anfang bis zur Nachkriegszeit, in: Klaus Kubinger (Red.): Geschichte der Fakultät für Psychologie, Wien 2008, S. 1. 98 Einer der Wegbereiter für die Psychologie in Leipzig war Gustav Theodor Fechner (1801– 1887). Er beschäftigte sich als emeritierter Professor für Physik mit der »Psychophysik«, der »Lehre der Abhängigkeit zwischen Körper und Seele, zwischen Reiz und Empfindung«.

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ziellen Situation der Fachentwicklung im Deutschen Kaiserreich, konkret jener in Sachsen, ist auch die in dieser Studie beschriebene geografische Schwerpunktsetzung der elterntagebuchbasierten Kinderforschung erklärbar. Einen wesentlichen Einfluss hatte das Institut für experimentelle Psychologie u. a. auf die Institutionalisierung des Faches in den USA.99 In Österreich-Ungarn fanden solche Forschungen Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht statt. Hier entwickelte währenddessen der 1881 mit einer zoologischen Arbeit über Fische im Fach Medizin promovierte Sigmund Freud (1856–1939) die Psychoanalyse.100 Der Psychologe Gerhard Benetka hat in seinen fachhistorischen Darstellungen die »ausschlaggebende Verbindung zwischen Philosophie und Denk- und Forschungsweisen der Naturwissenschaften«, die auch Wilhelm Maximilian Wundt in seiner Berufsbiografie eingegangen war, folgendermaßen erklärt: »Die moderne Psychologie verdankt ihre Anfänge als selbständige Wissenschaftsdisziplin einer tiefen Identitätskrise, in die um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Philosophie im Zuge des rasanten Aufstiegs (natur)wissenschaftlicher Forschung geraten war. Wozu sollte das Entwerfen phantastischer philosophischer Systeme noch gut sein in einer Zeit, in der die empirischen Einzelwissenschaften versprachen, die kleinen und großen Fragen und Probleme der Menschen durch empirisches Forschen im Labor statt durch phantasievolles Spekulieren am Schreibtisch zu lösen? […] Eine Möglichkeit, die wissenschaftlich in Misskredit geratene Philosophie zu rehabilitieren, bestand darin, zumindest Teilgebiete der Philosophie selbst nach der Art einzelwissenschaftlicher Forschung zu betreiben. In diesem Kontext ist schließlich die Psychologie entstanden: Als Versuch, traditionelle Probleme der philosophischen Erkenntnistheorie in wahrnehmungsund denkpsychologische Fragestellungen umzudeuten und damit einer empirischen Forschung zugänglich zu machen.«101 Als ein Ergebnis dieser neuen empirischen Untersuchungen wurden in der Kinderforschung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etwa ein »weiter verfeinerte[s] System frühkindlicher Entwicklungsstufen« erarbeitet, d. h., es wurde zunehmend differenziert festgestellt, was genau Kinder in welchem Alter ›können‹ würden bzw. sollten. Dieses ›Wissen‹ wurde dann auch in die »gesellWissensportal Wikipedia (o. J.) unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_Theodor_Fech ner und https://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Wundt. 99 Der US-Amerikaner G. (Granville) Stanley Hall (1844–1924) hatte als Student sowie später als Forscher mehrere Jahre in Deutschland verbracht und auch im Laboratorium von Wilhelm Wundt gearbeitet. Er gründete 1892 die American Psychological Association (APA). Caroline Hopf: Die experimentelle Pädagogik. Empirische Erziehungswissenschaft in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts, Bad Heilbrunn 2004, S. 50. Biografische Angaben zu G. Stanley Hall siehe u. a. in New World Encyclopedia (o. J.) unter: www.newwo rldencyclopedia.org/entry/G._Stanley_Hall. 100 Dazu zuletzt u. a. Peter-André Alt: Sigmund Freud: Der Arzt der Moderne, München 2016. 101 Benetka: Vom Anfang bis zur Nachkriegszeit, 2008, S. 1.

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schaftlichen Vorstellungen einer gesunden Kindheit« übernommen.102 Die Parameter dazu sind (wiederum international) insbesondere mit naturwissenschaftlichen Methoden der Experimentalpsychologie und der Physiologie bzw. Physiognomik erarbeitet worden. Grundlegend darauf aufgebaut war die Arbeit der Kinderärzte (später auch der Kinderärztinnen), die sich – neben den Pädagog/innen – ihrerseits zu einer neuen Autorität im ›Wissen‹ um Kindererziehung und Kinderpflege entwickelt haben. Hier spielten nun eine medizinisch überprüfte körperliche Entwicklung, die ›richtige‹ Ernährung, Bewegung etc. eine zunehmend wichtige Rolle.103 Die Ärzte (und Ärztinnen) definierten den ›gesunden Lebenswandel‹, zentrale Begriffe waren dabei ›Gesundheit‹ und ›Hygiene‹. Das wissenschaftlich autorisierte ›Expertenwissen‹ konstruierte »Normalverläufe« von »physischen und geistigen Entwicklungsschritten«, Spracherwerb und Körperwachstum etc. Dass sich diese naturwissenschaftlichen Denkweisen auch in der breiten Bevölkerung durchsetzen konnten, sieht Andreas Schulz vor allem in den Erfolgen in der Medizin begründet, die insbesondere zu einem Rückgang der hohen Kindersterblichkeit geführt hatten.104 Initiativen dazu waren u. a. (national sehr verschieden) verordnete Impfpflichten, in Österreich-Ungarn etwa bereits seit den 1860/70erJahren gegen die Pocken.105 Mit der Definition von ›Normen‹ ging auch eine Festschreibung von ›Abweichungen‹ und von ›Behinderungen‹ (zeitgenössisch ›Krüppeltum‹ genannt) einher. ›Abweichungen‹ in der frühkindlichen Entwicklung wurden im Sinne einer »positiven Eugenik« wissenschaftlich einerseits auf eine mangelhafte körperliche Konstitution der Eltern zurückgeführt. Andererseits wurden sie zunehmend auch als Ergebnis einer ›fehler-‹ oder ›mangelhaften‹ Betreuung und Erziehung gedeutet, was wiederum der Sozialpädagogik als Argumentationsgrundlage diente.106 Insbesondere die Reformpädagogik gründete auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, was sich augenscheinlich in der dort betonten Wichtigkeit der ›Leibesübungen‹ bzw. des Turnunterrichts niederschlug.107

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Schulz: Der »Gang der Natur«, 2003, S. 34. Ebd. Ebd., S. 32. Flamm und Vutuc: Geschichte der Pocken-Bekämpfung in Österreich, 2010, S. 265–275. Schulz: Der »Gang der Natur«, 2003, S. 36. Ebd., S. 33.

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Physiologisch geleitete Vätertagebücher ab 1880 Zwei Umstände hatten sich in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema Kindheit seit Ende des 17. Jahrhunderts nicht geändert: Erstens wurde zum Generieren des medizinischen Wissens über kleine Kinder weiterhin die Methode des protokollierenden Beobachtens angewendet. Wie Andreas Schulz beschrieben hat, ging die physiologische und psychologische Forschung nun aber über das reine Zusehen und Dokumentieren hinaus. Es wurden nun auch »wissenschaftliche Experimente« in die »Beobachtung kindlichen Verhaltens« miteingeschlossen. Konkret bedeutete das, dass Säuglinge und Kinder in kleinen Versuchsanordnungen etwa gezielt bestimmten Reizen wie der Dunkelheit ausgesetzt worden sind. Die Reaktionen der jungen Studienteilnehmer/innen wurden in dieser Phase der Fachgeschichte der Kinderpsychologie zeitgenössisch als »Hirntätigkeit« interpretiert,108 die sich mit zunehmendem Alter entwickeln würde. Dementsprechend wurde auch das kindliche ›Geistesleben‹ (also die Psyche) zu der Zeit insbesondere »in seiner Verbindung und Bedingung durch körperliche Prozesse« erforscht.109 Was sich seit 1800 ebenfalls nicht geändert hatte, waren zweitens die Proband/ innen und das Quellenmaterial der Forscher. Es waren weiterhin vornehmlich Kinder aus dem eigenen sozialen Umfeld – und auch weiterhin Tagebuchformate. Anders war dabei, dass die entwicklungsbiologischen Wissenschafter des späten 19. Jahrhunderts ihre Arbeiten nun hauptsächlich auf Aufzeichnungen stützten, die sie selbst und dabei über ihre eigenen Kinder angefertigt hatten. Ein berühmter Vertreter aus diesen Reihen ist der britische Naturforscher Charles Darwin (1809–1882). Er hat 1878 die »Biographische Skizze eines kleinen Kindes« veröffentlicht, die er aus den Beobachtungen seines Sohnes William Erasmus Darwin gezogen hatte. William Erasmus war 1839 geboren worden – das Vätertagebuch über ihn war also fast vierzig Jahre vor der Veröffentlichung der Studie angefertigt worden. Sein Verfasser, Vater Charles Darwin, hat dem Datenmaterial aber eine offenbar entsprechend längerfristig Relevanz zugeschrieben und ihm nachhaltiges Vertrauen entgegengebracht.110

108 Ebd., S. 34. 109 Kössler: Die Ordnung der Gefühle, 2008, S. 192. 110 In dem 1878 erschienenen Artikel nahm Charles Darwin auch Bezug auf den langen Zeitraum, der zwischen dem Erstellen und dem Veröffentlichen dieser Aufzeichnungen lag. Der Artikel wurde, erweitert um erläuternde Fußnoten, neuerlich abgedruckt in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis, Jg. 20, 2005, Heft 1–2, S. 138–148.

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International besonders großen Einfluss auf die Kinderforschung der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts hatte William T. Preyer (1841–1897).111 William (Thierry, auch Wilhelm) Preyer war promovierte Mediziner und seit 1869 der erste Ordinarius für Physiologie und Direktor des Physiologischen Instituts an der Universität Jena in Thüringen. Seine Position als Wissenschafter war also institutionell gut verankert, zeitweise war er auch Rektor an seiner Universität. Und auch er führte ein Vätertagebuch, in dem er die Entwicklung seines 1877 geborenen Sohnes Axel112 über drei Jahre dokumentierte.113 Der konkrete Fokus dieser Aufzeichnungen lag auf Axels sogenannter ›Hirntätigkeit‹. Die Aufzeichnungen waren die Grundlage für die von William T. Preyer 1882 unter dem Titel »Die Seele des Kindes. Beobachtungen über die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensjahren« in Leipzig veröffentlichte Studie. Das Buch avancierte zu einem ›Standardwerk‹, bis 1923 erschien es in neun Auflagen.114 Anders als bei den Veröffentlichungen um 1800 wurden hier nun nicht mehr kommentierte Tagebuchaufzeichnungen abgedruckt. Preyers Veröffentlichung enthielt ausschließlich seine darauf aufgebaute wissenschaftliche Abhandlung. Die von ihm zuvor im Vätertagebuch festgehaltenen Dokumentationen wurden dabei verschiedenen menschlichen Sinnen zugeordnet, die in der Studie vorgestellt werden. Sie fächern sich auf in »Das Sehen«, »Das Hören«, »Das Fühlen«, »Das Schmecken«, »Das Riechen«, »Die frühesten Organgefühle und Emotionen« im ersten Teil, in »Die Bewegungen des Kindes als Willensäußerungen« im zweiten Teil und in »Die Ausbildung des kindlichen Verstandes unabhängig von der Sprache« im dritten. Diese naturwissenschaftliche Aufrollung der kindlichen Entwicklung hatte ihrerseits einen starken Einfluss auf die frühe Kinderpsychologie seit 1880, die hauptsächlich an die Publikationen von William T. Preyer und Charles Darwin anknüpfte. Insgesamt stand in diesen Forschungen aber nicht die Kindheit als eine eigene Lebensphase im Zentrum des Interesses. Vielmehr sollte das Wissen über diese ›Vorstufe‹ oder ›frühe Form‹ schlussendlich zu einem »Verständnis des Seelenlebens des erwachsenen Menschen« beitragen: »Die Kinderseele erschien Forschern wie Wilhelm Preyer als ›unverständliche Schrift‹, als ›Ge111 Kurze Überblicke dazu bieten Andresen: Die Produktion von Wissen im Tagebuch, 2015, S. 75–88; Georg Eckardt: Kernprobleme in der Geschichte der Psychologie, Wiesbaden 2010, S. 200–205; Hopf: Die experimentelle Pädagogik, 2004, S. 65–72. 112 Informationen zum Vornamen Axel aus Andresen: Die Produktion von Wissen im Tagebuch, 2015, S. 83. 113 Informationen zur Dauer der Aufzeichnungen aus Schulz: Der »Gang der Natur«, 2003, S. 34. 114 Zuvor hatte Preyer über »die fünf Sinne des Menschen«, »die Tonwahrnehmung« oder »die Ursachen des Schlafes« publiziert. Wissensportal Wikipedia (o. J.) unter: https://de.wikipe dia.org/wiki/William_Preyer.

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heimschrift‹, die es durch genaue Beobachtung zu entschlüsseln gelte.«115 Zu dieser Entschlüsselung wurden die physischen Äußerungen der »Kinderseele« von den Wissenschaftern in ihren Forschungstagebüchern dokumentiert und im Zuge der fachlichen Analyse schließlich ›übersetzt‹.

Die Säkularisierung der Kinderforschung und sozialdarwinistische Strömungen Till Kössler und Hugh Cunningham haben in diesem Zusammenhang die »grundlegende Innovation« betont, die diese neuen, sich rasch verbreitenden Sichtweisen bedeutet haben: »So fragwürdig uns heute viele Grundannahmen der frühen Kinderseelenkunde erscheinen«, sind diese in ihrer Zeit als sehr innovativ einzustufen,116 da sie insbesondere mit einer »Säkularisierung der Haltung gegenüber Kindheit und Kindern« verbunden waren.117 Die Einschätzungen lösten sich von dem bisher hegemonialen moraltheoretischen Zugang zum Thema Kindheit, in dem unter dem Stichwort ›Erbsünde‹ die religiösen Thesen von einer den Kindern »angeborenen Unschuld bzw. Sündhaftigkeit« verhandelt worden sind.118 Kinder wurden auch nicht weiter als Angehörige eines bestimmten psychologischen Typs oder einer eigenen gesellschaftlichen Schicht interpretiert, sie wurden zunehmend als eigene menschliche Individuen wahrgenommen. Dabei wurde aber, wie gesagt, eine große »Distanz zwischen Erwachsenen- und Kinderpsyche« angenommen119 und es standen sogar Vergleiche mit »Tieren« oder »Wilden« im Raum (→ Abschnitt 1.1).120 1893 gab sich William T. Preyer jedenfalls zuversichtlich und überzeugt von seiner eigenen Arbeit: »Immer mehr wenden sich Forscher verschiedenster Fachthätigkeit, besonders Mediziner, Linguisten, Pädagogen, der Beobachtung ihrer eigenen Kinder gerade in den Jahren, da sie die Sprache erlernen, zu und es läßt sich voraussehen, daß in nicht sehr ferner Zeit besondere Lehrbücher über die Physiologie und Psychologie des Kindes vom ersten bis zum fünften Lebensjahr erscheinen werden.«121 Diese optimistische Diagnose sollte sich schließlich auch bewahrheiten. Die 1899 erstmals veröffentlichte Schrift »Barnets århundrade« der schwedischen Reformpädagogin und Schriftstellerin Ellen Key (1849–1926) wurde ein internationaler Bestseller. Keys Ansatz ist in der geistigen 115 116 117 118 119 120 121

Kössler: Die Ordnung der Gefühle, 2008, S. 193. Ebd. Cunningham: Die Geschichte des Kindes in der Neuzeit, 2006, S. 95. Kössler: Die Ordnung der Gefühle, 2008, S. 193. Ebd. Ebd., S. 192. Wilhelm Preyer: Die geistige Entwickelung in der ersten Kindheit, nebst Anweisungen für Eltern, dieselbe zu beobachten, Leipzig/u. a. 1893, Vorwort, o. S.

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Tradition der Arbeiten von Darwin und Preyer zu verorten. Das Buch erschien 1902 (1903)122 in der deutschen Übersetzung mit dem Titel »Das Jahrhundert des Kindes« und wird vielfach als Ausdruck für die um 1900 verbreitete Auffassung zitiert, »dass die Kindheit nicht nur ein eigener Lebensabschnitt sei, sondern sogar der beste aller Lebensabschnitte«.123 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts soll dies jenes Buch gewesen sein, das »am häufigsten aus Leihbibliotheken entliehen wurde«.124 Wissenschaftshistoriker/innen wie Andreas Schulz sehen die Publikation von Key im Kontext der bereits genannten ›positiven Eugenik‹. Der »vielzitierte Satz vom Recht des Kindes auf ein ›volles starkes persönliches Kinderleben‹ wurde um 1900 ganz anders verstanden, als es die Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts später auslegen sollte.«125 Key beschäftigte sich ausführlich mit den rassehygienischen und sozialdarwinistischen Motiven des ›Übermenschen‹ des Philosophen Friedrich Nietzsche (1844–1900). Die Widmung des Buches an »alle […] Eltern, die hoffen, im neuen Jahrhundert den neuen Menschen zu bilden«,126 war in diesem Sinne formuliert.127 Derart gelagerte Geistesrichtungen gelten inzwischen als problematisch. In der Kinderforschung des späten 19. Jahrhunderts bedeuteten solche Auslegungen jedenfalls eine radikale Veränderung. Die Fachwelt interpretierte Kinder als »zunehmend ausgestattet mit der Fähigkeit zu Entwicklung und Wachstum, und die Antriebskraft dafür war nun nicht mehr in erster Linie Gott, sondern die Natur.«128 Und mit dieser galt es jetzt eben entsprechend umzugehen.

Mütter als neue Autorinnen von wissenschaftsgeleiteten Elterntagebüchern Umzugehen war aber auch mit den Datengrundlagen, mit denen die Vertreter der verschiedenen Fachdisziplinen, die »Mediziner, Linguisten, Pädagogen«, nach William T. Preyers Vorstellung am Ende des 19. Jahrhunderts die Beforschung der Entwicklung von ihrem eigenen Nachwuchs rasch vorantreiben würden. Offenbar wurden für die präferierten neuen Analysemethoden nämlich mehr Daten benötigt, als sie die Wissenschafter selbst erstellen konnten. Ein gründliches Elterntagebuch schreibt sich nicht so nebenbei. 122 123 124 125 126

Die Angaben zu dieser Jahreszahl sind in der Forschungsliteratur widersprüchlich. Cunningham: Die Geschichte des Kindes in der Neuzeit, 2006, S. 95. Daniel Münch: Ellen Key und »Das Jahrhundert des Kindes«, Mannheim 2003, S. 4. Schulz: Der »Gang der Natur«, 2003, S. 38. Nils Aschenbeck: Reformarchitektur. Die Konstituierung der Ästhetik der Moderne, Basel 2016, S. 17. 127 Ebd., S. 24. 128 Cunningham: Die Geschichte des Kindes in der Neuzeit, 2006, S. 95.

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1893 gab Preyer das Buch »Die geistige Entwickelung in der ersten Kindheit, nebst Anweisungen für Eltern, dieselbe zu beobachten« heraus. Er verstand es selbst als eine »Einführung« in seine breit rezipierte und inzwischen mehrfach aufgelegte Studie »Die Seele des Kindes« (1882).129 Gleichzeitig richtete er sich darin mit einem Aufruf an seine Leser/innen, ihrerseits die Entwicklung ihrer jeweiligen Kinder zu protokollieren und die Ergebnisse dann der Forschung zur Verfügung zu stellen. Aufforderungen zum Führen von Elterntagebüchern hatten bereits die frühen Pädagogen um 1800 unternommen. Anders als damals waren die eingeforderten Aufzeichnungen nun aber nicht für mögliche Editionen der Tagebuchtexte gedacht. Vielmehr sollten diese als Datengrundlagen für die naturwissenschaftlichen Analysen weiterverarbeitet werden. Und es sollten entsprechend auch nicht einzelne sein, sondern möglichst viele. Der Appell von Preyer aus dem Jahr 1893 stellte aus zwei Gründen ein Novum im wissenschaftlichen Feld dar: Neu war einerseits, dass der Universitätsprofessor nun auch Personen zutraute, wissenschaftstaugliche Daten zu erheben und zu liefern, die selbst nicht als Pädagogen, Theologen oder Autodidakt/innen einschlägig mit dem Thema Säuglingsentwicklung beschäftigt waren. Aufgerufen waren jetzt alle Eltern – auch die »Lai/innen« unter ihnen. Die besonders große Änderung bestand andererseits darin, dass der bekannte Wissenschafter sich dezidiert auch an bürgerliche Mütter wandte, sie mögen sich daran beteiligen, wissenschaftsgeleiteten Elterntagebüchern anzufertigen. Der ›Fachmann‹ schrieb diese Kompetenzen nun also auch Frauen zu. Ganz ohne Grenzen war William T. Preyers Vertrauen in die Mütter aber dann doch nicht. Nach seiner Meinung (und nach der Meinung zahlreicher Zeitgenoss/ innen) blieb es letztlich zu befürchten, dass insbesondere »Frauen bei der Beobachtung ihres Kindes in ›spekulativer und anthropomorphisierender‹ Weise« vorgehen würden, während für die naturwissenschaftlichen Daten aber »strikte Sachlichkeit und die Vermeidung eigener Gedanken und Vermutungen« geboten wären.130 Um diesen – und allen anderen – möglichen Fehlern vorzugreifen, gab Preyer in seinem Buch konkrete Anleitungen für das sachgerechte Aufschreiben. Dies wird auch im Titel »[…] Anweisungen für Eltern, [die Entwicklung kleiner Kinder, L. G.] zu beobachten« bereits angekündigt. Neben inhaltlichen Vorgaben schlug er darin außerdem u. a. vor, die Mütter sollten die Beobachtungen ihrer Kinder selbst anfertigen – und nicht etwa vom Dienstpersonal erfragen.131 Damit 129 Preyer: Die geistige Entwickelung in der ersten Kindheit, 1893, Vorwort, o. S. 130 Gebhardt: Mit Waage und Papier, 2015, S. 49 und S. 50. Nach Darstellung von Werner Deutsch war der US-amerikanische Philosoph und Psychologe James Mark Baldwin (1861– 1934) ein besonders vehementer Vertreter dieser misogynen Ansicht. Werner Deutsch: Nicht nur Frau und Mutter – Clara Sterns Platz in der Geschichte der Psychologie, in: Psychologie und Geschichte, Jg. 5, 1994, Heft 3–4, S. 171–182, S. 175. 131 Gebhardt: Mit Waage und Papier, 2015, S. 50.

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wurde auch ein klarer Hinweis auf den Personenkreis gegeben, der an diesem kollektiven Erhebungsprojekt beteiligt war – oder als beteiligt gedacht wurde: Personen, deren Lebensstandard derart gestaltet war, dass er auch Dienstpersonal miteinschloss. Über den Rücklauf liegen mir bislang keine konkreten Angaben vor. In der vierten Auflage von »Die Seele des Kindes« von 1895 nahm Preyer nur vage darauf Bezug. Seine Formulierung lässt jedenfalls darauf schließen, dass er für seine überarbeiteten Ausführungen tatsächlich neu verfügbare Aufzeichnungen von mehreren Eltern herangezogen haben dürfte: »So wünschenswerth es ist, über die geistige Entwicklung v i e l e r Säuglinge, über ihre Sinnesthätigkeit und ihre Bewegungen, zumal das Sprechenlernen, Thatsachen statistisch zu sammeln, die genauere täglich wiederholte Beobachtung e i n e s gesunden, weder auffallend schnell, noch auffallend langsam ohne Geschwister sich entwickelnden Kindes [vermutlich seines Sohnes Axel, L. G.] erschien zum Mindesten ebenso wünschenswerth. Ich habe aber viele als zuverlässig erkannte Erfahrungen Anderer an anderen gesunden Kindern mit berücksichtigt und viele selbst miteinander verglichen.«132 Diese Ausweitung der Quellengrundlage wurde zudem im Zusammenhang mit der Legitimation der eigenen Fachrichtung argumentiert: »Nichtsdestoweniger kann nach der im letzten Jahrzehnt immer reichlicher und zugleich kritischer fortgesetzten Sammlung von Beobachtungen an sehr vielen ungleich veranlagten Kindern die ontogenetische Psychologie schon als begründet angesehen werden, obwohl ihr Ziel, eine empirische Geschichte der Vernunft, noch in weiter Ferne liegt.«133 Wer genau die »Anderen« waren, deren »Erfahrungen« Preyer in seinem Überblickswerk »mitberücksichtigt« hat, wie diese Aufzeichnungen gestaltet und wie viele es tatsächlich waren, lässt sich dem Vorwort nicht entnehmen. William T. Preyer starb 1897, ohne noch Näheres darüber bekannt gegeben zu haben. Auch in den posthum veröffentlichten Auflagen von »Die Seele des Kindes« finden sich keine Hinwiese auf eine potenzielle Veränderung der Quellenbasis durch die etwaigen Nachreichungen. Klar sagen lässt sich hingegen, dass in der Folge auch andere Wissenschafter/innen die Dokumentationen anderer Eltern – von Müttern und Vätern – in ihre Forschungen mit einbezogen haben. Konkrete Angaben dazu finden sich 1907 bei Clara und William Stern (→ Abschnitt 1.6): »Zu Dank verpflichtet sind wir Frau FANNY LANGE, die uns Aufzeichnungen über ihre Kinder freundlichst zur Verfügung stellte, und Herrn Prof. W. VOLZ, der uns Mitteilungen über die Sprachentwicklung seiner Söhne

132 Wilhelm Preyer: Die Seele des Kindes. Beobachtungen über die geistige Entwicklung des Menschen in den ersten Lebensjahren, Leipzig 18954, S. VI [Hervorhebungen im Original]. 133 Ebd., S. X. Die »Ontogenese« meint die Entwicklung eines einzelnen Organismus.

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machte.«134 Im Fall der Sterns bleibt wiederum in Nebel, wie genau sie zu diesen Aufzeichnungen gekommen sind. Dass der Aufruf von Preyer aus 1893 ein Anstoß für andere Forscher/innen gewesen sein könnte, Quellen auch von »Lai/ innen« für ihre Arbeiten in Erwägung zu ziehen, und womöglich sogar Sammlungen von Quellen anzulegen, wie sie mit der jugendpsychologischen Arbeit von Fritz Giese (vermutlich 1890–1935) von 1914 belegt werden können (→ Abschnitt 2.2), ist als Hypothese aufzustellen. Vielleicht lag diese Entwicklung auch in einem breiteren Kontext der Zeit. Die erfolgreichen Publikationen und insbesondere der Schreibaufruf des etablierten Wissenschafters Preyer waren aber sicherlich ein Motor für die starke Verbreitung der Praxis des Elterntagebuchschreibens seit Ende des 19. Jahrhunderts – unter Vätern und Müttern. Nach Miriam Gebhards Darstellung hat sich zu der Zeit jedenfalls »die Figur der beobachtenden und schreibenden Eltern in einen professionellen, wissenschaftlichen und einen laienhaften jedoch nicht minder ernsthaften Part« aufgespaltet.135 Dieser Darstellung zufolge wurde der zweite »Part« durch die Publikationen und Aufrufe des ersten überhaupt erst zu seinem Tun motiviert – und stark beeinflusst. Auf der Grundlage von 59 Archivbeständen unveröffentlichter Tagebuchaufzeichnungen (vor allem) aus dem 20. Jahrhundert ist es Miriam Gebhard in ihrem Buch gelungen, die Rezeption und Übernahme der zeitgenössisch wissenschaftlich ausgearbeiteten und propagierten Gesellschafts- bzw. Familienmodelle durch breite Gesellschaftsschichten anschaulich nachzuzeichnen.136 Diese als stringent erzählte Entwicklung – von den ›wissenschaftsgeleiteten Vätertagebüchern‹ hin zu jenen, die der »laienhafte […] jedoch nicht minder ernsthafte […] Part« produziert habe, ist aus meiner Sicht um eine wichtige Aussage zu ergänzen. Wie in → Abschnitt 1.2 im Zusammenhang mit den Referenzformen und auto/biografischen Aufschreibepraktiken aus dem (Hoch-)Adel dargestellt wurde, bestanden vielfältige Formen der Dokumentation von Kindheit bereits in vorangegangenen Jahrhunderten. Neu war nun vor allem, dass auch ›nur‹ für den eigenen Gebrauch geführte Elterntagebücher wissenschaftsgeleiteten Parametern folgten. Ohne Absicht, die Aufzeichnungen zu veröffentlichen oder auswerten zu lassen, aber genauso engagiert. In dem Sinne sind die wissenschaftsgeleiteten Projekte der 134 Clara und William Stern: Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung (Monographien über die seelische Entwicklung des Kindes, Bd. 1), Leipzig 1907, o. S. (in: »Vorbemerkung zur Monographie I.«) [Hervorhebungen im Original]. 135 Gebhardt: Mit Waage und Papier, 2015, S. 49. 136 Die fünf frühesten nicht veröffentlichten Elterntagebücher aus Archivbeständen in Sample dieser Studie wurden 1893, 1894, 1901, 1904 und 1915 begonnen. Der Hauptteil der analysierten Quellen ist zwischen den 1920er und den 1980er Jahren verfasst worden, eines wurde 1993 begonnen, ein weiteres 2005. Gebhardt: Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen, 2009, S. 295–296.

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Pädagogen, Physiologen und Psychologen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts also als eine klare Anregung für schließlich allgemeiner umgesetzte auto/ biografische Schreibpraktiken zu identifizieren. Soweit also ein Zwischenstand in der chronologischen Skizze der historischen Verwendung der wissenschaftsgeleiteten Elterntagebücher. Der wissenschaftshistorische Abriss wird mit einer Vorstellung der einschlägigen kinderpsychologischen Forschung ab 1900 in → Abschnitt 1.5 fortgeführt. An dieser Stelle wird er noch einmal kurz unterbrochen, um ein Schlaglicht auf die Formen der praktischen Umsetzung der seit 1800 gewonnenen pädagogischen, medizinischen und psychologischen Erkenntnisse der Kinderforschung zu werfen.

1.4) Erziehungsratgeber als praktische Umsetzung der Kinderforschung Wissenschaftsgeleite Elterntagebücher wurden dazu herangezogen, um verschiedene intellektuelle und pädagogische Konzepte zu stützen. Oder sie wurden als Quellen in physiologischen und später in psychologischen oder sprachwissenschaftlichen Studien ausgewertet. Die Formen und das Ausmaß einer breiteren Rezeption der zugrundeliegenden Diskurse auch außerhalb der fachwissenschaftlichen Zusammenhänge oder der Diskussions- und Zitationszirkel lassen sich aber kaum direkt benennen, worauf auch mehrere der bisher bereits zitierten Wissenschaftshistoriker/innen hingewiesen haben.137 Als eine Form der praktischen Umsetzung der theoretischen Erkenntnisse lassen sich neben der Kinderforschung und der institutionalisierten Medizin seit dem frühen 19. Jahrhundert auch die Etablierung und Institutionalisierung der außerhäuslichen Betreuungseinrichtungen für kleine, noch nicht schulpflichtige Kinder sehen. Diese stehen exemplarisch auch für jene ideologischen Konfliktlinien, die an das Thema Kindheit geknüpft waren und die grob gesagt unter den Schlagwörtern ›Säkularisierung‹ und ›Individualisierung‹ zusammengefasst werden können. Aus einer geschlechterhistorischen Perspektive ist die außerhäusliche Kinderbetreuung zudem spannend, da sich damit eines der großen Felder eröffnet hat, in denen Frauen erwerbstätig werden konnten.138 Entspre137 Steedmann: Strange Dislocations, 1998, S. 63–76; Schulz: Der »Gang der Natur«, 2003, S. 24; Kössler: Die Ordnung der Gefühle, 2008, S. 190. 138 Dazu u. a. Gisela Gary: »Wir sind keine Tanten!« Die Kindergärtnerin: Zur Geschichte eines Frauenberufs in Österreich, Wien/Bad Aibling 2003; Claudia Leitner und Katrin Havlicek: Die Ausbildung der Kindergartenpädagoginnen und Kindergartenpädagogen im Wandel, Diplomarbeit, Wien, 2012, sowie umfangreiche Darstellungen auf der Website von Martin R. Textor (Hg.): Das Kita-Handbuch (o. J.) unter: www.kindergartenpaedagogik.de, dabei vor allem die Beiträge von Manfred Berger wie u. a. Von der »geistigen Mütterlichkeit« zur

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chend dem Ideal der ›sozialen/geistigen Mütterlichkeit‹ war der Beruf der Kindergartenbetreuer/innen seit Beginn an eine Erwerbsmöglichkeit insbesondere für Frauen – wie ja auch der Schuldienst in Volksschulen oder die Sozialarbeit.139 Wie im Lehrberuf galten auch für Kindergartenpädagoginnen verschiedene Zölibatsbestimmungen und es gibt zahlreiche personelle Überschneidungen mit der Ersten Bürgerlichen Frauenbewegung.140 Dass im Vergleich zu anderen Fächern einzelne Frauen wie Lina Morgenstern (geb. Bauer, 1830–1909), Ellen Key (→ Abschnitt 1.3) oder die Ärztin Maria Montessori (1870–1952) in der Pädagogik verhältnismäßig früh Fachpublikationen veröffentlicht haben, steht ebenfalls im Zusammenhang mit dem bürgerlich-normativen geschlechterspezifischen Rollenverständnis.141 Auch wenn die Möglichkeiten der außerhäuslichen Kinderbetreuung in Österreich-Ungarn und in Deutschland im Laufe des 19. Jahrhunderts stark ausgeweitet wurden, konnten sie zumindest bis in die 1920er-Jahre insgesamt nur von einem verschwindend kleinen Teil der Bevölkerung in Anspruch genommen werden.142 Eine viel größere Reichweite hatten hingegen Erziehungsratgeber, die sich ab der Mitte des 19. Jahrhunderts als populäre Vermittlungsform neuer pädagogischer, medizinischer und gesellschaftspolitischer Erkenntnisse parallel zu

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»Professionalität«. Eine historische Analyse des heutigen Erzieher/-innenberufs in der öffentlichen Kleinkindererziehung oder Frauen in der Geschichte des Kindergartens: Eine Einführung. Auf der Website kindergartenpaedagogik.de finden sich auch biografische Skizzen zu 82 Frauen, die pädagogische Berufe ausgeübt haben. Statistische Angaben zur Geschlechterparität unter den österreichischen Elementarpädagog/innen liegen ab 1981 vor. Damals haben in Österreich erst insgesamt 39 Männer in diesem Feld gearbeitet, 2012/13 waren es immerhin 403 in Kindergärten und 99 in Kindergrippen. Bernhard Koch und Josef Christian Aigner: Männerförderung im Kindergarten. Die Maschine tuckert, aber sie läuft noch nicht. Ergebnisse und Erfahrungen aus einem Forschungsprojekt über »Strategien zur Erhöhung des Männeranteils im Kindergarten«, Innsbruck 2016, S. 32–33. Als ein Beispiel aus Wien kann der Verein Wiener Settlement (1901–1938, 1946–2003) genannt werden, der neben anderen Initiativen auch einen Kindergarten unterhielt. Der Vereinsnachlass ist archiviert in der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien, SFN, NL 94. Dazu Elisabeth Malleier: Das Ottakringer Settlement. Zur Geschichte eines frühen internationalen Sozialprojekts, Wien 2005. Zum Thema »Forschung von Frauen über Frauen« im frühen 20. Jahrhundert siehe den Abschnitt »Forschung über Frauen – Frauen in der Forschung« in Gerhalter: Tagebücher als Quellen, 2017, S. 39–46. Die Angabe absoluter Zahlen ist in diesem Zusammenhang kaum möglich. Nach Andreas Schulz besuchte 1850 etwa 1 Prozent der Kinder in Deutschland einen Fröbel-Kindergarten. Schulz: Der »Gang der Natur«, 2003, S. 30. Nach Manfred Berger waren in allen Einrichtungen, die 1871 in der österreichisch-ungarischen Monarchie bestanden, zusammen 20.774 Kleinkinder registriert. Berger lieferte in seiner Überblicksdarstellung auch eine nach Ländern genau differenzierte Darstellung der 1871 betriebenen Einrichtungen in Österreich-Ungarn. Manfred Berger: Recherchen zum Kindergarten in Österreich. Gestern – Heute – Morgen, in: Martin R. Textor (Hg.): Das Kita-Handbuch (o. J.) unter: https://kinder gartenpaedagogik.de/fachartikel/kinderbetreuung-in-anderen-laendern/1240.

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den wissenschaftlichen Fachpublikationen etablierten und dabei rasch einen großen Markt fanden.143 Uffa Jensen bezeichnete die Menge der Publikationen als »überraschend«,144 Till Kössler benannte sie als regelrechte »Flut«.145 Wissenschaftshistorisch wird die Popularität der Erziehungsratgeber um 1900 als Ausdruck für »das neue Interesse am Kind« bzw. die Anerkennung eigener kindlicher Emotionen gewertet.146

Populäre Erziehungsratgeber und Elterntagebücher um 1900 Aus der »überraschenden Flut« der Publikationen sollen drei Bücher vorgestellt werden, die das weite Spektrum ihrer möglichen Formen veranschaulichen können. Dabei lässt sich auch wieder direkt an die Eltern-/Vätertagebücher anknüpfen. 1876 gab der Lehrer, Schriftsteller und frühere Revolutionär (Friedrich) Herman Semmig (1820–1897) das Buch »Das Kind. Tagebuch eines Vaters« heraus, in dem er die ersten drei Lebensjahre seiner erstgeborenen Tochter dokumentiert hat.147 Ein Vorabdruck der Aufzeichnungen war bereits im Jahr zuvor (ohne Angaben des Autors) in der »Gartenlaube« erschienen.148 Waren die Medien, in denen etwa Joachim Heinrich Campe um 1800 solche Texte abgedruckt hatte, Fachjournale gewesen, die sich an einen kleinen Kreis von Experten oder interessierten Lai/innen richtete, erschien das »Tagebuch eines Vaters« nun in der damals erfolgreichsten Familienillustrierten. Die Auflage 143 Dazu u. a. Michaela Fuchs: »Wie sollen wir unsere Kinder erziehen?« Bürgerliche Kindererziehung im Spiegel der populärpädagogischen Erziehungsratgeber des 19. Jahrhunderts, Wien 1997. Eine Zusammenstellung von deutschsprachigen pädagogischen Zeitschriften, die von 1895 bis 1915 erschienen, bietet Jürgen Hüther: Sozialisation durch Massenmedien: Ziele, Methoden, Ergebnisse einer medienbezogenen Jugendkunde, Opladen 1975, S. 144, FN 71. 144 Uffa Jensen: Können Eltern zu viel lieben? Adolf Matthias’ Ratgeber »Wie erziehen wir unsern Sohn Benjamin« (1897), in: Geschichte der Gefühle – Einblicke in die Forschung, 2013, unter: www.history-of-emotions.mpg.de/texte/koennen-eltern-zuviel-lieben. 145 Kössler: Die Ordnung der Gefühle, 2008, S. 201. 146 Ebd., S. 206. Diese Konjunktur der Ratgeberliteratur bezog sich nicht nur auf Erziehungsfragen. So fanden seit Ende des 19. Jahrhunderts u. a. auch Haushaltsführungsratgeber sowohl in Buchform als auch als Zeitschriften einen großen Absatz. Vgl. dazu u. a. Juliane Mikoletzky: »…durch vernünftige Führung der Haushaltung den Forderungen der Zeit gerecht zu werden.« Anmerkungen zu Versuchen einer Professionalisierung der Hausarbeit in Österreich, 1850–1950, in: Birgit Bolognese-Leuchtenmüller und Michael Mitterauer (Hg.): Frauen-Arbeitswelten. Zur historischen Genese gegenwärtiger Probleme, Wien 1993, S. 65–80, S. 72. 147 Herman Semmig: Das Kind. Tagebuch eines Vaters, Leipzig 1876. 148 Dazu Nina Verheyen, Tränen im Vorabdruck. Das ›Tagebuch eines Vaters‹ in einer deutschen Familienillustrierten der 1870er Jahre, in: Geschichte der Gefühle – Einblicke in die Forschung, Februar 2014, unter: www.history-of-emotions.mpg.de/texte/traenen-im-vorab druck.

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dieses Flaggschiffs unter den frühen Massenblättern wurde für 1876, als das »Tagebuch eines Vaters« erschien, mit (für diese Zeit unglaublichen) 382.000 Stück angegeben.149 Entsprechend breit stellte sich der Autor auch den Leser/ innenkreis der Monografie vor. Er widmete diese »›allen Denkern‹, die er für Kinder zu interessieren hoffte, den Müttern, welchen die eigentliche Kinderpflege obliege, deren Gatten, aber auch kinderlosen Frauen, die er auf ihre Bestimmung vorbereiten wollte, sowie – schließlich und persönlich – seiner eigenen Ehefrau. Im ›Pfande‹ ihrer Liebe habe diese ihm ›das höchste, süßeste Glück‹ geschenkt, ›das der Mensch auf Erden empfinden kann, das allein uns erfüllt wie die Ahnung reiner himmlischer Seligkeit, das Glück, ein Kind mein zu nennen.‹«150 Wie dargestellt worden ist, sollten die wissenschaftsgeleiteten Ausführungen über die Entwicklung der beobachteten Kinder sachlich ausfallen und keine Emotionen enthalten. Herman Semmigs Aufzeichnungen waren demgegenüber voll von emotionalen Regungen. Die elterlichen Gefühle erfuhren bei ihm vielmehr eine »religiöse […] Überhöhung«, wie die Historikerin Nina Verheyen es interpretiert hat.151 Jedenfalls wurden die väterlichen Emotionen in den abgedruckten Textauszügen immer wieder direkt ausgedrückt: »Der kleine Körper ist wahrhaftig schon gewachsen. Und sein Geist? Noch scheint es [das Kind, L. G.] nichts zu bemerken. Und doch ist es von Zeit zu Zeit, als habe es wahrgenommen, beobachtet. Und jetzt, ganz gewiß – es verzog den Mund so lieblich, so angenehm; ja, es hat gelächelt. Es war nur ein leiser Schimmer, ein Hauch, aber gewiß, es war ein Lächeln. […] Und siehe, was perlt da in dem Winkel seiner Aeugelein? Nein, es ist nichts Anderes, ja wohl, es ist eine Thräne. Sie ist klein, winzig klein, kaum so groß wie eine Stecknadelkuppe, aber ich habe das bittere Salz gekostet – ich habe seine erste Thräne geschlürft. Erstes Lächeln! Erste Thräne! Welcher Strom von Gefühlen wird aus diesen Quellen fließen?«152 Nina Verheyen hat diesen Text in »formaler Hinsicht« als »äußerst hybrid« bezeichnet und verortet ihn an der »Schnittstelle von Tagebuch, wissenschaftlicher Abhandlung und Ratgeberliteratur«.153 Dieser Klassifizierung kann noch die Bezeichnung ›Unterhaltungsliteratur‹ angefügt werden, was – abgesehen vom Inhalt – der publizistische Ort der Erstveröffentlichung legitimiert. Für die historische Auto/Biografieforschung ist diese Publikation insgesamt beachtenswert. 149 Wissensportal Wikipedia (o. J.) unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Gartenlaube. 150 Herman Semmig: Vorwort, in [o. A.]: Die drei ersten Jahre des Kindes, in: Die Gartenlaube – Illustriertes Familienblatt, 1875, Nr. 49, S. 822–824, S. 823; zitiert nach Verheyen: Tränen im Vorabdruck, 2014, o. S. 151 Verheyen: Tränen im Vorabdruck, 2014, o. S. 152 [o. A.]: Die drei ersten Jahre des Kindes, 1875, S. 823, zitiert nach Verheyen, Tränen im Vorabdruck, 2014, o. S. 153 Verheyen, Tränen im Vorabdruck, 2014, o. S.

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Die bisherigen Ausführungen zu den wissenschaftsgeleiteten Elterntagebüchern haben davon gehandelt, dass in Aufrufen immer eine sachliche Darstellung gefordert worden ist. Dieses Beispiel zeigt nun, dass abseits der in der fachhistorischen Forschung vornehmlich ausgewerteten Formate ganz offenbar noch weitere Formen existiert haben. Wie im vorigen Abschnitt bereits zitiert, ortete Miriam Gebhard am Ende des 19. Jahrhunderts eine Aufspaltung der tagebuchschreibenden Eltern in einen »professionellen, wissenschaftlichen« und in einen »laienhaften« Teil, die sie aber beide in den Kontext des wissenschaftsgeleiteten Schreibens stellte.154 Ich vermute, dass die Formen von Elterntagebüchern, die der »laienhafte« Teil produzierte, sehr vielfältig gewesen sein dürften – wobei wohl auch angenommen werden kann, dass emotional gehaltene Aufzeichnungen verbreiteter gewesen sein dürften als strikt dokumentierende. Einen ersten Eindruck der heute in Wiener Sammlungen und Archiven vorhandenen Beispiele können die in → Abschnitt 3.6 beschriebenen Bestände geben. Das früheste bisher von mir recherchierte Müttertagebuch wurde zwischen 1888 und 1903 geführt.155 Es ist davon auszugehen, dass Publikationen wie jene von Herman Semmig hier entsprechend genrebildende Vorbilder waren, zumal sie ein so großes Lesepublikum hatten. Diese Einschätzung wäre als weiterführende Fragestellung durch Archivrecherchen zu prüfen und auszudifferenzieren.156 Eine weitere offene Forschungsfrage, die durch eine Auswertung von Sammlungsbeständen möglicherweise tendenziell beantwortet werden könnte, ist die regionale Verteilung bzw. die geografische Reichweite der publizierten Referenzen. Alle mir bisher bekannten Beispiele wurden in Deutschland veröffentlicht. Eine Erklärung dafür kann in der Geschichte der Institutionalisierung des Faches Psychologie liegen, die ja von Sachsen ausging. Inwieweit die Publikationen zum Thema Elterntagebuchschreiben auch in Österreich-Ungarn rezipiert worden sind, wäre jedenfalls spannend zu erheben.

154 Gebhardt: Mit Waage und Papier, 2015, S. 49. 155 Elsa Dittl von Wehrberg (geb. um 1855): Müttertagebuch, Wiener Stadt- und Landesarchiv, Bestand Nachlässe und private Sammlungen, Sig. 3.5.13 1.2, Nachlass Dittl von Wehrberg. 156 Erste Ergebnisse dazu finden sich in Li Gerhalter: Materialitäten des Diaristischen. Erscheinungsformen von Tagebüchern von Mädchen und Frauen im 20. Jahrhundert, in: L’Homme. Z. F. G., Jg. 24, 2013, Heft 2, S. 53–71; dies.: »Einmal ein ganz ordentliches Tagebuch«? Formen, Inhalte und Materialitäten diaristischer Aufzeichnungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Steuwer und Graf: Selbstreflexionen und Weltdeutungen, 2015, S. 64–85.

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Wissenschaftliche Publikationen als Erziehungsratgeber Sehr anders gelagert als die populäre Veröffentlichung von Semmig war das bereits vorgestellte Buch »Die geistige Entwickelung in der ersten Kindheit, nebst Anweisungen für Eltern, dieselbe zu beobachten« von William T. Preyer aus dem Jahr 1893. Es ist klar als wissenschaftliche Publikation einzustufen, gleichzeitig war dieses Buch aber auch ein Ratgeber. Wie beschrieben, hatte der prominente deutsche Physiologie darin Väter und Mütter dazu aufgerufen, Tagebuchaufzeichnungen in dem von ihm vorgeschlagenen medizinisch orientierten Modus anzufertigen. Gleichzeitig schlug er vor, die Eltern sollten diese Protokolle selbst verfassen. Durch diese angewiesene persönliche Beschäftigung der biologischen Eltern mit ihren kleinen Kindern wollte Preyer auch deren Beziehung zueinander fördern. Im Speziellen ging es ihm dabei um die Beziehung zwischen den Kindern und den Vätern.157 Damit propagierte (der selbst in den großbürgerlichen Verhältnissen einer Industriellenfamilie aufgewachsene) Preyer nicht zuletzt das Modell der (klein-)bürgerlichen ›Kernfamilie‹. Dieses Beispiel zeigt also auch gut die Verknüpfung der evolutionsbiologischen Forschung mit gesellschaftspolitischen Ideen. Mit dem Plädoyer, Männer sollten sich mehr für ihre Kinder interessieren, bewegte sich William T. Preyer wiederum im selben Fahrwasser wie der Autor Herman Semmig. Dieser hatte in seiner Publikation zwei Jahrzehnte zuvor (u. a.) die Väter angesprochen, »die in der Zerstreutheit der Geschäfte, die heutigen Tages den Mann nur zu sehr in Anspruch nehmen, oft nicht die Muße und die offene Stimmung finden, ihr eigenes Glück zu genießen und das Leben des Kindes mitzuleben. Vielleicht dient ihnen dieses Tagebuch als Wegführer in dem Paradiese ihrer Häuslichkeit, vielleicht schärft es ihre Empfänglichkeit für die Freuden, die das Kind den Eltern bereitet.«158 Der Wissenschafter Preyer und der Schriftsteller Semmig verwendeten sehr verschiedene Ausdrucksweisen, inhaltlich forderten sie aber dasselbe. Beide verstanden sich als Erziehungsratgeber – und zwar insbesondere als »Erziehungsratgeber für Eltern«.159

Populäre Erziehungsratgeber und bürgerliche Geschlechternormen Dezidiert als Ratgeber gedacht war das 300seitige Handbuch »Wie erziehen wir unsern Sohn Benjamin? Ein Buch für deutsche Väter und Mütter«, das 1897 in München erschienen ist. Wie der Titel vermuten lässt, beschrieb der Autor Adolf 157 Gebhardt: Mit Waage und Papier, 2015, S. 50. 158 Auszug aus dem Vorwort, zitiert in: Die Gartenlaube, 1875, Nr. 49, S. 823. 159 Andresen: Die Produktion von Wissen im Tagebuch, 2015, S. 84.

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Matthias dabei das Aufwachsen seines eigenen Kindes. Uffa Jensens Angaben zufolge war der titelgebende »Benjamin« aber nicht der reale Sohn des Verfassers, sondern eine Kunstfigur.160 Dieser Aspekt ist insoferen spannend, als die Autoren der veröffentlichten Vätertagebücher des 19. Jahrhunderts ja (fast) immer über ihre eigenen Kinder geschrieben haben, die zudem auch oft namentlich bekannt waren. Ein Grund für die Erfindung von »Benjamin« könnte gewesen sein, mit dem (vermeintlich) persönlichen Bezug an die etablierte Darstellungsform dieser bekannten Publikationen anzuknüpfen. Der Erfolg gab dem Konzept recht. Bis 1922 ist das Buch schließlich in 14 Auflagen erschienen.161 Bezüglich der Inhalte der Ratgeberliteratur für Erziehungsfragen ist bemerkenswert, dass diese sowohl auf eine ideale ›Zurichtung‹ der Kinder abzielte, aber auch auf die Optimierung des Verhaltens der Eltern. Entsprechend wies die frühe Kinderforschung nach Till Kösslers Formulierung allgemein »einen deutlich appellativen Zug« auf: Die wissenschaftlichen Erkenntnisse wurden von den Forschern im Sinne des damaligen Zeitgeistes als eine Offenlegung der »Bedingungen einer wünschenswerten ›natürlichen‹ Höherentwicklung« der menschlichen Gesundheit, der menschlichen Gefühle und der Menschheit insgesamt interpretiert.162 In der Ratgeberliteratur wurden die Eltern nun direkt darüber informiert, wie sie an dieser »Höherentwicklung« aktiv mitwirken konnten – bzw. sollten. Das Projekt nahm entsprechend jede/n Einzelne/n in die Pflicht.163 Den Eltern aber wurde damit schließlich nichts weniger abgesprochen als die Kompetenz, selbst zwischen richtiger und falscher Kindererziehung und -betreuung unterscheiden zu können. Die pädagogischen Bücher etablierten sich »als eine Autorität […], die nicht nur Eltern mit nützlichem Wissen versorgte, sondern sie auch lehrte, den eigenen natürlichen Eingebungen zu misstrauen«.164 Erziehung und Betreuung waren zu einer ›Wissenschaft‹ geworden. Dabei wurden den Eltern entsprechend der bürgerlichen Geschlechterrollen jeweils »bestimmte emotionale Aufgaben« zugeordnet.165 So lässt auch das Handbuch »Wie erziehen wir unsern Sohn Benjamin?« schon durch den Untertitel »Ein Buch für deutsche Väter und Mütter« getrennte Rollenzuteilungen erwarten. Insgesamt wurde in dieser Publikation beiden Elternteilen die ›Schwäche‹ unterstellt, Gefahr zu laufen, ihre Kinder durch ein ›Zuviel‹ an Liebe zu ›verzärteln‹. Ein solches Fehlverhalten wurde von dem hauptberuflich als 160 161 162 163 164 165

Dazu Jensen: Können Eltern zu viel lieben?, 2013. Ebd. Kössler: Die Ordnung der Gefühle, 2008, S. 198. Ebd., S. 199. Jensen, Können Eltern zu viel lieben?, 2013. Zur geschlechterspezifischen Differenzierung zwischen Kindern in der historischen Ratgeberliteratur siehe u. a. Barbara Rendtorff: Erziehung und Geschlecht. Eine Einführung, Stuttgart 2006, S. 25–34.

Erziehungsratgeber als praktische Umsetzung der Kinderforschung

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Lehrer tätigen Adolf Matthias als »Affenliebe« bezeichnet: Diese »ermangelt jeden klaren Bewußtseins in Beziehung auf das Erziehungsziel; sie ist kurzsichtig; sie will dem Kinde wohl thun, aber sie wählt die falschen Mittel; sie läßt sich von augenblicklichen Empfindungen verleiten, anstatt sich von ruhiger Besonnenheit und Überlegung leiten zu lassen.«166 Wenig überraschend stufte Matthias insbesondere die Mütter als dafür anfällig ein. Väter konnten nach seiner Meinung nach wiederum darin versagen, genügend »Vernunft, Virilität und Stärke« zu zeigen: »Emotionaler Exzess fand nur statt, wenn ein Vater zu schwach war, den Einfluss der überfürsorglichen Mutter abzuwehren.«167 Die Kleinfamilie als Schlachtfeld. Zum Glück war die Ratgeberliteratur als Eskorte in Stellung gebracht.

Weitere gesellschaftspolitische Implikationen pädagogischer Konzepte Alle bisher vorgestellten pädagogischen Ideen und Initiativen fanden – aus der Sicht ihrer Befürworter/innen – jedenfalls immer im Interesse der Kinder statt. In reformpädagogischer Absicht waren daran zudem gesellschaftspolitische Implikationen geknüpft, wie es der Sozialpädagoge Florian Esser zusammengefasst hat: »Ihre moralische Kraft, Legitimität und praktische Wirksamkeit erhielten die Forderungen nach einer Überprüfbarkeit der Entwicklung des eigenen Kindes durch die Referenz auf das nationale Wohl sowie das individuelle Wohl des Kindes. Der Appell an das Pflichtgefühl der Eltern und Erzieher, sich auf diese Weise um die Zukunft jedes einzelnen Kindes zu kümmern, signalisierte dabei einen Wandel in der Sorge um die Kinder an sich. Zu den alltäglichen Sorgepraktiken [kamen weitere], die sicherstellen sollten, dass das Kind gute Prognosen für eine gewollte zukünftige Entwicklung hatte. Die Forderungen verdankten ihr moralisches Gewicht der Tatsache, dass ein Nichtbeachten der Entwicklung damit gleichzusetzen wäre, das einzelne Kind um seine Zukunft und gleichzeitig die gesamte Nation – wenn nicht gar die Menschheit – um ihr kostbarstes Kapital zu betrügen.«168 Die schon um 1900 formulierte Idee, dass nur eine ›notwendige‹ Strenge und Abhärtung das individuelle Glück der heranwachsenden Generation sichern könnten, war später insbesondere in den faschistischen Gesellschaften der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägend. Miriam Gebhard hat diesen Aspekt auf der Grundlage von unveröffentlichten Elterntagebüchern für Deutschland ein166 Adolf Matthias: Wie erziehen wir unsern Sohn Benjamin? Ein Buch für deutsche Väter und Mütter, München 1897, S. 184, zitiert nach Jensen, Können Eltern zu viel lieben?, 2013, o. S. 167 Ebd. 168 Eßer: Die verwissenschaftlichte Kindheit, 2014, S. 147.

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drucksvoll herausgearbeitet. Sie stellt überzeugend Veränderungen in der Kinderbetreuung wie auch in den Ansprüchen der Eltern an sich selbst dar. Beides hatte sich in der zunehmend nationalsozialistisch ausgerichteten Gesellschaft der 1930er-Jahre im Vergleich zu der Zeit um 1900 deutlich verschärft. Ideologisches Unterfutter erhielten die angestrengten (und auch hier sicherlich wohlmeinenden) Eltern wiederum in der Ratgeberliteratur. Besonders erfolgreich war das 1934 veröffentlichte Buch »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« der deutsch-österreichischen Ärztin Johanna Haarer (1900–1988). Haarer war zeitweise »Gausachbearbeiterin für rassenpolitische Fragen« der NS-Frauenschaft in München. Ihre als medizinisch deklarierten Vorschläge in der Säuglingspflege beinhalteten etwa eine möglichst eingeschränkte persönliche Beziehung zwischen den Eltern und Kindern,169 und waren zum Teil eng an die in der Propagandaschrift »Mein Kampf« formulierten Ideologien angelehnt.170 Haarer veröffentlichte u. a. auch einschlägige Kinderbücher.171 »Die [deutsche] Mutter und ihr erstes Kind« wurde (als adaptierte Version) 1961, 1964 und 1987 neu aufgelegt. Die in einer faschistischen Zeit angelegte »Richtschnur für den Umgang mit Babys und Kleinkindern«172 war somit weit darüber hinaus gültig. Dieses Beispiel zeigt eindrücklich die Langlebigkeit der Empfehlungen von ›Expert/innen‹, die auch über die Dauer von politischen Regimen und den damit verbundenen Gesellschaftsordnungen hinweg noch gehört und reproduziert werden können. Die Frage nach der Rezeption und der Umsetzung von gesellschaftlichen Normierungen, die etwa in Erziehungsratgebern propagiert wurden, gehört zu jenen, die Historiker/innen nur tendenziell beantworten können. Rückschlüsse sind gegebenenfalls durch die Analyse von Selbstzeugnissen möglich.173 Den Aussagewert, den unveröffentlichte Elterntagebücher in Bezug 169 Siehe dazu u. a. Gregor Dill: Nationalsozialistische Säuglingspflege. Eine frühe Erziehung zum Massenmenschen, Stuttgart 1999. 170 Siehe dazu u. a. Sigrid Chamberlain: Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind. Über zwei NS-Erziehungsbücher, Gießen 1997; Michaela Schmid: Erziehungsratgeber in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine vergleichende Analyse. Kontinuität und Diskontinuität im Mutterbild sowie der (früh)kindlichen Pflege und Erziehung in ausgewählten Erziehungsratgebern der Weimarer Republik und der NS-Zeit, Berlin 2008; Gudrun Brockhaus: Muttermacht und Lebensangst. Zur politischen Psychologie der Erziehungsratgeber Johanna Haarers, in: José Brunner (Hg.): Mütterliche Macht und väterliche Autorität. Elternbilder im deutschen Diskurs (Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. 36), Göttingen 2008, S. 63–77. 171 Susanne Blumesberger: »Die Haare kraus, die Nasen krumm.« Feindbilder in nationalsozialistischen Kinderbüchern. Am Beispiel von »Mutter, erzähl von Adolf Hitler« von Johanna Haarer, in: Biblos. Österreichische Zeitschrift für Buch- und Bibliothekswesen, Dokumentation, Bibliographie und Bibliophilie, Jg. 49, 2000, Heft 2, S. 247–268. 172 Chamberlain: Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind, 1997, Klappentext. 173 Exemplarisch mit einem regionalen Fokus auf deutsche Städte und die Jahrzehnte um 1800 Trepp: Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit, 1996; Habermas: Frauen und Männer des Bürgertums, 2000.

Populäre Elterntagebücher und Lai/innenforschung um 1900

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auf die Umsetzung von Erziehungskonzepten haben können, hat Miriam Gebhard für das 20. Jahrhundert bereits unter Beweis gestellt.

1.5) Populäre Elterntagebücher und Lai/innenforschung um 1900: Gertrud und Ernst Scupin Die seit Ende des 18. Jahrhunderts veröffentlichten wissenschaftsgeleiteten Elterntagebücher entstanden auf den Schreibtischen von bildungsbürgerlichen Männern. Dies sagt freilich nichts darüber aus, ob Väter diese auto/biografische Aufschreibepraktik insgesamt gesehen öfter ausgeübt haben als Mütter, oder über die allgemeine zeitliche, regionale und soziale Verbreitung des Elterntagebuchschreibens. Die bisher beschrieben sozialen und geschlechtlichen Markierungen beziehen sich ausschließlich auf diese publizierten Texte, die heute insbesondere in der Forschungsliteratur auch weiter reproduziert werden. Mit dem Appell des renommierten Physiologen William T. Preyer von 1893 wurden Frauen jedenfalls erstmals dezidiert dazu angehalten, ebenfalls wissenschaftsgeleitete, systematische Aufzeichnungen über ihre Säuglinge anzufertigen, und sich damit ebenfalls »an dem großartigen Forschungsprojekt zu beteiligen«.174 Seine konkrete Motivation dazu, nun auch Frauen anzusprechen, kann weitschichtigen Interpretationen überlassen werden, wiewohl auch das Ausmaß der Umsetzung seines Aufrufs nicht konkret beziffert werden kann. Eindeutig nachvollziehbar ist aber die starke Rezeption von Preyers Arbeit in zeitgenössischen Publikationen. Wie es zuvor bei Joachim Heinrich Campe zu beobachten war, dessen Einfluss sich auch wörtlich in den Titeln von Folgestudien niedergeschlagen hatte (→ Abschnitt 1.2),175 wurde Anfang des 20. Jahrhunderts nun direkt auf William T. Preyer Bezug genommen. Und immerhin: Bei den Veröffentlichungen traten jetzt auch einzelne Frauen als Autorinnen auf. Eine von ihnen war Gertrud Scupin. Gemeinsam mit ihrem Ehemann hat sie dabei sogar einen echten publizistischen Erfolg erzielt.

174 Gebhardt: Mit Waage und Papier, 2015, S. 49. 175 Vgl. Immanuel David Mauchart: Tagebuch über die allmählige körperliche und geistige Entwicklung eines Kindes. Geboren am 7. April 1794. Nach Camp’scher Methode, Nürnberg 1798.

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Ein ›Bestseller‹ unter den edierten Elterntagebüchern Gertrud Scupin (vermutlich geb. Exner, 1880–1947) und ihr Ehemann Ernst Scupin (1879–1931) lebten im schlesischen Breslau/Brassel/Wrocław, der um 1900 fünftgrößten Stadt im Deutschen Kaiserreich. 1904 wurden sie Eltern von Ernst Wolfgang, 1907 veröffentlichten sie als Co-Autor/innen in Leipzig ihr Buch »Bubis erste Kindheit. Ein Tagebuch über die geistige Entwicklung eines Knaben während der ersten drei Lebensjahre«. Die Publikation wurde zu einem Verkaufsschlager, die neueste Auflage ist als Faksimile im Verlag »Forgotten Books« 2018 herausgegeben worden.176 Obwohl die Publikationen von Gertrud und Ernst Scupin auch in der Forschungsliteratur sehr präsent sind, liegen bisher kaum Informationen zu den Lebensdaten oder dem sozialen Hintergrund des Ehepaares vor. Durch Hinweise des Erziehungswissenschafters Siegfried HoppeGraff, der seit geraumer Zeit die Originalaufzeichnungen der Scupins bearbeitet, können hier grundlegende Hinweise gegeben werden.177 Demnach war Gertrud Scupin im Posener Land geboren worden und hatte das Lehrerinnenexamen in Breslau abgelegt.178 Ob sie den Beruf auch ausgeübt hat, ist bislang offen. Über Ernst Scupin sind rudimentäre Informationen aus den Inhalten der Elterntagebücher zu erfahren, denen zufolge er ebenfalls als Lehrer tätig war.179 Zudem konnte ich einzelne Publikationstätigkeiten sowohl von Gertrud Scupin als auch von Ernst Scupin im ersten Jahrgang der ab 1918/19 herausgegebenen Literaturzeitschrift »Der Orchideengarten. Phantastische Blätter« recherchieren.180 Die Absichten ihres Buchprojekts von 1907 sind jedenfalls geklärt, das Paar legte sie im Vorwort der Publikation selbst dar: »[…] wir hatten uns vielmehr von vorherein den festen Plan gemacht, nur ganz einwandfrei festgestellte Tatsachen in unserem Tagebuch zu verzeichnen. Vorbildlich hierfür war uns der Klassiker der Kinderpsychologie, W. Preyer, dessen Buch ›Die Seele des Kindes‹ die wertvollsten Anregungen und die geeignetsten Wege zur Anlage eines Tagebu176 Ernst und Gertrud Scupin: Bubis erste Kindheit. Ein Tagebuch über die geistige Entwicklung eines Knaben während der ersten drei Lebensjahre, (Leipzig 19071) London 2018. 177 Danke an Siegfried Hoppe-Graff (Leipzig) für die Hinweise per E-Mail am 9. Oktober 2016. Der (vermutliche) Ledigennamen von Gertrud Scupin (Exner) sowie das Geburtsjahr von Ernst Scupin (1879) sind Angaben in verschiedenen Bibliotheksdatenbanken entnommen. 178 Bund der Vertriebenen (Hg.): Bedeutende Frauen aus dem deutschen Osten. Zusammengestellt und bearbeitet von Hans Dieter Handrack (Arbeitshilfe Nr. 66), Dortmund 1997, S. 20f. 179 Laut Angaben im Vorwort der Publikation von Gertrud Scupin aus 1931 wurde Ernst Scupin im Ersten Weltkrieg als Soldat zum Fronteinsatz eingezogen, wovon er eine Verletzung davontrug, an deren Spätfolgen er 1931 starb. Gertrud Scupin: Lebensbild eines deutschen Schuljungen. Tagebuch einer Mutter. Mit Abbildungen, Kinderzeichnungen und Schriftproben, Leipzig 1931. 180 Der Orchideengarten. Phantastische Blätter, Jg. 1, 1919, Heft 10, herausgegeben von Karl Hans Strobl in München.

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ches gibt. Um durchaus genau sein zu können, war es nötig, ständig ein Notizbuch mitzuführen, in welches jede erwähnenswerte Seelenäußerung des Kindes, später auch jedes Wort und jede interessantere Redewendung unmittelbar aufgeschrieben wurde. […] Unser Tagebuch macht nun durchaus keinen Anspruch darauf, irgendwelche Probleme der Kinderpsychologie zu lösen; wir wollen vielmehr mit der Veröffentlichung lediglich den berufenen Forschern einwandfreies Beobachtungsmaterial geben.«181 Das junge Elternpaar Gertrud und Ernst Scupin war also bemüht, präzise die körperliche sowie geistige Entwicklung ihres Sohnes zu protokollieren, was in der zeitgenössischen Begrifflichkeit mit »Seelenäußerung« gemeint war. Die damals 27-jährige Mutter und ihr 28-jähriger Ehemann folgten damit genau den Vorschlägen von William T. Preyer. Er war zwar bereits 1897 verstorben, sein 1882 erschienenes Buch »Die Seele des Kindes« wurde aber bis 1923 weiter neu aufgelegt. Entsprechend der dort lancierten Anleitung sind die Aufzeichnungen von Scupin und Scupin minutiös gestaltet, was sich schon in der Beschreibung der ersten beiden Lebenstage von ihrem Buben zeigt: »16. Mai 1904. Heute morgen 7 Uhr wurde unser kleiner Ernst Wolfgang geboren. Er verhielt sich mehrere Sekunden lang lautlos, erst ein energischer Klaps der Hebamme auf den unteren Teil seines Rückens bewog ihn zum ersten Schrei. Ans besonnte Fenster gebracht, kniff er sofort die Augen zusammen, öffnete sie aber gleich darauf weit, ließ also die Welt im Zweifel, ob er für Lichteindrücke schon empfänglich war. Auf Geräusche reagierte das Kind überhaupt noch nicht. Dagegen schnappte es, als es hungrig war, seitwärts in das Federbett hinein, strampelte die eingebundenen Händchen (eingebunden, weil das Kind sich das Gesicht zerkratzte) wieder frei und saugte gierig daran. 17. Mai. Das eine Auge klebte etwas zu, das andere wurde häufig weit geöffnet. Grellem Lampenlicht gegenüber kniff der Knabe die Augen zusammen. Der Gesichtssinn ist also intakt, ebenso das Gehör. Denn als das Kerlchen an der Brust lag und jemand laut sprechend hinzutrat, wandte es plötzlich den Kopf zur Seite, das Gesichtchen hatte dabei einen lauschenden Ausdruck, dann trank es beruhigt weiter. – Nun der Tastsinn: Ein sein Händchen berührender Finger wurde sofort umspannt und erst bei einer ruckweisen Armbewegung wieder losgelassen. Großmama, die, sich zärtlich herabneigend, auf das Kind einsprach, erhielt zum Dank ein paar Kratzwunden, die Fingerchen hatten sich so fest eingekrallt, dass es ihr einen Schmerzenslaut entlockte.«182

Auffallend an den Aufzeichnungen ist u. a., dass die beiden Schreiber/innen darin fast völlig in den Hintergrund treten. So ist weder klar, wer welche Passagen geschrieben hat, die Eltern firmieren ja beide als Autorin/Autor. Dass damit auf eine möglicherweise noch fragile Position von Gertrud Scupin als publizierende Frau reagiert wurde, ist nur eine mögliche Auslegung. Vor allem aber kommen 181 Scupin und Scupin: Bubis erste Kindheit, 1907, S. III. 182 Ebd., S. 1.

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beide Eltern – zumindest in Bezug auf die Schilderung der Geburt und die ersten Lebenstage des Säuglings – im Text so gut wie nicht als Akteur/innen vor. Sie werden weder als Betreuende oder Pflegende ihres Sohnes, noch als selbst in die Geburt Involvierte dargestellt. So bleibt offen, wer den gerade erst geborenen Ernst Wolfgang gleich an das »besonnte Fenster« brachte. Wer war »die Welt«, die der Neugeborene über seine Sehfähigkeiten »im Zweifel« ließ? Wie war der allgemeine körperliche Zustand der Wöchnerin, von der hier nur der (in dem Zusammenhang wohl als zentral identifizierte) Körperteil »Brust« genannt wird? Und wer war der medizinische Beistand? Oder zeitlich zurückgehend: Wie verliefen Schwangerschaft und Geburt? Und praktisch gefragt: Wer führte derzeit den Haushalt? Hatte die Entbundene dabei Unterstützung? Von wem? Von der attackierten »Großmama«? Wessen Mutter war diese »Großmama«? Wann war der berufstätige Vater zu Hause, konnte er mitten im Schuljahr frei nehmen? Etc. Obwohl der körperliche Zustand des Säuglings genau und ausführlich dokumentiert ist, finden sich viele zentrale Aspekte in Zusammenhang mit Geburt und Säuglingspflege in dieser Quelle also nicht belegt. Wie bereits in den Aufzeichnungen von Friedrich Adolf Krummacher, der in seinem Vätertagebuch Ende des 18. Jahrhunderts ›unabsichtlich‹ u. a. von den Gepflogenheiten der Zimmervogelhaltung berichtet hatte (→ Abschnitt 1.2), lassen sich auch aus dieser Publikation indirekt viele sozial- oder kulturhistorische Informationen generieren. So erfahren wir etwa im Laufe der Schilderung von »Bubis« Entwicklung, dass sich auch diese Familie einen Zimmervogel hielt (und später ein Kaninchen). Und auch von Gertrud und Ernst Scupin wurde als Beleg für die Entwicklung ihres Kindes herangezogen, ob und ab wann es den Vogel registrierte: »9. Woche […] 14. Juli 1904 […] Der im Bauer [Käfig, L. G.] herumhüpfende und singende Vogel machte noch gar keinen Eindruck, nur der Schwingbewegung des hängenden Käfigs wurde für kurze Zeit einige Aufmerksamkeit gewidmet.«183 Damit haben die emsigen Eltern Anfang des 20. Jahrhunderts also gleich auf mehreren Ebenen an Vorbilder angeknüpft, die mehr als 100 Jahre zuvor geschrieben wurden. Im Laufe des Textes rollt sich dann (weiterhin indirekt) auch ein Großteil des sozialen Umfelds der Familie auf und so ist – wiederum bezogen auf den Buben – etwa zu erfahren, dass Gertrud Scupin im Haushalt von einem Dienstmädchen unterstützt wurde, was sie ebenfalls mit der Familie Tiedemann im 18. Jahrhundert gemeinsam hatte: »15. Monat […] März 1905. Vater war frühzeitig fortgegangen. Auf die Frage: ›Wo ist Vapo?‹ suchte das Kind in Vaters Bette. Als die Mutter laut ›Emma‹ rief, sah es sofort nach der Türe, zu der das Dienstmädchen gewöhnlich ins Zimmer zu kommen pflegte.«184 Dass der Vater Ernst 183 Ebd., S. 7. 184 Ebd., S. 36.

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Scupin sich zum Ballspielen motivieren ließ, wie es in »Ferdinand’s Ehrenfelds Jugendjahren« schon 1798 vorgeschlagen worden war,185 kann anhand dieser Aufzeichnungen nicht belegt werden. Bälle spielen in dem Text aber etwa in Bezug auf die Sprachentwicklung oder die motorischen Fähigkeiten von Ernst Wolfgang immer wieder eine Rolle, wobei wir auch von weiteren vorhandenem Spielzeug erfahren: »21. Monat […] 7. Februar 1906 […] Ein Garnknäuel war unters Bett gerollt. Bubi rief: ›da, mama bitte ball holn!‹ Da die Mutter nun mit der Hand den Ball nicht erreichen konnte, langte sie den Knäuel mittels Bubis Peitsche hervor, was den Jungen sichtlich sehr interessierte. Er warf nun absichtlich alle möglichen Gegenstände unters Bett und versuchte, sie mit dem Peitschenstock hervorzubekommen.«186

Emotionen in wissenschaftsgeleiteten Elterntagebüchern Emotionen spielten in dem speziellen Genre der wissenschaftsgeleiteten Elterntagebücher eine besondere (Nicht-)Rolle. Wie bereits mehrfach ausgeführt wurde, sollte der Ausdruck persönlicher Bemerkungen – im Sinne von sentimentalen Regungen – in dieser Textsorte ja unterbleiben, zumindest dann, wenn sie im 19. Jahrhundert für wissenschaftliche Analysen brauchbar sein wollten. Die populäre Publikation »Das Kind. Tagebuch eines Vaters« von Herman Semmig aus 1875/1876 war allerdings voll von persönlichen Aussagen. Vater geworden zu sein, benannte der Autor im Vorwort als »das höchste, süßeste Glück, das der Mensch auf Erden empfinden kann, [als] eine Ahnung reiner himmlischer Seligkeit«187 (→ Abschnitt 1.4). Auszüge aus diesem Buch wurden in außerordentlich hoher Auflage in der Illustrierten »Die Gartenlaube« veröffentlicht, wissenschaftlich ausgewertet wurden diese Aufzeichnungen aber nicht. Wie standen nun die Elterntagebuchforscher/innen nach der Jahrhundertwende zu dem Thema? Und welche Emotionen wurden in dezidiert wissenschaftsgeleiteten Aufzeichnungen von den Schreiber/innen auf welche Weise ausgedrückt? In den Publikationen können sich Hinweise auf mögliche Variationen des Ausdrucks von Emotionen in den jeweiligen Vorworten oder in Berichten über die Schreibprojekte finden. So hatte etwa Friedrich Wilhelm Krummacher formuliert, sein Vater habe im ausgehenden 18. Jahrhundert »Ruhe und Humor genug« gehabt, um »unter allem Getümmel in der Welt« Aufzeichnungen über

185 Ehrenfeld: Ferdinand’s Ehrenfelds Jugendjahre, 1798, S. 37. 186 Scupin und Scupin: Bubis erste Kindheit, 1907, S. 83. 187 Zitiert in [o. A.]: Die drei ersten Jahre des Kindes, 1875, S. 823.

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ihn, seinen erstgeborenen Sohn, zu verfassen (→ Abschnitt 1.2).188 Der Ausdruck »Humor« kann als eine Variante der »Freude« gelesen werden, die der Psychologe William Stern (→ Abschnitt 1.6) 1914 wörtlich als eine mögliche »Absicht« angab, ein Elterntagebuch zu führen: Vielleicht »unternimmt [es] der Beobachter nur zu seiner eigenen Freude und Belehrung, um das ihm nahe stehende Kind recht genau kennen zu lernen, um späterhin eine dauernde Erinnerung an dessen zarte Frühzeit zu besitzen […]. Die Beobachtung aus persönlichen oder autodidaktischen Interessen ist in der Tat jedem zu empfehlen, der mit warmem Herzen und offenem Sinn Kindern gegenübertritt«.189 Neben der »Freude« wurde hier also auch Empathie in Form eines »warme[n] Herzens« sowie Aufmerksamkeit und Interesse in Form von »offenem Sinn« vorausgesetzt. Auf dieselbe Weise argumentierten auch Gertrud und Ernst Scupin 1907 in der Einleitung ihrer Edition: »Das Tagebuch über unseren Jungen war anfangs keineswegs für die Öffentlichkeit bestimmt; es ist lediglich aus dem Wunsche heraus entstanden, alle die feinen Regungen der sich langsam erschließenden Menschenseele festzuhalten zu unserer Freude und um uns noch in späteren Jahren der ersten fröhlichen Jugendzeit unseres Buben recht lebendig erinnern zu können. […] Aber nicht nur für den Fachgelehrten ist unser Tagebuch bestimmt, auch allen Eltern, die sich der herzlich lohnenden Aufgabe unterziehen wollen, die seelische Entwicklung ihres Kindes zu beobachten und zu studieren, sei dieses Buch gewidmet.«190 Mit dem Hinweis, dass das Elterntagebuch auch »noch in späteren Jahren« für die Eltern interessant sein würde, wird der Erinnerungswert angesprochen, den auto/biografische Aufzeichnungen (neben der Dokumentation und der Repräsentation sowie dem möglichen Quellenwert für die Wissenschaft) als eine weitere Funktion haben können (→ Kapitel 3 und 4). Damit ist auch gleichzeitig ein emotionaler Gehalt ausgedrückt, den die Diarist/innen mit dieser Aufschreibepraktik verbunden haben: Gertrud und Ernst Scupin gingen davon aus, dass sie sich auch in Zukunft daran erfreuen würden, Informationen über die erste Lebenszeit ihres Söhnchens Ernst Wolfgang zu haben. Weiters kann der Umstand, dass das auf den Buben bezogene Projekt über mehrere Jahre geführt worden ist, ebenfalls als Ausdruck von elterlichem Interesse und familiärer Verbundenheit gedeutet werden, genau in dem Sinne, wie es Herman Semmig oder William T. Preyer Jahrzehnte zuvor gefordert hatten. An einzelnen Stellen lassen sich im Text von Gertrud und Ernst Scupin mögliche Gefühlsregungen auch auf einer sprachlichen Ebene erahnen, was in der zitierten Schilderung der ersten Lebenstage ihres Kindes hauptsächlich in 188 Gebhardt: Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen, 2009, S. 36. 189 Stern: Psychologie der frühen Kindheit, 1914, S. 10. 190 Scupin und Scupin: Bubi’s erste Kindheit, 1907, S. IIIf.

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den verwendeten Verkleinerungsformen wie »Kerlchen« oder »Händchen« gesehen werden kann. Direkt emotional dargestellt wird in dem Zitat aber lediglich die Großmutter. Sie hätte sich sogar »zärtlich« benommen (ein in der Zeit ja umstrittenes Verhalten → Abschnitt 1.4) – und erntete dafür auch prompt einen ›tätlichen Angriff‹ des Säuglings, der sie fest kratzte. Diese Episode könnte nun einerseits als generationsmarkierend gelesen werden. Sie könnte aber auch als dezent humoristische Darstellung gedacht gewesen sein, die wiederum auf einen gewissen Unterhaltungswert der Aufzeichnungen gezielt haben könnte. Das würde wiederum auch ein weiter gefasstes Lesepublikum oder eine Erinnerungsfunktion implizieren.

›Abweichungen‹ kindlicher Entwicklung in wissenschaftsgeleiteten Elterntagebüchern Nach meiner Argumentation kann also bereits das Führen eines Elterntagebuches an sich als ein zeitgenössischer Ausdruck von Emotionalität gelesen werden. In diesem Sinne sind auch Gertrud und Ernst Scupins – sprachlich eher nüchtern gehaltene – detaillierte Schilderungen der körperlichen und geistigen Konstitution ihres neugeborenen Kindes als indirekt formulierte positive Emotionen auszulegen. Sein »Gesichtssinn«, das Gehör und der Tastsinn werden als »intakt« bezeichnet, auch schien der Säugling kräftig zu sein. Sein kleiner Körper funktionierte entsprechend der medizinischen Normangaben, die den Eltern offenbar bekannt waren. Die sachlich gehaltenen Aufzählungen der verschiedenen Parameter scheinen aus einer heutigen Perspektive vielleicht befremdlich. Nach dem damaligen Wissensstand wurde der psychische Zustand eines Kindes von der körperlichen Konstitution abgeleitet. Ernst Wolfgang erfüllte die Norm, er war also ›gesund‹. Vor der Folie des damaligen ›Wissens‹ um ›Normalverläufe‹ der körperlichen und damit psychischen Entwicklung scheint die Auflistung der merkbaren Fortschritte eine – indirekte – Bekundung von ›Freude‹ darüber gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu fragen, wie elterntagebuchschreibende Mütter oder Väter damit umgingen, wenn sich herausgestellt hatte, dass sich ihr Kind nicht ›gesund‹ entwickeln würde. Bisher habe ich keine Publikation eines wissenschaftsgeleiteten Tagebuches recherchieren können, in dem ein solcher Entwicklungsverlauf dokumentiert worden wäre. Vielmehr wurde in den Vorworten betont, die Aufzeichnungen würden das Aufwachsen eines » gesunden, weder auffallend schnell, noch auffallend langsam […] sich entwickelnden Kindes«191 dokumentieren, wie es etwa William T. Preyer 1882 bezüglich seines Sohnes Axel 191 Preyer: Die Seele des Kindes, 18954, S. VI.

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ausgerückt hat. Das ist im Hinblick der Vorbild- und Leitlinienfunktion, die die medizinisch-pädagogisch motivierten Veröffentlichungen haben sollten, wenig verwunderlich – und gleichermaßen bezeichnend. Einzig bei Herman Semmig findet sich 1875/1876 der Aspekt möglicher ›Abweichungen‹ kurz angesprochen. Er habe die Dokumentation über seine erstgeborene Tochter u. a. aus dem Grund veröffentlicht, weil »die Entwicklung des Kindes […] eine natürlich regelmäßige« war. Über die Kinder, die er »später das Glück gehabt hat zu erhalten«, hat er keine Aufzeichnungen herausgegeben. Sie »hatten mit so viel Schwierigkeiten in ihrem Aufkommen und Wachsthum zu kämpfen, daß die Beobachtung des Denkers der Sicherheit entbehrt hätte und die sonstigen Erlebnisse von einem zu privaten Charakter gewesen wären.« Da die Gesundheit der weiteren SemmigKinder also nicht uneingeschränkt der erwarteten Norm entsprochen hat, wurden sie auch nicht öffentlich dokumentiert. Solche ›Abweichungen‹ wurden als »zu privat«, als etwas »zu Persönliches« eingestuft, als dass es ein Publikum hätte interessieren sollen. Bei dem Bericht über das Aufwachsen der ältesten Tochter würden die Leser/innen stattdessen »um so leichter […] dem Lebensgange folgen, wo nichts zu Persönliches sich in die Schilderung eindrängt«.192 Zu dramatisch sollte es demnach in einem solchen elterlichen Leitfaden auch nicht zugehen. Wenn sich nicht »das höchste, süßeste Glück«193 einstellte, sondern womöglich ernste Sorgen, passte die Erzählung auch nicht mehr in die Familienillustrierte. Wie Semmig versicherte, würden die Leser/innen aber auch (oder gerade erst) bei der Beschreibung des gesunden Kindes »die ganze Stufenleiter der Gefühle durchlaufen und in dem engen Rahmen der Häuslichkeit ein Abbild von dem Streben und Ringen der Welt wiederfinden.«194 Er verfolgte mit seiner Publikation keine direkten wissenschaftlichen Absichten. Wie die zeitgenössischen Forscher hatte er aber – trotz der von ihm verwendeten literarischen Sprache – den Anspruch, eine ›neutrale‹ Schilderung abzuliefern.

Lai/innenforschung mit wissenschaftsgeleiteten Elterntagebüchern Aus den bisher wenigen Informationen über die persönlichen Hintergründe von Gertrud und Ernst Scupin lässt sich schließen, dass beide nicht im akademischen Feld erwerbstätig waren. Sie waren beide (ausgebildete) Lehrer/innen. Dennoch veröffentlichten sie 1907 die Edition ihrer Tagebuchaufzeichnungen – inklusive einer fertig ausgearbeiteten wissenschaftlichen Auswertung, die sie selbst durchgeführt hatten. Damit gehörten die Scupins zu jenen ›Privatgelehrten‹, 192 Zitiert in [o. A.]: Die drei ersten Jahre des Kindes, 1875, S. 823. 193 Ebd. 194 Ebd.

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Autodidakt/innen oder Lai/innenforscher/innen, die als Zeitphänomen der Jahrhundertwende einzustufen sind (→ Abschnitt 1.6). Als nur eine der bekannten Vertreter/innen aus einer anderen Disziplin sei hier Ilse (von) Arlt (1876–1960) genannt. Sie initiierte 1912 mit den Vereinigten Fachkursen für Volkspflege in Wien die erste Fürsorgerinnenschule in der Österreich-Ungarischen Monarchie und gilt damit als Begründerin der Sozialen Arbeit als wissenschaftliche Profession in Österreich.195 Ilse Arlt schrieb sich den Begriff »Autodidakt« auch selbst zu. Das um 1900 noch fehlende fachliche Wissen um die ›sociale Frage‹ identifizierte sie dabei als strukturelles Problem: »[…] soviel ich mir auch aus Zeitungen und Büchern aneignete, so ernsthaft ich als Autodidakt Nationalökonomie und Sozialwissenschaften studierte, es dauerte bis in den Anfang meiner Zwanzigerjahre [sie wurde 1876 geboren, L. G.], bis mir die Erkenntnis aufdämmerte, nicht bloß ich sei zu dumm, um zu wissen, wie man misshandelten Kindern, verlassenen Greisen, armen Frauen hilft, sondern dieses Wissen fehlte überhaupt.«196 Was Ilse Arlt als Initiatorin der Vereinigten Fachkurse für Volkspflege von den meisten Lai/innenwissenschafter/innen der Zeit unterschieden hat, war, dass diese in der Mehrzahl weder dotierte Anstellungen für ihre Forschungen hatten noch an eine Institution angebunden waren. Der Großteil von ihnen war aber auch nicht darauf angewiesen. Wie auch Ilse Arlt konnten sie sich durchwegs auf einen wohlhabenden familiären Hintergrund stützen, was eine der Voraussetzungen dafür war, als ›Privatgelehrte/r‹ tätig zu sein. Der Zugang zu den Universitäten war noch sehr eingeschränkt. Gleichzeitig waren viele Fächer, wie die Pflegewissenschaften oder auch die Psychologie, dort noch nicht verankert und wurden währenddessen von ›Lai/innen‹ vorangetrieben. Andere verfolgten ihre wissenschaftlichen Projekte neben der Erwerbs- und Familienarbeit, was auf Gertrud und Ernst Scupin zugetroffen haben dürfte. Ihre Publikation »Bubis erste Kindheit. Ein Tagebuch über die geistige Entwicklung eines Knaben während der ersten drei Lebensjahre« setzt sich (in der Auflage von 1907) jedenfalls folgendermaßen zusammen: Der mit »Tagebuch« betitelte Hauptteil enthält auf 200 Seiten die fast täglich geführten Aufzeichnungen, datiert und überschrieben mit der jeweiligen Lebenswoche und zusätzlich mit dem Lebensmonat des Kindes. Die angeschlossene Analyse der Notizen gliedert sich in die fünf Abschnitte »Die Unterscheidung der Farben« (18 Seiten), das »Verzeichnis der bis zum Ende des 3. Lebensjahres gebrauchten Worte« (acht Seiten), eine »[c]hronologische Übersicht« (19 Seiten), ein »Sachregister« (17 Seiten) sowie die »Nachbildungen von Zeichnungen« (sieben Sei195 Vgl. dazu u. a. Maria Maiss (Hg.): Ilse Arlt. Pionierin der wissenschaftlich begründeten Sozialarbeit (Zur Geschichte der Sozialarbeit und Sozialarbeitsforschung Bd. 4), Wien 2013. 196 Zitiert nach Maria Maiss und Peter Pantucek: Theorie mit Leidenschaft. Ilse Arlt und aktuelle Fragen der Sozialen Arbeit, in: Soziale Arbeit. Zeitschrift für Soziale und sozialverwandte Gebiete, Jg. 56, 2008, Nr. 6, S. 1–14, S. 3.

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ten). In diesem Bildteil kann die Entwicklung von »Bubis« Zeichenkünsten anhand eines letztendlich klar identifizierbaren ›Kopffüßlers‹ nachvollzogen werden. Gertrud und Ernst Scupin haben also neben ihren Tagebuchaufzeichnungen auch eine den zeitgenössischen wissenschaftlichen Kriterien entsprechende Bearbeitung davon vorgelegt. Dennoch betonten sie in der Einleitung der Publikation – wie bereits zitiert –, sie würden damit keinen »Anspruch [stellen], irgendwelche Probleme der Kinderpsychologie zu lösen, [sie wollten] lediglich den berufenen Forschern einwandfreies Beobachtungsmaterial geben.«197 Diese akzentuierte Unterordnung unter »berufene Forscher« erinnert an Rechtfertigungsrhetoriken, die insbesondere Berufspionierinnen in den verschiedenen Forschungsfeldern verwendet haben (→ Abschnitt 2.8). Einerseits könnte darin ein Legitimationszwang ausgemacht werden, unter dem ›Lai/innen‹ inzwischen offenbar standen, wenn sie im zunehmend professionalisierten Wissenschaftsbetrieb veröffentlichen wollten. Die betonte Zurücknahme des eigenen Projektes der Scupins, das »anfangs keineswegs für die Öffentlichkeit bestimmt« gewesen wäre, kann dieser Argumentation folgend als doppelbödige Erklärung eingestuft werden. Abgefedert wurde alles durch die behauptete »Freude« an ihrem Sohn, die sie als engagierte Eltern ja auch zu empfinden hatten. Dass das Ehepaar Scupin damit ganz allgemein die Position von Gertrud Scupin als publizierende Frau rechtfertigen wollte, ist eine weitere Vermutung. Sie ist als Autorin auf dem Buchcover jedenfalls nach ihrem Ehemann zweitgenannt – in aktuellen Literaturdatenbanken ist ihr Name häufig sogar verloren gegangen. Erste wissenschaftliche Publikationen von Psychologinnen waren inzwischen zwar veröffentlich worden, das lag aber jeweils erst wenige Jahre zurück und hat zudem ausschließlich in den USA stattgefunden.198 In Europa stark rezipiert wurde davon eine kindepsychologische Studie, die Milicent Washburn Shinn (1858–1940) im Jahr 1893 vorgelegt hatte.199 Sie war auf den Beobachtungen aufgebaut, die Washburn Shinn über ein Jahr lang an ihrer

197 Scupin und Scupin: Bubis erste Kindheit, 1907, S. IIIf. 198 Margaret Floy Washburn (1871–1939) hat an der Cornell University in Ithaca, New York zu Mensch-Tier-Beziehungen gearbeitet. Sie erhielt damit 1894 als erste Frau in den USA ein PhD-Degree in Psychologie. Katherine Carter Moore promovierte 1896 im Fach Kinderpsychologie. Vgl. Elissa Rodkey: Margaret Floy Washburn, in: Psychology’s Feminist Voices, 2010, unter: www.feministvoices.com/margaret-floy-washburn. Zu Katherine Carter Moore liegen mir bisher keine biografischen Daten vor, die Angabe zu ihrer Publikation stammt aus Deutsch: Nicht nur Frau und Mutter, 1994, S. 175. 199 Die Arbeit von Milicent Washburn Shinn wurde mehrfach aufgelegt, bevor sie damit 1898 als erste Frau an der University of California promovierte. 1900 wurde schließlich in Boston/ New York eine populäre Version davon unter dem Titel »The Biography of a Baby« herausgebracht. Elissa Rodkey: Milicent Shinn, in: Psychology’s Feminist Voices, 2010, unter: www.feministvoices.com/milicent-shinn. Eine Neuauflage von »The Biography of a Baby« wurde 1985 von T. Berry Brazelton herausgegeben.

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Nichte Ruth unternommen hatte.200 Insbesondere William T. Preyer hat sich stark auf diese Arbeit bezogen. Wie die derartigen Unternehmungen aus dem gerade vergangenen 19. Jahrhundert wurde auch das Dokumentationsprojekt »Bubi« der Scupins schließlich über mehrere Jahre geführt und dann in mehreren Teilen veröffentlicht: Auf das Buch von 1907 folgten 1910 »Bubi im vierten bis sechsten Lebensjahre. Ein Tagebuch über die geistige Entwicklung eines Knaben während der ersten sechs Lebensjahre«201 und 1931 das »Lebensbild eines deutschen Schuljungen. Tagebuch einer Mutter. Mit Abbildungen, Kinderzeichnungen und Schriftproben«.202 Auffällig ist dabei, dass Gertrud Scupin im dritten Band als alleinige Autorin auftrat. Sie hatte ihre Position als tagebuchführende »Mutter« sogar in den Titel gesetzt. Es ist möglich, dass sie diese sehr viel später herausgebrachte Publikation tatsächlich alleine vorbereitet hat. Ernst Scupin war ihren Angaben zufolge inzwischen verstorben. Der Hinweis auf die ›weibliche Mutterrolle‹ könnte zudem dem Zeitgeist der 1930er-Jahre zugeordnet werden. Vielleicht war die Veröffentlichung auch einfach eine wirtschaftliche Einnahmestrategie der nun verwitweten 51-jährigen Frau. »Bubi« war inzwischen jedenfalls 27 Jahre alt.

1.6) Elterntagebücher in der Psychologie ab 1900: Clara und William Stern Einer, der (sich) sicherlich zu jenen »berufenen Forschern« zählte, die Gertrud und Ernst Scupin 1907 mit ihrem veröffentlichten Elterntagebuch adressiert hatten, war William Stern (1871–1938).203 William (Louis, auch Ludwig Wilhelm) Stern war in einer Intellektuellenfamilie in Berlin aufgewachsen, wo er dann an der Friedrich-Wilhelms-Universität (Humboldt-Universität) Psychologie studierte. Das Fach war zu der Zeit noch kaum universitär institutionalisiert (→ Abschnitt 1.3) und so fand auch in Berlin die psychologische Forschung damals am Lehrstuhl für Philosophie statt bzw. wurde von Medizinern

200 T. Berry Brazelton: Introduction. The Biography of a Baby. Milicent Washburn Shinn, Cambridge 1985, S. 1. 201 Ernst und Gertrud Scupin: Bubi im vierten bis sechsten Lebensjahre. Ein Tagebuch über die geistige Entwicklung eines Knaben während der ersten sechs Lebensjahre, Leipzig 1910. 202 Scupin: Lebensbild eines deutschen Schuljungen, 1931. Vgl. zu den drei Büchern auch die kurze Darstellung in Hopf: Die experimentelle Pädagogik, 2004, S. 75–76. 203 Zur wissenschaftlichen Arbeit von William Stern und auch zu biografischen Hintergründen der Mitglieder der Familie Stern siehe als ausführlichen Überblick zuletzt Rebecca Heinemann: Das Kind als Person. William Stern als Wegbereiter der Kinder- und Jugendforschung 1900 bis 1933, Bad Heilbrunn 2016.

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betrieben.204 1897 folgte Stern seinem ehemaligen Professor Hermann Ebbinghaus (1850–1909) an die Universität Breslau, wo er zuerst als Privatdozent für Philosophie arbeitete, bevor er 1907 zum a.o. Professor für Pädagogik befördert wurde.205 Wie bereits erwähnt war Breslau/Brassel/Wrocław in Schlesien um 1900 die fünftgrößte Stadt im Deutschen Kaiserreich, die Universität war 1702 gegründet worden. Von hier aus war William Stern maßgeblich an der institutionellen Verankerung und an der inhaltlichen Ausdifferenzierung des Faches Psychologie in Deutschland beteiligt. Seine 1900 in Leipzig veröffentlichte theoretische Publikation »Über Psychologie der individuellen Differenzen«, in der er ein mögliches Forschungsprogramm für die experimentelle Psychologie entwickelt hat, wird als ein frühes Grundlagenwerk der Persönlichkeitspsychologie gelistet. 1904 gründete er zusammen mit anderen die Gesellschaft für experimentelle Psychologie (seit 1929 Deutsche Gesellschaft für Psychologie). Diese Gesellschaft richtete 1906 das Institut für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung in Potsdam-Kleinglienicke ein, dem William Stern gemeinsam mit seinem ehemaligen Studenten Otto Lipmann (1880–1933) vorstand (→ Abschnitt 2.1). Ab 1908 gaben die beiden die »Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung« heraus.206 1916 übernahm William Stern den Lehrstuhl für Psychologie an der Universität Hamburg, die sich in der Zeit als eigenständige Institution gründete, woran er ebenfalls beteiligt war. Er zählte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den bekanntesten Psychologen in Deutschland, u. a. geht der noch aktuell verwendete Begriff »Intelligenzquotient« bzw. »IQ« auf ihn zurück.207

204 Das Psychologische Institut an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin wurde 1900 gegründet. Als erster Lehrstuhlinhaber wurde der Musikforscher, Psychologe und Philosoph Carl Stumpf (1848–1936) berufen. Institut für Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin (Hg.): 100 Jahre Institut für Psychologie der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 2000, S. 5. 205 Hermann Ebbinghaus hatte in Berlin einen Lehrstuhl für Philosophie innegehabt, wo er das deutschlandweit dritte psychologische Testlabor einrichtete. Als er 1894 nicht zum Leiter der Philosophischen Abteilung ernannt wurde, ging er nach Breslau, wo er wieder einen Lehrstuhl für Philosophie übernahm. Dazu u. a. Heinemann: Das Kind als Person, 2016, S. 81–83. 206 Von 1915 bis 1933 erschien die Publikation unter dem Titel: »Zeitschrift für angewandte Psychologie«. 207 Erstmals publiziert in: William Stern: Die psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung und deren Anwendung an Schulkindern, Leipzig 1912.

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Fachinterne Konkurrenz in der tagebuchbasierten Kinderpsychologie 1907 veröffentlichte William Stern gemeinsam mit seiner Ehefrau Clara Stern das Buch »Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung. Monographien über die seelische Entwicklung des Kindes«, das auf Aufzeichnungen über ihre drei Kinder basierte.208 Der Erziehungswissenschafter Gerold Scholz hat darauf verwiesen, dass Gertrud und Ernst Scupin ihr Buch publiziert haben, ohne darin auf die Aktivitäten des Ehepaares Stern Bezug zu nehmen.209 Dass es möglich war, dass die zwei Paare die Aktivitäten der jeweils anderen nicht kannten, obwohl beide in derselben Stadt lebten und William Stern inzwischen zu einer bekannten Persönlichkeit im Fachgebiet geworden war, ist wohl eher unwahrscheinlich. Ich interpretiere dieses Ignorieren daher vielmehr als Ausdruck einer Selbstpositionierung innerhalb eines spezifischen Themengebietes. Beide Bücher wurden im selben Jahr und jeweils in Leipzig herausgebracht, dem damaligen Zentrum der Fachdisziplin (→ Abschnitt 1.3). Sie erschienen aber bei zwei verschiedenen Verlagen. Die Sterns publizierten bei Johann Ambrosius (auch J. A.) Barth, die Scupins bei Th. Grieben. Die prominente Bezugnahme von Gertrud und Ernst Scupin auf William T. Preyer wurde bereits ausgeführt (→ Abschnitt 1.5). In ihrem Buch ist rückseitig auch ein Werbeblatt für seine Publikationen zu finden – sie waren ebenfalls im Verlag Th. Grieben veröffentlicht worden.210 Die starke Referenz der zwei jungen Autor/innen auf den »Klassiker der Kinderpsychologie«211 dürfte also auch dem Interesse des gemeinsamen Verlegers entsprochen haben. Der inzwischen verstorbene Physiologe Preyer hatte ja in den 1880er-Jahren durch seine eigenen Publikationen und durch Anregungen an alle Eltern zur Popularisierung des wissenschaftsgeleiteten Elterntagebuchschreiben beigetragen (→ Abschnitt 1.3). Das Buch der Scupins konnte nun als ein Ergebnis dieser Initiative präsentiert werden. Galt das auch für jenes von Clara und William Stern? In dem Vorwort der Publikation »Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahre« aus 1914 hatte William Stern den oben zitierten Hinweis gegeben, das Verzeichnen der Entwicklung der eigenen Kinder könne den beobachtenden Eltern auch zu ihrer »Freude« gereichen. Hier direkt angeschlossen findet sich ein Seitenhieb. In hervorgehobener Schrift wird fortgesetzt: »[…] dagegen mögen sich zu wissenschaf tlichen Arbeiten, selbst zu b l o ß e n M a t e r i a l s a m m l u n g e n f ü r w i s s e n s c h a f t l i c h e Z we c k e , n u r s o l c h e b e r u f e n f ü h l e n , we l c h e d i e d u r c h a u s n o t we n d i g e 208 Stern und Stern: Die Kindersprache, 1907. 209 Gerold Scholz: Von der Erforschung der eigenen Kinder zur Neuen Kindheitsforschung, Frankfurt am Main 2000, S. 1. 210 Scupin und Scupin: Bubis erste Kindheit, 1907, S. 263. 211 Ebd.: S. III.

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p s y c h o l o g i s c h e S c h u l u n g b e s i t z e n […]. Nicht auf bloße Quantität, sondern auf einwandfreie zuverlässige Qualität des Materials kommt es der Forschung an.«212 Dass sich dieser Kommentar konkret an das Ehepaar Scupin richtete, ist nicht verbrieft, liegt jedoch nahe. Oder war er allgemein gegen Lai/ innenforscher/innen gerichtet?

Die wissenschaftliche Zusammenarbeit von Clara und William Stern Dass William Stern sich mit dieser polemischen Bemerkung indirekt gegen die Publikationstätigkeiten von Frauen richtete, ist meiner Auslegung nach mit Sicherheit auszuschließen. Immerhin war seine Ehefrau in gleicher Weise tätig – und sie wurde bei den gemeinsamen Publikationen jeweils als erste auf dem Buchcover genannt. Zudem wurde in einer »Vorbemerkung« ihre arbeitsteilige Vorgehensweise als gleichberechtigt betont: »An der Sammlung und Aufzeichnung des Beobachtungsmaterials von unseren Kindern hat C. STERN, an der Bearbeitung der psychologischen und sprachwissenschaftlichen Literatur W. STERN den größeren Anteil. Die eigentliche Abfassung ist […] Produkt gemeinsamer Arbeit.«213 Offenbar sahen sich Clara und William Stern vielmehr selbst unter Zugzwang, Clara Sterns Position als fachkundig zu betonen. William Sterns abschätzige Bemerkung dürfte also auf die Forschungsmethode der Scupins abgezielt haben – und weder gegen Lai/innen noch gegen Frauen in der Wissenschaft gerichtet gewesen sein. Sie sollte die eigene Position als tonangebendes Expert/innenpaar in dem Feld stärken. Diese Hinweise werden hier exemplarisch gebracht, um die fachinternen Konkurrenzen zu belegen, die um 1900 in der tagebuchbasierten Kinderforschung inzwischen entstanden waren. Die jeweiligen Akteur/innen nahmen aufeinander Bezug, ignorierten einander, sprachen einander Fachkenntnis ab, reklamierten die Entwicklung einer Methode für sich oder nahmen die Umsetzung der ›korrekten‹ Auslegung einer bestimmten Arbeitsweise für sich in Anspruch. Solche rhetorischen Demonstrationen von forschendem Selbstbewusstsein sowie einer Inanspruchnahme der Rolle als ›Begründer/in‹ einer Forschungsmethode etc. waren in der zeitgenössischen konfliktorientierten Wissenschaftskultur durchaus üblich.214 Ähnliche Formulierungen sind einige Jahre später auch in den jugendpsychologischen Publikationen von Charlotte Bühler (geb. Malachowski, 1893–1974) zu 212 Stern: Psychologie der frühen Kindheit, S. 10 [Hervorhebungen im Original]. 213 Stern und Stern: Vorbemerkung zur Monographie, in: dies.: Die Kindersprache, 1907, o. S. [Hervorhebungen im Original]. 214 Siehe dazu auch Li Gerhalter: Zwei Quellenfunde, k/ein Archiv. Die Tagebuchsammlung des Wiener Forschungsteams von Charlotte Bühler, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit, Jg. 10, 2010, Heft 2, S. 53–72, S. 56.

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finden, wobei die Begriffe »Begründerin« oder »Pionierin« in den zahlreichen Beschreibungen ihrer Forscherinnenbiografie besonders häufig verwendet wurden und werden (→ Abschnitt 2.4). Clara und William Stern firmieren in allgemeinen Darstellungen ihrerseits als »Begründer[…] der entwicklungspsychologischen Tagebuchmethode«, wie es etwa in der Online-Wissensdatenbank Wikipedia aktuell (2020) ausgedrückt ist.215 Dabei haben sie mit »Die Kindersprache« gar keine psychologische, sondern eine sprachwissenschaftliche Arbeit vorgelegt, worauf an dieser Stelle klar hinzuweisen ist. Stern und Stern reklamierten jedenfalls auch selbst eine zentrale Rolle in diesem Feld für sich. Im Vorwort der Publikation von 1907 bezeichneten sie ihre Arbeitsweise als »hier zum ersten Male verwirklichte […] Arbeitsgemeinschaft der Eltern, die sich für die Feststellung der inneren Zusammenhänge, für die Formulierung der zu erforschenden Probleme und für die Ausarbeitung des Stoffes als sehr förderlich erwies.«216 Sie nützten dieses Vorworts auch dazu, um sich von jenem methodischen Vorgehen zu distanzieren, das sie William T. Preyer unterstellten. Nach Darstellung der Sterns hatte dieser seinen Sohn Axel für die Recherche nämlich »morgens, mittags und abends […] zwecks Lieferung von Material beobachtet[…]«.217 Dadurch hätten sich »Beobachtungszeiträume« sowie zuvor festgelegte »thematische Bereiche« ergeben.218 Clara und William Stern hätten für das Sammeln ihrer Daten hingegen »nicht ein schematisches Verfahren [anwenden müssen,] denn das Kinderstubenleben, das sich mit allen seinen Freuden und Leiden, mit allen seinen Alltäglichkeiten und Besonderheiten um die Eltern, namentlich um die Mutter herum abspielte, bot unzählige Gelegenheiten, um die Entwicklung der kleinen Seelen in jeder Hinsicht, in Sprache, Spiel, Willen und Charakter, Intelligenz, Gefühl, Anschauung, Kunstbetätigung usw. zu verfolgen und zu fixieren.«219 Mit anderen Worten ausgedrückt: Die drei zwischen 1900 und 1904 geborenen Kinder Hilde, Günther und Eva Stern wurden im elterlichen Haushalt rund um die Uhr beobachtet. Ihre Mutter führte ihr »Kinderstubenleben« als permanente Versuchsanordnung, wobei sie bei jeder Gelegenheit Daten sammeln und notieren konnte. Ihr Vater reüssierte währenddessen hoch erfolgreich in verschiedenen wissenschaftlichen Kontexten und Positionen. Publiziert wurde (zumindest zu diesem bestimmten Thema) gemeinsam. Miriam Gebhard verortete im frühen 20. Jahrhundert den Zenit im »Verwissenschaftlichungs- und Rationalisierungsprozess der frühkindlichen Sozialisa-

215 216 217 218 219

Wissensportal Wikipedia (o. J.) unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Tagebuchmethode. Stern und Stern: Vorwort, in: Die Kindersprache, 1907, o. S. Ebd. Deutsch: Nicht nur Frau und Mutter, 1994, S. 174. Stern und Stern: Vorwort, in: Die Kindersprache, 1907, o. S.

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tion«.220 Wie auch Werner Deutsch schätzte sie dabei die Arbeit von Clara und William Stern als »Höhepunkt der wissenschaftlichen Weiterentwicklung des Elterntagebuchs« ein.221 Aufbauend auf den bereits seit William T. Preyer geforderten Vorgaben für diese wissenschaftsgeleitete Aufzeichnungsform sollten die Mütter und Väter nach Stern und Stern ihre Beobachter/innenpositionen dabei so gut wie möglich ›neutralisieren‹. Dies konnte ihrer Meinung nach gelingen, indem auch Angaben zum sozialen Umfeld des Kindes, zu seinem Alter, der Geschwisterfolge, der Konfession und dem Wohnort etc. genau dokumentiert würden.222 In die heutige Wissenschaftssprache übersetzt forderten sie also eine detaillierte Kontextualisierung der Proband/innen.223 Vor allem sollten sich die Aufzeichnenden aber »jegliche[n] Psychologiejargons« enthalten. Im Zentrum stand eine »Trennung von Beschreibung und Interpretation. Clara und William Stern haben peinlich darauf geachtet, Ereignisse möglichst theoriefrei zu dokumentieren«.224 Entsprechend wurde bei den Beobachtungen der Sprachentwicklung ihrer drei Kinder sowohl der Inhalt als auch die Form der kindlichen Äußerungen festgehalten.225 Und anders als das Buch von Gertrud und Ernst Scupin enthielt ihre Publikation auch keinen Abdruck der Tagebuchnotizen von Clara Stern. In einem Glossar werden nur einzelne Aussagen der Kinder direkt wiedergegeben, die die Sprachentwicklung nach Alter belegen sollen. So erfahren wir etwa von folgender Kreation der dreijährigen Hilde: »der macht aber eine nasserei, sagte sie von einem Kinde, das im Bade heftig plantschte.«226 Dass Stern und Stern ausschließlich ihre Auswertung veröffentlicht haben, und nicht wie Scupin und Scupin auch ihre Quellen, kann als 220 221 222 223

Ebd., S. 47. Gebhardt: Mit Waage und Papier, 2015, S. 50. Ebd.; Deutsch: Nicht nur Frau und Mutter, 1994, S. 175. Hinweise darauf, dass dabei auch eine Analyseperspektive auf das Geschlecht der beobachteten Kinder eingenommen worden wäre, habe ich bisher keine gefunden. Auch in der Forschungsliteratur wird auf diese Frage nicht Bezug genommen. Zudem sind die Titel der Bücher zumeist geschlechterneutral formuliert. Titel wie »Bubis erste Kindheit«, die von sich aus das jeweils beobachtete Kind geschlechtlich markieren, sind zeitgenössisch selten. Da die in den veröffentlichten Büchern dokumentierten Kinder aber fast immer mit Namen ausgewiesen sind, sind auch Informationen über ihr Geschlecht vorhanden. Eine systematische Auswertung, ob, ab welchem Alter und wie die Kinder hier geschlechtsspezifisch beschrieben wurden, wäre eine interessante weiterführende Fragestellung. 224 Deutsch: Nicht nur Frau und Mutter, 1994, S. 174f. 225 Ebd. Rosa und David Katz, die sich ebenfalls mit der Sprachentwicklung von Kindern beschäftigt haben, haben in ihrer Veröffentlichung phonetische Eigenheiten, Mundartausdrücke oder grammatikalische Unrichtigkeiten der beobachteten Kinder nicht berücksichtigt. Das wird aktuell als ›Schwäche‹ ihrer Forschungen bewertet. Elfriede BillmannMahecha: Rosa Katz: Auf der Suche nach einer kulturpsychologischen Entwicklungspsychologie, in: Sibylle Volkmann-Raue und Helmut E. Lück (Hg.): Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 20112, S. 129–139, S. 134. 226 Stern und Stern: Die Kindersprache, 1907, S. 364 [Hervorhebungen im Original].

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ein Ausdruck für ihr wissenschaftliches Selbstbewusstsein interpretiert werden. Auch William T. Preyer hatte nur die Analyse und nicht sein Datensample publiziert. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Preyers physiologischer Arbeit über die »Die Seele des Kindes« aus den 1880er-Jahren und den sprachwissenschaftlichen Abhandlungen der Sterns von 1907 besteht (abgesehen von deren inhaltlichen Ausrichtungen) darin, dass in »Die Kindersprache« keine Anleihen an einen Erziehungsratgeber mehr zu finden sind. Clara und William Stern stellten dar, wie Kinder sprechen lernen: »Sehr bemerkenswert ist in [Hinsicht auf Farbbezeichnungen, L. G.] Hildes halbblau für ›lila‹. Hier ist ihr die eine Beziehung der fremden Farbe aufgegangen, aber sie erkennt doch schon, daß diese Beziehung nur die Hälfte des Eindrucks verwirklicht. dunkelweiß für die Zwischenfarbe ›grau‹ gibt wieder die beiderseitige Beziehung an.«227 Die Publikation enthält also mitunter durchaus liebenswürdige Anekdoten aus dem »Kinderstubenleben«. Anweisungen dazu, dass bzw. wie dieses zu beeinflussen wäre, finden sich darin aber keine. Stattdessen wurden linguistische Theorien auf den Beobachtungen aufgebaut.228 Insgesamt ist der »deutlich appellative Zug« der frühen Kinderforschung229 (→ Abschnitt 1.4) in den wissenschaftlichen Publikationen des frühen 20. Jahrhunderts kaum noch zu finden. Diese Inhalte lieferte jetzt zunehmend das populärere Genre der Erziehungsratgeberliteratur. Entsprechend plausibel ist die Vermutung von Werner Deutsch, die Aufzeichnungen von Clara Stern könnten im Zusammenhang mit dem von Toni Meyer herausgegebenen Erziehungsratgeber »Aus einer Kinderstube. Tagebuchblätter einer Mutter« (Leipzig 1914) stehen. Im Vorwort erklärte die hier namentlich nicht genannte »Verfasserin der Tagebücher«: »Diesem Werkchen liegen umfangreiche Tagebücher zugrunde, die ich seit 13 Jahren über unsere Kinder führe. Die Aufzeichnungen waren ursprünglich dazu bestimmt, nur wissenschaftlich-psychologisch verwertet zu werden. Aber sie enthalten doch so viele Ausführungen erzieherischen Charakters, daß Fräulein Toni Meyer auf den Gedanken kam, aus diesen eine Auswahl zu treffen und sie zu einem eigenen Buche zu gruppieren.« Werner Deutsch konnte Toni Meyer als eine Bekannte der Familie Stern identifizieren. Dass sie das Buch auf der Grundlage der Tagebücher 227 Ebd., S. 357 [Hervorhebungen im Original]. 228 Die Tagebuchmethode lieferte grundlegende Ausgangsdaten für linguistischen Theorien. Sie wird in der Spracherwerbsforschung (ergänzend zu anderen Methoden) weiterhin angewendet, etwa bei Fragen um den bilingualen Erstspracherwerb. Hier dokumentieren Forˇ ehorˇová: Tagescher/innen auch aktuell ggf. ihre eigenen Kinder. Als Überblick Kamila R buchtechnik als Untersuchungsmethode der Spracherwerbsforschung. Eine vergleichende Studie, Masterarbeit, Olomouc 2014. Danke an Katharina Gerhalter für die gemeinsame Diskussion dieser Frage. 229 Kössler: Die Ordnung der Gefühle, 2008, S. 198.

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von Clara Stern geschrieben hat, ist seiner Auslegung nach wahrscheinlich.230 Es würde jedenfalls die These der inzwischen getrennten Veröffentlichungsformate stützen. Im Folgenden soll nicht weiter auf die inhaltlichen Schwerpunkte und die publizistische Verwertung des von Clara und William Stern gemeinsam durchgeführten Elterntagebuchprojektes eingegangen werden. Stattdessen wird der Fokus auf ihre Arbeitsweise als gemeinsam forschendes Ehepaar gelegt. Diese Organisationsform war zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus gängig und entsprechend auch in den Forschungsfeldern der Kinderpsychologie und Sprachwissenschaft verbreitet.231

Arbeitspaare in der Kinderforschung: Clara und William Stern sowie Rosa und David Katz Der Begriff des sogenannten »Arbeitspaares« ist von der Historikerin Heide Wunder vor gut 30 Jahren für die ländliche Gesellschaft der frühen Neuzeit geprägt worden.232 Seither haben Frauen- und Geschlechterhistoriker/innen coarbeitende (Ehe-)Paare in unterschiedlichen historischen Zeiten und verschiedenen sozialen Zusammenhängen identifiziert.233 Das Lebensmodell von zwei Menschen, die zusammenleben und gemeinsam an wissenschaftlichen Projekten arbeiten, wurde insbesondere durch die Nobelpreisträger/innen Marie Curie (geb. Skłodowska, 1867–1934) und Pierre Curie (1859–1906) bekannt. Es ist in230 Werner Deutsch: Clara Stern: Als Frau und Mutter für die Wissenschaft leben, in: Volkmann-Raue und Lück: Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, 2011, S. 101–115, S. 108. Ein Nachdruck von »Aus einer Kinderstube« liegt aus dem Jahr 2012 (Bremen) vor. Toni Meyer stand u. a. im Kontakt mit der aus Breslau gebürtigen Frauenrechtlerin und Philosophin Edith Stein (Teresia Benedicta a Cruce/vom Kreuz OCD, 1891–1942), was eine der spannenden Nebeninformation zum sozialen Umfeld von Clara und William Stern ist. 231 Zu verschiedenen Einstiegsmodellen von Frauen in die psychologische Wissenschaftstätigkeit seit 1900 siehe Helga Sprung und Lothar Sprung: Frauen in der Geschichte der Psychologie – Integrationsformen in die Psychologie und Vortragsaktivitäten auf deutschen Psychologiekongressen 1904–1978, in: Horst Gundlach (Hg.): Untersuchungen zur Geschichte der Psychologie und der Psychotechnik, München/Wien 1996, S. 205–222. 232 Heide Wunder: »Er ist die Sonn’, sie ist der Mond«. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992. 233 Zuletzt Christine Fornoff-Petrowski und Melanie Unseld (Hg.): Paare in Kunst und Wissenschaft (Musik – Kultur – Gender, Bd. 18), Köln/Weimar/Wien 2021 [in Druck]. Zu Frauenarbeitspaaren siehe u. a. Gina Bon: Memories of Anna Freud and of Dorothy Burlingham, in: American Imago, Vol. 53, 1996, Heft 3, S. 211–226 und zuletzt Johanna Gehmacher, Elisa Heinrich und Corinna Oesch: Käthe Schirmacher: Agitation und autobiografische Praxis zwischen radikaler Frauenbewegung und völkischer Politik, Wien/Köln/ Weimar 2018. Zu dem Thema Paarbeziehung und Berufswahl siehe weiterführend auch Nina Verheyen: »[…] mein Eheweib und nicht mein College«? Liebe und Beruf(ung) in Paarkorrespondenzen vor dem Hintergrund der Frauenbewegung/en um 1900, in: Bauer und Hämmerle: Liebe schreiben, 2017, S. 87–112.

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zwischen in den verschiedensten Fächern wiedergefunden worden.234 In überkommenen Darstellungen wird die Rolle der Frauen dabei häufig auf die der ›Unterstützerinnen‹ ihrer (Ehe-)Männer reduziert.235 Mit Gertrud und Ernst Scupin sowie mit Clara und William Stern wurden bereits zwei Arbeitspaare aus der Kinderforschung vorgestellt. Während zum persönlichen Hintergrund der Scupins kaum Informationen vorliegen, ist jener des Ehepaars Stern ausgesprochen detailliert belegt. Clara Stern wird dabei immer in Relation zu ihrem Mann William Stern gesetzt. Entsprechend dieser Darstellungen füllte sie eine »Doppelrolle« als »Frau und private Mitarbeiterin eines namhaften Wissenschaftlers und gleichzeitig selbst Wissenschaftlerin« aus.236 Ein weiteres Ehepaar aus dem Kontext der elterntagebuchbasierten Forschung waren Rosa und David Katz. Die Biografien von Clara Stern und Rosa Katz sowie jene ihrer Partner weisen dabei jeweils große Ähnlichkeiten auf.237 In Bezug auf die formelle Qualifikation der Frauen sind gleichzeitig große Unterschiede festzustellen, die jene zwei Pole der Möglichkeiten markieren, die Frauen im zeitgenössischen wissenschaftlichen Feld offen standen.

234 Dazu u. a. Helga Satzinger: Weiblichkeit und Wissenschaft. Das Beispiel der Hirnforscherin Cécile Vogt (1875–1962), in: Johanna Bleker (Hg.): Der Eintritt der Frauen in die Gelehrtenrepublik. Zur Geschlechterfrage im akademischen Selbstverständnis und in der wissenschaftlichen Praxis am Anfang des 20. Jahrhunderts, Husum 1998, S. 75–93; Mathilde Schmitt, Heide Inhetveen und Ira Spieker: Vom Einzelporträt zur Kollektivbiographie. Frühe Pionierinnen des ökologischen Landbaus, in: Ilse Korotin und Susanne Blumesberger (Hg.): Frauenbiografieforschung. Theoretische Diskurse und methodologische Konzepte, Wien 2012, S. 531–552. 235 Vgl. dazu etwa die Darstellung zu der Biologin und Schriftstellerin Annie Francé-Harrar (1886–1943), die mit ihrem Ehemann Raoul Heinrich Francé (1874–1943) Grundlagen in der Forschung zum Thema Humus erarbeitet hat: »Annie Francé-Harrar […] war als Verfasserin von Romanen bekannt. Sie unterstützte als Ehefrau die Arbeit des universellen Naturforschers Raoul Heinrich Francé und wirkte nach dem Tod ihres Mannes als Beraterin im Ministerrang der mexikanischen Regierung für Humusfragen.« Verein BTQ e. V.: Annie Francé-Harrar: Die letzte Chance für eine Zukunft ohne Not, Kirchberg an der Jagst 2008, S. 11. Danke an Mathilde Schmitt für den Hinweis auf dieses Zitat. 236 Billmann-Mahecha: Rosa Katz, 2011, S. 129. 237 In der Literatur findet sich zudem zu beiden Frauen die Angabe, sie seien eine weitschichtige Nachfahrin des Lyrikers Heinrich Heine. »Rosa Katz, geb. Heine und weitläufig mit Heinrich Heine verwandt«, Billmann-Mahecha: Rosa Katz, 2011, S. 129. »[Clara Deutschs] Mutter stammte aus dem Rheinland und war über deren Mutter mit dem Dichter Heinrich Heine verwandt.« Deutsch: Clara Stern, 2011, S. 104. In einer dritten Darstellung heißt es wiederum, die Verwandtschaft der Familie Stern mit Heinrich Heine ginge auf die Vorfahr/innen von William Stern zurück: »Seine Eltern waren Cousin und Cousine und als Nachfahren der Familie Heine-Ephraim mit Heinrich Heine (1779–1856) verwandt.« Raimund Bahr: Günther Anders. Leben und Denken im Wort, Berlin 2012, o. S. (Kapitel »§ 4 William Stern (1871–1938)«).

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Clara Stern (geb. Joseephy, 1877–1948) wuchs in einer wohlhabenden Bankiersfamilie in Berlin auf.238 Wie aus dem verwandtschaftlichen Umfeld ihres Ehemannes sind auch aus ihrer Familie einige Gelehrte und Intellektuelle bekannt. Sie war die ältere Cousine des Philosophen Walter Benjamin und der Sozialwissenschafterin Dora Benjamin (→ Abschnitt 2.2).239 Über ihre eigene Ausbildung liegen keine Informationen vor. Jedenfalls hat sie kein Universitätsstudium abgeschlossen. Während »einer Fahrradtour« in Berlin-Grunewald lernte sie 1898 den 28-jährigen Psychologen William Stern kennen.240 Die Familie soll wegen der sozialen Unterschiede eine Eheschließung abgelehnt haben, die junge Frau setzte sich aber durch. Mit 22 heiratete sie den Wissenschafter und ging mit ihm nach Breslau, wo er seit zwei Jahren als Privatdozent tätig war. Ihre drei Kinder Hilde, Günther und Eva wurden 1900, 1902 und 1904 geboren, Clara Stern war dabei 23, 25 und 27 Jahre alt. Rosa Katz (geb. Heine, 1885–1976) wuchs in der Ukraine und in Ägypten auf.241 Die Ortswechsel begründeten sich in der Ingenieurstätigkeit ihres Vaters, der u. a. am Bau des Suez-Kanals beteiligt gewesen war. Sie besuchte ein Gymnasium und eine Lehrerinnenausbildung in Odessa, nach Abschluss des Studiums an der dortigen Historischen Fakultät der höheren Frauenkurse ging sie 1907 mit 22 Jahren nach Göttingen. Sie erhielt eine Sondergenehmigung, hier als Frau Psychologie studieren zu können und promovierte 1913. Wegen ihrer russischen Staatsbürger/innenschaft mußte sie bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges ihre inzwischen angenommene Anstellung als Lehrerin aufgeben. Stattdessen trat sie eine Stelle als Universitätsassistentin für Philosophie in Berlin an. 1919 heiratete sie den Psychologen David Katz (1884–1953), den sie aus Göttingen kannte und der im selben Jahr als Universitätsprofessor in die Hansestadt Rostock in Mecklenburg berufen wurde. Rosa Katz publizierte Texte zu Erziehungsfragen von Vorschulkindern,242 1926 gründete sie im nahen Ostseebad Warnemünde einen auf der Pädagogik von Maria Montessori aufgebauten »wandernden Kindergarten« für die Jugend der Sommergäste – und wohl auch 238 Die biografischen Angaben sind entnommen aus Deutsch: Nicht nur Frau und Mutter, 1994; ders.: Clara Stern, 2011; Heinemann: Das Kind als Person, 2016; James Lamiell: Clara Stern, in: Psychology’s Feminist Voices, 2016, unter: www.feministvoices.com/clara-stern. 239 Wissensportal Wikipedia (o. J.) unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Familien_Schoenflies_ und_Hirschfeld. 240 Fahrradfahren war um 1900 eine umstrittene Tätigkeit für Frauen und galt insgesamt als innovativ. Vgl. etwa Gudrun Maierhof und Katinka Schröder: Sie radeln wie ein Mann, Madame. Als die Frauen das Rad eroberten, Dortmund 1992. 241 Die biografischen Angaben sind entnommen aus Manfred Berger: Frauen in der Geschichte des Kindergartens: Rosa Katz, in: Textor: Das Kita-Handbuch (o. J.) unter: www.kindergar tenpaedagogik.de/428.html und aus Billmann-Mahecha: Rosa Katz, 2011. 242 U. a. David und Rosa Katz: Die Erziehung im vorschulpflichtigen Alter (Wissenschaft und Bildung, Bd. 217), Leipzig 1925.

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für ihre eigenen Kinder. Die beiden Söhne Wilhelm Theodor und Julius Gregor waren 1920 und 1922 geboren worden, Rosa Katz war dabei 35 und 37 Jahre alt. Die Sterns hatten ihre Familie und ihre wissenschaftliche Reputation in Breslau begründet. Durch William Sterns Berufung übersiedelten sie 1916 nach Hamburg. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden sie als ›jüdisch‹ verfolgt. 1933 flüchtete das Ehepaar in die Niederlande. Martha Muchow (1892–1933), William Sterns Mitarbeiterin, nahm sich nach ihrer Entlassung das Leben. 1934 gelang es William Stern, für eine Professur an die Duke University in North Carolina in den USA eingeladen zu werden.243 Nach seinem Tod 1938 übersiedelte Clara Stern nach New York, wo bereits ihre Kinder Hilde und Günther Stern sowie eine ihrer Schwestern lebten. Clara Stern arbeitete hier bis zu ihrem Tod als Briefzensorin. Sie starb 1948 mit 71 Jahren. Auch David Katz verlor 1933 aufgrund seiner jüdischen Konfessionszugehörigkeit seine Position an der Universität Rostock. Die Schilderung von Elfriede Billmann-Mahecha gibt einen Eindruck davon, welche Taktiken im Nationalsozialismus entwickelt wurden, um Personen zu ›entfernen‹, die nicht als opportun eingestuft wurden: »Als freiwilliger Kriegsteilnehmer [im Ersten Weltkrieg, L. G.] konnte er nicht einfach entlassen werden; deshalb wurde seine Professur kurzerhand abgeschafft.«244 1935 gelang es David Katz, eine Einladung nach Manchester in Großbritannien zu bekommen, wo er seine in Deutschland inzwischen entwickelte tierpsychologische Forschung fortsetzte. Rosa Katz war dabei seine Mitarbeiterin. 1937 wurde er nach Stockholm berufen. Sie arbeitete hier wieder als Kinderpsychologin, hatte aber keine Universitätsstelle mehr inne.245 Rosa Katz publizierte dennoch weiterhin zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten. Sie starb 1976 mit 91 Jahren.

Das zunehmende Verschwinden der Lai/innenforschung Wie Stern und Stern haben auch Katz und Katz ihre (ebenfalls auf den Spracherwerb bezogenen) kinderpsychologischen Studien auf der Beobachtung ihrer eigenen Kinder aufgebaut. Während die Arbeiten mit diesem Fokus von Rosa

243 Die Angabe zur Jahreszahl 1934 ist entnommen aus Peter Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften. Geschichte der Jugendforschung in Deutschland und Österreich, Opladen 1990, S. 430. 244 Billmann-Mahecha: Rosa Katz, 2011, S. 130. 245 Weiterführend zu Frauen im Wissenschaftsbereich, die nach Schweden emigriert sind: Izabela A. Dahl: Die Station des Lebens. Die geistige Emigration deutschsprachiger jüdischer Frauen nach Schweden, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 64, 2016, Heft 11, S. 949–967.

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und David Katz in der Fachgeschichte derzeit nicht mehr rezipiert werden,246 wurde »Die Kindersprache« von Clara und William Stern aus 1907 noch 1987 in Darmstadt neu aufgelegt. Letztendlich haben sich die beiden Arbeitspaare mit völlig unterschiedlicher Intensität mit dem Thema Spracherwerb beschäftigt. Rosa und David Katz notierten zwischen Oktober 1925 und Oktober 1926 154 »Alltagsgespräche«, die sie mit ihren kleinen Söhnen führten. Die entsprechende wissenschaftliche Auswertung wurde 1928 veröffentlicht.247 Clara Stern führte die Aufzeichnungen über die Entwicklung ihrer drei Kinder ihrerseits als Langzeitprojekt von 1900 an über 18 Jahre hinweg. »On the day of Hilde’s birth, William Stern recorded in handwriting his observations of what had unfolded.«248 Clara Stern übernahm offensichtlich diese Tätigkeit und legte im Folgenden für ihre zwei Mädchen und den Buben je ein eigenes Buch an. Bis 1918 füllte sie auf diese Weise schließlich insgesamt 24 Bände.249 Der Psychologe Werner Deutsch strich die Bedeutung dieser Datensammlung hervor: »Diese Tagebücher sind der Grundstock für das entwicklungspsychologische Werk von Clara und William Stern.« Die 1907 von Clara und William Stern selbst abgegebenen Erklärungen zu ihren gleichberechtigten Anteilen an der gemeinsamen Arbeit wurden bereits zitiert. Dabei fällt auf, dass Clara Stern nur bei zwei Veröffentlichungen auch als Autorin genannt wird – während nach der Darstellung von Deutsch sechs Bände geplant gewesen wären.250 Dass die konzipierten weiteren vier Studien nicht realisiert wurden, könnte in biografischen Veränderungen begründet gewesen sein: »Für Clara Stern war das Erreichen des Höhepunkts in der wissenschaftlichen Laufbahn ihres Mannes [die Berufung als Universitätsprofessor nach Hamburg, L. G.] das Ende ihrer Laufbahn als Amateurwissenschafterin.«251 Sie war nun womöglich mit den Anforderungen gestiegener Repräsentationstätigkeiten konfrontiert, zumal die Situation der universitären Forschung in Hamburg in den ersten Jahren nach ihrer Ankunft 1916

246 Billmann-Mahecha: Rosa Katz, 2011, S. 137. 247 David und Rosa Katz: Gespräche mit Kindern. Untersuchungen zur Sozialpsychologie und Pädagogik, Berlin 1928. Die der Publikation zugrundeliegenden Tagebuchaufzeichnungen konnten in das Exil gerettet werden. Sie sind als Teil des Nachlasses des Ehepaares Katz in der schwedischen Nationalbibliothek archiviert. Billmann-Mahecha: Rosa Katz, 2011, S. 131–132. 248 Lamiell: Clara Stern, 2016. 249 Die Tagebücher sind als Teil des wissenschaftlichen Nachlasses des Ehepaares Stern im Archiv der Jewish National and University Library an der Hebrew Unversity in Jerusalem archiviert und wurden inzwischen digitalisiert. Deutsch: Clara Stern, 2011, S. 106. 250 Deutsch: Clara Stern, 2011, S. 106f. 251 Ebd., S. 102. Zur Situation von ›Amateurinnen‹ am Beispiel der Geschichtswissenschaft siehe Sylvia Paletschek: Die Geschichte der Historikerinnen. Zum Verhältnis von Historiografiegeschichte und Geschlecht, in: Freiburger Frauenstudien, Jg. 13, 2007, Nr. 20, S. 27– 49.

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auch kompliziert war: Die »Bürgerschaft« der Stadtverwaltung verhinderte vorerst noch die Einrichtung einer Universität, die Gründung erfolgte erst 1919.252 Clara Sterns Zurücktreten könnte aber auch in einem Zusammenhang damit gestanden haben, dass sie selbst keinen formalen wissenschaftlichen Abschluss gemacht hatte. Innerhalb des zunehmend professionalisierten Wissenschaftsbetriebes (und gerade in der speziellen zeitgenössischen Situation in Hamburg) dürfte eine eigenständige wissenschaftliche Tätigkeit einer ›Laiin‹ an der Seite eines ›Experten‹ zunehmend schwieriger geworden sein.253 William Stern verwendete das Tagebuchmaterial jedenfalls weiterhin als Quellengrundlage für Vorträge und Publikationen.254 Dabei soll er aber »selbst immer wieder darauf hingewiesen [haben,] dass seine Frau nicht nur das ausgeführt hat, was [er] geplant hatte. Die Zusammenarbeit der Sterns funktionierte als eine Arbeitsgemeinschaft zwischen gleichwertigen Partnern. Äußeres Zeichen hierfür ist ein gemeinsames Arbeitszimmer mit einem gemeinsamen Schreibtisch gewesen, das von den 3 Sternkindern, besondere Anlässe abgesehen, nicht betreten werden durfte.«255 Im Fall des Arbeitspaares Katz lag die Sache anders. Rosa Katz hatte bereits vor der gemeinsamen Arbeit mit ihrem Ehemann wissenschaftliche Studien veröffentlicht, u. a. zu einem literaturwissenschaftlichen Thema. Die Psychologin Elfriede Billmann-Mahecha listete in ihrer biografischen Darstellung eine Auswahl von 23 Publikationen auf, die Rosa Katz zwischen 1909 und 1972 herausgebracht hat. Bei neun davon firmieren sie und ihr Ehemann als CoAutor/innen.256 Den Unterschieden im Werdegang der zwei im selben Feld tätigen Forscherinnen Clara Stern und Rosa Katz lagen einerseits sicherlich individuelle Entscheidungen zugrunde. Sie können andererseits aber auch als Beispiele für die um 1900 und insbesondere nach 1919 beginnende rasante Veränderung in der Wissenschaftslandschaft gesehen werden, die nicht zuletzt neue Partizipationsmöglichkeiten von Frauen an institutionalisierten Bildungslaufbahnen mit sich brachten. Rosa Katz war nur um acht Jahre jünger als Clara Stern. Durch formale Änderungen des Zugangs zu den höheren Bildungseinrichtungen und seit den sukzessiven Öffnungen der verschiedenen Studienrichtungen fanden fast gleichaltrige Frauen im Abstand von nur wenigen Jahren völlig andere Voraus252 Eine überblicksmäßige Darstellung davon findet sich auf der Website der Universität Hamburg unter: www.uni-hamburg.de/uhh/profil/geschichte.html. 253 Die Historikerin und Soziologin Petra Hoffmann benannte das Phänomen, dass Frauen auch ohne formale Qualifikation durch die Position ihrer Ehemänner wissenschaftlich tätig und hier auch »akzeptiert« sein konnten »informale Einbeziehung«. Petra Hoffmann: Weibliche Arbeitswelten in der Wissenschaft. Frauen an der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1890–1945, Bielefeld 2011, S. 111–160, S. 118. 254 Deutsch: Nicht nur Frau und Mutter, 1994, S. 178. 255 Deutsch: Clara Stern, 2011, S. 113–114. 256 Billmann-Mahecha: Rosa Katz, 2011, S. 138.

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setzungen vor, die Rosa Katz auch genützt hat. Dass sie und ihr Ehemann das gemeinsame, auf die Söhne bezogene Tagebuchprojekt nur über den Zeitraum von einem Jahr führten, mag wohl daran gelegen haben, dass beide auch andere Forschungen verfolgten: Rosa Katz beschäftigte sich zur selben Zeit etwa auch mit dem Erziehungskonzept von Maria Montessori. Eine andere Interpretation könnte sein, dass sie in diesem konkreten thematischen Feld inzwischen etwas ›zu spät‹ waren: Clara Stern hatte mit ihren Aufzeichnungen genau ein Vierteljahrhundert früher begonnen. Diese Auslegung erscheint mir aber weniger plausibel. In der Spracherwerbsforschung wird die Tagebuchmethode auch aktuell noch angewendet.257 In der psychologischen Forschung war sie zumindest bis in die Zwischenkriegszeit gängig – und wurde inzwischen auch an der Universität Wien verwendet. Hier haben etwa die Sozialwissenschafter/innen Marie Jahoda (1907–2001) und Paul F. Lazarsfeld (1901– 1976) das Aufwachsen ihrer Tochter Lotte (geb. 1930) schriftliche festgehalten. Jahoda und Lazarsfeld sind ein weiteres Arbeitspaar, das allerdings innerhalb einer Forscher/innengruppe tätig gewesen ist (→ Abschnitte 2.3 und 2.4).258 Die Daten aus der Beobachtung ihres Kindes wurden offenbar der Vorgesetzten Charlotte Bühler zur Verfügung gestellt: »Zurück in Wien [von Marie Jahodas einjährigem Forschungsaufenthalt in Paris, L. G.], kommt 1930 Tochter Lotte zur Welt – wird sogleich Teil eines Forschungsprojekts, das Jahodas Professorin zur Entwicklung von Babys durchführt: Einen Tag im Monat sammeln die Eltern Daten, protokollieren jede Geste, jedes Lächeln, jeden Laut.«259 Charlotte Bühlers Assistentin Lotte Schenk-Danzinger hat in ihren Erinnerungen wiederum davon berichtet, dass Bühler selbst auch ein Tagebuch über ihre erstgeborene Tochter Ingeborg geführt habe.260 Ob Bühler (oder ihr Ehemann) dieses Projekt über einen längeren Zeitraum und mit methodischer Akribie durchführte(n), ist nicht belegt (→ Abschnitt 2.4). Dass keine weiteren wissenschaftsgeleiteten Elterntagebücher einen derartigen Umfang erreicht haben wie jene von Clara Stern, dürfte schlichtweg am Arbeitsaufwand gelegen haben, den dieses unermüdliche Unternehmen bedeutet hat. Werner Deutsch brachte sozialen Faktoren für eine solche Begründung vor. Er führte den Umfang der Aufzeichnungen von Clara Stern darauf zurück, »daß ˇ ehorˇová: Tagebuchtechnik als Untersuchungsmethode der Spracherwerbsforschung, 2014. 257 R 258 Zu den Forschungsschwerpunkten von Marie Jahoda und Paul Larzasfeld siehe zuletzt Christian Fleck: Marie Jahoda – ein Portrait, in: Johann Bacher, Waltraud Kannonier-Finster und Meinrad Ziegler (Hg.): Marie Jahoda. Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850–1930. Dissertation 1932, Innsbruck/Wien/Bozen 2017, S. 267–362. 259 Kathrin Fromm: Marie Jahoda, in: Zeit Campus, 2010, Heft 6 (Reihe »Studenten von früher«, Teil 25), online verfügbar unter: www.zeit.de/campus/2010/06/ehemalige-jahoda. 260 Lotte Schenk-Danzinger: Erinnerungen an Karl und Charlotte Bühler – Die Bedeutung der Wiener Schule der Psychologie für die Pädagogik, in: Erik Adam (Hg.): Die österreichische Reformpädagogik 1918–1939, S. 225–235, S. 225.

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dieses Projekt nicht unter dem zeitlichen Druck eines Dissertationsvorhabens gestanden hat [sondern] von einer jungen, engagierten Frau getragen wurde, die nicht durch akademische Vorbildung belastet war.«261 Das minutiöse Zusammenstellen der Beobachtungen nach selbst erarbeiteten strengen Kriterien war die Forschungsleistung von Clara Stern.

Weitere wissenschaftlich tätige Arbeitspaare Als ein US-amerikanisches Referenzbeispiel von Arbeitspaaren in der Entwicklungspsychologie können Mary Cover Jones (geb. Cover, 1896–1987) und Harold Ellis Jones (1894–1960) vorgestellt werden.262 Am Fall der auch als Pazifistin und Wahlrechtsaktivistin tätigen Cover Jones lässt sich aufzeigen, dass co-arbeitende Ehepartner/innen oftmals formal gleich qualifiziert waren, die Männer in den Berufungsstrukturen der Universitäten aber formal höhere Positionen erreichen konnten. Gerade in der Zeit der Öffnungen der Universitäten für Frauen bestanden in den Arbeitsbeziehungen aber häufig auch geschlechterspezifisch gestaltete formale Hierarchieverhältnisse. Das läßt sich wiederum anhand der Geschichte von Mary Cover Jones’ Kommilitonin Rosalie Alberta Rayner (1898– 1935) belegen, die zudem den spektakulären Verlauf eines Skandals genommen hat. Rayner war »graduate assistant« von John B. Watson (1878–1958), dem Begründer der psychologischen Schule des Behaviorismus an der Johns Hopkins University in Baltimore. 1920 wurden durch eine Intrige Liebesbriefe von dem zwanzig Jahre älteren, verheirateten Professor an seine junge Mitarbeiterin in einer Zeitung veröffentlicht. Watson verlor seine Anstellung, Rayner verließ die Universität ohne Abschluss.263 Sie heirateten, publizierten weiterhin gemeinsam

261 Deutsch: Nicht nur Frau und Mutter, 1994, S. 175. 262 Deana Dorman Logan: Mary Cover Jones: Feminine as Asset, in: Psychology of Women Quarterly, September 1980, Bd. 5, S. 103–115, S. 105. Mary Cover und Harold E. Jones’ erste Tochter Barbara wurde 1922 geboren. Über sie oder ihre jüngere Schwester Lesley sind keine durch die Eltern angefertigten Aufzeichnungen überliefert. Es ist stattdessen überliefert, dass Mary Cover Jones ihr Studium und ihre Forschung zu Menschen mit Behinderungen fortsetzen konnte, da ihre Kinder währenddessen in dem universitären »Child Study Center« betreut wurden. Wissensportal Wikipedia (o. J.) unter: https://de.wikipedia.org/wiki/ Mary_Cover_Jones. 263 Corinne Smirle: Rosalie Rayner, in: Psychology’s Feminist Voices, 2013, unter: www.feminist voices.com/rosalie-rayner. Zur Interpretation, die von dem Paar gemeinsam durchgeführte Sexualforschung wäre ein Grund für die Kündigung von John B. Watson gewesen, siehe u. a. Ludy T. Benjamin Jr. u. a.: John B. Watson’s Alleged Sex Research. An Appraisal of the Evidence, in: American Psychologist, Jg. 62, 2007, Heft 2, S. 131–139.

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und wurden Eltern der Söhne William (Billy) und James (Jimmy), die sie auch gleich in ihre Studien miteinbezogen haben.264 Der Vollständigkeit halber ist hier darauf hinzuweisen, dass Paare, die im selben Wissenschaftszweig tätig waren, durchaus nicht zwingend (immer) zusammengearbeitet haben müssen. Das wurde mit Rosa und David Katz bereits angesprochen, aus der Wiener Psychoanalytik bzw. Psychologie können dazu etwa noch Helene Deutsch (geb. Rosenbach, 1884–1982) und Felix Deutsch (1884–1964)265 oder Else Frenkel-Brunswik (geb. Frenkel, 1908–1958) und Egon Brunskik (1903–1955) genannt werden.266 Auch die Arbeiten von Charlotte Bühler und Karl Bühler (1879–1963) werden in der Forschungsliteratur zumeist jeweils für sich dargestellt, obwohl sie im gleichen Fach, am selben Institut, und hier auch in einem hierarchischen Ungleichverhältnis beschäftigt waren (→ Abschnitt 2.4). Wie bei der Erzählung über die Gestaltung der gemeinsamen Arbeit von Clara und William Stern wurde dabei in einer retrospektiven Schilderung von Charlotte Bühler ebenfalls der räumlichen Positionierung der Schreibtische eine wichtige Rolle zugeschrieben: »Karl [Bühler fand gleich nach unserer Heirat, L. G.] eine sehr hübsche Wohnung in Schwabing, in der unsere zwei grossen Schreibtische im Wohnzimmer nebeneinander standen. Dies symbolisierte von Anfang an Karls Auffassung von unserer Beziehung. Es war, was wir in Amerika eine ›Companionship Marriage‹ nennen.«267 Bühler und Bühler arbeiteten also auch in selben Raum – dabei aber nicht an den selben Studien.

1.7) Spätere Einschätzungen der ›Tagebuchmethode‹ in der Entwicklungspsychologie Die ›Tagebuchmethode‹ lieferte die Quellengrundlagen, auf deren Basis die Entwicklungspsychologie seit 1900 international aufgebaut wurde.268 Wie Werner Deutsch ausführte, hat sich die fachinterne Einschätzung zu dieser Form der 264 Carla Duke, Stephen Fried, Wilma Pliley und Daley Walker: Contributions to the History of Psychology, LIX. Rosalie Rayner Watson: The Mother of a Behaviorist’s Sons, in: Psychological Reports, Jg. 65, 1989, S. 163–169. 265 Vgl. die Angaben in biografiA. biografische datenbank und lexikon österreichischer frauen (o. J.) unter: www.univie.ac.at/biografiA/daten/text/bio/Deutsch_Helene_Psy.htm. 266 Zur Situation von migrierten bzw. vor dem NS geflüchteten Forscher/innenpaaren in den USA siehe Ulla Fölsing: Geniale Beziehungen. Berühmte Paare in der Wissenschaft, München 1999. 267 Charlotte Bühler: [Selbstdarstellung], in: Ludwig J. Pongratz, Werner Traxel und Ernst G. Wehner (Hg.): Psychologie in Selbstdarstellungen. Bern 1972, S. 9–42, S 20f. 268 Einen Überblick über englischsprachige Studien bzw. Arbeiten, die auf Englisch übersetzt vorliegen, sowie auch eine vergleichende Auswertung davon findet sich in Magai und McFadden: The Role of Emotions in Social and Personality Development, 1995, S. 83–85.

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Datenerhebung im Laufe des 20. Jahrhunderts grundlegend geändert: »In der modernen Entwicklungspsychologie ist die Tagebuchmethode so gut wie ›out‹. […] Die meisten Forscher betrachten Tagebuchaufzeichnungen als Anekdotensammlung, mit denen nichts bewiesen, sondern nur etwas illustriert werden kann. […] Was für eine Ironie der Geschichte, daß die moderne Entwicklungspsychologie über die Methode die Nase rümpft, durch die sie im vergangenen Jahrhundert den Durchbruch zur Wissenschaftlichkeit erreicht hat!«269 Kritisiert wird dabei vor allem, dass Einzelstudien nicht zu einer ›Durchschnittsgröße‹ verallgemeinerbar wären: »There is […] the risk of nonrepresentativeness of single biographies – as well illustrated by Dietrich Tiedemann’s description of the behaviour of his infant son. When little Tiedemann’s development is compared with that of other infants, it becomes obvious that he is quite precocious. Fortunately, the very presence of multiple records of infant expressive development, as undertaken by different baby biographers, provides us with a built-in check on interobserver reliability.«270 Zudem wurde den Autor/ innen von wissenschaftsgeleiteten Elterntagebüchern unterstellt, »voreingenommen« gewesen zu sein, da es sich bei den dokumentierten Kindern ja zumeist um nahe Familienangehörige handelte. »[T]here is the risk of observer bias, a risk that is never entirely obviated in psychological research, but perhaps is an even greater problem in the case of parents observing their own children.«271

Ausweitung der Forschungsmethoden und geänderte Fragestellungen An dieser Stelle sollen zwei weitere Methoden aus dem kinderpsychologischen Forschungsfeld zumindest benannt werden, die (neben der Auswertung von diaristischen Aufzeichnungen) bereits seit den 1890er-Jahren international entwickelt wurden.272 Einerseits waren hier Fragebögen in Verwendung, die an Eltern oder Lehrpersonen ausgegeben wurden. Bekannt sind in dem Zusammenhang die Arbeiten des US-amerikanischen Psychologen G. Stanley Hall, der seine 1897 veröffentlichte Studie zum Thema Furcht auf der Basis von 1.701 Befragungen aufgebaut hat. Bei der Erhebung war er von seinen Studierenden unterstützt worden. Andererseits wurden Versuche durchgeführt. Diese standen in der Tradition der evolutionsbiologischen Forschung, wie sie etwa William T. Preyer vertreten hatte (→ Abschnitt 1.3). Und auch hier wurden zunehmend große Datensamples erarbeitet. Rosalie Rayner und John B. Watson sollen für ihr 269 Deutsch: Nicht nur Frau und Mutter, 1994, S. 173f. [Hervorhebungen im Original]. 270 Magai und McFadden: The Role of Emotions in Social and Personality Development, 1995, S. 89. 271 Ebd. 272 Dazu Kössler: Die Ordnung der Gefühle, 2008, S. 197–199.

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1920 erstmals veröffentlichtes »Little Albert experiment« zum Thema Phobien ganze 500 verschiedene Kinder beobachtet haben.273 Im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts änderte sich neben den Methoden auch die Ausrichtung der kinderpsychologischen Forschung grundlegend. Nach Till Kösslers Darstellung traten entwicklungsbiologische und physiologische Fragestellungen zugunsten von pädagogischen Themen zurück, und die Kinderpsychologie avancierte zur »pädagogischen Grundlagendisziplin«.274 Dabei veränderten sich auch die Personengruppen, die untersucht wurden: Neben den Säuglingen und Kleinkindern gerieten nun vermehrt auch Kinder im Vorschul- und Schulalter in den wissenschaftlichen Fokus,275 was sich wiederum nicht zuletzt auf die Möglichkeiten der Datengewinnung ausgewirkt hat. Die schon etwas älteren Proband/innen konnten nun ja auch selbst befragt werden – bzw. würden sich wahrscheinlich auch nicht mehr ohne weiteres observieren lassen: »Sobald Kinder nicht mehr Kinder sind, stößt das Tagebuchverfahren als wissenschaftliche Methode zur Aufzeichnung von lebensnahen Beobachtungen an eine natürliche Grenze.«276

Ethische Bedenken gegenüber der ›Tagebuchmethode‹ Die methodische Kritik ist die eine Seite der nachträglich kritischen Einschätzung der entwicklungspsychologischen ›Tagebuchmethode‹. Ethische Bedenken sind die andere. Auch im Rahmen der Kinderrechtsdiskussion wurde später das akribische Dokumentieren der psychischen und physischen Entwicklung von Kindern problematisiert. Sowohl Elfriede Billmann-Mahecha als auch Werner Deutsch streiften in ihren (insgesamt anerkennenden) biografischen Darstellungen der Ehepaare Stern bzw. Katz nicht zuletzt die Frage nach der Position der dabei beobachteten Kinder. In einer Schilderung ihrer aufwändigen Aufschreibepraktik benannte Clara Stern 1907 die »Unwissenheit der Kinder« über ihr Dokumentationsprojekt als grundlegend für dessen Erfolg: »Unsere Methode war die folgende: Dort, wo es nicht auf wörtliche Aufzeichnung von sprachlichen Äußerungen ankam, wurde der beobachtete Sachverhalt gemerkt oder in kurzen Notizen vorläufig angedeutet, um am Abend in die Tagebücher ausführlich eingetragen zu werden. War wörtliche Wiedergabe erforderlich, so wurde natürlich sofort, oft mit Hilfe der Stenographie, das Nötige niedergeschrieben. Die Unwissenheit der Kinder ver273 Duke, Fried, Pliley und Walker: Contributions to the History of Psychology, 1989, S. 163, S. 165. 274 Kössler: Die Ordnung der Gefühle, 2008, S. 201–209, S. 205. 275 Ebd. 276 Deutsch: Clara Stern, 2011, S. 102.

Spätere Einschätzungen der ›Tagebuchmethode‹ in der Entwicklungspsychologie

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mochten wir hierbei durchaus zu wahren; unsere jetzt 7jährige, älteste Tochter hat noch keine Ahnung von der Tatsache, daß über sie und ihre Geschwister ständig Aufzeichnungen gemacht werden. Diese Unwissenheit scheint uns ein unbedingtes Erfordernis der Untersuchung zu sein, einerseits, um den Charakter der Kinder nicht zu schädigen, andererseits, um den kindlichen Äußerungen die Echtheit der Naivität zu sichern. Nur selten nahmen wir das Experiment zu Hilfe und dann auch nur in Formen, die das Kind immer fesselten.«277 Die Söhne von Rosa und David Katz waren am Beginn der Aufzeichnung ihrer Gespräche drei und fünf Jahre alt. »Es war für die Kinder ein gewohnter Anblick, dass sich ihre Eltern Notizen machten.« Auch diese beiden Elternteile waren also der Ansicht, dass die Buben ihr Tun nicht auf sich bezogen hätten – was diese in späteren Erinnerungen aber widerlegt haben sollen.278 Beim letzten Eintrag, den Clara Stern über die Sprachentwicklung ihrer Kinder festhielt, war ihr dabei dokumentierter Sohn Günther 16 Jahre alt.279 Mit der »Unwissenheit der Kinder« dürfte seine Mutter zu der Zeit nicht mehr argumentiert haben. Die Meinung der Geschwister Stern zu diesem Thema ist aber nicht überliefert. Stattdessen konnte ich recherchieren, dass der nur zehn Jahre ältere Psychologe Fritz Giese in seiner 1914 veröffentlichten Studie »Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen« auto/biografische Texte ausgewertet hat, die sie als Jugendliche selbst verfasst haben (→ Abschnitte 1.3, 2.2 und 2.3).280 Aktuell wird in der psychologischen Forschung, wie allgemein in der sozialwissenschaftlichen Forschung, das Ausweisen der Namen und Identitäten von Proband/innen aus ethischen Gründen abgelehnt. Gleichzeitig scheint die Fachwelt die Frage der Identität einzelner Beforschter – zumindest aus der Retrospektive – doch nachhaltig zu beschäftigen. So wurden noch 2009 in der Zeitschrift »American Psychologist« Spekulationen dazu veröffentlicht, wer das namensgebende Kind des »Little Albert experiment« von Rosalie Rayner und John B. Watson tatsächlich gewesen sein könnte.281 Endgültig gelüftet konnte das Pseudonym dabei nicht werden. Demgegenüber ist bei zahlreichen Kindern, deren erste Lebensjahre im 19. und im frühen 20. Jahrhundert durch ihre Eltern so detailliert dokumentiert worden sind, auch ihr späterer Werdegang als Erwachsene/r bekannt. Wir kennen neben der »Entwicklung der Seelenfähigkeit« 277 278 279 280

Stern und Stern: Vorwort, in: Die Kindersprache, 1907, o. S. Billmann-Mahecha: Rosa Katz, 2011, S. 134. Deutsch: Clara Stern, 2011, S. 102. Dazu bemerkte der junge Forscher: »Die drei Kinder STERN sind in der Psychologie fast historische Größen geworden, durch die Untersuchungen ihrer Eltern an ihnen.« Fritz Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen (Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung, Beiheft 7), Bd. 1 und Bd. 2, Leipzig 1914, S. 13 [Hervorhebung im Original]. 281 Hall P. Beck, Sharman Levinson und Gary Irons: Finding Little Albert: A journey to John B. Watson’s infant laboratory, in: American Psychologist, Jg. 64, 2009, Heft 7, S. 605–614.

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des kleine Friedrich Tiedemann (1781–1861) auch seine spätere Karriere als Anatom. Friedrich Wilhelm Krummacher (1796–1868) beobachtete, wie wir nachlesen können, als Säugling das in der »Stube herumfliegende Vöglein«. Wie sein Vater wurde auch er später Theologe, wie im Übrigen auch sein Sohn und sein Enkel. Bekannt sind insbesondere die weiteren Lebensverläufe der Kinder von Clara und Wilhelm Stern. Alle drei sind als Erwachsene durch zivilgesellschaftliches oder wissenschaftliches Engagement in das kollektive Gedächtnis eingegangen: Hilde Marchwitza (1900–1961) war als Übersetzerin und Widerstandskämpferin gegen den Nationalsozialismus aktiv. Eva Michaelis-Stern (1904–1992) betätigte sich als Mitbegründerin der Kinder- und Jugend-Alijah ebenfalls im Widerstand und in der Jugendbewegung. Ab 1945 war sie politische Aktivistin in Palästina bzw. Israel und später die Hauptverantwortliche für die Dokumentation des Nachlasses ihrer Eltern im Archiv der Jewish National and University Library an der Hebrew Unversity in Jerusalem. Günther Stern ist der Philosoph und Lyriker Günther Anders (1902–1992). Er war zwischen 1929 und 1937 mit der Theoretikerin Hannah (Johanna) Arendt (1906–1975) verheiratet.282 Auch der Lebenslauf der Tochter von Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld ist bekannt: Lotte Bailyn (geb. 1930) wurde – wie ihre Mutter – Sozialpsychologin und bekleidete Universitätsprofessuren in Harvard und am Massachusetts Institute of Technology (MIT). William (Billy) Watson (geb. 1921), der ältere Sohn von Rosalie Rayner Watson und John B. Watson wurde seinerseits wiederum »freudian psychiatrist«.283 Dass die Kinder von bekannten Wissenschafter/innen ebenfalls intellektuelle Berufe ergriffen und intellektuell tätige Partner/innen hatten bzw. haben, ist ein direkter Ausdruck dessen, was unter dem Konzept des ›sozialen Kapitals‹ (Pierre Bourdieu) verstanden wird. Dass jedoch über eine kleine Gruppe von Menschen – den Kindern jener Eltern, die ab dem späten 18. Jahrhundert die Quellenbasis für ihre pädagogischen, physiologischen, psychologischen oder sprachwissenschaftlichen Forschungen mittels der ›Tagebuchmethode‹ zusammengestellt haben – so umfangreiche Informationen zu ihrem Aufwachsen zur öffentlichen Verfügung stehen, ist als spezifisches Phänomen einzustufen, das in dem engen wissenschaftlichen Kontext zu verorten ist, in dem es stattfand. Parallel dazu hat sich in der entwicklungspsychologischen Forschung ab den 1920er-Jahren eine zweite ›Tagebuchmethode‹ etabliert, die dabei eine andere Form von persönlichen Aufzeichnungen in den Blick nahm. Im Interesse standen nun schriftliche Selbstdarstellungen, die von Jugendlichen selbst verfasst worden 282 Siehe dazu – neben zahlreichen anderen Darstellungen zu den einzelnen der drei Geschwister – zuletzt den Abschnitt »Die Lebenswege von Hilde, Günther und Eva« in: Heinemann: Das Kind als Person, 2016, S. 142–149. 283 Duke, Fried, Pliley und Walker: Contributions to the History of Psychology, 1989, S. 166f.

Spätere Einschätzungen der ›Tagebuchmethode‹ in der Entwicklungspsychologie

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waren. Diese Form von auto/biografischen Aufzeichnungen hat die Elterntagebücher als psychologische Quellengrundlagen sozusagen abgelöst.284 Gleichzeitig handelte es sich hier um völlig andere Texte. Die ›wissenschaftsgeleiteten Elterntagebücher‹ wurden von beobachtenden ›Expert/innen‹ angelegt. Diese sollten dabei zwar als Personen hinter den Text zurücktreten, sie blieben aber dennoch die Autoritäten der Aufzeichnungen – und auch deren Autor/innen auf den Buchdeckeln der veröffentlichten Exemplare. Zudem wurden die genauen Vorschläge, auf welche Weise diese Aufzeichnungen zu verfassen wären, im Laufe der langen Zeit ihrer Verwendung seit 1800 zunehmend ausgefeilt und systematisiert. In den Jugendtagebüchern kamen die ›Forschungsgegenstände‹ nun selbst zu Wort. Die Texte sind von ihren Verfasser/innen (im Großen und Ganzen) frei geführt worden (→ Kapitel 4), vor allem aber (wahrscheinlich) ohne Erwägung einer späteren wissenschaftlichen Auswertung. Wie in der Einleitung dieser Studie bereits angedeutet worden ist, finden sich dennoch direkte Verbindungen zwischen diesen beiden Schwerpunkten der psychologischen Forschung. Ich gehe davon aus, dass die Etablierung der Elterntagebücher als wissenschaftliche Quellen maßgeblich dazu beigetragen hat, dass auch Jugendtagebücher zu Forschungsgrundlagen avancieren konnten. Diese These ist nicht zuletzt an die Beobachtung geknüpft, dass sich mehrere Wissenschafter/innen jeweils mit beiden Quellengattungen beschäftigt haben. Charlotte Bühler und William Stern sind zwei federführende Vertreter/innen der Entwicklungspsychologie – und beide haben sowohl Aufzeichnungen von Eltern als auch Tagebücher von Jugendlichen ausgewertet. Diese Richtung in der jugendpsychologischen Forschung ist das Thema im folgenden Kapitel.

284 Deutsch: Clara Stern, 2011, S. 102.

2)

»Einstweilen die ergiebigste und sicherste Quelle«: Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

In diesem Kapitel wird dargestellt, auf welche Weise Tagebücher als Quellen in der deutschsprachigen Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren verwendet wurden. Im Vergleich zur Verwissenschaftlichung der Kindheit setzten die Forschungen zu Jugendlichen erst später ein und fanden daher auch im Rahmen anderer struktureller Gegebenheiten statt. Konkret waren das zumeist universitäre Zusammenhänge. Diese Entwicklung wird eingangs kurz skizziert. In Bezug auf die jugendpsychologische Tagebuchforschung werden in der Forschungsliteratur insbesondere die Arbeiten der in Wien tätigen Psychologin Charlotte Bühler (geb. Malachowski, 1893–1974) und ihrer Forschungsgruppe genannt. Bühlers berufliche und fachliche Etablierung war eng verknüpft mit dem Standort Wien, der sich – nicht zuletzt durch ihre internationalen Netzwerke – in den 1920er- und 1930er-Jahren rasch zu einem prosperierenden Zentrum der psychologischen Forschung entwickelte. Von Bühler stammt das 1925 formulierte Zitat, »das Tagebuch des Jugendlichen« sei »einstweilen die ergiebigste und sicherste Quelle«1 für die Jugendpsychologie – eine These, die sie in ihrer Forschung über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren vertrat. Neben ihren Arbeiten werden in diesem Kapitel jene des Pädagogen und Psychoanalytikers Siegfried Bernfeld (1892–1953) besprochen. Beide forschten in Wien, arbeiteten aber unter sehr verschiedenen strukturellen Bedingungen. Auch ihre Interpretationen, was Jugendliche dazu bewegen würde, ein Tagebuch zu schreiben, waren unterschiedlich. Ihre Positionen sind zudem in einem damals durchaus heftig geführten ›Richtungsstreit‹ zwischen der Psychologie und der Psychoanalyse zu verorten, bei dem eine 1919 veröffentlichte Tagebuchedition eine zentrale Rolle spielte. Als eine frühe Publikation zu auto/biografischen Selbstdarstellungsformaten Jugendlicher wird des Weiteren die bereits 1914 veröffentlichte Arbeit des jungen Psychologen Fritz Giese (vermutlich 1890–1935) vorgestellt. Diese fand in der historischen Auto/ 1 Charlotte Bühler: Vorwort, in: dies. (Hg.): Zwei Knabentagebücher (Quellen und Studien zur Jugendkunde, Bd. 3), Jena 1925, o. S.

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Biografieforschung bisher wenig Aufmerksamkeit, obwohl auf Gieses umfangreiche Quellenedition in allen zeitgenössischen Arbeiten zurückgegriffen wurde. Eine Gemeinsamkeit der psychologischen Eltern- und der frühen Jugendtagebuchforschung war, dass Forscher/innen dabei vor allem Quellen aus ihrem eigenen sozialen Umfeld bearbeitet haben. Im Gegensatz zur Kinderpsychologie kam es im Kontext der Jugendpsychologie daneben auch zu Gründungen von einzelnen Sammlungen und Archiven. Deren Initiator/innen verfolgten damit jeweils unterschiedliche Ziele, gemeinsam ist ihnen aber, dass sie ihre Quellenbestände auch anderen Forscher/innen zur Verfügung stellten. In Wien initiierte Siegfried Bernfeld schon 1913 das Archiv für Jugendkultur, ab 1922 wurde hier dann die umfangreiche Tagebuchsammlung der Forschungsgruppe von Charlotte Bühler aufgebaut. Wichtig zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die seit Anfang der 1920er-Jahre in Deutschland etablierte Praktik der Selbstdokumentation der (bürgerlichen) Jugendbewegungen. Den Aufbau von systematischen Materialsammlungen werte ich als eine der Grundlagen für die Produktivität der jugendpsychologischen Tagebuch- bzw. Selbstzeugnisforschung der Zwischenkriegszeit – und gleichzeitig als einen Ausdruck für die Professionalisierung der wissenschaftlichen Arbeit mit auto/biografischen Aufzeichnungen. Eine leitende Frage in diesem Kapitel ist, wie die Kategorien soziale Schicht und Geschlecht in der tagebuchbasierten Jugendpsychologie verhandelt worden sind. Exemplarisch ausgewertet wird dazu die von Charlotte Bühler 1921 erstmals veröffentlichte Überblicksdarstellung »Das Seelenleben des Jugendlichen«. Dieses Buch avancierte neben Eduard Sprangers »Die Psychologie des Jugendalters« von 1924 zu einem ›Standardwerk‹ der frühen Jugendpsychologie. Verschränkt mit den wissenschaftlichen Texten von Charlotte Bühler wird versucht, den genauen Umfang des Bestandes der Wiener Tagebuchsammlung systematisch zu rekonstruieren. Da diese seit der Machtergreifung der Nationalsozialist/innen in Österreich verschollen ist, muss dabei einiges fragmentarisch bleiben. Vieles ließ sich dennoch nachvollziehen und wird entsprechend dargestellt. Dabei werden der Bestand der Wiener Tagebuchsammlung und die daraus veröffentlichten Editionen auch in Hinblick auf ihre geschlechter- und schichtspezifischen Zusammensetzungen hin befragt. Mehrere Fragen ließen sich auf der Grundlage von fünf Bänden klären, die in der Fachbereichsbibliothek Psychologie der Universität Wien wiederentdeckt wurden. Dieser überraschende Quellenfund kann in dieser Studie entsprechend ausführlich vorgestellt und ausgewertet werden. Wie die Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler und ihrer Forschungsgruppe ist auch das Archiv für Jugendkultur von Siegfried Bernfeld in der Zeit des Zweiten Weltkrieges verschwunden. Die Geschichte beider Sammlungen steht für mich beispielhaft für die Zerstörung von Wissen und von Wissensbeständen

Die Verwissenschaftlichung der Jugend

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durch die Nationalsozialist/innen. Anhand der Übergabe von Tagebüchern der US-Amerikanerin Felice Wolmut an das Institut für Psychologie der Universität Wien in den 1980er-Jahren kann schließlich aber auch gezeigt werden, wie nachhaltig die Wiener jugendpsychologischen Forschungen der Zwischenkriegszeit – zumindest – in ihrer Rezeption verankert geblieben sind.

2.1) Die Verwissenschaftlichung der Jugend Die theoretische »Erfindung der Jugend«2 als eigene Lebensphase lässt sich historisch verorten und einordnen. Wie die wissenschaftliche Thematisierung der Kindheit als ›Phänomen‹ kann auch diese Entwicklung recht genau nachgezeichnet werden. Während Kindheit als Forschungsgegenstand schon seit Ende des 18. Jahrhunderts ausgearbeitet worden ist (→ Kapitel 1), sind die Anfänge der Jugendforschung erst im ausgehenden 19. Jahrhundert anzusiedeln. Es handelt sich dabei also um ein vergleichsweise ›junges‹ wissenschaftliches Feld. Seine Entstehung war in mehrfacher Hinsicht auch eine Konsequenz der Kindheitsforschung – bzw. allgemein ein Ergebnis der in dem vorangegangenen Kapitel skizzierten Verwissenschaftlichungs- und Modernisierungsprozesse in den (bürgerlichen, westlichen) Gesellschaften vor 1900. Ähnlich der zeitgenössischen Kindheitsforschung, war auch die frühe gelehrte Beschäftigung mit dem Thema Jugend mehrheitlich auf biologisch ausgerichteten Theorien aufgebaut. Jugend wurde dementsprechend als eine der ›naturgegebenen‹ menschlichen »Entwicklungsphasen« wahrgenommen.3 Daran geknüpft waren verschiedene gesellschaftliche und rechtliche Dynamiken. Um nur einige Aspekte davon herauszugreifen: Auf der einen Seite waren das etwa der Ausbau des Schul- und Ausbildungswesens sowie der sogenannten Jugendpflege, die Einrichtung einer eigenen Jugendfürsorge bzw. -wohlfahrt,4 der Jugendge-

2 Der Begriff »Teenager« wird wegen seiner zeitlichen Einordnung in dieser Studie nicht verwendet. John Savage stellte in seiner Überblicksdarstellung fest, dass das Wort erstmals 1944 in Nordamerika verwendet wurde. Dabei handelte es sich um einen »Marketingbegriff«, der Jugendliche als konsumierende Zielgruppe meinte (S. 7). Jon Savage: Teenage. Die Erfindung der Jugend (1875–1945), Frankfurt am Main/New York 2008. 3 Helmut Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters. Ein Lehrbuch für pädagogische und psychologische Berufe, Opladen 2000, S. 37. 4 Als Überblick aus einer geschlechterhistorischen Perspektive Heike Schmidt: Gefährliche und gefährdete Mädchen. Weibliche Devianz und die Anfänge der Zwangs- und Fürsorgeerziehung, Wiesbaden 2002. Der Begriff »Jugendpflege« bezieht sich dabei auf die »positiven allgemeinen erzieherischen und fördernden Maßnahmen«, »Jugendfürsorge« auf die »negativpräventiven individuellen Schutzmaßnahmen«. Definitionen nach Peter Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften. Geschichte der Jugendforschung in Deutschland und Österreich, Opladen 1990, S. 77, FN 23.

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richtsbarkeit5 und der sogenannten Schutzaufsicht6. Auf der anderen Seite stehen die nachhaltigen gesellschaftlichen Veränderungen, die im Rahmen des Aufkommens von massenkulturellen Konsum- und Freizeitangeboten stattgefunden haben.7 Diese vielschichtigen Entwicklungen, in deren Rahmen (auch) die Jugend ›entdeckt‹ wurde, sind in der Forschungsliteratur für Europa und Nordamerika ausführlich historisiert und differenziert dargestellt worden.8 Dabei wurde der gesellschaftspolitische »Bedeutungszuwachs« dargestellt, der jungen Menschen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmenden zugeschrieben worden ist: »Die Jugend einer Nation wurde begriffen als Motor gesellschaftlichen Fortschritts, als sich aufwärts entwickelnde Erneuerung der Gesellschaft.«9 Gleichzeitig – und widersprüchlich – wurde Jugend als »gesellschaftliches und pädagogisches Problemfeld«10 identifiziert, theoretisiert und als bestimmtes »Krisenalter«11 definiert. Diese Perspektive wurde seit Ende des 19. Jahrhunderts von der Pädagogik, der Psychologie und den Rechtswissenschaften eingenommen, insbesondere aber vom neuen Fach der Soziologie. Während im historischen Rückblick sowohl die schicht- als auch die geschlechtsspezifische Markierungen des Phänomens Jugend dargelegt werden konnten,12 herrschte in der Forschung um 1900 die allgemeine Annahme vor, Jugend sei eine universell gültige biologische »Lebensphase«, die alle aufwachsenden Menschen gleich betreffen würde.13 Einen detail- und materialreichen 5 Als Überblick für Österreich-Ungarn Uwe Bolius und Isabella Lorenz: Der Jugendgerichtshof Wien. Die Geschichte eines Verschwindens, Wien 2011; Jonathan Kufner-Eger: Risikoorientierte Rationalisierung Sozialer Arbeit. Verwerfungen der Berufsidentität in der Bewährungshilfe, Wiesbaden 2020. 6 Der aktuell für »Schutzaufsicht« verwendete Begriff ist »Bewährungshilfe«. Vgl. dazu KufnerEger: Risikoorientierte Rationalisierung Sozialer Arbeit, 2020. 7 Dazu zuletzt Peter-Paul Bänziger: Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Konsumund Arbeitsgesellschaft, 1840–1940, Göttingen 2020. 8 Frühe sozialhistorische Studien für den deutschsprachigen Raum waren u. a. John R. Gillis: Geschichte der Jugend, Weinheim/Basel 1984; Michael Mitterauer: Sozialgeschichte der Jugend, Frankfurt am Main 1986; Helmut Fend: Sozialgeschichte des Aufwachsens. Bedingungen des Aufwachsens und Jugendgestalten im zwanzigsten Jahrhundert, Frankfurt am Main 1998. Einen geschlechterhistorischen Fokus verfolgen u. a. die Beiträge in Mary Jo Maynes, Birgitte Søland und Christina Benninghaus (Hg.): Secret Gardens, Satanic Mills. Placing Girls in European History, 1750–1960, Bloomington 2004 sowie James C. Albisetti, Joyce Goodman und Rebecca Rogers (Hg.): Girls’ Secondary Education in the Western World. From the 18th to the 20th Century, New York 2010. 9 Schmidt: Gefährliche und gefährdete Mädchen, 2002, S. 12. 10 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 49. 11 Ebd.: S. 73. 12 Dazu u. a. Albert Scherr: Jugendsoziologie: Einführung in Grundlagen und Theorien, Wiesbaden 20099, S. 89. 13 Welche Altersspanne mit der ›Lebensphase Jugend‹ nun genau gemeint ist, wird zumeist fließend verhandelt. Michael Mitterauer hat verschiedene gesellschaftliche und rechtliche

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historischen Überblick über die Entwicklung der institutionellen Anfänge dieser Jugendforschung und deren Methoden, Theorien und Themenschwerpunkte hat der deutsche Pädagoge Peter Dudek mit der Monografie »Jugend als Objekt der Wissenschaften« bereits 1990 veröffentlicht. Er stellte darin die Entwicklungen im deutschsprachigen Raum von 1890 bis 1933 dar und verfolgte dabei auch geschlechterhistorische Fragestellungen.14 Diese Arbeit wird im Folgenden als hauptsächliche wissenschaftshistorische Grundlage für das Themengebiet historische Jugendforschung verwendet, ebenso wie die »Entwicklungspsychologie des Jugendalters« des österreichisch-schweizerischen Pädagogen Helmut Fend aus dem Jahr 2000.15 Überblicksdarstellungen der fachspezifischen Geschichte der jugendpsychologischen Forschung in Wien ab den 1920er-Jahren bieten die Arbeiten des Psychologen Gerhard Benetka, dabei vor allem die »Sozial- und Theoriegeschichte des Wiener Psychologischen Instituts 1922–1938« von 1995.16 Ein komprimierter Überblick zur Tagebuchforschung in der Jugendpsychologie findet sich des Weiteren in der Publikation »Jugend im Tagebuch« der deutschen Psychologin Marianne Soff aus 1989.17

Jugendforschung im deutschsprachigen Raum ab den 1890er-Jahren Die frühe Jugendforschung wird in der Fachliteratur allgemein als internationales Feld beschrieben. In der nordamerikanischen und der europäischen Diskussion wurde dabei insbesondere die Monografie »Adolescence« nachhaltig rezipiert, die der Pädagoge und Psychologe G. (Granville) Stanley Hall (1844– 1924) 1904 veröffentlicht hat (→ Abschnitte 1.3 und 1.9).18 Der von ihm ver-

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Zäsuren dargestellt, die im europäischen Kontext dabei für jeweilige Abgrenzungen geltend gemacht wurden. Diese waren sowohl historisch wandelbar, als auch regional, konfessionell und gegebenenfalls nach Geschlechtern unterschiedlich. Die rechtliche Rahmung ist durch die jeweilige Definition der ›Volljährigkeit‹ gegeben. Mitterauer: Sozialgeschichte der Jugend, 1986, S. 44–95, S. 247–252. Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990. Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, 2000. Gerhard Benetka: Psychologie in Wien. Sozial- und Theoriegeschichte des Wiener Psychologischen Instituts 1922–1938, Wien 1995. Marianne Soff: Jugend im Tagebuch. Analysen zur Ich-Entwicklung in Jugendtagebüchern verschiedener Generationen, Weinheim/München 1989. Die Arbeiten von Siegfried Bernfeld sind in der insgesamt detaillierten Darstellung von Soff nicht berücksichtigt. Die Erscheinungsjahre der vier hier als grundlegend genannten historische Überblicksdarstellungen weisen das Thema ›Fachgeschichte der Psychologie‹ als eines aus, das in den späten 1980erund in den 1990er-Jahren eine besondere Konjunktur hatte. G. (Granville) Stanley Hall hatte als Student und junger Forscher mehrere Jahre in Deutschland verbracht und u. a. bei Wilhelm Wundt (1832–1920) gearbeitet, der in Leipzig die erste Professur für Psychologie im deutschsprachigen Raum innehatte (→ Abschnitt 1.3). Das von Hall 1882 an der John Hopkins University in Baltimore, Maryland 1882 gegründete

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wendete Fachterminus »Adoleszenz« wirkte schließlich auch begriffsprägend. Die »Hochburgen«19 der deutschsprachigen Kindheits- und Jugendforschung lagen ab den 1920er-Jahren in Hamburg und in Wien, jeweils im Umfeld der Psycholog/innen William Stern (→ Abschnitt 1.6) und der schon genannten Charlotte Bühler, wobei diese beiden Schulen länderübergreifend in einem starken Austausch miteinander standen.20 Einen starken Einfluss in diesem Feld hatten zudem die Arbeiten des Berliners Eduard Spranger (geb. Franz Ernst Eduard Schönenbeck, 1882–1963)21 sowie allgemein die Ergebnisse der Psychoanalyse, wiederum vor allem aus Wien. Die einschlägigen Arbeiten von Stern, Bühler und Spranger werden im Laufe dieses Kapitels näher vorgestellt. Die zunehmend ausdifferenzierten wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Jugend wurden in Österreich und Deutschland ab den 1890er-Jahren und dann insbesondere in der Zwischenkriegszeit vornehmlich im Fach Jugendpsychologie erarbeitet. (Nach 1945 lieferte den Großteil an einschlägigen Publikationen die Jugendsoziologie.22) Wie auch in der Kinderforschung waren dabei aber sowohl die Fachgrenzen als auch die Grenzen zu außerwissenschaftlichen Anwendungsgebieten zumeist fließend: »Von Beginn an war Jugendforschung eine Bindestrich-Wissenschaft mit disziplinären Anteilen in Medizin, Psychologie, Soziologie und (Sozial-)Pädagogik. Sie war eng verknüpft mit spezifischen Interessen an politischer, sozialer und pädagogischer Kontrolle, gleichzeitig jedoch auch durchsetzt mit Selbstreflexionen der Jugendbewegung um die Jahrhundertwende, die plakativ den Anspruch auf eigenständige ›Jugendlichkeit‹ de-

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psychologische Labor gilt als die erste entsprechende Einrichtung in den USA. Ab 1889 war er der erste »President« der Clark University in Worcester, Massachusetts. Dazu u. a. Caroline Hopf: Die experimentelle Pädagogik. Empirische Erziehungswissenschaft in Deutschland am Anfang des 20. Jahrhunderts, Bad Heilbrunn 2004, S. 50. Biografische Angaben zu G. Stanley Hall siehe weiters u. a. in New World Encyclopedia (o. J.) unter: www.newworldencyclopedia. org/entry/G._Stanley_Hall. (Alle in diesem Kapitel zitierten Websites und Webressourcen wurden zuletzt aufgerufen am 7. Oktober 2020.) Begriff nach Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 114 und 146 sowie HeinzHermann Krüger und Cathleen Grunert (Hg.): Handbuch Kindheits- und Jugendforschung, Opladen 2002, S. 12. Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 21. Die Publikationen von Charlotte Bühler und ihren Mitarbeiter/innen erschienen in ihren ersten Auflagen alle in den renommierten Fachverlagen in Leipzig und Jena. Zur Arbeit und dem Lebenslauf von Eduard Spranger u. a. Benjamin Ortmeyer: Eduard Spranger und die NS-Zeit. Forschungsbericht, Frankfurt am Main 2008; Michael Fontana: »… jener pädagogische Stoß ins Herz«. Erziehungswissenschaftliche und biographisch-politische Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Leben und Werk Eduard Sprangers, Frankfurt am Main/u. a. 2009. Heinz-Hermann Krüger: Geschichte und Perspektiven der Jugendforschung – historische Entwicklungslinien und Bezugspunkte für eine theoretische und methodische Neuorientierung, in: ders. (Hg.): Handbuch der Jugendforschung, Leverkusen 19881, S. 13–26, S. 14f.

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monstrierte« (→ Abschnitt 2.3).23 In der von Peter Dudek hier genannten »Selbstreflexion« lag auch einer der großen Unterschiede zum Kindheitsdiskurs: Der Jugenddiskurs wurde kulturphilosophisch und literarisch stark rezipiert und hoch ästhetisiert, wobei inzwischen überzeugend dargelegt werden konnte, dass sich dieser ›Kult‹ zunächst vornehmlich auf männliche Jugendliche aus dem Bürger/innentum bezogen hat.24 Er war also sowohl schicht- als auch geschlechtsspezifisch situiert. Der wohl noch größere Unterschied zwischen der (Klein-)Kinder- und der Jugendforschung lag aber darin, dass in zweitgenannter die Beforschten selbst befragt wurden und selbst zu Wort kommen konnten. Dazu wurden von den Forscher/innen verschiedene Methoden etabliert, die unten noch näher vorgestellt werden (→ Abschnitt 2.3). Der ›Bindestrich-Charakter‹, der die Jugendforschung insgesamt gekennzeichnet hat, ist für das Fach Psychologie auch allgemein festzustellen. So haben sich viele Forschende neben der Kinderpsychologie oder – in größeren Zusammenhängen – im Rahmen der sogenannten Lebenslaufforschung auch mit Jugendpsychologie beschäftigt. Und alle haben sie auch Tagebücher ausgewertet, neben anderen Quellen, die etwa durch Experimente/Tests, mit Fragebögen oder aus Bevölkerungsstatistiken erarbeitet wurden. Diese Methoden- und Themenvielfalt traf auf Charlotte Bühler genauso zu wie auf Eduard Spranger, William Stern und G. Stanley Hall, um nur die bekanntesten Namen noch einmal zusammen zu nennen. Dabei haben bis in die 1930er-Jahre sowohl inner- als auch außeruniversitärer institutionalisierte Personen in einer bunten Forschungslandschaft zusammengearbeitet.

Jugendpsychologie im deutschsprachigen Raum ab den 1890er-Jahren Dass im Feld der Jugendkunde verhältnismäßig rasch nach Aufkommen des Themas gleich verschiedene Aktivitäten der Institutionalisierung gesetzt wurden, ist mit der Wissenschafts- und Forschungssituation am Ende des 19. Jahrhunderts erklärbar, in der allgemein rege Institute eingerichtet und Fachgrenzen definiert wurden. Der besonders zügige Aufschwung der Jugend- und Kinderpsychologie seit den späten 1890er-Jahren kann an den zahlreichen Gründungen sowohl von Netzwerken als auch von Zeitschriften deutlich nachvollzogen werden: Im Zeitraum von 1891 bis 1915 wurden (weltweit) 26 außeruniversitäre Institute und 21 Zeitschriftenprojekte zum Schwerpunkt Jugendpsychologie

23 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 12. 24 Birgit Dahlke: Jünglinge der Moderne: Jugendkult und Männlichkeit in der Literatur um 1900, Köln/Wien/Weimar 2006.

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eingerichtet. Sechs dieser Zeitschriften erschienen in Deutschland,25 das in der psychologischen Forschung zu der Zeit ja insgesamt federführend war (→ Abschnitt 1.6). Peter Dudek hat darauf hingewiesen, dass die Jugendkunde als wissenschaftliche Disziplin im deutschsprachigen Raum dabei aber nicht an den Hochschulen etabliert worden ist. Die einschlägigen Initiativen der Anfangszeit waren außeruniversitär.26 Die jugendpsychologischen Forschungen der Zwischenkriegszeit fanden ebenfalls nicht an entsprechend gewidmeten Lehrstühlen statt. Jene habilitierten Wissenschafter/innen, die in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (auch) zu Jugendpsychologie gearbeitet haben, waren in anderen Fächern berufen bzw. sie waren nicht fix verankert.27 Die ersten außeruniversitären Einrichtungen wurden ab zirka 1900 hauptsächlich von Akteuren (und einzelnen Akteurinnen) der (Heil-)Pädagogik, der Lehrer/innenorganisationen oder der Medizin initiiert. Diese waren personell wiederum zumeist mit Hochschulangestellten vernetzt. Aus den vielfältigen Aktivitäten sollen im Folgenden vier der frühesten exemplarisch vorgestellt werden. Damit wird auch gleich die Diversität der einzelnen Projekte sichtbar. Sie stehen zudem beispielhaft für die initialzündende Rolle, die Deutschland auf dem Gebiet der Jugendforschung für Österreich-Ungarn spielte: 1) 1898 schlossen sich Heilpädagogen und Mediziner in Jena im Allgemeinen deutschen Verein für Kinderforschung zusammen.28 Die Ortswahl war nicht zufällig, in Jena befand sich deutschlandweit der damals einzige Lehrstuhl für Pädagogik.29 Der Verein veranstaltete als »ersten Höhepunkt« in der fachlichen Auseinandersetzung 1906 den viertägigen internationalen Kongress für Kinderforschung und Jugendfürsorge in Berlin.30 Unter den rund 1.000 teilnehmen25 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 115. Nach meinem derzeitigen Recherchestand gab es zu der Zeit noch keine fachspezifische Initiative auf dem Gebiet von Österreich-Ungarn. 26 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 183. 27 Als Überblicke siehe Hopf: Die experimentelle Pädagogik, 2004 und Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 90–139. William Stern war seit 1916 Professor für Philosophie in Hamburg, Eduard Sprangers Lehrstuhl in Berlin (1919) war für Philosophie und Pädagogik gewidmet. Der Lehrstuhl von Karl Bühler an der Universität Wien (1922), in dessen Kontext auch Charlotte Bühler als Privatdozentin und dann als a.o. Professorin angestellt war, war gewidmet für »Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Psychologie und Pädagogik«. Charlotte Bühler war im Fach Psychologie habilitiert (→ Abschnitt 2.3). Otto Tumlirz (Ota Tumlírˇ, 1890–1957) war zuvor a.o. Professor für Pädagogik in Graz gewesen, bevor er als Parteigänger nach Karl Bühlers Absetzung 1938 der erste Supplent an diesem Lehrstuhl war (→ Abschnitt 2.9). Angaben dazu in Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 183–188; Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 18. 28 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 115. 29 Hopf: Die experimentelle Pädagogik, 2004, S. 101. 30 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 115–123.

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den Lehrer/innen und Berufserzieher/innen, Wissenschafter/innen, Ärzt/innen und Jurist/innen soll sich auch eine »relativ große Zahl« von Frauen befunden haben.31 2) Eine zweite frühe Vereinigung war das Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie in Leipzig. Dieses Netzwerk hat sich nach einer siebenjährigen Konstituierungsphase mit dem Ziel der Förderung »der Professionalisierung des Volksschullehrerberufes und Verbesserungen für die Schulpraxis« 1906 zusammengeschlossen.32 Aktivisten (und einzelne Aktivistinnen) waren hier vorrangig Lehrer/innen. Gefördert wurde das Vorhaben von dem 1846 gegründeten Leipziger Lehrerverein,33 der u. a. ein Vereinshaus zur Verfügung stellte. Es wurden Vorträge und Kurse angeboten, eine Bibliothek aufgebaut und eigene Studien durchgeführt. Auch der Ort Leipzig ist leicht nachvollziehbar, da hier ja Wilhelm Maximilian Wundt (1832–1920) seit 1879/1884 den weltweit ersten Lehrstuhl des Faches Psychologie innehatte34 (→ Abschnitt 1.3). An diesen beiden ersten Beispielen zeigt sich der Einfluss, den Lehrstühle an Universitäten auch auf außeruniversitäre Initiativen hatten. Der Allgemeine deutsche Verein für Kinderforschung und das Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie waren nicht universitär institutionalisiert, entstanden aber in entsprechenden Umfeldern. Mit dem Institut für experimentelle Pädagogik und Psychologie lässt sich weiters die Schulreformbewegung als eine der wichtigen Proponentinnen der Jugendforschung in Deutschland identifizieren. Wie in → Abschnitt 2.3 noch dargestellt wird, fand der Beginn von Charlotte Bühlers Beschäftigung mit der Jugendforschung im Allgemeinen und mit der Tagebuchforschung im Speziellen ebenfalls im Kontext von pädagogischen Weiterbildungskursen in Deutschland statt. Gerhard Benetka benannte die Schulreformbewegung auch für Österreich als einen »Motor«, der hier (etwas später) »in den Anfangsjahren der Ersten Republik eine gesellschaftliche Nachfrage nach experimenteller Psychologie« und somit die Institutionalisierung des Faches klar befördert hat.35 31 Marc Depaepe: Zum Wohl des Kindes? Pädologie, pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik in Europa und den USA, 1890–940, Leuven 1993, S. 67. Marc Depaepe führt hier noch frühere Tagungen an, bei denen das Thema ebenfalls schon zur Sprache gebracht worden war. 32 Hopf: Die experimentelle Pädagogik, 2004, S. 87–91, S. 87. 33 Jürgen Göndör: Leipziger Lehrerverein (LLV) (2014) unter: http://paed.com/reformpaedago gik/index.php?action=leillv. 34 Hopf: Die experimentelle Pädagogik, 2004, S. 45–64, S. 48. Wundt selbst war kein Mitglied im bald international zusammengesetzten Kreis des Instituts für experimentelle Pädagogik und Psychologie, ab 1910 aber finanzieller Förderer und ab 1912 Ehrenmitglied. Hopf: Die experimentelle Pädagogik, 2004, S. 89. 35 Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 28. Ein kurzer historischer Abriss findet sich hier auf S. 28–39.

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3) Als dezidierte Forschungs- und Weiterbildungsstätte kann als drittes Beispiel das ebenso 1906 im Potsdamer Stadtteil Kleinglienicke gegründete Institut für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung genannt werden.36 Kleinglienicke war zur Jahrhundertwende ein bekannter Bade- und Ausflugsort im Seengebiet um Berlin; das Institut war in einer noblen Villa untergebracht. Trägerin dieser Initiative war die 1904 formierte Gesellschaft für experimentelle Psychologie (ab 1929 Deutsche Gesellschaft für Psychologie – DGP), die William Stern mitbegründet hat (→ Abschnitt 1.6). Gemeinsam mit seinem ehemaligen Studenten Otto Lipmann (1880–1933) aus Breslau war Stern auch der Leiter des Instituts. Diese Initiative belegt einerseits die zu der Zeit gepflegte nationale und internationale Vernetzung von Wissenschafter/innen, insbesondere sind hier aber auch die Verbindungen zwischen der inner- und außeruniversitären Forschung wieder gut nachvollziehbar. 4) Als vierte außeruniversitäre Einrichtung, die maßgeblich zur Etablierung der deutschsprachigen Jugendpsychologie beigetragen hat, soll noch das 1913 in Hamburg gegründete interdisziplinäre Institut für Jugendkunde genannt werden. Es wurde von mehreren Lehrer/innenverbänden getragen und war am sogenannten Kolonialinstitut, der 1908 gegründeten, ersten staatlichen Hochschule in Hamburg, angesiedelt. Einer der Initiatoren war der Experimentalpsychologe Ernst Meumann (1862–1915). Er hatte hier jenen Lehrstuhl inne, den William Stern dann 1916 übernahm. Die Infrastruktur, auf der Stern seine Arbeit aufbauen konnte, sowie Initiativen, an die er hier anknüpfte, waren von Meumann geschaffen bzw. gestartet worden.37

2.2) Erste Sammlungen von Selbstzeugnissen Jugendlicher: Fritz Giese und Siegfried Bernfeld Das von William Stern in Potsdam-Kleinglienicke eingerichtete Institut für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung ist im Zusammenhang mit den Fragestellungen dieser Studie besonders hervorzuheben. Diese prominente Erwähnung ist damit begründet, da hier auch eine Forschungssammlung von Testmaterial, von Fragebögen und von Selbstzeugnissen von Jugendlichen angelegt worden ist.38 Nähere Informationen zu dieser Sammlung 36 Dazu u. a. Rebecca Heinemann: Das Kind als Person. William Stern als Wegbereiter der Kinder- und Jugendforschung 1900 bis 1933, Bad Heilbrunn 2016, S. 68–70. 37 Dazu u. a. Paul Probst und Wolfgang G. Bringmann: Ernst Meumann und William Stern: Analyse ihres Wirkens in Hamburg (1910–1933) unter Berücksichtigung biographischer und soziokultureller Hintergründe, in: Geschichte der Psychologie, Jg. 10, 1993, Heft 1, S. 1–14; Hopf: Die experimentelle Pädagogik, 2004, S. 94–97. 38 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 94.

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liegen mir bislang nicht vor. So kann derzeit nichts Weiteres darüber gesagt werden, um welche Selbstzeugnisse es sich konkret gehandelt haben könnte, wie der Umfang der Sammlung war, wie sie benützt werden konnte, und was im Laufe des 20. Jahrhunderts damit geschehen sein könnte (→ Abschnitt 2.9). Es scheint sich dabei aber um eine besonders frühe Initiative gehandelt zu haben, die gezielt auto/biografische Quellen von Jugendlichen gesammelt hat, um sie der Forschung zugänglich zu machen.

»Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen« von Fritz Giese (1914) Einer der Forscher, der seine Arbeit u. a. auf das in Potsdam verfügbare Material aufgebaute, war der junge Psychologe Fritz Giese. Er brachte 1914 in Leipzig die Studie »Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen« heraus, die ich für die Geschichte der Auto/Biografieforschung aus mehreren Gründen als bemerkenswert einstufe.39 Eine Fragestellung, die Giese darin verfolgte, waren die »Differenzen der Geschlechter im literarischen Schaffen«. Des Weiteren beschäftigte er sich u. a. damit, ab welchem Alter das Thema »Erotik« in den Texten aufkam, wobei er hier Differenzierungen nach Geschlechts-, Religions- und Schichtzugehörigkeiten vornahm. Was die Arbeit von Fritz Giese von den Nachfolgestudien unterschieden hat, war die extrem breite Quellenbasis, auf der er sie aufgebaut hat. Er soll dazu insgesamt 3.258 einzelne Texte ausgewertet haben, die von Schreiber/innen im Alter von fünf bis 21 Jahren verfasst worden waren.40 Lukrieren konnte er diese auf verschiedenste Weisen: Einerseits wurden sie ihm von Schulen und Zeitschriftenredaktionen zur Verfügung gestellt. Diese Texte waren »Produkte, die in der Schule auf Bestellung veranlaßt von Kindern und Jugendlichen verfaßt wurden«41 und Beiträge, die Zeitschriftenverlage u. a. über Preisausschreiben gesammelt hatten (→ Abschnitt 1.2). Andererseits hatte 39 Ebd. Nach derzeitigem Recherchestand dürfte diese Studie nicht die Dissertation von Fritz Giese gewesen sein. In der »Deutsche[n] Biographie« sowie auf der Website der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg wird ein Psychologe mit Namen Fritz (Wilhelm Oskar Fritz) Giese vorgestellt, der aus Berlin-Charlottenburg stammte und entweder 1914 oder 1915 zu einem anderen Thema bei Wilhelm Wundt in Leipzig promoviert hat. Hans Ulrich Schulz: Giese, Wilhelm Oskar Fritz, in: Neue Deutsche Biographie 6, Berlin 1964, S. 378f., online verfügbar unter: www.deutsche-biographie.de/pnd116619716.html; Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: Catalogus Professorum Halensis: Fritz Giese (o. J.), unter: www.catalo gus-professorum-halensis.de/giesefritz.html. 40 Fritz Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen (Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung, Beiheft 7), Bd. 1, Leipzig 1914, S. 7–19, S. 9, S. 15. 41 Ebd.: S. 7.

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Giese auch Proben von »gänzlich freien jugendlichen Dichtungen« zur Verfügung. Diese waren teilweise in Magazinen veröffentlicht worden, teilweise hatten Kollegen sie im Rahmen anderer Forschungsprojekte zusammen- und ihm jetzt zur Verfügung gestellt. Eine Auswahl trug hier u. a. auch Siegfried Bernfeld bei.42 Aus einer genretheoretischen Sicht sind die Texte, die Giese als »freie jugendliche Dichtungen« definiert hat, genauer zu differenzieren. Tatsächlich umfasste seine Kategorisierung sehr vielfältige Genres. Nach Versmaßen gestalte Gedichte finden sich ebenso darunter wie auto/biografische Erzählungen.43 Und auch vier Tagebuchbestände.44 Eine Hierarchisierung – etwa zwischen Tagebüchern und Gedichten – unternahm Fritz Giese nicht. Vielmehr wurden alle Formen von Aufzeichnungen der Jugendlichen, die nicht angeregt (»veranlaßt«) worden waren, unter dem Begriff ›freie Dichtungen‹ subsumiert – und dabei gleichwertig als auto/biografisch klassifiziert. In diesem Zusammenhang kam es im Laufe der folgenden zwei Jahrzehnte offenbar zu begriffstechnischen Verschiebungen, die in → Abschnitt 2.6 noch näher vorgestellt werden. Neben ihrem großen Umfang ist eine zweite Besonderheit der von Giese gesammelten Quellen, dass ihre Verfasser/innen ein sehr breites soziales Spektrum abdeckten. Es waren »Arbeiterdichtungen« ebenso dabei wie Aufzeichnungen aus dem »Waisenhausmilieu«, von »Fürsorgezöglinge[n]« oder »Strafgefangenen«.45 Jene Texte, die Jugendliche aus dem Bildungsbürger/innentum verfasst hatten, stammten aus »eigenem Besitze« – oder von den Kindern von Clara und William Stern. Wie bereits zitiert hatte Giese dazu bemerkt: »Die drei Kinder STERN sind in der Psychologie fast historische Größen geworden, durch die Untersuchungen ihrer Eltern an ihnen«46 (→ Abschnitte 1.6 und 1.7). In »Prosa

42 Die von Siegfried Bernfeld gesammelten Texte hat Giese jedoch nicht in die Studie eingearbeitet: »Weitere hier von mir nicht berücksichtigte Literatur und spez. die jüngst eingeleiteten Sammelversuche des Wiener ›Akademischen Comites für Schulreform‹ finden sich mit Anmerkungen zusammengestellt in meinem Aufsatz: Bibliographie der Jugendliteratur (Säemann, Jahrgang 1914).« Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, Bd. 1, 1914, S. XII. 43 Um einen Eindruck von den Texten zu geben, hier nur ein Beispiel: »Als ich fünf Jahre alt war waren wir zum Besuch bei unseren Großeltern die wohnen ganz weit von hier. Da kam ein alter Mann den Weg herauf der hatte einen langen weißen Bart, da denke ich, das ist der Weihnachtsmann ich ging zu ihm und fragte, Onkel bist du der Weihnachtsmann? Da sagte er: Ja, bist du auch artig? Da bin ich schnell weggerannt ich konnte ihn doch nicht erzählen das meine Mutter immer sagt, ich bin so wild.«, M [Bub] 9 [Jahre], Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, Bd. 2, 1914, S. 20. 44 Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, Bd. 1, 1914, S. 37f. Längere Auszüge aus dem Tagebuch einer jugendlichen Schreiberin sind abgedruckt in Bd. 2, S. 224–228 und 231–234. Ein Quellenzitat daraus wird in → Abschnitt 4.2 gebracht. 45 Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, Bd. 1, 1914, S. 14. 46 Ebd.: S. 13 [Hervorhebung im Original].

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und Poesie«, die sie verfasst hatten, kamen Hilde, Günther und Eva Stern hier nun auch selbst zu Wort.47 Diese ausführliche Beschreibung des Quellenbestandes, den der junge Forscher Giese ausgewertet hat, soll seine methodische Herangehensweise der Vermischung der Textgenres aufzeigen. Vor allem kann sie aber einen Eindruck der großen Vielfalt jener Initiativen vermitteln, die ab zirka 1910 literarische Aufzeichnungen von Kindern und Jugendlichen mit mehr oder weniger auto/biografischem Inhalt gesammelt, beforscht oder veröffentlicht haben.48 Und es kann das offenbar vorhandene gute Netzwerk einschlägig Forschender gezeigt werden, das allen Anschein nach bereits große Quellenressourcen zur Verfügung hatte, die Giese offenbar nützen konnte. Er bedankte sich namentlich bei zwölf Personen, die ihm »offiziell größere Sammlungen und umfangreichere Proben zugänglich« gemacht hatten. Durch die jeweiligen Berufsbezeichnungen waren diese Sammler/innen dem pädagogischen, dem journalistischen und dem kirchlichen Feld zuzuordnen. Wie Giese weiter ausführte, waren aber noch mehr Übergeber/innen involviert: »Im einzelnen die Namen aller derer aufzuführen, die mir kleinere und kleinste Beiträge spendeten, verbietet nicht nur der Mangel an Raum, sondern auch Diskretion.«49 Dass schon seit der Jahrhundertwende unterschiedlichste Akteur/innen ohne Anbindung an eine wissenschaftliche Institution so rege Gedichte, Aufsätze, Reiseberichte oder Tagebücher von Kindern und Jugendlichen zusammengetragen haben, war eines der überraschenden Ergebnis der Recherche für diese Studie. Es kann einerseits als Beleg für die genannte allgemeine Veränderung in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Kindheit und Jugend gesehen werden. Da diese Aufzeichnungen plötzlich als wissenschaftsrelevant erschienen, wurden sie auch gesammelt (bzw. teilweise auch überhaupt erst angeregt). Dass die forschenden Lai/innen die Texte dann auch ›professionell‹ tätigen Wissenschafter/innen zur Verfügung stellten, erinnert andererseits an Vorgehensweisen, die aus der Säuglings- und Kleinkinderforschung bereits seit dem 19. Jahrhundert bekannt waren (→ Kapitel 1). Keine einzige der Arbeiten, die sich in den folgenden zwei Jahrzehnten mit dem (auto/biografischen) Schreiben von Jugendlichen beschäftigten, weist einen so breiten Quellenkorpus auf wie jene von Fritz Giese aus dem Jahr 1914. Auch 47 Wer die Aufzeichnungen gesammelt und an Fritz Giese übergeben hat, ist nicht überliefert. Die Geschwister waren 1900, 1902 und 1904 geboren worden. 48 Auf die von Giese veröffentlichten Quellentexte bezogen sich später sowohl Bühler als auch Spranger in ihren erfolgreichen Überblicksdarstellungen von 1921 bzw. 1924 (→ Abschnitt 2.3). Auf diesen Umwegen wurde also auch die Sammlung in Potsdam ›indirekt‹ breit rezipiert. 49 Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, 1914, Bd. 1, S. Vf. Die einzige hier namentlich genannte Frau hat keinen akademischen oder Honorationstitel. Die Männer sind jeweils als »Dr.« ausgewiesen, einer als Pfarrer, einer als »Berufspfleger«.

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war diese zweiteilige Publikation mit 462 Seiten vergleichsweise überdurchschnittlich umfangreich.50 Das besonders Außergewöhnliche war jedoch, dass der junge Forscher im zweiten Teil seiner Arbeit im Umfang von 242 Seiten auch einen umfassenden Bestand edierter Texte zur Verfügung stellte.51 Die dort veröffentlichten Passagen wurden in zahlreichen Nachfolgestudien zitiert und weiter ausgewertet, auch von Charlotte Bühler und Eduard Spranger (→ Abschnitt 2.8).52 1928 wurde die Publikation von Fritz Giese ein zweites Mal aufgelegt. Umso erstaunlicher ist der Befund, dass sie in der Forschungsliteratur zur Geschichte des auto/biografischen Schreibens bisher nicht wahrgenommen wurde. Giese war von Pädagog/innen, Journalist/innen oder Seelsorgern mit Quellen versorgt worden, die sie auf verschiedene Weisen zusammengetragen hatten. Parallel dazu begannen im ersten Jahrzehnt nach 1900 Wissenschafter/innen selbst damit, Sammlungen von Texten von Jugendlichen anzulegen. In den Publikationen von Siegfried Bernfeld finden sich die Hinweise auf zwei Arbeiten, die bereits vor der Studie von Giese veröffentlicht wurden. Diese waren von dem Philosophen Adolf Dyroff (1866–1943) und dem Religionspädagogen Hans Schlemmer (1885–1958) vorgelegt worden. Und beide haben auch Editionen von Textauszügen enthalten: »Proben werden reichlich geboten«, wie Siegfried Bernfeld dies kommentierte.53 Dyroff war in Bonn als Universitätsprofessor etabliert. Die Texte, auf denen er sein Buch »Über das Seelenleben des Kindes« (Bonn 19041, 19112) aufgebaut hatte, hat er später Giese zur weiteren Verwendung in seiner Dissertation »überwiesen«,54 womit auch ein direkter Austausch von Quellen zwischen zwei Forschern belegt wäre.

50 Die zweite Ausgabe von Bühlers »Das Seelenleben des Jugendlichen« aus dem Jahr 1923 hatte einen Umfang von 210 Seiten, die Ausgaben von Sprangers »Psychologie des Jugendalters« aus den 1930er-Jahren kommen auf ca. 360 Seiten. In beiden Fällen sind allerdings keine Quellenzitate ediert. 51 Die Edition erfolgte ohne Angaben der Provenienzen der Texte. 52 Charlotte Bühler hat die Quellen von Fritz Giese u. a. zitiert in Charlotte Bühler: Die Schwärmerei als Phase der Reifezeit, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 100, 1926, S. 1–17. 53 Eine Darstellung der Materialsammlungen von Adolf Dyroff, Fritz Giese und weiterer früher Jugendforscher findet sich in Siegfried Bernfeld: Die psychologische Literatur über das dichterische Schaffen der Jugendlichen, Leipzig/Wien/Zürich 1924. Das Buch von Bernfeld wurde – wie ein großer Teil seiner Arbeiten – neu herausgegeben in der von Ulrich Herrmann edierten Reihe »Siegfried Bernfeld. Sämtliche Werke«, hier: Ulrich Herrmann (Hg.): Siegfried Bernfeld. Vom dichterischen Schaffen der Jugend (Sämtliche Werke, Bd. 6), Gießen 2014, S. 7– 16, S.11–15. Zu Hans Schlemmer siehe Dirk Menzel: Liberale Religionspädagogik und freier Protestantismus: das Beispiel Hans Schlemmer (1885–1958), München 2001. Informationen zu Dyroff und Schlemmer finden sich auch in Charlotte Bühler: Kindheit und Jugend. Genese des Bewußtseins, Leipzig 19313, S. 330. 54 Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, 1914, Bd. 1, S. VI.

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Das Archiv für Jugendkultur von Siegfried Bernfeld ab 1913 Fritz Giese ist in der aktuellen Forschungsliteratur bisher weitgehend unbekannt. Völlig anders verhält es sich mit Siegfried Bernfeld. Der Wiener Pädagoge und spätere Psychoanalytiker wird sowohl in Bezug auf die frühe Jugendforschung als auch in Bezug auf die frühe wissenschaftliche Beschäftigung mit Tagebüchern als einer der zentralen Akteure der Zwischenkriegszeit genannt. Dabei hat sich die Wahrnehmung von Bernfelds wissenschaftlicher Position im Laufe des 20. Jahrhunderts stark gewandelt. Auch er war lange Zeit nur eingeschränkt bekannt. Die Sozialforscher Christian Niemeyer und Marek Naumann haben diese Entwicklung in der Wahrnehmung mit der Beschreibung »Vom Außenseiter zum Idol des Mainstream« zusammengefasst.55 Mit Bernfelds wissenschaftlicher Arbeit und seiner Biografie haben sich u. a. der Sozialpsychologe Karl Fallend in Graz oder der bereits öfter zitierte Erziehungswissenschafter Peter Dudek in Frankfurt am Main ausführlich beschäftigt.56 Eine gesammelte Werkausgabe wird seit 1991 im Psychosozial-Verlag in Gießen u. a. von dem Tübinger Pädagogen Ulrich Herrmann herausgegeben. Bis 2020 sind elf Bände erschienen.57 In dieser Studie soll insbesondere Bernfelds Beschäftigung mit auto/biografischen Darstellungsformen Jugendlicher untersucht werden, wobei er sowohl als Theoretiker als auch als Sammler zu nennen ist. Seine wissenschaftlichen Texte liefern Fragestellungen und Ergebnisse, die aktuellen kulturwissenschaftlichen Herangehensweisen an das Thema auto/biografisches Schreiben erstaunlich nahestehen (→ Abschnitt 2.6).58 Siegfried Bernfeld war im großbürgerlichen Kontext einer Kaufmannsfamilie in Wien aufgewachsen. Noch als Gymnasiast wurde er hier in den frühen 1910erJahren in der sozialistisch-zionistischen Jugendbewegung aktiv. Er begründete verschiedene Initiativen und bekleidete Funktionen der liberalen und zionistischen jüdischen Wiener Jugendbewegung, beschäftigte sich aber immer auch theoretisch mit dem Thema Jugend. Seine 1915 an der Universität Wien verteidigte Dissertation trägt den Titel »Über den Begriff der Jugend«. In seiner For55 Christian Niemeyer und Marek Naumann: Siegfried Bernfeld (1892–1953). Vom Außenseiter zum Idol des Mainstream, in: Bernd Dollinger (Hg.): Klassiker der Pädagogik. Die Bildung der modernen Gesellschaft, Wien 2006, S. 265–286. 56 Siehe u. a. Karl Fallend und Johannes Reichmayr (Hg.): Siegfried Bernfeld oder die Grenzen der Psychoanalyse. Materialien zu Leben und Werk, Basel/Frankfurt am Main 1992; Peter Dudek: »Er war halt genialer als die anderen.« Biografische Annäherungen an Siegfried Bernfeld, Gießen 2012. 57 Angaben dazu finden sich auf der Website des Verlages unter: www.psychosozial-verlag.de/ca talog/autoren.php?author_id=2295. 58 Dazu insbesondere Siegfried Bernfeld: Trieb und Tradition im Jugendalter. Kulturpsychologische Studien an Tagebüchern, Leipzig 1931, in: Ulrich Herrmann (Hg.): Siegfried Bernfeld. Trieb und Tradition im Jugendalter (Sämtliche Werke, Bd. 7), Gießen 2015.

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schung nahm Bernfeld u. a. einen sozialistischen Blickwinkel ein und beschäftigte sich mit religions- und geschlechterspezifischen Fragenstellungen.59 Seinen empirischen Zugang fokussierte Bernfeld – auch – auf das »dichterische Schaffen der Jugendlichen«, worunter er alle Formen schriftlicher Selbstdarstellung fasste.60 Hervorhebenswert ist, dass Bernfeld sich dabei auch mit den Genres an sich beschäftigt und diese in einen historischen Kontext gestellt hat (→ Abschnitt 2.6).61 Als 21-jähriger Student veröffentlichte er 1913 seinen Plan eines Archivs für Jugendkultur.62 Ort der Veröffentlichung war die von ihm gegründete international herausgegebene »legendäre«63 Zeitung »Der Anfang«. Bernfeld legte hier jedenfalls ein ausformuliertes Konzept vor, in dem sowohl der Zweck und die Verwendungsmöglichkeiten als auch der Sammelfokus klar definiert waren. Dieser sollte etwa »Schilderungen, Drucksachen, Bildern oder Gegenständen« gelten, die das »Schulleben« dokumentieren. Weitere Interessensfelder waren die Jugendbewegung sowie »Dokumente für den Zustand des Familienlebens [und] des Internats- und Staatslebens, wie er sich in dem Geist der Jugend spiegelt.« Schließlich suchte Siegfried Bernfeld noch »Dokumente für die Sonderart des jugendlichen Trieb- und Geisteslebens (Briefe, Tagebücher, Produktionen jeder Art)«.64 Die Sammlung wurde vom Comité für Schulreform getragen und hatte eine Adresse in der Wiener Innenstadt. Das Comité für Schulreform war eine von Bernfeld 1912 konzipierte und 1914 von der Polizei wegen »gesetzwidriger, staats- und familiengefährdender Aktivitäten«65 wieder aufgelöste studentische 59 Zu Arbeiten von Siegfried Bernfeld mit geschlechtsspezifischen Fragestellungen u. a. ders.: Die neue Jugend und die Frauen, Wien/Leipzig 1914. Siehe dazu Eleonore Lappin: Befreiung der Jugend – Befreiung der Frauen. Siegfried Bernfeld und die Zeitschrift Der Anfang und Jerubbaal, in: dies. und Michael Nagel (Hg.): Frauen und Frauenbilder in der europäischjüdischen Presse von der Aufklärung bis 1945, Bremen 2007, S. 143–161. Zu Arbeiten mit religionsbezogenen Fragestellungen u. a. Siegfried Bernfeld: Das jüdische Volk und seine Jugend, Berlin/Wien/Leipzig 1919 sowie besonders Ulrich Herrmann, Werner Fölling und Maria Fölling-Albers (Hg.): Siegfried Bernfeld. Zionismus und Jugendkultur (Sämtliche Werke, Bd. 3), Gießen 2011. 60 Siegfried Bernfeld: Vom dichterischen Schaffen der Jugend. Neue Beiträge zur Jugendforschung, Leipzig/Wien/Zürich 1924, in: Herrmann: Siegfried Bernfeld (Sämtliche Werke, Bd. 6), 2014, S. 7–16. 61 Siegfried Bernfeld: Historische Jugendtagebücher, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung, Bd. 30, 1928, S. 174–179, in: Ulrich Herrmann (Hg.): Siegfried Bernfeld. Jugendbewegung – Jugendforschung (Sämtliche Werke, Bd. 2), Weinheim/ Basel 1994, S. 325–333. 62 Als Überblick dazu Peter Dudek: Fetisch Jugend. Walter Benjamin und Siegfried Bernfeld – Jugendprotest am Vorabend des Ersten Weltkrieges, Bad Heilbrunn 2002, S. 149–162. 63 Wissensportal Wikipedia (o. J.) unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Siegfried_Bernfeld. 64 Siegfried Bernfeld: Das Archiv für Jugendkultur, in: Der Anfang, Heft 1, 1913, S. 51–54, in: Herrmann: Siegfried Bernfeld (Sämtliche Werke, Bd. 2), 1994, S. 165–168, S. 165f. 65 Ulrich Herrmann: Editionsbericht, in: ders.: Siegfried Bernfeld (Sämtliche Werke, Bd. 2), 1994, S. 478–480.

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Gruppierung, der laut Bernfelds Angaben Studierende aus Berlin, Freiburg im Breisgau, Göttingen, Heidelberg, Jena, Leoben, München, Prag/Praha und Wien angehörten.66 Finanzielle Unterstützung erhielt der junge Aktivist dazu u. a. von dem Wiener ›Privatgelehrten‹, Schriftsteller und Aktivisten Rudolf Goldscheid (1870–1931)67, der u. a. den ersten Vorsitz in der 1907 gegründeten Wiener Soziologischen Gesellschaft bekleidet hatte.68 Das »wertvolle Material«, das im Archiv für Jugendkultur gesammelt werden sollte, würde nach Bernfelds Konzept dann einerseits in Jugendzeitschriften publiziert werden, andererseits könnten es die Mitglieder des Comités für Schulreform als Grundlage für Seminararbeiten oder Dissertationen verwenden. Und »zur gegebenen Zeit« sollte es dann zudem zu »wissenschaftlichen Zwecken« auch »allgemein benützbar«69 und »Gelehrten und Dissertanten für ihre Arbeit zur Verfügung gestellt werden«.70 Einer dieser »Gelehrten«, der die Wiener Sammlung dann auch nachweislich benützte, war – wie oben dargestellt – der Deutsche Fritz Giese.71 1914 konnte Siegfried Bernfeld auch in der »Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung« von seinem Vorhaben berichten. Die Zeitschrift wurde von William Stern und Otto Lippmann herausgegebenen und hatte großes Renommee in der Fachwelt. Für den Studenten Bernfeld war mit dieser Publikationsmöglichkeit also unbestreitbar eine Anerkennung seiner Aktivitäten verbunden. Dabei positionierte er das von Studierenden betriebene Archiv für Jugendkultur einerseits als Sammel-, andererseits als Forschungsort.72 Wie die Arbeit der Bewegung insgesamt wurde das Projekt dabei couragiert als »jugendliche Gegenöffentlichkeit«73 verstanden und positioniert. Die Gründung und Präsentation des Archivs für Jugendkultur lässt sich als durchaus selbstbewusste Handlung lesen, zumal der junge Initiator dabei angekündigt hat, die Ressourcen »zur gegebenen Zeit« auch »Gelehrten« zur Ver66 Siegfried Bernfeld: Ein Archiv für Jugendkultur, in: Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung, Bd. 8, 1914, S. 373–376, in: Herrmann (Hg.): Siegfried Bernfeld (Sämtliche Werke, Bd. 2), 1994, S. 166–173, S. 170f., FN 1. 67 Karl Fallend: Von der Jugendbewegung zur Psychoanalyse, in: ders. und Reichmayr: Siegfried Bernfeld oder die Grenzen der Psychoanalyse, 1992, S. 48–68, S. 51. 68 Zur politischen Arbeit von Rudolf Goldscheit siehe u. a. Christopher Treiblmayr: The Austrian League for Human Rights and its International Relations (1926–1938), in: Wolfgang Schmale und Christopher Treiblmayr (Hg.): Human Rights Leagues in Europe (1898–2016), Stuttgart 2017, S. 223–256. 69 Bernfeld: Ein Archiv für Jugendkultur, 1914 (1994), S. 172. 70 Ebd.: S. 165f. 71 Bernfeld: Vom dichterischen Schaffen der Jugend, 1924 (2014), S. 15; Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, Bd. 1, 1914, S. XII. 72 Bernfeld: Ein Archiv für Jugendkultur, 1914 (1994), S. 166–173. 73 Erik Adam: Siegfried Bernfeld und die Reformpädagogik. Eine kritische Rezeptionsgeschichte, in: Fallend und Reichmayr: Siegfried Bernfeld oder die Grenzen der Psychoanalyse, 1992, S. 91–106, S. 101.

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fügung zu stellen – womit er deutlich eine wissenschaftliche Relevanz für seine Unternehmung reklamierte. Dass einer solchen ›Selbstermächtigung‹ von Seiten des forschenden Establishments nicht nur mit Zustimmung begegnet wurde, geht aus der Passage hervor, mit der Bernfeld die Selbstdarstellung in der »Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung« 1914 beendet hat: »Zuletzt sei noch denen erwidert, die gegen die Zuständigkeit der Studenten etwas einwenden möchten.« Er erklärte im Folgenden u. a., dass diese »Studenten« einerseits einfach die Zeit hätten, sich der aufwändigen Tätigkeit des Sammelns zu widmen. Andererseits hob er hervor, dass sie Zugang zu »wertvolle[n] Dokumente[n hätten], die sonst unzugänglich und unbeachtet verloren gehen« würden. Er stellte hier also die Behauptung auf, dass junge Menschen unter sich wahrscheinlich mehr Möglichkeiten hätten, qualitätsvolles Material zu sammeln, als die älteren »Gelehrten« selbst.74 Die Quellen wurden schließlich auch von den international vernetzten Leser/innen der jugendbewegten Zeitschriften aus Österreich-Ungarn und Deutschland zur Verfügung gestellt bzw. vermittelt.75 Der spätere Philosoph Walter Benjamin (1892–1940) aus Berlin, ein enger Freund von Bernfeld und der jüngere Cousin von Clara Stern, William Sterns Ehefrau (→ Abschnitt 1.6), beteiligte sich dabei ebenso am Aufbau des selbstgestalteten ›Wissensorts‹ wie der Reformpädagoge Gustav Wyneken (1875–1964). Er war eine der bekanntesten Persönlichkeiten der damaligen Jugendbewegungen – und Walter Benjamins Lehrer.

Der Bestand des Archivs für Jugendkultur In späteren Publikationen konnte Siegfried Bernfeld dann tatsächlich vom steten Wachsen des Bestandes berichten. 1916 wurde eine Sammlung von 300 Schüler/ innenzeitungen vermeldet,76 1924 gab er an, das »Archiv« habe »derzeit einen Umfang von etwa 60.000 Nummern, ein schwaches Drittel ungefähr sind dichterische Produktionen Jugendlicher«.77 Zur genauen Zusammensetzung des Bestandes lassen sich keine weiteren Angaben recherchieren, auch ist nicht klar, ab wann und in welchem konkreten Umfang Bernfeld Tagebuchaufzeichnungen übernommen hat. In »Trieb und Tradition im Jugendalter« (1931) zitierte er

74 75 76 77

Bernfeld: Ein Archiv für Jugendkultur, 1914 (1994), S. 172f. Dudek: Fetisch Jugend, 2002, S. 156–159. Ebd.: S. 155. Bernfeld: Die psychologische Literatur über das dichterische Schaffen der Jugendlichen, 1924 (2014), S. 10f. Aus welchen Texten oder Gegenständen sich die anderen zwei Drittel der durchaus hohen Zahl von Quellen zusammengesetzt haben, lässt Bernfeld offen.

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jedenfalls 25 Tagebuch- und Briefschreiber/innen.78 Der Studie angefügt sind als Editionen Auszüge aus zwei Tagebüchern. Das eine wurde von »Elsie« bzw. »Elise« zwischen 1924 und 1926 im Alter von 13 bis 15 Jahren geführt. Die Edition umfasst 19 Druckseiten.79 Das andere ist ein »briefartige[s] Tagebuch« von »Fritz« von 1923 und 1924. Die Aufzeichnungen des 19-Jährigen werden auf 8 Druckseiten wiedergegeben. Die 1913 und 1914 veröffentlichte ausführliche Beschreibung und klare Definition des Vorhabens unterscheidet das Sammlungsprojekt von Siegfried Bernfeld deutlich von allen anderen zeitgenössischen Initiativen. Meiner Interpretation nach kann das in der Position als studentische Unternehmung gelegen haben, die sich gegenüber den Projekten von institutionell angebundenen Wissenschafter/innen erst behaupten musste, wobei Siegfried Bernfeld mit William Stern einen gewichtigen Unterstützer hatte, der den »jungen Wilden« aus Wien stark förderte.80 Als etablierte Wissenschafter, die zur selben Zeit ebenfalls (mit jeweils unterschiedlichem organisatorischen Hintergrund) eine Sammlung von Texten von Jugendlichen zusammengetragen haben sollen, nannte Siegfried Bernfeld in der Publikation von 192481 neben Stern und Giese die Pädagogen Aloys Fischer (1880–1937) in München sowie Otto Bobertag (1879–1934) in Breslau und Berlin.82 Ein Forscher namens Emil Fischer soll ein entsprechendes Vorhaben bereits 1906 zumindest formuliert haben.83 Wie Bernfeld anmerkte, dürfte die Form der konkreten Umsetzung dieser Sammelprojekte Einzelner für Außenstehende mitunter nebulös geblieben sein: »Welchen Erfolg diese Sammelversuche hatten, darüber fehlen Mitteilungen, doch waren Materialien dieser Art auf einigen Kongressen ausgestellt.« Während Bernfeld sein Sammelprojekt öffentlich betrieb und daran auch wissenschaftspolitische Implikationen knüpfte, führten andere ihre Quellenbestände offenbar als persönliche, nicht weiter ausgewiesene 78 Sieben davon waren Mädchen, 16 Burschen, bei den Pseudonymen »B« und »Maier« ist eine Geschlechtszuordnung nicht möglich. Bernfeld: Trieb und Tradition im Jugendalter, 1931 (2015), S. 213. Siegfried Bernfeld hat (vermutlich) auch seine eigenen Tagebücher in die Analyse mit einbezogen. Hinweise dazu finden sich in Bernfeld: Trieb und Tradition im Jugendalter, 1931 (2015), S. 18. 79 Die Angaben zu dem Vornamen der Schreiberin changieren – was ein Hinwies auf die Pseudonymisierung ist. Bernfeld: Trieb und Tradition im Jugendalter, 1931, S. 20, S. 145. Vgl. dazu auch das Pseudonym der Schreiberin eines Tagebuchs aus der Sammlung der Forschungsgruppe von Charlotte Bühler, das in einer Bestandsliste mit »Fanny Röhl« und am wiedergefundenen Manuskript mit »Fanny Römer« angegeben ist (→ Abschnitt 2.9). 80 Ulrich Herrmann: Nachwort. Siegfried Bernfeld als Historiker, in: ders.: Siegfried Bernfeld (Sämtliche Werke, Bd. 7), 2015, S. 217–244, S. 221. 81 Bernfeld: Die psychologische Literatur über das dichterische Schaffen der Jugendlichen, 1924 (2014), S. 10. 82 Dazu der Eintrag in »Dorsch. Lexikon der Psychologie« (o. J.) unter: https://portal.hogrefe. com/dorsch/bobertag-otto. 83 Weiterführende Angaben zu Emil Fischer ließen sich bisher nicht ermitteln.

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Datenbasis, was ja auch der herkömmlichen Forschungspraxis entsprach. An tatsächlich bestehenden und auch zugänglichen Institutionen, die mittlerweile im »Besitz von Materialien der in Rede stehenden Art« seien, nannte Bernfeld 1924 neben dem Institut für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung (William Stern und Otto Lippmann) weiters das Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin (Otto Bobertag) sowie das Institut für Kinderforschung in Budapest.84 Die Sammlung von Selbstzeugnissen, die Charlotte Bühler und ihre Kolleg/innen seit den frühen 1920er-Jahren am Psychologischen Institut in Wien aufbauten, erwähnte Bernfeld in dieser Publikation nicht. Was der Grund dafür war, sei hier dahingestellt. An diese Beobachtung kann aber die Vermutung geknüpft werden, dass es womöglich auch noch weitere Institutionen oder Initiativen gab, die in der ersten Hälfte der 1920er-Jahre auto/ biografische und andere Dokumentationen von Jugendlichen gesammelt haben, die Bernfeld in seiner Darstellung aber nicht dokumentieren wollte. Zusammenfassend lässt sich jedenfalls feststellen: Auto/biografische Texte von Jugendlichen wurden ab dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts an so unterschiedlichen Stellen wie dem außeruniversitären Institut für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung in Potsdam-Kleinglienicke, dem aktivistischen Archiv für Jugendkultur und später am universitär verankerten Psychologischen Institut in Wien nicht nur beforscht – es wurden auch systematisch Sammlungen davon angelegt, um sie für zukünftige wissenschaftliche Auswertungen zu Verfügung zu stellen. Wie es für Dyroff und Giese belegt ist, haben Forscher/innen ihre eigenen Quellensammlungen zudem untereinander ausgetauscht und weitergegeben. Beides unterscheidet sich wesentlich von den bisherigen Praktiken in der Kleinkinderforschung. Dort war es zu keinen kollektiven Sammelaktivitäten gekommen. Jeder Forscher arbeitete für sich. Durch die zugänglichen Quellensammlungen mussten die Wissenschafter/innen ihren jeweils eigenen Korpus nicht mehr ausschließlich selbst aufbauen. Das hat die Jugendforschung nach meinem Dafürhalten extrem befördert. Zudem wurden dadurch die Ergebnisse transparenter und konnten besser nachgeprüft werden. Das hat einerseits die fachliche Diskussion angeregt, andererseits vermutlich auch den Gehalt der Ergebnisse gesteigert.

84 Bernfeld: Die psychologische Literatur über das dichterische Schaffen der Jugendlichen, 1924 (2014), S. 11. Ausführliche Informationen zu den verschiedenen internationalen Institutionen finden sich in Hopf: Die experimentelle Pädagogik, 2004, S. 85f.

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Selbstdokumentationen der Jugendbewegungen ab 1922 Siegfried Bernfelds Forschungsprojekte waren (u. a.) durch seine Betätigung in der bürgerlichen Jugendbewegung geprägt. Er war hier auch als Erwachsener Aktivist.85 Die beiden Bereiche haben sich für Bernfeld überschnitten, was er mit mehreren prominenten Akteur/innen der Jugendforschung gemeinsam hatte, die ebenfalls Aktivist/innen in diesem Bewegungskontext waren. Solche personellen Überschneidungen sind in allen ideologischen ›Flügeln‹ zu finden. Im links-liberalen Spektrum waren neben Bernfeld etwa Clara und William Sterns Kinder Hilde, Günther und Eva Stern sowie ihre Cousine Dora Benjamin (1901– 1946) und ihr Cousin Walter Benjamin aktiv (→ Abschnitt 1.6).86 Adolf Busemann (1887–1967), der als Tagebuchforscher in der von Charlotte Bühler herausgegebenen Reihe »Quellen und Studien zur Jugendkunde« publizierte, engagierte sich noch als Erwachsener in der christlichen Pfadfinderverbindung »St. Georg« im norddeutschen Greifswald.87 Der kontroversiell diskutierte Theoretiker Hans Blüher (1888–1955) war wiederum einer der bekanntesten ›Wandervögel‹.88 Ähnlich wie die Vertreter/innen der verschiedenen Flügel der Jugendbewegungen nützte auch die Arbeiter/innenbewegung verschiedene Publikationsformate der auto/biografisch gefärbten Selbstdokumentation. Die zugrundeliegenden Absichten waren dabei allerdings sehr verschieden, wie auch die darin dokumentierten Personen. Die Arbeiter/innenbewegung hatte bereits in den 85 Die bürgerliche Jugendbewegung entwickelte sich um 1900 als Teile der bürgerlichen Reformbewegung. Als Initialereignis wird die mit 1896 datierte Formierung einer Wandergruppe in einem Gymnasium in Berlin-Steglitz genannt. Zu Beginn war an diesen Unternehmungen lediglich eine Handvoll städtischer Burschen beteiligt. Die Partizipation steigerte sich in Deutschland und Österreich-Ungarn rasant. Bis zum Ersten Weltkrieg wurden von Glaubensgemeinschaften, Parteien, Gewerkschaften oder ›Landsmannschaften‹ Jugendgruppen initiiert. 1926 sollen in Deutschland von 9 Millionen ›junger Menschen‹ 4,3 Millionen einer der Jugendorganisationen angehört haben. Die Zahlen sind entnommen aus Marion E. P. de Ras: Body, Femininity and Nationalism. Girls in the German Youth Movement 1900–1934, New York/London 2008, S. 3. Zu Österreich liegen mir derzeit keine entsprechenden Zahlen vor. Zu weiteren ›Flügeln‹ bzw. zu den Geschlechterverhältnissen in den Jugendbewegungen siehe u. a. Jürgen Reulecke: »Ich möchte einer werden so wie die…«. Männerbünde im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York 2001; Anke M. Melchior: Politische Partizipation von Ma¨ dchen und jungen Frauen in Jugendverba¨ nden, Wiesbaden 2001; Antje Vollmer: Die Neuwerkbewegung. Zwischen Jugendbewegung und religiösem Sozialismus, Freiburg im Breisgau 2016. 86 Dudek: Fetisch Jugend, 2002. 87 Wissensportal Wikipedia (o. J.) unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_Busemann_(Psy chologe). 88 Julius H. Schoeps: Sexualität, Erotik und Männerbund. Hans Blüher und die deutsche Jugendbewegung, in: Joachim H. Knoll und Julius H. Schoeps (Hg.): Typisch deutsch: Die Jugendbewegung. Beiträge zu einer Phänomengeschichte, Wiesbaden 1987, S. 137–154.

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1890er-Jahren lebensgeschichtliche Darstellungen von Aktivist/innen veröffentlicht. Diese sollten hauptsächlich zur Agitation innerhalb der eigenen politischen Zusammenhänge dienen – und sie stammten fast ausschließlich von bekannten Persönlichkeiten aus den sozialistischen/sozialdemokratischen Organisationen. Die Texte wurden innerhalb der proletarischen Bewegung breit rezipiert. Als wissenschaftliche Quellen wurden sie aber (noch) nicht herangezogen (→ Abschnitt 3.5).89 Eine bemerkenswerte Zusammenstellung von auto/ biografischen Selbstdarstellungen von Proletarierinnen aus den 1920er-Jahren enthält die Textsammlung »Mein Arbeitstag – mein Wochenende«.90 Sie war das Ergebnis von einem Schreibaufruf, den die »Arbeiterinnensekretärinnen« des Deutschen Textilarbeiter-Verbands (DTAV) 1928 unter ihren Mitgliedern lanciert hatten. 1930 wurden 150 Texte veröffentlicht, die auf diesen Aufruf hin eingereicht worden waren. Verfasst hatten sie allesamt Frauen, die ihren Lebensunterhalt als Akkordarbeiterinnen in der Textilindustrie verdient haben.91 Auch »Mein Arbeitstag – mein Wochenende« war vor allem zur politischen Agitation gedacht, nicht als Quelle für die Forschung. Die bürgerlichen Jugendbewegungen machten es zur selben Zeit genau umgekehrt. Die Selbstdokumentation fand hier insbesondere in Form einer Selbsterforschung statt – die dabei sehr rege betrieben wurde: Das umfangreiche Literaturverzeichnis der Studie »Jugend als Objekt der Wissenschaften« (1990) von Peter Dudek enthält Hinweise auf 71 Forschungsarbeiten, die bis in die späten 1930er-Jahre zum Thema »Jugendbewegung« erschienen sind. Der Brennpunkt des Interesses lag dabei eindeutig auf der ›Bündischen Jugend‹. Bezüge zur proletarischen Bewegung wurden in diesen Titeln nur sechsmal hergestellt.92 Ihre politische Arbeit nahmen die jugendbewegten Autor/innen mitunter auch als Grundlage bzw. als Legitimation ihrer fachlichen Expertise. Die Dissertation von Viktor Winkler-Hermaden (1927) behandelt das Thema »Psychologie des Jugendführers« und beginnt mit der folgenden Erklärung: »Die vorliegende Schrift ist aus den Erfahrungen hervorgegangen, die ich im Laufe einer vieljährigen Führertätigkeit im Kreis der Jugend gesammelt habe.« Neben 89 Bisher konnte ich eine einzige Arbeit recherchieren, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wissenschaftlich mit »Arbeiter/innenmemoiren« auseinandergesetzt hat: Adelbert Koch: Arbeitermemoiren als sozialwissenschaftliche Erkenntnisquelle, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Jg. 23, 1926, S. 128–167, zitiert nach Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 393. 90 Deutscher Textilarbeiter-Verband (DTAV), Arbeiterinnensekretariat (Hg.): Mein Arbeitstag – Mein Wochenende. 150 Berichte von Textilarbeiterinnen, (Berlin 19301) Hamburg 1991. 91 Li Gerhalter: Tagebücher als Quellen. Diaristische Aufzeichnungen als Forschungs- und Sammlungsgegenstände in den Sozialwissenschaften bis in die 1930er-Jahre und in den Geschichtswissenschaften ab den 1980er-Jahren, Dissertation, Wien 2017, S. 56–72. 92 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 379–401. Auswertungen dieser Literaturliste werden in den → Abschnitten 2.7 und 2.8 unternommen.

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seinen »Beobachtungen« und der »Rücksprache mit anderen Führern«, also seinen persönlichen Kontakten, verwendete Winkler-Hermaden zur Datenerhebung des Weiteren umfangreiche Fragebögen.93 Zu betonen ist hier zudem die Zielgerichtetheit, mit der die Selbstdokumentation innerhalb der bürgerlichen Jugendbewegungen verfolgt wurde. Abgesehen von den Aktivitäten einzelner Akteur/innen (wie etwa von Siegfried Bernfeld) hat auch ›die Bewegung‹ selbst schon früh eine systematische Selbsthistorisierung verfolgt und sogar zentral institutionalisiert. Das gilt zumindest für Deutschland, von wo diese Form der Organisierung ja auch ausgegangen ist.94 Das Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein bei Witzenhausen an der Werra in Hessen wurde bereits 1922 als Reichsarchiv der deutschen Jugendbewegung gegründet.95 Das bis dahin gesammelte Archivmaterial wurde 1941 beschlagnahmt und ist seit damals verschollen. Der Bestand wurde nach 1945 neu aufgebaut und umfasst heute neben umfangreichen Vereinsunterlagen der verschiedensten Jugendgruppen in den Nachlässen zahlreicher Aktivist/innen bzw. Mitglieder aus Deutschland, Österreich und der Schweiz auch auto/biografische Dokumente.96 Neben einem enorm umfangreichen Bestand von Fotografien sind das Korrespondenzen, kollektive oder individuell geführte Tagebücher sowie Kriegserinnerungen.97 Das Gewicht, das die verschiedenen Organisationen der Jugendbewegungen als außeruniversitärer Kontext für die frühe Jugendforschung gehabt haben 93 Viktor Winkler-Hermaden: Psychologie des Jugendführers (Quellen und Studien zur Jugendkunde, Bd. 6), Jena 1927, S. 1. Informationen zum persönlichen Hintergrund von Viktor Winkler-Hermaden liegen derzeit nicht vor. Das Vorwort ist mit »Wien« ausgewiesen und er dankte darin Charlotte Bühler, der Herausgeberin der Buchreihe, für die »Anregung zur Niederschrift« sowie »wertvolle[…] Ratschläge[…]«. Als Betreuerin seiner Arbeit benannte er sie aber nicht. Möglicherweise war der formale Betreuer ihr Ehemann Karl Bühler (→ Abschnitt 2.4). 94 Siehe dazu die Beiträge in Eckart Conze und Susanne Rappe-Weber (Hg.): Die deutsche Jugendbewegung. Historisierung und Selbsthistorisierung nach 1945 (Jugendbewegung und Jugendkulturen, Bd. 14), Göttingen 2018. 95 Siehe dazu die Selbstdarstellung der jetzt so bezeichneten »Jugendburg Ludwigstein«: www.burg-ludwigstein.de/archive/das-archiv-der-deutschen-jugendbewegung. Aktuell ist das Archiv eine gemeinsame Einrichtung des Hessischen Staatsarchivs Marburg und der Stiftung »Jugendburg Ludwigstein und Archiv der deutschen Jugendbewegung«. 96 Der Bestand enthält derzeit (2020) die Nachlässe von 210 Personen, darunter um die 170.000 Fotografien und 600 Fotoalben. Die Bestände können grob online recherchiert werden unter: www.archiv-jugendbewegung.de. Danke an Susanne Rappe-Weber vom Archiv der deutschen Jugendbewegung für grundlegende Informationen zum Bestand per E-Mail am 9. Februar 2017. 97 Wissenschaftliche Auswertungen finden sich u. a. in Daniela Müller: Jugendbewegte Intimitäten. Die Jugendkulturbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Dissertation, Berlin 2019 und in Barbara Stambolis und Markus Köster (Hg.): Jugend im Fokus von Film und Fotografie. Zur visuellen Geschichte von Jugendkulturen im 20. Jahrhundert (Jahrbuch Jugendbewegung und Jugendkulturen, Bd. 12), Göttingen 2016.

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könnten, wurde und wird in der Forschungsliteratur unterschiedlich eingeschätzt. Während Peter Dudek in seiner wissenschaftshistorischen Darstellung die zentrale Rolle der Bewegung für die Jugendforschung betonte, ging Helmut Fend nicht ausführlicher drauf ein.98 Auch in den zeitgenössischen ›Überblicksdarstellungen‹ wurde das Thema nicht einheitlich eingeschätzt. Eduard Spranger beschäftigte sich unter dem Titel »Der Jugendliche und die Politik« in einem ganzen Kapitel damit, Charlotte Bühler äußerte sich hingegen nur auf zweieinhalb Seiten dazu.99 Offenbar konnte sie das Thema aber auch nicht ganz ausklammern, was in der insgesamt nicht an strukturellen Leitlinien orientierten Darstellung von Bühler bereits als gewisse Anerkennung gewertet werden kann. Anhand ihrer ungleichen Bezugnahmen auf das Thema Jugendbewegung lässt sich auch der jeweils verschiedene theoretische Zugang gut zeigen, den Bühler und Spranger zu ihrem Fach Psychologie vertraten: Bühler gilt als Vertreterin der ›naturwissenschaftlichen Schule‹, Spranger wird zur ›geisteswissenschaftlichen‹ Richtung gezählt.100 Die Unterschiede müssen hier nicht weiter ausgeführt werden, da sie in der fachspezifischen Forschungsliteratur aber als gängige Zuordnungen vorkommen, sollen sie in dieser Studie zumindest einmal genannt worden sein. Im Vorwort der 16. Auflage seiner Publikation stellte Spranger 1932 die Verbindung zwischen seiner Arbeit und der Jugendbewegung schließlich selbst her: Eine »geisteswissenschaftlich gerichtete Psychologie vermag gemäß ihren Grundsätzen nicht völlig von der Gesamtlage der Kultur zu abstrahieren, unter deren Zeichen die Einzelseele ihre Gestalt empfängt. So ist es denn kein Zufall, daß in die Darstellung manche Züge eingeflossen sind, die für die zur Zeit ihrer Entstehung blühende ›eigentliche‹ Jugendbewegungsgeneration charakteristisch waren; in ihr traten ja die seelischen Grundzüge der Pubertät besonders stark betont hervor.«101 Mit anderen Worten ausgedrückt deklarierte Spranger seine Darstellung hier als Beschreibung der »Jugendbewegungsgeneration«, die er damit gleichzeitig manifestierte (→ Abschnitt 2.7). Um aber die Klammer zu den auto/biografischen Dokumenten in der jugendpsychologischen Forschung der Zwischenkriegszeit hier wieder zu schließen: Wie wurden Tagebücher (und andere Selbstzeugnisse) als Quellen in diesen Studien verwendet?

98 Dazu u. a. Dudek: Fetisch Jugend, 2002. 99 Spranger: Psychologie des Jugendalters, 193517, S. 212–229; Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, Stuttgart 19676, 169–171. 100 Dazu ausführlich Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 189–197. 101 Spranger: Psychologie des Jugendalters, 193517, o. S. (Vorwort).

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2.3) Zwei jugendpsychologische ›Standardwerke‹ auf der Grundlage von Tagebüchern: Eduard Spranger und Charlotte Bühler In der Forschungsliteratur wird rundweg darauf verwiesen, dass Tagebücher in der Zwischenkriegszeit »eine der Hauptquellen für die Untersuchung der seelischen Entwicklung von Jugendlichen« gewesen seien.102 Aus dem bisher Dargestellten lässt sich die Verwendung von diaristischen Aufzeichnungen als Quellen auch bestätigen. Wie im Folgenden kurz skizziert werden soll, war die Auswertung von Tagebüchern – oder anderen auto/biografischen Formaten – aber nicht die einzige zeitgenössisch verwendete Methode.103 Die knappe Darstellung weiterer Quellen und Methoden ist einerseits der Vollständigkeit halber angebracht. Vor allem soll sie andererseits der Kontextualisierung der Quelle Tagebuch innerhalb der jugendpsychologischen Forschung dienen, um ihre Verwendung hier auch in einen größeren Zusammenhang einordnen zu können. Gleich vorab kann zusammenfassend festgestellt werden, dass der »Mainstream«104 der Jugendforschung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts naturwissenschaftlich-biologistisch fundierte Auslegungen favorisierte und dabei qualitative Methoden verwendet hat. Wie die damaligen Sozialwissenschaften insgesamt, war aber auch die Jugendforschung ab 1900 von einer breiten Methodenvielfalt gekennzeichnet. Zudem haben die Forscher/innen häufig innerhalb einzelner Projekte gleichzeitig verschiedene Datenerhebungsmöglichkeiten angewandt. Ein Beispiel dafür ist die Studie »Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit«. Die 1933 veröffentlichte Arbeit wurde im Umfeld der Forschungsgruppe von Karl und Charlotte Bühler durchgeführt (→ Abschnitt 2.4) und ist eine der bekanntesten empirisch-sozialwissenschaftlichen Publikationen der Zwischenkriegszeit. An der Durchführung dieser Untersuchungen in der Textilarbeiter/ innen-Wohnsiedlung »Marienthal« in der Ortschaft Gramatneusiedl im Bezirk Bruck an der Leitha in Niederösterreich war eine großes Team beteiligt: Neben den jungen Autor/innen Marie Jahoda (1907–2001), Paul F. Lazarsfeld (1901– 1976) und Hans Zeisel (1905–1992) waren das weitere zehn Wissenschafter/innen 102 Petra Stach: Das Seelenleben junger Mädchen. Zwei Tagebücher der Jahrhundertwende in der Kontroverse zwischen Psychoanalyse und Psychologie, in: Psychologie und Geschichte, Jg. 5, 1994, Heft 3–4, S. 183–207, S. 183. 103 Als Überblick zu dem methodischen und theoretischen Hintergrund der sozialwissenschaftlichen Forschung in der Zwischenkriegszeit siehe zuletzt Meinrad Ziegler: Die Dissertation von Marie Jahoda, in: Johann Bacher, Waltraud Kannonier-Finster und Meinrad Ziegler (Hg.): Marie Jahoda. Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850– 1930. Dissertation 1932, Innsbruck/Wien/Bozen 2017, S. 167–214. 104 Krüger und Grunert: Handbuch Kindheits- und Jugendforschung, 2002, S. 14.

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aus ihrer Forschungsgruppe und eine unbekannte Zahl studentischer Hilfskräfte.105 Sie haben dabei ein ganzes Bündel an Methoden und Strategien der Datenerhebung angewendet,106 was auch als eines der Merkmale der berühmten Studie gilt: Bei Besuchen in den Familien, in Sprechstunden von Ärzten oder bei einem eigens angebotenen Schnittzeichen- und »Mädchenturnkurs« wurde die Methode »Teilnehmende Beobachtung« angewendet. »Expertenbefragungen« richteten sich an »Lehrer, Pfarrer, Bürgermeister, Ärzte, Geschäftsleute, Vereinsfunktionäre«, in der »Direkte[n] Befragung« sollten »Lebensgeschichten« erhoben werden. Es wurden »Tests« unternommen wie etwa eine Messung der Gehgeschwindigkeiten, die ein verändertes Zeitempfinden als Folge der Langzeitarbeitslosigkeit zeigen sollte. »Amtliche Statistiken und Dokumente« wurden ausgewertet und auch schriftliche Aufzeichnungen der Proband/innen. Einerseits wurden diese Aufzeichnungen im Rahmen der Studie initiiert.107 Andererseits wurden auch verschiedene vorgefundene Materialien wie »Geschäftsbücher« oder Aufzeichnungen über den Besuch der Bibliothek – und ein einzelnes Tagebuch – ausgewertet. In diesem Zusammenhang wurde in der Fachliteratur nachträglich herausgestrichen, dass sich die Forscher/innen hier insbesondere »den ›Bedürfnissen‹ der Beforschten unter[geordnet]« haben,108 was ich an anderer Stelle kritisch reflektieren konnte.109 Immerhin machte das Papier mit den schließlich zusammengetragenen Daten und Quellen kolportierte »ca. 30 kg« aus.110 Zwar war die Studie »Die Arbeitslosen von Marienthal« kein dezidiert jugendpsychologisches Projekt, es zeigt aber exemplarisch den Ideenreichtum, der innerhalb der Forschungskontexte umgesetzt wurde, innerhalb der auch die Jugendforschung der Zwischenkriegszeit stattgefunden hat. 105 Marie Jahoda, Paul F. Lazarsfeld und Hans Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Mit einem Anhang zur Geschichte der Soziographie, (Leipzig 19331) Frankfurt am Main 1975. Zu den Forschungsschwerpunkten von Marie Jahoda und Paul F. Larzasfeld (→ Abschnitte 1.6 und 2.4) siehe zuletzt Christian Fleck: Marie Jahoda – ein Portrait, in: Bacher, Kannonier-Finster und Ziegler: Marie Jahoda, 2017, S. 267–362 sowie Brigitte Bauer: Marie Jahoda: Die Utopie einer gerechteren Welt, in: Sibylle Volkmann-Raue und Helmut E. Lück (Hg.): Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 20112, S. 247–262. 106 Siehe dazu die Aufstellung in Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal, 1975, S. 26–28. Weiterführend auch Christian Fleck: Rund um »Marienthal«. Von den Anfängen der Soziologie in Österreich bis zu ihrer Vertreibung, Wien 1990, S. 173 und die Angaben auf dem Portal Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich (o. J.): http://agso.uni-graz.at/marienthal/studie/00.htm#auswertung. 107 Es wurde z. B. ein Aufsatzwettbewerb unter Jugendlichen mit dem Thema »Wie stelle ich mir meine Zukunft vor?« organisiert. In der Volks- und Hauptschule wurden Aufsätze aufgegeben zu Themen wie »Mein Lieblingswunsch?«, »Was will ich werden?« oder »Was ich mir zu Weihnachten wünsche?«. 108 Fleck: Rund um »Marienthal«, S. 172f. 109 Gerhalter: Tagebücher als Quellen, 2017, S. 48–51. 110 Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal, 1975, S. 144.

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Das »Krisenalter Jugend«111 als bürgerliches Problem: Methoden, Quellen und ein zeitgenössisch vieldiskutiertes Thema Dass sich die Methoden der Jugendkunde von jenen der Säuglings- und Kleinkindheitsforschung unterschieden haben, liegt auf der Hand. Im Gegensatz zu Säuglingen können Jugendliche selbst befragt werden – und sie lassen sich wohl auch kaum in langfristige passive Beobachtungssituationen involvieren, wie sie etwa Clara Stern bei ihren drei kleinen Kindern beschrieben hat (→ Abschnitt 1.6). Dennoch kamen auch in der Jugendforschung verschiedene Formen der Fremdbeobachtung zum Einsatz. Experimentverfahren wurden etwa bei ›Intelligenz-‹ oder ›Berufseignungstests‹ eingesetzt, die im Rahmen von bildungspolitischen Reformen oder in der Berufsberatung direkt praktisch angewendet wurden.112 Vereinzelt wurde auch investigativ vorgegangen. So mischte sich etwa die in der Arbeiter/innenbewegung engagierte Rosa Kempf (1874–1948) aus Bayern um 1910 für ihr Dissertationsprojekt »Das Leben der jungen Fabrikmädchen in München« im Auftrag des Vereins für Socialpolitik für zwei Wochen inkognito unter Industriearbeiterinnen.113 Weitere Möglichkeiten der Fremdbeobachtung waren statistische Erhebungen. Z. B. hat der Berliner Arzt und Sexualforscher Albert Eulenburg (1840–1917) für seine Studie zum Thema Selbstmord von Schüler/innen 1909 die Akten des Preußischen Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinangelegenheit ausgewertet.114 Er beteiligte sich damit an einer zu Beginn des 20. Jahrhunderts hitzig geführten Diskussion, die sowohl von der Wissenschaft und der

111 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 73. 112 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 190, S. 193. Der Begriff »Intelligenzquotient« bzw. »IQ« geht auf William Stern zurück. Erstmals publiziert in William Stern: Die psychologischen Methoden der Intelligenzprüfung und deren Anwendung an Schulkindern, Leipzig 1912 (→ Abschnitt 1.6). Zu Berufsberatungsstellen im frühen 20. Jahrhundert in Österreich siehe Irina Vana, Mathias Krempl und Johannes Thaler (Hg.): »Eingereiht in die große Schlange…« Verwaltung von Arbeitslosen und Arbeitssuchenden am öffentlichen Arbeitsamt (Österreich 1918–1934), Göttingen 2017. Zur Schweiz siehe Céline Angehrn: Arbeit am Beruf. Feminismus und Berufsberatung im 20. Jahrhundert. Basel 2019. 113 Rosa Kempf: Das Leben der jungen Fabrikmädchen in München. Die soziale und wirtschaftliche Lage ihrer Familie, ihr Berufsleben und ihre persönlichen Verhältnisse. Nach statistischen Erhebungen dargestellt an der Lage von 270 Fabrikarbeiterinnen im Alter von 14 bis 18 Jahren, Leipzig 1911. Dazu auch Manfred Berger: Wer war … Rosa Kempf ?, in: Sozialmagazin. Die Zeitschrift für soziale Arbeit, Jg. 26, 2000, Heft 3, S. 6–8; Irmgard Weyrather: Die Frau am Fließband. Das Bild der Fabrikarbeiterin in der Sozialforschung 1870– 1985, Frankfurt am Main 2003, S. 54–57; Gerhalter: Tagebücher als Quellen, 2017, S. 46–56. 114 Albert Eulenburg: Schülerselbstmorde. Vortrag gehalten vor der gemeinnützigen Gesellschaft zu Leipzig am 16. März 1909, Leipzig/Berlin 1909.

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Politik als auch in der Literatur geführt wurde.115 Das Thema wurde sogar vom Preußischen Abgeordnetenhaus aufgegriffen, ein transnationales Diskussionsforum bot sich schließlich am Kongress »Über den Selbstmord insbesondere den Schüler-Selbstmord«, der 1910 vom Wiener Psychoanalytischen Verein ausgerichtet wurde. Redebeiträge lieferten dabei u. a. die Vereinsmitglieder Sigmund Freud (1856–1939), Alfred Adler (1870–1937) und Josef Breuer (1842–1925).116 Albert Eulenburg widerlegte in seiner auf den Ministerialakten aufgebauten Veröffentlichung jedenfalls die auch heute in der Forschungsliteratur noch vielzitierte Einschätzung des Reformpädagogen Ludwig Gurlitt (1855–1931), der 1908 oder 1909 ausgesagt hatte, bei den von Suizid betroffenen Jugendlichen handelte »es sich nicht um Proletenkinder, die Hunger und elterliche Rohheit in den Tod trieben, sondern um die Söhne ›guter‹ Familien, um junge Leute, denen Böses auch nicht nachzusagen war«.117 Eulenburg kam seinerseits zum Ergebnis, dass von den 1.258 Schüler/innen, die zwischen 1880 und 1905 in Preußen Selbstmord verübt hatten, nur 365 eine höhere Schule besucht hatten. Der Großteil waren stattdessen Grundschüler/innen oder erwerbstätige Jugendliche, die entsprechend eher nicht den ›guten‹, also den sozial bessergestellten Familien zuzurechnen waren.118 Das Thema Schüler/innenselbstmord wurde in der öffentlichen Wahrnehmung aber primär den bürgerlichen Jugendlichen zugeschrieben und somit eindeutig sozial markiert. Wie das Zitat der »Söhne ›guter‹ Familien« zeigt, fand die Thematisierung der Schüler/innenselbstmorde zudem innerhalb einer klar erkennbaren »biopolitischen Rahmung« statt, wobei davon ausgegangen wurde, dass Burschen bzw. Männer häufiger Selbstmord verüben würden als Mädchen bzw. Frauen, wie die Historikerin Michaela Maria Hintermayer dargelegt hat.119 115 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 68. Dazu zuletzt Michaela Maria Hintermayr: Suizid und Geschlecht in der Moderne. Wissenschaft, Medien und Individuum (Österreich 1870–1970), Oldenbourg 2021 [in Druck]. Zur literarischen Umsetzung u. a. Joachim Noob: Der Schülerselbstmord in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende, Heidelberg 1998. 116 Michaela Schretzmayer: Die Entstehung der Schulhygiene im höheren Bildungswesen Österreichs von 1873 bis 1933, Diplomarbeit, Wien 2008, S. 61–99. Der nächste Kongress des Wiener Psychoanalytischen Vereins fand 1918 statt und beschäftigte sich vor allem mit dem Thema Onanie. Ebd.: S. 96. 117 Zum Erscheinungsjahr der Studie finden sich in der Forschungsliteratur widersprüchliche Angaben. Das Zitat wird jedenfalls bis heute häufig wiedergegeben, siehe u. a. GunillaFriederike Budde: Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914, Göttingen 1994, S. 119. 118 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 68. Zu der Aufteilung zwischen Mädchen und Burschen liegen mir keine Zahlen vor. 119 Michaela Maria Hintermayr: »[…] die physische Lebenskraft ist doch stärker im Mann, also auch der Widerstand gegen den Tod […]. Unsinn!« Suizidalität in Tagebüchern von Jugendlichen im frühen 20. Jahrhundert, in: Anne Conrad, Johanna E. Blume und Jennifer J* Moos (Hg.): Frauen – Männer – Queer: Ansätze und Perspektiven aus der historischen

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Diese Einschätzung entsprach jedenfalls der immer wieder reproduzierten Aussage von Ludwig Gurlitt. Er beschrieb damit aber hauptsächlich die soziale Gruppe, der er selbst angehörte. Gurlitt war Gymnasiallehrer in Hamburg und Berlin und ein vehementer Kritiker des zeitgenössischen preußischen Schulsystems. Nach Angaben des Literaturwissenschafters Peter Sprengel veröffentlichte er nach 1910 auch mehrfach Briefe von Freunden toter Jugendlicher im »Berliner Tageblatt«, aus denen er »das musische Interesse und das oppositionelle Denken der jugendlichen Selbstmörder [schlußfolgerte], die ihre leitenden Wertvorstellungen offenbar aus intensiver Privatlektüre bezogen«.120 Abgesehen von den sozialen Zuschreibungen, die durch diese Auswahl tradiert wurden, erscheint mir im Rahmen dieser Studie der Aspekt der Veröffentlichung der Briefe der Schüler als spannend. Es wird damit eine Form der Inszenierung bzw. Instrumentalisierung von auto/biografischen Quellen Jugendlicher belegt, die bestimmte wissenschaftspolitische Aussagen stützen sollte. Die wissenschaftliche Auswertung auto/biografischer Dokumente in der Jugendforschung befand sich in den Jahren nach 1900 noch in ihren Anfängen. Verbreitet umgesetzt wurde diese Methode erst in den 1920er-Jahren. Zu dieser Zeit war die Debatte um das Thema Suizid bereits abgeflacht. In der selbstzeugnisbasierten Jugendpsychologie stand es jedenfalls nicht mehr im Vordergrund.

Verschiedene auto/biografische Formate und ›Selbstaussagen‹ Auto/biografische Formate der Fremdbeobachtung, wie sie in Form der ›wissenschaftsgeleiteten Elterntagebücher‹ in der Kindheitsforschung eingesetzt worden waren, wurden für die Jugendforschung nicht mehr als geeignet angesehen: Peter Dudek hat das folgendermaßen beschrieben: »Mit reinen Verhaltensbeobachtungen käme man nicht, so das grundsätzliche Argument, dem verschlossenen Seelenleben der Jugendlichen auf die Spur. Deshalb ging die Jugendkunde über alle theoretischen Schulen hinweg auf die Suche nach spontanen und provozierten Selbstaussagen Jugendlicher.«121 Unter »provozierten Selbstaussagen« werden hier jene »Produkte [verstanden], die in der Schule auf Genderforschung, St. Ingbert 2015, S. 221–234, S. 223. Ein seltenes Beispiel aus der fiktiven Literatur, in der das Motiv Selbstmord in einem Mädcheninternat vorkommt, ist das Theaterstück »Ritter Nérestan« bzw. »Gestern und heute« von Christa Winsloe (1888–1944). Das Stück wurde unter dem Titel »Mädchen in Uniform« auch zweimal verfilmt (1931 und 1958). Dazu u. a. Doris Hermanns: Meerkatzen, Meißel und das Mädchen Manuela. Die Schriftstellerin und Tierbildhauerin Christa Winsloe, Berlin 2012. 120 Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur, 1900–1918. Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, München 2004, S. 3. 121 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 198.

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Bestellung veranlaßt von Kindern und Jugendlichen verfaßt wurden«, wie Fritz Giese es 1914 formuliert hatte (→ Abschnitt 2.2).122 Neben Aufsatzaufrufen waren das auch Ergebnisse von Fragebögen oder protokollierte Gespräche, die zumeist in den geschlossenen Settings von Schulklassen durchgeführt wurden und dann statistisch ausgewertet werden konnten.123 Fragebogenauswertungen wurden von G. Stanley Hall in den USA perfektioniert und deshalb auch als »›amerikanische‹ Methode« bezeichnet.124 In dieser Studie wird für solche Quellen die Bezeichnung ›hergestellte Selbstaussagen‹ vorgeschlagen und den ›vorgefundenen Selbstaussagen‹ gegenübergestellt (→ Einleitung und Abschnitt 3.1). Als ›vorgefundene Selbstaussagen‹ von Jugendlichen kamen für die Jugendpsycholog/innen ab den 1920er-Jahren insbesondere Tagebücher in Frage. Wie im Zusammenhang mit der Arbeit von Fritz Giese dargestellt worden ist, wurden in den Anfängen der jugendpsychologischen Selbstzeugnisforschung jedoch vorzugsweise literarische Texte (»Dichtungen«) herangezogen, die aber ebenfalls als auto/biografische Aussagen gelesen worden sind. Zumeist wurden in den Studien die verschiedenen Genres ohnedies vermischt verwendet und auch andere Textsorten wie z. B. Korrespondenzen analysiert. Gängige Quellen früherer jugendwissenschaftlicher Arbeiten war auch retrospektiv verfasste Texte. So hatte sich Sigmund Freud schon 1910 mit der »Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci« beschäftigt – die immerhin zirka 450 Jahre zurücklag.125 Der Theologe Gerhard Bohne (1895–1977), ein Dissertant von Eduard Spranger, holte zeitlich nicht ganz so weit aus. Er verwendete für seine 1920 in Leipzig abgeschlossene religionspädagogische Dissertation über »Die religiöse Entwicklung der Jugend in der Reifezeit« publizierte Lebenserinnerungen aus dem aber ebenfalls bereits abgelaufenen 19. Jahrhundert als Quellengrundlage.126

122 Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, 1914, Bd. 1, S. 7–19, S. 7. 123 Eine Arbeit, die auf den Aufsätzen von 231 Kindern (107 Mädchen und 124 Buben) von sieben bis elf Jahren in Volksschulen der Wiener Innenbezirke durchgeführt wurde, war Charlotte Bühler und Johanna Haas: Gibt es Fälle, in denen man lügen muß? Eine pädagogisch-psychologische Untersuchung über die Kinderlüge auf Grund einer Erhebung, Wien/Leipzig/New York 1925. 124 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 137. In der österreichischen Jugendforschung der Zwischenkriegszeit wurden Fragebögen insbesondere von Paul F. Lazarsfeld verwendet (→ Abschnitt 2.7), in Deutschland von Adolf Busemann, der sich dabei u. a. mit Geschwisterbeziehungen beschäftigte. Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 210. 125 Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, Leipzig/Wien 1910. 126 David Käbisch: Bohne, (Paul) Gerhard, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL), Bd. 27, Nordhausen 2007, Sp. 143–161. Retrospektive Lebenserinnerungen wurden in der Religionspsychologie noch mehrfach als Quellen verwendet. Peter Dudek erwähnte vier weitere entsprechende Studien, die bis 1932 erschienen sind. Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 200 und FN 11.

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Veröffentlichte Selbstzeugnisse waren in den 1920er-Jahren auch in der Jugendpsychologie eine gängige Quelle. So verwendeten sowohl Charlotte Bühler als auch Eduard Spranger für ihre Auswertungen die erstmals 1887 edierten Tagebuchaufzeichnungen der ukrainisch-französischen Malerin Marie Bashkirtseff (1858–1884) oder die 1921 veröffentlichten Tagebuchauszüge, Korrespondenzstücke und literarischen Texte von Otto Braun (1897–1918), dem Sohn der sozialdemokratischen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Lily Braun (1865–1916) aus Berlin, der als Soldat im Ersten Weltkrieg getöteten worden war.127 Diese und eine bunte Mischung weiterer auto/biografischer Texte waren die Grundsteine für die beiden ›Standardwerke‹ von Bühler und Spranger, die im Folgenden vorgestellt werden.

Die »Psychologie des Jugendalters« von Eduard Spranger (1924) Die 1924 erstmals publizierte Studie »Psychologie des Jugendalters« von Eduard Spranger basierte auf einem besonders abwechslungsreichen Quellenmix.128 Er verwendete publizierte Lebenserinnerungen aus dem 19. Jahrhundert,129 Notizen von Sozialarbeiter/innen in einer Berliner Berufsberatung130 sowie auto/biografische Texte verschiedener Genres, die Charlotte Bühler und Fritz Giese im Rahmen ihrer psychologischen Arbeiten inzwischen veröffentlicht hatten. Gleichzeitig stützte sich Spranger über weite Strecken auf fiktive Texte aus dem gesamten bildungsbürgerlichen Literaturkanon. Er spannte dabei einen weiten Bogen, der Autor/innen wie Johann Wolfgang von Goethe ebenso miteinschloss wie Felix Dahn und Lou Andreas-Salomé.131 Methodische Überlegungen zu den 127 Vgl. u. a. Bühler: Die Schwärmerei als Phase der Reifezeit, 1926, S. 6. Zu den Aufzeichnungen von Otto Braun siehe weiterführend Dorothee Wierling: Eine Familie im Krieg. Leben, Sterben und Schreiben 1914–1918, Göttingen 2013. 128 Eduard Spranger: Psychologie des Jugendalters, Leipzig 19241. Alle folgenden Zitate stammen aus der Ausgabe 193517. 129 Zitiert werden dabei Lebenserinnerungen oder andere Selbstzeugnisse u. a. von (chronologisch, ausgewiesen ist jeweils eine der ersten Nennungen) Friedrich Nietzsche (u. a. S. 47); Friedrich Fröbel (S. 56); Felix Dahn (u. a. S. 57: »Das Bild seiner Jugendzeit ist nicht nur besonders reich und fein ausgemalt. Es war auch etwas in Dahn, was man ewige Pubertät nennen könnte.«); Ferdinand Lassalle (S. 150); Johann Heinrich Pestalozzi (S. 178); Kaiser Wilhelm II (S. 254); Wilhelm Dilthey (S. 260); Gustav Freytag (S. 296); Malwida von Meysenburg (S. 300) oder Lily Braun (S. 308). 130 Daraus schloss er u. a. das Folgende: »Deshalb wird der Beruf des Vaters nicht gern gewählt (schon weil dieser selbst sehr oft abrät), wohl aber der eines Verwandten, und zwar am häufigsten der des Onkels. Eine Fülle von Selbstzeugnissen über diesen Weg der Berufsfindung liegt mir vor.« Spranger: Psychologie des Jugendalters, 193517, S. 240. 131 Zitiert werden dabei literarische Texte u. a. von (chronologisch) Johann Wolfgang von Goethe (u. a. S. 46); Lou Andreas-Salomé (u. a. S. 53); Robert Schumann (S. 59); Friedrich Schiller (S. 62); Gottfried Keller (S. 67); Oscar Wilde (S. 90); einem der Brüder Humboldt

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verschiedenen Quellengattungen finden sich in dem Buch nicht. Sie wurden von Spranger ohne Kommentare als gleichgewertete Aussagen nebeneinandergestellt, was aus aktueller selbstzeugnistheoretischer Sicht als noch erstaunlicher erscheint als die schillernde Genremischung.132 Meiner Interpretation zufolge zeigt sich darin nicht zuletzt, dass die Auswahl jener Quellen, die als ›auto/ biografisch‹ analysiert wurden, zu Beginn der Jugendforschung von einzelnen Vertreter/innen noch sehr flexibel gesehen wurde.133 Bezogen auf die gänzlich fehlende Reflexion über das verwendete Material ist es umso erstaunlicher, dass gerade Eduard Sprangers »Psychologie des Jugendalters« zu dem ›Standardwerk‹ der frühen deutschsprachigen Jugendpsychologie avanciert ist. Das Buch hat sich ausgesprochen erfolgreich verkauft, es erreichte bis 1979, also 55 Jahre nach der Erstausgabe, 29 Auflagen.134 Die ersten acht Auflagen erschienen binnen zweier Jahre, 100.000 gedruckte Exemplare waren mit der 24. Auflage von 1955 erreicht.135 Die »Psychologie des Jugendalters« ist in einer leicht verständlichen Sprache verfasst, was wohl zu ihrer Popularität beigetragen hat. Als These kann formuliert werden, dass ein weiterer Grund für den Erfolg des Buches gerade die großzügige Quellenauswahl aus dem Kanon der deutschen Literaturgeschichte war. Die literarischen Texte waren den bildungsbürgerlich sozialisierten Leser/innen ja durchwegs bereits bekannt, weshalb sich hier gleich leicht anknüpfen ließ. Womöglich leichter, als an Tagebuchtexte anonymisierter Schreiber/innen.

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(S. 91); Friedrich Hölderlin (u. a. S. 94); Gotthold Ephraim Lessing (S. 98); Franz Grillparzer (S. 100); Hermann Hesse (u. a. S. 112); Robert Musil (S. 122); Dante (S. 343); Novalis (S. 353) oder Theodor Fontane (S. 359). Die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorgebrachten Vorbehalte, die qualitative Jugendforschung der ersten Jahrzehnte sei »anekdotisch« gewesen, könnte nicht zuletzt auf solche Arbeiten bezogen gewesen sein. Krüger und Grunert: Handbuch Kindheits- und Jugendforschung, 2002, S. 14. Die unterbliebene theoretische Reflexion der verwendeten Quellen kann nicht als zeitgenössisch übliche Praktik abgetan werden. Fritz Giese hatte in seiner zehn Jahre früher veröffentlichten Studie der Erklärung seines Quellenmaterials ein dreizehnseitiges Kapitel gewidmet und auch Charlotte Bühler erläuterte in allen ihrer Publikationen zumindest jeweils kurz ihre Quellenbasis. Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, 2000, S. 57. Drei der Auflagen erschienen zwischen 1933 und 1944. Ortmeyer: Eduard Spranger und die NS-Zeit, 2008, S. 19. Eduard Spranger: Psychologie des Jugendalters, Heidelberg 195725. Die Angaben befinden sich auf einem der inneren Deckblätter in dieser Publikation (o. S.).

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»Das Seelenleben des Jugendlichen« von Charlotte Bühler (1921) Als zweites deutschsprachiges ›Standardwerk‹ der frühen Jugendpsychologie wird das von Charlotte Bühler 1921 in Jena erstmals veröffentlichte Buch »Das Seelenleben des Jugendlichen« gehandelt.136 Das Buch erschien damit drei Jahre vor der »Psychologie des Jugendalters« von Spranger. Es wurde bis 1929 fünfmal neu aufgelegt, wobei die zweite (1923), dritte (1925) und fünfte (1929) Ausgabe jeweils stark überarbeitet waren. Die Ausgabe von 1929 wurde 1967, 1975 und schließlich 1991, also 70 Jahre nach der Erstausgabe, wieder veröffentlicht. Helmut Fend bezeichnete »Das Seelenleben des Jugendlichen« als Bühlers »Hauptwerk«;137 Gerald Bühring, der auch eine Auswertung von insgesamt 79 Rezensionen vorlegte, zählte es zumindest zu ihren »populärsten Büchern«.138 Charlotte Bühler präsentierte damit jedenfalls den ersten systematischen Ansatz im deutschsprachigen Raum, »eine einheitliche Gesamtauffassung der Pubertätspsyche zu entwickeln«,139 wobei sie auch für sich beanspruchte, den ersten Überblick über die bisher veröffentlichte Fachliteratur zum Thema Jugendforschung zu liefern.140 1923 listete sie dazu 201, 1929 schließlich 334 Titel in deutscher, englischer und französischer Sprache auf.141 Die 30-jährige Wissenschafterin zeigte sich dabei in Bezug auf ihre Quellen- und Literaturauswahl selbstbewusst: »Die Ursache dieser mangelnden Systematik [in den bisher verfassten Studien] ist schnell zu finden: Der größere Teil der Bearbeiter unseres Themas sind Praktiker, die aus irgendeinem begrenzten Erfahrungskreis über die Jugend sprechen. Pädagogische, konfessionelle, politische, medizinische Interessen überwogen bisher bei weitem die rein psychologischen. So kann es nicht wundernehmen, wenn jeder nur nahm, was ihm gut schien und was er zufällig 136 Charlotte Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen. Versuch einer Analyse und Theorie der psychischen Pubertät, Jena 19211. 137 Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, 2000, S. 46. 138 Gerald Bühring: Charlotte Bühler oder Der Lebenslauf als psychologisches Problem, Frankfurt am Main/u. a. 2007, S. 78. 139 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 1923², S. VI. 140 Zwei noch früher publizierte Überblicksarbeiten hatten der Oberrealschuldirektor Hans Richtert und der Jugendrichter Walter Hoffmann publiziert: Hans Richtert: Psychologie und Pädagogik der Entwicklungsjahre, Berlin 1917; Walter Hoffmann: Die Reifezeit. Probleme der Entwicklungspsychologie und Sozialpädagogik, Leipzig 1922. Dazu: Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaft, 1990, S. 256f. 141 1923 waren in diesem Literaturverzeichnis 22 Titel keine wissenschaftlichen Arbeiten, sondern literarische bzw. historisch-philosophische Texte oder edierte Selbstzeugnisse. 1929 waren es 25 Titel. Diese stammten u. a. von (alphabetisch) Lou Andreas-Salomé, Aristoteles, Otto Braun, Marie Bashkirtseff, Lew Nikolajewitsch Tolstoi, Frank Wedekind oder Stefan Zweig. Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19232, o. S.; 19295, S. 230–240. Ein Exemplar der ersten Ausgabe von 1921 war mir bisher nicht zugänglich, daher muss die Zahl der Studien, die Bühler 1921 zitierte, hier vorerst offenbleiben.

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fand.«142 Die leitende Fragestellung für Charlotte Bühler war jedenfalls auch systematisch. Sie wollte die »Gesetzmäßigkeiten« der »Lebensphase Jugend« erfassen. Dem grundgelegt war (grob gesagt) die Annahme »von einer inneren Logik der Humanentwicklung«.143 In »Anschluß an Darwin« interpretierte sie Jugend dabei als einen von mehreren Abschnitten in einem sich insgesamt teleologisch, also zielgerichtet entwickelnden menschlichen Lebenslauf.144 Bühler selbst definierte 1927 ihren »theoretisch und methodisch von vornherein […] festen Ausgangspunkt« für das Buch »Das Seelenleben des Jugendlichen« als interdisziplinär angelegt: »Theoretisch war es zunächst an der Biologie orientiert, da die psychischen Tatsachen der Pubertät nur im Zusammenhang mit der physischen Reifung und dem biologischen Sinn der Pubertät verständlich werden konnten. Von der Psychologie wurden Forschungsgesichtspunkte, Fragestellungen, Methoden gewonnen. Auch die Bezugnahme auf pädagogische Probleme fehlte nicht völlig.«145 Für die physische Pubertät entscheidend sah sie die Veränderungen im »zwischenmenschlichen Bereich«.146 Als »Hauptbegriff« der »seelischen Pubertätserscheinungen« attestierte sie jungen Menschen eine bestimmte »Ergänzungsbedürftigkeit«,147 die diese z. B. auf Lehrpersonen, Mitglieder von Jugendgruppen oder das jeweils andere Geschlecht projizieren würden: »Als allgemeinster Zug tritt in den Tagebüchern aller Mädchen jene E r g ä n z u n g s b e d ü r f t i g k e i t hervor, die mir als wesentlichstes Charakteristikum ein Erwerb der Pubertät erschien. Es gibt kein Mädchen, d a s n i c h t die unspezif ische Sehnsucht und die Sehnsucht nach dem e r g ä n z e n d e n D u und nach Liebe in ihrer Pubertät erlebt hätte, und in deren Tagebuch nicht L i e b e in irgendeiner Variation ein Hauptthema wäre. Hieran ändert sich nichts, wie konventionell oder wie frei immer das Mädchen erzogen sei, erleben und sich benehmen mag.«148 Diese »Sehnsucht nach dem ergänzenden Du« las Bühler dabei »sexuell noch völlig unbestimmt[…]«.149 Aus wissenschaftshistorischer Sicht ist bei Charlotte Bühlers Publikation insbesondere interessant, dass sie in den ersten fünf Auflagen neben dem Inhalt auch die verwendeten Quellen und angewandten Methoden immer weiterentwickelt und verändert hat. Dabei dürfte sie zumindest in die zweite Auflage (1923) auch Anregungen der Leser/innen eingearbeitet haben. Entsprechend 142 143 144 145 146 147 148

Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 1923², S. V. Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, 2000, S. 58. Ebd.: S. 45f. Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19295 (Vorwort der 4. Auflage von 1927), S. V. Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, 2000, S. 57. Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 1923², S. VII. Charlotte Bühler: Drei Generationen im Jugendtagebuch (Quellen und Studien zur Jugendkunde, Bd. 11), Jena 1934, S. 11 [Hervorhebungen im Original]. 149 Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 168.

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bedankte sie sich bei »den vielen Helfern, die mich von allen Seiten her durch schriftliche oder mündliche Mitteilungen unterstützten. Der lebendige Widerhall, den ich aus zahlreichen Briefen von Eltern, Lehrern, jungen Menschen, nicht zuletzt von verehrten Kollegen empfing, sagte mir am deutlichsten, daß ich einen richtigen Weg eingeschlagen hatte.«150 In einer auto/biografischen »Selbstdarstellung« erklärte Bühler 1972, wie sie überhaupt dazu gekommen war, sich mit dem Thema Jugend auseinanderzusetzten.151 Die »Anregung zu der Arbeit an meinem Buch« war demnach eine Studie zum Thema Devianz Jugendlicher gewesen, die sie im Auftrag der Stadt Dresden durchgeführt hatte. »Die staatlichen Behörden, speziell Preußens, wollten die nach dem Ersten Weltkrieg stark zunehmende Jugendkriminalität aus der seelischen Entwicklung Jugendlicher heraus besser verstehen […]. Da meine eigene Jugend mir viele Schwierigkeiten bereitet hatte, dachte ich, diese Periode böte vielleicht einen guten Ansatz zum Studium des Lebens.«152 Zu Beginn des Vorwortes der ersten Auflage von 1921 hatte sie noch einen anderen Kontext benannt: »Ostern 1920 veranstaltete die Stadt Dresden für alle Lehrkräfte, die sich den neueingerichteten Mädchen-Pflichtfortbildungsschulen zur Verfügung stellten, einen Fortbildungskursus, in dem ich vier Vorträge über ›das Seelenleben des Mädchens in den Entwicklungsjahren‹ hielt. Sie bilden den Ausgangspunkt und Grundstock dieser Untersuchung. An mehreren Orten wiederholt, empfingen sie immer wieder neue Gestalt. Der ursprüngliche Grundgedanke wurde durch neues Material bestätigt, durch weitere Analyse befestigt. Eine Veröffentlichung jedoch, um die von verschiedenen Seiten gebeten wurde, hielt ich nur dann für zweckdienlich, wenn die Literatur zu dem Thema endlich einmal systematisch mitverarbeitet wurde.«153 Das konnte sie umsetzen und das ›Standardwerk‹ lag damit – in seiner ersten Version – vor. Um die beiden Ansätze von Charlotte Bühler und Eduard Spranger inhaltlich kurz zu vergleichen: Die Kernaussage von Eduard Sprangers theoretischem Konzept von Jugend bestand (ebenfalls grob zusammengefasst) darin, dass die »individuellen Entwicklungsprozesse« von jungen Menschen in einem »konstruktiven Zusammenspiel« mit »kulturellen Vorgaben« stattfinden würden. Während Bühler »von einer inneren Logik der Humanentwicklung« ausging, war Spranger von einer »inneren Logik der Kulturentwicklung« überzeugt.154 In ak150 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19232, S. VIII. 151 In ihrer 1918 abgeschlossenen Dissertation hatte sich Charlotte Bühler mit kleinen Kindern beschäftigt (→ Abschnitt 2.4). 152 Charlotte Bühler: (ohne Titel, im Folgenden zitiert als »[Selbstdarstellung]«), in: Ludwig J. Pongratz, Werner Traxel und Ernst G. Wehner (Hg.): Psychologie in Selbstdarstellungen. Bern 1972, S. 9–42, S. 22f. 153 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19232, S. V (Vorwort der 1. Auflage von 1921). 154 Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, 2000, S. 58.

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tuelle Begriffe gefasst, betonte er also neben biologischen Abläufen auch die Rolle der ›Sozialisation‹. Dabei ging auch Spranger von einer Idee der ›Vervollkommnung‹ aus. In seiner Begrifflichkeit hießen die einzelnen Stationen des menschlichen Lebenslaufs aber »Lebensformen«, wobei er die jugendliche »Lebensform« als »unfertig« einstufte. In prosaischem Stil holte er dazu auch historisch aus und ging (auf der Grundlage der oben genannten literarischen Quellen) bis in das 18. Jahrhundert zurück.155 Die Ausgangspunkte dafür, was die »Lebensphase« (Bühler) bzw. die »Lebensform« (Spranger) ausmachen würde, wurden von den beiden Psycholog/innen also unterschiedlich interpretiert. Und auch die Tiefe der theoretischen Reflexion betreffend ihrer Quellenauswahl ist nicht vergleichbar. Dennoch gelang beiden mit ihren (unterschiedlichen) Publikationen schon »in den Zwanzigerjahren jeweils ein großer Wurf, der die Jugendpsychologie für Jahrzehnte inspirieren sollte«.156

Die Verfügbarkeit auto/biografischer Quellen von Jugendlichen 1921 hatte Charlotte Bühler nach eigenen Angaben also bereits einen Grundstock an Forschungsliteratur vorgefunden, auf dem sie ihr neues Forschungsthema aufbauen konnte. Nur systematisch aufarbeiten musste sie diesen noch. Ihre Basis von unveröffentlichten Quellen war dem gegenüber am Beginn aber noch vergleichsweise mager: Ihrem Bericht zufolge »gewann« Bühler ihre »Gesamtauffassung […] aus folgenden Quellen: im Unterricht und im Verkehr mit Jugendlichen, a u s d r e i v o l l s t ä n d i g e n s e h r a u f s c h l u ß r e i c h e n Ta g e b ü c h e r n , die mir zur freien Verfügung gestellt wurden, aus dem großen Material, das Fritz G i e s e veröffentlichte, und aus lebendigster Erinnerung an eigene Pubertätserfahrungen.«157 In der Forschungsliteratur wurde an verschiedenen Stellen angegeben, diese »eigenen Pubertätserfahrungen« wären Bühlers selbst verfasste Tagebücher gewesen.158 Zumindest bezog sie sich später auch auf ihre eigene diaristische Praktik als Jugendliche: »Ich wußte von meinem eigenen Tagebuch um die Bedeutung dieser Dokumente.«159 Die drei anderen Tagebücher

155 Fontana: »… jener pädagogische Stoß ins Herz«, 2009, S. 27. 156 Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, 2000, S. 42. 157 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19232, S. VI [Hervorhebung im Original]. Wie auch Eduard Spranger verwendete Charlotte Bühler also die Quellen aus Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, 1914. Sie analysierte zudem ebenfalls literarische Texte. Weiters wurde etwa auf die bereits veröffentlichten Lebenserinnerungen der zeitgenössischen Frauenrechtlerin Gertrude Bäumer (1873–1954) Bezug genommen. 158 Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, 2000, S. 44, S. 46; Bühring: Charlotte Bühler oder Der Lebenslauf als psychologisches Problem, 2007, S. 69. 159 Bühler: [Selbstdarstellung], 1972, S. 23.

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habe sie von Bekannten erhalten.160 Diese drei Bücher waren dann auch der Ausgangspunkt für die später umfangreiche Sammlung. Noch war es aber nicht so weit, zuerst stand das Forschungsprojekt im Mittelpunkt, und dafür brauchte die junge Psychologin Quellen. Nachträglich verwendete Charlotte Bühler für die Beschreibung des Anfangs ihrer Sammlung eine grammatikalisch umständliche Passivkonstruktion: Es »gelang mir, drei Tagebücher zur Verfügung gestellt zu bekommen«.161 1931 konkretisierte sie die »drei Tagebücher, in deren Besitz ich privatim gekommen war«, indirekt als Aufzeichnungen aus ihrem persönlichen Umfeld.162 Diese Hinweise finde ich im Rahmen der Fragestellungen dieser Studie besonders spannend, da sie zwei Aspekte offenlegen, die die frühe Forschung mit Tagebüchern von Jugendlichen gekennzeichnet haben dürften: Der erste Aspekt ist die Frage nach der Verfügbarkeit der auto/biografischen Dokumente. Wie konnten Forscher/innen an dieses Material herankommen? Einerseits gab es ja bereits größer organisierte Sammelprojekte, wie das oben beschriebene Archiv für Jugendkultur von Siegfried Bernfeld in Wien oder die Sammlung des Instituts für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung von Stern u. a. in Potsdam bzw. Berlin. Diese Dokumentationen dürfte Charlotte Bühler aber nicht konsultiert haben. Sie griff stattdessen auf Tagebücher zurück, die sie in persönlichen Kontexten lukrieren konnte. Als zweites erscheint der Aspekt, dass Bühler (vermutlich) auch ihre eigenen Jugendtagebücher als Quellen heranzog, wert, besonders betont zu werden. Damit kann eine direkte Brücke zu der in → Kapitel 1 beschriebenen Forschung mit wissenschaftsgeleiteten Elterntagebüchern geschlagen werden.163 Diese Elterntagebücher wurden von den Wissenschafter/innen ja zum Großteil selbst und über ihre eigenen Kinder angefertigt. Dass Charlotte Bühler überhaupt auf die Idee gekommen ist, (angeblich) auch ihre eigenen Tagebücher auszuwerten, deute ich als eine Fortführung der damals üblichen Praxis dieser speziellen Forschungsrichtung. Für die Neuauflagen von »Das Seelenleben des Jugendlichen« waren dann aber rasch und zunehmend mehr fremde Tagebuchquellen zugänglich. Bühler hatte durch Aufrufe in den Vorwörtern ab der ersten Ausgabe laufend weitere auto/biografische Aufzeichnungen gesammelt und diese dann in ihre Analysen eingebaut. Einzelne davon wurden auch als Editionen veröffentlicht. Die Aufrufe waren dabei recht knapp gehalten. Ein Forschungsprogramm, wie es Siegfried 160 Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, 2000, S. 44, S. 46; Bühring: Charlotte Bühler oder Der Lebenslauf als psychologisches Problem, 2007, S. 69. 161 Bühler: [Selbstdarstellung], S. 23. 162 Bühler: Kindheit und Jugend, 19313, S. 330. 163 Auch William Stern, Fritz Giese und Siegfried Bernfeld verwendeten auto/biografische Quellen aus ihrem eigenen Umfeld – oder sogar aus der eigenen Feder. Dazu u. a. Bernfeld: Trieb und Tradition im Jugendalter, 1931 (2015), S. 18.

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Bernfeld 1913 und 1914 vorgelegt hatte, ersparte Charlotte Bühler sich. Stattdessen stellte sie »Dank« in Aussicht – jenen der Wissenschaft (1921) bzw. ihren eigenen (1923). Jedem »Leser, der von sich oder Bekannten ein Tagebuch anonym zur Verfügung stellen könnte, wäre die Wissenschaft zu größtem Danke verpflichtet.«164 »Ich […] bin nach wie vor für weitere [Tagebücher], die mir zur Verfügung gestellt werden, überaus dankbar.«165 Die Aufrufe waren offenbar erfolgreich und in den folgenden Jahren konnten mit jeder Neuauflage von »Das Seelenleben des Jugendlichen« bzw. in anderen Publikationen wieder Zuwächse im Quellenbestand bekannt gegeben werden. 1967 gab Charlotte Bühler retrospektiv aus ihrer Erinnerung heraus den Umfang schließlich mit 130 Beständen an (→ Abschnitt 2.7).166

Methoden zur Auswertung der Tagebuchquellen Mit dem zunehmenden Quellenbestand schärften Bühler und ihre Kolleg/innen, die ebenfalls mit dem Material der Sammlung gearbeitet haben, auch die inhaltliche Auswertung der verfügbaren Selbstzeugnisse: »Das Verfahren, mit dem dieses neuartige Material bearbeitet wurde, konnte von Auflage zu Auflage verbessert werden.«167 Diese ›Verbesserung‹ bestand hauptsächlich in der statistischen Auswertung der Quellen: »Gab das Material anfangs Gesichtspunkte, Anregungen, wurde es zunächst exemplifizierend ausgenutzt, so konnte mehr und mehr eine statistische Verarbeitung in Angriff genommen werden.«168 Dabei hat Bühler diese quantitativen Auswertungen nicht selbst durchgeführt, sie wurden u. a. von Paul F. Lazarsfeld übernommen (→ Abschnitt 2.5).169 Ein systematisches Verfahren zur inhaltlichen Auswertung wurde jedoch nicht erarbeitet. Gerhard Benetka hat darauf hingewiesen, dass Charlotte Bühler und ihr Forschungsteam (wie auch die anderen jugendpsychologischen Tagebuchforscher/innen der Zeit) genau genommen keine konkrete Methode zur Auswertung von Tagebüchern entwickelt haben. Zwar wurden viele Quellen gesammelt, »deren Auswertung und Interpretation ist jedoch aus heutiger Sicht eher dilettantisch geblieben. Da haben auch die statistischen Analysen von Lazarsfeld nicht 164 165 166 167 168 169

Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19232, S. VI (Vorwort der 1. Auflage von 1921). Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19232, S. VIII. Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19676, S. XIV. Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19295, S. V (Vorwort der 4. Auflage von 1927). Bühler: Kindheit und Jugend, 19313, S. 330–332. »Für Hilfe bei Beschaffung und Bearbeitung des reichen neuen Materials, das hier insgesamt zugrunde gelegt werden konnte, bin ich Herrn Dr. Paul L a z a r s f e l d zu Dank verpflichtet.« Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19676, S. X (Vorwort der 5. Auflage von 1929) [Hervorhebung im Original].

Zwei jugendpsychologische ›Standardwerke‹ auf der Grundlage von Tagebüchern

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viel geholfen. Die theoretische Perspektive war einfach nicht besonders ergiebig.«170 Gerald Bühring formulierte einen ähnlichen Befund etwas versöhnlicher: Im »Gegensatz zu ihren Vorgängern [in der psychoanalytischen Tagebuchforschung, L. G.] blieb Bühler halbwegs auf empirischem Kurs und enthielt sich strikt willkürlicher Deutungen.«171 Die ›Methode‹, die Bühler selbst im Zusammenhang mit der Auswertung von Tagebüchern öfters ansprach, bezog sich also weniger auf ein systematisches Vorgehen, die Texte von Tagebüchern auszuwerten – sie bezog sich darauf, Tagebücher überhaupt als Quellen zu verwenden. Wie Charlotte Bühler in der fünften Auflage von »Das Seelenleben des Jugendlichen« von 1929 darstellte, griff sie in ihren Forschungen gleichzeitig und vermehrt auch auf weitere Quellen und (in ihrem damaligen Verständnis auch) Methoden zurück: »Daß diese Methode [Tagebücher auszuwerten, L. G.] als einzige nicht ausreicht, daß andere Methoden ergänzend hinzutreten müssen, war mir natürlich von vornherein klar, und ich habe die Ergebnisse von experimentellen Arbeiten und Erhebungen von Anbeginn meiner Darstellung einzuarbeiten versucht, auch selbst in dieser Richtung Versuche unternommen. Wichtiger als Experiment und Erhebung wurde mir jedoch neuerdings eine andere Methode, mit der ich nunmehr systematisch die Gegenproben zu meinen Tagebuchergebnissen veranstalte, nämlich die Methode der Beobachtung jugendlichen Verhaltens welche die Resultate der Tagebuchanalyse teils bestätigten, teils weiterführten. […] In Tagebuchanalyse samt Statistik und Verhaltensbeobachtung sehe ich vorläufig die zwei ergiebigsten Methoden der Jugendpsychologie.«172 Die von Charlotte Bühler hier genannte »Methode der Beobachtung jugendlichen Verhaltens« war von ihrer ersten Assistentin Hildegard Hetzer (1899– 1991) in einem Wiener Hort »für Proletariermädchen« durchgeführt worden.173 Der organisatorische Aufbau der ( jugend-)psychologischen Forschung im Wien der Zwischenkriegszeit wird im folgenden Abschnitt genau beschrieben (→ Abschnitt 2.4). Wie die oben genannte Zusammenarbeit mit Paul F. Lazarsfeld ist die Betonung der Kooperation mit Hildegard Hetzer ein Ausdruck für die Arbeitsweise von Charlotte Bühler, die ab ihrer Zeit in Wien immer auch die Ergebnisse ihres Forschungsteams in ihre Publikationen eingearbeitet hat. Die Historikerin Ilse Korotin bemerkte zu der 1928 erstmals veröffentlichten Studie »Kindheit und Jugend. Genese des Bewußtseins«174: »Sämtliche der darin ver170 Gerhard Benetka, Klaus Grossmann und Brigitte Rollet: Retrospektive: Charlotte Bühler und ihre Zeit [Rundtischgespräch], in: Lieselotte Ahnert (Hg.): Charlotte Bühler und die Entwicklungspsychologie, Göttingen 2015, S. 37–45, S. 44. 171 Bühring: Charlotte Bühler oder Der Lebenslauf als psychologisches Problem, 2007, S. 67. 172 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19676, S. VII–IX (Vorwort der 5. Auflage). 173 Bühler: Die Schwärmerei als Phase der Reifezeit, 1926, S. 1. 174 Bühler: Kindheit und Jugend, 19281.

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arbeiteten Daten wurden in den Jahren zuvor in von Charlotte Bühler angeleiteten Dissertationen hergestellt.«175 Auf ähnliche Weise wurde auch die Arbeit an dem Buch »Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem« organisiert, das 1933 erschienen ist. Dabei wendete das Team die Methode der Anamnese an, also das mündliche Erinnern der individuellen Lebensgeschichten der Proband/innen.176 Der ›gesamte menschliche Lebenslauf‹ entwickelte sich schlussendlich zu Bühlers hauptsächlichem Forschungsgebiet. Im Rückblick bezeichnete sie ihre Beschäftigung mit jugendpsychologischen Fragen als einen »Umweg« zu ihren diesbezüglichen Arbeiten.177 Diese Information zu den verschiedenen Fragestellungen, den von Charlotte Bühler verwendeten Methoden und ausgewerteten Quellen sowie die Hinweise auf ihre Forschungspraxis in Gemeinschaftsprojekten, waren Vorgriffe auf die nun folgenden Darstellungen der Wiener Forschungssituation der Zwischenkriegszeit. Es konzentrieren sich darin bereits jetzt Kernaussagen des ganzen Kapitels über die Verwendung von Jugendtagebüchern als Quellen in der psychologischen Forschung ab den 1920er-Jahren, die im Weiteren noch ausführlicher dargelegt werden.

2.4) Das Psychologische Institut in Wien ab 1922: Charlotte Bühler und ihre Forschungsgruppe Die Geschichte des Psychologischen Instituts in Wien ist eng verknüpft mit Charlotte Bühler und ihrem Ehemann Karl Bühler (1879–1963). Im vorigen Kapitel wurden die Biografien von Clara und William Stern sowie von Olga und David Katz kurz ausgeführt (→ Abschnitt 1.6). Diese beiden Ehepaare haben jeweils wissenschaftlich zusammengearbeitet und sind gemeinsam als Expert/ 175 Ilse Korotin: Wissenschaft als soziale Praxis. Die Psychologin Charlotte Bühler und ihre Wiener ForscherInnengemeinschaft, in: Andrea M. Lauritsch (Hg.): Zions Töchter. Jüdische Frauen in Literatur, Kunst und Politik, Wien 2006, S. 330–354, S. 331–333, S. 341. 176 Im Vorwort bedankte sich Charlotte Bühler namentlich bei 26 Personen für deren Mitarbeit, »unter denen sich mehrere Fachleute befanden, deren methodische und sachliche Kenntnisse der Forschung von größtem Wert waren«. Hervorgehoben wurde dabei Paul F. Lazarsfeld, Sylvia von Misˇccˇevic´ und besonders »das tiefe Verständnis und die rastlose Mitarbeit von Fräulein Dr. Else Frenkel«. Charlotte Bühler: Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, Leipzig 1933, S. VII–IX. Die Psychoanalytikerin und Sozialpsychologin Else Frenkel-Brunswik (1908–1958) war ab 1931 Mitarbeiterin von Karl und Charlotte Bühler. 177 Bühler: [Selbstdarstellung], 1972, S. 22f. Gerhard Benetka benannte die »Lebenslaufpsychologie« von Charlotte Bühler als den innovativsten Aspekt ihrer Arbeit. »Sie ist zwar von der theoretischen biologischen Fundierung her wenig überzeugend, aber originell ist sie einfach durch die Ausdehnung von Entwicklungsphänomenen auf die Lebensspanne.« Benetka, Grossmann und Rollet: Retrospektive: Charlotte Bühler und ihre Zeit, 2015, S. 44.

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innen in einem zeitgenössisch neuen Fach aufgetreten. Sie konnten damit wissenschaftliche Erfolge erzielen, wobei die Ehemänner formal jeweils eine höhere universitäre Position innehatten als die Ehefrauen. Beide Arbeitspaare erfuhren einen gewaltsamen Bruch ihrer Laufbahnen und den Verlust ihrer Erwerbsmöglichkeiten und Lebensmittelpunkte aufgrund der Verfolgung durch die Nationalsozialist/innen. Und beide haben ihre vor 1933 aufgebaute Forschungstätigkeit schließlich im Exil fortgeführt. Die Biografien von Charlotte und Karl Bühler zeigen ebenfalls viele Parallelen. Die biografischen Verläufe aller drei Paare belegen einerseits die Veränderungen in den Wissenschaftskulturen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Durch die gelockerten Zugangsbeschränkungen zu den Gymnasien und Universitäten nach dem Ersten Weltkrieg war es in Österreich und in Deutschland für Frauen nun auch eher möglich, eine wissenschaftliche Tätigkeit als Beruf auszuüben.178 Gleichzeitig stehen alle drei für den großen und schließlich nicht mehr reparierbaren Bruch in der intellektuellen ›Produktionssphäre‹, den der Nationalsozialismus in Deutschland, in Österreich, und in weiterer Folge in den besetzten Gebieten verursacht hat. Der berufliche Werdegang von Charlotte und Karl Bühler stand dabei in enger Verbindung mit dem Aufbau des Psychologischen Instituts in Wien bzw. allgemein mit dem Aufbau der psychologischen Forschung in Österreich. Das hing wiederum zusammen mit den fundamentalen gesellschaftlichen Veränderungen, die sich innerhalb von kürzester Zeit durch die revolutionären politischen Umwälzungen nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in der neu gegründeten demokratisch konstituierten Republik Österreich – und hier insbesondere durch die gesellschaftspolitischen Maßnahmen im »Roten Wien« – vollzogen haben.179

178 Zur ›höheren Bildung‹ siehe für Österreich u. a. Gertrud Simon: Hintertreppen zum Elfenbeinturm. Höhere Mädchenbildung in Österreich, Wien 1993; Renate Flich: Im Banne von Klischees. Die Entwicklung der höheren allgemeinbildenden und höheren berufsbildenden Mädchenschulen in Österreich von 1918–1945 (Reihe Frauenforschung, Bd. 4), Wien 1996. 179 Zum Thema der Bildungsreformen als Überblick zuletzt Andrea De Vincenti, Norbert Grube und Andreas Hoffmann-Ocon (Hg.): 1918 in Bildung und Erziehung. Traditionen, Transitionen, Visionen, Bad Heilbrunn 2020. Zu den gesamtgesellschaftlichen Veränderungen zuletzt u. a. Veronika Helfert: Frauen, wacht auf! Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte von Revolution und Rätebewegung in Österreich, 1916–1924 (L’Homme Schriften, Bd. 28), Göttingen 2021 und die Beiträge in Blaustrumpf Ahoi! (Hg.): »Sie meinen es politisch!« 100 Jahre Frauenwahlrecht in Österreich, Wien 2019.

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Der Standort Wien: Eine holprige Vorgeschichte Der Standort Wien spielte in den bisherigen Ausführungen zur institutionellen Fachgeschichte der Psychologie in diesem Kapitel keine nennenswerte Rolle, wie auch Österreich-Ungarn insgesamt nicht. Der Grund dafür liegt darin, dass die Forschungen im Teilgebiet der Entwicklungspsychologie – wie in der Psychologie allgemein – hier erst nach dem Ersten Weltkrieg institutionalisiert wurden. Das ist konkret festzumachen an der Berufung von Karl Bühler an die Universität Wien im Jahr 1922. Während hier bekanntlich seit Ende des 19. Jahrhunderts die Psychoanalyse entwickelt wurde, in deren Umfeld auch der oben vorgestellte Siegfried Bernfeld zu verorten ist (→ Abschnitt 2.2), war die Entwicklung der Fachrichtung Psychologie in Wien sowohl inner- als auch außeruniversitär (vorerst) nur äußerst zögerlich gefördert worden. Die Psychologie war damals »zwischen Philosophie und Denk- und Forschungsweisen der Naturwissenschaften« angesiedelt (→ Abschnitt 1.3).180 Die empirischen Ergebnisse wurden in sogenannten experimentalpsychologischen Laboratorien erarbeitet. Das weltweite erste Laboratorium war 1879 von Wilhelm Wundt in Leipzig eingerichtet worden. Wie Gerhard Benetka dargestellt hat, hatten auch in Österreich-Ungarn einzelne Forscher seit den 1870er-Jahren ähnliche Vorhaben verfolgt. In Wien bemühte sich der aus Deutschland gebürtige Franz Clemens Brentano (1838–1917) im Rahmen seiner Professur für Philosophie bereits ab 1874 um eine solche Einrichtung. Seine Initiative datiert damit also sogar einige Jahre vor der von Wilhelm Wundt. Dass Brentano damit scheiterte, interpretierte Benetka als politisch motiviert. Brentano war von seinem Priesteramt zurück- und aus der katholischen Kirche ausgetreten. Zur Schließung einer Ehe legte er 1870 auch noch die österreichische Staatsbürgerschaft zurück, was ihn schließlich die Position als Universitätsprofessor in Wien kostete. Das erste experimentalpsychologische Laboratorium in ÖsterreichUngarn konnte dann ein Schüler von Brentano 1894 in Graz eröffnen, das zweite wurde 1896 in Innsbruck eingerichtet.181 In der Residenzstadt gingen entsprechende Verhandlungen weiterhin nicht auf. Die beiden ersten an der Universität Wien angebotenen Lehrveranstaltungen in experimenteller Psychologie wurden 1899 abgehalten.182 1900 wurde Adolf Stöhr (1855–1921) zum a.o. Professor und 1910 zum Professor für Philosophie ernannt. In seinem Lehrauftrag waren auch »Vorträge und Übungen aus dem Gebiet der experimentellen Psychologie« enthalten, für die an der Universität 180 Gerhard Benetka: Vom Anfang bis zur Nachkriegszeit, in: Klaus Kubinger (Red.): Geschichte der Fakultät für Psychologie, Wien 2008, S. 1. 181 Ebd.: S. 1f. Franz Clemens Brentano war der Neffe der Dichter/innen Bettina von Arnim (geb. Brentano, 1785–1859) und Clemens Brentano (1778–1842). 182 Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 14, S. 16.

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aber keine Infrastruktur zur Verfügung stand. Stöhr hatte stattdessen 1902 im Volksheim Ottakring das Experimentalpsychologische Kabinett eingerichtet, an dem er nun auch Demonstrationskurse veranstaltete.183 Das Volksheim Ottakring (die heutige Volkshochschule Ottakring) war ein Jahr zuvor (1901) im Umfeld der Sozialdemokratischen Bewegung gegründet worden. Sie war ein politisch-emanzipatorischer Ort, u. a. wurde hier die erste Abend-Volkshochschule Europas eingerichtet.184 Als Stöhr 1921 starb, waren an der Universität Wien drei Lehrstühle für Philosophie eingerichtet. Die bisher von Stöhr bekleidete Professur wurde ausgeweitet auf »Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Psychologie und Pädagogik«.185 1922 wurde sie mit Karl Bühler besetzt.186 Dessen Ehefrau Charlotte Bühler wurde seine Assistentin – und Wien zu einem prosperierenden Zentrum der psychologischen Forschungslandschaft der Zwischenkriegszeit.

Charlotte und Karl Bühler vor ihrer Zeit in Wien Charlotte Bühler war in einem großbürgerlichen Umfeld in Berlin-Charlottenburg aufgewachsen. Ihr Vater hatte als königlicher Regierungsbaumeister und Architekt u. a. Verwaltungsgebäude gebaut. In ihrer 1972 veröffentlichten auto/ biografischen Selbstdarstellung beschrieb Bühler den elterlichen Haushalt als liberal, kunst- und wissensorientiert. Ihre Mutter soll nach der Öffnung der Friedrich-Wilhelms-Universität (der heutigen Humboldt-Universität) für Frauen interessenshalber Kurse besucht haben. Und beide Eltern hätten es als selbstverständlich angesehen, dass Charlotte Bühler und ihr jüngerer Bruder ein Universitätsstudium absolvieren würden: »Für mich stand fest, daß ich Psychologie als Hauptfach studieren wollte, um mir, wenn nicht über Gott und das Weltall, jedenfalls über das menschliche Leben klarzuwerden.«187 1913 inskribierte sie (formal als Medizin- und wahlweise als Philosophiestudentin) in Freiburg im Breisgau. Sie wechselte nach Kiel und nach Berlin, aus pragmatischen Gründen schloss sie auch ein Lehrerinnenexamen ab. Sie konnte ihr Studium trotz der inzwischen eingetretenen Kriegssituation fortsetzen. Ihre Dissertation zu dem psychologischen Thema »Denkexperimente« wurde schließlich von Oswald Külpe (1862–1915) in München angenommen, wo Charlotte Bühler auch eine Assistentinnenstelle bekam. Sie war jetzt 22 Jahre alt. 1916 lernte sie am 183 Ebd.: S. 15. 184 Wissensportal Wikipedia (o. J.) unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Volkshochschule_Otta kring. 185 Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 18. 186 Ebd.: S. 17. 187 Bühler: [Selbstdarstellung], 1972, S. 14.

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Institut den 37-jährigen a.o. Professor Karl Bühler kennen. Er hatte nach dem überraschenden Tod von Külpe interimistisch dessen Lehrstuhl übernommen – und auch die Betreuung der Abschlussarbeit der jungen Assistentin.188 Karl Bühler war in Baden-Württemberg aufgewachsen. Sei Vater hatte als Eisenbahnbediensteter gearbeitet. Der Besuch des Gymnasiums war durch ein Stipendium der katholischen Kirche möglich. Er promovierte in Freiburg im Breisgau als Mediziner über das Sehvermögen. An der Universität Straßburg/ Strasbourg promovierte er zudem als Psychologe, »größtenteils mit selbstverdientem Groschen«.189 1907 habilitierte sich Karl Bühler in Würzburg mit einer Arbeit über die »Tatsachen und Probleme zu einer Psychologie der Denkvorgänge«. Als Vertreter der später sogenannten Würzburger Schule versuchte er dabei mit der Methode des Experiments das menschliche Denken als Phänomen zu ergründen. Nach einer Anstellung in Bonn wurde Karl Bühler 1913 a.o Professor in München. Inhaltlich beschäftigte er sich nun (nach dem Sehen und dem Denken) mit dem Sprechen – konkret mit der kommunikativen Funktion der Sprache. Zuvor praktizierte er womöglich auch als Arzt.190 1914 wurde er zum Kriegsdienst eingezogen, konnte diesen aber 1915 wieder verlassen, um als Ersatz für Oswald Külpe an die Universität in München zurückzukehren. Dort war inzwischen Charlotte Bühler in das Kollegium aufgenommen worden. Kurz nach ihrem Kennenlernen heirateten Charlotte und Karl Bühler, 1917 und 1919 wurden ihre Kinder Ingeborg und Rolf-Dietrich geboren.191 Charlotte Bühler war dabei 24 und 26 Jahre alt. In Bezug auf → Kapitel 1 dieser Studie stellt sich die Frage, ob Charlotte und Karl Bühler systematische Aufzeichnungen über ihre Kinder gemacht haben könnten. Immerhin beschäftigten sich beide wissenschaftlich u. a. mit der Entwicklung kleiner Kinder, und Karl Bühler veröffentlichte 1918 in Jena das daraufhin sechsmal aufgelegte Buch »Die geistige Entwicklung des Kindes«. Wie erwähnt hat Lotte Schenk-Danzinger (1905–1992), die zweite Assistentin von Charlotte Bühler, in ihren Erinnerungen angegeben, dass diese ein Tagebuch über die kleine Ingeborg geführt habe (→ Abschnitt 1.6).192 Dass das ein systematisch angelegtes Unterfangen war, erscheint mir aber als unwahrscheinlich, sie 188 Bühler: [Selbstdarstellung], 1972, S. 9–14; Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 24f.; Korotin: Wissenschaft als soziale Praxis, 2006, S. 331–333. 189 Karl Bühler in einer 1938 unter Zwang verfassten Selbstdarstellung, zitiert nach Angaben in der Datenbank »Austria-Forum – das Wissensnetz aus Österreich« (o. J.), unter: https://aus tria-forum.org/af/Biographien/Bühler_Karl. 190 Hinweise dazu finden sich in Karl Bühlers Selbstdarstellung von 1938. 191 Korotin: Wissenschaft als soziale Praxis, 2006, S. 332f. 192 Lotte Schenk-Danzinger: Erinnerungen an Karl und Charlotte Bühler – Die Bedeutung der Wiener Schule der Psychologie für die Pädagogik, in: Erik Adam (Hg.): Die österreichische Reformpädagogik 1918–1938, Graz 1981, S. 225–235, S. 225, zitiert nach Korotin: Wissenschaft als soziale Praxis, 2006, S. 340.

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dürfte schlichtweg keine Zeit für so etwas gehabt haben. Im Jahr nach Ingeborgs Geburt veröffentlichte Charlotte Bühler ihre erste Publikation zum Thema »Das Märchen und die Phantasie des Kindes« (Leipzig 1918) und promovierte ›summa cum laude‹ als Psychologin. Ebenfalls 1918 übersiedelte die Familie nach Dresden, wo Karl Bühler an der Technischen Hochschule eine Professur für Philosophie erhalten hatte und wo ihr Sohn Rolf-Dietrich zur Welt kam. Auf der welthistorischen Bühne gingen zu dieser Zeit der Erste Weltkrieg zu Ende und ein Großteil der europäischen Monarchien unter, auch die deutsche. Charlotte Bühler habilitierte sich als 27-Jährige 1920 an der TH Dresden für »Ästhetik und pädagogische Psychologie«. Zur gleichen Zeit übernahm die zweifache Mutter den Auftrag zu ihrer ersten jugendpsychologischen Studie. Das Projekt zum Thema Jugendkriminalität war von der Stadt Dresden in Auftrag gegeben worden. Bühler befragte dazu 3.000 Schüler/innen »nach ihren sittlichen Vorstellungen«, führte Interviews mit Fürsorgerinnen und analysierte populäre ›Schundliteratur‹.193 Einer nachträglichen Darstellung zufolge hatte eigentlich ihr Ehemann diesen Auftrag angeboten bekommen. Er war jedoch gerade anderweitig »beschäftigt und schlug mich an seiner Stelle vor«.194 Daneben war Charlotte Bühler zu der Zeit auch in der Lehrer/innenfortbildung tätig. Und sie begann mit ihren entwicklungspsychologischen Arbeiten, wozu sie auch erstmals diaristische Aufzeichnungen als Quellen verwendet hat. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Jugend wurde an das Ehepaar Bühler also von außen (von der Stadt Dresden bzw. dem dortigen Lehrer/innenfortbildungswesen) herangetragen. Dass sich dann Charlotte und nicht Karl Bühler der Sache annahm, ergab sich aus ihrer pragmatischen Arbeitsteilung als Forscher/innenpaar. In ihrer retrospektiven Selbstdarstellung erklärte Charlotte Bühler des Weiteren, wie sie das alles gleichzeitig überhaupt hatte schaffen können: »Mit finanzieller Hilfe seitens meiner Eltern war ich in der Lage, eine Haushaltshilfe und für meine Kinder erst eine Amme später eine Gouvernante anstellen zu können, so daß ich stets Zeit für meine wissenschaftliche Arbeit sowie für Karls und meine vielen gemeinsamen geistigen Interessen fand.«195 Das »Kinderstubenleben«, das die ebenfalls in der Berliner Bourgeoisie aufgewachsene Clara Stern kurz zuvor über 18 Jahre lang so detailliert dokumentiert hat (→ Abschnitt 1.6),196 definierten Bühler und Bühler also wohl in keinem vergleichbaren Ausmaß als ihre »vielen gemeinsamen geistigen Interessen«. Mit diesem Hinweis soll betont werden, dass Frauen, die sich mit Themen der Entwicklungspsychologie be193 194 195 196

Bühring: Charlotte Bühler oder Der Lebenslauf als psychologisches Problem, 2007, S. 69. Bühler: [Selbstdarstellung], 1972, S. 23. Ebd.: S. 21f. Clara und William Stern: Die Kindersprache. Eine psychologische und sprachtheoretische Untersuchung. Monographien über die seelische Entwicklung des Kindes, Leipzig 1907, o. S. (Vorwort).

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schäftigt haben, auch inhaltliche Entscheidungsmöglichkeiten hatten. Selbst in den ersten Jahrzehnten der fachlichen Entwicklung. Wie das Beispiel Charlotte Bühlers zeigt, war sowohl in der Themen- und Quellenwahl als auch in der Selbstpositionierung als forschende Frau offenbar doch ein gewisser Spielraum vorhanden. Dass eine Entwicklungspsychologin selbst Kinder hatte, hieß also nicht zwingend, dass sie diese auch gleich zum eigenen Forschungsgegenstand machen ›musste‹.

Die psychologische Tagebuchforschung in Wien ab 1922 Insgesamt scheinen die Handlungsspielräume, die das Ehepaar Bühler in Wien hatte, erstaunlichen groß gewesen zu sein. Das hing insbesondere mit der außergewöhnlichen Organisation ihrer Dienstverpflichtungen zusammen. Die speziellen Entwicklungen der psychologischen Forschungen am Standort Wien in der Zwischenkriegszeit sind in der Fachliteratur detailliert dargestellt worden. Neben den wissenschaftshistorischen Arbeiten der Psychologen Gerhard Benetka und Gerald Bühring sind hier u. a. jene des Historikers Mitchell G. Ash zu nennen.197 Die im Folgenden beschriebenen Ereignisse und Umstände stehen nicht alle in einem direkten Bezug zur Tagebuchforschung von Charlotte Bühler und ihren Mitarbeiter/innen. Die ausführliche Darstellung ist nach meinem Dafürhalten aber notwendig, um einen Eindruck der zeitgenössischen Position des Standorts zu geben. Wien entwickelte sich in der Zwischenkriegszeit zu einer der ›Hochburgen‹ der deutschsprachigen Jugendforschung, und das innerhalb kürzester Zeit. Die Auswertung von Tagebüchern Jugendlicher war dabei (wie die Jugendforschung insgesamt) bei weitem nicht der einzige Schwerpunkt der psychologischen Forschung in Wien ab den 1920er-Jahren. Und sie war auch definitiv nicht der einzige inhaltliche Schwerpunkt der Arbeiten von Charlotte Bühler. Die zeitgenössische psychologische Jugendtagebuchforschung fand in einem sehr innovativen und experimentierfreudigen Kontext statt. Sie ist als ein Teil davon zu sehen. Die neue psychologische Forschung in Wien wurde von einer Gruppe durchwegs junger Akademiker/innen durchgeführt, die dabei auch jenen Habitus eines wissenschaftlichen Selbstbewusstseins kultivierten. Hildegart Hetzer, die erste Assistentin von Charlotte Bühler, stellte das retrospektiv folgendermaßen dar: »Wir jungen, an der Untersuchung von Kindern und Jugendlichen 197 U. a. Mitchell G. Ash: Psychology and politics in interwar Vienna: The Vienna Psychological Institute, 1922–1942, in: ders. und William R. Woodward (Hg.): Psychology in twentiethcentury thought and society, Cambridge 1987, S. 143–164; ders.: Die Entwicklung des Wiener Psychologischen Instituts 1922–1938, in: Achim Eschbach (Hg.): Karl Bühler’s Theory of Language, Amsterdam 1988, S. 303–325.

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beteiligten Psychologen, fühlten uns bei der Eroberung von Neuland in einer Aufbruchsstimmung. Wir waren mitunter geneigt, unsere eigene Leistung als das Neue zu überschätzen.«198 Wie aber kam diese »Aufbruchsstimmung« genau zustande? Und wie kam es dazu, dass Charlotte Bühler ihre Arbeiten zusammen mit einem Forschungsteam durchgeführt hat?

Förderungen durch die Universität Wien und den Wiener Stadtschulrat Karl Bühler beschäftigte sich wissenschaftlich nicht hauptsächlich mit Tagebüchern. Seine Karriere war aber eng mit der seiner Ehefrau verknüpft, weswegen beide auch nicht isoliert dargestellt werden können. Bühler war, wie schon gesagt, als Professor für Philosophie an der Universität Wien angestellt. Gleichzeitig wurde er zum Leiter des 1922 neu gegründeten Psychologischen Instituts ernannt. Dieses Institut wurde nicht von der Universität getragen, sondern von der Stadt Wien. Es war auf einem 1913 gegründeten psychologischen Laboratorium der Niederösterreichischen Lehrerakademie aufgebaut, stand also im Zusammenhang mit der Lehrer/innenfortbildung.199 Als ›Gegenleistung‹ für die Leitungsposition verpflichtete sich Karl Bühler dazu, neben seiner Hochschultätigkeit auch Kurse für Volksschullehrer/innen abzuhalten. Der politische Hintergrund, der diesen »erstaunlichen Kompromiss«200 ermöglicht hatte, war die weitreichende Schulreform, die als eine der gesellschaftsrevolutionären Veränderungen im »Roten Wien« umgesetzt wurde.201 Einer ihrer federführenden Akteure war der sozialdemokratische Pädagoge Otto Glöckel (1874–1935). Er war 1919 und 1920 österreichischer Unterstaatssekretär für Unterrichtswesen und von 1922 bis 1934 Präsident des Wiener Stadtschulrates.202 Im Rahmen der Schulreform wurde gefordert, die »Gestaltung des Schulunterrichts ganz dem körperlichen wie psychischen Entwicklungsstand der 198 Hildegard Hetzer: Karl Bühlers Anteil an der kinder- und jugendpsychologischen Forschung im Wiener Institut, in: Eschbach: Karl Bühler’s Theory of Language, 1988, S. 20, zitiert nach Korotin: Wissenschaft als soziale Praxis, 2006, S. 342. Hetzer arbeitete selbst nicht mit Tagebüchern, sie war an der »Kinderübernahmestelle« oder in einem Hort tätig (→ Abschnitt 2.7). 199 Der »Kompromißkandidat« für die Nachfolge von Adolf Stöhr war eigentlich Erich Becher (1882–1929) aus München gewesen. Die Verhandlungen mit ihm sind gescheitert, da er ein eigenes Institut für Psychologie an der Universität Wien gefordert hatte. Karl Bühler wurde erst dann eingeladen. Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 17. 200 Benetka: Vom Anfang bis zur Nachkriegszeit, 2008, S. 3. 201 Dazu konkret: Fleck: Rund um »Marienthal«, 1990, S. 113–116 und Bauer: Marie Jahoda. Die Utopie einer gerechteren Welt, 20112, S. 249–251. 202 Gerald Mackenthun: Otto Glöckel – Organisator der Wiener Schulreform, in: Alfred Lévy und Gerald Mackenthun (Hg.): Gestalten um Alfred Adler. Pioniere der Individualpsychologie, Würzburg 2002, S. 99–117.

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Kinder anzupassen«,203 womit eine »gesellschaftliche Nachfrage nach experimenteller Psychologie« geschaffen worden war. Die wissenschaftliche Basis dazu sollte in Synergie mit der neu besetzten Professur erarbeitet werden.204 Dabei handelte es sich um eine sogenannte Win-win-Strategie: Der psychologischen Forschung wurde ›Notwendigkeit‹ attestiert, für »die Schulreformer selbst bedeutete die Lehrtätigkeit des renommierten Psychologieprofessors einen großen Prestigegewinn« in der Ausbildung der Grundschullehrer/innen.205 Die Position der Anstellung von Charlotte Bühler war (und blieb) dabei verschwommen. Die Finanzierung ihrer Assistentinnenstelle wurde 1922 von der Stadt Wien übernommen. Wie Gerhard Benetka dargestellt hat, wurde Bühler niemals von der Universität Wien bezahlt. Weder als Lehrende, noch in ihrer Funktion als »Forschungsdirektorin« des Psychologischen Instituts – und auch nicht nach ihrer Ernennung zur a.o. Professorin im Jahr 1929, der ein zweijähriges Anerkennungsverfahren vorausgegangen war.206 Dass sich dieser formale Akt so hinzog, interpretierte Gerhard Benetka folgendermaßen: »Charlotte Bühler mußte von so manchem ihrer Universitätskollegen […] gleich mit einer dreifachen Ablehnung rechnen: fachlich, weil sie Psychologin und nicht Philosophin war; weltanschaulich, weil sie und ihr Mann mit der sozialdemokratischen Stadtverwaltung zusammenarbeiteten; und geschlechtsspezifisch, weil sie eben eine Frau war, und Frauen in den Augen vieler vielleicht als Studierende aber keinesfalls als Lehrende an der Universität etwas zu suchen, geschweige denn zu finden hatten.«207 Wie der Status der Anstellung von Charlotte Bühler war auch jener des Psychologischen Instituts insgesamt etwas diffus. Die Räumlichkeiten stellte nicht die Universität, sondern der Stadtschulrat. Sie befanden sich in dem repräsentativen Palais Epstein direkt neben dem Gebäude des österreichischen Parlaments auf der Wiener Ringstraße.208 1934 übersiedelte das Institut in ein Universitätsgebäude in der Liebiggasse in unmittelbarer Nähe zum Hauptgebäude der Universität Wien, wo es sich auch aktuell noch befindet. In den 1920erund 1930er-Jahren erfüllte das Psychologische Institut also eine komplizierte

203 204 205 206 207 208

Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 16. Ebd.: S. 30. Zu dieser Zusammenarbeit allgemein siehe ebd.: S. 30–39. Ebd.: S. 19. Ebd.: S. 29. Ebd.: S. 28 [Hervorhebungen im Original]. Die Adresse dieses Teilabschnitts der Wiener Ringstraße änderte sich im 20. Jahrhundert mehrfach. Zuerst war sie nach Kaiser Franz Joseph I. als »Franzensring« benannt. In der Zwischenkriegszeit hieß sie in Erinnerung an das Datum des beim Parlamentsgebäude 1918 stattgefundenen Ausrufens der Republik Österreich »Ring des 12. November«. Der aktuelle Name ist »Dr.-Karl-Renner-Ring«. Wissensportal Wikipedia (o. J.) unter: https://de.wikipe dia.org/wiki/Dr.-Karl-Renner-Ring.

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»Doppelfunktion«209 als Gemeindeinstitut für die Lehrer/innen(fort)bildung einerseits und als Hochschulinstitut andererseits. Karl und Charlotte Bühler waren als Universitätslehrende jedenfalls ausgesprochen erfolgreich. 1931 sollen zu seiner Hauptvorlesung im Kleinen Festsaal im Universitätshauptgebäude 1.377 Studierende inskribiert gewesen sein, die Fakultät verzeichnete in dem Jahr insgesamt 5.409 Hörer/innen.210 Die Studierenden waren zudem ungewöhnlich international. 1937 sollen sie aus 18 Staaten gekommen sein, neben den ehemaligen Kronländern der österreichisch-ungarischen Monarchie vor allem aus den USA.211 Zwischen 1922 und 1938 wurden unter der Betreuung von Karl Bühler 187 Dissertationen abgeschlossen, neun davon mit einem schulpädagogischen, 36 mit einem jugend- und 45 mit einem kinderpsychologischen Fokus.212 Neben der Bezahlung von Räumen und Angestellten förderte die Stadt Wien das Psychologische Institut auch inhaltlich. Es wurde genehmigt, dass das Forschungsteam und die Studierenden ihre entwicklungspsychologischen Experimente und Tests an verschiedenen kommunalen Institutionen durchführen konnten. Damit standen mehrere Kindergärten, Schulen und Horte, ein Kinderheim, Mütterberatungsstellen und die 1925 eröffnete »Kinderübernahmestelle« im Alsergrund als ›Laboratorien‹ zur Verfügung.213 Diese Möglichkeiten machten es wiederum besonders interessant für auswärtige Studierende und Forscher/innen, zur Durchführung ihrer Projekte nach Wien zu kommen.

Die Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler und ihrer Forschungsgruppe ab 1921 Ein weiteres Quellenangebot war schließlich die Sammlung von Tagebüchern und auto/biografischen Aufzeichnungen Jugendlicher, die Charlotte Bühler ab 1921 sukzessive aufbaute und die im Folgenden noch ausführlich dargestellt werden wird (→ Abschnitt 2.6). Der Anlass, mit dem Sammeln zu beginnen, lag in 209 210 211 212

Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 22. Ebd.: S. 42–56, Zahlen zu 1931 auf S. 46. Benetka: Vom Anfang bis zur Nachkriegszeit, 2008, S. 4. Korotin: Wissenschaft als soziale Praxis, 2006, S. 337. Wie viele Arbeiten dabei von Charlotte Bühler (mit-)betreut wurden, ist nicht zu sagen. Als Betreuer(innen) scheinen nur ordentliche Professor(innen) auf. Benetka, Grossmann und Rollet: Retrospektive: Charlotte Bühler und ihre Zeit, 2015, S. 40. 213 Die »Kinderübernahmestelle« war von dem sozialdemokratischen Sozialpolitiker Julius Tandler (1869–1936) initiiert worden. Hier wurden alle Säuglinge, Kinder und Jugendlichen temporär aufgenommen (und beobachtet), bevor sie als ›Zöglinge‹ in eine der Fürsorgeeinrichtung der Gemeinde eingezogen sind. Wissensportal Wien Geschichte Wiki (o. J.) unter: www.geschichtewiki.wien.gv.at/Kinderübernahmestelle.

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Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

ihren eigenen Forschungen. Konkrete Angaben dazu, in wessen Besitz sich die Sammlung rechtmäßig eigentlich befand und ab wann die Quellen auch Studierenden und Forscher/innen zur Verfügung standen, konnte ich nicht recherchieren. Auch finden sich widersprüchliche Aussagen dazu, wer die Materialien eigentlich verwendet durfte.214 Der im Zusammenhang mit der Fragebogenmethode und seinem Engagement in der Jugendbewegung schon genannte deutsche Psychologe und Lehrer Adolf Busemann hatte jedenfalls laut seiner Studie »Die Sprache der Jugend als Ausdruck der Entwicklungsrhythmik« schon 1924 »ein noch unveröffentlichtes Tagebuch eines jungen Mädchens zur Verfügung« gestellt bekommen.215 1927 gab Charlotte Bühler an, dass »ein großes Material in Maschinschrift für die Leser der Bibliothek des Wiener Psychologischen Instituts zur Verfügung«216 stehe. Im selben Jahr schrieb sie an anderer Stelle. »Meine eigene Sammlung, ist […] beträchtlich gewachsen«, wobei »deren größter Teil in Maschinenschrift vervielfältigt den Mitarbeitern des Wiener psychologischen Instituts als Quellenmaterial zur Verfügung steht«.217 Die Formulierung ist zwar fast wortgleich, benennt aber möglicherweise doch zwei verschiedene Benützer/innengruppen. Wer genau sie unter welchen Bedingungen benützen konnte, lässt sich aus den Angaben in Charlotte Bühlers Publikationen also nicht restlos klären (→ Abschnitt 2.9). 1931 merkte sie schließlich an, dass das Quellenmaterial »inzwischen eine Sammlung des Wiener Institutes geworden« sei.218

214 Nach Angaben von Charlotte Bühler befanden sich 1931 vier Projekte »in Vorbereitung«, die die Auswertung von Tagebüchern bereits in ihrem Titel trugen: Käthe Berger: »Berufsprobleme im Tagebuch«; Marie Latka: »Das Tagebuch des Jugendlichen. Statistik und Inventar«; Max Piperek: »Weltanschauungsfragen beim Jugendlichen (Tagebuch)«; Sieglinde Rödleitner: »Die Rolle des Sozialen im Tagebuch«. Bühler: Kindheit und Jugend, 19313, S. 397–400. 215 Adolf Busemann: Die Sprache der Jugend als Ausdruck der Entwicklungsrhythmik (Quellen und Studien zur Jugendkunde, Bd. 2), Jena 1925, S. V. Angaben zu den konkreten Quellen S. 42–45 und 49–52. Das von Busemann ausgewertete Tagebuch mit der Signatur und dem Pseudonym »M 16 Hildegard Köhler« hat Charlotte Bühler später selbst ediert in: Jugendtagebuch und Lebenslauf. Zwei Mädchentagebücher mit einer Einleitung (Quellen und Studien zur Jugendkunde, Bd. 9), Jena 1932. Zwei weitere Quellen in Busemanns Studie waren das 1919 von Hermine Hug-Hellmuth herausgegebene »Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens« und das 1922 von Charlotte Bühler veröffentlichte »Tagebuch eines jungen Mädchens« (→ Abschnitt 2.5). 216 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19295, S. VI (Vorwort zur 4. Auflage). 217 Charlotte Bühler (Hg.): Zwei Mädchentagebücher (Quellen und Studien zur Jugendkunde, Bd. 1 [2., veränderte Auflage]), Jena 1927, S. IV (Vorwort und Einführung zur 2. Auflage). 218 Bühler: Kindheit und Jugend, 19313, S. 330.

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Der Bestand der Tagebuchsammlung Nicht ganz klar zu sagen ist zudem, wie viel Material insgesamt zusammengetragen werden konnte – obwohl dazu einige Zahlen kursieren. Anhand von Angaben aus den Vorwörtern der Publikationen von Charlotte Bühler kann das sukzessive Anwachsen des Tagebuchbestandes von 1921 bis 1934 einigermaßen nachvollzogen werden. Daraus geht u. a. hervor, dass der Zuwachs in den ersten Jahren besonders stark war. Das lässt sich auch aus der folgenden Tabelle bzw. Kurve ablesen. Die Zahlenangabe aus 1967 (in der Tabelle kursiv gesetzt) ist dabei mit Vorbehalt zu werten und daher in der Kurve nicht enthalten. Bühler hat sie im Vorwort der Neuauflage von »Das Seelenleben des Jugendlichen« von 1967 aus dem Gedächtnis heraus formuliert. Tabelle 1 und Kurvendiagramm 1: Umfang der Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler von 1921 bis 1938 Jahr

Anzahl219 Zuwachs Prozent 1921 3 1923 14 9 + 366 % 1925 1927

30 52

16 22

+ 114 % + 73 %

1929 1931

76 80

24 4

+ 46 % +5%

1934 1938

93 130

13 37

+ 16 % + 39 %

Die meisten dieser hier vorgestellten Zahlen finden sich mehr oder weniger in der gesamten Forschungsliteratur über Charlotte Bühler wieder. Werden sie jedoch genauer überprüft, stellt sich heraus, dass diese quantitativen Angaben große Unschärfen aufweisen. So wurden in den Vorwörtern jeweils mehr Quellenbestände angegeben, als Charlotte Bühler in den einzelnen Studien dann auch ausgewertet hat. Beispielsweise gab sie in der fünften Auflage von »Das Seelenleben der Jugendlichen« (1929) an, über einen »Grundstock«220 von 76 Tagebüchern zu verfügen. Wie noch darzustellen ist, bezog sie sich im Text aber nur auf insgesamt 30 Schreiber/innen, die zudem extrem ungleich gewichtet wurden (→ Abschnitt 2.8). 219 Die in der Tabelle angegebenen Zahlen wurden aus den folgenden Texten entnommen: Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19232, S. VI, S. VII (Zahlen zu 1921 und 1923); dies.: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19676, S. VII, S. XIV, S. 1 (Zahlen zu 1925, 1927, 1929 und 1938); dies.: Kindheit und Jugend, 19313, S. 330 (Zahl zu 1931); dies.: Drei Generationen im Jugendtagebuch, 1934, S. 1. 220 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19295, S. V (Vorwort der 4. Auflage von 1927).

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Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

Aber vor allem die Anzahl der insgesamt vorhandenen Quellen ist etwas verschwommen. Die umfangreichste und systematischste Aufstellung des Bestandes wurde 1934 in der Einleitung von »Drei Generationen im Jugendtagebuch« veröffentlicht.221 Die Auflistung ist als Tabelle gestaltet und umfasst vier Seiten. Sie enthält Angaben zu 101 Beständen diaristischer Aufzeichnungen, die von 59 Mädchen und 42 Burschen verfasst worden sind.222 Jeder Bestand ist mit einer Signatur versehen, die vermutlich bei den Übernahmen in die Sammlung laufend vergeben wurden. Die Ordnung im Inventar ist aber nicht nach diesen Signaturen aufgebaut, sondern chronologisch nach den Geburtsjahren der Schreiber/innen. Werden nun die 1934 in das Inventar aufgenommenen Signaturen genauer überprüft, stellt sich heraus, dass in dieser Aufstellung zahlreiche Positionen fehlen. Aufgelistet werden 101 Bestände, 59 von Mädchen und 42 von Burschen. Die angegebenen Signaturen gehen bei den Mädchen aber bis zur Zahl 108 und bei den Burschen bis zur Zahl 101. Davon ist abzuleiten, dass das Inventar von 1934 nicht alle Quellen dokumentiert, die in die Sammlung aufgenommen worden waren. Wie groß die Differenz gewesen sein dürfte, lässt sich in den zwei folgenden Tabellen grafisch darstellen. Die hier angegebenen Zahlen (3, 4, 11, …) sind jene Signaturen, die sich auch im Inventar von 1934 finden. Die grau unterlegten Felder ohne Ziffern stehen für jene Positionen, die im Inventar von 1934 fehlen. Aus diesen um die Leerstellen der fehlenden Signaturen erweiterten Aufstellungen lässt sich schließen, dass in der Sammlung insgesamt sehr viel mehr Quellen zur Verfügung standen als von Charlotte Bühler angegeben und deswegen auch in der Forschung bisher angenommen wurde. Werden die angegebenen und die fehlenden Positionen addiert, so ergibt die Gesamtzahl aller im Jahr 1934 vergebenen Signaturen eine Summe von 209 verschiedenen auto/bio-

221 Bühler: Drei Generationen im Jugendtagebuch, 1934, S. 2–5. 222 In einem Text von 1929 und einem von 1931 brachte Charlotte Bühler verschiedene quantitative Auswertungen bezüglich der Schreibdauer, der Themenwahl etc. der vorliegenden Tagebücher. Dabei wurde auch zwischen Mädchen und Burschen unterschieden. 1929 bezogen sich die Berechnungen unter dem Titel »Das Tagebuchmaterial« auf 45 Bände. 1931 wurde als Grundlage der Berechnungen die damals »in Vorbereitung« befindliche Dissertation von Maria Latka angegeben. Wie viele Bestände Latka ausgewertet hat, ist nicht angegeben. (Als Quellenbasis für ihre Studie »Kindheit und Jugend«, in der sie auf die Arbeit von Latka Bezug genommen hat, hatte Bühler jedenfalls 80 Tagebuchbände genannt.) Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19295, S. 1–6; dies.: Kindheit und Jugend, 19313, S. 330–332. In einer Fußnote (S. 2) wurde 1929 zudem angekündigt, »P. Lazarsfeld, (Wiener Gruppenarbeit)« würde ein »Inventar und [eine] Charakteristik des Jugendtagebuchs« vorbereiten. Vermutlich war die 1934 präsentierte tabellarische Aufstellung der 101 Tagebücher das Ergebnis jener »Gruppenarbeit«. Gerhard Benetka hat darauf hingewiesen, dass die hier angekündigte Publikation von Paul F. Lazarsfeld nie gedruckt worden ist. Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 175.

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graphischen Beständen. Vorgestellt werden aber nur 101. Die Differenz beläuft sich somit auf 108 fehlende Positionen, mehr als doppelt so viele. Tabellen 2 und 3: Aufgenommene und ausgelassene Bestände der Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler im Inventar von 1934 Schreiberinnen im Inventar von 1934 3

4

11

21

22

24

25

26

27

29

41

42

44

45

46

47

49

62

63

65

66

82

84 103

69

85

86

87

88

105

106

107

108

30

15 32 53

71

34

35

54

55

73 92

94

16

17

18

20

56

37

38

40

57

58

77

78

96

99

36

39

Schreiber im Inventar von 1934 1

2

5

6

7

23

8

9

81

64 83

12 31

48 61

10

28 50

67

51

70 89

90

13

52

59

72 91

19

33

74 93

75

76 98

60

79

80

99

100

101

Die Leerstellen in ihrer Aufstellung erklärte Charlotte Bühler vage in der Legende: »Einige Nummern aus unserm Kataster von solchen Fällen, wo nur wenige Gedichte vorliegen oder wo uns alle Angaben über den Schreiber fehlen, wurden in vorliegendem Inventar fortgelassen.«223 Durch die genaue Aufstellungen der Positionen ist die Angabe, es würden nur »[e]inige Nummern […] fortgelassen« worden sein, als durchaus ungenau zu identifizieren. Bühler demonstrierte hier einen sehr saloppen Umgang mit Zahlen. Diese quantitativen Unschärfen sollen allerdings nicht überbewertet werden. Vielmehr ist die Einschätzung daran zu knüpfen, dass alle zum Umfang der Sammlung gemachten Zahlenangaben als Tendenzen einzustufen sind.224 Eine weitere Erklärung für die Differenz zwischen den Positionen im Inventar und den fortlaufenden Signaturen kann sein, dass Tagebuchquellen bevorzugt in

223 Bühler: Drei Generationen im Jugendtagebuch, 1934, S. 5. 224 Eine weitere Unschärfe ergibt die Gegenüberstellung der Angaben zum Bestand, die Charlotte Bühler in der Publikation »Drei Generationen im Jugendtagebuch« von 1934 machte. Während sie hier in der Einleitung (S. 1) angab, 93 Tagebücher als Quellenbasis für die Studie zur Verfügung gehabt zu haben, werden im Inventar (S. 2–5) dann aber eben 101 Bestände vorgestellt. Bühler: Drei Generationen im Jugendtagebuch, 1934, S. 1–5.

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Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

das Verzeichnis aufgenommen worden sind.225 Charlotte Bühler hat ja angegeben, dass die Positionen von jenen »Fällen, wo nur wenige Gedichte« vorlagen, nicht genannt werden würden. Neben lyrischen Texten dürfte es sich dabei um Korrespondenzen gehandelt haben, was sich wiederum aus Beschreibungen von Bühler ableiten lässt. 1927 gab sie an: »Ich verfüge zurzeit über 54 Jugendtagebücher, dazu zahlreiche Dichtungen, Briefwechsel u. dgl.«226 1972 stellte sie fest: »Der Erfolg war ungeheuer. Briefe und Tagebücher kamen von vielen Seiten.«227 Ob jene im Inventar von 1934 ausgemusterten Bestände und verschiedene Genres dennoch Teil der Sammlung waren oder ob sie vielleicht wieder zurückgegeben worden sind, kann nicht rekonstruiert werden. Ich konnte eine Signatur identifizieren (K 3), die sich zwar nicht in der Tabelle befindet, die aber trotzdem in einem der Texte genannt wird.228 Sollte es sich dabei nicht um einen Tipp- oder Angabefehler gehandelt haben, ist das ein Indiz dafür, dass die 108 nicht gelisteten Bestände dennoch der Forschung zur Verfügung standen.

Drittmittelförderungen aus den USA und aus der Privatwirtschaft Die sukzessive aufgebaute Sammlung von Selbstzeugnisquellen kann einer der Faktoren gewesen sein, der die internationale Attraktivität des Standorts Wien für die psychologische Forschung der Zwischenkriegszeit ausmachte. Gesichert wurde diese gute Position aber nicht zuletzt durch Charlotte Bühlers erfolgreiches Lukrieren von Drittmittelförderungen. Im Rahmen eines Forschungsaufenthaltes als Fellow der Sarah Lawrence Rockefeller Foundation in den USA war es ihr 1924/25 gelungen, eine »hochdotierte Zuwendung in Form einer Forschungsstiftung« der Rockefeller Foundation anzuwerben.229 Das Psychologische Institut in Wien war damals die einzige europäische Institution, die auf diese Weise gefördert wurde. Zwischen 1926 und 1936 wurden damit Stipendien für Doktorand/innen sowie auch Gehälter für Mitarbeiter/innen finanziert. Dadurch kann nun auch erklärt werden, dass es hier ein so großes Forschungsteam gab und so viel publiziert werden konnte. Zwischen 1924 und 1935 wurden am Institut insgesamt 260 Publikationen veröffentlicht. 58 davon waren selbständig,230 13 erschienen in der von Charlotte Bühler in Jena herausgegebenen Reihe »Quellen und Studien zur Jugendkunde«. Diese Reihe war der bevorzugte Ort für 225 Im Inventar wurden zwei Bestände als »Ged.« (vermutlich: »Gedichte«) ausgewiesen, einer als »Briefwechsel«. 226 Bühler: Zwei Mädchentagebücher, 1927, S. IV. 227 Bühler: [Selbstdarstellung], 1972, S. 23. 228 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19676, S. 198. 229 Korotin: Wissenschaft als soziale Praxis, 2006, S. 334–336. 230 Bühring: Charlotte Bühler oder Der Lebenslauf als psychologisches Problem, 2007, S. 65.

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Veröffentlichungen zum Thema Tagebuchforschung. Alle von Bühler erarbeiteten Editionen von (Ausschnitten von) Tagebüchern aus der Institutssammlung (→ Abschnitt 2.8) sowie ihre methodischen Anmerkungen zum Arbeiten mit diesem Quellengenre sind unter diesem Label erschienen.231 Gemeinsam mit Kolleg/innen unterhielten Karl und Charlotte Bühler noch vier weitere Schriftenreihen für andere Themenfelder.232 Die Mehrfachfunktion des Psychologischen Instituts als Forschungs- und als Lehrbetrieb, als Hochschul- und als Gemeindeinstitut, das zusätzlich durch eine ausländische Stiftung großzügig gefördert wurde, führte zu einem »Finanz-Tohuwabohu«.233 Wie Gerhard Benetka resümiert hat, erwies sich das allerdings »als durchaus vorteilhaft«. Es entstanden auf diese Weise »Freiräume, die konsequent zur Entwicklung von informellen Strukturen genutzt wurden.«234 Zu den in diesen Freiräumen entstandenen Strukturen gehörte schließlich auch die 1931 von Paul F. Lazarsfeld initiierte Wiener Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle. Sie war die erste als Verein organisierte Einrichtung Österreichs, die Auftragsforschungen durchführte, welche zum Großteil von der Privatwirtschaft bezahlt wurden. Der inhaltliche Schwerpunkt lag insbesondere auf dem Thema Verhalten von Konsument/innen, wobei dafür »bis zu 160 Rechercheure« beschäftigt waren.235 Das bekannteste Ergebnis der Forschungsstelle war die 1933 veröffentlichte Studie »Die Arbeitslosen von Marienthal« (→ Abschnitt 2.3).

Die Nähe zu Vertreter/innen und Organisationen der politischen Linken Die Verbindung des Psychologischen Instituts zur sozialdemokratischen Wiener Stadtverwaltung zeitigte zahlreiche Vorteile für die Mitarbeiter/innen. Neben verschiedenen Finanzierungen war das vor allen Dingen der Zugang zu kommunalen Einrichtungen, wo experimentelle Forschungen durchgeführt werden konnten. Gleichzeitig gingen damit aber auch Ausgrenzungen von Seiten kon-

231 Eine Aufstellung von allen bis 1931 in Wien umgesetzten »Wiener Arbeiten zur Kinder- und Jugendpsychologie« findet sich in Bühler: Kindheit und Jugend, 19313, S. 397–400. 232 Die »Quellen und Studien zur Jugendkunde« waren einerseits jene Reihe, die als erstes erschienen ist (ab 1922), andererseits wurden hier auch die meisten Publikationen veröffentlicht (13). Die anderen vier Reihen erschienen ab 1924, 1926, 1929 und 1937 und umfassten ein bis zehn Hefte. Charlotte Bühler war bei drei dieser Reihen Mitherausgeberin. Bühring: Charlotte Bühler oder Der Lebenslauf als psychologisches Problem, 2007, S. 65. 233 Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 20. 234 Ebd.: S. 24. 235 Detaillierte Angaben sind auf der vom Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich herausgegebenen Website »Die Arbeitslosen von Marienthal« (o. J.) zu finden unter: http://agso.uni-graz.at/marienthal/projektteam/01_forschungsstelle.htm.

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Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

servativer Kolleg/innen an der Universität einher.236 Charlotte Bühler distanzierte sich retrospektiv von jeglichen politischen Ambitionen. In der Selbstdarstellung von 1972 gab sie an: »Karl hatte, ohne jede politische Deutung, die Einladung des Stadtschulrates, Vorlesungen für Volksschullehrer zu halten, angenommen. […] Wie viele deutsche Professoren hatten Karl und ich weder ein politisches Wissen noch politische Interessen.«237 Diese vehemente ›Entpolitisierung‹ der eigenen Position im Zusammenhang mit der hoch politisierten Umgebung der unmittelbaren Nachkriegszeit erscheint verwunderlich. Möglicherweise ist der Grund dafür darin zu finden, dass sie im Zusammenhang mit der späteren Verfolgung durch die Nationalsozialist/innen behauptet wurde: »Unsere politische Ignoranz ist letztlich auch der Grund, warum später unsere Existenz in nicht zu erwartender Weise zusammenbrach. Es war unsere Torheit, nicht vorauszusehen, was kommen würde.«238 Welches Narrativ diese nachträglich gemachten Angaben begründet hat, kann nicht geklärt werden. Es ist meiner Einschätzung nach jedoch davon auszugehen, dass Charlotte und Karl Bühler durchaus mehr Informationen über die politischen Vorgänge in Österreich und Deutschland der 1920er- und -30er-Jahre gehabt haben dürften, als sie hier angegeben hat. Mehrere Mitglieder der Wiener Forschungsgruppe waren selbst als Aktivist/innen der politischen Linken tätig oder zumindest in dieser vernetzt. Insbesondere die Akteur/innen der Marienthal-Studie (→ Abschnitt 2.3) waren teilweise eng mit hochrangigen Funktionären der »Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP)« befreundet. Marie Jahoda berichtete von der Verbindung ihrer Schwiegerfamilie Lazarsfeld mit Otto Bauer (1881–1938), der seit 1918 stellvertretender Parteivorsitzender war.239 Mit ihm sollen die Forscher/innen auch den Plan zur Durchführung ihrer empirischen Erhebung über die Langzeitarbeitslosigkeit in Gramatneusiedl besprochen haben240 oder sogar von ihm dazu angeregt worden sein.241 Benedikt Kautsky, der in dem Marienthal-Projekt die Funktion als Treuhänder innehatte, war der Enkel der frauenbewegten und sozialistischen Schriftstellerin Minna Kautsky (1837– 236 237 238 239

Bühler: [Selbstdarstellung], 1972, S. 24. Ebd. Ebd.: S. 24f. Die Angaben sind entnommen aus einem (nicht ausgewiesenen) Fernsehinterview mit Marie Jahoda im ORF-Fernsehen. Das Interview wurde am 1. Juni 1985 ausgestrahlt und ist in der »TVthek« des ORF unter dem Titel »Marie Jahoda im Kampf gegen den Austrofaschismus« online verfügbar. 240 Fleck: Rund um »Marienthal«, 1990, S. 176. 241 Eva Kreisky: Marie Jahoda. Eine Laudatio, in: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, Jg. 10, 1999, Heft 2, S. 295–300, S. 298. Zur Berufsbiografie von Marie Jahoda siehe (außerhalb der bereits zitierten Forschungsliteratur) auch Christian Fleck: Marie Jahoda (geb. 1907): Lebensnähe der Forschung und Anwendung in der wirklichen Welt, in: Claudia Honegger und Theresa Wobbe (Hg.): Frauen in der Soziologie. Neun Portraits, München 1998, S. 258–333.

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1912) und der ehemalige Sekretär von Otto Bauer. Paul F. Lazarsfelds Mutter, die Psychologin, Erziehungs-, Ehe- und Sexualberaterin Sofie (Sophie) Lazarsfeld (geb. Munk, 1882–1976)242 war wiederum mit Friedrich Adler (1879–1960) befreundet, der zu der Zeit (General-)Sekretär der Sozialistischen Arbeiterinternationale war.243 Die Verbindung von mehreren Vertreter/innen der Jugendpsychologie der 1920er- und 1930er-Jahre mit den internationalen Jugendbewegungen wurde bereits genannt. In der Wiener Gruppe fanden diese Vernetzungen insbesondere im linken Flügel der Bewegung statt: Siegfried Bernfeld war Aktivist in sozialistischen/sozialdemokratischen und marxistischen Organisationen sowie in der zionistischen Jugendbewegung. Marie Jahoda und Paul F. Lazarsfeld,244 Gertrud Wagner245 und Stella Herzig (verheiratete Klein-Löw, 1904–1986)246 waren jeweils in der Sozialistischen Arbeiterjugend, in der Vereinigung sozialistischer Mittelschüler oder später im linken Widerstand organisiert bzw. federführend daran beteiligt. Sie wurden vom austrofaschistischen und dann vom NS-Regime verfolgt und eingesperrt. In einem Jahrzehnte später aufgenommenen Fernsehinterview schilderte die hochbetagte Marie Jahoda eindrucksvoll, sie sei nach den Ereignissen im Bürger/innenkrieg im Februar 1934 von einer Kollegin gebeten worden, sich darum zu bemühen, ihre offensichtlich klar erkennbare Fassungslosigkeit besser zu verbergen, um nicht auf offener Straße von politisch Andersdenkenden angegriffen zu werden.247 Dass Charlotte und Karl Bühler diese Aktivitäten in ihrem nahen Umfeld nicht wahrgenommen haben, ist kaum wahrscheinlich. Die Polizei hat sie jedenfalls registriert und beschlagnahmte 1936 das in der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle gesammelte Quellenmaterial. Darunter waren auch die gesamten Unterlagen der Marienthal-Studie, die seit damals verschollen sind.248 Paul F. Lazarsfeld lebte bereits seit 1933 im 242 Martina Siems: Sofie Lazarsfeld: Die Wiederentdeckung einer individualpsychologischen Pionierin, Göttingen 2015. 243 Datenbank biografiA (o. J.) unter: www.univie.ac.at/biografiA/daten/text/bio/Lazarsfeld_ Sofie.htm. 244 Dazu konkret Fleck: Rund um »Marienthal«, 1990, S. 120–125. 245 Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich (o. J.) unter: http://agso.uni-graz.at/ marienthal/biografien/wagner_gertrude.htm. 246 Korotin: Wissenschaft als soziale Praxis, 2006, S. 338. 247 Bauer: Marie Jahoda, 2011, S. 253f. In dem oben zitierten online verfügbaren ORF-Fernsehinterview aus dem Jahr 1985 schilderte Marie Jahoda ihre Erinnerungen an die Ereignisse ab 1933, ihre Tätigkeit im sozialistischen Widerstand und die Zeit ihrer Inhaftierung. 248 Danke an Christian Fleck für diese Informationen per E-Mail am 13. Februar 2017. Siehe dazu auch Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich (o. J.): http://agso.uni-graz. at/museum_marienthal/index.htm. Zur Zerstörung von Wissens- und Kulturressourcen der sogenannten Arbeiter/innenkultur der Zwischenkriegszeit in Wien u. a. Konstantin Kaiser, Jan Kreisky und Sabine Lichtenberger (Hg.): Rote Tränen. Die Zerstörung der Arbeiterkultur durch Faschismus und Nationalsozialismus, Wien 2017.

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Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

Ausland. Marie Jahoda wurde verhaftet und erst nach neun Monaten mit der Auflage auf freien Fuß gesetzt, sofort das Land zu verlassen.249 Charlotte und Karl Bühler blieben zunächst in Wien, bis sie 1938 ebenfalls flüchten mussten.

Charlotte und Karl Bühlers Bekanntheit in der Wissenschaftsgeschichte Zu den Biografien des Forscher/innenpaares Bühler finden sich zahlreiche Publikationen, insbesondere die Laufbahn von Charlotte Bühler wurde mehrfach historisch dargestellt.250 Die Grundlage der biografischen Darstellungen bildet zumeist die schon zitierte autobiografische Skizze Bühlers aus dem Jahr 1972.251 Als exponierte Persönlichkeit im Wissenschaftsbetrieb wurde sie auch in mehreren lebensgeschichtlichen Texten von Zeitgenoss/innen erwähnt.252 Bei den zahlreichen fachhistorischen Überblicksdarstellungen ihrer Forscherinnenbiografie fanden insbesondere die Begriffe »Begründerin« oder »Pionierin« häufige Verwendung.253 Der Tenor, der in den Texten vermittelt wird, ist jedenfalls folgender: Karl Bühler sei ein eher introvertierter Forscher gewesen. Hildegard Hetzer behauptete dazu rückblickend: »Jede Art der Repräsentation war ihm 249 Siehe dazu die Angaben in dem ORF-Fernsehinterview von 1985. 250 Biografisch-historische Darstellungen finden sich (außerhalb der bereits zitierten Forschungsliteratur) u. a. weiters in Ilse Bürmann und Leonie Herwartz-Emden: Charlotte Bühler: Leben und Werk einer selbstbewussten Wissenschaftlerin des 20. Jahrhunderts, in: Psychologische Rundschau, Bd. XLIV, 1993, S. 215–217; Leonie Herwartz-Emden und Janine Keller: Charlotte Bühler. »Ich wusste, dass ich schöpferisch würde sein können«, in: Christian Boeser und Birgit Schaufler (Hg.): Vorneweg und mittendrin. Porträts erfolgreicher Frauen, Königstein im Taunus 2006, S. 109–122; Gerald Bühring: Charlotte Bühler: Der menschliche Lebenslauf als psychologisches Problem, in: Volkmann-Raue und Lück: Bedeutende Psychologinnen des 20. Jahrhunderts, 20112, S. 153–164; Brigitte Rollett: Charlotte Bühler: Porträt einer anspruchsvollen Wissenschaftlerin, in: Ahnert: Charlotte Bühler und die Entwicklungspsychologie, 2015, S. 19–28. 251 Bühler: [Selbstdarstellung], 1972, S. 9–42. 252 Vgl. u. a. Elise Richter: Summe des Lebens, hg. vom Verband der Akademikerinnen Österreichs, Wien 1997, S. 137. Weitere Zitate siehe in Korotin: Wissenschaft als soziale Praxis, 2006, S. 345–347. 253 Als Auswahl die folgende Collage: »[Charlotte Bühler] gilt als Begründerin der modernen Entwicklungspsychologie [und als] Begründerin der empirischen Kleinkindforschung, die als ›Wiener Schule‹ Weltruf erlangte.« »[She] is therefore considered an early pioneer in the field of gerontopsychology.« »[Die] Pionierin der modernen Entwicklungspsychologie, gilt unter Psychotherapeuten als Begründerin der Humanistischen Psychologie.« »[Sie war] eine bahnbrechende Forscherin auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendlichenpsychologie sowie Begründerin der Humanistischen Psychologie.« »[Sie was die] Begründerin der humanistischen Psychologie«. Die Zitate wurden den folgenden Onlineressourcen (o. J.) entnommen: www.charlotte-buehler-institut.at/charlotte-buehler-info; https://en.wikipedia.org/wi ki/Charlotte_Bühler; www.univie.ac.at/biografiA/daten/text/bio/Buehler_Charlotte.htm; http://agso.uni-graz.at/marienthal/biografien/buehler_charlotte.htm; www.geschichtewiki. wien.gv.at/Charlotte_Bühler.

Das Psychologische Institut in Wien ab 1922

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zuwider«.254 Charlotte Bühlers besondere Kompetenz wäre derweil in der Repräsentation nach außen gelegen. Ob diese Arbeitsteilung tatsächlich so eindeutig war, sei dahingestellt. Die Bühlers waren jedenfalls extrem erfolgreich in dem, was sie taten. Und das Interesse an Charlotte Bühlers Person wurde auch bereits in den 1930er-Jahren publizistisch manifest: 1935 wurde ein Portrait von ihr in einem Sammelband mit dem Titel »Bedeutende Frauen der Gegenwart« veröffentlicht. Bühler war damals 42 Jahre alt.255 Die prominente Positionierung dieser Einzelperson begründet sich fachhistorisch in ihrer wissenschaftlichen Produktivität und dem Erfolg ihrer Forschungsorganisation. Aus frauen- und geschlechterhistorischer Sicht ist ihre Rolle als Berufspionierin bemerkenswert, wissenschaftshistorisch schließlich auch die Verfolgung im Nationalsozialismus. Die Vertreibung des Ehepaares Bühler sowie die weitere Entwicklung des Fachgebietes Psychologie an der Universität Wien zeigen deutlich den intellektuellen Bruch, den die NS-Zeit in Österreich, Deutschland und den besetzten Gebieten verursacht hat.256 In ihrem Fall war diese Verfolgung rassistisch und auch politisch motiviert. Charlotte Bühler wurde in der NS-Doktrin als ›Jüdin‹ definiert. Sie selbst beschrieb ihren familiären Hintergrund folgendermaßen: »Obwohl aus einer vorwiegend jüdischen Familie stammend, war ich, wie das in der damaligen Assimilationsperiode weitgehend üblich war, protestantisch getauft und erzogen worden.«257 Zur Zeit des sogenannten ›Anschlusses‹ hielt sie sich gerade auf einer Vortragsreise im Ausland auf, von der sie nicht mehr nach Wien zurückkehrte.258 Am 23. März 1938 versiegelte die Gestapo das Psychologische Institut und durchsuchte die Privatwohnung der Familie Bühler.259 Karl Bühler wurde inhaftiert und für mehrere Wochen eingesperrt, bevor es Charlotte Bühler von Norwegen aus gelang, seine Freilassung zu erwirken. Im Herbst 1938 konnte die Emigration nach Skandinavien organisiert werden (→ Abschnitt 2.9).260 Nach Angaben von Charlotte Bühler wurde ihr Ehemann von den Nationalsozialist/innen bezichtigt,

254 Zitiert nach Korotin: Wissenschaft als soziale Praxis, 2006, S. 341. 255 Jo van Ammers-Küller: Charlotte Bühler, in: dies.: Bedeutende Frauen der Gegenwart. Zehn Frauenbildnisse, Bremen 1935. 256 Im Zusammenhang mit Charlotte und Karl Bühler u. a. Brigitte Schlieben-Lange: Ernst Cassirer und Karl Bühler, in: Marianne Hassler und Jürgen Wertheimer (Hg.): Der Exodus aus Nazideutschland und die Folgen. Jüdische Wissenschaftler im Exil, Tübingen 1997, S. 274–285. Zur Universität Wien u. a. Margarete Grandner, Gernot Heiss und Oliver Rathkolb (Hg.): Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955, Innsbruck 2006. 257 Bühler: [Selbstdarstellung], 1972, S. 9. 258 Zur Situation des Wiener Psychologischen Instituts seit 1933/34 siehe u. a. Ash: Psychology and politics, 1987; ders.: Entwicklung des Wiener Psychologischen Instituts, 1988; Benetka: Psychologie in Wien, 1995; Korotin: Wissenschaft als soziale Praxis, 2006. 259 Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 347. 260 Korotin: Wissenschaft als soziale Praxis, 2006, S. 349.

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die austrofaschistische Regierung von Kanzler Schuschnigg unterstützt zu haben. Und er wurde unter Druck gesetzt, ihre sogenannte ›Mischehe‹ aufzulösen.261 Karl Bühler konnte in Oslo Vorlesungen halten, Charlotte Bühler trat in Oslo und in Trondheim gleichzeitig zwei Universitätsprofessuren an. Karl Bühler erhielt 1940 die Einladung, eine Professur in Saint Paul in Minnesota in den USA anzunehmen. Sohn Rolf-Dietrich konnte über Umwege in die USA nachfolgen, Tochter Inge gelang die Flucht nach Schweden.262 Charlotte Bühler übernahm verschiedene Positionen an unterschiedlichen US-amerikanischen Universitäten. Nach ihrer Emeritierung 1958 führte sie eine Privatpraxis in Beverly Hills.263 Ihr Ehemann starb 1963 mit 84 Jahren. 1973 ging Charlotte Bühler in ihr Geburtsland Deutschland zurück. Sie starb dort 1974 im Alter von 81 Jahren.

2.5) Tagebücher in der Jugendpsychologie ab 1919 In jenen jugendpsychologischen Arbeiten, die sich in der Zwischenkriegszeit mit eigenständig formulierten, »spontanen Selbstaussagen« von Jugendlichen beschäftigt haben, wurden Tagebücher allen anderen Formen gegenüber bevorzugt. In fachhistorischen Publikationen wird ausschließlich darauf Bezug genommen, häufig wird der jugendpsychologischen Tagebuchforschung der Zwischenkriegszeit auch ein eigenes Kapitel gewidmet, was dann entsprechend prominent bereits in den Inhaltsverzeichnissen ausgewiesen wird.264 In Darstellungen von Charlotte Bühlers Forschungsleistung ist diese Schwerpunktsetzung immer zu finden und sie wird dabei meistens auch als »Begründerin« oder »Pionierin« o. ä. bezeichnet. Dass die jugendpsychologische Forschung der 1920er- und 1930erJahre aber einerseits nicht ausschließlich auf diaristischen Quellen aufgebaut war und dass die Wiener Tagebuchsammlung andererseits auch andere Quellengenres beinhaltet hat, wurde schon beschrieben. Auch Charlotte Bühler selbst stellte wiederholt die Breite des vorhandenen Materials fest. Sie und die Forscher/innen in ihrem Umfeld würden als »Dokumente von Jugendlichen […] vor allem Tagebücher, Dichtungen, Briefwechsel« verwenden, hieß es dazu etwa 1931 in einer offensichtlich nicht hierarchischen 261 Charlotte Bühler: Karl Bühler, in: Achim Eschbach (Hg.): Bühler-Studien, Frankfurt am Main 1984, S. 25–30, S. 27 und Bühler: [Selbstdarstellung], 1972, S. 31. 262 Bühler: [Selbstdarstellung], 1972, S. 33. 263 Dazu u. a. Ilse Korotin: Charlotte Bühler (1893–1974), Psychologin, in: Bundesministerium für Unterricht und Kunst (Hg.): Wir sind die ersten, die es wagen. Biographien deutschsprachiger Wissenschafterinnen, Forscherinnen, intellektueller Frauen, Wien 1993, S. 22–28, S. 26f. 264 Dazu u. a. Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, 2000, S. 49f. (Kapitel: »Die Inhalte: Tagebuchanalysen«); Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 165–173 (Kapitel: »Das Tagebuch als Quelle der Psychologischen Jugendforschung«).

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Aufzählung.265 Als übergeordnete Bezeichnung für diese Quellen verwendete sie dabei den Terminus der »selbstdarstellende[n] Niederschrift«. Darunter zu verstehen seien schließlich »alle in direkter oder verschleierter Form auf sich selbst bezogene[n] Betrachtungen, die teils in Gedicht- oder Aufsatz- oder Romanform, teils in Briefwechseln, teils in Tagebüchern niedergelegt und festgehalten werden.«266 Methodisch reflektiert hat Bühler (in dieser und auch in allen anderen Publikationen) allerdings ausschließlich die Arbeit mit Tagebüchern. Auch hat sie keine andere Quellengattung ediert. Und gerade in Bezug auf die »Auswertung von Tagebüchern Jugendlicher als Quelle zur Fundierung der Jugendpsychologie«267 reklamierte sie die »Begründerinnen«-Position auch selbst für sich (→ Abschnitt 2.6). Wie aber war der einschlägige Forschungskontext gestaltet, in dem Charlotte Bühler ihre Arbeiten mit Selbstzeugnissen etabliert hat?

Ein ›Wissenschaftsstreit‹ als Motor der Tagebuchforschung Mit der Analyse diaristischer Quellen hatte Charlotte Bühler ja bereits während ihrer Zeit in Dresden begonnen. Neben Aufzeichnungen von Bekannten soll sie dazu auch ihre eigenen früheren Tagebuchtexte herangezogen haben (→ Abschnitt 2.3).268 Die Ergebnisse davon wurden 1921 erstmals in der Überblicksdarstellung »Das Seelenleben des Jugendlichen« veröffentlicht. Und bereits 1922 gab sie als ersten Band ihrer Reihe »Quellen und Studien zur Jugendkunde« die erste Edition eines Tagebuches heraus.269 Charlotte Bühler positionierte sich damit gleich doppelt in einem neuen Forschungsfeld, das zu dieser Zeit viel diskutiert wurde. Der Titel der Edition von 1922 erinnerte mit »Tagebuch eines jungen Mädchens« stark an eine Veröffentlichung, die drei Jahre zuvor erschienen ist. 1919 war unter anonymer Herausgeber/innenschaft das »Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens (Von 11 bis 14 1/2 Jahren)« auf den Markt gekommen. Auch diese Edition war der erste Band einer neuen Reihe, nämlich der »Quellenschriften zur seelischen Entwicklung«, herausgegeben vom Internationalen 265 Bühler: Kindheit und Jugend, 19313, S. 329. 266 Ebd.: S. 331. 267 Charlotte Bühler: Die Bedeutung des Tagebuchs für die Jugendpsychologie, in: dies. (Hg.): Zwei Knabentagebücher (Quellen und Studien zur Jugendkunde, Bd. 3), Jena 1925, S. V– XIV, S. V. 268 Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, 2000, S. 44, S. 46; Bühring: Charlotte Bühler oder Der Lebenslauf als psychologisches Problem, 2007, S. 69. 269 Charlotte Bühler (Hg.): Tagebuch eines jungen Mädchens (Quellen und Studien zur Jugendkunde, Bd. 1), Jena 19221.

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Psychoanalytischen Verlag (Leizpig/Wien/Zürich) und sie erregte große Aufmerksamkeit. Diese entwickelte sich zu einem wissenschaftlichen Disput, der unter Beteiligung zahlreicher namhafter Wissenschafter/innen international geführt wurde und sich schließlich über mehrere Jahre hinziehen sollte.270 Im »Geleitwort« der ersten Auflage der anonymen Edition wurde ein Brief des Psychoanalytikers Sigmund Freud von 1915 zitiert, der damit die Herausgabe auch in einer gewissen Weise autorisierte. Jedenfalls hatte er sie enthusiastisch befürwortet: »Das Tagebuch ist ein kleines Juwel. Wirklich, ich glaube, noch niemals hat man in solcher Klarheit und Wahrhaftigkeit in die Seelenregungen hineinblicken können, welche die Entwicklung des Mädchens unserer Gesellschafts- und Kulturstufe in den Jahren der Vorpubertät kennzeichnen. […] Ich meine, Sie sind verpflichtet, das Tagebuch der Öffentlichkeit zu übergeben. Meine Leser werden Ihnen dafür dankbar sein.«271 Die Leser/innen waren zumindest zahlreich. Das Buch wurde breit besprochen, u. a. von den Schriftsteller/ innen Lou Andreas-Salomé und Stefan Zweig.272 Die hier veröffentlichten Aufzeichnungen wurden allgemein als Beweis für das Interesse von Kindern und Jugendlicher an körperlichen und sexuellen Themen gewertet, sowie für das Unvermögen der Erwachsenen, sie entsprechend aufzuklären, was eines der Leitthemen im Tagebuch ist.273 Neben dem großen jour-

270 Dazu ausführlich Stach: Das Seelenleben junger Mädchen, 1994, S. 196–203 und u. a. Soff: Jugend im Tagebuch, 1989, S. 15–17; Marco Vogrinez: Hermine Hug-Hellmuth. Zur Theorie und Praxis einer Pionierin der Psychoanalytischen Pädagogik, Diplomarbeit, Wien 2010, S. 35–40. 271 Hermine Hug-Hellmuth (Hg.): Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens (Von 11 bis 14 1/2 Jahren) (Quellenschriften zur seelischen Entwicklung, Bd. 1), Leipzig/Wien/Zürich 19223, S. 3. 272 Soff: Jugend im Tagebuch, 1989, S. 15. 273 Vgl. dazu etwa die folgenden Passagen: »16. Oktober [o. J., L. G.] Heute hatte ich eine wahnsinnige Angst in der Rechenstunde. Die Hella [die beste Freundin der Schreiberin, L. G.] wurde auf einmal ganz dunkelrot und da dachte ich mir ›Ah, jetzt!‘ Und schreibe ihr auf den Faulenzer [das Löschblatt, L. G.]: Eingetreten??? Wir hatten nämlich verabredet, daß sie mir es sofort mitteilt, denn im Februar wird sie 14 und da wird e s tatsächlich bald eintreten. Die Frau Dr. F. sagte: Lainer [Pseudonym der Schreiberin, L. G.], was hast du der Br. hinübergeschoben? Und war schon bei der Bank und nimmt den Faulenzer. ›Was soll das heißen: Eingetreten???‹ Vielleicht hat sie es wirklich nicht gewußt, aber mehrere Kinder, die es eben auch wissen, haben gelacht und ich habe mich schrecklich gefürchtet. Aber die Hella ist einfach großartig. ›Entschuldigen Frau Dr., die Rita hat gefragt, ob schon Frost eingetreten ist, weil dann Natureis ist‹. ›Und damit beschäftigt Ihr Euch in der Mathematikstunde?‹ Aber Gott sei Dank, damit war alles erledigt. […] 5. Jänner: Hochwichtig, bei der Hella seit gestern abends …! Sie war gestern nicht in der Schule, da ihr schon vorgestern furchtbar schlecht war und ihre Mama schon glaubte, sie bekomme noch einmal Blinddarmentzündung. Statt dessen!!! […] Und dann flüsterte [der Arzt] zu ihrer Mama, aber die Hella verstand doch das Wort a u f k l ä r e n . […] ihre Mama küßte sie und sagte, jetzt sei sie kein Kind mehr, jetzt gehöre sie zu den Erwachsenen. Lächerlich, also ich bin noch ein

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nalistischen Interesse, das das Buch erfuhr, wurde es auch als Quelle für wissenschaftliche Arbeiten herangezogen – u. a. auch von Charlotte Bühler.274 Mit zunehmender Popularität wurden aber auch Zweifel an der Echtheit der Aufzeichnungen formuliert. Angestoßen wurde diese Authentizitätsdiskussion im Jahr 1921 von dem britischen Psychologen Cyril Lodowic Burt (1883–1971).275 Als das Buch 1922 zum dritten Mal aufgelegt wurde und damit die Stückzahl von 10.000 Exemplaren erreichte,276 gab sich die Wiener Psychoanalytikerin Hermine Hug-Hellmuth (geb. Hug Edle von Hugenstein, 1871–1924) als seine Herausgeberin zu erkennen.277 In der Zwischenzeit hatte sich auch Charlotte Bühler in diesen öffentlichkeitswirksamen Disput eingeschalten.278 Gleich auf der ersten Seite des Vorworts ihrer ersten Edition des »Tagebuch eines jungen Mädchens« von 1922 gab sich die 27-jährige Psychologin dabei selbstsicher: »Die Ansicht Freuds habe ich von vornherein nicht teilen können, ganz abgesehen von sonstigen Bedenken gegenüber jenem merkwürdigen Tagebuch. [Es] scheint mir, um verhängnisvollen Schlüssen auf das Seelenleben der ›höheren Tochter‹ vorzubeugen, von größter Wichtigkeit, der Öffentlichkeit zu jenem Bilde ein Gegenstück vorzulegen, das ich für gesünder und charakteristischer halte.«279 Nach Petra Stachs Formulierung standen einander mit Charlotte Bühlers »Gegenstück« zu der Veröffentlichung von Hermine Hug-Hellmuth nun »zwei Mädchentagebücher gegenüber, die nicht nur unterschiedliche Jugenderfahrungen dokumentierten, sondern auch kontroverse wissenschaftliche Auffassungen belegen sollten.«280 Jedenfalls ist Büh-

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Kind!« Hug-Hellmuth: Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens, 19223, S. 111, S. 118f. [Hervorhebungen im Original]. Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 1923², S. 5. Cyril Burt: Reviews: A Young Girl’s Diary, in: The British Journal of Psychology, Medical Section, 1921, Nr. 2, S. 257–258, zitiert nach Soff: Jugend im Tagebuch, 1989, S. 360. Die Jahreszahl wird hier mit 1922 angegeben, im Buch von Hermine Hug-Hellmuth von 1922 mit 1921. Hug-Hellmuth: Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens, 19223, S. VII. Hug-Hellmuth bezog sich hier auch auf ein Argument von Burt, wonach ihm die Länge der einzelnen Einträge für ein 11-jähriges Kind als zu umfangreich erschienen wären. Hug-Hellmuth: Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens, 19223, o. S. (Deckblatt). Fachpublikationen waren u. a. Hermine Hug-Hellmuth: Aus dem Seelenleben des Kindes. Eine psychoanalytische Studie, Leipzig/Wien 1913; dies.: Neue Wege zum Verständnis der Jugend. Psychoanalytische Vorlesungen für Eltern, Lehrer, Erzieher, Schulärzte, Kindergärtnerinnen und Fürsorgerinnen, Leipzig/Wien 1924. In ihrer Publikation von 1921 war Charlotte Bühler noch nicht darauf eingegangen. 1923 war sie aber zu folgendem Schluss gekommen: »Der Kontrast kindlicher Naivität und eines ganz äußerlich mit Kinderneugier betriebenen Studiums des Sexuallebens ist zu groß, um natürlich zu wirken. […] Derartige Gegensätze von Bewußtsein und Naivität, jahrelang friedlich nebeneinander, gibt es nicht.« Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 1923², S. 47. Bühler: Tagebuch eines jungen Mädchens, 1922, S. III. Stach: Das Seelenleben junger Mädchen, 1994, S. 184.

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lers Entscheidung, neben ihrer wissenschaftlichen Auswertung »Das Seelenleben des Jugendlichen« aus 1921 im Folgejahr auch eine der darin verwendeten Tagebuchquellen zu veröffentlichen, als sehr gelungen zu bezeichnen. Während sie ihre (insgesamt dann ja ziemlich erfolgreiche) Studie mit jeder Neuauflage noch weiterentwickelte, beteiligte sie sich kontinuierlich an der Diskussion eines Themas, das sowohl im deutsch- als auch im englischsprachigen Raum gerade mit viel wissenschaftlicher Aufmerksamkeit ausgestattet war, das also Konjunktur hatte. Mit ihrer umfangreichen Tagebuchedition, deren inhaltliche Aussage sich stark von der Veröffentlichung von Hermine Hug-Hellmuth unterschied, sicherte sie ihre wissenschaftlichen Ergebnisse auch quellentechnisch ab. Als Beiträge zu diesem ›Wissenschaftsstreit‹ sind in den folgenden Jahren mehrere Veröffentlichungen erschienen.281 Neben theoretischen Abhandlungen beförderte der fachliche Disput die Herausgabe von weiteren Quelleneditionen. So publizierte der in Leipzig tätige Psychologe Oskar Kupky im Jahr 1924 neben Analysen auch die Auszüge von sieben Tagebüchern Jugendlicher.282 1925 schaltete sich mit William Stern schließlich auch ein Schwergewicht der Disziplin in die Diskussion ein und veröffentlichte mit »Anfänge der Reifezeit. Ein Knabentagebuch in psychologischer Bearbeitung« ebenfalls eine Edition, die aus einer nach Themen gruppierten, kommentierten Kompilation von Auszügen des Tagebuches eines jungen Burschen besteht.283

Offene Provenienzen der Quellen als Angriffspunkte Die Diskussionen um die Frage, ob die von Hermine Hug-Hellmuth herausgegebenen Aufzeichnungen nun eine – womöglich von ihr selbstverfasste – Fälschung wären oder nicht, rissen indes nicht ab. Sie wurden weiterhin sowohl

281 Darunter u. a. Walter Hofmann: Die Reifezeit. Grundfragen der Jugendpsychologie und Sozialpädagogik. Leipzig 1922; Bernfeld: Vom dichterischen Schaffen der Jugend, 1924; Otto Tumlirz: Die Reifejahre. Untersuchungen zu ihrer Psychologie und Pädagogik, Leipzig 1924; Fritz Frisch und Hildegard Hetzer: Die religiöse Entwicklung von Jugendlichen (aufgrund von Tagebüchern), in: Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 62, 1928, S. 409–442. 282 Oskar Kupky: Tagebücher von Jugendlichen als Quellen zur Psychologie der Reifezeit (Päd. ps. Arbeiten aus dem Institut des Leipziger Lehrervereins, Heft 12), Leipzig 1924; ders.: Die religiöse Entwicklung von Jugendlichen dargestellt auf Grund ihrer literarischen Zeugnisse, in: Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. 49, 1924, S. 1–88; ders.: Jugendlichen-Psychologie. Ihre Hauptprobleme, Leipzig 1927. 283 William Stern: Anfänge der Reifezeit. Ein Knabentagebuch in psychologischer Bearbeitung. Leipzig 1925.

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bezüglich ihrer ›Echtheit‹ hinterfragt – als auch wissenschaftlich ausgewertet.284 Es ist an dieser Stelle wichtig darauf hinzuweisen, dass auch die Provenienz anderer Editionen debattiert wurde. So wurde etwa der Verdacht geäußert, William Stern hätte 1925 sein eigenes Jugendtagebuch veröffentlicht.285 Die Heftigkeit der Debatte um das »Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens« war aber einmalig. Dieses Misstrauen gegenüber edierten Selbstzeugnissen kann einerseits als Teil der zeitgenössischen Fachdiskussion gesehen werden. Eine Praxis, sich mit der eigenen Arbeit zu profilieren, bestand darin, jene der anderen in Misskredit zu bringen. Das Hinterfragen der Autor/innenschaften der verschiedenen Editionen verweist gleichzeitig auf zwei Aspekte, die den zeitgenössischen Umgang mit auto/biografischen Texten gekennzeichnet haben, der ja noch ziemlich unreglementiert gewesen ist. Einerseits wird hier erneut sichtbar, wie und wo Forscher/innen die damals gerade erst ›entdeckte‹ Quelle Jugendtagebuch lukriert haben: In den allermeisten Fällen war es ihr eigenes persönliche Umfeld. Ein solches Vorgehen war im Zusammenhang mit den wissenschaftsgeleiteten Elterntagebüchern nicht problematisiert worden (→ Abschnitt 1.6) – im Fall der Jugendtagebücher galt es nun aber als verdächtig. Andererseits zeigt sich am Anlass der Debatte auch, dass es zu Beginn der jugendpsychologischen bzw. psychoanalytischen Beschäftigung mit der Quellengattung Tagebuch noch keine etablierten Veröffentlichungsmodalitäten gab. Das »Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens« war ja in den ersten zwei Auflagen anonym und ohne Angaben der Urheber/innenschaft herausgegeben worden. Es schien noch ungeklärt, welche Namen offengelegt werden sollten, in welchem Umfang die Quellen zu kontextualisieren wären, und auch, welche Informationen zu den Umständen der Übergaben der Aufzeichnungen an die/den Forscher/in gegeben werden sollten. Entsprechend vage waren in den meisten Fällen auch die Informationen, die dazu gemacht wurden, was anhand der ersten Auflagen von Charlotte Bühlers »Das Seelenleben des Jugendlichen« und auch anhand der Studie von Fritz Giese aus dem Jahr 1914 schon gezeigt worden ist. Im Vergleich zu allen Folgepublikationen legte Giese darin die Zusammensetzung seines vielfältigen Quellenbestandes sehr ausführlich offen. Er hatte sie aus der Sammlung in Potsdam-Kleinglienicke, von Verlagen und insbesondere von verschiedenen Sammler/innen aus schulischen, kirchlichen oder fürsorgerischen Zusammenhängen zur Verfügung gestellt bekommen, von denen meh284 Etwa von Busemann: Die Sprache der Jugend, 1925. Angaben zu der Quelle und die Positionierung von Adolf Busemann in dem laufenden ›Echtheitsstreit‹ finden sich dort auf S. 45–49. 285 Soff: Jugend im Tagebuch, 1989, S. 16f. William Stern gab zum Verfasser der edierten Quelle an, dessen anonymisierter Name wäre »A« und er sei inzwischen älter als 50 Jahre. Soff: Jugend im Tagebuch, 1989, S. 14.

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rere auch namentlich genannt wurden (→ Abschnitt 2.2). Einzelne auto/biografische Texte hatte er aber auch selbst gesammelt, wobei er die Angaben dazu auffallend unverbindlich hielt. Er merkte dazu lediglich an: »Aus eigenem Besitze konnte ich die im inneren Entwicklungszusammenhang stehenden Arbeiten eines Gymnasiasten benutzen, dessen Aufzeichnungen fast ohne Unterbrechung vom 12.–20. Jahre laufen.«286 Dass es sich dabei um seine eigenen Aufzeichnungen gehandelt haben könnte, kann als Vermutung formuliert werden. In den ersten zwei noch anonym veröffentlichten Auflagen des »Tagebuch[s] eines halbwüchsigen Mädchens« fanden sich entsprechend klarerweise keine Angaben zu der Schreiberin. »DIE HERAUSGEBERIN« erklärte aber im »Geleitwort«, abgesehen von den anonymisierten Namen und Ortsangaben inhaltlich »nichts beschönigt, nichts dazugetan oder weggelassen« zu haben.287 Als sich Hermine Hug-Hellmuth ab der dritten Auflage des Buches (1922) als Herausgeberin zu erkennen gab, stellte sie auch Informationen zur Schreiberin zur Verfügung. Grete Lainer wird als »Tochter aus einer vornehmen Wiener Beamtenfamilie« vorgestellt. Gerufen worden sei sie »Rita«. Hug-Hellmuth habe der damals 19-Jährigen bei ihren Vorbereitungen auf die externe Maturaprüfung geholfen. »Zwei Jahre später brachte sie mir zugleich mit der Mitteilung ihrer Verlobung ein Bündel Tagebuchblätter […] zur allfälligen Verwertung.« Dabei hätte Hug-Hellmuth der Diaristin das »Versprechen« gegeben, »das Original des Tagebuches zu vernichten«, wie diese es eigentlich selbst hätte machen wollen.288 Die Handschrift stand also nicht mehr zur Verfügung. Und auch die Schreiberin konnte nicht mehr befragt werden: Hug-Hellmuth gab an, Rita Lainer sei zu Beginn des Ersten Weltkrieges als »Krankenpflegerin [am] serbischen Kriegsschauplatz« verstorben. Da »die persönlichen Gründe weggefallen« seien, die Identität der Schreiberin zu schützen, konnte sie nun auch » f ü r d i e E c h t h e i t d e s Ta g e b u c h e s m i t m e i n e m N a m e n e i n […]s t e h e n « .289

Quellen aus dem persönlichen Umfeld versus anonym gesammelte Quellen Auch Charlotte Bühler blieb in ihrer ersten themenbezogenen Studie »Das Seelenleben des Jugendlichen« (1921) im Hinblick auf Informationen zu den Verfasserinnen der verwendeten Quellen noch vage. Zu den drei ausgewerteten Tagebüchern gab sie nur an, dass sie ihr »zur freien Verfügung gestellt wurden«.290 286 Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, 1914, Bd. 1, S. 16. 287 Hug-Hellmuth: Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens, 19223, S. III–IV [Hervorhebung im Original]. 288 Ebd.: S. V–VIII. 289 Ebd. [Hervorhebung im Original]. 290 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19232, S. VI (Vorwort zur 1. Auflage von 1921).

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Die Tagebuchedition von 1922, die ja als »Gegenstück« zu »jenem merkwürdigen Tagebuch«291 von Hug-Hellmuth ins Rennen geschickt worden war, sicherte Bühler dann allerdings mit einer (etwas) ausführlicheren Kontextualisierung ab: Die Diaristin sei eine »Großstädterin« aus Deutschland, die ein Lyzeum und später ein Gymnasium besucht habe.292 Sehr viel mehr persönliche Informationen sind über die Schreiberin hier noch nicht zu erfahren – diese folgten sukzessive in den weiteren Veröffentlichungen zu ihrem Tagebuch, insbesondere in seiner zweiten Edition von 1927. Hier wurde die Verfasserin mit der Archivsignatur M 4 und dem Pseudonym Irmgard Winter vorgestellt.293 Ihr Geburtsjahr ist mit 1898 angegeben, ihr späterer Beruf als »Chemikerin«, ihr Vater als »Künstler«.294 Vor dem Hintergrund des bisher Dargestellten erscheint speziell Charlotte Bühlers Hinweis auf das Verhältnis, das sie zu der Verfasserin des edierten Tagebuchs hatte, erwähnenswert. Entsprechend ihren Angaben war dieses rein wissenschaftlich: »Sie brachte mir das Tagebuch als Studentin, angeregt durch mein Buch. Es sei auch bemerkt, daß ich die Verfasserin vorher nicht kannte, was mir im Hinblick auf die große Übereinstimmung mit meiner Analyse der Pubertät nicht unwesentlich festzustellen scheint.«295 Die Entwicklung der Quellenrecherche ging nun also weg vom persönlichen Umfeld der Wissenschafter/ innen, hin zu Aufzeichnungen, die über einen reinen Forschungskontext angeworben wurden. Entsprechend wurde auch bereits in der ersten Auflage von »Das Seelenleben des Jugendlichen« (1921) der Aufruf lanciert, weitere Quellen »zur Verfügung [zu] stellen« – und zwar »anonym«.296

291 Bühler: Tagebuch eines jungen Mädchens, 1922, S. V. 292 Ebd.: S. IV. 293 »M« stand in der Ordnung dieser Quellensammlung für »Mädchen«, »K« für Burschen (»Knaben«). 294 Bühler: Zwei Mädchentagebücher, 1927, S. V. Charlotte Bühler muss von dem Quellenwert dieses einen Tagebuches besonders überzeugt gewesen sein. Nach der ersten Publikation von 1922 brachte sie dieselbe Quelle 1927 ein zweites Mal heraus (→ Abschnitt 2.8). In der zweiten Auflage wurde das Tagebuch von M 4 Irmgard Winter »konfrontier[t]« mit den Aufzeichnungen der 1903 geborenen M 20 Käte Hermann. Die zweite Diaristin wird als »Kleinbürgerkind« benannt, ihr Vater als »Beamter«. Sie lebte ebenfalls in Deutschland und besuchte am Anfang ihrer mit 16 Jahren begonnenen Aufzeichnungen eine Lehrerinnenbildungsanstalt. Bühler: Zwei Mädchentagebücher, 1927, S. IX. Einzelne Angaben zu den persönlichen Hintergründen der Schreiberinnen sind auch entnommen aus Bühler: Drei Generationen im Jugendtagebuch, 1934, S. 2f. 295 Bühler: Tagebuch eines jungen Mädchens, 1922, S. IV; dies.: Zwei Mädchentagebücher, 1927, S. V. 296 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 1923², S. VI. In dieser zweiten Auflage von 1923 konnte bereits ein Zuwachs von elf neuen Quellen vermeldet werden, wobei neun von Burschen verfasst worden waren. Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 1923², S. VII.

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Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

Charlotte Bühler hatte also schon vor ihrer Tätigkeit in Wien angedacht, eine Sammlung von ›selbstdarstellenden Niederschriften‹297 anzulegen, was sie dann gemeinsam mit dem großen Team am Wiener Psychologischen Institut realisieren konnte. Dabei waren insbesondere die auf der Sammlung aufgebauten Editionsprojekte dezidiert für eine breite Verwendung gedacht (→ Abschnitt 2.8). 1927 bemerkte Bühler dazu: »Die Quelle hat die Aufgabe, zunächst als solche auf den Leser zu wirken und als Material für jeden Forscher zu dienen.«298 Die Absicht, das gesammelte Material auch anderen Wissenschafter/innen zugänglich zu machen, war eine Gemeinsamkeit von diesem Sammlungsprojekt und dem von Siegfried Bernfeld 1913 gegründeten Archiv für Jugendkultur. Gemeinsam war beiden zudem, dass sie mit ihren Publikationen ein breit gedachtes Publikum erreichen wollten. Waren es bei Bernfeld – neben wissenschaftlich interessierten Leser/innen – die Mitglieder der Jugendbewegung, so adressierte Bühler in ihrer ersten Tagebuchedition auch die Eltern von Jugendlichen. Ihnen wollte sie damit eine »Gelegenheit zur Kenntnisnahme normaler Entwicklung« bieten, denn »die meisten Eltern glauben im entscheidenden Augenblick, daß so verrückt und überspannt wie ihr eigenes Kind kein anderes sein könne.«299 Ein Hinweis darauf, dass bei Bernfeld oder bei Bühler die ›Echtheit‹ ihres Quellenmaterials infrage gestellt worden wäre, ist mir bisher nicht untergekommen. Meiner Auslegung nach garantierte die Autorität der Institution ›Universität‹ oder auch der ›Bewegung‹ die Authentizität der gesammelten auto/biografischen Dokumente. Die Diskussion um die Autor/innenschaft der Veröffentlichung von Hermine Hug-Hellmuth verstummte hingegen nicht.

Tagebücher im Richtungsstreit zwischen Jugendpsychologie und Psychoanalyse Gerhard Benetka fasste zur Publikation von Hermine Hug-Hellmuth zusammen: »Dieses Tagebuch hat Charlotte Bühler jedoch unglaublich provoziert.«300 Den Grund dafür, »warum diese Geschichte für Charlotte Bühler gar so wichtig war«, sah er (neben dem »Motiv der Konkurrenz zur Psychoanalyse«) vor allem in dem Umstand, dass Bühler der Quelle Tagebuch besonders »emphatisch« gegenübergestanden sei: »Der eigentliche Grund für Charlotte Bühlers Beharrlichkeit lag wohl in der großen emotionalen Bedeutung, die das ›Jugendtagebuch‹ als Quellenmaterial für sie hatte.«301 Dass sich die junge Forscherin damit auch eine starke Position im fachlichen Themenfeld schaffen konnte, habe ich bereits argumentiert. 297 298 299 300 301

Bühler: Kindheit und Jugend, 19313, S. 331. Bühler: Zwei Mädchentagebücher, 1927, S. IV. Bühler: Tagebuch eines jungen Mädchens, 1922, S. IV. Benetka, Grossmann und Rollet: Retrospektive: Charlotte Bühler und ihre Zeit, 2015, S. 40f. Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 169.

Tagebücher in der Jugendpsychologie ab 1919

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Neben mehreren internationalen Forscher/innen302 waren im Folgenden jedenfalls auch zwei Doktorand/innen des Psychologischen Instituts damit beschäftigt, Indizien zusammengetragen, um das »Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens« als ›Fälschung‹ zu identifizieren.303 Joseph Krug hat dazu die Datumsangaben der Feiertage überprüft, Hedwig Fuchs hat die Entwicklung der Sprache ausgewertet.304 1927 zog der Verlag die Publikation zurück. Hug-Hellmuth war 1924 unter dramatischen Umständen verstorben, ohne zuvor jemals einen Zweifel an ihrer Version gelassen zu haben. Für Charlotte Bühler war die Sache jetzt klar »als Fälschung nachgewiesen[…]«. 1931 fügte sie dazu ein »leider« an.305 Manchen gilt die Frage aber auch weiterhin als nicht restlos geklärt und die Publikation war immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen.306 Ausgehend von der Annahme, es wären deren eigene Aufzeichnungen gewesen, wurde das Tagebuch als Grundlage für biografische Darstellungen zu Hermine Hug-Hellmuth verwendet,307 es wurde in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt neu aufgelegt308 und auch wiederholt als (nicht hinterfragte) Quelle wissenschaftlich ausgewertet.309 302 Vogrinez: Hermine Hug-Hellmuth, 2010, S. 35–40. Dazu weiters Angela Graf-Nold: Der Fall Hermine Hug-Hellmuth. Eine Geschichte der frühen Kinder-Psychoanalyse, München/ Wien 1988. 303 Benetka, Grossmann und Rollet: Retrospektive: Charlotte Bühler und ihre Zeit, 2015, S. 40f. 304 »Meine Bedenken gegenüber jenem Dokument, Bedenken, die auch von zahlreichen anderen Autoren beigebracht wurden haben sich als gerechtfertigt erwiesen. J o s e p h K r u g hat inzwischen [1926, L. G.] einwandfrei das ›Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens‹ als u n e c h t nachweisen können. […] Inzwischen hat Hedwig Fuchs in ihrer Analyse der Sprache des Tagebuchs [1927, L. G.] noch weitere Kriterien echter und unechter Darstellung herausgearbeitet. […] Das ›Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens‹ ist inzwischen übrigens vom Verlag einsichtigerweise zurückgezogen worden, und wir können darüber zur Tagesordnung übergehen.« Bühler: Zwei Mädchentagebücher, 1927, S. Vf. [Hervorhebungen im Original]. Weiters dazu dies.: Kindheit und Jugend, 19313, S. 335. 305 Bühler: Kindheit und Jugend, 19313, S. 330. 306 Dazu u. a. Wolfgang Huber: Die erste Kinderanalytikerin, in: Heimo Gastager u. a. (Hg.): Psychoanalyse als Herausforderung, Wien 1980, S. 125–134; Inge Stepan: Die Gründerinnen der Psychoanalyse. Eine Entmythologisierung Sigmund Freuds in zwölf Frauenportraits, Stuttgart 1992; Christa Hämmerle: Ein Ort für Geheimnisse? Jugendtagebücher im 19. und 20. Jahrhundert, in: Peter Eigner, Christa Hämmerle und Günter Müller (Hg.): Briefe – Tagebücher – Autobiographien. Studien und Quellen für den Unterricht, Wien 2006, S. 28– 45, S. 40f. Zur Debatte um diese Publikation in der feministischen Auto/biografieforschung siehe Julia Swindells: What’s the Use of Books? Knowledge, Authenticity and A Young Girl’s Diary, in: Women’s History Review, Jg. 5, 1996, Nr. 1, S. 55–66. Ihre eigene Positionierung beschrieb Julia Swindells dabei folgendermaßen: »This account explores some of the issues about authenticity raised by this controversy, including the male establishment’s fear of how literate girls and women might use their authorship« (S. 55). 307 Graf-Nold: Der Fall Hermine Hug-Hellmuth, 1988, S. 240. 308 Hanne Kulessa (Hg.): Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens. Mit einem Vorwort von Alice Miller neu herausgegeben von Hanne Kulessa, Frankfurt am Main (19871) 19952. 309 Stach: Das Seelenleben junger Mädchen, 1994; Wendy Larson: The Freudian Subject and the Maoist Mind: The Diaries of Hermine Hug-Hellmuth and Lei Feng, in: Psychoanalysis and History, Jg. 13, 2011, Nr. 2, S. 157–180.

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Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

Die zu Anfang der 1920er-Jahre so vehement geführte Debatte um diese Quellenedition wurde in der Forschungsliteratur als Richtungsstreit zwischen der Jugendpsychologie und der Psychoanalyse ausgelegt. Beide wurden damals in Wien auf- und ausgebaut. Die Psychologin Marianne Soff verwendete für die Angelegenheit die Formulierung »Miniaturabbildung des Schulenstreits in der Psychologie«.310 Die Historikerin Anke M. Melchior hat dieses angespannte Verhältnis zwischen der Jugendpsychologie und der Psychoanalyse ebenfalls in der oben formulierten positiven Auslegung interpretiert: Sie sah darin einen der Gründe für die hohe publizistische Produktivität der Tagebuchforschung in der Zwischenkriegszeit.311 Schließlich ging es dabei um nichts weniger als um die grundlegende Frage des Quellenwerts von Tagebüchern: »Dieses eigentümliche Kapitel in der Geschichte der Tagebuchforschung […] ist nicht losgelöst zu sehen von dem stets mit Interesse, aber auch mit Mißtrauen betrachteten Forschungsgegenstand Tagebuch mit seinen als ›intim‘ und persönlich bedeutsam verstandenen Inhalten.«312 Gerade in diesem »Misstrauen« zeigte sich umgekehrt und paradoxerweise nicht zuletzt auch das (möglicherweise auch übertriebene) ›Zutrauen‹, das dem Genre Tagebuch entgegengebracht wurde. Das hatte sich ja in den überschwänglichen Kommentaren zu Hermine Hug-Hellmuths Publikation bereits gezeigt. Außerhalb der wissenschaftlichen Sphäre konnte dieses ›Vertrauen‹ auf auto/biografische Formate bisweilen in eine Form von Voyeurismus umschlagen, der bei populären Publikationen auch als Verkaufsstrategie eingesetzt wurde.313 Die psychologische Tagebuchforschung der Zwischenkriegszeit scheint von der verhältnismäßig scharf geführten fachlichen Diskussion um das Buch von Hermine Hug-Hellmuth keinen Schaden genommen zu haben. In Erweiterung von Anke M. Melchiors Einschätzung könnten darin stattdessen Gründe dafür gesehen werden, dass einschlägige Sammeltätigkeiten befördert wurden. Die 310 Soff: Jugend im Tagebuch, 1989, S. 16. 311 Anke M. Melchior: »Liebesprobleme … waren schon immer ein Anlaß für mich, Tagebuch zu führen.« Liebe, Ehe und Partnerschaft in Frauentagebüchern, Königstein im Taunus 1998, S. 36. 312 Soff: Jugend im Tagebuch, 1989, S. 16 (→ Abschnitt 4.1). 313 Vgl. dazu etwa die folgenden Bücher, die zeitgenössisch als ›echte‹ Tagebuchaufzeichnungen verkauft und rezipiert wurden: Margarethe Böhme: Tagebuch einer Verlorenen, Berlin 1905; Hedwig Hard: Beichte einer Gefallenen, Leipzig 1906; Emma Nuss: Aus dem Leben eines Tauenzien-Girls, Charlottenburg 1914; J. M. Breme: Vom Leben getötet. Bekenntnisse eines Kindes, Freiburg im Breisgau 1926. Zu diesen Publikationen u. a. Schmidt: Gefährliche und gefährdete Mädchen, 2002, S. 33. Dass sich auch die Forschung mit diesen populären Formaten beschäftigte, lässt sich aus Charlotte Bühlers Bemerkung schließen: »Dasselbe Verfahren [mit dem nach Bühlers Dafürhalten die Edition von Hug-Hellmuth als ›Fälschung‹ klassifiziert wurde, L. G.] konnte bei dem Tagebuch [von] Breme mit Erfolg angewandt werden, das schon vorher in der Presse als Fälschung bekanntgegeben wurde.« Bühler: Kindheit und Jugend, 19313, S. 335.

Tagebuchforschung in Konjunktur

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kritische Reflexion der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Inhalten auto/ biografischer Aufzeichnungen hatte dadurch mit Sicherheit Anregungen erhalten. Jedenfalls konstatierte Siegfried Bernfeld noch 1928, es sei weiterhin keine »Einigkeit in der Frage erreicht, welchen Wert das Tagebuch« als Quelle haben könne.314 Bernfeld hatte inzwischen ebenfalls mehrere theoretische Beiträge zum Thema Tagebuchforschung veröffentlicht. Welchen konkreten Fokus hatte er hierbei verfolgt? Und was genau war eigentlich Charlotte Bühlers inhaltlicher Zugang zu Tagebüchern?

2.6) Tagebuchforschung in Konjunktur: Charlotte Bühler und Siegfried Bernfeld Charlotte Bühler und Siegfried Bernfeld sind jene zwei Autor/innen, die sich im Wien der Zwischenkriegszeit besonders ausführlich mit dem Thema Jugendtagebücher beschäftigt haben. Bühler veröffentlichte zwischen 1921 und 1934 fünfzehn Publikationen, in denen sie (auch) mit Tagebüchern gearbeitet hat. Eigenständige Studien zu neuen Themen waren acht dieser Titel. Sieben waren Neubearbeitungen von drei von ihren Büchern, die sie zum Teil für jede Auflage stark verändert hat.315 Die Titel von »Das Seelenleben des Jugendlichen« (1921– 1929) und von »Kindheit und Jugend« (1928–1931) blieben dabei über alle fünf bzw. drei veränderten Auflagen hinweg gleich. Den Titel von »Tagebuch eines jungen Mädchens« (1922) änderte Bühler bei der neuen Veröffentlichung in »Zwei Mädchentagebücher« (1927). In den verschiedenen Einleitungen und Vorwörtern aller Publikationen lassen sich ihre Arbeitsweisen nachverfolgen. Gleichzeitig finden sich hier regelmäßig Hinweise auf die ständige Erweiterung der Quellensammlung. Diese Texte sind aber auch jene Orte, wo Bühler ihre Positionen innerhalb der Fachdebatten deklarierte – und in denen sie ihre eigene Rolle darin proklamierte und damit festschrieb.

314 Bernfeld: Historische Jugendtagebücher, 1928, S. 325. 315 In chronologischer Reihenfolge: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19211; Tagebuch eines jungen Mädchens, 1922; Das Seelenleben des Jugendlichen, 1923² und 19253; Zwei Knabentagebücher, 1925; Die Schwärmerei als Phase der Reifezeit, 1926; Das Seelenleben des Jugendlichen 19274; Zwei Mädchentagebücher, 1927; Das Seelenleben des Jugendlichen 19295; Kindheit und Jugend, 19281, 19302 und 19313; Jugendtagebuch und Lebenslauf, 1932; Zwei Mädchentagebücher mit einer Einleitung, 1932; Drei Generationen im Jugendtagebuch, 1934. (Die Neuauflagen von Titeln nach 1945 sind in dieser Auflistung nicht verzeichnet.)

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Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

Forschendes Selbstbewusstsein in Vorworten Die Einleitungen von Charlotte Bühlers Büchern bieten ein kompaktes Abbild des theoretischen Disputs um den Quellenwert von Tagebüchern innerhalb der psychologischen und psychoanalytischen Fachwelt. In ihrer ersten Publikation von 1921, also in jenem Jahr, als die Debatte um die Veröffentlichung von Hermine Hug-Hellmuth erst angestoßen wurde, problematisierte Bühler die Frage nach dem Quellenwert von Tagebüchern noch nicht (→ Abschnitt 2.5). Sie benannte lediglich die ihr zur Verfügung stehenden Tagebücher und rief zur Übergabe weiterer Aufzeichnungen auf. Das unterschied dieses Vorwort von allen, die Bühler in den nächsten Jahren verfasste. Bezogen auf ihre eigenen Arbeiten stellte sie darin ab 1922 Folgendes fest: »Im übrigen ist aber erfreulicherweise durch [ihre eigene Publikation von 1921, L. G.] wie durch die vielfache Verwendung der Tagebücher von seiten aller jugendpsychologischen Forscher ihr methodischer Wert allgemein anerkannt und gewürdigt worden.« (1922)316 »Ich kann mir einstweilen noch keine bessere Quelle als das Tagebuch denken« (1923)317 »Ich glaube noch heute wie vor 6 Jahren, als ich mit der Veröffentlichung meiner jugendpsychologischen Forschungen begann, daß das Tagebuch des Jugendlichen einstweilen die ergiebigste und sicherste Quelle für derartige Forschungen darstellt.« (1925)318 »Im übrigen verzeichne ich mit Genugtuung, daß sowohl S t e r n wie S p r a n g e r und andere Forscher sich der Methode der Tagebuchinterpretation angeschlossen haben.« (1927)319 »Man kann also sagen, daß das Tagebuch heute als eine allgemein anerkannte und benutzte Quelle der Jugendpsychologie gelten kann.« (1931)320 »Das allgemeine Interesse am Tagebuch als an einer Quelle zu Verständnis und Kenntnis des Jugendlichen ist in den letzten Jahren zusehends gewachsen.« (1932)321

Ab den Publikationen von 1934 finden sich keine solchen Hinweise mehr in Charlotte Bühlers Texten. Vielleicht erschien ihr die Quelle Tagebuch nun tatsächlich als allseits »anerkannt« genug? Oder auch ihre eigene Position als Forscherin? Oder beides. Immerhin hatte Bühler inzwischen seit mehr als zehn Jahren mit Tagebüchern gearbeitet, und das Psychologische Institut in Wien war bestens etabliert. Die Position, die sie ihrer eigenen Meinung nach innerhalb der Tagebuchforschung eingenommen hatte, stellte Charlotte Bühler jedenfalls bereits 1925 folgendermaßen klar: »Die Auswertung von Tagebüchern Jugendlicher 316 317 318 319 320 321

Bühler: Tagebuch eines jungen Mädchens, 1922, S. IV. Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 1923², S. VIII. Bühler: Zwei Knabentagebücher, 1925, o. S. (Vorwort). Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19274, S. VIII [Hervorhebung im Original]. Bühler: Kindheit und Jugend, 1931, S. 331. Bühler: Jugendtagebuch und Lebenslauf, 1932, o. S. (Vorwort).

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als Quelle zur Fundierung der Jugendpsychologie wurde von mir 1920 als methodisches Prinzip vorgeschlagen und durchgeführt. Der Anklang, den der Gedanke fand, drückt sich […] darin [aus], daß die meisten jugendpsychologischen Darstellungen heute ähnliches Material benutzen«.322 Diese verschiedenen Proklamationen von Bühler belegen nicht zuletzt die Rhetorik der damals durchaus konfliktorientierten Wissenschaftskultur, in der die Protagonist/innen verschiedener Wissensdiskurse an der Determinierung ihrer Positionen als ›Pionier/ innen‹ auch selbst mitgewirkt haben. Dass auch ihr Alter, ihr Geschlecht und ihre komplexe institutionelle Anstellungssituation Gründe für Bühlers selbstbewusstes Auftreten gewesen sein könnten, ist als These zu formulieren. Womöglich war es eine Antwort auf abschätzige Reaktionen, die sie als junge, formal nicht an einer Universität angestellte Frau erfahren hatte. Im oben angeführten Zitat aus 1927 benannte sie es als »Genugtuung, daß sowohl S t e r n wie S p r a n g e r und andere Forscher« sich der Arbeit mit Tagebüchern »angeschlossen« hätten.323 Die hier namentlich adressierten William Stern und Eduard Spranger waren 22 bzw. 11 Jahre älter als sie – und hatten beide eine ordentliche Universitätsprofessur inne. Charlotte Bühler war mit ihrem komplizierten Anstellungsverhältnis eigentlich gar keine Angehörige der Universität Wien. Ihre 1920 in Deutschland abgelegte Habilitation wurde hier erst 1929 anerkannt, nachdem Bühler ein Verfahren angestrengt hatte, das sich schließlich über zwei Jahre zog (→ Abschnitt 2.4).324 Vor diesem Hintergrund ist wiederum interessant, dass sie im Zitat von 1927 bei der Benennung anderer Tagebuchforscher Siegfried Bernfeld unerwähnt ließ. Er war freiberuflich tätig, womit seine wissenschaftliche Position noch weniger institutionalisiert war als ihre eigene. Da er inzwischen auch einiges zum Thema publiziert hatte, ist er hier wohl unter die »anderen Forscher« subsumiert.325 Charlotte Bühler hat ihre ›Pionierinnenrolle‹ in der Tagebuchforschung also selbst immer wieder betont. Sie wurde ihr aber auch von Kolleg/ innen zugesprochen: So beginnen etwa Annelies Argelander und Ilse Weitsch den genretheoretischen Teil ihrer (von Charlotte Bühler herausgebrachten) Studie 1933 mit der Feststellung: »Tagebücher von gebildeten Jugendlichen sind als jugendpsychologisches Quellenmaterial seit C h . B ü h l e r s erstmaligem Versuch in zunehmendem Maße benutzt worden.«326 Vor allem in der historischen Forschungsliteratur findet sich diese Einschätzung häufig wiedergegeben. So 322 323 324 325 326

Bühler: Die Bedeutung des Tagebuchs für die Jugendpsychologie, 1925, S. V. Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19274, S. VIII [Hervorhebung im Original]. Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 29. Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19274, S. VIII. Annelies Argelander und Ilse Weitsch: Aus dem Seelenleben verwahrloster Mädchen auf Grund ihrer Tagebuchaufzeichnungen (Quellen und Studien zur Jugendkunde, Bd. 10), Jena 1933, S. 107 [Hervorhebung im Original].

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Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

etwa bei Gerald Bühring, der 2007 feststellte: »Das Tagebuch als Quelle jugendkundlicher Forschung entdeckt zu haben, ist zweifellos das Verdienst Charlotte Bühlers.«327 Der Einfluss von Bühlers Arbeiten wird an dieser Stelle keinesfalls in Abrede gestellt. Mit den bisherigen Ausführungen in diesem Kapitel lässt sich aber belegen, dass zumindest die Aussage, sie wäre die allererste Jugendforscherin gewesen, die sich mit Tagebüchern beschäftigte, relativiert werden muss. Charlotte Bühler hat diese Quellen weder ›entdeckt‹, noch am frühesten benutzt. Siegfried Bernfeld hatte schon 1913 dazu aufgerufen, u. a. Tagebücher zu sammeln, und Fritz Giese verwendete 1914 ebensolche in seiner entwicklungspsychologischen Arbeit. Bühler war allerdings die erste, die in ihrer Publikation von 1921 konkret auf Tagebücher fokussierte, wobei sie aber eben auch andere Quellen verwendete – u. a. die von Giese veröffentlichten und so bezeichneten »Jugenddichtungen«328 (→ Abschnitt 2.2). Ebenfalls (u. a.) mit den von Giese und den von Bühler veröffentlichten Auszügen arbeitete dann wiederum auch Eduard Spranger (1924) weiter (→ Abschnitt 2. 3 und 2.8). Nach meiner Lesart spielt bei dieser nicht ganz korrekten Hervorhebung von Charlotte Bühler als ›erste‹ Tagebuchforscherin also auch eine gewisse sprachliche Unschärfe eine Rolle, mit denen die verwendeten Quellen zeitgenössisch bezeichnet worden sind. Giese erforschte und veröffentlichte dem Titel nach »Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen«. Bernfeld subsumierte Tagebücher (wie auch »Briefe« und »Produktionen jeder Art«) unter dem Begriff »Dokumente für die Sonderart des jugendlichen Trieb- und Geisteslebens«.329 1915 veröffentlichte er in diesem Verständnis die umfangreiche Abhandlung »Das Dichten eines Jugendlichen dargestellt nach dessen Selbstzeugnissen«.330 Aus diesen Beobachtungen ergibt sich der folgende Befund: In den 1910er-Jahren wurden Tagebuchaufzeichnungen in der psychologischen Forschung noch unter dem Label ›literarisches Schaffen‹ von Jugendlichen zu327 Bühring: Charlotte Bühler oder Der Lebenslauf als psychologisches Problem, 2007, S. 70. 328 Begriff nach Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, 1914, Bd. 1, S. 13. Erwähnung bei Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19211, S. VI. In Anlehnung der oben gebrachten Formulierung von Gerald Bühring könnte hier also modifiziert werden: ›Das Tagebuch als Quelle jugendkundlicher Forschung entdeckt zu haben, ist zweifellos das Verdienst Fritz Gieses – auch wenn er diese Forschungen dann nicht weiterverfolgt hat.‹ Diese Aussage beruht auf dem derzeitigen Recherchestand und gilt bis auf weiteres. 329 Bernfeld: Das Archiv für Jugendkultur, 1913 (1994), S. 165f. Für den Beitrag »Ein Freundinnenkreis« von 1922 stand Bernfeld u. a. »ein Tagebuchblatt« zur Verfügung. Den Großteil machten hier Briefe aus, die auch ediert sind. Siegfried Bernfeld: Ein Freundinnenkreis, in: ders.: Vom Gemeinschaftsleben der Jugend. Beiträge zur Jugendforschung, Leipzig/Wien 1922, S. 12–57, in: Herrmann: Siegfried Bernfeld (Sämtliche Werke, Bd. 2), 1994, S. 273–324. 330 Siegfried Bernfeld: Das Dichten eines Jugendlichen dargestellt nach dessen Selbstzeugnissen, (o. O.) 1915, in: Herrmann (Hg.): Siegfried Bernfeld (Sämtliche Werke, Bd. 6), 2014, S. 7– 16.

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sammengefasst und damit ›unsichtbar‹ gemacht. Ab den 1920er-Jahren und einen einschlägigen Wissenschaftsskandal später war es umgekehrt. Jetzt wurden die vielfältigen auto/biografischen Quellen, die in jugendpsychologischen Studien ausgewertet wurden, in den Einleitungen häufig mit dem Begriff ›Tagebücher‹ bezeichnet – und damit ihrerseits unsichtbar gemacht. In einer Definition von 1931 verwendete Charlotte Bühler schlußendlich den offen gefassten Begriff der »selbstdarstellende[n] Niederschrift«, in den sie alles subsumierte was Jugendliche geschrieben haben, auch Tagebücher (→ Abschnitt 2.5 und 3. 3).331 Warum Charlotte Bühlers frühe Arbeiten mit diaristischen Aufzeichnungen im Vergleich zu jenen von Fritz Giese und Siegfried Bernfeld so viel stärker in der forschenden Wahrnehmung geblieben sind, kann nur interpretiert werden. Dass sie sich selbst wiederholt eine wichtige Rolle zugeschrieben hat, mag ein Aspekt dabei gewesen sein. Ein weiterer Grund könnten die regelmäßig abgelieferten Schilderungen des stetig wachsenden Quellenbestandes der Wiener Tagebuchsammlung gewesen sein. Dadurch blieb der Eindruck von diesem Projekt dynamisch. Großes Gewicht hatte jedenfalls der Erfolg von Bühlers Studie »Das Seelenlebe des Jugendlichen«. Durch die breite Rezeption erhielt diese Arbeit auch längerfristig mehr Aufmerksamkeit als etwa die Studie von Fritz Giese von 1914. Ein wichtiger Faktor war also auch der Zeitpunkt der Publikationen. Gieses Arbeit war unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg erschienen. Diese Gewaltsituation bedeutete insgesamt einen Bruch in der intellektuellen Produktion. Für den 24-jährigen Giese bedeutete es offenbar auch eine (vorübergehende) berufliche Veränderung. Meiner Recherche zufolge arbeitete er während des Krieges auf einer Krankenstation für Hirnverletzte bei Halle. Mit seiner späteren Arbeit wird er vor allem als Vordenker der Tiefenpsychologie erinnert, als »Bahnbrecher der ›Psychotechnik‹« mit insgesamt vielseitigen Interessen.332 Er war zwar weiterhin im Fach geblieben, beschäftigte sich fortan aber mit anderen Themen. Charlotte Bühler hat sich ihrerseits über den langen Zeitraum von über zehn Jahren kontinuierlich mit Tagebüchern beschäftigt und konnte dabei auch immer wieder neue Ergebnisse präsentieren. Warum die Arbeit von Fritz Giese im Gedächtnis der historischen Auto/biografieforschung bisher keinen Platz gefunden hat, hatte meiner Auslegung nach schließlich noch einen methodischen Grund. Neben den sprachlichen Unschärfen in der Bezeichnung der verschiedenen auto/biografischen Formate scheint in den 1910er-Jahren bisweilen (noch) eine gewisse fachliche Ratlosigkeit geherrscht zu haben, wie genau mit der Quelle Tagebuch wissenschaftlich um331 Bühler: Kindheit und Jugend, 1931, S. 331. 332 Schulz: Giese, Wilhelm Oskar Fritz, 1964 und Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: Catalogus Professorum Halensis: Fritz Giese (o. J.). Mitte der 1920er-Jahre veröffentlichte Giese eine weitere Arbeit zum Thema Jugendliche unter dem Titel: Girl-Kultur. Vergleich zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl, München 1925.

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zugehen wäre – bzw. welchen Umfang ein Sample haben sollte. So formulierte Giese 1914 dieses beachtenswerte Zitat: »Wenn nämlich von 3000 Proben mir im ganzen nur 4 Tagebücher zur Verfügung standen, so ist das entschieden nicht ausreichend, da mit Sicherheit vermutet werden kann, daß prozentualiter viel mehr Tagebuchaufzeichnungen gemacht werden. Die subjektive Form der Darstellung, die allen diesen Tagebüchern, bei Knaben wie bei Mädchen, eigen ist, und des Weiteren die durchaus vorhandene referierende Prosa, endlich die inhaltliche Darstellung wie die von Aufzeichnung zu Aufzeichnung gebotene Länge, lassen die Tagebücher zu den Berichten gezählt werden. Es wäre eine Aufgabe, und psychologisch zur Erforschung der Gedankenkreise von Kindern wie von Jugendlichen besonders erkenntnisreich, wenn man nur Tagebücher einmal untersuchen würde. Jedoch wird die Bemühung daran scheitern, daß nicht genügend Material einläuft, obschon bekanntlich besonders in Internaten und in Mädchenpensionaten das Tagebuchverfassen zu den chronischen Beschäftigungen gehört. Die klare Subjektivität, ausgedrückt in persönlichen Erlebnissen und in individuellen Überzeugungen verbietet dem Autor jedoch dritten Menschen Tagebücher anzuvertrauen. Man muß sich also mit dem begnügen, was wohlwollenderweise überlassen wird.«333 Diese in ihrem Forschungsumfeld verankerte Feststellung ist für die Geschichte der Tagebuchforschung hoch interessant. Während Giese 1914 also der Meinung war, die vier ihm verfügbaren Tagebücher (von Mädchen und Burschen) würden keine verallgemeinernden Aussagen zulassen, umfasste das Quellenfundament von Charlotte Bühlers Publikation aus 1921 ganze drei Tagebücher (von Mädchen). Offenbar hatte sie genügend Vertrauen in ihre eigene Forschung – vor allem aber: in das verwendete Material. Die (über lange Zeit) ungleiche Rezeption von Siegfried Bernfeld und Charlotte Bühler könnte schließlich durch strukturelle Faktoren begründet gewesen sein.334 Bernfelds wissenschaftliche Karriere fand außerhalb des universitären Rahmens statt. Er war Zionist, ein Proponent der politischen Linken und ging schon Mitte der 1930er-Jahre ins Exil (→ Abschnitt 2.9). Damit summierten sich mehrere Aspekte, die eine Verankerung im wissenschaftlichen Gedächtnis erschweren konnten. Zumindest bis in die 1960er-Jahre.335 Auf welche Weise hat er 333 Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, Bd. 1, 1914, S. 37f. 334 Dazu ist festzustellen, dass Siegfried Bernfeld zwar bereits 1913 dazu aufgerufen hatte, (u. a.) Jugendtagebücher zu sammeln. Seine erste theoretische Publikation zu dem Thema wurde aber erst 1924 veröffentlicht. Bernfeld: Vom dichterischen Schaffen der Jugend, 1924 (2014). 335 Zum ›Vergessen‹ sowie der ›Wiederentdeckung‹ von Siegfried Bernfeld insbesondere im Rahmen der Studierendenbewegung der 1960er-Jahre siehe Peter Dudek: Rezension von Ulrich Herrmann (Hg.): Siegfried Bernfeld. Theorie des Jugendalters (Sämtliche Werke, Bd. 1), Weinheim/Basel 1992, in: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 40, 1994, Heft 2, S. 329–331, S. 329.

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sich aber mit dem Thema Tagebuchschreiben beschäftigt? Und wie unterschied sich sein inhaltlicher Zugang von dem von Charlotte Bühler?

Charlotte Bühlers Interpretation des Tagebuchschreibens Der Schwerpunkt dieser Studie liegt in der Darstellung der Kontexte, in denen Tagebücher als Quellen gesammelt und ausgewertet wurden. Kurz sollen an dieser Stelle dennoch auch inhaltliche Aspekte der Tagebuchforschung von Charlotte Bühler skizziert werden. Ihre Einschätzung, warum Jugendliche überhaupt Tagebuch schreiben würden, ist in der Forschungsliteratur ausführlich dargestellt und auch kritisch bewertet worden.336 Sie selbst hat sich vor allem in den Vorworten der Publikationen von 1923, 1925, 1929 und 1931 jeweils dazu geäußert, wobei es sich dabei in keinem Fall um ein zentrales Thema der Studien handelt. Genretheorie war insgesamt nie ein hauptsächlicher Fokus von Charlotte Bühler.337 Wie schon beschrieben wurde, war ihr Verständnis von Psychologie biologistisch untermauert. In ihrer Theorie der »seelischen Pubertätserscheinungen« identifizierte sie als »Hauptbegriff« eine »Ergänzungsbedürftigkeit«, die ihrer Auslegung nach allen Jugendlichen eigen war (nicht nur denen, die ein Tagebuch geschrieben haben) (→ Abschnitt 2.3).338 1927 hatte sie ihre Studie »Das Seelenleben des Jugendlichen« als theoretisch »zunächst an der Biologie orientiert« definiert.339 Entsprechend interpretierte sie auch die Funktion, die das Tagebuchschreiben für die Jugendlichen hatte: »Die Bedeutung, welche die Verfasser selbst ihren Tagebüchern beimessen, ist groß. Sie betrachten das Tagebuch als ihren Freund und fühlen sich erleichtert 336 Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 169–173; Bühring: Charlotte Bühler oder Der Lebenslauf als psychologisches Problem, 2007, S. 69–79. 337 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 1923², S. 1–8; dies.: Die Bedeutung des Tagebuchs für die Jugendpsychologie, 1925, S. V–XIV; dies.: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19295, S. 1–11; dies.: Kindheit und Jugend, 1931, S. 331–332. Zu den einzelnen Inhalten: In der Einleitung der zweiten Ausgabe von »Das Seelenleben des Jugendlichen« von 1923 beschäftigte sich Charlotte Bühler neben den Funktionen des Schreibens für die Jugendlichen u. a. mit der Frage, »welche Bedeutung hat das Tagebuch für uns und wie werten wir es richtig aus?« Ähnliche Themen behandelte sie noch einmal in »Die Bedeutung des Tagebuchs für die Jugendpsychologie«, der Einleitung von »Zwei Knabentagebücher« aus 1925. In der Einleitung der fünften Ausgabe von »Das Seelenleben des Jugendlichen« aus dem Jahr 1929 präsentierte Charlotte Bühler verschiedene quantitative Auswertungen der inzwischen gesammelten Tagebücher (→ Abschnitt 2.4). Im fünften Kapitel von »Kindheit und Jugend« von 1931 nahm sie (neben Darstellungen ihrer bisherigen Forschung und dem Quellenbestand) schließlich insbesondere Bezug auf aktuelle Fragen in der Tagebuchforschung, die mittlerweile u. a. von Siegfried Bernfeld ausdifferenziert worden waren. 338 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 1923², S. VII. 339 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19295, S. V (Vorwort der 4. Auflage von 1927).

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und gefördert durch die schriftliche Entlastung.«340 »Ein Tagebuch, das Jahre hindurch einen jungen Menschen in einsamen Kämpfen, in seiner Jugendnot und Sehnsucht und seinem Jugendglück begleitet«,341 las sie als Teil einer »gesetzmäßigen und spezifischen Erlebnisweise des Reifungsalters«.342 »Ein Mensch setzt sich hin und schreibt; schreibt nicht, um irgendeine ihm vorschwebende oder gestellte Aufgabe zu erfüllen oder andern etwas mitzuteilen, sondern für sich selbst ohne erkennbaren Zweck. Manchmal erfüllt ihn die Vorstellung, sich seine Erlebnisse aufzubewahren, manchmal der Wunsch, sich sein Handeln dadurch explicit vor Augen zu führen und zu rechtfertigen, meist der einfache Trieb, sich irgendwie über Dinge, die mit seinem Leben zusammenhängen, auszusprechen. […] Gleichviel, man muß annehmen, daß den Tb.schreiber Dinge beschäftigen, mit denen er allein sein will oder muß. […] Es ist also ein Einsamkeits-, ein Isolierungsbedürfnis die Grundbedingung des Tb.schreibens. […] in den Fakten der Ablehnung der gegebenen Umwelt, der Sehnsucht nach nicht vorhandenen Menschen, der Beschäftigung mit Fragen die sich der Aussprache mehr oder minder verwehren, haben wir nun in der Tat die Grundtatsachen der Pubertät beisammen.«343 Interessanterweise benannte Charlotte Bühler in diesem letzten Zitat aus dem Jahr 1925 verschiedene Funktionen, die das Schreiben von Tagebüchern für die Jugendlichen haben könne (Erlebnisse aufbewahren, das eigene Handeln reflektieren, sich über sich selbst klarwerden), dennoch sprach sie ihm jeden »erkennbaren Zweck« ab und betonte vielmehr, dass es sich um ein ›Bedürfnis‹ handelte. Gerhard Benetka bemerkte dazu, dass Charlotte Bühler die Idee der »Ergänzungsbedürftigkeit« nicht aus den Tagebüchern herausgelesen habe. Nach seiner kritischen Lesart war diese Annahme für Bühler »nicht Resultat, sondern vielmehr Voraussetzung für die Auswertung der Tagebücher«. Demnach hat sie diese »Ergänzungsbedürftigkeit« also als »theoretischen Hintergrund« in die Tagebücher ›hineingetragen‹ – und dann wiederum entsprechende Ergebnisse aus den Texten abgeleitet.344 Um ihre These, Jugendliche hätten schlichtweg das ›Bedürfnis‹ ein Tagebuch zu führen, zu stützen, zitierte Charlotte Bühler auch die Ergebnisse von quantitativen Umfragen. 1925 hatte sie selbst »zweimal in größeren Zuhörerkreisen anonym schriftliche Auskunft darüber eingesammelt, wer unter den Anwesenden im Jugendalter Tb. geführt habe, wann und wie lange. Es ergaben sich das eine Mal 60, das andere Mal 66 % aller Teilnehmer, die zwar nicht alle regelmäßig und durch Jahre hindurch, aber doch kürzere oder längere Zeit Aufzeichnungen 340 341 342 343 344

Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 1923², S. 1–8, S. 3. Ebd.: S. VIII. Bühler: Die Bedeutung des Tagebuchs für die Jugendpsychologie, 1925, S. X. Ebd.: S. VIIIf. Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 169.

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über ihre Erlebnisse gemacht hatten«.345 1931 goss sie neuerlich ein Fundament aus Zahlen. Nach einer Umfrage im »Wiener Volksheim« wurde diesmal auch eine soziale Streuung eingebaut und es konnten zudem internationale Daten präsentiert werden: »Die spezifische Häufigkeit [des Tagebuchschreibens, L. G.] steht heute völlig fest. Sämtliche bisher vorgenommenen Erhebungen ergaben eindeutig dasselbe Resultat. Und zwar fanden wir bisher in jeder Versammlung mit durchschnittlich akademisch Gebildeten zwei Drittel Tagebuchschreiber; im Wiener Volksheim ermittelte K a r l R e i n i n g e r 5 0 % . Dieser Prozentsatz stimmt interessanterweise mit dem überein, den Prof. S a k e l l a r i o u an der Universität Athen unter seinen griechischen Studenten ermittelte. Dagegen ergab eine Stichprobe an amerikanischen Studenten in N e w Y o r k genau den mit dem hiesigen übereinstimmenden zwei-Drittelanteil, was niemand in Amerika vermutet hätte.«346 Neben der quantitativen Legitimation ihrer Interpretationen ist hier insbesondere spannend, wie Charlotte Bühler den qualitativen Aussagewert von Tagebüchern formulierte. In der Abhandlung »Die Bedeutung des Tagebuchs für die Jugendpsychologie« stellte sie diesen folgendermaßen dar: »Das Tb. bietet eine geschlossene Folge von Selbstbeobachtungen. […] Dieses aufrichtige Bemühen das mit zum Sinn des Tb.schreibens gehört, wirkt dem Posieren entgegen und erzeugt vielfach ein sehr gewissenhaftes dem wissenschaftlichen ähnliches Wahrheitsstreben. Der Hauptvorteil ist aber zweifellos die Ausführlichkeit und Kontinuität der Darstellung«.347 Ein »dem wissenschaftlichen ähnliches Wahrheitsstreben« im Sinne eines Sich-Ergründens oder Sich-Selbst-Erforschens stufte Bühler als eine der hauptsächlichen Motivationen dafür ein, dass Jugendliche überhaupt Tagebücher führten.348 Gleichzeitig schrieb sie damit auch die seriöse Qualität der Inhalte fest, die damit taugliche Quellen waren für das ›echte‹ Wissenschaftsstreben der ausgebildeten Forscher/innen. Im Hinblick auf die psychologische Selbstzeugnisforschung im frühen 20. Jahrhundert möchte ich dazu noch eine zweite Interpretationsmöglichkeit formulieren: Wie in → Kapitel 1 dargestellt wurde, war die kinderpsychologische Forschung seit dem 19. Jahrhundert u. a. auf der Quellenbasis von Elterntagebüchern aufgebaut, die dabei zunehmend professionalisiert wurden. William Stern, einer der Hauptvertreter dieser Richtung, hatte dazu 1914 einen kritischen Kommentar abgegeben. Seiner Forderung nach sollten sich » z u w i s s e n 345 Bühler: Die Bedeutung des Tagebuchs für die Jugendpsychologie, 1925, S. VII. 346 Bühler: Kindheit und Jugend, 1931, S. 331 [Hervorhebungen im Original]. Der genannte Karl Reininger hatte folgende Arbeiten publiziert: Karl Reininger: Das soziale Verhalten in der Vorpubertät, Dissertation, Wien 1925 und ders.: Das soziale Verhalten von Schulneulingen, Wien 1929. Zu »Prof. Sakellariou« konnten bisher keine Angaben recherchiert werden. 347 Bühler: Die Bedeutung des Tagebuchs für die Jugendpsychologie, 1925, S. Vf. 348 Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 172.

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schaf tlichen Arbeiten, selbst zu bloßen Materialsammlungen f ü r w i s s e n s c h a f t l i c h e Z we c k e , n u r s o l c h e b e r u f e n f ü h l e n , we l c h e d i e d u r c h a u s n o t we n d i g e p s y c h o l o g i s c h e S c h u l u n g b e s i t z e n […]. Nicht auf bloße Quantität, sondern auf einwandfreie zuverlässige Qualität des Materials kommt es der Forschung an.«349 Vor diesem Hintergrund kann Charlotte Bühlers Einschätzung, die Tagebuchtexte von Jugendlichen seien durch das ihnen immanente Streben nach Selbsterkenntnis auch mit wissenschaftlichen Projekten vergleichbar, als ein direkter Anknüpfungspunkt an das wissenschaftsgeleitete Elterntagebuchschreiben gesehen werden. Damit wurde wiederum auch die psychologische Beschäftigung mit diesen Quellen als wissenschaftsrelevant ausgewiesen – und zusätzlich legitimiert. Ihre vorerst letzten ausführlicheren Darstellungen zur Arbeit mit Jugendtagebüchern veröffentlichte Charlotte Bühler 1931. Darin nahm sie auch Bezug auf die im selben Jahr von Siegfried Bernfeld veröffentlichte Monografie »Trieb und Tradition im Jugendalter. Kulturpsychologische Studien an Tagebüchern«. Sie bezeichnete diese dabei als »die bisher beste Untersuchung zum Problem des Tagebuchs«.350 Dieser Kommentar erscheint insofern als bemerkenswert, als die beiden Forscher/innen Tagebücher mit einem durchwegs unterschiedlichen Grundverständnis interpretierten. Zudem hatte Bernfeld Charlotte Bühlers Arbeiten bisher durchaus kritisch rezipiert. Wie im Übrigen auch die von anderen etablierten Jugendpsycholog/innen, allen voran von Eduard Spranger.351 Was war nun sein Standpunkt zum Thema Tagebuchschreiben?

Siegfried Bernfelds Interpretation des Tagebuchschreibens Siegfried Bernfeld hatte 1913 als junger Student im Organ der sozialistisch-zionistischen Jugendbewegung »Der Anfang« die Idee für das Archiv für Jugendkultur formuliert. 1914 erhielt er die Gelegenheit, auch in der »Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung« darüber zu berichten. Diese Zeitschrift war von William Stern mitbegründet und herausgegeben worden. Stern war zu der Zeit einer der bekanntesten Entwicklungspsychologen aus Deutschland. Und er war ein Förderer der wissenschaftlichen 349 William Stern: Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahre, Leipzig 1914, S. 10 [Hervorhebungen im Original] (→ Abschnitt 1.6). 350 Bühler: Kindheit und Jugend, 1931, S. 331. 351 Dazu u. a. Siegfried Bernfeld: Die heutige Psychologie der Pubertät. Zur Kritik ihrer Wissenschaftlichkeit (Sonderdruck aus Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Natur- und Geisteswissenschaften, Bd. XIII), Leipzig/Wien/Zürich 1927, in: Ulrich Herrmann (Hg.): Siegfried Bernfeld (Sämtliche Werke, Bd. 1), Gießen 20102 (19921), S. 161– 230. Dazu auch Herrmann: Siegfried Bernfeld als Historiker, 2015, S. 220.

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Arbeit des »jungen Wilden« aus Wien.352 Bernfeld hatte keine geradlinige Universitätslaufbahn eingeschlagen. 1919 gründete er das zionistisch und reformpädagogisch ausgerichtete Kinderheim Baumgarten für 300 verwaiste jüdische Kinder, das er kurz auch leitete.353 Ab 1921 war er in verschiedenen journalistischen, wissenschaftlichen und politischen Positionen in Österreich und Deutschland tätig, von 1925 bis 1932 als Psychoanalytiker und Hochschullehrer in Berlin. Daneben publizierte er als Theoretiker zu zahlreichen Themen, eines davon war das literarische und auto/biografische Schreiben von Jugendlichen. 1931 veröffentlichte er das Buch »Trieb und Tradition im Jugendalter«, in dem er das Tagebuchschreiben mit einem – aus heutiger Sicht erstaunlich aktuell wirkenden – kulturwissenschaftlichen Ansatz analysierte.354 Einzelne seiner Fragestellungen werden im Folgenden daher etwas ausführlicher dargestellt. Wie Ulrich Herrmann anhand ihrer Korrespondenz zeigen konnte, stand Bernfeld auch im Zusammenhang mit dieser Publikation im Austausch mit William Stern. Der Mentor hat das Manuskript positiv begutachtet, einen entscheidenden Vorschlag für den Titel gemacht und den Text als Beiheft für die von ihm herausgegebene »Zeitschrift für angewandte Psychologie« vorgeschlagen.355 Dabei interpretierte Siegfried Bernfeld Selbstzeugnisse geradezu in umgekehrter Weise, wie es William Stern bisher gemacht hatte. Oder Charlotte Bühler. Nach der Darstellung von Ulrich Herrmann lieferten Tagebücher für Stern und Bühler »im wesentlichen Informationen (›Data‹) zum Verständnis [der] Selbstwerdung und ihrer Metamorphosen im Lichte der Selbstaussagen. Siegfried Bernfelds Interesse galt zunächst den Selbstaussagen Jugendlicher als Bausteine für eine empirische Theorie des Jugendalters.«356 An den Ansätzen von Bühler und Stern kritisierte er, sie würden den Text eines Tagebuches als »urkundliche Wahrheit« lesen – während er selbst darin vielmehr »ein Objekt der Deutung« sah.357 In heutigen Begriffen gesprochen sah Bernfeld das Verfassen von Tagebüchern als eine ›kulturelle Praxis‹ an358 – während Charlotte Bühler als »Grundbedingung des Tb.schreibens« ja ein pubertäres »Einsamkeits-, ein Isolierungsbe-

352 Herrmann: Siegfried Bernfeld als Historiker, 2015, S. 221. 353 Dazu u. a. Daniel Barth und Ulrich Herrmann (Hg.): Siegfried Bernfeld. Sozialpädagogik (Sämtliche Werke, Bd. 4), Weinheim/Basel 2012. 354 Dazu u. a. Christa Hämmerle und Li Gerhalter: Tagebuch – Geschlecht – Genre im 19. und 20. Jahrhundert, in: Li Gerhalter und Christa Hämmerle (Hg.): Krieg – Politik – Schreiben. Tagebücher von Frauen (1918–1950), Wien/Köln/Weimar 2015, S. 7–31. 355 Herrmann: Siegfried Bernfeld als Historiker, 2015, S. 217–219. 356 Ebd.: S. 222. 357 Ebd.: S. 224. 358 Vgl. dazu die Formulierung in Nicole Seifert: Tagebuchschreiben als Praxis, in: Renate Hof und Susanne Rohr (Hg.): Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay, Tübingen 2008, S. 39–60.

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dürfnis« festgemacht hatte.359 Die Auslegungen von Siegfried Bernfeld unterschieden sich auch wesentlich von jenen von Eduard Spranger. Es wurde bereits dargestellt, dass Spranger sich in seinem ›Bestseller‹ »Psychologie des Jugendalters« (19241) nicht sonderlich mit einer Reflexion der verwendeten Quellen ›aufgehalten‹ hat. Entsprechend waren auch Überlegungen zu möglichen Schreibanlässen der herangezogenen auto/biografischen Genres kein Aspekt, den er ausführlich besprochen hätte. Zum Thema »Selbstreflexion« heißt es insgesamt: »Im allgemeinen […] äußert sich diese Versenkung in das Geheimnis der Individuation [harmlos]: Tagebücher werden angelegt.*) Briefwechsel werden geführt, nicht um sich ›gegenseitig‹ auszusprechen, sondern um sich selbst zu bespiegeln im Schreiben und Empfangen. Lyrische Gedichte sollen Gefühlsentladung bringen. Freundschaften dienen in diesem Alter der subjektiven Selbstverständigung. Aber natürlich: man sieht sich durch einen Phantasieschleier, der alles im eigenen Ich sehr interessant, sehr bedeutsam macht. […] *) Kinder wissen mit Tagebüchern, die ihnen geschenkt werden, nicht viel anzufangen. Beginnen sie trotzdem, etwas einzutragen, so ist die Wendung zum seelischen Erwachen doch scharf erkennbar an Ton und Gegenständen.«360 Bemerkenswert erscheint hier insbesondere die kurze Feststellung in der Fußnote. Da Spranger in seinem ganzen Buch nur vereinzelt Fußnoten einsetzte (wie bei vielen zeitgenössischen Publikationen enthalten die meisten Seiten gar keine), ist dieser Hinweis hier doch eigentümlich herausgehoben. Inhaltlich könnte darin ein Gegenargument zu Charlotte Bühlers Einschätzung gesehen werden, das Schreiben von Tagebüchern wäre ein essenzielles ›Bedürfnis‹ von Jugendlichen. Die lapidare Bemerkung »Tagebücher werden angelegt« war wiederum ein Punkt, an den Siegfried Bernfelds (später geschriebene) Darstellung anknüpfte. Wie er ausführlich darlegte, wurden Tagebücher seiner Lesart nach eben nicht einfach so »angelegt«, genauso wenig, wie Briefe oder Gedichte einfach nur »Gefühlsentladung bringen« sollten. In der Sprache der damaligen Zeit bezeichnete Siegfried Bernfeld die verschiedenen Formen des auto/biografischen Schreibens als einen »Brauch«, den er dabei auch historisch verortet sehen wollte. »Denn das Tagebuch hat eine Geschichte. Die Form des Tagebuches – wie jeder andere literarische Brauch und jede Literaturform – ist historisch geworden […] Es gibt einen distinkten Formenkreis Tagebuch, aus dessen Boden der individuelle Reichtum sprießt. […] auch der eigenwilligste Tagebuchschreiber [bleibt] im Formenkreis seiner Zeit und seines sozialen Ortes. […] wer immer ein Tagebuch schreibt, ist – ihm selbst wohl unbewußt – gebunden an eine bestimmte Tradition. Er schreibt, als wüßte er von den Tagebüchern seiner Mitmenschen, als kennte er die Geschichte des Tagebuchs und als bejahte er sie.« Lakonisch fügte er 359 Bühler: Die Bedeutung des Tagebuchs für die Jugendpsychologie, 1925, S. Vf. 360 Spranger: Psychologie des Jugendalters, 193517, S. 41.

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hinzu: »Man darf sich über dieses Faktum füglich wundern.«361 In einer längeren Passage über Charlotte Bühlers Buch »Seelenleben des Jugendlichen« hatte sich Bernfeld bereits 1927 vehement dagegen ausgesprochen, die Inhalte von Tagebuchtexten mit einem Anspruch auf ›Wahrheit‹ zu konfrontieren, sie »mit einem Notariatsakt [zu] verwechseln«.362 »Tagebücher Jugendlicher sind keine Quellen im Sinne historischer Quellen: d. h. es kommt bei ihnen ganz und gar nicht auf die Glaubwürdigkeit der Verfasser an. Und man kann sie nicht als Zeugen für Tatbestände führen, oder nur mit kritischer, methodischer Vorsicht […]. Tagebücher sind durch bewußte und unbewußte Tendenzen entstellte Darstellungen, genauso wie Träume, Phantasien, Dichtungen Jugendlicher.«363 »Nicht alles Gedachte und Erlebte wird ins Tagebuch aufgenommen, sondern bloß eine Auswahl. Natürlich nicht eine zufällige Auswahl, sondern eine motivierte. Das ist der Glaube, mit dem wir an ein Tagebuch herantreten: Es stellt eine streng motivierte Auswahl des Erlebten dar.«364 Eine solche Einschätzung der Gestaltung von Tagebuchtexten schmälerte für Bernfeld aber keineswegs den Quellenwert dieses Genres. Vielmehr stellte er sich 1931 die leitende Frage: »Was veranlaßt den heutigen Jugendlichen, das heutige Kind, den literarischen Brauch ›Tagebuch‹ für sich anzunehmen; wie weit gleicht es seine Tagebuchaufschriebe einer Norm an; was veranlaßt diese Formübernahme; was bedeutet ihm die Form und ihre Übernahme psychisch?«365 Und an späterer Stelle: »Der Normangleich orientiert sich nicht an der Lektüre eines bestimmten Tagebuchs, sondern an dem ›Wissen über Tagebücher‹.«366 Wie aber kam dieses ›Wissen‹ zustande? In dem Kapitel »Die Tradierung der Tagebuchform« führte Bernfeld gebündelt die verschiedenen Faktoren aus, die seiner Auslegung nach Kinder und Jugendliche dazu motivieren konnten, ein Tagebuch zu führen. Seine Einschätzung war dabei durchaus radikal: »Die Form Tagebuch ist unter Zwang tradiert worden, und wird es auch heute noch. […] Unter den Subjekten des Zwanges steht die Schule obenan. […] Neben der Schule sind es die Eltern, die zu gewissen Zeiten die Tagebuchführung erzwungen haben […].«367 Als besonders wirksam stufte Bernfeld zudem »die Werbung für das Tagebuch« ein. Dieser Ansatz findet sich in keiner anderen zeitgenössischen Arbeit zum

361 Bernfeld: Trieb und Tradition im Jugendalter, 1931 (2015), S. 7–8. 362 Bernfeld: Die heutige Psychologie der Pubertät, 1927 (20102), S. 37–51, S. 41f. Dazu auch Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 169–171. 363 Bernfeld: Die heutige Psychologie der Pubertät, 1927 (20102), S. 40f. 364 Ebd.: S. 45. 365 Bernfeld: Trieb und Tradition im Jugendalter, 1931 (2015), S. 9. Vgl. dazu auch die → Abschnitte 4.2 und 4.3 in dieser Studie. 366 Ebd.: S. 89–105, S. 91. 367 Ebd.: S. 146f.

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Thema Tagebuchschreiben, weswegen er an dieser Stelle besonders betont werden soll. Zusammenfassend stellte Bernfeld fest: »An das Kind und den Jugendlichen tritt diese Anregung [»den Brauch anzunehmen, die Form zu übernehmen«, L. G.] in drei Weisen vor allem heran: 1. als Aufforderung von Eltern, Lehrern, Geistlichen, Verwandten und Freunden ein Tagebuch zu führen, verbunden mit Anweisung, Begründung, Hilfe, sehr häufig gelegentlich des Geschenks eines der seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts üblichen Fertigtagebücher; 2. als literarische Anregung, wie sie seit Lavater in der Literatur und in der Jugendschriftenliteratur insbesonders so häufig ist; 3. als geschäftliche Werbung für das Fertigtagebuch im Schreibwarenladen und Kaufhaus.«368 Als Beleg für seine Thesen brachte Bernfeld eine Aufstellung von 28 veröffentlichten Tagebuchvorlagen oder -editionen, deren früheste Titel »Karolinens Tagebuch ohne außerordentliche Handlung oder gerade so viel als gar keine« und »Tagebuch für Kinder zum lehrreichen angenehmen Zeitvertreib« in Prag/Praha 1774 und Breslau/Brassel/Wrocław 1784 erschienen waren. Das späteste Tagebuch in seiner Aufstellung war die Erzählung »Aus Lottes Tagebuch« von Else Hofmann (1893–1960) aus 1920.369 13 der Titel waren dezidiert an Mädchen gerichtet, acht an Burschen. Sieben, wie etwa das »Tagebuch für fleißige, gute und fromme Kinder« von 1840, richteten sich an beide Geschlechter.370 In erster Linie forderte Siegfried Bernfeld also eine Historisierung der diaristischen Quellen, da doch »auch der eigenwilligste Tagebuchschreiber im Formenkreis seiner Zeit und seines sozialen Ortes« verhaftet sei – um dieses aus meiner Sicht zentrale Zitat hier noch einmal zu wiederholen.371 Dazu hatte er schon 1928 in dem kurzen Text »Historische Jugendtagebücher« eine stärkere 368 Ebd.: S. 147f. Der hergestellte Bezug auf Johann Caspar Lavater meint die Publikation »Geheimes Tagebuch. Von einem Beobachter seiner selbst«, herausgegeben von Georg Joachim Zollikhofer in Leipzig 1771. Dazu u. a. Hämmerle und Gerhalter: Tagebuch – Geschlecht – Genre im 19. und 20. Jahrhundert, 2015, S. 10. Zum Begriff »Fertigtagebücher«: Marianne Soff verwendete für diese vorgefertigten Schreibunterlagen den Ausdruck »kommerzielle Fertigtagebücher«, den ich auch in meine Publikationen übernommen habe. Soff: Jugend im Tagebuch, 1989, S. 255. 369 Bernfeld: Trieb und Tradition im Jugendalter, 1931 (2015), S. 148–150. Angaben zur Journalistin Else Hofmann finden sich auf dem Portal Wiener Kunstgeschichte gesichtet (o. J.) unter: www.univie.ac.at/geschichtegesichtet/e_hofmann.html. 370 Die Erziehungswissenschafterin Anke M. Melchior recherchierte 1992 auf der Grundlage von mehreren Datenbanken, Lexika und Bibliografien für die Zeit »seit dem Mittelalter« bis in das 19. Jahrhundert 155 Titel von publizierten Tagebüchern von Mädchen und Frauen. Für das 20. Jahrhundert insgesamt 337. Anke M. Melchior: Mädchen- und Frauentagebücher seit dem Mittelalter. Eine Bibliographie von veröffentlichten Tagebüchern in deutscher Sprache, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, Jg. 5, 1992, Heft 2, S. 271– 314. 371 Bernfeld: Trieb und Tradition im Jugendalter, 1931 (2015), S. 7–9.

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Zusammenarbeit der psychologischen Forschung mit den Literatur- und Geschichtswissenschaften vorgeschlagen, die dabei gegenseitig voneinander profitierten könnten.372 Und er legte hier auch eine Bibliographie von 32 edierten Aufzeichnungen von Personen aus verschiedenen europäischen Öffentlichkeiten vor, die er für eine psychologische Auswertung in Bezug auf jugendkundliche Fragen als ergiebig einstufte. 24 davon stammten von Männern, acht von Frauen. Zeitlich holte Bernfeld dazu weit aus: Die früheste Aufzeichnung war das 1878 herausgegebene so betitelte »Tagebuch« des 1316 geborenen römisch-deutschen Kaisers Karl/Karel IV., die spätesten die »Briefe und Tagebuchblätter« (1921) der deutschen Expressionistin Paula Modersohn-Becker (geb. Becker, 1876–1907). Neben den verschiedenen Anlässen, die Kinder oder Jugendliche (mehr oder weniger freiwillig) dazu anzuregen vermochten, ein Tagebuch zu führen, thematisierte Bernfeld in anderen Texten u. a. die Funktionen, die das Schreiben haben konnte, oder auch die ›Vorformen‹ des diaristischen Schreibens, die kleine Kinder ausprobierten.373 Er sah also Veränderungen des auto/biografischen Schreibens nicht nur in historischen Zeitspannen, sondern auch in den einzelnen Lebensläufen der Schreiber/innen. Charlotte Bühler, die in »Kindheit und Jugend« von 1931 durchaus auf Siegfried Bernfelds kritische Anmerkungen zu ihren bisherigen Ansätzen einging, brachte zu diesem Thema hier drei Grafiken zur »Altersverteilung« der Schreiber/innen und der Dauer der Aufzeichnungen. Diese waren von ihrer Mitarbeiterin oder Studentin Maria Latka »am Wiener Tagebuchmaterial […] gewonnen« worden. Nach Mädchen und Burschen unterschieden, wird dabei dargestellt, in welchem Alter sie ihre Aufzeichnungen jeweils anfingen, wann sie sie beendeten und wie lange sie diese führten etc. (→ Abschnitte 2.4 und 2.7).374 Zu der von Bernfeld stark gemachten Frage nach den Funktionen des Schreibens fügte Bühler an, diese sei »nicht Gegenstand allgemeiner Theorie, sondern konkreter Untersuchungen, zu denen vor allem der Jugendliche heranzuziehen ist, der n i c h t Tagebuch schreibt. Wir gehen der Frage gerade nach und werden bei der Publikation unserer Ergebnisse auch eingehender auf B e r n f e l d s Buch zu sprechen kommen.« Und sie rekurrierte mehr denn je auf Arbeiten, die im Kontext ihres großen Forschungsteams entstanden waren, das 372 Bernfeld: Historische Jugendtagebücher, 1928 (1994), S. 325–333, S. 327. Siegfried Bernfeld zitierte hier folgende historische Arbeiten: Richard M. Meyer: Zur Entwicklungsgeschichte des Tagebuchs, in: ders.: Gestalten und Probleme, Berlin 1905, S. 281–295; Hans Glagau: Die moderne Selbstbiographie als historische Quelle, Marburg 1903; Anna Robeson Burr: The autobiography. A critical and comparative study, Boston/New York 1909. 373 Dazu u. a. Siegfried Bernfeld: Reliquien und Tagebücher, in: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik, Jg. 4, 1930, S. 370–381; Bernfeld: Trieb und Tradition im Jugendalter, 1931 (2015). 374 Bühler: Kindheit und Jugend, 1931, S. 330–332.

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sie (im Gegensatz zu Bernfeld) ja im Rücken hatte: »Vorläufig verweisen wir auf zwei Analysen der Tagebuchentstehung, die H i l d e g a r d H e t z e r publiziert hat.«375 Diese drei Zitate sind hier aus zweierlei Gründen gebracht worden: Einerseits, um noch einmal auf die verschiedenen strukturellen Hintergründe hinzuweisen, vor denen Bühlers und Bernfelds Forschungsarbeiten stattfanden. Andererseits sollen sie auch den fachlichen Diskurs zeigen, in dem die beiden Wiener Tagebuchforscher/innen miteinander standen.376 Der dabei geführte Schlagabtausch kann in ihren Publikationen oft beinahe in ›Echtzeit‹ nachvollzogen werden.

2.7) Soziale Schicht als Analyseperspektive in der Jugendpsychologie Ein Kritikpunkt der wissenschaftshistorischen Forschung an den Arbeiten von Charlotte Bühler ist deren soziale Einseitigkeit. Gerhard Benetka bezeichnete ihre Theorien als eine »Stilisierung bürgerlicher Lebens- und Verhaltensweisen zu allgemein-psychologischen Entwicklungstatsachen«.377 Anders ausgedrückt: Sie sei von (ihren eigenen) bürgerlichen Normen ausgegangen und habe diese in ihren Texten verallgemeinert. Ohne die Aussage von Benetka relativieren zu wollen, lässt sich diese soziale Eindimensionalität als zeitgenössisch übliche Herangehensweise und Ausdruck der hegemonialen Konzepte der frühen Jugendforschung identifizieren. Eine Gemeinsamkeit aller unterschiedlichen Forschungsrichtungen, die sich zu der Zeit mit Phänomenen der Jugend beschäftigten, war (grob gesagt) ein essentialistischer Zugang zu dem Thema. Die vorherrschende These ging »von der Einheitlichkeit der Jugend« aus: ihre Phänomene würden alle Menschen einer bestimmten Altersgruppe gleichermaßen betreffen.378 Jugend wurde dabei widersprüchlich wahrgenommen als 375 Ebd.: S. 334 [Hervorhebungen im Original]. Die hier genannte Arbeit ist Hildegard Hetzer und Lucia Vecerka: Der Einfluß der negativen Phase auf soziales Verhalten und literarische Produktion pubertierender Mädchen. Beobachtungen an Proletariermädchen (Quellen und Studien zur Jugendkunde, Bd. 4), Jena 1926. 376 Zur zeitgenössischen Diskussion dieser zwei Auslegungsweisen des auto/biografischen Schreibens siehe Argelander und Weitsch: Aus dem Seelenleben verwahrloster Mädchen, 1933, S. 1. 377 Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 165. 378 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 16. Peter Dudek stellt hier einen grundlegenden Unterschied zu den Studien aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fest. Nun wurde davon ausgegangen, »daß Jugend mehr meint als eine über Altersspannen definierte Lebensphase, die sich über einen Indikator begrifflich fassen läßt«. Anders ausgedrückt und mit Helmut Fend gesprochen: »›Die‹ Jugend gibt es nicht«. Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, 2000, S. 179.

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»›dramatische‹ Lebensphase« einerseits,379 der andererseits ein »positive[r] Stellenwert im Aufbauplan des menschlichen Werdens« zugesprochen worden ist.380 Die Parameter dieser beiden Pole waren bereits von G. Stanley Hall 1904 vorformuliert worden (→ Abschnitt 2.1). Die Arbeiten von Charlotte Bühler (19211) und Eduard Spranger (19241) entstanden genau in diesem Fahrwasser – und beide verfolgten die Absicht, eine aus psychologischer Sicht verallgemeinerbare Darstellung ›des Jugendalters‹ zu liefern. Spranger erklärte das folgendermaßen: »Die seelischen Strukturunterschiede zwischen proletarischer und sogenannter bürgerlicher Jugend im heutigen Deutschland sind nicht groß; sie sind bestimmt nicht so groß, wie etwa die zwischen städtischer und ländlicher Jugend. Wenn wir trotzdem überwiegend von den gebildeten Kreisen ausgehen, so geschieht das deshalb, weil seelische Züge, die der gesamten städtischen Jugend gemeinsam sind, in ihnen deutlicher sichtbar auftreten; vor allem deshalb, weil der von ihnen kommende Verlauf der seelischen Pubertät hier weniger stark durch Umgebungseinflüsse unterdrückt oder abgelenkt wird.«381 Spranger sprach hier also die von ihm vorgenommene Verallgemeinerung klar an. Die Annahme, bei Angehörigen der städtischen, gebildeten, bürgerlichen Jugend würden altersbedingte Merkmale »deutlich sichtbarer auftreten« als bei allen anderen, da sie nicht so sehr durch äußere Einwirkungen abgelenkt werden würden, war sein Grundverständnis – und gleichzeitig eine Festschreibung. Insbesondere der jugendpsychologischen Tagebuchforschung wird nachgesagt, in ihren Fragestellungen und Ergebnissen sozial klar situiert gewesen zu sein – da auch ihre Quellen es waren. Lässt sich diese Einschätzung anhand der Tagebuchsammlungen von Charlotte Bühler und ihrer Forschungsgruppe bestätigen? Wessen Aufzeichnungen wurden hier eigentlich gesammelt und analysiert? Die Wiener Sammlung bietet sich für eine solche Auswertung an, da sie vergleichsweise gut dokumentiert ist und sich aus den vorhandenen Informationen auch einige quantitative Aussagen ableiten lassen. Zum Bestand des Archivs für Jugendkultur von Siegfried Bernfeld sind hingegen keine systematischen Informationen enthalten, es finden sich nur vereinzelte Angaben darüber verstreut in seinen Publikationen. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass diese Unternehmung bereits von vornherein sozial segregiert war. Sie wurde von intellektuell tätigen jungen Erwachsenen für andere intellektuell tätige junge Erwachsene eingerichtet (→ Abschnitt 2.2). Die dabei zusammengetragenen Selbstzeugnisse oder Maturazeitungen dürften hauptsächlich aus dem eigenen sozialen Umfeld der jugendbewegten Student/innen angeliefert worden sein und 379 Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, 2000, S. 41. 380 Ebd.: S. 38. 381 Spranger: Psychologie des Jugendalters, 193517, S. 28f.

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Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

werden somit vermutlich auch vorrangig dieses dokumentiert haben. Wie verhielt es sich diesbezüglich in der Sammlung von Charlotte Bühler?

Die soziale Breite der Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler und ihrer Forschungsgruppe Eine umfangreiche Aufstellung der Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler und ihrem Forschungsteam wurde 1934 in Form einer Tabelle veröffentlicht. Diese war zwar lückenhaft (→ Abschnitt 2.4), kann aber dennoch einen Eindruck über die Zusammensetzung des Bestandes geben. Die Aufstellung wird hier in einer modifizierten Form wiedergegeben. Das ursprüngliche Inventar beinhaltet neben Angaben zur Schreibdauer, zu den Geburtsjahren und den Herkunftsstaaten der Schreiber/innen auch Angaben zu den Berufen ihrer Väter sowie ihren eigenen (letztbekannten) Tätigkeiten. (Angaben zu den Tätigkeiten der Mütter sind nicht enthalten.) Aus der Liste der Berufe der Väter lässt sich die Zusammensetzung der sozialen Hintergründe der Familien der Tagebuchschreiber/innen (grob) skizzieren. Zwar war das hier dokumentierte Spektrum insgesamt sehr breit. Es umspannte »Fabrikanten«, »Pfarrer« und »Friseure« ebenso wie einen »Tagelöhner«.382 Außerdem kann etwa die besonders häufig gemachte Angabe »Kaufmann« sehr unterschiedliche finanzielle Hintergründe bedeutet haben. Die überwiegende Mehrheit der Schreiber/innen kann aber als bildungsbürgerliche »Mittelschichtsjugend«383 eingeordnet werden. Bei den (letztbekannten bzw. späteren) Berufen der Schreiber/innen ergibt sich ein ziemlich ähnliches Bild wie bereits bei ihren Vätern:

382 Der 1906 geborene Schreiber, dessen Vater als »Tagelöhner« ausgewiesen ist, kam aus Deutschland. Sein derzeitiger Beruf ist mit »stud. jur« angegeben, Student der Rechtswissenschaften. Er könnte demnach vielleicht ein Stipendiat gewesen sein. Sehr viel häufiger ist jedoch der Verbleib innerhalb bestimmter sozialer Zusammenhänge dokumentiert. Ein 1897 geborenen Schreiber aus Österreich wird wie sein Vater als »Fabrikant« ausgewiesen, der Vater einer 1898 in Deutschland geborenen »Gärtnerin« war seinerseits bereits Gärtner. 383 Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 174–177.

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Soziale Schicht als Analyseperspektive in der Jugendpsychologie

Tabelle 4: Berufe der Väter der Tagebuchschreiber/innen der Sammlung von Charlotte Bühler bis 1934 Väter der Schreiberinnen384 Kaufmann

11

Väter der Schreiber Beamter *3)

7

Beamter * Lehrberuf *2)

7 6

Kaufmann Arzt

6 2

Offizier Arzt

3 3

Handwerker Landwirt

2 2

Ingenieur Fabrikant

3 2

Werkmeister *4) Offizier

2 2

Pfarrer Schriftsteller

2 2

Theologe Bildhauer

1 1

Architekt Gutsbesitzer

1 1

Gelehrter Fabrikant

1 1

Missionar Künstler

1 1

Ingenieur Inspektor

1 1

Gärtner Redakteur

1 1

Anwalt Hochschulprofessor

1 1

Anwalt Inspektor Schlosser Bankier

1 1 1 1

Journalist Tagelöhner Friseur o. A.

1 1 1 8

o. A.

10 59

1)

1)

42 2)

* zusammen 6 Beamte und 1 höherer Beamter; * Lehrberuf: 4 Direktoren, 2 Lehrer; *3) zusammen 4 Beamte, 2 Postbeamte, 1 höherer Beamter; *4) zusammen 1 Werk- und 1 Maschinenmeister.

Bei den bekannten späteren Berufen der Schreiber/innen (→ nächste Seite) ist bei den Mädchen und bei den Burschen gleichermaßen der Lehrer/innenberuf am häufigsten vertreten, gefolgt von Student/in. Bei den Mädchen kam knapp danach »Hausfrau« an der dritten Stelle. Des Weiteren wurden sowohl Ärztinnen als auch Techniker, ein Arbeiter oder ein Dienstmädchen genannt. Zusammengenommen kamen Vertreter/innen aus bildungsferneren Schichten aber nur vereinzelt vor. Demnach ist also wieder zu fragen: Haben bürgerlich situierte Jugendliche auch in einem eklatant höheren Ausmaß geschrieben? Oder waren sie in dieser Sammlung einfach viel stärker vertreten?

384 Berufe mit gleich vielen Nennungen werden hier gereiht nach der chronologischen Nennung im Inventar.

196

Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

Tabelle 5: (Spätere) Eigene Berufe der Tagebuchschreiber/innen der Sammlung von Charlotte Bühler bis 1934 Eigener Beruf der Schreiberinnen385 Lehrberuf *1) 14

Eigener Beruf der Schreiber Lehrberuf *3)

12

Studentin Hausfrau

9 8

Student Technik *4)

11 3

Pflegeberufe *2) Fürsorgerin

5 3

Bankwesen *5) Gymnasiast

2 2

Ärztin »Keiner«

2 2

Gelehrter Beamter *6)

2 2

Gesellschafterin Buchhändlerin

1 1

Theologe Buchhändler

1 1

Angestellte Schriftstellerin

1 1

Arzt Fabrikant

1 1

Bibliothekarin Chemikerin

1 1

Arbeiter Kaufmann

1 1

Gärtnerin »Akademikerin«

1 1

Lehrling k. A.

1 1

Kontoristin Juristin

1 1

Beamtin Verkäuferin

1 1

Korrespondentin Kindermädchen

1 1

Lehrling Dienstmädchen

1 1

59 42 * Lehrberuf: 6 Lehrerinnen, 5 höhere Lehrerinnen, 2 Handelslehrerin, 1 Erzieherin; *2) Pflegeberufe: 3 Krankenpflegerinnen, 2 Krankenschwestern; *3) Lehrberuf: 10 Lehrer, 2 höhere Lehrer; *4) Technik: 2 Ingenieure, 1 Techniker; *5) Bankwesen: 1 Bankangestellter, 1 Bankbeamter; *6) zusammen 1 Beamter und 1 höherer Beamter. 1)

Die Frage, welche auto/biografischen Praktiken in welchem sozialen Milieu wie stark ausgeübt worden sein könnten, gilt in der historischen Beschäftigung mit Selbstzeugnissen als noch nicht geklärt (→ Abschnitt 3.5). Meiner Auslegung nach lässt sie sich auch am Beispiel der Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler nicht beantworten. Anhand von diesem Bestand kann nichts Abschließendes über die möglicherweise schichtspezifische Verbreitung des auto/biografischen 385 Berufe mit gleich vielen Nennungen werden hier gereiht nach der chronologischen Nennung im Inventar.

Soziale Schicht als Analyseperspektive in der Jugendpsychologie

197

Schreibens ausgesagt werden. Vielmehr zeigt dieses Beispiel klar und deutlich, wie die Personengruppe zusammengesetzt war, die in der Zwischenkriegszeit ihre Selbstzeugnisse der psychologischen Forschung zur Verfügung gestellt hat. Der Schluss liegt nahe, dass die Schreiber/innen aus jenem Personenkreis kamen, der solche Arbeiten auch selbst rezipiert hat. In der Zusammensetzung der Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler zeigt sich also, welchen sozialen Schichten jene Personen angehörten, die Konsument/innen oder Akteur/innen des zeitgenössischen psychologischen Diskurses waren. Sie haben sich hier selbst dokumentiert.

Die geografische Breite der Tagebuchsammlung Systematische Angaben zu den Abläufen der Übergaben der einzelnen Selbstzeugnisse an die Sammlung hat Charlotte Bühler nicht publiziert. Es gibt keine Erzählung über eine gezielte Gründung der Sammlung – und sie hatte auch keinen eigenen Namen. Der Bestand wurde im Rahmen der Forschungsarbeiten von Charlotte Bühler Anfang der 1920er-Jahre gewissermaßen ›nebenbei‹ aufgebaut.386 Dabei hat Bühler das Wachsen des Bestandes durchaus gezielt gefördert, indem sie etwa gleich in der ersten und der zweiten Auflage von »Das Seelenleben des Jugendlichen« explizit zur Übergabe oder Vermittlung weiterer Quellen aufrief.387 Im Vergleich zu den Aufrufen von Siegfried Bernfeld von 1913 und 1914 (→ Abschnitt 2.2), die in ein ganzes Programm für die Gründung seiner geplanten Sammlung eingebettet waren, waren die Ausführungen von Charlotte Bühler zu ihrem Sammlungsvorhaben sehr knapp gehalten. Sie beschränken sich auf die Feststellung: »Es wäre nun allerdings sehr zu wünschen, daß diese Quellenkenntnis beträchtlich umfassender würde und jedem Leser, der von sich oder Bekannten ein Tagebuch anonym zur Verfügung stellen könnte, wäre die Wissenschaft zu größtem Danke verpflichtet.«388 Genaugenommen brauchte sie auch keine eigene Skizze ihres Forschungsprogramms vorzulegen: Die Studie »Das Seelenleben des Jugendlichen« war das Forschungsprogramm, und die Leser/innen waren die Aufgerufenen. »M 4 Irmgard Winter«,389 die Verfasserin

386 Ähnliche auf je ein konkretes Forschungsprojekt bezogene Entstehungsgeschichten finden sich auch in den historisch ausgerichteten Sammlungen für Selbstzeugnisse wieder, die seit den 1980er-Jahren entstanden sind (→ Abschnitte 3.2 und 3.3). 387 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 1923², S. VI, VIII. 388 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19211, S. VI. 389 »M« steht im Verzeichnis sowie in allen Publikationen für Mädchen, »K« für Knabe. Die Ziffern dürften fortlaufende Nummern gewesen sein, die Namen Pseudonyme.

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Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

jenes Tagebuches, das Charlotte Bühler 1922 als erstes veröffentlicht hatte,390 soll dieses entsprechend auch direkt nach der Lektüre von »Das Seelenleben des Jugendlichen« übergeben haben. Wie sich wiederum aus dem 1934 veröffentlichen Inventar ersehen lässt, waren die Rückmeldungen und Quellenübergaben durchaus international. Das gibt nicht zuletzt einen Hinweis auf den Rezeptionsradius der Studie. Die Verteilung der Schreiber/innen auf verschiedene Herkunftsländer war die folgende: Tabelle 6: Herkunftsländer der Tagebuchschreiber/innen in der Sammlung von Charlotte Bühler bis 1934 Herkunft der Schreiberinnen Deutschland 34 Österreich 15

Herkunft der Schreiber 58 % Deutschland 28 25 % Österreich 11

USA Schweden

5 2

8 % »CSR« 3%

Schweiz »CSR«

1 1

2% 2%

Ungarn

1 59

2%

3

67 % 26 % 7%

42

Grafisch umgesetzt ergeben diese Zahlen die folgenden Diagramme: Tortendiagramme 1 und 2: Herkunftsländer der Tagebuchschreiber/innen in der Sammlung von Charlotte Bühler bis 1934 Herkunft der Schreiberinnen

Herkunft der Schreiber

390 Bühler: Tagebuch eines jungen Mädchens, 1922.

Soziale Schicht als Analyseperspektive in der Jugendpsychologie

199

Die deutliche Mehrheit der Tagebücher kam also aus Deutschland. Die hier zugeordneten 34 Schreiberinnen und 28 Schreiber machten zusammen 61 Prozent aller in der Sammlung dokumentierten Diarist/innen aus. Österreichische Einsendungen beliefen sich zusammengenommen auf knapp 26 Prozent. Die anderen fünf dokumentierten Staaten kamen zusammen auf gut 12 Prozent. Aus vereinzelten Hinweisen geht weiters hervor, dass Charlotte Bühler auch im Rahmen von Vorträgen oder Lehrveranstaltungen Quellen lukrieren konnte. So bemerkte sie etwa zu den Büchern aus den USA: »Es wurden dort auch innerhalb weniger Wochen sieben Tagebücher zur Verfügung gestellt.«391 Bühler hatte Forschungs- und Vortragsaufenthalte in Nordamerika absolviert, auf die sie sich mit dieser Angabe wahrscheinlich bezogen hat (→ Abschnitt 2.4). Die in der Tabelle gelisteten fünf (nicht sieben) US-amerikanischen Schreiberinnen sind allesamt als Studentinnen ausgewiesen. Übergaben könnten des Weiteren durch persönliche Kontakte des Forschungsteams innerhalb der universitären und pädagogischen Lehre oder vielleicht auch in der Lehrer/innenfortbildung zustande gekommen sein.

Die zeitliche Breite der Tagebuchsammlung An dieser Stelle ist wichtig darauf hinzuweisen, dass der Großteil der Tagebuchquellen von Personen übergeben worden ist, die selbst keine Jugendlichen mehr waren. Zumindest haben sie ihre Tagebücher nicht abgegeben, während sie diese noch führten, wie sich am Beispiel der als »M 4 Irmgard Winter« verzeichneten Diaristin nacherzählen lässt: Sie war 1898 geboren worden. Als Anlass der Übergabe ihrer Aufzeichnungen wird ihre Lektüre von Charlotte Bühlers Buch aus 1921 angegeben. Irmgard Winter war jetzt 23 Jahre alt. Ihre Tagebuchaufzeichnungen hatte sie bereits mit »16;7 Jahren« beendet, also gut sechs Jahre vorher.392 Der zumeist längere Zeitraum zwischen dem Schreiben und dem 391 Bühler: Kindheit und Jugend, 1931, S. 331. 392 Diese Form der Altersangabe (»16;7«) war in der zeitgenössischen Forschungsliteratur gängig. In dem Fall bedeutete diese Schreibweise 16 Jahre und 7 Monate. Auf der Grundlage der vorhandenen Daten ist eine genaue Auswertung der Differenz zwischen dem Schreiben und dem Übergeben der Tagebücher nicht für alle Bestände möglich. Es sind hier keine Angaben dazu enthalten, wann die Dokumente in der Sammlung eingegangen sind. Da die Zahlen, die Bühler zu der Entwicklung der Bestände angegeben hat, insgesamt als eher elastisch eingestuft werden müssen (→ Abschnitt 2.4), kann der Zuwachs nur bedingt mittels der aufsteigenden Signaturen berechnet werden. Vage Ergebnisse könnten entsprechend lauten: Der kleinste Zeitunterschied zwischen dem Schreiben und Übergeben ist für den insgesamt jüngsten Diaristen K 98 Ferdinand Mann festzustellen. Er war 1915 geboren worden und führte sein Tagebuch bis zum 17. Lebensjahr (1932), zwei Jahre vor dem Erscheinen der Liste. Das Tagebuch mit der insgesamt höchsten Signatur kam von M 108

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Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

Übergeben der Tagebücher lässt sich insgesamt aus den Geburtsjahren der Schreiber/innen ableiten, die im Inventar von 1934 angegeben sind. Diese waren folgendermaßen verteilt: Tabelle 7: Geburtsjahre der Tagebuchschreiber/innen in der Sammlung von Charlotte Bühler bis 1934 Geburtsjahre der Schreiberinnen 1837–1857 2 1870er-Jahre 3

Geburtsjahre der Schreiber 3 % 1830–1855 2 5 % 1870er-Jahre 1

5% 2%

1880er-Jahre 1890er-Jahre

4 22

7 % 1880er-Jahre 37 % 1890er-Jahre

2 13

5% 31 %

1900er-Jahre 1910–1913

24 4

41 % 1900er-Jahre 7 % 1910–1915

18 6

43 % 14 %

59

42

Den größten Anteil machten mit 24 Mädchen und 18 Burschen die zwischen 1900 und 1909 Geborenen aus (zusammen 42 Prozent). 22 Mädchen und 13 Burschen waren zwischen 1890 und 1899 geboren worden (zusammen 35 Prozent). Aus den Jahrzehnten seit 1830 waren zusammengenommen neun Schreiberinnen und fünf Schreiber dokumentiert (zusammen 14 Prozent). Nur vier der 59 dokumentierten Mädchen und sechs der 42 Burschen hatten Geburtsjahrgänge ab 1910 (zusammen 10 Prozent). Die stark vertretenen Geburtsjahrgänge zwischen 1890 und 1909 waren 1934 zwischen 25 und 44 Jahren alt. Sie könnten daher mittlerweile selbst jene Eltern gewesen sein, die Charlotte Bühler 1922 mit dem launigen Hinweis adressiert hatte, die meisten von ihnen »glauben im entscheidenden Augenblick, daß so verrückt und überspannt wie ihr eigenes Kind kein anderes sein könne« (→ Abschnitt 2.5).393 Grafisch umgesetzt ergeben diese Zahlen die folgenden Diagramme:

Georgina Brantley. Sie war 1909 geboren worden und führte es ebenfalls bis zum 17. Lebensjahr (1926), acht Jahre vor dem Erscheinen der Liste. 393 Bühler: Tagebuch eines jungen Mädchens, 1922, S. IV.

Soziale Schicht als Analyseperspektive in der Jugendpsychologie

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Tortendiagramme 3 und 4: Geburtsjahre der Tagebuchschreiber/innen in der Sammlung von Charlotte Bühler bis 1934 Geburtsjahre der Schreiberinnen nach Häufigkeit

Geburtsjahre der Schreiber nach Häufigkeit

Motive zur Übergabe persönlicher Aufzeichnungen an die Tagebuchsammlung Fritz Giese hatte 1914 die hauptsächliche Schwierigkeit der Umsetzung einer – von ihm als »besonders erkenntnisreich« eingestuften – jugendpsychologischen Tagebuchforschung in den fehlenden Möglichkeiten gesehen, dass dazu auch »genügend Material einläuft«394 (→ Abschnitt 2.6). Wie die zwei schließlich umfangreichen Sammlungen von Bühler und Bernfeld zeigen, sollte Fritz Giese in diesem Punkt nicht Recht behalten. Die Motivationen der einzelnen Übergeber/innen, ihre Aufzeichnungen der Forschung zu überlassen, sind dabei nicht dokumentiert. Die einzige Ausnahme ist die schon vorgestellte »M 4 Irmgard Winter«. Wie schon gesagt, dürften sie aber jeweils einen bestimmten Anknüpfungspunkt zur jugendpsychologischen Forschung gehabt haben. Vielleicht hatten sie eine Vorlesung von Charlotte Bühler gehört, oder – noch wahrscheinlicher – sie hatten ihr Buch gelesen. Und sie wollten sich offenbar aktiv in dieses Themengebiet einbringen. Der Schritt in diese Form der Öffentlichkeit kann weiters durch die verschiedenen Schreibaufrufe in Zeitungen oder durch die von den Jugendbewegungen geförderte Selbstdokumentation motiviert worden sein. Auch die schon seit längerem bekannte Praxis, wissenschaftsgeleitete Elterntagebücher anzufertigen und abzugeben (→ Kapitel 1), kann das befördert haben. Allen Schreiber/innen (bzw. jenen Personen, die die Aufzeichnungen besaßen) war jedenfalls das Selbstverständnis gemeinsam, etwas beitragen zu können. 394 Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, Bd. 1, 1914, S. 37f.

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Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

Diese Grundeinstellung ist die Voraussetzung für jede Übergabe von persönlichen Aufzeichnungen an eine Forschungseinrichtung. Dabei unterscheiden sich die elterntagebuchschreibenden Gelehrten des 19. Jahrhunderts nicht von jenen Frauen, die 1928 auf den Schreibaufruf des Deutschen Textilarbeiter-Verbands (DTAV) geantwortet haben (→ Abschnitt 2.2). Insbesondere trifft es auf jene Menschen zu, die sich seit den 1980er-Jahren an den Schreibaufrufen von historisch ausgerichteten Sammlungen beteiligten (→ Abschnitte 3.3 und 3.6). Ich schlage entsprechend vor, diese Schreiber/innen mit dem aktuell verwendeten Begriff »Citizen Scientists« zu bezeichnen (→ Abschnitt 3.4). In gewisser Weise können aber auch die jugendpsychologisch interessierten Studierenden, die in den 1920er-Jahren Charlotte Bühler ihre Tagebücher ausgehändigt haben, hier dazu gezählt werden. Sie haben zwar nicht ›im Auftrag‹ geschrieben, aber mit ihrer aktiv getroffenen Entscheidung, etwas – und was genau – zu übergeben, dezidiert die Zusammensetzung der Quellenbestände beeinflusst, die der selbstzeugnisbasierten Forschung zur Verfügung standen. Damit kann wiederum eine Brücke zu den Personen geschlagen werden, die noch aktuell unterschiedliche auto/biografische Aufzeichnungen an historische Archive übergeben. Bei jenen, die dazu für verschiedene Selbstzeugnisse auch verschiedene Sammlungseinrichtungen auswählen, wird die aktive Rolle augenscheinlich (→ Abschnitt 3.4). Die Wahlmöglichkeiten zwischen Archiven waren für die Psychologieinteressierten in den 1920er-Jahren noch sehr eingeschränkt. Gleichzeitig hat es sich bei den von ihnen übergebenen Selbstzeugnissen auch in der Zwischenkriegszeit bereits vielfach um historische Quellen gehandelt.

Historische Dimensionen in »Drei Generationen im Jugendtagebuch« (1934) und zwei Nachfolgestudien (1964 und 1989) Wie ein genauer Blick in das Inventar der Wiener Tagebuchsammlung gezeigt hat, waren hier durchaus nicht nur zeitgenössische Quellen enthalten – auch wenn das ein psychologisch ausgerichteter Bestand vielleicht vermuten ließ. Entsprechend ist hier auch ein (bedingter) Vergleich mit den historischen Sammlungen aus dem späten 20. Jahrhundert angebracht. Dazu kann in Erinnerung gerufen werden, dass die psychologische Forschung der Zwischenkriegszeit keine methodische Scheu davor hatte, historische Quellen heranzuziehen. Für die verallgemeinernden Theorien waren auch auf das Material bezogene Zeitreisen opportun. Charlotte Bühler hat in der Studie »Das Seelenleben des Jugendlichen« (19211) als Quellen u. a. (veröffentlichte) Selbstzeugnisse bzw. Zitate aus der Literatur des 19. Jahrhunderts verwendet. Gleiches hatte dann Eduard Spranger in »Psychologie des Jugendalters« (19241) unternommen. Diese beiden psychologischen Studien bezogen sich also nicht nur auf die Gegenwart,

Soziale Schicht als Analyseperspektive in der Jugendpsychologie

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in der sie verfasst worden sind (→ Abschnitt 2.3). Mit der von Siegfried Bernfeld 1928 und 1931 formulierten Forderung nach einer Historisierung des Genres Tagebuch (→ Abschnitt 2.6) hatten diese Darstellungen allerdings nichts zu tun, sie waren vielmehr ganz eigentümlich ahistorisch gehalten. In der Studie »Drei Generationen im Jugendtagebuch« (1934) unternahm Bühler allerdings den Versuch einer historischen Typisierung des Phänomens Jugend. Aufbauend auf dem zeitlich breit gestreuten Tagebuchmaterial der Wiener Sammlung klassifizierte sie dabei drei Typen von Geburtsjahrgängen. Diese waren in die Zeitspannen 1880–1890, 1890–1905 und 1906–1916 eingeteilt – und wurden mit verschiedenen Zuschreibungen versehen.395 Der umfangreichen wissenschaftlichen Abhandlung waren die Editionen von Tagebuchauszügen von vier Mädchen angehängt, die 1873, 1902 und 1910 geboren worden waren – und die Bühler als jeweils zeittypisch eingestufte.396 Diese Arbeit, die aus historischer Sicht spannende Anknüpfungspunkte bietet, wurde nur einmal aufgelegt. 1964 und 1989 erschienen allerdings zwei Studien, die von ihren jeweiligen Autorinnen als direkte Nachfolgearbeiten dieser Publikation definiert wurden: Die Psychologin Waltraud Küppers analysierte in »Mädchentagebücher der Nachkriegszeit« (1964) 17 Quellen mit Einträgen von 1945 bis 1963, sieben Tagebücher sind darin auch in Auszügen editiert.397 In Rekurs auf die Arbeiten von Charlotte Bühler und Waltraud Küppers führte Marianne Soff in »Jugend im Tagebuch« (1989) das Modell des Generationenvergleichs fort. Als Quellenbasis zog sie neben einer selbst aufgebauten Sammlung von 44 Tagebüchern von Mädchen und Burschen mit Einträgen von 1958 bis 1984 auch je sieben Bücher aus den Editionen von Charlotte Bühler sowie von Waltraud Küppers heran.398 Diese zwei Arbeiten belegen nicht zuletzt die zeitliche Spanne der Rezeption von Charlotte Bühlers jugendpsychologischer Forschung. Eine ähnliche Herangehensweise wählte (nicht im direkten Zusammenhang) auch der Literaturwissenschafter Philippe Lejeune in »The ›Journal de Jeune Fille‹ in Nineteenth-Century France« (1996), hier wiederum bezogen auf Mädchen und nun auf Frankreich.399

395 Bühler: Drei Generationen im Jugendtagebuch, 1934, S. 2–5, S. 9. Dazu weiterführend Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 177f. Wie Gerhard Benetka hier feststellte, galten die von Charlotte Bühler bisher als ›typisch‹ dargestellten »Pubertätsmerkmale« nur für die »Generation« der von 1890 bis 1905 Geborenen. 396 Bühler: Drei Generationen im Jugendtagebuch, 1934, S. 2–5, S. 9. 397 Waltraut Küppers: Mädchentagebücher der Nachkriegszeit. Ein kritischer Beitrag zum sogenannten Wandel der Jugend, Stuttgart 1964. 398 Soff: Jugend im Tagebuch, 1989. 399 Philippe Lejeune: The »Journal de Jeune Fille« in Nineteenth-Century France, in: Suzanne L. Bunkers und Cynthia A. Huff (Hg.): Inscribing the Daily. Critical Essays on Women’s Diaries, Amherst 1996, S. 107–122.

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Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

Schichtspezifiken der jugendpsychologischen Forschung Was aber war mit Schreiber/innen aus bildungsferneren Zusammenhängen? Standen von ihnen tatsächlich keine Selbstzeugnisse zur Verfügung? Diese Frage beschäftigte schon die zeitgenössische Wissenschaft der 1920er- und 1930erJahre. Nach Peter Dudeks Darstellung wurde dabei zumeist die Meinung vertreten, es gäbe keine oder kaum solche Quellen von bildungsferner aufgewachsenen Jugendlichen, »›da deren personales Milieu zu Hause, auf der Arbeitsstätte, auf der Straße‹ […] weder Möglichkeiten noch Bedürfnisse zum Führung eines Tagebuches erlaubten«.400 Nach dieser Einschätzung hatten sie also weder Interesse, vor allem aber noch die Gelegenheit, sich schriftlich auszudrücken. Gibt es auch Argumente, die gegen diese Annahme sprechen? Im Laufe dieser Studie wurden schon einzelne Tagebuchquellen genannt, die aus proletarischen Zusammenhängen stammten. Im Rahmen der Erhebung »Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit«401 stand das Tagebuch eines Textilarbeiters zur Verfügung (→ Abschnitt 2.3 und 3.5). Auch von Jugendlichen lagen der Forschung einzelne Aufzeichnungen vor. Fragmente einer solchen Quelle wurden etwa von der Soziologin Lisbeth Franzen-Hellersberg (1893–1970) 1932 ediert.402 Nach Ansicht der Jugendpsychologin und späteren NS-Anhängerin403 Mathilde Kelchner waren »die wenigen [proletarischen] Tagebuchschreiber« aber »als Ausnahmen« zu betrachten.404 Der Sozialforscher Curt Bondy (1894–1972) hatte bereits 1922 die Einschätzung abgegeben, bei Tagebuchschreiber/innen aus dem Arbeiter/innen400 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 199. Entsprechende Einschätzungen finden sich bei Lisbeth Franzen-Hellersberg: Die jugendliche Arbeiterin. Ihre Arbeitsweise und Lebensform. Versuch sozialpsychologischer Forschung zum Zweck der Umwertung proletarischer Tatbestände, Tübingen 1932; Ernst Lau: Über Methoden und Ergebnisse der Jugendkunde, in: Richard Thurnwald (Hg.): Die neue Jugend, Leipzig 1927, S. 301–320; Hermann Wagener: Der jugendliche Industriearbeiter und die Industriefamilie, Münster 1931. Die Feststellungen, proletarische Jugendliche würden keine Selbstzeugnisse produzieren, waren in diesen Studien jedenfalls empathisch gemeint. Sie sollten die Konzentration der hegemonialen Jugendforschung auf bürgerliche Schichten aufzeigen. Meiner Interpretation nach haben solche Behauptungen aber (unabsichtlich) auch ein Stück weit zur ›Neglektionsspirale‹ der Annahme einer bestimmten sozialen Rahmung des auto/biografischen Schreibens beigetragen (→ Abschnitt 3.5). 401 Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal, 19331. 402 Franzen-Hellersberg: Die jugendliche Arbeiterin, 1932; dies.: Die jüdische Arbeiterin: Ihre Arbeitsweise und Lebensform, Dissertation, Heidelberg 1933. Dazu Klemens Wittebur: Die deutsche Soziologie im Exil 1933–1945. Eine biographische Kartographie, Münster 1991, S. 123f. 403 Weyrather: Die Frau am Fließband, 2003, S. 129. 404 Mathilde Kelchner: Kummer und Trost jugendlicher Arbeiterinnen. Eine sozialpsychologische Untersuchung an Aufsätzen von Schülerinnen der Berufsschule, Leipzig 1929, zitiert nach Argelander und Weitsch: Aus dem Seelenleben verwahrloster Mädchen, 1933, S. 111.

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milieu müsse es sich »um junge Proletarier handeln, die über dem Durchschnitt ihrer Schicht stehen.«405 Die Ansicht, dass es sich bei Aufzeichnungen von jungen Arbeiter/innen nicht um verallgemeinerbares Material handeln würde, interpretiere ich als einen der Gründe dafür, dass sie kaum ausgewertet wurden – obwohl es sie ja offensichtlich zu finden gab. Die frühe Jugendpsychologie strebte nach einer verallgemeinerbaren Darstellung ›des Jugendalters‹ und nicht nach Abbildungen von Ausnahmen (→ Abschnitt 2.3). Auch im Bestand der Sammlung von Charlotte Bühler und ihrer Forschungsgruppe waren Aufzeichnungen eines jugendlichen Arbeiters, eines Dienstmädchens und eines Kindermädchens enthalten. Diese wurden aber weder ediert noch gesondert ausgewertet. Nach Gerhard Benetkas Darstellung kamen Impulse für eine Analyseperspektive auf das Thema soziale Schicht im Wiener Forschungsverbund insbesondere von Paul F. Lazarsfeld.406 Charlotte Bühler legte u. a. in der Studie »Die Schwärmerei als Phase der Reifezeit« (1929) einen Fokus auf soziale Unterschiede, indem sie hier u. a. auch Untersuchungen miteinbezog, die ihre Assistentin Hildegard Hetzer in einem Hort »für Proletariermädchen« angestellt hatte.407 Neben der Methode der Beobachtung waren von Hetzer hier auch verschiedene auto/biografische Formate von Jugendlichen recherchiert worden: »In irgend einer Form zeitigte jede ein literarisches Produkt, einige schrieben heimlich Briefe an die Hortleiterin […], zwei schrieben heimlich ein Tagebuch, einige schrieben Geschichten.« Diese Texte von »Mädchen der ärmsten Schichten«408 wurden in Bühlers Studie nun gemeinsam mit Beständen aus ihrer eigenen Sammlung, Tagebüchern aus den Studien von Fritz Giese, Oskar Kupky und William Stern sowie den Aufzeichnungen von Marie Bashkirtseff und Otto Braun gelistet. In der Analyse wurden sie dann aber nicht weiter berücksichtigt. Auch gingen die von Hildegard Hetzer im Hort lukrierten Aufzeichnungen nicht in die Tagebuchsammlung am Psychologischen Institut ein. Sie wurden von der Forscherin im Kontext der Betreuungseinrichtung offenbar vorübergehend aufgegriffen.409 Ob die Schreiberinnen sie ihr freiwillig überlassen hatten, bleibt offen. 405 Curt Bondy: Die proletarische Jugendbewegung in Deutschland mit besonderer Berücksichtigung der Hamburger Verhältnisse. Ein methodischer und psychographischer Beitrag zur Jugendkunde, Dissertation, Lauenburg 1922, zitiert nach Argelander und Weitsch: Aus dem Seelenleben verwahrloster Mädchen, 1933, S. 111. 406 Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 175–178; Paul Lazarsfeld (Hg.): Jugend und Beruf. Kritik und Material, Jena 1931. 407 Bühler: Die Schwärmerei als Phase der Reifezeit, 1926, S. 1; Hildegard Hetzer und Lucia Vecerka: Der Einfluß der negativen Phase auf das soziale Verhalten pubertierender Mädchen. Beobachtungen an Proletariermädchen, Jena 1926. 408 Bühler: Die Schwärmerei als Phase der Reifezeit, 1926, S. 1. 409 In der Aufstellung der verwendeten Quellen werden sie als »MJ. (Hetzer)« und »MC. (Hetzer)« gelistet. Bühler: Die Schwärmerei als Phase der Reifezeit, 1926, S. 1, S. 6. Auch in

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»Aus dem Seelenleben verwahrloster Mädchen« von Annelies Argelander und Ilse Weitsch (1933) Zu der Frage, ob die Übergaben der von ihnen beforschten Quellen freiwillig gewesen waren, hielten sich auch Annelies Argelander (1896–1980) und Ilse Weitsch bedeckt. Sie hatten 1933 in der von Charlotte Bühler herausgegebenen Reihe »Quellen und Studien zur Jugendkunde« die Monografie »Aus dem Seelenleben verwahrloster Mädchen auf Grund ihrer Tagebuchaufzeichnungen« veröffentlicht, die auch die Editionen von sechs Tagebüchern enthält.410 Die Schreiberinnen mit Geburtsjahrgängen von 1906 bis 1908 waren zwischen 1924 und 1927 in einer anonymisierten staatlichen Fürsorgeeinrichtung in Deutschland untergebracht.411 Ilse Weitsch war dort zu der Zeit als Fürsorgerin tätig, Annelies Argelander war eine der deutschlandweit ersten im Fach Psychologie habilitierten Frauen.412 Von den diaristischen Aufzeichnungen der sechs jungen Heimbewohnerinnen wurden jeweils Textauszüge abgedruckt und anschließend einer »Auswertung« unterzogen. Als Einleitungen finden sich hier die Angaben »Elterliches Milieu«, »Lebenslauf bis zur Aufnahme in die Anstalt und Anstaltsleben« sowie »Persönlichkeitsbeschreibung nach den Anstaltsakten«.413

410 411

412

413

die Auswertung von »Das Seelenleben des Jugendlichen« waren einzelne unveröffentlichte Quellen eingeflossen, die nicht der Sammlung überlassen wurden. Dazu heißt es dann z. B.: »Ein ausgesprochen spätreifes Mädchen befindet sich leider nicht in unserer Tagebuchsammlung, ist mir dagegen aus dem Leben bekannt«. Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19676, S. 30. Argelander und Weitsch: Aus dem Seelenleben verwahrloster Mädchen, 1933. Zur zeitgenössischen Situation in Fürsorgeeinrichtungen siehe zuletzt u. a. Vera Blaser und Matthias Ruoss: »Gitter am Kopf und Loch im Herzen«. Lebenswelten ehemaliger Schüler und Schülerinnen der Taubstummenanstalt St. Gallen, 1930er bis 1950er Jahre, in: Anja Werner und Marion Schmidt (Hg.): Zwischen Fremdbestimmung und Autonomie. Neue Impulse zur Gehörlosengeschichte in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Bielefeld 2019, S. 83–119. Für Österreich Reinhard Sieder und Andrea Smioski: Gewalt gegen Kinder in Erziehungsheimen der Stadt Wien, Wien 2012, S. 19–31. Für Deutschland: Martin Lücke: Jugend, Geschlecht, Fürsorge: Lesarten für das Schreiben einer Geschichte der Jugend, in: Werkstatt Alltagsgeschichte (Hg.): Du Mörder meiner Jugend. Edition von Aufsätzen männlicher Fürsorgezöglinge aus der Weimarer Republik, Münster/u. a. 2011, S. 17–20. Zu auto/biografischen Aufzeichnungen aus Pflegezusammenhängen siehe Monika Ankele: Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900. Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn, Wien/Köln/Weimar 2009. Zu biografischen Angaben der zwei Frauen siehe Christoph Gallschütz: Argelander, Annelies, in: Uwe Wolfradt, Elfriede Billmann-Mahecha und Armin Stock (Hg.): Deutschsprachige Psychologinnen und Psychologen 1933–1945. Ein Personenlexikon, Wiesbaden 2014, S. 12f.; Annegret Braun: Frauenalltag und Emanzipation (1945–1968). Der Frauenfunk des Bayerischen Rundfunks in kulturwissenschaftlicher Perspektive, Münster/u. a. 2005, S. 46. Argelander und Weitsch: Aus dem Seelenleben verwahrloster Mädchen, 1933, S. 4ff., S. 46ff., S. 57ff., S. 69ff., S. 90ff., S. 90ff.

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Hieraus lassen sich die folgenden Angaben zu den Schreiberinnen und ihren Familienhintergründen ermitteln: Tabelle 8: Berufe der Väter und eigene Berufe der Tagebuchschreiber/innen in der Studie von Annelies Argelander und Ilse Weitsch (1933) Väter der Schreiberinnen (Fabriks-)Tischler

2

Eigener Beruf der Schreiberinnen Dienstmädchen

2

Pferdehändler Schmied

1 1

Dienstmagd Krawattennäherin

1 1

Steinarbeiter Kaufmann

1 1

Kontoristin Geschäftsmädchen, Arbeiterin und Dienstmädchen

1 1

In der Einleitung der Studie wird angedeutet, dass die Schreiberinnen den Forscherinnen ihre Tagebuchaufzeichnungen nicht freiwillig, oder zumindest nicht direkt zur Verfügung gestellt haben könnten: »Sie wurden teilweise von den Mädchen in ihren verschließbaren Schrankfächern im Tagesraum aufbewahrt, zu denen indessen die Erzieherinnen, wie den Mädchen bekannt war, ebenfalls Schlüssel besaßen. Gelegentlich wurde dieser Weg absichtlich benutzt, um den Erzieherinnen durch das Tagebuch die Meinung der Mädchen über Erziehungsmaßnahmen oder ähnliches zur Kenntnis zu bringen.«414 Demnach wurden die Einträge also auch als eine indirekte Kommunikationsmöglichkeit zwischen den Zöglingen und dem Personal genützt. Dass diese Praktik hier beschrieben wurde, kann ein Stück weit als Legitimation der Verwendung der auto/ biografischen Aufzeichnungen für die Forschung gedeutet werden. Eine aktive Zustimmung der Schreiberinnen wird jedenfalls nicht erwähnt. Der Hinweis, dass ihre Aufzeichnungen z. T. von den Erzieherinnen abgeschrieben worden waren, kann ebenfalls dagegensprechen. Ziemlich sicher nicht von Dritten eingesehen werden sollten aber wohl jene zwei der sechs Tagebücher, die von Annelies Argelander und Ilse Weitsch »in den Bettmatratzen gefunden« wurden.415 Die Beschaffung dieses Quellenmaterials erscheint aus heutiger Sicht als bedenklich – und der Aussagewert dieser Tagebücher bezieht sich nicht auf das Schreiben von Angehörigen einer bestimmen sozialen Schicht, sondern auf das Schreiben als Praxis in Fürsorgeeinrichtungen.416 Dazu lieferten die zwei Studienautorinnen eine aussagekräftige Be414 Ebd.: S. 2. 415 Ebd. 416 Eine vergleichbare Arbeit war etwa Gertrud Herrmann: Formen des Gemeinschaftslebens jugendlicher Mädchen. Sozialpsychologische Untersuchungen in einem Fürsorgeerziehungsheim (Hamburger Untersuchungen zur Jugend- und Sozialpsychologie, Bd. 2), Leipzig 1929.

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schreibung. Im Anschluss an die Frage: »Wie kommt es nun, daß diese sechs verwahrlosten Mädchen Tagebuch schreiben«, wird angegeben, dass die zitierten Diaristinnen unter den 120 in ihrem Heim untergebrachten Mädchen höchstwahrscheinlich »nicht die einzigen waren«, die ein Tagebuch geführt hätten. Das Schreiben sei dabei nicht von Erzieherinnen verordnet oder vorgeschlagen worden, vielmehr sei »anzunehmen, daß in der Anstalt eine gewisse Tradition bestand und daß die Mädchen untereinander sich zum Schreiben angeregt haben. Tagebuchschreiben war in Siebental nichts Seltenes und war nicht verboten, nur mußten die Mädchen damit rechnen, daß ihre Niederschriften kontrolliert wurden und daß es Strafe gab, wenn etwas ›Unanständiges‹ darin stand.«417 Diese Schilderung der Abläufe in diesem konkreten Heim lässt bereits erahnen, wie die Situation entstehen konnte, dass Forscherinnen versteckte Tagebücher aus Betten zogen oder aus Schließfächern holten. Was könnten aber Gründe dafür gewesen sein, dass junge (proletarische) Schreiberinnen Vorbehalte dagegen hatten, ihre Aufzeichnungen freiwillig (bürgerlichen) Forscher/ innen zu überlassen? Um die Überlegungen dazu plausibel zu machen, muss an dieser Stelle noch einmal näher auf einen Aspekt der allgemeinen Entstehung der Jugendforschung eingegangen werden.

Das »Krisenalter Jugend« als proletarisches Problem: Methoden, Quellen und ein einseitig diskutiertes Thema Bei der Publikation von Annelies Argelander und Ilse Weitsch fällt aus aktueller Perspektive zuallererst gleich der Begriff »verwahrloste Mädchen‹ ins Auge. »Verwahrlost« war ein zeitgenössischer Sammelbegriff, der im heutigen Sprachgebrauch vielleicht ›sozial auffällig‹ lauten würde.418 Wie Peter Dudek ausführte, wurde der Diskurs einer »Verwahrlosung« insbesondere in der frühen Jugendsoziologie bis in die 1920er-Jahre stark rezipiert. In diesem Zusammenhang wurde »›der Jugendliche‹ – zunächst in der Semantik der Juristen – mit den potentiell kriminellen und verwahrlosten jungen Menschen identifiziert.«419 Hier standen nun aber nicht alle Jugendlichen gleichermaßen im »devianztheoreti417 Argelander und Weitsch, Aus dem Seelenleben verwahrloster Mädchen, 1933, S. 112. 418 Eine frühe Studie war Wilhelmine Mohr: Das sittlich verwahrloste Mädchen, Berlin 1912. Eine umfangreiche Literatursammlung findet sich im Beitrag »Verwahrlosung« von Else Voigtländer in: Max Marcuse: Handwörterbuch der Sexualwissenschaft: Enzyklopädie der natur- und kulturwissenschaftlichen Sexualkunde des Menschen, (Berlin 19231) Berlin/New York 2001, S. 795–797. 419 Diese pointierte Aussage bezieht sich auf die Einschätzung zur Soziologie Ende des 19. Jahrhunderts von Lutz Roth: Die Erfindung des Jugendlichen, München 1983, zitiert nach Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 13f.

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schen Verdacht«.420 Dieser bezog sich vornehmlich auf die Jugend aus der Arbeiter/innenschicht – und hier vor allem auf die Burschen. Dieser Zugang war also schichtbezogen, zumeist zudem auch klar geschlechtsspezifisch zuordenbar.421 In der Forschungsliteratur wurde dargestellt, dass diese Wahrnehmung des ›verdächtigen Arbeiterjugendlichen‹ auch stark von den Massenmedien re/ produziert wurde, was verstärkt ab den 1890er-Jahren belegt ist.422 Ein Begriff, der in diesem Kontext etabliert wurde, war jener der »Halbstarken«.423 Eine Reaktion auf den Verwahrlosungsdiskurs waren Initiativen der Wohlfahrt, die hauptsächlich vom Staat oder den Kirchen getragen wurden und die ab 1900 zunehmend institutionalisiert und professionalisiert worden sind. Damit ging auch die Entwicklung der Sozialarbeit als ein eigenes Berufsfeld einher.424 Diese neuen Fürsorgeinstitutionen wurden direkt auf den Ergebnissen der pädagogischen und psychologischen Jugendforschung aufgebaut. Ihre Einrichtung fand im deutschsprachigen Raum zuerst aber jeweils dezentral statt. So wurden etwa die (von den Kommunen getragenen) sogenannten Jugendämter in Österreich-Ungarn nicht überall gleichzeitig eingeführt. Die ersten beiden Jugendämter eröffneten hier in den proletarisch geprägten Wiener Bezirken Ottakring (1913) und Rudolfsheim-Fünfhaus (1914). Ab 1917 wurden Jugendämter auf die ganze Stadt Wien ausgeweitet und auch ein zweijähriger »Fachkurs für Jugendfürsorge« eingeführt.425 Eine zentralisierte Jugendfürsorge wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen, einer der großen Schritte dabei war die

420 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 202. 421 Ausführlich dazu: Schmidt: Gefährliche und gefährdete Mädchen, 2002. Überblicke über sozialwissenschaftliche Forschungen zu ( jungen) Frauen aus proletarischen Zusammenhängen finden sich in Christina Benninghaus: Die anderen Jugendlichen: Arbeitermädchen in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main/New York 1999; Weyrather: Die Frau am Fließband, 2003. 422 Savage: Teenage, 2008, S. 48–64. 423 Der Historiker Sebastian Kurme hat die Geschichte des Begriffes der »Halbstarken« nachgezeichnet. Er war in Norddeutschland schon um 1900 verbreitet. Titelgebend verwendet wurde er von dem Geistlichen Clemens Schultz (1862–1914), der im Hamburger Stadtteil St. Pauli eine nach dem Vorbild der britischen Settlement-Bewegung gestaltete Jugendarbeit organisiert hat. Im ganzen deutschen Sprachraum setzte sich der Begriff dann ab den 1950er-Jahren durch, u. a. wurde er auch in Filmen re/produziert. Sebastian Kurme: Halbstarke. Jugendprotest in den 1950er Jahren in Deutschland und den USA, Frankfurt am Main/New York 2006, S. 178–180. 424 Gerhalter: Tagebücher als Quellen, 2017, S. 30–39. 425 Historische Überblicke zur Entwicklung in Österreich bieten (außerhalb der bereits zitierten Forschungsliteratur) u. a. Monika Steinböck: Die Geschichte der Wiener Jugendwohlfahrt, Wien 2012; Gudrun Wolfgruber: Ideale und Realitäten. Von der städtischen Jugendfürsorge zur Kinder- und Jugendhilfe, Wien 2017. Eine Studie für die Schweiz lieferte: Sabine Jenzer: Die »Dirne«, der Bürger und der Staat. Private Erziehungsheime für junge Frauen und die Anfänge des Sozialstaates in der Deutschschweiz, 1870er bis 1930er Jahre, Köln/Weimar/ Wien 2014. Für Deutschland u. a.: Schmidt: Gefährliche und gefährdete Mädchen, 2002, S. 13.

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1920 vom österreichischen Nationalrat beschlossene jugendspezifische Gerichtsbarkeit.426 Die historische Entwicklung der Jugendfürsorge und -gerichtsbarkeit muss hier nicht weiter ausgeführt werden. An ihrem Beispiel wird aber deutlich, dass die Ergebnisse der Jugendforscher/innen auch in pädagogische, medizinische oder fürsorgerische »Verwendungszwänge« eingebunden waren.427 Wie Peter Dudek oder die Sozialwissenschafterin Heike Schmidt ausführlich dargestellt haben, standen dabei insbesondere die sozial schwächeren Schichten im Fokus: »Die ersten Instrumente staatlicher Jugendpolitik waren die Zwangs- und Fürsorgeerziehung. Staat, Kirchen und bürgerliche Sozialreform übertrugen mit der Ersatzerziehung ihre bürgerlichen Ansprüche an Familie und rationale Lebensführung auf unterbürgerliche Schichten.«428 Neben der Bekämpfung von Armut oder Kriminalität ging es also nicht zuletzt um soziale Kontrolle. Die Rolle, die der Organisierung bzw. Politisierung der Jugendlichen von Seiten der zeitgenössischen Forscher/innen zugesprochen wurde, war unterschiedlich (→ Abschnitt 2.1). Eduard Spranger schätzte sie jedenfalls nicht gering ein, er sah politisches Engagement auch physisch disponiert: Die »Spannung zwischen leiblicher Kraft und gesellschaftlicher Ohnmacht ist für die seelische Struktur des Jugendlichen von fundamentalter Bedeutung. […] Die Jugendlichen der unteren Schichten, bei denen diese natürliche Seelenlage durch den gesellschaftlichen Druck auf ihre ganze Klasse verstärkt wird, bedeuten aber für alle Gesellschaften und Zeiten einen typischen Herd revolutionärer Tendenzen. Man wird bei geordneten Verhältnissen mit ihnen fertig. […] Dieselbe Erscheinung wiederholt sich einige Stufen höher, in etwas kultivierteren Formen, als das politisch unruhige Element der Studentenschaft.«429 Ein in Köln wohltätig aktiver Pfarrer soll dazu formuliert haben, »wer die Jugend versteht, beherrscht sie auch«.430

426 Die verschiedenen Institutionalisierungen wurden regional unterschiedlich eingeführt. Die dieser Rechtsentwicklung zugrundeliegenden Diskussion fand aber in einem breiten internationalen Kontext statt. Jonathan Kufner-Eger: Schutzaufsicht. Zwischen totem Recht und reiner Kontrollfunktion?, in: soziales_kapital. wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit, Nr. 9, 2013, S. 1–17, S. 4–5. 427 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 16. 428 Schmidt: Gefährliche und gefährdete Mädchen, 2002, S. 13. 429 Spranger: Psychologie des Jugendalters, 193517, S. 216. 430 Joseph Könn: Jugendpflege und Charakterbildung, Warendorf 1914, S. 211, zitiert nach Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 75.

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Tagebücher aus Betreuungs- und Fürsorgeeinrichtungen Die Jugendlichen, von denen die oben genannten Tagebücher stammten, standen in Abhängigkeitsverhältnissen zu jenen Personen, die sie beforschten. Hildegard Hetzer war eine der Horterzieherinnen der Schreiberinnen. Die Diaristinnen der Edition von Annelies Argelander und Ilse Weitsch befanden sich sogar in der Zwangssituation einer Fürsorgeeinrichtung. Hier konnten die Forscherinnen auch auf auto/biografische Aufzeichnungen zugreifen, die ihnen sonst wohl kaum zur Verfügung gestanden wären. Abgesehen von den sozialen Rahmungen und ohne auf den Inhalt einzugehen, bestehen zwischen diesen Aufzeichnungen und jenen, die an die Sammlungen von Bühler, Bernfeld oder auch Stern übergeben wurden, zwei entscheidende Unterschiede: Das Alter der Schreiberinnen sowie der Zeitabstand zwischen dem Verfassen und der Auswertung. Wie anhand der quantitativen Darstellung der Geburtsjahrgänge weiter vorne gezeigt werden konnte, wurde der Großteil der auto/biografischen Aufzeichnungen der Sammlung von Charlotte Bühler nicht unmittelbar nach deren Anfertigung zur Verfügung gestellt. Im Zuge der späteren Übergaben ihrer früher angefertigten Tagebücher hatten sich die zumeist bildungsbürgerlichen Schreiber/innen frei dazu entschieden, sich mit diesen Texten (oder mit Texten, die ihnen zur Verfügung standen) an den jugendpsychologischen Forschungsprojekten zu beteiligen. Die Übernahmen der verschiedenen Aufzeichnungen in Fürsorgeverhältnissen fanden aber zur selben Zeit statt, zu der sie auch geschrieben und in den Matratzen versteckt wurden. Die wenigen in der Forschung bekannten Aufzeichnungen der Mädchen und jungen Frauen aus Betreuungseinrichtungen wurden diesen (vermutlich zumeist) weg- oder zumindest abgenommen. Die wohl häufig unfreiwilligen Übergaben sind der zweite große Unterschied zu den Transfergeschichten von Selbstzeugnissen an Sammlungen wie jener von Charlotte Bühler. Einer der Gründe für die schlichtweg gewaltsame Aneignung dieser auto/biografischen Texte könnte sein, dass die Jugendpsycholog/innen kaum direkte Kontakte zu erwachsenen Personen aus dem proletarischen Umfeld hatten. Frauen und Männer aus bildungsferneren Zusammenhängen hatten dadurch ihrerseits keine Gelegenheit, ihre (möglicherweise angefertigten) Aufzeichnungen aus einer zurückliegenden Lebensperiode zu ähnlichen Bedingungen an Forscher/innen zu geben wie etwa die Student/innen und Leser/innen der Bücher von Charlotte Bühler. Aufrufe in entsprechenden Medien oder sonstige Versuche sind mir nach aktuellem Recherchestand nicht bekannt. Die bildungsbürgerlichen Forscher/ innen dürften also keine direkten Möglichkeiten geschaffen haben, schichtübergreifend selbstbestimmte Übergabesituationen herzustellen.

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Auto/biografische Selbstdarstellungen proletarischer Jugendlicher bei Fritz Giese (1914) Der Psychologe Fritz Giese hat für seine 1914 veröffentlichte Arbeit »Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen« eine vergleichsweise außerordentlich breite Quellenbasis aufbauen können (→ Abschnitt 2.2). Seine Edition wurde dann auch in zahlreichen Nachfolgestudien konsultiert. Im Unterschied zu allen späteren Studien hatte Giese einen großen Organisationsaufwand betrieben, um die ausgewerteten Selbstzeugnisse zu sammeln: Er arbeitete mit Pädagog/innen, Seelsorgern und Verlagen zusammen, suchte im eigenen Umfeld und bei anderen Forschern. Auf diese Weise konnte er die zitierten 3.258 einzelnen Texte zusammentragen, deren Schreiber/innen zudem aus einem breiten sozialen Spektrum kamen. Interessant ist dabei, wie Giese die Texte der Arbeiter/innenjugend bewertete. Charlotte Bühler hatte 1929 in »Die Schwärmerei als Phase der Reifezeit« den darin zitierten »Proletariermädchen […] deren Erziehung vollkommen vernachlässigt, deren körperliche Entwicklung hintenangeblieben, deren häusliche Verhältnisse traurige waren«,431 eine gewisse ›Naturhaftigkeit‹ attestiert. Die Texte dieser Schülerinnen würden »nicht durch die Hemmung guter Erziehung jene Selbstbeherrschung aufwiesen, durch die solche Beobachtungen [an ihnen] hinfällig werden«.432 Daher seien sie auch »in charakteristischer Weise von den Kinderarbeiten auf diesem Gebiet abgehoben«.433 In welcher Weise sich dieses ›Abheben‹ gezeigt habe und welche anderen »Kinderarbeiten« hier als Vergleichsgrößen herangezogen wurden, ließ Bühler offen. Völlig anders liest sich die Darstellung von Fritz Giese aus 1914. Obwohl er eigentlich zu einem ähnlichen Ergebnis gelangte, zog er völlig andere Schlüsse daraus: »Wendet man sich zunächst dem einfacheren Milieu zu, so findet man vor allem ein Thema, das in so starkem Maße bearbeitet wird, wie kaum eines der übrigen bei der anderen Gruppe [der bürgerlichen Bildungsschicht, L. G.]. Das ist das Soziale. Es gibt fast keinen Beitrag, sei er poetisch oder prosaisch, in dem nicht die soziale Lage des Autors sich irgendwie kennzeichnet. In der Poesie tritt es naturgemäß etwas zurück, denn die Prosa eignet sich besser für soziale Themata. Dennoch beachte man die trübe Stimmung, die gedrückte Lage, die Schwere der Proben [die] von Fürsorgezöglingen und Strafgefangenen stammen. [Der] 19jährige Bergmann […] steht ganz im Bannkreis seiner vitalsten Interessenkreise: Brotgeber–Streik– Antimilitarismus–Proletariat. Er hat sicherlich etwas Talent. Aber niemals würde ein Gymnasiast [ein solches »Werk«, L. G.] zustande bekommen. Ihm fehlt das 431 Bühler: Die Schwärmerei als Phase der Reifezeit, 1926, S. 1. 432 Ebd.: S. 3. 433 Ebd.

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Verständnis für das Milieu. […] Wollte man vom Erleben sprechen, so hätte man allen Grund anzunehmen, dass in diesen Proben einfacherer Gesellschaftsschichten unendlich viel mehr subjektives Erleben steckt, daß sie viel mehr aus dem Innern kommen: wenn freilich auch die künstlerische Feinheit, die Übersicht über das Werk als solches und die Behandlung des Stoffes leiden. Bei Mädchen ist die durch das Milieu sozial und emotional dunkel gefärbte Stimmung vielleicht noch deutlicher.«434 Fritz Giese sah zwischen den Angehörigen sozialer Schichten einen Unterschied in den (durch Bildung gegebenen) Möglichkeiten der individuellen Ausdrucksfähigkeiten. Die ›naturwissenschaftlich‹ ausgerichtete Charlotte Bühler fokussierte dabei 15 Jahre später auf die »traurigen Verhältnisse« und eine daraus abgeleitete angeblich eingeschränkte »Selbstbeherrschung«.435 Giese identifizierte den Unterschied hingegen in der Wahrnehmung der Umwelt sowie der Einschätzung der eigenen Situation, die er bei Angehörigen aus dem »einfacheren Milieu« pessimistischer wahrnahm. Daraus abgeleitet ortete er aber auch die Möglichkeit von politischem Kampfbewusstsein der Arbeiter/innenklasse. Mit so etwas beschäftigte sich Bühler nicht.

Die Häufigkeit schichtspezifischer Studien in der Jugendpsychologie Das Thema soziale Schicht wurde in der frühen Jugendforschung also insbesondere in Verbindung mit ›Devianz‹ diskutiert. Wie war das quantitativ einzuschätzen? Einen Überblick der zeitgenössischen Forschungsliteratur bietet das Literaturverzeichnis der fünften Ausgabe von Charlotte Bühlers Studie »Das Seelenleben des Jugendlichen« von 1929. Hier sind insgesamt 309 wissenschaftliche Zitate gelistet436. Wie viele davon lassen – zumindest durch ihren Titel – darauf schließen, dass hier die Analyseperspektive soziale Schicht eingenommen worden sein könnte? Das Ergebnis ist erstaunlich eindeutig. Insgesamt bezogen sich nur zehn Texte (3 Prozent) dezidiert auf eine bestimmte soziale Gruppe. In allen Fällen war das die Arbeiter/innenschicht.437 Alle anderen 434 Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, Bd. 1, 1914, S. 108f. 435 Bühler: Die Schwärmerei als Phase der Reifezeit, 1926, S. 1, S. 3. 436 In diesem Literaturverzeichnis sind insgesamt 334 Titel angeführt. 25 davon sind literarische Texte. 437 Darunter neben den bereits genannten Agnes Sapper: Das Dienstmädchen (Die Entwicklungsjahre. Psychologische Studien über die Jugend, Heft 6), Leipzig 1913; Emil Prüfer: Die dienende weibliche Landjugend (Die Entwicklungsjahre, Heft 11), Leipzig 1917; Günther Dehn und Ernst Lau: Beiträge zur Gedankenwelt der großstädtischen Arbeiterjugend nach Erhebungen in Berliner Fortbildungsschulen, Berlin 1920. Die Reihe »Die Entwicklungsjahre« wurde in Zusammenhängen der evangelischen Jugendarbeit herausgegeben. Dazu Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 130f.

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von Bühler zitierten Studien hatten (zumindest ihrem Titel nach) die Jugend ›allgemein‹ im Blick. Der Wortlaut der Titel sagt nun freilich noch nicht alles über den Inhalt aus. In diesem Sinne verriet etwa Paul F. Lazarsfeld mit »Jugend und Beruf. Kritik und Material« (1931) auch nicht, dass er in dieser Arbeit u. a. schichtspezifischen Fragestellungen nachging. Aus der verfügbaren Zusammenstellung lässt sich erstens also eine Tendenz zu verallgemeinerbaren Benennungen der Publikationen ablesen. Daraus lassen sich zweitens aber auch tendenzielle Einschätzungen zu den zeitgenössischen Forschungsschwerpunkten ableiten. Zumindest bis zum Stichjahr 1929. Einen Überblick über die Forschungslandschaft der gesamte Zwischenkriegszeit bietet die Publikation von Peter Dudek. Er hat seiner Studie »Jugend als Objekt der Wissenschaften« (1990) eine enorm breite Literaturbasis zugrunde gelegt, die Arbeiten bis in die späten 1930er-Jahre belegt. Dudek konnte dabei 896 Zitate zusammentragen.438 Von diesen enthalten nun 42 in ihrem Titel einen Hinweis auf schichtspezifische Fragestellungen. Und auch hier standen wiederum die Arbeiter/innen im Fokus – mit einer einzigen Ausnahme, die sich für »Die höhere Tochter« interessierte.439 Im Vergleich zum Literaturverzeichnis von Charlotte Bühler aus 1929 bedeutet das einen geringen Anstieg von 3 auf 5 Prozent. 18 dieser Titel (2 Prozent von 896) beinhalten auch Begriffe wie Kriminalität, ›Verwahrlosung‹ oder ›Sittenlosigkeit‹.440 Grafisch umgesetzt ergeben diese Zahlen die folgenden Diagramme:

438 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 379–410. Die Titel teilen sich folgendermaßen auf: jeweils ca. 2 Prozent vor 1900, 7 Prozent bis 1909, 25 Prozent bis 1919, 40 Prozent bis 1929, 24 Prozent bis 1939, 1 Prozent bis 1944. 439 Marie Martin: Die höhere Tochter, in: Deutsche Zentrale für Jugendfürsorge und Frieda Duensing (Hg.): Handbuch der Jugendpflege, Langensalza 1913, S. 53–60. 440 Zwei der von Bühler zitierten Studien beschäftigen sich mit politischem Aktivismus in der Arbeiter/innenbewegung: William Stern: Zur Psychographie der proletarischen Jugendbewegung (auf Grund von Untersuchungen von Curt Bondy), in: Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Jg. 22, 1921, S. 376–379 und Curt Bondy: Die proletarische Jugendbewegung in Deutschland mit besonderer Berücksichtigung der Hamburger Verhältnisse, Lauenburg 1922. Bei Dudekt waren es sechs entsprechende Titel. Demgegenüber nehmen in seinem Verzeichnis 71 Titel Bezug auf die bürgerliche Jugendbewegung, häufig auch auf eine der bestimmten Gruppierungen wie etwa den »Wandervögeln« (8 Prozent von 896).

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Tortendiagramme 5 und 6: Sozialwissenschaftliche Studien bis in die 1930er-Jahre, die in ihrem Titel eine Analyseperspektive auf das Thema Schicht erkennen lassen Studien bis 1929 bei Charlotte Bühler (1929)

Studien bis Ende der 1930er-Jahre bei Peter Dudek (1990)

Die Analyse von Selbstzeugnissen war nicht die bevorzugte Methode, mit der in den 1920er- und 1930er-Jahren die proletarische Jugend beforscht worden ist. Dazu wurden fast ausschließlich andere Verfahren bemüht. Die Orte, wo die Wissenschafter/innen und die ›bildungsferneren‹ Jugendlichen sich trafen, waren Schulklassen, Horte, Heime, Vereine, Fortbildungs- oder Berufsberatungsstätten etc. Das waren geschlossene, von sich aus durch hierarchische Beziehungen geprägte Settings. Paul F. Lazarsfeld verwendete für die Studie »Jugend und Beruf« (1931) die Methode der Fragebogenerhebung, die er dabei erstmals genützt hat. Andere Erhebungsmöglichkeiten waren protokollierte Gespräche, die teilnehmende Beobachtung oder die Aufsatzmethode.441 Die bisher vorgestellten veröffentlichten Beispiele lassen den Schluss zu, dass es auch auto/biografische Aufzeichnungen von jungen Arbeiter/innen, Näher/innen, Dienstbot/innen etc. gegeben hätte. Wie verbreitet diese tatsächlich waren, ist weiterhin offen. Zumindest auf der Grundlage der Ergebnisse der zeitgenössischen Jugendforschung. Weil hier kein Schwerpunkt auf solche Fragen gelegt wurde, können dazu aus diesem Forschungsfeld auch keine belastbaren Zahlen abgeleitet werden. Ob eine systematische Suche noch mehr Selbstzeugnisse aus den verschiedenen sozialen Schichten zu Tage gefördert hätte, bleibt ein historisches Planspiel. Die historische Forschung hat inzwischen jedenfalls belegen können, dass es mit Sicherheit nicht auszuschließen ist.442 Wie der Bestand in 441 Dazu Benninghaus: Die anderen Jugendlichen, 1999; Martin Lücke: Aufsätze männlicher Fürsorgezöglinge aus der Weimarer Republik. Eine Einführung, in: Werkstatt Alltagsgeschichte: Du Mörder meiner Jugend, 2011, S. 11–16; Katja Kosubek: »genauso konsequent sozialistisch wie national!« Die Alten Kämpferinnen der NSDAP vor 1933, Göttingen 2017 (→ Abschnitt 4.2). 442 Die ab den 1890er-Jahren von Vertreter/innen der proletarischen Bewegung veröffentlichten lebensgeschichtlichen Erzählungen wurden in → Abschnitt 2.2 bereits erwähnt. Später

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aktuellen historisch ausgerichteten Sammlungen diesbezüglich zusammengesetzt ist, wird in → Abschnitt 3.5. besprochen.

2.8) Geschlecht als Analyseperspektive in der Jugendpsychologie Junge Menschen aus bildungsferneren Schichten galten in der frühen Jugendforschung ganz allgemein als ›verdächtig‹. Im Zusammenhang mit bestimmten Themen wurde die Lebensphase Jugend auch für das Bürger/innentum als »Krisenalter« identifiziert. Die Debatten zum Suizid wurden schon vorgestellt (→ Abschnitt 2.3). Aus der medizinischen Forschung war im frühen 20. Jahrhundert zudem als eine neue Diagnose die Nervenkrankheit »Neurasthenie« bekannt geworden. Ihre Symptome waren eine »generelle[…] Schwäche des Nervenkostüms oder der seelischen Kräfte« und diese wurden vorwiegend bei bürgerlichen Jugendlichen attestiert.443 Dabei fanden klare geschlechtlich konnotierte Zuschreibungen statt. Wie schon die ›Devianz‹ und der Selbstmord war auch die »Neurasthenie« in der Wahrnehmung der Zeitgenoss/innen »vorwiegend beim männlichen Geschlecht zu beobachten«.444 Abgesehen von solchen inhaltlichen Schwerpunktsetzungen wurde dieses eine Geschlecht in der Jugendforschung insgesamt mehr beobachtet als das andere. In fachhistorischen Darstellungen ist eine entsprechende Einseitigkeit inzwischen für das ganze 20. Jahrhundert attestiert worden.445 Die Psychologin Helga Bilden und die Soziologin Angelika Diezinger haben dazu bereits Ende der 1980er-Jahre veröffentlichte Textsammlungen finden sich in Richard Klucsarits und Friedrich G. Kürbisch (Hg.): Arbeiterinnen kämpfen um ihr Recht. Autobiographische Texte zum Kampf rechtloser und entrechteter »Frauenspersonen« in Deutschland, Österreich und der Schweiz des 19. und 20. Jahrhunderts, Wuppertal 1975; Wolfgang Emmerich (Hg.): Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland (Bd. 1: Anfänge bis 1914; Bd. 2: 1914 bis 1945), Reinbek bei Hamburg 1975; Wolfgang Harböck: Stand, Individuum, Klasse. Identitätskonstruktionen deutscher Unterschichten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Münster/u. a. 2006 (→ Abschnitt 3.5). 443 Wolfgang Seidel: Burnout. Erkennen, verhindern, überwinden. Die eigenen Emotionen steuern lernen, Hannover 2011, S. 11. 444 Die als hauptsächliche Gründe für diese Erkrankung identifizierten äußeren »Schädlichkeiten« waren etwas, mit denen Burschen und Männer eher in Verbindung gebracht wurden. Namentlich handelte es sich dabei um »eine schwere Berufspflicht, eine angespannte Geistesarbeit, ein rastloser Kampf ums Dasein«. Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 14. Leipzig 1908, S. 528–530, online verfügbar unter: www.zeno.org/Meyers-1905/A/Ner venschwäche. Bis in die 1930er-Jahre war das Krankheitsbild »Neurasthenie« langsam wieder verschwunden. Michael Schäfer: Zur Geschichte des Neurastheniekonzeptes und seiner modernen Varianten, in: Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie, Jg. 70, 2002, S. 572–580. 445 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 206.

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offengelegt, dass dabei just das (angebliche) Fehlen von Studien über Mädchen häufig als Erklärung dafür benützt worden ist, die eingeschlagene Richtung noch weiter zu vertiefen: »Unsere Überlegungen […] betreffen vorwiegend männliche Jugendliche, da Untersuchungen über Mädchen nur spärlich vorhanden sind«, argumentierte etwa ein Autor 1965.446 Trifft das auch auf die jugendpsychologische Tagebuchforschung der 1920er- und 1930er-Jahre zu?

Das »Krisenalter Jugend« als Problem von Burschen Für einen zumindest tendenziellen Eindruck lassen sich wieder die Literaturverzeichnisse der Studien von Charlotte Bühler (1929) und Peter Dudek (1990) heranziehen. Wie auch schon bei der Frage nach der Kategorie soziale Schicht (→ Abschnitt 2.7) ist auch in Bezug auf das Geschlecht eine klare Tendenz zu ›allgemeinen‹ Benennungen der Publikationen erkennbar. In der Aufstellung von 1929 weisen 43 der insgesamt 309 zitierten Titel auf eine geschlechtsspezifisch ausgerichtete Analyseperspektive hin (14 Prozent von 309). 24 davon bezogen sich auf Mädchen und junge Frauen (56 Prozent von 43; 8 Prozent von 309), 13 auf Burschen (30 bzw. 4 Prozent), sechs hatten einen Geschlechtervergleich zum Thema (14 bzw. 2 Prozent).447 Dass beinahe doppelt so viele Studien auf Mädchen fokussierten als auf Burschen, kann dahingehend interpretiert werden, dass erstere eher als ›das Besondere‹ wahrgenommen wurden. Das Literaturverzeichnis von 1990 enthält 79 (von insgesamt 896) Studien, die sich bis in die späten 1930er-Jahre mit der Kategorie Geschlecht beschäftigt haben (9 Prozent von 896). 51 Titel bezogen sich auf Mädchen und junge Frauen (64,5 Prozent von 79; 6 Prozent von 896), 21 auf Burschen (27 bzw. 2 Prozent), sieben auf einen Vergleich zwischen den Geschlechtern (8,5 bzw. 1 Prozent).448 Peter Dudek hat 1990 also insgesamt (verhältnismäßig) weit weniger Studien mit einem ge446 Helga Bilden und Angelika Diezinger: Historische Konstitution und besondere Gestaltung weiblicher Jugend – Mädchen im Blick der Jugendforschung, in: Heinz-Hermann Krüger (Hg.): Handbuch der Jugendforschung, Leverkusen 19881, S. 135–156, S. 142. Dazu weiters u. a. Schmidt: Gefährliche und gefährdete Mädchen, 2002, S. 11. An anderer Stelle wurde darauf hingewiesen, dass die Fachgeschichte der Psychologie zumeist »personalistisch« geprägt ist, weswegen sie – mit Fokus auf hervorgehobene Protagonisten (und einzelne Protagonistinnen) – in vielen Fällen »als Geschichte ›großer Männer‘ geschrieben wurde«. Helmut E. Lück und Susanne Guski-Leinwand: Geschichte der Psychologie: Strömungen, Schulen, Entwicklungen, Stuttgart 20147 (19911), S. 21. 447 Das waren u. a. William Stern: Zur vergleichenden Jugendkunde der Geschlechter. Beitrag zum Dritten Kongreß für Jugendbildung und Jugendkunde 1913 (Bund für Schulreform, Bd. 8), Leipzig/Berlin 1914; Charlotte Bühler: Vergleich der Pubertätsreifung von Knaben und Mädchen, in: Erich Stern (Hg.): Handbuch der Sexualpädagogik, Berlin 1927, S. 155– 169. 448 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 379–410.

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schlechterspezifisch formulierten Titel zusammengestellt als Charlotte Bühler 1929 (14 zu 9 Prozent). Grafisch umgesetzt ergeben diese Zahlen die folgenden Diagramme: Tortendiagramme 7 und 8: Sozialwissenschaftliche Studien bis in die 1930er-Jahre, die in ihrem Titel eine Analyseperspektive auf das Thema Geschlecht erkennen lassen Studien bis 1929 bei Charlotte Bühler (1929)

Studien bis Ende der 1930er-Jahre bei Peter Dudek (1990)

Wird nun die Häufigkeit der Bezüge auf die Kategorie Geschlecht mit jener auf die Kategorie Schicht verglichen (→ Abschnitt 2.7) ergibt sich ein doppelt aussagekräftiges Ergebnis: Bei Charlotte Bühler ist ein geschlechterspezifischer Bezug mit 14 Prozent (oder 43 von 309 Studien) bei weitem häufiger zu finden als ein schichtspezifischer (3 Prozent oder neun von 309). Eine Überschneidung von Schicht und Geschlecht kam dabei nur in zwei Titeln vor (0,6 Prozent): Beide beschäftigten sich mit Dienstmädchen und wurden in der Reihe »Die Entwicklungsjahre. Psychologische Studien über die Jugend« publiziert, die im Umfeld der evangelischen Jugendarbeit verortet war.449 Peter Dudek hat im Vergleich zu Bühler etwas mehr Arbeiten zitiert, die laut ihrem Titel auf die Kategorie soziale Schicht fokussiert haben (5 zu 3 Prozent). Bei ihm fällt auch der Unterschied zwischen einem geschlechterspezifischen Bezug (9 Prozent oder 79 von 896) und einem schichtspezifischem (5 Prozent oder 42 von 896) viel geringer aus als bei Bühler. Hatte Charlotte Bühler ein besonders Interesse an Geschlechterfragen?

449 Sapper: Das Dienstmädchen, 1913; Prüfer: Die dienende weibliche Landjugend, 1917; Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 130f.

Geschlecht als Analyseperspektive in der Jugendpsychologie

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Die Wiener Jugendpsychologie als ›Hochburg‹ der Mädchenforschung Peter Dudek und Gerhard Benetka haben betont, dass in der Forschungsgruppe von Charlotte Bühler am Psychologischen Institut in Wien im zeitgenössischen Vergleich verhältnismäßig viele Forscherinnen tätig gewesen sind. Das hatte aus ihrer Sicht auch einen Einfluss auf die hier erarbeiteten Forschungsthemen. Insbesondere der Schwerpunk auf geschlechterspezifische Fragen hat den Standort Wien von den anderen Fachzentren abgehoben.450 »Im Gegensatz zur übrigen deutschsprachigen Jugendpsychologie, die vorwiegend eine ›Jungenpsychologie‹ war, wurde hier auch ganz gezielt und völlig gleichwertig eine Mädchenforschung in Gang gebracht und ausgebaut. Geschlechtsspezifische Differenzen in der psychischen Entwicklung fanden sich nicht bloß ›berücksichtigt‹ oder ›am Rande einbezogen‹, sondern ganz selbstverständlich als stets interessierender Aspekt in die Planung und Durchführung nahezu aller empirischer Einzeluntersuchungen aufgenommen.«451 Überlegungen zu den möglichen Gründen, warum sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts gerade Frauen wissenschaftlich mit Frauen oder Mädchen beschäftigten, wurden bereits angesprochen (→ Abschnitt 1.5). Ein Grund für die Konzentration der Forscherinnen und Aktivistinnen auf dieses Thema lag nach meiner Interpretation darin, dass es sich dabei um einen neuen Forschungsgegenstand gehandelt hat. Die Forscherinnen waren im wissenschaftlichen Feld selbst noch eine recht junge ›Erscheinung‹. Weil neue Wissenschafts- und Wissensgebiete noch nicht fest besetzt waren, bot sich ihnen hier am ehesten die Gelegenheit, sich zu etablieren. Dieses Phänomen ist in der Forschungsgeschichte immer wieder zu bemerken, u. a. auch in den frühen Sozialwissenschaften um die Jahrhundertwende. Vertreterinnen wie Gertrude Dyhrenfurth (1865–1945) haben dabei ihre Legitimation primär essentialistisch argumentiert.452 Ähnliche Formulierungen fanden sich zwei bzw. drei Jahrzehnte später 450 Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 207f.; Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 173f. 451 Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 173. 452 Die Nationalökonomin Gertrude Dyhrenfurth kann hier als ein frühes Referenzbeispiel genannt werden. Sie führte im Jahr 1898 die erste deutschsprachige Studie zur Heimarbeit in der Textilindustrie durch. Dazu suchten sie und ihre Mitarbeiterinnen Berliner Frauen in ihren Wohnungen auf, um sie vor Ort zu befragen. Dass solche Forschungsgespräche von Frauen durchgeführt werden müssten, sicherte Dyhrenfurth mit dem Argument der (vermeintlich) weiblichen Wesensart ab: »[S]chließlich [sei es] nur Frauen möglich […] in die Intimität der Häuslichkeit einzudringen und so vertrauliche Mitteilungen von den Arbeiterinnen zu erlangen, [da ihnen] die Gabe, das herauszufühlen, was an dem weiblichen Arbeitsleben besser und gesünder zu gestalten sei, […] von Natur mehr gegeben sein dürfte.« Und wenn die Erhebungen auch zeitraubend und schwierig gewesen seien, so würden die Akteurinnen durch den »socialpädagogischen Wert« ihrer Arbeit doch belohnt worden sein. Neben den Ergebnissen schilderte Gertrude Dyhrenfurth in ihrer Publikation

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auch bei den Jugendpsycholog/innen der Zwischenkriegszeit: Mädchen sollten idealerweise von Frauen beforscht werden, »weil bei einer seelischen Erforschung des eigenen Geschlechtes ein mehr in die Tiefen dringendes Verstehen auf Grund gleicher psychophysischer Bedingungen gewährleistet erscheint«, stellte etwa Hildegard Jüngst (geb. 1901) 1929 in ihrer Dissertation über »Die jugendliche Fabrikarbeiterin« fest.453 Solche Selbst-/Zuschreibungen können von einem heutigen Standpunkt aus als konservativ-biologistisch eingeordnet werden. Paradoxerweise markierten sie aber auch eine Form von Selbstermächtigung, ein Abstecken und selbstbewusstes In-Anspruch-Nehmen eines eigenen Handlungsspielraumes. Auf diesen komplexen Widerspruch hat die Soziologin Elisabeth Meyer-Renschhausen bereits 1984 im Zusammenhang mit den Bestrebungen der Ersten Bürgerlichen Frauenbewegung um 1900 zur »Aufwertung der klassischen Frauenrollen« hingewiesen.454 Entsprechend der bürgerlichen »Geschlechtscharaktere« (Karin Hausen)455 wurde jedenfalls auch in der Jugendpsychologie eine bestehende Differenz zwischen ›weiblichen‹ und ›männlichen‹ Menschen als gegeben vorausgesetzt. Daraus wurde abgeleitet, dass Mädchen und Burschen unterschiedliche seelische Strukturen hätten. Nach Peter Dudeks Analyse folgten dabei insbesondere die mädchenspezifischen Publikationen »pädagogisch-psychologische[n] Erziehungslehren« und waren stark normativ ausgerichtet.456 »Für die Jugendforscher stellte sich die Frage nach der Rolle und den Entwicklungsmöglichkeiten von

453

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auch den Ablauf ihrer – unentgeltlich geleisteten – Arbeit sehr ausführlich. Als Motiv gab sie an, sie wolle damit Ratschläge für eine bevorstehende Regierungsenquête zur Vorbereitung einer Schutzgesetzgebung für Heimarbeitende geben. Mit den detaillierten Ausführungen scheint sie aber auch versucht zu haben, ihr Team als seriös forschende Frauen zu legitimieren – sowie ihren Forschungsgegenstand als wissenschaftsrelevant darzustellen. Gertrude Dyhrenfurth: Die hausindustriellen Arbeiterinnen in der Berliner Blusen-, Unterrock-, Schürzen- und Tricotkonfektion, Leipzig 1898, Zitate S. 3. Dazu weiterführend Gerhalter: Tagebücher als Quellen, 2017, S. 39–46. Hildegard Jüngst: Die jugendliche Fabrikarbeiterin. Ein Beitrag zur Industriepädagogik. Paderborn 1929, S. 14, zitiert nach Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 196. Zu Hildegard Jüngst siehe auch Weyrather: Die Frau am Fließband, 2003, S. 129–131. Wie Peter Dudek ausführte, wurde das Argument der förderlichen »Nähe« zum Forschungsgegenstand z. B. auch von Lehrer/innen vorgebracht, die pädagogische Studien publizierten. Das Argument des politischen Aktivismus in den Jugendbewegungen wurde bereits erwähnt (→ Abschnitt 2.2). Elisabeth Meyer-Renschhausen: Radikal, weil sie konservativ sind? Überlegungen zum »Konservativismus« und zur »Radikalität« der deutschen Frauenbewegung vor 1933 als Frage nach der Methode der Frauengeschichtsforschung, in: Wiener Historikerinnen (Hg.): Die ungeschriebene Geschichte. Historische Frauenforschung. Dokumentation des 5. Historikerinnentreffens, Wien 1984, S. 20–36. Karin Hausen: Der Aufsatz über die »Geschlechtscharaktere« und seine Rezeption. Eine Spätlese nach 30 Jahren, in: dies.: Gesellschaftsgeschichte als Geschlechtergeschichte, Göttingen 2013, S. 83–105. Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 207, S. 215.

Geschlecht als Analyseperspektive in der Jugendpsychologie

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Mädchen nämlich nicht als Frage nach den Chancen ihrer Gleichberechtigung, sondern als Frage nach den Möglichkeiten, Mädchen zu ihrer geschlechtsanthropologischen Rolle als Frau und Mutter zu verhelfen. Nicht Gleichberechtigung, sondern Gleichwertigkeit, also die Betonung von Geschlechterrollen war die Maxime, der die Jugendforschung folgte.«457 Hat dieser Aspekt auch die beiden meistzitierten jugendpsychologischen Überblicksdarstellungen von Charlotte Bühler und Eduard Spranger geprägt?

Geschlecht als Analyseperspektive in den ›Standardwerken‹ von Charlotte Bühler und Eduard Spranger Das Fach Psychologie verfolgte in der Zwischenkriegszeit das Ziel, eine Systematik des gesamten Jugendalters zu erarbeiten. Diesen Fokus benennt Peter Dudek als Grund für die verhältnismäßig wenigen jugendpsychologischen Studien, die eine Analyseperspektive auf das Thema Geschlecht eingenommen haben.458 Der »Anspruch auf Allgemeingültigkeit« stand einer geschlechterspezifischen (oder jeder wie auch immer gewichteten) Systematik entgegen – auch wenn die angenommene »Eigenart der Geschlechter«459 in jedem Fall zumindest angesprochen wurde. In der »Psychologie des Jugendalters« von Eduard Spranger wird dazu gleich auf der ersten Seite Folgendes ausgeführt: »Im Gegensatz zu den Erscheinungen des reifen Alters ist die Seele des männlichen Geschlechtes in diesen Jahren noch viel unauffindbarer als die des weiblichen. Der Jüngling schützt sich gleichsam mit doppeltem Panzer. Gewiß tut auch das junge Mädchen alles, was es vermag, um sein Innenleben zu verbergen; aber trotz all dieser Künste bleibt es im Vergleich zum Jüngling das durchsichtigste Geschöpf, und die ›Ergänzungsbedürftigkeit‹, die Charlotte Bühler allgemein als seelischen Grundzug des Pubertätsalters bezeichnet, spielt hier bei aller Zurückgezogenheit des innersten Wesens 457 Ebd.: S. 205. 458 Ebd.: S. 207f. 459 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19676, S. 29. Die erste konkret auf Mädchen bezogene psychologische Überblicksdarstellung erschien 1941 mit dem Titel »Das weibliche Seelenleben«. Verfasst wurde dieses Buch von der Psychologin Martha Moers (1877–1966), der ersten Privatdozentin der Universität Innsbruck. Sie arbeitete zu der Zeit am Institut für Arbeitspsychologie und Arbeitspädagogik der Deutschen Arbeitsfront in Berlin. Entsprechend gefärbt war der Inhalt ihrer Ausführungen, die (mit Änderungen) schließlich mehrfach aufgelegt wurden – nach meiner Recherche zumindest fünfmal bis 1964. Martha Moers: Das weibliche Seelenleben. Seine Entwicklung in Kindheit und Jugend, Berlin 1941, zitiert nach Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 214f. Biografische Angaben aus: Brigitta Keintzel und Ilse Korotin (Hg.): Wissenschafterinnen in und aus Österreich: Leben – Werk – Wirken, Wien/Köln/Weimar 2002, S. 492, S. 518.

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eine viel größere Rolle.«460 Spranger skizziert mit dieser Formulierung zwar kein Forschungsprogramm, dennoch beschäftigte er sich in der Publikation dann fast ausschließlich mit Burschen und jungen Männern.461 Diese kamen zudem – wie üblich – aus dem Bildungsbürger/innentum – und dabei speziell aus Norddeutschland. Im Vorwort der Erstauflage rechtfertigte Spranger den geschlechtsspezifischen Überhang ganz im Sinne der zeitgenössisch verbreiteten essentialistischen Argumente: »Gern hätte ich, wie es einem Lieblingsgebiete meiner pädagogischen Tätigkeit seit ihren Anfängen entspricht, ausführlicher vom weiblichen Jugendlichen gesprochen. Aber eine Scheu hielt mich zurück, von Lebenserscheinungen eingehend zu reden, die ich nun einmal nicht aus ihrer Erlebensmitte heraus original in meinem geistigen Organ entfalten kann. Dieses Bild zu zeichnen, muß einer weiblichen Hand vorbehalten bleiben. Und es gibt wohl noch vieles sonst, das mein Auge nicht erreichen konnte.«462 Um nicht Gefahr zu laufen, etwas zu berichten, das nicht seiner »Erlebensmitte« entspringen konnte, riskierte Eduard Spranger also lieber eine Generalisierung. Seine 29mal aufgelegte Studie war also gleich in mehrfacher Weise situiert. Offenbar wurde das durchaus kritisiert und so findet sich in der »Vorrede zur 16. Auflage« von 1932 der folgende Hinweis: »Gesichtspunkte, die eine Weiterbildung des hier Versuchten bedeuten, finden sich in zwei späteren Veröffentlichungen, auf die ich verweisen darf«. Der Hinweis bezog sich auf zwei von Spranger mitherausgegebenen Publikationen, die sich jeweils mit Mädchen oder Burschen beschäftigten.463 Den Inhalt der Studie »Psychologie des Jugendalters« umzuschreiben, befand er aber offenbar nicht für notwendig. Bei Charlotte Bühlers »Das Seelenleben des Jugendlichen« verhielt es sich (in Bezug auf die Kategorie Geschlecht) völlig anders. Die Studie war in der ersten Auflage von 1921 zum Großteil auf Quellen von Mädchen aufgebaut, zumindest die drei zitierten Tagebücher waren von Mädchen verfasst worden. In der Ein460 Spranger: Psychologie des Jugendalters, 193517, S. 1. 461 Peter Dudek und Benjamin Ortmeyer legen diese Formulierung von Spranger klarer aus und stellen eine entsprechende Deklaration eindeutig fest. Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 257; Ortmeyer: Eduard Spranger und die NS-Zeit, 2008, S. 19. 462 Spranger: Psychologie des Jugendalters, 193517, S. XIII. 463 Ebd.: S. XV; Hertha Siemering und Eduard Spranger (Hg.): Weibliche Jugend in unserer Zeit. Beobachtungen und Erfahrungen von Jugendführerinnen, Leipzig 1932; Eduard Spranger und Erwin Niffka: Der jugendliche Mensch (Männliche Jugend), Berlin 1932. Eduard Spranger hatte sich auch zu den Themen Geschlechterverhältnisse und Berufstätigkeit von Frauen sowie der Frauenbewegung publizistisch geäußert. Erwähnenswert ist insbesondere die Broschüre von Eduard Spranger: Die Idee einer Hochschule für Frauen und die Frauenbewegung, Leipzig 1916. Konzeptionell ging Spranger von einer Bipolarität der ›Geschlechtscharaktere‹ aus, er lehnte die höhere Bildung von Frauen aber nicht prinzipiell ab. Annelise Fechner-Mahn: Kulturverantwortung der Frau bei Eduard Spranger damals und heute, in: Gerhard Meyer-Willner (Hg.): Eduard Spranger. Aspekte seines Werks aus heutiger Sicht, Bad Heilbrunn 2001, S. 110–120, S. 112f.

Geschlecht als Analyseperspektive in der Jugendpsychologie

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leitung der zweiten Auflage von 1923 definierte Bühler die fehlende Differenzierung zwischen Schreiberinnen und Schreibern als den »einzigen ernsten Einwand«464 gegenüber der Erstausgabe. In der neuen Auflage waren die Tagebücher von gleich neun Burschen (und von zwei weiteren Mädchen) in die Analyse mitaufgenommen worden. Damit sah Bühler das »einzige« Manko ab dieser zweiten Ausgabe als behoben an. In den drei folgenden Überarbeitungen sind Darstellungen von Unterschieden zwischen Mädchen und Burschen zunehmend durchgängig zu finden. 1929 wurde schließlich bei so gut wie jeder angesprochenen Thematik auch ein Geschlechtervergleich unternommen. Die Ergebnisse sind dabei nun durchwegs auch statistisch aufbereitet.465 Diese Auswertungen betrafen das Körperwachstum von Jugendlichen genauso wie das Schreiben oder die Inhalte von Tagebüchern: »Mit dem zwölften Lebensjahr beginnt bei beiden Geschlechtern eine Phase starken Längenwachstums und gesteigerter Gewichtszunahme. [Dabei] erfolgt beim Knaben im 15., bei Mädchen im 13. Jahr ein gesteigertes Längenwachstum.«466 »Das Tagebuch des Mädchens enthält so gut wie nichts von allen jenen tatsächlichen Dingen des äußeren Lebens, die der Knabe hineinnimmt.«467 »75 % der untersuchten Jugendtagebücher bringen religiöse Kämpfe, und zwar ist, nachdem um 15 bei den Mädchen, um 16 bei den Knaben immer mehr verinnerlichte Auffassung überhaupt beobachtet wird, der Höhepunkt des religiösen Ringens um 16 und 17.«468 Etc. Dennoch sah Charlotte Bühler die Frage nach den konkreten Unterschieden zwischen Mädchen und Burschen nie als definitiv beantwortet an. Noch in der sechsten Auflage von »Das Seelenleben des Jugendlichen« aus 1967 hieß es dazu: »Man kann über die angeborenen Unterschiede der Geschlechter noch immer sehr verschiedener Ansicht sein, in präzisen Begriffen faßbar läßt sich da immer noch wenig sagen.«469 Vielmehr kam sie hier – wie schon 1923 – wieder zum Ergebnis: »Die wesentlichen Eigentümlichkeiten der Pubertät sind beiden Geschlechtern gemeinsam, die gewiß bestehenden Unterschiede, auf die wir zu sprechen kommen, berühren die Grundlagen nicht«.470 Bühler hat sich jedenfalls intensiv, auf verschiedenen Ebenen und auch über einen langen Zeitraum mit den (nach ihrer Auslegung nach vorhandenen) Verschiedenheiten von Mädchen

464 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 1923², S. VII. 465 Diese statistischen Auswertungen der Tagebuchquellen wurden u. a. von Paul F. Lazarsfeld und Maria Latka besorgt (→ Abschnitt 2.3). 466 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19676, S. 42. 467 Ebd.: S. 36. 468 Ebd.: S. 193. 469 Ebd.: S. 29f. 470 Ebd.: S. 1.

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Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

und Burschen auseinandergesetzt. Damit hob sich ihre Überblicksdarstellung entschieden von der von Eduard Spranger ab. Werden die Arbeiten von Charlotte Bühler nun aber quantitativ auf die konkreten Nennungen von Mädchen und Burschen hin ausgewertet, kommen zwei bemerkenswerte Schieflagen zu Tage. Wie an den Beispielen der Studie »Das Seelenleben des Jugendlichen« sowie an den von Bühler edierten Tagebuchquellen gezeigt werden kann, war die Kategorie Geschlecht in diesen zwei verschiedenen Textgenres auffallend unterschiedlich gewichtet.

Mädchen und Burschen in »Das Seelenleben des Jugendlichen« (1929) Die Auszählung der exakten Nennungen von Mädchen und Burschen in »Das Seelenleben des Jugendlichen« (Ausgabe von 1929) bringt das überraschende Ergebnis, dass hier deutlich häufiger ein Bezug auf Burschen genommen wird als auf Mädchen. Im Vorwort hatte Charlotte Bühler angegeben, diese Auflage sei auf einem »Grundstock«471 von 76 Tagebüchern aufgebaut. Konkret genannt werden 30. Mit je 15 zitierten Diaristinnen472 und Diaristen473 ist das Geschlechterverhältnis dabei vordergründig völlig ausgeglichen. Den männlichen Jugendlichen wurde dabei aber wesentlich mehr Raum in der Darstellung gegeben als den weiblichen. Bei einer Gesamtanzahl von 192 direkten Bezugnahmen und Zitaten wurden Mädchen 61mal genannt oder zitiert, Burschen 131mal – also mehr als doppelt so oft (→ Tortendiagramm 9). Obwohl sie die Daten und Aussagen von Mädchen und Burschen einbezogen hat, hat Charlotte Bühler überwiegend Informationen männlicher Jugendlicher herangezogen und ent471 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19295, S. V (Vorwort der 4. Auflage von 1927). 472 M 3, 4, 11, 14, 16, 17, 20, 24, 26, 37, 38, 40, 55, 56 und M 58. Konkret sind das (gestaffelt nach den Berufen der Väter): vier Töchter von Kaufmännern: M 16 Hildegard Köhler, geb. 1899; M 24 Hedwig Moser, geb. 1902; M 26 Ida Fuchs, geb. 1883 und M 56 Toni Robert, geb. 1902; drei Töchter von Beamten: M 11 Agnes Loebe, geb. 1898; M 20 Käte Hermann, geb. 1903 und M 40 Hedwig Marr, geb. 1904. Jeweils eine Nennung pro Beruf: M 3 Olga Luhn, geb. 1893, Vater: Ingenieur; M 4 Irmgard Winter, geb. 1998, Vater: Künstler; M 17 Margit Lechler, geb. 1899, Vater: Redakteur; M 37 Karla Anderson, geb. 1893, Vater: Gutsbesitzer; M 38 Lore Arnold, geb. 1895, Vater: Missionar; M 55 Martha Krebs, geb. 1903, Vater: Arzt; M 58 Trude Lanz, geb. 1906, Vater: Inspektor; M 14: keine Angaben erhalten. 473 K 1, 2, 3, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 13, 14, 19, 31, 33 und K 70. Konkret sind das (gestaffelt nach den Berufen der Väter): vier Söhne von Kaufmännern: K 6 Ernst Junker, geb. 1899; K 8 Anton Jäger, geb. 1903; K 31 Valentin Gruber, geb. 1899 und K 70 Heinrich Ahrens, geb. 1908. Jeweils eine Nennung pro Beruf: K 1 Robert Richter, geb. 1885, Vater: Handwerker; K 2 Alexander Warth, geb. 1898, Vater: Ingenieur; K 5 Erhard Kolb, geb. 1895, Vater: »Gelehrter«; K 7 Heinz Ortmann, geb. 1894, Vater: Beamter; K 9 Karl Schulz, geb. 1904, Vater: Werkmeister; K 10 Theo Meister, geb. 1905, Vater: Journalist; K 13 Konrad Hirth, geb. 1830, Vater: Theologe; K 19 Hans Rauscher, geb. 1898, Vater: Inspektor; K 33 Ernst Oppler, geb. 1894, Beruf des Vaters nicht bekannt; K 4 und K 14: keine Angaben erhalten.

Geschlecht als Analyseperspektive in der Jugendpsychologie

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sprechend generalisiert. Zudem wurden nicht alle 30 verwendeten Quellenbestände in einem ausgeglichenen Ausmaß ausgewertet. Genau 50 Prozent (96) aller Bezugnahmen (192) teilen sich auf drei Schreiber (K 5, K 6 und K 7) und eine Schreiberin (M 4) auf.474 Die Hälfte aller Zitate stützte sich also auf die Tagebücher von nur vier Jugendlichen. Werden die zehn meistgenannten Schreiber/ innen in den Blick genommen, so beziehen sich insgesamt 87,5 Prozent (168) aller Nennungen auf die diaristischen Aufzeichnungen von den folgenden vier Mädchen und sechs Burschen: M 4: 24 Nennungen=12,5 Prozent; M 3: 14=7; M 11: 7=4; M 56: 7=4; K 5: 28=15; K 6: 22=11; K 7: 22=11; K 1: 17=9; K 3: 14=7; K 9: 13=7.475 Auf die restlichen 20 (zwei Drittel) der zitierten oder genannten Jugendlichen kommen 12,5 Prozent (24) der Bezugnahmen im Text. Grafisch umgesetzt ergeben diese Zahlen die folgenden Diagramme: Tortendiagramm 9: Bezüge auf Mädchen und Burschen in »Das Seelenleben des Jugendlichen« (1929) Tortendiagramm 10: Bezüge auf die zehn am häufigsten genannten Schreiber/innen in »Das Seelenleben des Jugendlichen« (1929) Mädchen und Burschen in »Das Seelenleben des Jugendlichen« (1929)

Verteilung der zehn am häufigsten genannten Schreiber/innen

Charlotte Bühler hatte Ende der 1920er-Jahre mit der Sammlung ihrer Arbeitsgruppe einen inzwischen breiten Quellenkorpus an Tagebüchern und anderen auto/biografischen Aufzeichnungen von Jugendlichen erarbeitet. In ihren Forschungen hat sie diesen aber offenbar nicht voll ausgeschöpft. 474 »M« stand in der Ordnung dieser Quellensammlung für »Mädchen«, »K« für Burschen (»Knaben«). 475 Sortiert nach Häufigkeit ergibt sich folgende Reihung: K 5: 28 Nennungen=15 Prozent; M 4: 24=12; K 6: 22=11; K 7: 22=11; K 1: 17=9; K 3: 14=7; M 3: 14=7; K 9: 13=7; M 11: 7=4; M 56: 7=4.

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Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

Die Herstellung von ›situiertem Wissen‹476 durch die Auswahl der ausgewerteten Tagebücher Der Fokus auf einzelne Schreiber/innen fällt in der Studie »Das Seelenleben des Jugendlichen« bei den insgesamt 15 Mädchen besonders deutlich aus. 39 Prozent (24) aller 61 direkten Bezugnahmen beziehen sich auf die einzelne Diaristin M 4. Insgesamt kommen fünf Schreiberinnen auf 75 Prozent aller konkreten 61 Nennungen: M 4: 24, M 3: 14, M 56: 7, M 11: 7 und M 38: 5. Die weiteren zehn Schreiberinnen wurden jeweils nur ein- oder zweimal genannt bzw. zitiert. In der Aufstellung der fünf meistgenannten Diaristinnen lässt sich auch wieder eine klare soziale und regionale Einordnung feststellen (→ Abschnitt 2.7), wobei hier als Ausnahme auch eine Schreiberin aus Österreich vertreten war. Bei den Burschen kommen fünf Schreiber auf 78 Prozent aller 192 konkreten Nennungen: K 5: 28, K 6: 22, K 7: 22, K 1: 17 und K 9: 13. Die weiteren zehn Schreiber wurden jeweils ein- bis achtmal genannt bzw. zitiert. Geordnet nach Geburtsjahrgängen waren das die folgenden Diarist/innen: Tabelle 9: Die fünf meistgenannten Mädchen in »Das Seelenleben des Jugendlichen« (1929) Signatur Pseudonym M 3 Olga Luhn477 M 38 Lore Arnold

Geb.

Alter

Staat

Beruf des Vaters

Eigener Beruf

1893 1895

13–19 11;5–18;8

D A

Ingenieur Missionar

Schriftstellerin Fürsorgerin

M 4 Irmgard Winter M 11 Agnes Loebe

1898 1898

13;9–16;7 17;0–17;4

D D

Künstler Beamter

Chemikerin Höhere Lehrerin

M 56 Toni Robert

1902

14–24

D

Kaufmann

Höhere Lehrerin

476 Diese Formulierung schließt an das in den 1980er-Jahren von der US-amerikanischen Historikerin Donna Haraway formulierte Konzept des ›situierten Wissens‹ an. Eine der darin enthaltenen Kernaussagen ist, dass auch die Objekte des Wissens eine Position als Akteur/innen bzw. Agent/innen in der wissenschaftlichen Sphäre haben. Donna Haraway: Situated Knowledges: The Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective, in: Feminist Studies, Jg. 14, 1988, Nr. 3, S. 575–599; deutsche Übersetzung: Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive, in: Sabine Hark (Hg.): Dis/Kontinuitäten: Feministische Theorie, Wiesbaden 2007, S. 305–322. 477 Alle Namen sind Pseudonyme.

227

Geschlecht als Analyseperspektive in der Jugendpsychologie

Tabelle 10: Die fünf meistgenannten Burschen in »Das Seelenleben des Jugendlichen« (1929) Signatur Pseudonym K 5 Erhard Kolb K 1 Robert Richter

Geb.

Alter

Staat

Beruf des Vaters

Eigener Beruf

1885 1885

12;3–20;2 16;10–18;11

D D

Gelehrter Handwerker

Gelehrter Höherer Lehrer

K 7 Heinz Ortmann K 6 Ernst Junker

1894 1899

16;0–16;7 13;2–23;5

D D

Beamter Kaufmann

Höherer Lehrer Ingenieur

K 9 Karl Schulz

1904

16;11 18;2

D

Werkmeister

Lehrer

Die Geburtsjahrgänge der vielgenannten Burschen erstreckten sich auf fast 20 Jahre, jene der Mädchen auf weniger als zehn. Den niedrigen Zahlen der Signaturen der Tagebücher der Burschen zufolge dürften diese Quellen bereits früh in den Bestand der Sammlung von Charlotte Bühler aufgenommen worden sein. 1923 gab sie ja an, seit 1921 neun Tagebücher von Burschen erhalten zu haben.478 Die Signaturen der meistgenannten Schreiber bewegen sich zwischen den Ziffern 1 und 9. Damit unterscheiden sich die vielzitierten Tagebuchbestände der Burschen von jenen der Mädchen. Während Bühler den zwar weiterhin anwachsenden Bestand von Burschentagebüchern inhaltlich offenbar nicht mehr tiefergehend bearbeitet hat, ist bei den Mädchen mit M 56 Toni Robert auch eine viel später übernommene Quelle ausgewertet worden. M 1 oder M 2, die vermutlich in der Erstauflage von »Das Seelenleben des Jugendlichen« von 1921 ausgewertet wurden, sind im Verzeichnis von 1934 wiederum gar nicht mehr enthalten (→ Abschnitt 2.4, Tabelle 2). Die Bezugnahmen auf diese beiden Tagebücher wurden in den weiteren Ausgaben also weggelassen oder ersetzt.

Die Herstellung von ›situiertem Wissen‹ durch die Auswahl der edierten Tagebücher Charlotte Bühlers Schwerpunktsetzung auf einzelne Schreiber/innen wird noch unterstrichen, wenn auch die von ihr veröffentlichten Tagebucheditionen mit in den Blick genommen werden. Dabei zeigt sich, dass sie von den in »Das Seelenleben des Jugendlichen« meistgenannten zehn Aufzeichnungen fünf auch als Editionen publiziert hat. Das Tagebuch von M 4 wurde 1922 als »Tagebuch eines jungen Mädchens« und 1927 als Teil von »Zwei Mädchentagebücher« gleich zweimal als Edition herausgebraucht. Die Tagebücher von K 5 und K 7 sind der Inhalt der Edition »Zwei Knabentagebücher« aus dem Jahr 1925, jene von M 3 und M 56 von »Jugendtagebuch und Lebenslauf« aus 1932. Insbesondere M 4 478 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 1923², S. VII.

228

Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

Irmgard Winter war eine in den Arbeiten von Charlotte Bühler ständig auftretende Protagonistin. Zu ihr sind auch die meisten persönlichen Informationen erhalten. Wir lernen sie als 1898 in einer deutschen Großstadt geborene Tochter eines Künstlers kennen, ihr eigener Beruf war Chemikerin. Sogar der Kontext der Übergabe ihrer Aufzeichnungen ist bekannt (→ Abschnitt 2.6), was sie von allen anderen dokumentierten Schreiber/innen abhebt. Die erste Veröffentlichung von M 4 Irmgard Winters Tagebuch war von Bühler ja als »Gegenstück« zur Publikation »Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens« von Hermine Hug-Hellmuth bezeichnet worden.479 Dass ausgerechnet dieses Tagebuch 1927 ein zweites Mal aufgelegt wurde, ist nicht unmittelbar nachvollziehbar, zumal Bühler im Vorwort angab, inzwischen 54 Tagebücher gesammelt zu haben. (Die zweite Edition ist erweitert um die Aufzeichnungen von M 20 Käte Hermann. Sie war 1903 ebenfalls in einer deutschen Großstadt geboren worden, ihr Vater war Beamter.) Im Authentizitätsstreit um das 1919 von Hermine Hug-Hellmuth herausgegebene Tagebuch hatte Bühler 1921 an die Adresse von Sigmund Freud gerichtet geschrieben, diese Aufzeichnungen würden »zwar merkwürdig gut zu seinen Ideen, aber nur schlecht zu meiner Kenntnis des n o r m a l e n Mädchens in der Entwicklung« passen. Sie würde diese Quelle daher »mit etwas Vorsicht« verwenden.480 Der Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld drehte diese Formulierung 1927 um und wies spitz darauf hin, dass die Auswahl von Quellen wohl immer einer konkreten Absicht folgen würde: »Solche Vorsicht steht der Forscherin gut; sie sollte sie freilich auch dort anwenden, wo es sich um Tagebücher junger Mädchen handelt, deren Inhalt merkwürdig gut zu ihren Theorien und schlecht zu den Erfahrungen anderer Forscher paßt.«481 Der ›Sturm im Wasserglas‹ der jugendpsychologischen Tagebuchforschung hatte also einen durchaus langen Atem, für diesen Konter hatte Bernfeld immerhin sechs Jahre verstreichen lassen. Offenbar ›passte‹ das Tagebuch von M 4 Irmgard Winter aber auch im Jahr des polemischen Kommentars von Bernfeld weiterhin noch derart gut für Charlotte Bühler, dass sie es nun ein zweites Mal im Volltext herausbrachte. Wie die beiden Zitate belegen, wurde die mögliche Situiertheit von herangezogenen bzw. generierten Quellen auch reflektiert – wenn auch immer nur in Bezug auf die von anderen zeitgenössischen Forscher/innen verwendete Auswahl. Im Laufe dieses Kapitels wurden bereits zahlreiche Tagebucheditionen genannt, die in der Zwischenkriegszeit von Jugendpsycholog/innen herausgegeben worden sind. Die Veröffentlichungen von Charlotte Bühler haben sich dabei in einem Punkt wesentlich von denen ihrer Kolleg/innen unterschieden. Während diese sich 479 Bühler: Tagebuch eines jungen Mädchens, 19221, S. V. 480 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen 1923², S. VI [Hervorhebung im Original]. 481 Bernfeld: Die heutige Psychologie der Pubertät, 1927 (20102), S. 37f.; dazu auch Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 168.

Geschlecht als Analyseperspektive in der Jugendpsychologie

229

dabei jeweils auf Auszüge beschränkten, gab Bühler die meisten der Texte (so gut wie) als Ganzes heraus (→ Abschnitt 2.5). Eine Begründung dafür formulierte sie 1929: »Mir scheint der Hauptwert und Sinn dieser Veröffentlichungen darin zu bestehen, daß dem Leser der Gesamteindruck eines solchen Tagebuchs und der darin dargestellten Entwicklung vermittelt und daß anderen Forschern eine Quelle zu weiterer Bearbeitung erschlossen wird.«482 Die »anderen Forscher[…]« haben die mittels Edition verfügbar gemachten Quellen »zu weiterer Bearbeitung« schließlich auch tatsächlich rege genützt: Das Tagebuch von M 4 Irmgard Winter wurde u. a. von Eduard Spranger, von Alfred Busemann und von Siegfried Bernfeld ausgewertet, um nur drei der bisher schon mehrfach zitierten Studien zu nennen.483 Fritz Giese hatte 1914 über die Geschwister Hilde, Günther und Eva Stern angemerkt, sie seien durch die Publikationen ihrer Eltern »in der Psychologie fast historische Größen geworden«484 (→ Abschnitt 2.2). In Bezug auf die ›Karriere‹, die das Tagebuch von M 4 Irmgard Winter in der jugendpsychologischen Forschung einschlug, kann auch sie als eine ›in der Psychologie fast historische Größe‹ bezeichnet werden – wenn auch eine, deren Identität anonym blieb. Eine ähnliche Laufbahn hatten im Übrigen auch einige der Quellen aus der Edition von Fritz Giese aus 1914. Die hier veröffentlichten Tagebuchauszüge bzw. Gedichte kommen bei Eduard Spranger genauso vor wie bei Charlotte Bühler. Beide haben des Weiteren u. a. Quellen aus der Edition von Oskar Kupky von 1924485 oder das von William Stern unter dem Titel »Anfänge der Reifezeit« 1925 veröffentlichte Tagebuch verwendet.486 Auch Hilde Stern und »Bubi« Scupin begegnen den Leser/innen immer wieder, auch namentlich487 (→ Abschnitt 1.5 und 1.6). Von den eigentlich gar nicht zu wissenschaftlichen Zwecken veröffentlichten Selbstzeugnissen wurden u. a. die Tagebücher von Marie Bashkirtseff oder die Aufzeichnungen von Otto Braun in jugendpsychologischen Studien besonders häufig zitiert (→ Abschnitt 2.2). Diese Zusammenschau einzelner Beispiele lässt in ihrer Kürze noch keine Systematik erkennen. Sie gibt aber einen plastischen Eindruck von dem ›Quellen-Karussell‹, das sich in der frühen Tagebuchforschung offenbar munter drehte und in dem sich dasselbe Material immer wieder neu zitiert findet. Eine systematische Auswertung dieser Mehrfachnutzungen könnte eine lohnende weiterführende Fragestellung sein. Um 482 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen 19295, S. VI (Vorwort zur 4. Auflage von 1927). 483 Dazu u. a. Busemann: Die Sprache der Jugend, 1925, S. 42–45; Bernfeld: Trieb und Tradition im Jugendalter, 1931 (2015), S. 100–105; Spranger: Psychologie des Jugendalters, 193517, S. 183. 484 Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, Bd. 1, 1914, S. 13. 485 Kupky: Tagebücher von Jugendlichen als Quellen zur Psychologie der Reifezeit, 1924. 486 Dazu u. a. Bühler: Die Schwärmerei als Phase der Reifezeit, 1926; Spranger: Psychologie des Jugendalters, 193517, S. 150, S. 310, S. 330; Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19676, S. 90, S. 117–120, S. 134, S. 178. 487 U. a. in Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19676, S. 108f.

230

Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

aber wieder auf die analytische Kategorie Geschlecht in der jugendpsychologischen Tagebuchforschung zurückzukommen: Inwiefern spielte diese auch bei den Quelleneditionen von Charlotte Bühler eine Rolle?

Editionen von Tagebüchern von Mädchen und Burschen Während in der Studie »Das Seelenleben der Jugendlichen« Burschen durch deutlich mehr Bezugnahmen gewissermaßen eine ›lautere Stimme‹ erhalten hatten, verhält es sich in der von Charlotte Bühler herausgegebenen Reihe »Quellen und Studien zur Jugendkunde« genau umgekehrt. Obwohl der gesamte Quellenbestand ihrer Sammlung wohl in etwa gleich viele Tagebücher von Mädchen wie von Burschen enthalten hat, veröffentlichte Bühler in dieser Reihe bei weitem mehr Schreiberinnen (14) als Schreiber (zwei). Die Editionen wurden in den folgenden Bänden publiziert: Tabellen 11 bis 16: Schreiber/innen von edierten Tagebüchern der Reihe »Quellen und Studien zur Jugendkunde« (1922–1933) Edition in »Tagebuch eines jungen Mädchens«, Heft 1, 1922; Signatur Pseudonym M 4 Irmgard Winter488

Geb.

Alter

Staat

Beruf des Vaters Eigener Beruf

1898

13;9– 16;7

D

Künstler

Chemikerin

Editionen in »Zwei Knabentagebücher«, Heft 3, 1925; Signatur Pseudonym K 1 Robert Richter

Geb.

Alter

Staat

Beruf des Vaters Eigener Beruf

1885

16;10– 18;11

D

Handwerker

Höherer Lehrer

K 5 Erhard Kolb

1885

12;3– 20;2

D

Gelehrter

Gelehrter

Editionen in »Zwei Mädchentagebücher«, Heft 12, 1927; Signatur Pseudonym M 4 Irmgard Winter

Geb.

Alter

Staat

Beruf des Vaters Eigener Beruf

1898

D

Künstler

Chemikerin

M 20 Käte Hermann

1903

13;9– 16;7 16;2– 20;5

D

Beamter

»keiner«

488 Alle Namen sind Pseudonyme.

231

Geschlecht als Analyseperspektive in der Jugendpsychologie

Editionen in »Jugendtagebuch und Lebenslauf«, Heft 9, 1932; Signatur Pseudonym M 3 Olga Luhn M 16 Hildegard Köhler

Geb.

Alter

Staat

Beruf des Vaters Eigener Beruf

1893 1899

13–19 11;11– 20;11

D D

Ingenieur Kaufmann

Schriftstellerin Ärztin

Editionen in »Drei Generationen im Jugendtagebuch«, Heft 11, 1934; Signatur Pseudonym M 56 Toni Robert M 57 Marie Karbe

Geb.

Alter

Staat

Beruf des Vaters Eigener Beruf

1902 1873

14–24 17;0– 20;6

D D

Kaufmann Kaufmann

Höhere Lehrerin Gesellschafterin

M 87 Renate Körbel M 103 Ruth Brown

1910 1910

15;9–19 14;11– 15;11

A USA

Ingenieur Bankier

Studentin Studentin

Edition in »Aus dem Seelenleben verwahrloster Mädchen auf Grund ihrer Tagebuchaufzeichnungen (hg. von Annelies Argelander und Ilse Weitsch), Heft 10, 1933;489 Signatur Pseudonym Klara Sender

Geb.

Alter

Staat

Beruf des Vaters Eigener Beruf

1906

19;1– 19;6

D

Fabrikstischler

Dienstmädchen

Ilse Giebel

1906

D

Tischler

Dienstmädchen

Gertrud Mathy

1905

19;2– 19;3 20;2– 20;5

D

Pferdehändler

Dienstmagd

Else Berger

1908

D

Schmied

Lina Keller

1907

17;0– 18;6 19;3

D

Steinarbeiter

Krawattennäherin Kontoristin

Elly Schilling

1907

19;6– 20;9

D

Kaufmann

Geschäftsmädchen, Arbeiterin und Dienstmädchen

489 Diese Quellen waren nicht Teil der Sammlung am Psychologischen Institut in Wien (→ Abschnitt 2.7).

232

Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

Die Normierung der Quelle Tagebuch durch Veröffentlichungen Durch diese einseitige Auswahl der Quelleneditionen wurde jedenfalls der Eindruck re/produziert, Tagebuchschreiben sei eher ›typisch‹ für Mädchen als für Burschen. Auch wurden nur Tagebuchquellen ediert – wiewohl in der Sammlung ja auch andere auto/biografische Formate wie Korrespondenzen oder auch lyrische Texte vorhanden gewesen sind (→ Abschnitt 2.4). Dadurch wurden die Jugendtagebücher gegenüber allen anderen auto/biografischen Formaten klar hervorgehoben. Sie wurden stärker in das forschende Bewusstsein gerückt und für weitere Auswertungen leicht zugänglich gemacht. Durch die exklusive Aufmerksamkeit, die Charlotte Bühler dem Genre Tagebuch hier angedeihen ließ, wurden zumindest einzelne Aufzeichnungen in Form ihrer Editionen langfristig gesichert. Somit wurden sie auch als wissenschaftliche Quelle langfristig privilegiert. Auf der Grundlage der editierten Beispiele fand nicht zuletzt ein normierender Zuschnitt der Vorstellung statt, wie Tagebücher beschaffen wären. Charlotte Bühler argumentierte die getroffene Auswahl damit, dass die jeweiligen Aufzeichnungen eben besonders repräsentativ seien. Auf diese Weise wurde auch ein allgemeines Bild davon festgeschrieben, wie Tagebücher von Jugendlichen gestaltet wären, welche Themen sie enthielten, welche nicht etc. Um nur zwei Aspekte zu nennen: Alle von Bühler veröffentlichten Texte sind in erzählendem Stil und in vollständigen Sätzen verfasst. Die inhaltlichen Schwerpunkte liegen in allen Fällen auf zwischenmenschlichen Angelegenheiten. Andere Formen wie etwa bilanzierende Auflistungen oder Texte, die aus Stichworten bestehen, sind nicht vertreten.490 Charlotte Bühler hatte an einer Stelle formuliert, sie wolle mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit eine »Gelegenheit zur Kenntnisnahme normaler Entwicklung« bieten.491 M 4 Irmgard Winter wurde anderorts als » normale[s] Mädchen[…]« klassifiziert.492 Mit den Editionen bot Bühler nun auch eine nachhaltige Idee von ›normalen‹ Tagebüchern. Durch die wiederholten Zitie490 Die mögliche Formen- und auch Inhaltsvielfalt von diaristischen Aufzeichnungen – auch von Jugendlichen – wurde in kulturwissenschaftlichen Arbeiten inzwischen mehrfach dargestellt. Dazu u. a. Christiane Holm: Montag Ich. Dienstag Ich. Mittwoch Ich. Versuch einer Phänomenologie des Diaristischen, in: Helmut Gold, Christiane Holm, Eva Bös und Tine Nowak (Hg.): @bsolut privat!? Vom Tagebuch zum Weblog, Heidelberg 2008, S. 10–50; Li Gerhalter: Materialitäten des Diaristischen. Erscheinungsformen von Tagebüchern von Mädchen und Frauen im 20. Jahrhundert, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, Jg. 24, 2013, Heft 2, S. 53–71. Zeitgenössisch hat sich vor allem Siegfried Bernfeld damit beschäftigt. Seine Publikation »Trieb und Tradition im Jugendalter« (1931) enthält neben Darstellungen der Genres »Die Autobiographie« und »Der Brief« u. a. die Kapitel »Sünden- und Tugendregister. Bilanzen«, »Die Auswahl« sowie »Ein mißglücktes Tagebuch«. 491 Bühler: Tagebuch eines jungen Mädchens, 1922, S. IV. 492 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen 1923², S. VI.

Die Materialität der Tagebuchsammlungen – und ihr Verschwinden

233

rungen der Editionen in wissenschaftlichen Studien auch anderer Autor/innen wurde dieses normierende Wissen schlussendlich spiralförmig weiter reproduziert und auch gestreut. Diese Feststellungen werden hier ohne Wertung gemacht. Schließlich ist Forschung immer situiert, und dass Quellen wiederholt zitiert und ausgewertet werden, hat mitunter schlichtweg pragmatische Gründe. Auswahlen müssen getroffen werden. Editionen sind aufwändig und wissenschaftliche Fragestellungen ändern sich. Archivbestände sind demgegenüber langfristig angelegt. Die hier verfügbar gemachten Materialien können Revisionen unterzogen und nach neuen Interessenslagen auch immer wieder neu befragt werden. Die Absicht der Langzeitarchivierung ist das Kernpotential von Sammlungen und Archiven. Die Voraussetzung dafür ist freilich, dass die Bestände auch tatsächlich langfristig erhalten bleiben und gesichert sind. Durch die politischen Ereignisse im 20. Jahrhundert gingen nicht zuletzt zahlreiche Archive und Sammlungen verloren. Besonders von den Nationalsozialist/innen wurden hier riesige Lücken gerissen. In diesem Zusammenhang genannt wurden in dieser Studie bereits die Quellensammlung der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle in Wien (→ Abschnitt 2.4) und der erste Bestand des 1922 gegründeten Reichsarchivs der deutschen Jugendbewegung (→ Abschnitt 2.2). Beide wurden von den NS-Behörden beschlagnahmt und sind seither verschollen.493 Was ist über den Verbleib der Wiener Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler bekannt? Und wo befindet sich das Archiv für Jugendkultur von Siegfried Bernfeld heute?

2.9) Die Materialität der Tagebuchsammlungen – und ihr Verschwinden Der mögliche Verbleib der Tagebuchsammlung des Forschungsteams von Charlotte Bühler ist bisher nicht geklärt. Im Jahr 2010 habe ich unter dem Titel »Zwei Quellenfunde, k/ein Archiv« einen ersten Beitrag dazu publiziert.494 In diesem Aufsatz konnte ich erstmals von einem unerwarteten Quellenfund berichten: Im Zuge der Recherchen für mein Dissertationsprojekt wurde ich von 493 Als ein weiteres Beispiel unter vielen siehe u. a. die Selbstdokumentationen der verschiedenen Ligen für Menschenrechte, die teilweise ebenfalls seit dem Zweiten Weltkrieg verschollen sind. Zum österreichischen Beispiel Christopher Treiblmayr: The Austrian League for Human Rights and its International Relations (1926–1938), in: Wolfgang Schmale und Christopher Treiblmayr (Hg.): Human Rights Leagues in Europe (1898–2016), Stuttgart 2017, S. 223–256. 494 Li Gerhalter: Zwei Quellenfunde, k/ein Archiv. Die Tagebuchsammlung des Wiener Forschungsteams von Charlotte Bühler, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit, Jg. 10, 2010, Heft 2, S. 53–72.

234

Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

Michaela Zemanek, der Leiterin der Fachbereichsbibliothek Psychologie der Universität Wien, auf fünf gebundene Typoskripte aufmerksam gemacht.495 Diese Bände waren vor einiger Zeit am Institut für Psychologie aufgetaucht. Sie sind im Format DIN A4 und enthalten maschingeschriebene Abschriften von auto/biografischen Aufzeichnungen Jugendlicher. Durch einen Abgleich mit der Bestandstabelle aus 1934 konnten sie als ein kleiner Teil der verschwundenen Wiener Tagebuchsammlung identifiziert werden. Anhand dieser wiedergefundenen Bände können Aussagen zur Beschaffenheit von dem gesamten Bestand getroffen werden, welche weiter unten ausführlich dargestellt sind. Zuerst wird aber noch der Frage nachgegangen, was mit dem Archiv von Siegfried Bernfeld geschehen ist. Um es gleich vorweg zu nehmen: Nach allen bisherigen Recherchen sind auch diese Quellen seit der NS-Zeit verschwunden. Wie das Exil des Sammlers Bernfeld hatte auch das Exil des Materials des Archivs für Jugendkultur mehrere Stationen. Daher ist die Suche nach den einzelnen Puzzlesteinen in diesem Fall besonders schwierig. Es ist belegt, dass Siegfried Bernfeld im Zuge seiner Emigration auch die Übersiedelung seiner Forschungsunterlagen an verschiedene Adressen organisiert hat. Wo das Material des Archivs für Jugendkultur schlussendlich hingekommen und vielleicht auch verblieben sein könnte, ist derzeit allerdings nicht bekannt. Damit ist ein weiterer nicht reparierbarer Bruch aufgedeckt, den das NS-Regime in der Wissenschaft angerichtet und hinterlassen hat. Was wissen wir aber bis jetzt?

Das Archiv für Jugendkultur von Siegfried Bernfeld bis 1934 Wie geschildert wurde, lassen sich zum genauen Umfang des Bestandes des Archivs für Jugendkultur keine exakten Aussagen treffen (→ Abschnitt 2.2). Anhand von Angaben in den verschiedenen Publikationen von Siegfried Bernfeld ist aber immerhin eine grobe Einschätzung möglich. 1916 nannte Bernfeld eine Sammlung von 300 Schüler/innenzeitungen.496 1924 gab er an: »Meine eigenen Sammlungen haben derzeit einen Umfang von etwa 60.000 Nummern.«497 1931 zitierte er aus 25 Tagebuch- und Briefbeständen498. Der Bestand dürfte also durchwegs umfangreich gewesen sein. Seine Spuren verlaufen sich – wahr495 Danke im Besonderen an Michaela Zemanek. Sie hat mir den Zugang zu den Quellen ermöglicht und in unseren zahlreichen Diskussionen wesentliche Informationen aus ihren eigenen Nachforschungen dazu weitergegeben. 496 Dudek: Fetisch Jugend, 2002, S. 155. 497 Bernfeld: Die psychologische Literatur über das dichterische Schaffen der Jugendlichen, 1924 (2014), S. 10f. 498 Bernfeld: Trieb und Tradition im Jugendalter, 1931 (2015), S. 213.

Die Materialität der Tagebuchsammlungen – und ihr Verschwinden

235

scheinlich – im Baltikum. Die mehrfach gebrochene Berufsbiografie von Siegfried Bernfeld wurde vorne schon kurz umrissen (→ Abschnitt 2.6). Er war 1932 von Berlin nach Wien zurückgekommen. Von hier ging er 1934 mit seiner Familie nach Frankreich. 1937 emigrierte er gemeinsam mit der Psychoanalytikerin Suzanne Aimée Paret (geb. Cassirer, 1896–1963), seiner dritten Ehefrau, in die USA. Hier haben die beiden in den folgenden Jahren u. a. zusammen biografische Darstellungen von Sigmund Freud erarbeitet.499 Bereits 1933 hatte Bernfeld die Verwahrung des Archivs für Jugendkultur im Yidisher visnshaftlekher institut (YIVO) vereinbart.500 Das YIVO befand sich zu der Zeit in Vilnius/Wilna/Wilno (zu der Zeit in Polen, heute in Litauen). Die Gründung einer Institution »für ostjüdische und jiddische Kultur und Wirtschaft« war 1925 von einer Gruppe Intellektueller in Berlin beschlossen worden. Geleitet wurde sie von Beginn an von dem Philologen Max Weinreich (1894– 1969).501 Weinreich schrieb im Dezember 1933 von Vilnius aus an Bernfeld: »Nach Abschluss unserer diesbezüglichen Besprechungen will ich Ihnen nochmals für Ihre Bereitwilligkeit danken, bedeutende Teile Ihres Jüdischen Jugendarchivs dem Jiddischen Wissenschaftlichen Institut zu überlassen. Ihr Entschluss ist uns um so mehr willkommen, als wir gerade dabei sind, eine weitangelegte jüdische Jugendforschung in die Wege zu leiten und mit Recht hoffen dürfen, in Ihren Sammlungen viel wertvolles Material zu finden.«502 Dieser Brief ist ein Beleg dafür, dass Bernfeld zumindest plante, einen Teil des Bestandes nach Polen zu transferieren. Ob auch die verschiedenen auto/biografischen Formate aus der Sammlung mit auf diese Reise gingen, ist offen. Bekannt sind aber die weiteren politischen Ereignisse: 1940 marschierte die sowjetische Armee in Vilnius ein. Der Sitz des YIVO wurde nach New York verlegt, wohin auch Max Weinreich emigrieren konnte. 1941 wurde das Baltikum durch die Deutsche Armee besetzt und das YIVO von Nationalsozialisten geplündert. Was genau Weinreich zuvor mit in das Exil retten konnte, ist bisher nicht systematisch erhoben worden. Im aktuellen Bestand des YIVO in New York befinden sich jedenfalls neun Boxen mit Material, das als »Papers of Siegfried

499 Siegfried Bernfeld: Studien zu Leben und Werk von Sigmund Freud, in: Christfried Tögel (Hg.): Siegfried Bernfeld (Sämtliche Werke, Bd. 12), Gießen 2017. 500 John Bunzl: Siegfried Bernfeld und der Zionismus, in: Fallend und Reichmayr: Siegfried Bernfeld oder die Grenzen der Psychoanalyse, 1992, S. 73–85, S. 83f.; Herrmann: Editionsbericht, 1994, S. 478–480. 501 Elisabeth Gallas: »Das Leichenhaus der Bücher.« Kulturrestitution und jüdisches Geschichtsdenken nach 1945, Göttingen 2013; Cecile Esther Kuznitz: YIVO and the Making of Modern Jewish Culture: Scholarship for the Yiddish Nation, Cambridge 2014. Siehe dazu auch Angaben auf der Website (o. J.) unter: www.yivo.org/Early-Years. 502 Brief von Max Weinreich an Siegfried Bernfeld, 1. Dezember 1933, zitiert nach Bunzl: Siegfried Bernfeld und der Zionismus, 1992, S. 84 (Faksimile).

236

Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

Bernfeld« betitelt ist.503 Eine teilweise maschin- und teilweise handschriftlich verfasste Liste, die mir als Kopie vorliegt, gibt den Eindruck, dass es sich dabei vor allem um Dokumentationen der verschiedenen zionistischen und jugendbewegten Organisationen handelt, nicht aber um den Bestand des Archivs für Jugendkultur. Was davon wann und wo verloren gegangen sein könnte, kann auf der Grundlage des Bestandes in New York also nicht beantwortet werden. Ulrich Herrmann und Karl Fallend haben sich beide jeweils ausführlich mit Siegfried Bernfeld auseinandergesetzt. Auch sie konnten bisher keine Quellen aus dem Wiener Archiv für Jugendkultur im aktuellen Bestand des YIVO in New York finden.504 Eine auf der Liste der »Papers of Siegfried Bernfeld« festgehaltene Erklärung gibt aber einen wichtigen Hinweis über den weiten Weg der Materialien von Vilnius nach New York. »His papers were part of the YIVO Vilno Archives which were taken from Vilno to Germany in 1942 and recovered by YIVO, New York in 1950.«505 Im deutschsprachigen Eintrag zu YIVO auf dem Wissensportal Wikipedia findet sich schließlich der Vermerk, dass in den 1990erJahren noch ein weiterer Transfer von bis dahin in Vilnius verstecktem Material nach New York stattgefunden habe.506 Die Suche nach Puzzlesteinen des Archivs für Jugendkultur ist zusätzlich verkompliziert, weil der Nachlass von Siegfried Bernfeld an mehreren Stellen verwahrt wird: Neben der Library of Congress in Washington DC liegen Materialien u. a. in der Hoover Institution an der Stanford University. In den »Siegfried Bernfeld Papers« in Washington DC sind keine Archivalien verzeichnet, die auf das Archiv für Jugendkultur hindeuten würden.507 Ulrich Herrmann konnte hingegen in Stanford einzelne Matura-/Abiturzeitungen ausfindig machen, die diesem Bestand zuordenbar sind. Diese Zeitungen waren in der niedersächsischen Stadt Hannoversch Münden (seit 1990 Hann. Münden) verfasst worden. Eine schlüssige Erklärung dafür, warum Siegfried Bernfeld ausgerechnet diese Quellen mit in sein Exil genommen hat, gibt es derzeit nicht.508 Gleichzeitig geben diese Einzelfunde aber auch Anlass zur Hoffnung, dass anderswo noch weitere

503 Yidisher visnshaftlekher institut (YIVO), »Papers of Siegfried Bernfeld«, Folder 3888–3960. Danke an Gunnar Berg vom YIVO New York für diese Informationen per E-Mail am 21. März 2017 und das Zur-Verfügung-Stellen der maschin- und handschriftlichen Liste per Postsendung. 504 Danke an Ulrich Herrmann und Karl Fallend für die Auskünfte über ihre jeweiligen Recherchen in den USA per E-Mail, beide am 15. März 2017. 505 YIVO, »Papers of Siegfried Bernfeld«, Folder 3888–3960. 506 Wissensportal Wikipedia (o. J.) unter: https://de.wikipedia.org/wiki/YIVO. 507 Library of Congress: Siegfried Bernfeld Papers. A Finding Aid to the Collection in the Library of Congress, Washington, D.C. 2012, online verfügbar unter: http://rs5.loc.gov/service/ms s/eadxmlmss/eadpdfmss/2013/ms013043.pdf. Danke an Karl Fallend für diesen Hinweis. 508 Danke an Ulrich Herrmann für diesen Hinweis.

Die Materialität der Tagebuchsammlungen – und ihr Verschwinden

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Teile dieser Sammlung erhalten geblieben sein könnten. Sie aufzuspüren, wäre der Auftrag für weitere Nachforschungen.

Die Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler und ihrer Forschungsgruppe bis 1938 Im März 1938 befand sich Charlotte Bühler wie erwähnt gerade auf einer Auslandsreise. Karl Bühler wurde festgenommen und für mehrere Wochen in einem Wiener Gefängnis eingesperrt. Nach der Freilassung konnte er seiner Ehefrau nach Norwegen folgen (→ Abschnitt 2.4). Auch ihren beiden Kindern Ingeborg und Rolf-Dietrich Bühler gelang die Flucht. Zuvor war Karl Bühler noch von den Nationalsozialist/innen gezwungen worden, den Familienhaushalt in Wien aufzulösen und auch die etwa 3.000 Bände umfassende Privatbibliothek zu verkaufen. Ihr Weg konnte später nachvollzogen werden: Teile davon wurden vom Psychologischen Institut und anderen Bibliotheken übernommen,509 andere gelangten in den Antiquariatshandel.510 Was mit der Tagebuchsammlung geschehen sein könnte, ist eine Informationsleerstelle. In der Forschungsliteratur finden sich keine nachweisbaren Aussagen. Ich hatte stattdessen die Gelegenheit, eine Zeitzeugin befragen zu können und auch die Meinung mehrerer Expert/innen einzuholen.511 Aber auch das konnte bisher keine expliziten Hinweise zu Tage fördern. Die Spuren verlaufen sich und so müssen alle Erklärungsversuche bis auf Weiteres Vermutungen bleiben. Die Zeitzeugin Alieda Ungar (geb. Korzinek) war seit Dezember 1942 als wissenschaftliche Hilfskraft und Bibliothekarin am Wiener Psychologischen Institut angestellt und dabei u. a. mit der Neuordnung der Fachbibliothek beschäftigt. Wie sie mir im Rahmen eines Telefoninterviews berichtet hat, ist ihr dabei keine Sammlung von Tagebuchmanuskripten aufgefallen. Zumindest ist ihr nichts Derartiges in Erinnerung geblieben. Tagebuchforschung war jedenfalls kein Thema mehr am Institut, als sie hier studierte.512 Von den 21 zwischen März 1938 und Juni 1945 angenommenen Dissertationen trug nur eine einzige das 509 Die Geschichte der Provenienzen in Bibliotheken der Universität Wien wurde in Projekten wissenschaftlich aufgearbeitet. Monika Löscher: Provenienzforschung an der Universitätsbibliothek Wien – der dezentrale Bereich, in: Stefan Alker, Christina Köstner und Markus Stumpf (Hg.): Bibliotheken in der NS-Zeit. Provenienzforschung und Bibliotheksgeschichte, Göttingen 2008, S. 257–271, S. 269–271. Die Tagebuchsammlung war nicht Gegenstand dieser Erhebung. 510 Markus Stumpf, Leiter der Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte der Universität Wien, Auskunft per E-Mail am 26. Juni 2010. 511 Danke an Alieda Ungar, Markus Stumpf, Ingrid Ramirer und Michaela Zemanek für das Teilen von ihrem Wissen. 512 Alieda Ungar: Telefoninterview mit Li Gerhalter am 30. Juni 2010.

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Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

Thema Tagebücher im Titel. Eingereicht wurde diese Arbeit am 18. Mai 1938, sie war also noch unter der Betreuung von Karl und/oder Charlotte Bühler verfasst worden.513 Abgenommen wurde sie von Robert Reininger und Otto Tumlirz (Ota Tumlírˇ). Das aus Graz geholte Parteimitglied Tumlirz war der erste Supplent an diesem Lehrstuhl nach Karl Bühlers Rauswurf aus der Universität Wien (→ Abschnitt 2.1).514 Wo aber könnte der Tagebuchbestand inzwischen hingekommen sein? Befand er sich an einem anderen Platz im Institut, wurde er privat übernommen oder ist er an eine andere Bibliothek übergeben worden? Wurde er zerstört und wenn ja, wo und wann? Zu dieser Frage gibt es in der Forschungsliteratur verschiedene Einschätzungen: Gerald Bühring und Ilse Korotin geben an, die Sammlung sei bei einem Brand der Universitätsbibliothek Wien »verloren« gegangen.515 Nach Helmut Fend ist sie »am Ende des Zweiten Weltkrieges« in der Österreichischen Nationalbibliothek »verbrannt«.516 Diese Vermutungen können jedoch jeweils nicht belegt werden. Ein Transfer des Materials in die Universitätsbibliothek Wien ist nach Einschätzung von Ingrid Ramirer, die hier aktuell u. a. das Archiv betreut, aber unwahrscheinlich.517 Die fünf wieder aufgetauchten Bände weisen ihrerseits zum Teil grobe Beschädigungen auf, die durch eingelagerte Ziegelsplitter als Bombenschäden ausgemacht werden könnten. Solche Beschädigungen hätten die Bücher sowohl im Psychologischen Institut in der Liebiggasse als auch in der Universitätsbibliothek Wien im Gebäude am Universitätsring davontragen können. Beide Adressen wurden während dem Zweiten Weltkrieg bei Bombardements getroffen.518 Die fünf Bücher hätten aber auch an einem ganz anderen Ort lädiert worden sein können. In jedem Fall gelangten sie auf nicht bekannte Weise und zu einem nicht bekannten Zeitpunkt aus dem Institutsgebäude. Und sie wurden Jahrzehnte später wieder dorthin zurückgebracht.

513 Karl Loebel: Das Jugendtagebuch als psychologische Forschungsquelle. Ein Beitrag zur Psychologie des Jugendtagebuches, Dissertation, Wien 1938. Diese Information wurde von Michaela Zemanek recherchiert. 514 Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 18. 515 Bühring: Charlotte Bühler oder Der Lebenslauf als psychologisches Problem, 2007, S. 71; Ilse Korotin: Charlotte Bühler (1893–1974), 1993, S. 25. 516 Fend: Entwicklungspsychologie des Jugendalters, S. 44. 517 Ingrid Ramirer, Universitätsbibliothek Wien: Auskunft per E-Mail am 6. Juli 2010. 518 Das Institutsgebäude in der Liebiggasse wurde am 21. Februar 1945 von Fliegerbomben getroffen. Gerhard Benetka und Werner Kienreich: Der Einmarsch in die akademische Seelenlehre, in: Gernot Heiß, Siegfried Mattl, Sebastian Meissl, Edith Saurer und Karl Stuhlpfarrer (Hg.): Willfährige Wissenschaft. Die Universität 1938–1945, Wien 1989, S. 115– 132, S. 124. Zu den Bombenschäden am Universitätshauptgebäude siehe: Walter Pongratz: Geschichte der Universitätsbibliothek Wien, Wien/Köln/Weimar 1977, S. 141.

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Die Materialität der Tagebuchsammlungen – und ihr Verschwinden

Die fünf wiedergefundenen Bände aus der Tagebuchsammlung Die genauen Umstände der Rückgabe der Bände stellen die bisher letzte Leerstelle in der Geschichte der Tagebuchsammlung der Wiener Forschungsgruppe von Charlotte Bühler dar. Dem Bericht von Michaela Zemanek nach wurden sie 1988 ohne Vorankündigung von einem – der Erzählung nach älteren – Herrn im Sekretariat der Abteilung Entwicklungspsychologie des Instituts für Psychologie der Universität Wien abgegeben. Weitere Informationen einzuholen, wurde in dieser spontanen Situation verabsäumt. Der damalige Institutsmitarbeiter Johannes Stary und Michaela Zemanek konnten die Bände anhand der Inventarliste von 1934 als Teil der ehemaligen Sammlung identifizieren. Seither sind die Bände Teil des Archivs der Fachbibliothek Psychologie und stehen hier wiederum für Forschungszwecke zur Verfügung.519 Geordnet nach Geburtsjahrgängen handelt es sich dabei um folgende Quellen: Tabelle 17: Die wiedergefundenen Quellen der Sammlung von Charlotte Bühler Genre

Geb.

Alter

Tagebuch Tagebuch

Signatur Pseudonym M 88 Fanny Röhl K 9 Karl Schulz

Zeit

1904 1904

16;0–18;8 ab 1920 16;11–18;2 ab ca. 1920/21

Umfang der Abschrift 204 Seiten520 157 Seiten521

Tagebuch Briefe

M 71 Dora Kirchner K 67 Werner Hesse

1906 1906

13;7–17;7 18–20

1918 bis 1926 1922 bis 1927

112 Seiten522 28 Seiten523

Tagebuch

K 90 Christian Held

1910

17–19;11

ab 1927

705 Seiten

Konkret handelt es sich um die Abschriften von vier Tagebüchern und einer Korrespondenz aus der Zeit von 1918 bis zirka 1930. Sie wurden ursprünglich als Quellen für jugendpsychologische Forschungen gesammelt, nun sind sie zu einem historischen Bestand geworden. In ihrem ehemaligen Sinn werden sie wahrscheinlich nicht mehr verwendet, stattdessen könnten sie nun als Quellen 519 Michaela Zemanek, Fachbereichsbibliothek Psychologie der Universität Wien: Interview am 20. Februar 2009. 520 Dieses Tagebuch ist zitiert in: Bühler: Drei Generationen im Jugendtagebuch, 1934, S. 8. Das Pseudonym der Schreiberin ist am maschinschriftlichen Manuskript mit »Fanny Römer« angegeben, in der Liste von 1934 firmiert sie als »Fanny Röhl«. Mehrere Zitate aus dem Tagebuch werden in → Kapitel 4 gebracht. 521 Dieses Tagebuch ist eine der am meisten zitierten Quellen in: Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19676, S. 67, S. 76, S. 122, S. 197, S. 220, S. 225. Als Signatur ist am Band »K IX« angegeben. In allen Publikationen wird aber eine arabische Ziffer verwendet, die ich hier auch übernehme. 522 Dieses Tagebuch ist zitiert in Bühler: Drei Generationen im Jugendtagebuch, 1934, S. 46f. 523 Das Typoskript dieser Briefe ist eingebunden im Band M 71 Dora Kirchner und nicht mit einer eigenen Signatur am Buchrücken ausgewiesen.

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Tagebücher in der Jugendpsychologie ab den 1920er-Jahren

für historische oder kulturwissenschaftliche Auswertungen herangezogen werden. Vor allem aber ist es anhand dieser Bände möglich, neue Informationen über die Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler zu gewinnen: Die Beschaffenheit der Bände kann Auskunft darüber geben, in welcher Form bzw. Materialität sie vorgelegen haben dürften. Die Gestaltung der Abschriften lässt wiederum auf Arbeitsweisen des Forschungsteams von Charlotte Bühler schließen. Ein zwischen den Blättern eines Bandes versteckter Entlehnschein verrät schließlich einiges über Verwendungsmodalitäten des Materials.

Die Materialität der Quellen in der Tagebuchsammlung und ihre editorische Bearbeitung Eine Unbekannte der Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler war bisher, in welcher dinglichen Form die Quellen hier eigentlich vorlagen. Waren es die originalen Handschriften der Jugendlichen? Fertigtagebücher mit Schlössern? Schulhefte oder Kalender, in denen die Diarist/innen ihre Einträge verfasst haben? Oder waren es Abschriften? Der Psychologe Adolf Busemann gab an, dass ihm 1924 für die Recherchen zu seiner Studie »Zur Sprache der Jugend« eine Tagebuchquelle »im Original« zur Verfügung gestellt worden wäre.524 Ob er damit handschriftliche Aufzeichnungen gemeint haben könnte – oder ob er den Begriff »Original« vielleicht als Unterscheidung von »Edition« verwendet hat, bleibt offen. 1927 hatte Bühler in zwei Publikationen geschrieben, der Großteil der gesammelten Quellen sei »in Maschinenschrift vervielfältigt« worden525 (→ Abschnitt 2.4). Bei den fünf wiedergefundenen Beständen handelt es sich jedenfalls jeweils um Typoskripte. Die getippten Abschriften im Format DIN A4 sind einheitlich hart gebundenen. Einheitlich sind auch die Prägungen der Signaturen der Quellen, die jeweils am Buchrücken angebracht sind. Das verwendete Papier ist jedoch unterschiedlich: Bei K 9 Karl Schulz, der Quelle mit der niedrigsten Signatur, wurden die originalen mit Schreibmaschine geschriebenen Seiten gebunden, bei allen anderen Beständen sind es Durchschläge. Das ist ein Hinweis darauf, dass von den einzelnen Selbstzeugnissen jeweils mehrere abgeschriebene Kopien in der Sammlung zur Verfügung gestanden haben dürften. Diese neue Erkenntnis wird durch die oben zitierte Formulierung von Charlotte Bühler zur maschinschriftlichen Vervielfältigung gestützt. Sollten tatsächlich mehrere Exemplare der verschiedenen Signaturen vorhanden gewesen sein, hätte das auch die Möglichkeiten ihrer Benützung vergrößert. Die Frage, ob sich auch originale 524 Busemann: Die Sprache der Jugend, 1925, S. 49. 525 Bühler: Zwei Mädchentagebücher, 1927, S. IV (Vorwort und Einführung zur 2. Auflage); dies.: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19295, S. VI (Vorwort zur 4. Auflage).

Die Materialität der Tagebuchsammlungen – und ihr Verschwinden

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Handschriften der Jugendlichen in der Sammlung befanden, bleibt aber weiterhin offen. In welchem Ausmaß die Typoskripte bearbeitet waren und möglicherweise nicht den originalen Handschriften entsprechen, ist auf der Grundlage der vorhandenen Archivbände ebenfalls nicht zu sagen. Feststellen lässt sich aber, dass die fünf Typoskripte nicht einheitlich gestaltet sind, sondern verschiedene Varianzen aufweisen. Aus dieser Beobachtung lässt sich wiederum eine neue Erkenntnis gewinnen: Offenbar waren mehrere Personen mit dem Abschreiben der handschriftlichen Aufzeichnungen beschäftigt. Und es gab offenbar keine reglementierten Editionsvorgaben. Weder eine dieser Abschriften noch eine der veröffentlichten Tagebucheditionen der Reihe »Quellen und Studien zur Jugendkunde« enthält eine Legende zu den Regeln des Transkripts.526 Auch gibt es keine Beschreibungen des Schriftbildes, der Materialität oder der Schreibunterlage etc.527 Editionstechnische Maßstäbe scheinen für dieses Sammlungsprojekt also keine große Rolle gespielt zu haben. Varianzen zwischen den fünf Bänden sind bei den Anonymisierungen zu erkennen, die in den einzelnen Texten vorgenommen wurden. In der Abschrift des Tagebuchs von K 90 Christian Held wurden Tag, Monat und Schreibort benannt, nicht aber das Jahr. Bei K 9 Karl Schulz wurden die Tages-, Monats- und auch Jahresangaben zuerst offenbar übernommen. Die Jahresangaben wurden dann aber im Nachhinein mit Tinte unkenntlich gemacht und zu Angaben des Alters des Schreibers bei dem jeweiligen Eintrag umgewandelt (z. B. »16;11« → Abschnitt 2.7). Bei M 88 Fanny Röhl finden sich gar keine Datums- oder Ortsangaben, sondern nur die Erwähnung ihres Alters. In der Abschrift ihres Tagebuchs ist im Zusammenhang mit einer direkten Rede der Name »Edith« angegeben. Dieser wurde nachträglich ausgebessert auf »Fanny«, was sich als Spur der Anonymisierung deuten lässt. Für eine inhaltliche Auswertung sind die fehlenden Informationen über die Editionspraktiken und möglichen Eingriffe schwerwiegend. Fanden auch sprachliche Begradigungen statt? Die erhaltenen Typoskripte enthalten jedenfalls keine Rechtschreibfehler und auch keine Hinweise auf Ausstreichungen, Einfügungen oder andere Formen der Umarbei526 Auch die von Charlotte Bühler edierten Tagebuchtexte sind nicht einheitlich gestaltet. So wurden hier etwa unterschiedliche Verschlüsselungen angewendet. 527 Eine Ausnahme ist das Tagebuch von K 90 Christian Held. Dieses hat offenbar Zeichnungen enthalten, die mit Bleistift auch in das Typoskript übertragen wurden. Eine Erklärung zu der Form der Zeichnungen in der Handschrift findet sich nicht. Die Motive dabei waren u. a. Flugzeuge und deren Kunststücke, die K 90 Christian Held auf einer Flugschau (o. D.) beobachtet hat. Sein Kommentar dazu: »Ein Flugtag ist ein Tag des Wartens. Man wartet viel, man wartet lange auf das, was man schon viel Male gesehen hat.« Christian Held (geb. 1910), Tagebuch, Typoskript, S. 196, Archiv der Fachbibliothek Psychologie der Universität Wien (ABP), Manuskript K 90 Christian Held. Eine dieser Abbildungen wurde abgedruckt in Gerhalter: Zwei Quellenfunde, k/ein Archiv, 2010, S. 63.

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tungen, was bei Handschriften jedoch häufig der Fall ist (→ Abschnitte 3.4 und 4.4).528 Umgekehrt finden sich teilweise Spuren der Transkriptionsarbeit wie offensichtliche Tippfehler oder fehlende Wörter, die teilweise von Hand ausgebessert sind, teilweise nicht.529 Einem indirekten Hinweis von Charlotte Bühler zufolge ist zumindest bei den Veröffentlichungen von inhaltlichen Kürzungen auszugehen. Die Angabe lautet: »Keine Erlebnisdimension, die im Tagebuch vorkommt, wurde durch die Streichungen unterschlagen.«530 Das verweist nach meiner Lesart darauf, dass bei den vorgenommenen Kürzungen darauf geachtet wurde, jedes im Text behandelte Thema ( jede »Erlebnisdimension«) auch in der Edition abzubilden. Hinweise darauf, dass bereits beim Abtippen etwas »unterschlagen« worden sein könnte, finden sich in den vorliegenden Typoskripten aber nicht.

Die Frage nach der Autor/innenschaft der Texte in der Tagebuchsammlung Die zwei bekannten Theoretiker Philippe Lejeune und Pierre Bourdieu definierten vor mittlerweile mehreren Jahrzehnten in ihren vielzitierten Arbeiten »Der autobiographische Pakt« (19751)531 bzw. »Die biographische Illusion« (19861)532 die Verwendung des »Eigennamens«, »diese ganz eigentümliche Form des Benennens«,533 als Voraussetzung für das Funktionieren auto/biografischer Texte. Als weiteres authentisches Bezugsmoment in Tagebuchtexten wurden inzwischen mehrfach die Datumsangaben benannt.534 Die Autor/innen der auto/ biografischen Aufzeichnungen in der Sammlung von Charlotte Bühler sind unbekannt, ihre Namen wurden durch Pseudonyme und Nummern ersetzt. Teilweise wurde auch der zeitliche Rahmen aus den Texten entfernt, Datumsangaben gegen Angaben des Alters der Schreiber/innen eingetauscht und die 528 Gerhalter: Materialitäten des Diaristischen. 2013, S. 66. 529 Als Beispiel aus dem Tagebuch von Fanny Röhl: »16;2 […] Am Tage vorher waren nämlich einem Mädchen 35 Mark abhanden gekommen. Auf Grund auffälliger Beobachtungen lenkte sich der Verdacht auf ein Kind, das sich [mit Tinte von Hand ausgestrichen, L. G.] ganz gerne habe. Frl. Koch besprach mit [fehlendes Wort? L. G.] paar Kindern nun den Fall.« Fanny Röhl, Tagebuch, Typoskript, S. 9, ABP, Manuskript M 88 Fanny Röhl. 530 Bühler: Jugendtagebuch und Lebenslauf, 1932, S. 2. 531 Philippe Lejeune: Der Pakt, in: ders. (Hg.): Der autobiographische Pakt, Frankfurt am Main 1994 (Paris 19751), S. 13–54. 532 Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion [11986], in: Bernhard Fetz und Wilhelm Hemecker (Hg.) unter der Mitarbeit von Georg Huemer und Katharina J. Schneider: Theorie der Biographie. Grundlagentexte und Kommentare, Berlin/New York 2011, S. 302–310. 533 Pierre Bourdieu: Die biografische Illusion, 2011, S. 306. 534 Vgl. u. a. Arno Dusini: Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung, München 2005; Philippe Lejeune und Catherine Bogaert: Le journal intime. Histoire et anthologie, Paris 2006, S. 23; Seifert: Tagebuchschreiben als Praxis, 2008, S. 40.

Die Materialität der Tagebuchsammlungen – und ihr Verschwinden

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Orte des Schreibens sind in allen Fällen anonymisiert. Ebenfalls nicht dokumentiert ist schließlich, wer die maschinenschriftlichen Bearbeitungen der handschriftlichen Originaldokumente vorgenommen hat. Alle diese verschiedenen Ebenen der Provenienz der Quellen sind in den Abschriften in den Hintergrund getreten. An die Stelle der Autor/innenschaften der Schreiber/innen, der Legitimation der Sammler/innen und der fachlichen Kenntnisse der Editor/ innen trat die Autorität des Archivs. Diese wurde durch den Namen der Leiterin garantiert, die auch mit ihrer fachlichen Reputation für die Gewährleistung der Authentizität der Texte einstand. Dass jemals Zweifel an der ›Echtheit‹ einer der Quellen aus der Sammlung von Charlotte Bühler geäußert worden wären, wäre vor der Folie der Authentizitätsdiskussion rund um die Veröffentlichung »Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens« von Hermine Hug-Hellmuth (19191) nicht verwunderlich gewesen (→ Abschnitt 1.6). Solche Diskussionen sind aber nicht belegt. In diesem Zusammenhang ist noch einmal zu betonen, dass die Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler nicht primär dazu konzipiert war, um anhand der auto/biografischen Aufzeichnungen die individuellen Lebensgeschichten und -verhältnisse ihrer Verfasser/innen zu dokumentieren. Das sollten dann die Fragen und Anstrengungen der Alltags-, Sozial-, Mikro- und Frauengeschichte im späten 20. Jahrhundert werden (→ Abschnitt 3.2). Die Typoskripte waren Quellen für jugendpsychologische Fragestellungen. Die Schreiber/innen wurden vor allem als Fälle wahrgenommen, aus denen verallgemeinerbare Aussagen abgeleitet werden sollten (→ Abschnitt 2.7). Entsprechend waren die Abschriften vorbereitet und zugerichtet. Diese ehemalige Funktion hat sich inzwischen geändert. Heute sind die wenigen erhaltenen Typoskripte bzw. die edierten Texte vor allem Quellen für Historiker/innen. Wer hat sie aber in den 1920er- und 1930er-Jahren benützt?

Die Orte und die Zugänglichkeit der Tagebuchsammlung Aus den Angaben in Charlotte Bühlers Publikationen ist nicht klar ersichtlich, von wem und zu welchen Konditionen die Quellensammlung eigentlich verwendet werden konnte (→ Abschnitt 2.4). Zu dieser Frage können die wiedergefundenen Bände gleich mehrere neue Indizien liefern. Drei der fünf Typoskripte tragen verschiedene Stempel. Davon lässt sich ableiten, wo die Sammlung bis 1938 aufgestellt gewesen ist. Das Typoskript des Tagebuchs von K 9 Karl Schulz trägt zwei solche Vermerke: Einer lautet auf »Paedagog. Zentralbücherei der Stadt Wien«, der zweite auf »Psychologisches Institut * Wien, I.«. Damit ist belegt, wo die Sammlung aufgestellt war – und dass sie dabei auch einmal den Ort gewechselt hat. Seit seiner Gründung befand sich das Psychologische Institut im

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Gebäude des Ringstraßenpalais Epstein (→ Abschnitt 2.4). Hier war in organisatorischer und räumlicher Nähe auch die von der Stadt Wien 1924 eröffnete Pädagogische Zentralbücherei eingerichtet. Sie zählte damals zu den drei größten Bibliotheken in Wien – und zu den größten Fachbibliotheken im deutschen Sprachraum.535 Wie der erste Stempel in der Signatur »K 9« belegt, war auch die Selbstzeugnissammlung an diesem niederschwellig zugänglichen und international bekannten Ort aufgestellt. 1934 übersiedelte das Psychologische Institut in seine jetzigen Räumlichkeiten in der Liebiggasse 5. Für den Aufbau einer eigenen universitären Bibliothek an der neuen Adresse wurden »offenbar« auch Bücher und Zeitschriften aus den Beständen der städtischen Zentralbücherei in die Liebiggasse mitübersiedelt.536 Und wie die Provenienzspuren auf den Quellenfunden nachweisen hat auch die Tagebuchsammlung diesen Weg genommen. Die Abschriften von M 71 Dora Kirchner und K 90 Christian Held wurden nur mit Rundstempel der Bibliothek des Psychologischen Instituts versehen. Sie sind also erst nach dem Umzug aufgenommen worden. Das belegt wiederum, dass der Bestand auch nach 1934 noch immer erweitert worden ist.537 Ein außerordentlich aussagekräftiger Hinweis auf die Verwendungsmodalitäten der Sammlung findet sich schließlich ebenfalls im Band von K 9 Karl Schulz. Zwischen den Seiten habe ich darin einen Entlehnschein entdeckt.538 Das kleinformatige Zettelchen ist nicht ausgefüllt. Die darauf befindlichen Angaben wurden mit Schreibmaschine geschrieben und vermutlich händisch vervielfältigt. Die knappen Daten, die handschriftlich einzutragen waren, sind gehaltvolle Informationen darüber, wie die Quellen benützt werden konnten. Das Feld »Ablauf der Entlehnfrist: …« ist ein Beleg dafür, dass die Tagebuchabschriften aus dem Institut mitgenommen werden konnten. Zudem ist über die Bibliothek zu erfahren, dass sie »Samstag nachm. geschlossen« war. In → Abschnitt 2.4 wurde beschrieben, dass die Modalitäten der Zugänglichkeit der Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler und ihrer Forschungsgruppe bisher nicht bekannt gewesen sind. Diese Fragen konnten auf der Grundlage der wiedergefundenen Bände beantwortet werden. Die Entlehnbedingungen scheinen dabei sehr benutzer/innenfreundlich gewesen zu sein. Die Quellen konnten auch außer Haus genommen werden. Aufgrund der materiellen Beschaffenheit der fünf Abschriften wissen wir, dass jeweils mehrere Exemplare der einzelnen Selbstzeugnisse vorhanden gewesen sein dürften. Das lässt die Möglichkeit der externen Benützung noch plausibler erscheinen. Entsprechend dem knappen Vermerk »Vorzeitige Rückforderung vorbehalten« blieb die end535 Dazu Reinhard Buchberger, Michaela Feurstein-Prasser, Felicitas Heimann-Jelinek und Nina Linka (Hg.): Tafelkratzer, Tintenpatzer. Schulgeschichten aus Wien, Wien 2016. 536 Benetka: Psychologie in Wien, 1995, S. 40. 537 Band M 88 ist nicht gestempelt, die Abschrift K 67 ist Teil des Bandes M 71. 538 ABP, Manuskript K 9 Karl Schulz.

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gültige Entscheidung über die Verwendung ohnedies bei Bühler oder den Mitarbeiter/innen des Psychologischen Instituts. Im Fall der fünf Bände war die Rückgabe wohl freiwillig – aber alles andere als »vorzeitig«. Immerhin dauerte sie ganze 50 Jahre.

2.10) Tagebücher in der Jugendpsychologie nach 1945 Die NS-Zeit war ein frappanter Einschnitt in die wissenschaftliche Landschaft von Österreich, Deutschland und den besetzten Gebieten. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialist/innen wurden Forscher/innen an der Ausübung ihrer Arbeit gehindert, sie wurden vertrieben oder sogar ermordet. Quellen- und Materialsammlungen wurden beschlagnahmt, zerstört oder sind verloren gegangen. Weniger dramatisch und dennoch nachhaltig waren die Veränderungen bei den bevorzugten Forschungsmethoden, die damit im Zusammenhang standen. Die Entwicklungen in der jugendpsychologischen Forschung sind ein prägnantes Beispiel dafür. Das Fach war erst seit zwei Jahrzehnten aufgebaut worden, das aber rasant. Mit dem großen Renommee des Psychologischen Instituts an der Universität Wien wurde auch die hier durchgeführte Selbstzeugnisforschung international berühmt. Wie die Themen der abgeschlossenen Dissertationen zeigen, versandete dieser Schwerpunkt hier ab 1938 im Nichts (→ Abschnitt 2.9).539 Die Psychologin Marianne Soff beschrieb diese Veränderungen folgendermaßen: »Überblickt man die Beiträge der Tagebuchforschung zur Psychologie des Jugendalters von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, so läßt sich feststellen, daß nach einer Phase der mehr oder weniger enthusiastischen Nutzung dieses individuellen, spontan produzierten Materials im Umkreis der Wiener Schule, aber auch anderer Autoren bis Ende der Dreißiger Jahre eine zweite Phase folgte, die durch ausgesprochen wenige Veröffentlichungen zum Jugendtagebuch gekennzeichnet ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann unter dem Einfluß der großenteils behavioristisch geprägten amerikanischen Psychologie eine Hinwendung zu anderen Forschungsmethoden, vor allem zu großangelegten Studien mithilfe von Tests, Fragebögen und Interviews.«540 Nach der Recherche von Marianne Soff wurden zwischen den 1950er- und 1980er-Jahren zwei jugendpsychologische Monografien veröffentlicht, die sich auf ›vorgefundene‹ Selbstzeugnisse stützen. Walter Abegg publizierte 1954 die 539 Nach der Recherche der Psychologin Marianne Soff war noch eine einzige englischsprachige Arbeit 1942 erschienen: Gordon W. Allport: The Use of Personal Documents in Psychological Science, New York 1942. 540 Soff: Jugend im Tagebuch, 1989, S. 17.

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Studie »Aus Tagebüchern und Briefen junger Menschen«,541 Waltraud Küppers 1964 »Mädchentagebücher der Nachkriegszeit«.542 Wie bereits beschrieben wurde, knüpfte Küppers damit an das Generationenkonzept von Charlotte Bühler aus dem Jahr 1934 an. Marianne Soff hat ihre Arbeit »Jugend im Tagebuch« (1989) schließlich als Fortsetzung der Studien von Bühler und Küppers angelegt (→ Abschnitt 2.7). Neben der Psychologie verwendeten in der Nachkriegszeit die Pädagogik und die Lehrer/innenausbildung Tagebücher als Forschungsquellen.543 Eine umfangreiche Arbeit legte hier der DDR-Dissident Wolfgang Fischer bereits 1955 mit der Studie »Neue Tagebücher von Jugendlichen« vor.544 Für die historisch-kulturwissenschaftliche Forschung sind die Publikationen von Fischer, Küppers und Soff nicht zuletzt wegen den darin enthaltenen Quelleneditionen ein aktueller Tipp.

Neue Studien, neue Quellensammlungen? Ein großer Unterschied zwischen den (wenigen) jugendkundlichen Studien zu Tagebüchern aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und jenen aus der Zwischenkriegszeit war die Quellensituation. Die Forscher/innen der 1920erund 1930er-Jahre konnten hier auf systematisch aufgebaute Sammlungen zurückgreifen. Diese waren seit den 1910er-Jahren von verschiedenen Akteur/innen mit durchaus unterschiedlichem Ansinnen initiiert worden. Alle waren aber für eine breitere Nutzung gedacht. Nach meiner Einschätzung lag darin einer der Gründe für den Erfolg der selbstzeugnisbasierten psychologischen Forschung in dieser Zeit. Alle diese Ressourcen gingen im Zweiten Weltkrieg verloren. Wolfgang Fischer ging in den 1950er-Jahren wieder zu dem Modus der ›persönlichen‹ Quellensammlungen zurück. Diese für die einzelnen Wissenschafter/ innen weit aufwändigere Arbeitsweise hatte die Selbstzeugnisforschung im 19. Jahrhundert gekennzeichnet. Fischer lukrierte also wieder selbst Tagebücher, »die ihm die jungen Leute vertrauensvoll überlassen hatten und die ihm später – nach der zufälligen Lektüre der ersten Auflage der ›Neuen Tagebücher‹ auch von

541 Walter Abegg: Aus Tagebüchern und Briefen junger Menschen. Ein Beitrag zur Psychologie des Entwicklungsalters, München/Basel 1954. Der Psychologe beschäftigte sich später auch mit Zeichnungen als Quellen: Walter Abegg: Der Familientest. Ein Hilfsmittel zur Behandlung psychosomatischer Erscheinungen bei Kindern und Verhaltensstörungen bei Jugendlichen, Zürich 1973. 542 Küppers: Mädchentagebücher der Nachkriegszeit, 1964. 543 Dazu Melchior: »Liebesprobleme … waren schon immer ein Anlaß für mich, Tagebuch zu führen«, 1998, S. 37–40. 544 Wolfgang Fischer: Neue Tagebücher von Jugendlichen. Die Vorpubertät anhand literarischer Selbsterzeugnisse (Grundfragen der Pädagogik, Heft 2), Freiburg im Breisgau 19551 (19672).

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ihm Unbekannten zugesandt worden waren.«545 Diese Erzählung erinnert frappant an jene von Charlotte Bühler aus den frühen 1920er-Jahren. Sie hatte anfänglich ebenfalls in ihrem persönlichen Umfeld gesammelt – und nach der Publikation der ersten Ergebnisse Zusendungen ihrer Leser/innen erhalten. Anders als Charlotte Bühler oder Siegfried Bernfeld bauten die Tagebuchforscher/innen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Quellenbasis ihrer eigenen Projekte nicht mehr zu öffentlich zugänglichen Sammlungen aus. Zumindest nicht in der Psychologie oder Pädagogik. Und zumindest vorerst nicht. Neue Initiativen kamen hier dann von Historiker/innen im Kontext der Alltagsgeschichtsforschung seit den 1980er-Jahren (→ Kapitel 3). Waltraud Küppers entschied sich währenddessen für die umgekehrte Strategie. Sie hat die Abschriften der 17 von ihr in den 1960er-Jahren bearbeiteten Tagebücher nach Abschluss der Forschungen an das Archiv des Seminars für Pädagogische Psychologie an der Hochschule für Erziehung in Frankfurt am Main übergeben.546 Sie wollte ihre Quellenbasis offenbar langfristig sichern und für weitere Forschungen zur Verfügung stellen. Derzeit ist allerdings nur noch ein einziger Band davon auffindbar. Die 16 anderen sind verloren.547 Damit wäre also das Verschwinden einer weiteren Quellensammlung belegt, wobei dieses Mal kein politischer Umsturz der Anlass gewesen ist. Vielleicht waren es stattdessen pragmatische Gründe wie Verschleiß oder Verlust. Oder auch schlichtweg inhaltliches Desinteresse und damit ein aktives Ausscheiden der Abschriften aus dem Archivbestand. Ob Walter Abegg und Wolfgang Fischer die ihnen in den 1950er-Jahren »vertrauensvoll überlassen« Selbstzeugnisse an eine Sammlung weitergegeben haben, ist nicht bekannt. Marianne Soff hat die 32 Tagebücher, die sie für ihre Studie in den 1980er-Jahren lukrieren konnte, kopiert. Die Abzüge befinden sich in ihrem Privatbesitz, die Originale wurden an die Schreiber/innen zurückgegeben (→ Abschnitt 4.3).548 Der Vollständigkeit halber sei die fachliche Entwicklung der Tagebuchforschung in der Psychologie hier noch schlaglichtartig umrissen: In neueren psy545 Jörg Ruhloff: Von der prinzipienwissenschaftlichen Pädagogik zur pädagogischen Skepsis, in: Norbert Meder (Hg.): Zwischen Gleichgültigkeit und Gewissheit: Herkunft und Wege pädagogischer Skepsis. Beiträge zum Werk Wolfgang Fischers, Würzburg 2003, S. 19–32, S. 21. 546 Waltraut Küppers: Mädchentagebücher, S. 13, S. 333, Anm. 44. 547 Weder in den Katalogen der Bibliothek der Arbeitsbereiche Pädagogische Psychologie und Psychoanalyse noch jenen der Bibliothek Gesellschaftswissenschaften und Erziehungswissenschaften (BGE) in Frankfurt am Main haben sich Verweise auf diese Tagebuchsammlung gefunden. Christina Fuhr von der Bibliothek der Arbeitsbereiche: Auskunft per E-Mail am 17. Mai 2010; Sabine Michel von der BGE: Auskunft per E-Mail am 21. Mai 2010. Bei dem erhaltenen Band handelt es sich um das Tagebuch von Li Holzmann; siehe Küppers: Mädchentagebücher, S. 312, S. 333, Anm. 58. 548 Marianne Soff: Auskunft per E-Mail am 20. Mai 2010.

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chologischen Studien stehen weniger die Inhalte von Tagebüchern im Fokus,549 hauptsächlich werden die Funktionen des diaristischen Schreibens zum Thema gemacht.550 Zudem ist seit Beginn des 21. Jahrhunderts ein Boom an populärwissenschaftlichen, psychologisch ausgerichteten Schreib-Guides zu beobachten.551 Mit der Auswertung von Tagebuchinhalten beschäftigen sich seit den 1980er-Jahren vermehrt die Literatur-, Kultur- und Geschichtswissenschaften. Einzelne Aspekte davon werden in den folgenden Kapiteln vorgestellt (→ Kapitel 3 und 4). Zuvor wird noch die Übergabegeschichte der Tagebücher von Felice Wolmut an das Institut für Psychologie der Universität Wien erzählt. Diese Episode stellt eine Art ›Brücke‹ dar zwischen der Selbstzeugnisforschung in der Jugendpsychologie bis 1938 auf der einen Seite, und jener in den Geschichtswissenschaften ab den 1980er-Jahren auf der anderen.

Erinnerungspolitiken im wissenschaftlichen ›Niemandsland‹: Die Dokumentationen von Felice Wolmut Im Archiv der Fachbibliothek Psychologie der Universität Wien (ABP) liegt neben den wiedergefundenen Bänden aus der Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler und ihrer Forschungsgruppe ein weiterer Tagebuchbestand vor. Dieser umfasst acht handgeschriebene Tagebuchbände von Felice Wolmut (1889–1989) mit Einträgen von März 1906 bis »Frühjahr« 1933 und sporadische Aufzeichnungen von 1938 bis 1976. Diese Selbstzeugnisse waren nicht Teil der Sammlung von Bühler. Sie stehen aber in einem indirekten Zusammenhang damit: Ihre Schreiberin hat sie hier nachträglich eingereicht. Felice Wolmut wurde als Gertrud von Landesberger in Wien geboren. In den 1920er-Jahren arbeitete sie mit ihrem ersten Ehemann Emil Alphons Reinhardt (1889–1945) an der Übersetzung der Romane des französischen Schriftstellers Honoré de Balzac. Gemeinsam mit ihrem zweiten Ehemann John T. (Hans) Wolmut (1901–1953) war sie u. a. unter dem Künstlerinnennamen Felice d’Antburg als Bühnensängerin, Bühnendirektorin und Gesangslehrerin tätig. Später beschäftigte sie sich mit Musiktherapie.552 In den 1980er-Jahren über549 Vgl. etwa die Publikationen von Imbke Behnken. 550 Vgl. etwa Publikationen von Inge Seiffge-Krenke; Rolf Haubl; Rolf Oerter; Helga Levend; Catherine Schmidt-Loew-Beer oder Luise Winterhagen-Schmid. Ein Überblick bis in die 1980er-Jahre findet sich in Soff: Jugend im Tagebuch, 1989, S. 16–24. 551 Vgl. etwa die Publikationen von Mark Levy; Elisabeth Mardorf; Tristine Rainer; Lutz von Werder oder Barbara Schulte-Steinicke. 552 Zu den biografischen Angaben siehe u. a. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (DÖW), Sig. 8932 und 11534 sowie Carl-Wilhelm Macke: Die Sehnsucht nach den guten Dingen. Auf der Suche nach dem in Dachau umgekommenen Schriftsteller Emil Alphons Rheinhardt, o. O. o. J. (online verfügbar unter dem Titel).

Tagebücher in der Jugendpsychologie nach 1945

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sandte Felice Wolmut hochbetagt drei verschiedene Texte an das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) in Wien.553 Einer ist die Abschrift des Tagebuchs von Emil Alphons Reinhardt aus den Jahren 1943 und 1944. Der zweite eine biografische Erzählung über ihn. Reinhardt ist 1945 im Konzentrationslager Dachau gestorben.554 Der dritte Text ist eine Zusammenfassung des Lebenslaufs von John T. Wolmut. Mit ihm war Felice Wolmut 1938 in die USA emigriert, wo er als Mitbegründer der Philadelphia Opera benannt wird. Wolmut wurde zur Chronistin ihrer zwei Ehemänner. Mit der Übergabe von Aufzeichnungen über die beiden sicherte Wolmut die Erinnerung an sie. Mit dem DÖW wählte sie dafür eine etablierte Institution in Wien. Von ihr selbst sind die genannten Tagebuchaufzeichnungen erhalten. Diese sandte Felice Wolmut aber nicht an das Dokumentationsarchiv. Sie adressierte sie stattdessen an das Institut für Psychologie, namentlich an »Frau Prof. D. S. Bayr-Klimpfinger oder IHRE NACHFOLGERIN«,555 eine/n für sie also wahrscheinlich unbekannte Empfänger/in. Die angeschriebene Sylvia Bayr-Klimpfinger (1907–1980) war seit 1940 Assistentin am Psychologischen Institut gewesen. Seit 1941 war sie Mitglied der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und des NS-Lehrerbundes. Nach einem Entnazifizierungsverfahren wurde ihr die entzogene Lehrbefugnis 1948 neuerlich bestätigt. Seit 1956 hatte sie ein Extraordinariat, seit 1967 ein Ordinariat als Kinder- und Jugendpsychologin an der Universität Wien inne.556 Ob Felice Wolmut über diese politischen Umstände in Sylvia Bayr-Klimpfingers Biografie informiert war – oder ob sie mit einem entsprechenden Wissen von ihrer Sendung abgesehen hätte, kann nur als Frage formuliert werden. Wann genau Felice Wolmut ihre Tagebücher auf das Geratewohl nach Wien geschickt hat, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Wie die spontane Rückgabe der fünf Bände aus der Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler wurde auch diese Übernahme nicht dokumentiert. Die acht Bände lagerten in einem Schrank am Institut, ehe Michaela Zemanek sie hier zufällig fand – und ebenfalls in das Archiv aufnehmen konnte.557 Auch der konkrete Grund für Felice Wolmuts Sendung ist nicht belegt. Dass sie ihre Jugendaufzeichnungen 553 Zwei erhaltene Briefe von Felice Wolmut an das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) sind mit März 1986 und Februar 1987 datiert. DÖW, Sig. 21094 und 21307. 554 DÖW, Sig. 8932, 8933, 8934, 8936, 8939, 11534, 11601/a, 11601/b, 21094, 21307. Vgl. dazu weiters die John Wolmut Collection der New York Public Library unter: archives.nypl.org/ mus/20018. 555 ABP, Tagebuchbestand Felice Wolmut [Hervorhebung im Original]. 556 Vgl. dazu Gerhard Benetka: Bayr-Klimpfinger, Sylvia, in: Keintzel und Korotin: Wissenschafterinnen in und aus Österreich, 2002, S. 50–52; Benetka: Vom Anfang bis zur Nachkriegszeit, 2008. 557 Michaela Zemanek, Fachbereichsbibliothek Psychologie der Universität Wien: Interview am 20. Februar 2009.

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ausgerechnet an das Institut für Psychologie der Universität Wien geschickt hat, interpretiere ich aber folgendermaßen: Sie dürfte angenommen haben, dass hier die Arbeiten von Charlotte Bühler fortgeführt werden würden. Und wahrscheinlich wollte sie ihre Tagebücher dieser Forschung zur Verfügung stellen. Die Selbstzeugnisse der Männer in ein politisch ausgerichtetes Archiv, die Selbstzeugnisse der Frau zur Jugendpsychologie? Es ist eine weitere Interpretation, dass Felice Wolmut keine institutionellen Alternativen bekannt waren, denen sie ihre persönlichen Aufzeichnungen zum Archivieren und Beforschen hätte übergeben können – woran ihr aber offenbar gelegen war. Auto/biografische Aufzeichnungen von Kindern und Jugendlichen wurden in den 1980erJahren von der Psychologie nicht mehr gesammelt – und von historisch ausgerichteten hegemonialen Archiven noch nicht. Diese Situation hat sich inzwischen geändert. Würde Felice Wolmut ihre Tagebücher heute einer Sammlung übergeben wollen, stünde ihr dazu eine Auswahl von in Frage kommenden Institutionen offen. Diese sind nun allerdings historisch und kulturwissenschaftlich ausgerichtet und folgen anderen Aufgaben- und Fragestellungen als die jugendpsychologische Forschung der Zwischenkriegszeit. Die breite Landschaft dieser Archiveinrichtungen wird im hier anschließenden → Kapitel 3 ausführlich vorgestellt und systematisiert. Die zwei unterschiedlichen Quellenfunde im Archiv der Fachbibliothek Psychologie der Universität Wien stehen beispielhaft für die Diskontinuitäten der Wissenschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, die Zerstörung von Wissenskulturen durch die nationalsozialistische Herrschaft und die geringen Anknüpfungsmöglichkeiten nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Konjunkturen der Tagebuchforschung als Methode in der Jugendpsychologie stehen zudem für disziplininterne Veränderungen im Laufe von wenigen Jahrzehnten. Die beiden Quellenfunde belegen aber gleichzeitig – und dem positiv entgegengesetzt – die lange Dauer der Wissenschaftsrezeption. Zwei Personen haben unabhängig voneinander und wohl aufgrund verschiedener Motivationen Quellenmaterial an eine Institution übergeben, von deren aktuellen Forschungsschwerpunkten sie offenbar wenig Kenntnis hatten. Die jugendpsychologischen Arbeiten von Charlotte Bühler und ihrer Forschungsgruppe wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in Wien nicht fortgeführt. Dennoch erhielt die – nicht mehr vorhandene – Tagebuchsammlung in den 1980er-Jahren Zuwachs per Post aus den USA sowie durch eine persönliche Rückgabe. Damit ist nicht zuletzt die langfristige Bekanntheit der Wiener Forschungsgruppe von Kinder- und Jugendpsycholog/ innen aus den 1920er- und 1930er-Jahren belegt, die im Gedächtnis der Rezipient/innen die Zeit und auch das Regime des Nationalsozialismus überdauert hat.

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»Ich freue mich darüber, dass meine Mutter in dieser Form weiterleben wird«: Tagebücher in historisch ausgerichteten Sammlungen ab den 1980er-Jahren

In diesem Kapitel stehen Tagebücher als Quellen in den Geschichtswissenschaften seit den 1980er-Jahren im Mittelpunkt. Dabei wird der in dieser Studie bisher verfolgte Fokus etwas verengt. Bezogen auf die Kinderforschung seit 1800 und auf die Jugendpsychologie seit den 1920er-Jahren wurde in den vorhergehenden Kapiteln dargestellt, für welche Fragestellungen diaristische Aufzeichnungen zu unterschiedlichen Zeiten ausgewertet wurden – und mit welchen Sammlungsstrategien die Quellengrundlagen dafür geschaffen worden sind. Anhand dieser verschränkten Darstellung konnten nicht zuletzt jeweils zeitspezifische Arbeitspraktiken gezeigt werden. Die Inhalte sowie auch die Akteur/ innen der zwei bisher vorgestellten Forschungsfelder sind überschaubar. Die auto/biografische Forschung, die in den vergangenen 40 Jahren in den Geschichtswissenschaften erarbeitet worden ist, ist ungleich vielfältiger und bei weitem umfangreicher. Daher wird die historische Selbstzeugnisforschung im Folgenden nur überblicksmäßig vorgestellt. Am Beispiel von drei ausgewählten Sammelbänden, die alle im Jahr 2015 erschienenen sind, können dabei – exemplarisch – Konjunkturen der aktuellen zeithistorischen Tagebuchforschung im deutschsprachigen Raum skizziert werden. Die Fragestellungen changieren dabei inhaltlich zumeist zwischen Diskussionen von möglichen Genrebestimmungen und der Auswertung der Inhalte der Texte. Die Voraussetzung für die vielfältigen Forschungsarbeiten, die in den Geschichtswissenschaften mittlerweile vorliegen, ist eine breite Quellenbasis, welche von zahlreichen Sammlungen und Archiven bereitgestellt wird. Auf der systematischen Beschreibung dieser Landschaft liegt der hauptsächliche Fokus dieses Kapitels. Dazu werden die Bestände von österreichischen sowie von ausgewählten deutschen Sammlungseinrichtungen vorgestellt, die jeweils Tagebücher von Personen enthalten, die in keiner prominenten Öffentlichkeit standen. Zur Sondierung der Vielfalt dieser Sammlungen und Archive werden drei Typisierungen vorgeschlagen. Diese beziehen sich 1) auf die dokumentierten Genres, 2) auf die dokumentierten Personen sowie 3) auf die Entstehungsgeschichten der einzelnen Einrichtungen. Dabei wird sich herausstellen, dass diese drei Aspekte

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Tagebücher in historisch ausgerichteten Sammlungen ab den 1980er-Jahren

eng miteinander verschränkt sind und in den meisten Fällen nur zusammengenommen etwas über die Konstitution der jeweiligen Sammlung aussagen können. Ein pointiertes Ergebnis ist vor allem der Umstand, dass es im deutschsprachigen Raum keinen Archivbestand gibt, der ausschließlich Tagebücher enthalten würde. Die vorgefundenen ›gemischten‹ Bestände erlauben nun allerdings einen systematischen Vergleich zwischen verschiedenen Genres. Dadurch können auch quantitative Einschätzungen über die anteilsmäßige Verteilung von Tagebuchquellen in den Beständen getroffen werden. Die Alltagsgeschichte, die neue Sozialgeschichte und die Frauengeschichte haben seit den 1970er-Jahren historiografischen Veränderungen angeregt. Vor dieser Folie ist auch das Anlegen und Aufbauen von speziellen Quellenbeständen als »zivilgesellschaftliches Engagement«1 zu verstehen. Dieses geht in zwei Richtungen: Einerseits werden hier für die Forschung Quellen zugänglich gemacht, die bisher nicht oder nur schwer verfügbar waren. In dem Sinne sind die (alltags-)historisch ausgerichteten Bestände der dinghafte Ausdruck für die veränderten Vorstellungen davon, welche Personengruppen überhaupt im Interesse der historischen Forschungen stehen. Andererseits veränderte sich durch diese Initiativen auch die Position jener Einzelpersonen, die auto/biografische Aufzeichnungen geschrieben haben – oder die Selbstzeugnisse beispielsweise ihrer Eltern oder aus dem Bekanntenkreis verwalten. Ihnen wird die Möglichkeit geboten, zu entscheiden, ob sie diese Dokumentationen an eine öffentlich zugängliche Einrichtung übergeben möchten – oder nicht. Anhand einzelner Übergabegeschichten kann in diesem Kapitel gezeigt werden, dass die Vor- oder Nachlassgeber/innen dabei jeweils bestimmten Motivationen folgen. Zumeist ist es der Wunsch, Erfahrung zu teilen oder die Erinnerung an eine Person oder ein Ereignis langfristig zu sichern. Entsprechend wurde auch das titelgebende Zitat formuliert: »Ich freue mich […] darüber, dass meine Mutter in dieser Form weiterleben wird.«2 Die Handlungsspielräume der Übergeber/innen bestehen in der Auswahl, was sie in die Archive bringen möchten. Zudem entscheiden sie auch, an welche Archive sie etwas bringen. Um diese aktive Rolle in der Gestaltung von Quellenbeständen zu unterstreichen, schlage ich vor, die Übergeber/ innen von Vor- oder Nachlässen als »Citizen Scientists« zu bezeichnen. Auch wenn sie sich selbst womöglich nicht in dieser Position sehen: Von ihrem Beitrag

1 Patrizia Gabrielli: Tagebücher, Erinnerungen, Autobiografien. Selbstzeugnisse von Frauen im Archivio Diaristico Nazionale in Pieve Santo Stefano, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft (Z. F. G.), Jg. 15, 2004, Heft 2, S. 345–352, S. 346. 2 Christina N.: E-Mail, August 2016 (→ Abschnitt 3.4). Aus Datenschutzgründen werden bei zitierten Briefen oder E-Mails von Vor- und Nachlassgeber/innen, die sich nicht auf einen in der Studie inhaltlich ausgewerteten Bestand beziehen, die Namen anonymisiert. Die für die Nachnamen stehenden Buchstaben sind Pseudonyme.

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hängt schlußendlich ab, was den Wissenschafter/innen für ihre Forschungsprojekte zur Verfügung steht. Anhand der konkreten Übergabegeschichten wird aber umgekehrt ebenfalls sichtbar, wie nachhaltig sich die Entscheidung der Sammlungseinrichtungen, was sie überhaupt aufnehmen möchten, auf die Zusammensetzung der verfügbaren Quellen auswirkt. So ist etwa die Zeit des Zweiten Weltkriegs in Sammlungen verhältnismäßig gut durch Selbstzeugnisse dokumentiert. Wie sich an einem Wiener Beispiel zeigen lässt, sind entsprechende Aufrufe jedenfalls ein Grund dafür. Zwei leitende Fragen in dieser Studie sind die schicht- und die geschlechtsspezifischen Zusammensetzungen der in den vorgestellten Wissenschaftsdisziplinen beforschten Quellen. Entsprechend werden auch die Bestände der aktuell verfügbaren historisch ausgerichteten Sammlungen dahingehend ausgewertet. Hat sich das Interesse der frühen Alltagsgeschichte insbesondere an Personen aus bildungsferneren Zusammenhängen auch in den Archivbeständen niedergeschlagen? Die Probe wurde exemplarisch für Tagebücher von Arbeiter/ innen und Dienstbot/innen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts genommen. Die systematische Suche in fünf Spezialsammlungen in Deutschland und Österreich wird dabei eine überraschende Tendenz zu Tage fördern. In Bezug auf die geschlechtsspezifische Zusammensetzung der Bestände lassen sich wiederum quantifizierbare Ergebnisse präsentieren. Diese wurden aus dem gezielten Vergleich von drei Sammeleinrichtungen erarbeitet. Dabei wird sich zeigen, dass Frauen und Männer in den einzelnen Institutionen ungleich repräsentiert sind. Es haben je nach Archiv deutlich mehr Frauen oder mehr Männer auto/biografische Aufzeichnungen abgegeben – wobei auch unterschiedliche Genres gewählt wurden. Als eine Begründung für diese ungleiche Verteilung kann die unterschiedliche Beteiligung von Frauen und Männern an Schreibaufrufen nachgewiesen werden. Die Themensetzungen dieser Schreibaufrufe sowie die Auswahl der Veröffentlichungen von Lebenserinnerungen in popularen Formaten hatte Einfluss auf die Gestaltung von jenen lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen, die seit damals geschrieben worden sind und noch geschrieben werden. Diese Wechselwirkung zeigt noch einmal die zivilgesellschaftlichen Schnittstellen dieser geschichtswissenschaftlichen Arbeit. Die Entscheidungen, welche Texte hier gesammelt, beforscht und veröffentlicht werden, haben einen Einfluss auf die aktuellen – und die zukünftigen – auto/biografischen Praktiken der Rezipient/innen der Ergebnisse. Zum Abschluss des Kapitels wird der gesamte Bestand von Tagebüchern von Mädchen und Frauen aus Wien vorgestellt, der in fünf Wiener Sammlungen und Archiven vorliegt. Das Ergebnis zeigt einerseits noch einmal die Vielfalt der diaristischen Aufzeichnungen, die der aktuellen Forschung inzwischen zur Verfügung stehen. Andererseits ist diese auf bestimmte Quellen konzentrierte Zusammenschau eine Brücke zu dem abschließenden → Kapitel 4. In diesem

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kürzeren Kapitel werden Tagebücher von Mädchen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter historisch-kulturwissenschaftlichen und genretheoretischen Fragestellungen analysiert. Meine dort verfolgte Herangehensweise ist eine der vielen Möglichkeiten, Selbstzeugnisse zu beforschen und zu interpretieren. Diese Auswertung steht also exemplarisch für das große rezente Forschungsfeld, das sich wissenschaftlich mit Tagebüchern beschäftigt. Die Quellen dazu kommen aus jenen historisch ausgerichteten Sammlungen, die seit dem späten 20. Jahrhundert aufgebaut werden. Diese stehen im Folgenden im Mittelpunkt.

3.1) Tagebücher in den Geschichtswissenschaften ab den 1980er-Jahren Ein neuerliches wissenschaftliches »Interesse am Tagebuch«3 ist im deutschsprachigen Raum ab den 1970er-Jahren zu beobachten. Es kam sowohl aus den Literaturwissenschaften, als auch aus der Volkskunde bzw. Europäischen Ethnologie und den Geschichtswissenschaften. In der psychologischen Forschung spielten Tagebücher als Quellen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts keine größere Rolle mehr. Gleichzeitig war die Bezugnahme der neu interessierten Fächer auf die psychologischen Arbeiten der Zwischenkriegszeit kaum vorhanden. Sie bezog sich wenn, dann hauptsächlich auf die Thesen von Charlotte Bühler (geb. Malachowski, 1893–1974), die dabei umso hartnäckiger reproduziert wurden. In den letzten Jahren werden auch die Arbeiten von Siegfried Bernfeld (1892–1953) stärker rezipiert (→ Abschnitt 4.1). Die vereinzelten psychologischen und pädagogischen Arbeiten, die nach 1945 auf der Grundlage von Tagebüchern geschrieben wurden (→ Abschnitt 2.10), wurden von der historischen Selbstzeugnisforschung nicht in vergleichbarer Weise wahrgenommen. In den Literaturwissenschaften, der Europäischen Ethnologie und den Geschichtswissenschaften zählen Tagebücher – wie Selbstzeugnisse allgemein – aktuell jedenfalls zu den oft benutzten Quellen.4 Die unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der drei Fächer zeigen sich besonders in der Auswahl jenes Kreises von Personen, deren auto/biografische Aufzeichnungen beforscht wurden und werden. Dementsprechend werden nachfolgend kursorische Schlaglichter auf den Einfluss geworfen, den die Ergebnisse der Literaturwissenschaf3 Christiane Holm: Montag Ich. Dienstag Ich. Mittwoch Ich. Versuch einer Phänomenologie des Diaristischen, in: Helmut Gold, Christiane Holm, Eva Bös und Tine Nowak (Hg.): @bsolut privat!? Vom Tagebuch zum Weblog, Heidelberg 2008, S. 10–50, S. 10. 4 Ein pointierter Überblick zu den Geschichtswissenschaften findet sich in Volker Depkat: Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Geschichtswissenschaft, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Jg. 23, 2010, Heft 1, S. 170–187.

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ten und der Volkskunde bzw. Europäischen Ethnologie auf die historische Selbstzeugnisforschung hatten.

Tagebücher als Quellen in den Literaturwissenschaften Im Zentrum der literaturwissenschaftlichen Selbstzeugnisforschung standen (und stehen weiterhin) (hauptsächlich) Texte, die von literarisch tätigen Personen verfasst wurden. Die Literaturwissenschafterin Christiane Holm sieht den Grund für diese Ausrichtung in dem hegemonialen »enge[n] Literaturbegriff [der] die vermeintlich formlosen Gebrauchstexte zunächst nicht zu seinen Gegenständen rechnen wollte. Folglich wurde diese Textsorte nur dann einbezogen, wenn sie Erhellendes zur Erforschung der Höhenkammliteratur beitragen konnte.«5 Für die Germanistik waren also nur Aufzeichnungen von Verfasser/ innen interessant, die sie auch zu den erfolgreichen Literat/innen des 19. und 20. Jahrhunderts zählte. Aus deren auto/biografischen Aufzeichnungen wurde wiederum ein eigener ›Kanon‹ gebildet, der als »Literatur im Rohzustand«6 gelesen worden ist.7 Der Literaturwissenschafter Jürgen Thaler verwendete für das Ordnen von (Schriftsteller/innen-)Nachlässen seinerseits die Methapher »vom Rohen zum Gekochten«.8 Tagebücher von Personen, die außerhalb des Literaturbetriebes standen, waren (und sind) für die Literaturwissenschaften nicht von Relevanz.9 Dasselbe galt auch für den Großteil der Schriftstellerinnen, von denen ja auch nur einzelne zu den ›Klassikern‹ erhoben worden sind. Drei der wenigen in den Literaturwissenschaften stark rezipierten Diaristinnen sind die englischsprachigen Literatinnen Katherine Mansfield (1888–1923), Virginia Woolf

5 Holm: Montag Ich, 2008, S. 10. 6 Ralph-Rainer Wuthenow: Europäische Tagebücher. Eigenart – Formen – Entwicklung, Darmstadt 1990, S. 1. 7 Nach Darstellung der Literaturwissenschafter Klaus Amann und Karl Wagner war das Interesse dabei häufig eindeutig gelagert: »Statt nach den Schreibregeln der Lebensbeschreibungen zu fragen, ist nicht selten ein notdürftig psychoanalytisch verbrämter Voyeurismus am Werk, um – gleichsam als die andere Seite der Dichtermythen – durch das Schlüsselloch zu schauen und die naturgemäß meist unordentlichen (Auto-)Biographien der Großen kleinlich auf ihre politische, vor allem aber (sexual-)moralische Richtigkeit zu überprüfen.« Klaus Amann und Karl Wagner: Vorwort, in: dies. (Hg.): Autobiographien in der österreichischen Literatur. Von Franz Grillparzer bis Thomas Bernhard, Innsbruck/Wien 1998, S. 7–10, S. 7. 8 Jürgen Thaler: Vom Rohen zum Gekochten: zur Ordnung des Nachlasses, in: Petra-Maria Dallinger, Georg Hofer und Bernhard Judex (Hg.): Archive für Literatur. Der Nachlass und seine Ordnungen, Literatur und Archiv, Bd. 2, Berlin 2018, S. 89–102. 9 Dazu Christa Hämmerle und Li Gerhalter: Tagebuch – Geschlecht – Genre im 19. und 20. Jahrhundert, in: Li Gerhalter und Christa Hämmerle (Hg.): Krieg – Politik – Schreiben. Tagebücher von Frauen (1918–1950), Wien/Köln/Weimar 2015, S. 7–31, S. 8–9.

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(1882–1941) und Sylvia Plath (1932–1963). Ihre Aufzeichnungen sind jeweils posthum von ihren Ehemännern veröffentlicht worden.10 Obwohl der Kreis jener Personen, deren diaristische Aufzeichnungen literaturwissenschaftlich ausgewertet wurden, sehr eingeschränkt war (und ist), sind die Arbeiten aus den Literaturwissenschaften für die Geschichtswissenschaften wichtige Bezugspunkte. Hier wurde ein Fundament an genretheoretischen Studien erarbeitet, das inzwischen sehr breit und ausdifferenziert ist.11 Einen erweiterten Blickwinkel nahmen seit den späteren Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts insbesondere feministische Forscher/innen ein.12 Von diesen zunächst im anglo-amerikanischen Raum entstandenen Studien kamen erste Anleihen für die Auslegung, dass das Führen eines Tagebuchs für die Diarist/innen jeweils bestimmte Funktionen hat, die dabei auch veränderbar sind. Eine aussagekräftige Formulierung lieferte Nicole Seifert mit dem Titel »Tagebuchschreiben als Praxis«.13 Sie beschäftigte sich mit Subjektkonstruktionen sowie der Frage nach ›Authentizität‹ in Tagebucheinträgen und hat dabei u. a. die These aufgestellt, der Akt des Schreibens könne für Diarist/innen mitunter eine größere Bedeutung haben als der dabei entstehende Text.14 Wenn es um die Darstellung historischer Begebenheiten geht, ist an eine solche Erkenntnis nichts weniger geknüpft als die Frage, welchen Aussagewert Tagebuchtexte (als historische Belege) überhaupt haben können. Entsprechend beschäftigt diese Frage insbesondere Historiker/ innen, die diaristische und andere auto/biografische Quellen im Zusammenhang mit ereignisgeschichtlichen Fragestellungen auswerten.

10 Nicole Seifert: Von Tagebüchern und Trugbildern. Die autobiographischen Aufzeichnungen von Katherine Mansfield, Virginia Woolf und Sylvia Plath, Berlin 2008. 11 Eine Zusammenschau bietet Christa Hämmerle: Diaries, in: Benjamin Ziemann und Miriam Dobson (Hg.): Reading Primary Sources. The interpretation of texts from nineteenth- and twentieth-century history. Second Edition, London/New York 2020, S. 141–158. Zum Genre der Tagebücher aktuell richtungsweisend: Arno Dusini: Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung, München 2005. Zitiert finden sich aber immer wieder auch die zwei Bücher von Gustav René Hocke und Peter Boerner, die in den 1960er-Jahren veröffentlicht wurden – und die entsprechend die Ergebnisse neuerer Ansätze nicht beinhalten können. Gustav René Hocke: Das europäische Tagebuch, Wiesbaden 1963; Peter Boerner: Tagebuch, Stuttgart 1969. 12 Etwa Margo Culley: A Day at a Time. Diary Literature of American Women from 1764 to 1985, New York 1985; Cynthia A. Huff: British Women’s Diaries. A Descriptive Bibliography of Selected Nineteenth-Century Women’s Manuscript Diaries, New York 1985; Harriet Blodgett, Centuries of Female Days. Englishwomen’s Private Diaries, New Brunswick, NJ 1988; Suzanne L. Bunkers und Cynthia A. Huff (Hg.): Inscribing the Daily. Critical Essays on Women’s Diaries, Amherst 1996; darin u. a. Philippe Lejeune: The »Journal de Jeune Fille« in Nineteenth-Century France (S. 107–122). 13 Nicole Seifert: Tagebuchschreiben als Praxis, in: Renate Hof und Susanne Rohr (Hg.): Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay, Tübingen 2008, S. 39–60; Seifert: Von Tagebüchern und Trugbildern, 2008, S. 131–144. 14 Seifert, Tagebuchschreiben als Praxis, 2008, S. 40.

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Tagebücher als Quellen in der Volkskunde bzw. Europäischen Ethnologie Wichtige Impulse für die historische Selbstzeugnisforschung kamen ab den 1980er-Jahren auch aus der Volkskunde bzw. Europäischen Ethnologie. Vor allem der von Bernd Jürgen Warneken geprägte Begriff der »popularen Autobiographik« wurde nachhaltig rezipiert.15 Gemeint ist damit das Schreiben von Personen aus bildungsferneren Schichten, also genau jenen Diarist/innen, mit denen die Literaturwissenschaften sich nicht (oder kaum) beschäftigen. Auch in den Geschichtswissenschaften hatte das Hauptaugenmerk auf die ›großen Ereignisse‹ und ›bedeutenden‹ Männer aus der Politik, der Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und dem Militär lange Zeit den Maßstab dafür geprägt, welche Personen hier nicht beforscht wurden. Frauen im Allgemeinen, aber auch Männer aus den mittleren und unteren Gesellschaftsschichten sowie Angehörige sogenannter Minderheiten oder jeglicher marginalisierter Gruppen standen nicht im Blickpunkt. Entsprechend gab es bislang auch kein Interesse an den Selbstzeugnissen, die sie geschrieben und hinterlassen haben.16 Diese Quellen waren innerhalb der hegemonialen Sammelpraktiken des (modernen) Staates allgemein als nicht überlieferungswürdig eingestuft worden und fanden daher auch nicht den Weg in diese Institutionen. Das änderte sich grundlegend, als die Volkskunde – und die Alltags-, Sozial-, Mikro- und Frauengeschichte – seit den 1970er-Jahren genau jene Personengruppen in ihren Fokus stellten, die in der Ereignis- und Strukturgeschichte bisher wenig beachtet wurden.17 »In jeder Lebensgeschichte steckt Weltgeschichte«, formulierte der Sozialhistoriker Michael Mitterauer diese geänderte Sichtweise.18 Damit benannte er ein völlig geändertes Geschichtsbewusstsein, den 15 Bernd Jürgen Warneken: Populare Autobiographik. Empirische Studien zu einer Quellengattung der Alltagsgeschichtsforschung, Tübingen 1985; ders. (Hg.): Populare Schreibkultur. Texte und Analysen, Tübingen 1987. 16 Forschungs- und Sammelschwerpunkte der letzten Jahre wurden im Zusammenhang mit der Homosexuellen- sowie der Migrationsgeschichte lanciert. Selbstzeugnisse konnten dabei bislang schwer lukriert werden. Zur Migrationsgeschichte u. a. Arif Akkılıç, Vida Bakondy, Ljubomir Bratic´ und Regina Wonisch (Hg.): Schere Topf Papier. Objekte zur Migrationsgeschichte, Wien 2016 (→ Abschnitt 3.2). 17 Dazu u. a. Michael Mitterauer: Lebensgeschichten sammeln. Probleme um Aufbau und Auswertung einer Dokumentation zur popularen Autobiographik, in: Hermann Heidrich (Hg.): Biographieforschung. Gesammelte Aufsätze der Tagung des Fränkischen Freilandmuseums am 12. und 13. Oktober 1990, Bad Windsheim 1991, S. 17–35; Christa Hämmerle: Formen des individuellen und kollektiven Selbstbezugs in der popularen Autobiographik, in: Heidrich: Biographieforschung, 1991, S. 36–60; Michael Mitterauer: »Ich in der Geschichte, Geschichte im Ich«. Zur ›Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien‹, in: Amann und Wagner: Autobiographien in der österreichischen Literatur, 1998, S. 241–269. 18 Mitterauer: Lebensgeschichten sammeln, 1991, S. 18; ders.: »Ich in der Geschichte, Geschichte im Ich«, 1998, S. 242.

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Tagebücher in historisch ausgerichteten Sammlungen ab den 1980er-Jahren

vielzitierten »paradigmatischen Wandel[…], der sich seit den siebziger Jahren in den Sozial- und Geisteswissenschaften von quantifizierenden zu qualitativen, von systemtheoretischen zu lebensweltlichen, von makro- zu mikrohistorischen Forschungsansätzen«19 vollzogen hat. In diesem Kontext erhielten gerade Selbstzeugnisse (in allen Formen) als Quellen eine neue Bedeutung. Ausgehend vom englischsprachigen Raum, dem die australische Historikerin Barbara Caine in ihrer Überblicksdarstellung »Biography and History« für die frühen 1970erJahre sogar einen regelrechten »biographical turn« attestierte,20 wurden populare Selbstzeugnisse ab den 1980er-Jahren auch in der deutschsprachigen Geschichtsforschung zunehmend beachtet. Diese Entwicklung hat etwa die Wiener Historikerin Christa Hämmerle in mehreren Beiträgen dargestellt und konzeptionell besprochen.21

Tagebücher als Quellen in den Geschichtswissenschaften Die Arbeiten mit den ›neuen‹ bzw. ›wiederentdeckten‹ Quellen waren möglich, da gleichzeitig systematisch damit begonnen wurde, eine Materialbasis zu schaffen und aufzubauen. Diese Basis war vielfältig zusammengesetzt – unter anderen enthielt sie auch Tagebücher. Die historische Tagebuchforschung hat sich in diesem Kontext einer breiteren Selbstzeugnisforschung etabliert.22 Dabei können grob drei Formen von auto/biografischen Quellen identifiziert werden: 1) Eine zentrale Quelle der Alltags- und Sozialgeschichte waren und sind lebensgeschichtliche Interviews. Dieses Forschungsmaterial wird von den Wissenschafter/innen selbst generiert. Es entsteht dabei im gleichberechtigten Austausch mit Personen, die ihre Geschichte erzählen. Michael Mitterauer benannte diesen Zugang als »völlig neue Situation«23, der Historiker Günter Müller 19 Günter Müller: »Vielleicht hat es einen Sinn, dacht ich mir«. Über Zugangsweisen zur popularen Autobiographik am Beispiel der »Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen« in Wien, in: Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag, Jg. 5, 1997, Heft 2, S. 302–318, S. 302. 20 Barbara Caine: Biography and History (Theory and History), Basingstoke 2010, S. 23. 21 U. a. Christa Hämmerle: Nebenpfade? Populare Selbstzeugnisse des 19. und 20. Jahrhunderts in geschlechtervergleichender Perspektive, in: Thomas Winkelbauer (Hg.): Vom Lebenslauf zur Biographie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes, Bd. 40), Horn/Waidhofen an der Thaya 2000, S. 135–167. 22 Hier finden sich Parallelen zur jugendpsychologischen Selbstzeugnisforschung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die ebenfalls auf verschiedenen Formen von auto/biografischen Aussagen gestützt gewesen ist (→ Kapitel 2). 23 »Statt in den Pfarrarchiven aus den Geburtsmatriken die Zahlen der unehelichen Kinder auszuzählen, fragten wir uneheliche Mütter und Kinder, was diese Situation für ihr Leben bedeutet hatte. […] Für uns Historiker war das eine völlig neue Situation: Nicht die toten

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als »revolutionär«: »Das revolutionäre, neue Moment der ›Oral History‹ – hier als Überbegriff für alle Formen und Methoden, mündliche Lebenserzählungen für die Wissenschaften nutzbar zu machen – bestand anfangs darin, dass zum einen Quellentexte nicht nur ›erschlossen‹, sondern durch aktives Zutun der Forschenden überhaupt erst ›erzeugt‹ wurden; zum anderen, dass Durchschnittsbürger/innen quasi als Experten und Expertinnen des Alltagslebens Mitspracherecht bei der Schreibung ihrer eigenen Geschichte eingeräumt wurde.«24 Für solche »erzeugt[en] Quellentexte« wurden unterschiedliche Bezeichnungen vorgeschlagen: Der Pädagoge Peter Dudek verwendete den Begriff der »provozierte[n] Selbstaussagen« dafür.25 Der Historiker Thomas Etzemüller sprach von »hergestelltem Material«.26 Aus beiden Formulierungen abgeleitet wird in dieser Studie das Begriffspaar der ›hergestellten Selbstaussagen‹ vorgeschlagen (→ Einleitung und Abschnitt 3.3). Die Oral History etablierte sich jedenfalls seit den 1980er-Jahren als eigenständige Forschungsrichtung mit speziell weiterentwickelten Methoden in verschiedenen theoretischen ›Schulen‹. Aus dem deutschsprachigen Raum sind dabei etwa die Arbeiten der Historiker Lutz Niethammer, Alexander von Plato oder Reinhard Sieder sowie des Volkskundlers Albrecht Lehmann zu nennen.27 Die Historikerin Hanne Lessau schätzte, die lebensgeschichtlichen Interviews haben »die eigentliche Schlüsselrolle innerhalb der zu Forschungszwecken herangezogenen und archivierten Selbstzeugnisse« in der Sozialgeschichte des späten 20. Jahrhunderts gespielt.28

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Akten im Archiv als Quelle, sondern der lebende Mensch, der seine Geschichte erzählt, der Stellungnahme dazu erwartet und auch von der Lebensgeschichte seines Gegenübers etwas wissen will. Kommunikation also, statt isoliertes Quellenstudium, lebendiger Austausch zwischen Gesprächspartnern, bei der sich immer wieder die Frage stellte: Was bietet der Forscher dem Interviewpartner, der ihm seine Lebensgeschichte anvertraut?« Mitterauer: Lebensgeschichten sammeln, 1991, S. 20; vgl. auch ders.: »Ich in der Geschichte, Geschichte im Ich«, 1998, S. 244f. Günter Müller: »Vielleicht interessiert sich mal jemand …« Lebensgeschichtliches Schreiben als Medium familiärer und gesellschaftlicher Überlieferung, in: Peter Eigner, Christa Hämmerle und Günter Müller (Hg.): Briefe – Tagebücher – Autobiographien. Studien und Quellen für den Unterricht, Innsbruck/Wien/Bozen 2006, S. 76–94, S. 80. Peter Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften. Geschichte der Jugendforschung in Deutschland und Österreich, Opladen 1990, S. 198. Thomas Etzemüller: Biographien. Lesen – erforschen – erzählen, Frankfurt am Main/New York 2012, S. 81. Ein Überblick findet sich in Thomas Hengartner und Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.): Leben – Erzählen. Beiträge zur Erzähl- und Biographieforschung. Festschrift für Albrecht Lehmann, Berlin 2005. Hanne Lessau: Sammlungsinstitutionen des Privaten. Die Entstehung von Tagebucharchiven in den 1980er und 1990er Jahren, in: Janosch Steuwer und Rüdiger Graf (Hg.): Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2015, S. 336–365, S. 340.

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2) Die zweite gängige Quellenform der Alltags- und Sozialgeschichte sind niedergeschriebene Antworten auf Schreibaufrufe (→ Abschnitt 3.6). Zahlreiche lebensgeschichtliche Studien und Editionen, die inzwischen veröffentlicht wurden, gehen auf solche Initiativen zurück.29 Je nach Gestaltung und Umfang handelt es sich dabei mehr oder weniger ebenfalls um ›hergestellte Selbstaussagen‹. Wie in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt wurde, haben solche Aufrufe eine lange und auch internationale Tradition. Die verschiedenen Projekte sind dabei aber in den allermeisten Fällen nicht zu historischen Forschungszwecken angelegt worden.30 Eine Ausnahme war das 1937 in Großbritannien begonnene sozialwissenschaftliche Forschungsprojekt »Mass Observation« (→ Abschnitt 3.5).31 3) Die dritte Quellenform sind schließlich schriftliche Selbstzeugnisse wie Tagebücher, Briefe oder lebensgeschichtliche Erzählungen. Im Gegensatz zu den angeregten, ›hergestellten‹ Quellen handelte es sich dabei um Texte, die von den historischen Akteur/innen zu einem früheren Zeitpunkt und dabei auch zu einem anderen Zweck verfasst worden waren (→ Abschnitt 4.4). Die Wissenschafter/innen haben sie dann später als Quellen für ihre Forschungsvorhaben »erschlossen«.32 In dieser Studie wird dafür das Begriffspaar der ›vorgefundenen Selbstaussagen‹ vorgeschlagen (→ Einleitung und Abschnitt 3.3). Die Formulierung ist wiederum eine verknüpfte Ableitung von Peter Dudek und Thomas Etzemüller.33 Erste Studien zu Tagebüchern von Frauen veröffentlichten Doris Niemeyer 1986 und Susanne zur Nieden 1993.34 29 Siehe dazu u. a. mehrere Bände der seit 1983 von der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (Doku) am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien herausgegebenen Buchreihe »Damit es nicht verloren geht« (→ Abschnitt 3.3 und 3.6). 30 Andere Zwecke waren Identitätsstiftung oder Selbstbeforschung (→ Abschnitt 2.2), wie es etwa von der Arbeiter/innen- und der Jugendbewegung im frühen 20. Jahrhundert praktiziert wurde. Zudem wurden solche Aufrufe in der politischen Propaganda eingesetzt. Im Ersten Weltkrieg wurden von Museen, Bibliotheken oder Archiven »Kriegssammlungen« angelegt, die verschiedene Formen von Selbstzeugnissen enthalten konnten. Für Deutschland und Österreich: Julia Freifrau Hiller von Gaertringen (Hg.): Kriegssammlungen 1914–1918, Frankfurt am Main 2014. Auch Aufsatzwettbewerbe wurden als propagandistisches Mittel eingesetzt. Für den Zweiten Weltkrieg: Katja Kosubek: »genauso konsequent sozialistisch wie national!« Die Alten Kämpferinnen der NSDAP vor 1933, Göttingen 2017. 31 James Hinton: The Mass Observer. A History 1937–1949, Oxford 2013. 32 Müller: »Vielleicht interessiert sich mal jemand …«, 2006, S. 80. 33 Peter Dudek verwendete für diese Art von Quellen den Begriff »spontane Selbstaussagen«. Vor der Folie der Diskussion, dass das Verfassen von Selbstzeugnissen immer auch von außen angeregt ist (→ Kapitel 4), wird dieser Begriff hier nicht übernommen. Thomas Etzemüller sprach seinerseits von »vorgefundenem Material«, was aus der einseitigen Sicht der Forschenden gesprochen ist. Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften, 1990, S. 198; Etzemüller: Biographien, 2012, S. 81. 34 Doris Niemeyer: Die intime Frau. Das Frauentagebuch – eine Überlebens- und Widerstandsform, Frankfurt am Main 1986; Susanne zur Nieden: Alltag im Ausnahmezustand. Frauentagebücher im zerstörten Deutschland 1943 bis 1945, Berlin 1993.

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Für die Alltags-, die Sozial- und die Frauengeschichtsforschung wurden die verschiedenen Formen von ›Selbstaussagen‹ jedenfalls zu wichtigen Quellen. Im Rahmen ihrer wissenschaftlichen Auswertung wurde aber sofort die dringliche Notwendigkeit sichtbar, sie auch systematisch zu sammeln (→ Abschnitt 3.2).35 Aber gab es überhaupt genügend Material? Christa Hämmerle hat beschrieben, dass von der Forschung bis dahin schlichtweg auch einfach unterschätzt worden war, in welchem Ausmaß Schreiben als soziale Praxis schon in der Vergangenheit verbreitet gewesen ist. Selbst unter Personen in bildungsferneren Umfeldern.36 Die gezielte Suche machte erst sichtbar, wie viel tatsächlich geschrieben worden ist. Und wie viele von solchen persönlichen Aufzeichnungen in Dachböden oder anderen Speicherorten aufbewahrt worden waren. Auch zeigte sich im Zuge dessen die vorhandene Bereitschaft der Schreiber/innen bzw. Verwalter/innen der Selbstzeugnisse, sie einer wissenschaftlichen Öffentlichkeit zu übergeben.37 Es wurde eine spiralförmige Dynamik in Gang gesetzt: Weil Selbstzeugnisse beforscht wurden, wurden sie gesucht. Weil sie gesucht wurden, wurden sie auch gefunden. Und weil sie jetzt verfügbar waren, konnten sie zunehmend ausdifferenziert beforscht werden – und werden es immer noch. Dieser Zwischenstand ist die aktuelle Situation.

Konjunkturen der aktuellen zeithistorischen Tagebuchforschung Die aktuelle historisch-kulturwissenschaftliche Tagebuchforschung beschäftigt sich auf zwei Ebenen mit ihrem Gegenstand. Einerseits geht es um die Inhalte der Aufzeichnungen. Andererseits um das Genre an sich. Neben den zeitlich und sozial situierten Konventionen und Moden werden dabei etwa die möglichen 35 Ein frühes Beispiel im deutschsprachigen Raum war die Initiative von Rudolf Schenda im Schweizer Bezirk Winterthur, der 1980 einen Aufruf startete. Einzelne der dabei gesammelten Texte sind veröffentlicht in Rudolf Schenda (Hg.) unter Mitarbeit von Ruth Böckli: Lebzeiten. Autobiografien der Pro-Senectute-Aktion, Zürich 1982. Bernd Jürgen Warneken hat in seiner Publikation »Populare Autobiographik« (1985) wiederum auf Initiativen u. a. an Volkshochschulen in Stuttgart hingewiesen, die bis in die 1970er-Jahre zurückgehen. Danke an Günter Müller für diese Hinweise. Frühe Projekte werden auch vorgestellt in Hämmerle: Formen des individuellen und kollektiven Selbstbezugs, 1991. 36 Christa Hämmerle: »Und etwas von mir wird bleiben …« Von Frauennachlässen und ihrer historischen (Nicht)Überlieferung, in: Montfort. Vierteljahresschrift für Geschichte und Gegenwart Vorarlbergs, Jg. 55, 2003, Heft 2, S. 154–174, S. 157. 37 Eine auf Deutschland bezogene wissenschaftshistorische Darstellung dieser Entwicklung findet sich in Lessau: Sammlungsinstitutionen des Privaten, 2015. Zu den Veränderungen von Sammlungspolitiken und -konzeptionen in den vergangenen Jahrzehnten aus einer breiteren Perspektive siehe zuletzt die Beiträge in Michael Farrenkopf, Andreas Ludwig und Achim Saupe (Hg.): Logik und Lücke. Die Konstruktion des Authentischen in Archiven und Sammlungen, Göttingen 2021.

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Funktionen des diaristischen Schreibens38 sowie die individuellen Umsetzungen und damit die Formenvielfalt beforscht.39 Dabei konnte u. a. plausibel gemacht werden, dass bisher weniger beachtete Aufzeichnungsformen wie etwa Kalender oder Haushaltsbücher ebenfalls diaristische Aufzeichnungen enthalten können, die dabei keineswegs »formlose[…] Gebrauchstexte«40 sind, wie es in der (literaturwissenschaftlichen) Forschung zuvor häufig unterstellt worden war.41 Dieser Zugang, der den Inhalt der Quellen in Verbindung mit ihrer Form in den Blick nimmt, unterscheidet sich wesentlich von jenem der ereignisbezogenen Geschichtsforschung. Hier wurden Selbstzeugnisse – wenn überhaupt – vornehmlich dazu herangezogen, historische Ereignisse mit akzentuierten Aussagen von sogenannten ›Zeitzeug/innen‹ gewürzt zu ›illustrieren‹. Die Historikerin Dagmar Günther fand für diese Art der Verwendung von auto/biografischen Quellen die kritische Bezeichnung »Steinbruch für Fakten und Erfahrung«.42 Ein ausführlicher Überblick über den derzeitigen Stand der historischen Tagebuchforschung würde den Rahmen dieses Kapitels bei weitem sprengen.43 Stattdessen werden exemplarisch drei Studien herausgegriffen, die als eine Momentaufnahme vorgestellt werden. Diese konzentrierte Auswahl legitimiert sich durch die Vergleichbarkeit der drei Bücher. Alle drei sind Sammelbände, alle drei wurden 2015 veröffentlicht, sie sind jeweils aus themenspezifischen Veranstaltungen hervorgegangen und beschäftigen sich inhaltlich mit zeithistorischen Themen. Sie versammeln die Ergebnisse von 35 Autor/innen, die (mit einzelnen Ausnahmen) im oder zum deutschsprachigen Raum arbeiten. Die Zusammenschau der Bände gibt als inhaltlich zugespitztes Blitzlicht einen soliden Eindruck der unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der aktuellen Akteur/innen der zeithistorischen Tagebuchforschung. Dabei steht bereits der 38 Dazu zuletzt Peter-Paul Bänziger: Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Konsumund Arbeitsgesellschaft, 1840–1940, Göttingen 2020. 39 Dazu u. a. Gold, Holm, Bös und Nowak (Hg.): @bsolut privat!?, 2008. Durch das Mit-Einbeziehen der neuen Formen der Weblogs wurden die Definitionen des diaristischen Schreibens hier noch erweitert (Tine Nowak: Vom Blatt zum Blog. Der Medienamateur und das digitale Tagebuch, S. 51–63). 40 Holm: Montag Ich, 2008, S. 10. 41 The »ordinary writer is writing for use«, behauptete etwa die Literaturwissenschafterin Jennifer Sinor in dies.: The Extraordinary Work of Ordinary Writing: Annie Ray’s Diary, Iowa City 2002, 13f. Dazu u. a.: Li Gerhalter: »Einmal ein ganz ordentliches Tagebuch«? Formen, Inhalte und Materialitäten diaristischer Aufzeichnungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Steuwer und Graf: Selbstreflexionen und Weltdeutungen, 2015, S. 64–85. 42 Dagmar Günther: »And now for something completely different«. Prolegomena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft, in: Historische Zeitschrift, Jg. 272, 2001, Heft 1, S. 25–61, S. 61. 43 Ein komprimierter Überblick zur Tagebuchforschung findet sich in Hämmerle und Gerhalter: Tagebuch – Geschlecht – Genre, 2015, S. 8–23. Zur aktuellen historischen Selbstzeugnisforschung (allgemein) in Volker Depkat: Autobiografie und Biografie im Zeichen des Cultural Turn, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte, Jg. 5, 2014, S. 247–256.

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Umstand, dass 35 verschiedene Forscher/innen im selben Jahr wissenschaftliche Texte über Tagebücher in einem thematisch abgesteckten Rahmen publiziert haben, für die zuvor festgestellte Vitalität des Forschungsfeldes. Der erste der drei Sammelbände aus 2015 hat »Tagebücher und persönliche Zeugnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust« zum Thema.44 Damit wird ein besonders klar definierter inhaltlicher Schwerpunkt verfolgt. Das Buch wurde von Frank Bajohr und Sybille Steinbacher herausgegeben und geht zurück auf das »Dachauer Symposium zur Zeitgeschichte 2014«.45 Frank Bajohr ist Leiter des Zentrums für Holocaust-Studien des Instituts für Zeitgeschichte München–Berlin. In der Einleitung des Sammelbandes geht er u. a. auf die Komplexität des wissenschaftlichen Arbeitens mit diaristischen Aufzeichnungen aus der NS-Zeit ein.46 Diese Tagebücher sind in einem Kontext entstanden, in dem die Bevölkerung in Österreich, Deutschland und den besetzten Gebieten streng getrennt war in Angehörige der ›Mehrheitsgesellschaft‹ sowie jene der verfolgten Personengruppen.47 Dieser Aspekt muss in der wissenschaftlichen Auswertung der damals entstandenen auto/biografischen Texte immer im Blick behalten werden. Bei der Rezeption von veröffentlichten Tagebuchtexten aus dem Zweiten Weltkrieg sieht Bajohr jedenfalls klare Tendenzen: Die »Tagebücher von NS-Tätern [sind] in der Regel keine Verkaufserfolge […], weil es sich bei NS-Tätern nicht um Sympathieträger handelt, mit denen sich eine breite Öffentlichkeit gerne identifiziert«.48 Diese Bemerkung zeigt einmal mehr, dass Editionen von Selbstzeugnissen nicht nur von einem forschenden Publikum gelesen und rezipiert werden. Gerade Quellen aus dem Zweiten Weltkrieg sind Teil von sehr diversen Erinnerungskulturen und -strategien. Damit haben sie immer auch eine gesellschaftspolitische Relevanz. Die Bezugnahme auf mögliche »Verkaufserfolge« zeigt weiters, dass Editionen auch einen bestimmten Buchmarkt bedienen. Dieser funktioniert nicht zuletzt nach kommerziellen Gesetzmäßigkeiten, welche ihrerseits die Themenauswahl mitbestimmen.

44 Frank Bajohr und Sybille Steinbacher (Hg.): »…Zeugnis ablegen bis zum letzten.« Tagebücher und persönliche Zeugnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust, Göttingen 2015. 45 Das Programm der Veranstaltung ist online abrufbar unter: www.univie.ac.at/zeitgeschichte/ 10-11-10-15-dachauer-symposium-zur-zeitgeschichte-2014. (Alle in diesem Kapitel zitierten Websites und Webressourcen wurden zuletzt aufgerufen am 7. Oktober 2020.) 46 Frank Bajohr: Das »Zeitalter des Tagebuchs«? Subjektive Zeugnisse aus der NS-Zeit. Einführung, in: ders. und Steinbacher: »…Zeugnis ablegen bis zum letzten«, 2015, S. 7–21. 47 Vgl. dazu auch Christa Hämmerle: Between Instrumentalisation and Self-Governing: (Female) Ego-Documents in the Age of Total War, in: François-Joseph Ruggiu (Hg.): Les usages des écrits du for privé. Afrique, Amérique, Asie, Europe, Oxford/u. a. 2013, S. 263–284. 48 Bajohr: Das »Zeitalter des Tagebuchs«?, 2015, S. 15.

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Der zweite Sammelband aus 2015 beschäftigt sich mit den Themen »Krieg – Politik – Schreiben« in »Tagebücher[n] von Frauen (1918–1950)«.49 Der zeitliche Fokus ist dem Titel entsprechend also etwas breiter als im ersten Beispiel. Das Buch wurde von Christa Hämmerle und mir herausgegeben und umfasst Beiträge, die in drei Veranstaltungsformaten vorgestellt wurden, die 2006 und 2007 im Rahmen der Forschungsplattform »Neuverortung der Frauen- und Geschlechtergeschichte im veränderten europäischen Kontext« an der Universität Wien veranstaltet wurden.50 Die Teilnehmer/innen aus Österreich, Deutschland, Großbritannien und Italien haben dabei insbesondere methodische Zugänge zu einer Tagebuchforschung mit geschlechterhistorischem Schwerpunkt diskutiert. Der Sammelband enthält eine konzeptionelle Einleitung zum Thema »Tagebuch – Geschlecht – Genre im 19. und 20. Jahrhundert«. Die Fallstudien verfolgen als gemeinsamen Bezugspunkt das diaristische Schreiben von Mädchen und Frauen im Zusammenhang mit Krieg und Politik im Zeitraum von 1918 bis 1950. Die einzelnen Texte sind dabei trotz der relativ eng abgesteckten thematischen Abstimmungen sehr unterschiedlich. Das macht deutlich, wie vielfältig die Forschungsfragen und -methoden auch in einem klar definierten inhaltlichen Feld sein können. Die Beiträge geben zudem einen Eindruck der verschiedenen diaristischen Praktiken von Mädchen und Frauen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Literaturwissenschaftliche Überlegungen von Arno Dusini zur Frage »Was am Tagebuch ›weiblich‹ sein soll« runden den Bogen des Bandes theoretisch ab.51 Der dritte Sammelband aus 2015 nimmt schließlich »Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts« in den Blick.52 Der damit zeitlich weiter konzipierte zeithistorische Kontext reicht vom Ersten Weltkrieg bis in die 1990er-Jahre. Das Buch wurde herausgegeben von den Historikern Janosch Steuwer und Rüdiger Graf. Sie haben auch die Tagung an der Ruhr-Universität Bochum (2014) organisiert, auf der die Publikation aufgebaut ist.53 Vor allem in jenen Artikeln, die sich auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhun49 Gerhalter und Hämmerle: Krieg – Politik – Schreiben, 2015. 50 Die Forschungsplattform war von 2006 bis 2012 an der Universität Wien eingerichtet. Sie wurde geleitet von Edith Saurer und Christa Hämmerle. Die drei Veranstaltungen waren der internationale Workshop »Sprache und Erinnerung in Frauentagebüchern des 20. Jahrhunderts«, die Ringvorlesung »Frauentagebücher im 19. und 20. Jahrhunderts« sowie ein Workshop für Diplomand/innen- und Dissertant/innen. Das Programm der Ringvorlesung ist online abrufbar unter: www.univie.ac.at/Geschichte/salon21/?p=30098. Ein Bericht über den Workshop von Nikola Langreiter ist online verfügbar unter: www.univie.ac.at/Geschichte /Neuverortung-Geschlechtergeschichte/cms/images/pdfs/kurzbericht_spracheund-erinneru ng.pdf. 51 Arno Dusini: Was am Tagebuch ›weiblich‹ sein soll, in: Gerhalter und Hämmerle: Krieg – Politik – Schreiben, 2015, S. 163–173. 52 Steuwer und Graf: Selbstreflexionen und Weltdeutungen, 2015. 53 Ein Bericht von Hagen Stöckmann ist online verfügbar unter: www.hsozkult.de/conferencere port/id/tagungsberichte-5643.

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derts beziehen, werden gesellschaftspolitische Aspekte der wissenschaftlichen Arbeit mit Tagebüchern sichtbar. Beispiele sind der Beitrag von Sylke Kirschnick zu »Anne Franks Tagebuch in der ostdeutschen Erinnerungskultur«54 oder Marcus Böicks Text über das »Umfragetagebuch« des Zentrums für Interdisziplinäre Frauenforschung (ZIF) an der Humboldt Universität in Berlin zu den Jahren 1989 und 1990.55 Der schon zitierte Beitrag von Hanne Lessau »Sammlungsinstitutionen des Privaten« stellt mehrere zentrale Fragen zur Zusammensetzung von Archivbeständen, die auch für dieses Kapitel leitend sind.56 Das drittgenannte Buch hat den offensten inhaltlichen Zugang. Entsprechend spiegeln die 16 darin veröffentlichten Beiträge auch die Heterogenität sowohl der zeithistorischen Forschung als auch der Selbstzeugnisforschung wider. Letztlich gilt das für alle drei hier kursorisch vorgestellten Sammelbände. Mehrere der 35 Autor/innen konnten für ihren Beitrag auf langjährige Forschungen zurückgreifen, in denen sich die meisten auch konzeptionell mit dem Genre beschäftigt haben. Ebenfalls mehrere haben auch Monografien zu dem Thema »Tagebuch« vorgelegt.57 Manche der Autor/innen haben sich aber erst aus Anlass der jeweiligen Veranstaltung bzw. der Veröffentlichung auch einmal mit Tagebüchern beschäftigt. Sie verfolgen sonst andere Schwerpunkte, haben sich aber dazu motivieren lassen, sich auf einen thematischen ›Abstecher‹ zu begeben und sich mit dem diaristischen Schreiben auseinanderzusetzten. Gerade diesen Umstand lese ich als Beleg dafür, dass Tagebücher als Quellen in der historischen Forschung derzeit gut etabliert sind. Die Sammlungseinrichtungen, die diese Quellen zur Verfügung stellen, werden im Folgenden vorgestellt. Der Fokus liegt dabei auf österreichischen sowie auf ausgewählten deutschen Beständen.

3.2) Historisch ausgerichtete Sammlungen für Selbstzeugnisse seit 1956 Selbstzeugnisse wurden im Rahmen der historiografischen Veränderungen seit den 1970er-Jahren als Quellen ›wiederentdeckt‹. Sie wurden gesucht, gefunden und beforscht. Der nächste Schritt in dieser Geschichte war der systematische

54 Sylke Kirschnick: Anne Franks Tagebuch in der ostdeutschen Erinnerungskultur, in: Steuwer und Graf: Selbstreflexionen und Weltdeutungen, 2015, S. 257–287. 55 Marcus Böick: »Chronisten gesucht«. Die Umbrüche von 1989/90, die Transformationsforschung und das Umfragetagebuch, in: Steuwer und Graf: Selbstreflexionen und Weltdeutungen, 2015, S. 312–335. 56 Lessau: Sammlungsinstitutionen des Privaten, 2015, S. 336–362. 57 Namentlich sind das u. a. Arno Dusini, Peter Paul-Bänziger, Miriam Gebhardt, Sylke Kirschnick, Peter Fritzsche, Philippe Lejeune, Benjamin Möckel und Janosch Steuwer.

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Auf- und Ausbau von langfristig konzipierten Sammlungen und Archiven.58 Dabei richteten sich die meisten dieser Einrichtungen von vorne herein 1) an Forscher/innen und 2) gleichzeitig an eine breitere Öffentlichkeit.59 Jedenfalls sollte das hier gesammelte Material zugänglich sein. Im Rahmen einer ›Geschichte von unten‹ wurde der Kreis der als ›beforschenswert‹ erachteten Personen radikal ausgeweitet. Die Historikerin Patrizia Gabrielli brachte den bereits genannten Begriff »zivilgesellschaftliches Engagement« für diese Projekte.60 Diese fanden dementsprechend oft in außer- oder ›semiuniversitären‹ Zusammenhängen statt. Die »neue Geschichtsbewegung«61 formierte sich in sogenannten Geschichtswerkstätten oder auch an Volkshochschulen.62 Michael Mitterauer identifizierte das als einen »Brennpunkt für einen umfassenden kommunikativen Prozeß, [ein] Prozeß, in dem sich Menschen auf die Lebensgeschichte anderer voll eingelassen haben: wissenschaftlich und nichtwissenschaftliche tätige Autoren, Forscher und Laien, wobei die ›Forscher‹ durchaus in die Rolle der ›Laien‹ geraten konnten«.63 Hier ist ein Bemühen um einen demokratischen Erinnerungsspeicher skizziert, das ein entsprechendes wissenschaftspolitisches Selbstverständnis – von allen Beteiligten – voraussetzt. Die strukturellen Rahmungen für den systematischen Aufbau von Quellensammlungen für diese neuen Unternehmungen wurden ab den späten 1980erJahren geschaffen. Vereinzelt geht die Gründung von Selbstzeugnisbeständen, die heute für die Forschung zugänglich sind, aber auch in frühere Jahrzehnte zurück. Wie kam es dazu? Als Ausklang von → Abschnitt 2.10 habe ich von Felice Wolmut (geb. Gertrud von Landesberger, 1889–1989) berichtet. Sie hat in den 1980er-Jahren ihre Jugendtagebücher an das Psychologische Institut der Universität Wien übergeben, lange nachdem dort solche Quellen beforscht wurden. 58 Zur Debatte um die Begrifflichkeiten »Archiv« und »Sammlung« siehe Österreichisches Staatsarchiv: Kleines Archiveinmaleins (o. J)., online verfügbar unter: www.oesta.gv.at/benut zung/glossar.html und Jürgen Bacia und Cornelia Wenzel: Die Archive der Protest-, Freiheitsund Emanzipationsbewegungen. Ein Überblick, in: Archivar, Jg. 70, 2017, Heft 2, S. 130–142, S. 130 (→ Einleitung). Zu dieser Diskussion siehe – aus einer theoretischen Perspektive – auch u. a. Wolfgang Schmale: Archive in der »flüssigen Moderne«, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs, Jg. 55, 2011, Teil 1, S. 297–305. Diese Debatte wird in dieser Studie nicht vertieft. Die von den Institutionen jeweils selbstgewählten Bezeichnungen werden übernommen. 59 Mitterauer: Lebensgeschichten sammeln, 1991, S. 17; ders.: »Ich in der Geschichte, Geschichte im Ich«, 1998, S. 241. 60 Gabrielli: Tagebücher, Erinnerungen, Autobiografien, 2004, S. 346. 61 Lessau: Sammlungsinstitutionen des Privaten, 2015, S. 338. 62 Einer der dabei etablierten Slogans war die von dem schwedischen Schriftsteller und Literaturhistoriker Sven Lindqvist geprägte Formulierung »Grabe wo du stehst« (»Gräv där du står«), vgl. ders.: Grabe wo du stehst. Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte, Bonn 1989 (19781). 63 Mitterauer: Lebensgeschichten sammeln, 1991, S. 17f.

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Ich habe das als »Erinnerungspraktiken im wissenschaftlichen ›Niemandsland‹« bezeichnet. Ihr Interesse daran, eigene Aufzeichnungen an ein Archiv zu übergeben, kann als eine Brücke zu den historisch ausgerichteten Sammlungen gesehen werden, die zu derselben Zeit gerade erst angedacht wurden. Eine ähnliche Brücke bildet der Bestand »Kommission Wien 1945«, der heute unter dem Namen »Wiener Historische Kommission« im Wiener Stadt- und Landesarchiv zugänglich ist.64 Diese Sammlung wurde 1956 angelegt, also lange bevor Selbstzeugnisse in der Geschichtswissenschaft im späten 20. Jahrhundert in ›Konjunktur‹ gekommen sind. Sie entstand auch nicht als Quelle für die historische Forschung. Der Anlass war stattdessen politisches Gedenken.

Tagebücher für das politische Gedenken in den 1950er-Jahren Politisches Gedenken bzw. ›Jubiläen‹ sind komplexe geschichtswissenschaftliche Themen und als solche auch breit behandelt worden.65 Für die Fragestellungen dieser Studie ist dabei interessant, dass offenbar auch ein paradoxer Zusammenhang bestehen kann zwischen hegemonialen Traditionen (wie dem Feiern von ›Jubiläen‹) und emanzipatorischen Ansprüchen (wie der Gründung einer Sammlung speziell für Selbstzeugnisse von Personen, die bis dahin in Archiven unterrepräsentiert waren). Das Beispiel der Sammlung »Kommission Wien 1945« zeigt, dass aus dem Anlass des politischen Gedenkens bereits Selbstzeugnisse gesammelt wurden, noch bevor im Kontext der »Geschichtsbewegung« Archivbestände systematisch angelegt worden sind. Diese Initiative knüpfte damit in gewisser Weise an die Tradition jener »Kriegssammlungen« an, die aus dem Ersten Weltkrieg bekannt sind (→ Abschnitt 3.1). Diese waren zu Propagandazwecken angelegt worden. Gesammelt wurden dabei Selbstzeugnisse wie Tagebuchaufzeichnungen, Korrespondenzen und Fotografien. Auszüge davon wurden in Zeitungen veröffentlicht. Die Originale wurden zumeist retourniert. Der Historiker Hans-Christian Pust führte aus, dass die Inhalte der »Kriegssammlungen« aber gleichzeitig auch für zukünftige Forschungen gedacht gewesen sein könnten. Rekurrierend auf einen Aufruf eines historischen Vereins aus Hessen aus 1915 formulierte Pust: »Aus diesem Material – so die Hoffnung – könnten

64 Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Signatur 3.15.A1 – Kommission Wien 1945. 65 Dazu u. a.: Christa Hämmerle, Heidrun Zettelbauer, Gabriella Hauch, Boz˙ena Chołuj, Ingrid Bauer und Claudia Kraft: Intervention oder Integration? Erinnerungsjahre und historische Jubiläen – geschlechtergeschichtlich gewendet, in: L’Homme. Z. F. G., Jg. 30, 2019, Heft 1, S. 109–128.

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zukünftige Historiker ›die Auffassungen und Empfindungen der verschiedenen Volksschichten, […] die Regungen der Volksseele‹ herauslesen.«66 Der Grundgedanke der Sammlung »Kommission Wien 1945« dürfte ein ähnlicher gewesen sein. Initiiert wurde sie 1956 von der Wiener Stadtregierung. Es wurde ein Aufruf in der Presse veröffentlicht, dessen Wortlaut sich in der Meldung der Nachrichtenagentur »Rathauskorrespondenz« nachvollziehen lässt: »26. 10. 1956: Zur Feststellung der geschichtlichen Wahrheit: 1945 – wie es wirklich war! Ein wichtiger Aufruf des Archivs der Stadt Wien. Das Kulturamt der Stadt Wien tritt an die Wiener Bevölkerung mit der Bitte heran, bei der Sammlung von Nachrichten über [die] Kriegs- und Nachkriegszeit, besonders aber über das nachrichtenarme Jahr 1945 behilflich zu sein und ihre Aufzeichnungen, Tagebücher, Briefe und sonstigen Berichte zum Zweck der Aufnahme und dauernden Aufbewahrung zur Verfügung zu stellen.«67 Entsprechend einem später veröffentlichten groben Inventar haben sich 82 Personen an dem Aufruf von 1956 beteiligt.68 Ihre Selbstdokumentationen kamen in das Archiv der Stadt Wien. (Zum Bestand siehe → Abschnitt 3.6). Knapp 20 Jahre später wurde der Faden erneut aufgenommen. »Anlässlich des 30. Jahrestages der Wiedergeburt Österreichs« richtete der damalige Bürgermeister Leopold Gratz 1975 abermals einen Aufruf an die Wiener Bevölkerung, ihre Erinnerungen zu teilen. Im einleitenden Vorwort des 1977 veröffentlichten Inventars der Sammlung erklärte der SPÖ-Politiker weiters: »Der Idee, die ›Kommission Wien 1945‹ zu berufen, lag der Gedanke zugrunde, daß es leichter ist, sich über das Revolutionsjahr 1848 oder über die Besetzung Wiens durch Napoleon zu informieren, als über die Vorgänge im Jahre 1945«.69 Der Aufruf wurde »unter Teilnahme der Massenmedien« breit lanciert und fand großes Echo.70 In der veröffentlichten überblicksmäßigen Inventarliste sind Aufzeichnungen von 284 Personen vermerkt. 27 von ihnen (knapp 10 Prozent) sind mit »entfällt« aufgelistet. Laut Angaben in der Legende bedeutete das, »daß sich der eingesandte Beitrag nicht auf den Arbeitsbereich der Kommission bezog; ein 66 Hans-Christian Pust: Was sammelten Kriegssammlungen?, in: Hiller von Gaertringen: Kriegssammlungen 1914–1918, 2014, S. 49–67, S. 59–61. Ein systematischer Vergleich solcher »Kriegssammlungen« mit Sammlungen, die zu politischen Jubiläen angelegt wurden, wäre eine lohnende weiterführende Forschungsfrage. 67 Stadt Wien: Rathauskorrespondenz – Rückblick – Wien 1956: Berichte vom Oktober 1956, Wien (o. J.), online verfügbar unter: www.wien.gv.at/rk/historisch/1956/oktober.html. 68 Helmut Kretschmer: Materialsammlung aus dem Jahr 1956 (Bestände des Wiener Stadt- und Landesarchivs zum Jahr 1945), in: Wiener Geschichtsblätter, Jg. 32, 1977, Sonderheft 2 (»Kommission Wien 1945« Abschlußbericht), S. 98–101, S. 98. 69 Leopold Gratz: Geleitwort, in: Wiener Geschichtsblätter, 1977, Sonderheft 2, S. 73–74, S. 73. 70 Christine Klusacek und Kurt Stimmer: Die Arbeit der »Kommission Wien 1945«, in: Wiener Geschichtsblätter, 1977, Sonderheft 2, S. 75–76, S. 75. Eine Inventarliste wurde veröffentlicht in: Christine Klusacek: Material der »Kommission Wien 1945«, in: Wiener Geschichtsblätter, 1977, Sonderheft 2, S. 78–97.

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beträchtlicher Teil dieser Einsendungen waren Briefe, in denen dem Bürgermeister für seine Initiative gedankt wurde.«71 1978 wurde das Projekt in »Wiener Historische Kommission« umbenannt und ein dritter Aufruf gestartet. Diesmal sollte der zeitliche Schwerpunkt zwischen den Jahren 1918 und 1938 liegen.72 Der Bestand ist im Wiener Stadt- und Landesarchiv untergebracht und kann dort recherchiert werden. Entsprechend dem inhaltlichen Schwerpunkt aller drei Aufrufe setzt er sich aus Dokumenten zusammen, die einen räumlichen Fokus auf Wien haben und zeitlich von der Zwischenkriegszeit bis in die Monate unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg reichen.73 Der Großteil der Quellen behandelt das Jahr 1945. Von ihrer Form her sind die meisten eingereichten Texte Abschriften aus anderen auto/biografischen Aufzeichnungen. Diese wurden von ihren Verfasser/innen gekürzt oder umgearbeitet, um den Vorgaben der Aufrufe zu entsprechen. Direkt angesprochen hat das etwa die ehemalige Pferdefuhrwerkerin Elisabeth Horak 1975 in dem Begleitbrief zu ihrer Einreichung: »Ich habe hier ein ganz kleines Bild von meinen Erlebnissen, die ich 1945 durchgemacht habe, wenn ich alles hier niederschreiben müsste, würde es ein Buch mit unzähligen Seiten werden, ich nahm nur Teile von meinem Tagebuch heraus.«74 Die meisten Einsender/innen dürften ähnlich vorgegangen sein: Von den insgesamt 18 Tagebuchaufzeichnungen von Frauen im Bestand der »Kommission Wien 1945« und der »Wiener Historischen Kommission« sind 16 Abschriften (→ Abschnitt 3.6).75 Die inhaltlichen Einschränkungen, die in diesem Fall offensichtlich auch zu thematischen Zuschnitten von längeren Aufzeichnungen geführt haben, betreffen ›hergestellte Selbstaussagen‹ insgesamt. Die Schreiber/innen werden dabei weniger als freie Autor/innen verstanden, sondern vielmehr als »Chronist/innen«.76 Entsprechend wurde die Wiener Bevölkerung im Aufruf von 1956 auch gebeten, sie möge bei der »Sammlung von Nachrichten über [die] Kriegs- und Nachkriegszeit […] be71 Ebd.: S. 78. 72 Christine Klusacek: Vorwort, in: Wiener Geschichtsblätter, Jg. 36, 1981, Beiheft 2 (Wiener Historische Kommission. Tätigkeitsbericht 1975–1980), S. 5–6, 5. In dem Heft enthalten ist auch eine von Christine Klusacek erstellte Inventarliste des Bestandes (S. 7–19). 73 Bei dem dritten Aufruf wurde die Beschränkung auf den angegebenen Zeitraum nicht mehr strikt verfolgt. Daher enthält der ab 1978 gesammelte Bestand auch vereinzelte Aufzeichnungen, die bis in das 19. Jahrhundert zurückgehen. 74 Elisabeth Horak (persönliche Daten unbekannt): Brief an das Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA) (o. J.), Signatur 3.15.A1 – Kommission Wien 1945 {gesammelt 1975} 158 Elisabeth Horak. 75 Auswertungen der Quellen finden sich u. a. in Sandra Staudinger: Das Jahr 1945 in Tagebüchern von Wiener Frauen, Diplomarbeit, Wien 2010; Helen Steele: The experiences of women in Vienna, 1944–1948, Dissertation, Swansea 2012; dies.: Daily Lives and Informal Networks in the Diaries of two Viennese Women (1943–1945), in: Gerhalter und Hämmerle (Hg.): Krieg – Politik – Schreiben, 2015, S. 71–86. 76 Böick: »Chronisten gesucht«, 2015.

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hilflich« sein77 – und nicht etwa, sie möge ihre persönlichen Erinnerungen darstellen. Nach meiner derzeitigen Recherche handelt es sich bei dem Bestand der »Kommission Wien 1945« von 1956 jedenfalls um die früheste Sammlung schriftlicher Selbstzeugnisse, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Österreich systematisch zum Zweck historischer Dokumentation und Forschung angelegt worden ist. Die Beschreibung, die der Wiener Bürgermeister Leopold Gratz zwanzig Jahre später dafür fand, fiel äußerst pathetisch aus. Als Anlass für die »Beschäftigung mit den Geschehnissen des Jahres 1945« benannte der Politiker in einem knappen »Geleitwort« des Aufrufs von 1975 verschiedene Ebenen. Neben »dem Interesse des Historikers« sei es als »ein Dank an die Generationen [gedacht], die – inmitten von Trümmern und Elend, hungernd und das Notwendigste entbehrend – voll Zukunftsglauben den Wiederaufbau der Heimat begannen.« Sich mit der eigenen Vergangenheit zu beschäftigen, sei »vor allem aber auch das Bemühen, die Lehren jener Zeit und die vorangegangenen Jahre im Bewußtsein der Menschen unseres Landes lebendig zu erhalten und sie den nachfolgenden Generationen zu vermitteln – damit unser Land niemals mehr ein so furchtbares Schicksal erleiden muß.«78 Als ein zweiter früher Bestand, der im Zuge eines (politischen) Gedenkjahres initiiert wurde, kann das »Bild- und Tonarchiv« am Universalmuseum Joanneum in Graz vorgestellt werden. Die Sammlung wurde 1959 vom Land Steiermark als »Zentralarchiv für Bild- und Tonaufnahmen« gegründet. Neben Fotografien enthält sie u. a. auch auto/biografische Aufzeichnungen.79 Der Anlass dazu war das laufende »Erzherzog-Johann-Gedenkjahr«, hundert Jahre nach dem Tod dieses in der Steiermark höchst populären Mitgliedes der Familie Habsburg. Mit »den modernen Mitteln des Bildes und Tones« sollte dabei »dessen Idee, eine Bestandsaufnahme über die Steiermark zu erarbeiten, aufgegriffen« werden. Als »erstes medienübergreifend ausgerichtetes Institut in Österreich« machte sich das Zentralarchiv daran, audio/visuelle Quellen sowohl selbst zu produzieren als auch zu sammeln.80 Gesucht wurden dabei »alle Unterlagen auf dem Gebiet der Fotografie, des Films und der Tonwiedergabe, die den Bestand des Landes Steiermark hinsichtlich der Natur, Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft festhalten« würden.81 Dokumentiert werden sollten damit »alle Lebensbereiche des 77 Stadt Wien: Rathauskorrespondenz, o. J. 78 Leopold Gratz: Geleitwort, in: Wiener Geschichtsblätter, 1977, Sonderheft 2, S. 74. 79 Der Bestand ist heute Teil der »Multimedialen Sammlungen« im Universalmuseum Joanneum in Graz. 80 Steiermärkischer Landtag/Landesrechnungshof: Bericht LRH 16 B 1–2002/10. Überprüfung des Bild- und Tonarchivs, Graz 2002, S. 3. 81 Universalmuseum Joanneum Presse: Die Multimedialen Sammlungen. Vom Zentralarchiv zu den Multimedialen Sammlungen, Graz o. J., S. 1.

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Landes«.82 Das Projekt wurde 1960 in »Steirische Landesstelle für Bild- und Tondokumentation« umbenannt. Als »eine zentrale Sammlung einer sich weiterentwickelnden zeitgeschichtlichen Landesdokumentation« sollte der Bestand »auf das Niveau des gebildeten Laien abgestimmt [werden und] allgemein zugänglich« sein. 1962 konnten bereits 80.000 Objekte verzeichnet und eine Auswahl davon in einer Ausstellung präsentiert werden.83 Diese beiden Projekte der 1950er-Jahre waren klar identitätsstiftend ausgerichtet.84 Ein zivilgesellschaftlicher Anspruch lässt sich hier (noch) nicht ablesen. Sie können aber als Vorläufer/innen der späteren im Kontext der »Geschichtsbewegung« entstanden Initiativen eingestuft werden. Nach meiner Beobachtung wurden beide Bestände bisher nicht in fachhistorische Darstellungen zur Entstehung von historisch ausgerichteten Sammlungen für Selbstzeugnisse miteinbezogen. Ein Grund dafür kann darin liegen, dass sie keine eigenen Institutionen sind. Beide Bestände sind Teile großer Archive, die insgesamt einen anderen Schwerpunkt verfolgen. Ihre Existenz lässt jedenfalls gleichzeitig vermuten, dass bei weiteren Bestandsrevisionen noch andere solcher frühen Initiativen ›entdeckt‹ werden könnten. Welche Einrichtungen gibt es nun aber, die dezidiert Selbstzeugnisse sammeln? Und wie viele sind es?

Verschiedene Formen von Institutionalisierungen seit den 1980er-Jahren85 Vor der Folie der bisherigen Ausführungen könnte inzwischen der Eindruck entstanden sein, dass es zahlreiche Sammlungsinitiativen gibt, die sich ausschließlich auf das Sammeln auto/biografischer Formate von Menschen, die in keiner prominenten Öffentlichkeit standen, spezialisiert haben. Tatsächlich ist ihre Zahl mehr als überschaubar. Im gesamten deutschsprachigen Raum gibt es derzeit drei Sammlungen, die eigene Einrichtungen sind, und nicht Teil einer größeren Archivinstitution, die auch anderes Material sammelt. Den umfangreichsten Bestand hält das Deutsche Tagebucharchiv in der südwestdeutschen Kleinstadt Emmendingen. Es wurde 1998 gegründet und ist als Verein organisiert. Der Bestand umfasst derzeit (2020) Selbstzeugnisse von 4.685 Personen. Die zwei anderen Einrichtungen befinden sich in Österreich. Beide sind im Umfeld 82 Steiermärkischer Landtag/Landesrechnungshof: Bericht, 2002, S. 3. 83 Universalmuseum Joanneum Presse: Die Multimedialen Sammlungen, o. J., S. 1. 84 Dazu u. a. Herbert Justnik (Hg.): GESTELLT. Fotografie als Werkzeug in der Habsburgmonarchie, Wien 2014. 85 Alle in diesem Kapitel vorgestellten Einrichtungen sind mit einer Website unter ihrem Namen im Internet zu finden. Aus diesem Grund kann darauf verzichtet werden, die Webadresse jeweils konkret in einer Fußnote anzugeben. Alle Angaben zu den Beständen, zu den Gründungsjahren etc. sind – wenn nichts anderes angegeben ist – den Websites entnommen.

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der Universität Wien entstanden: Die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (Doku) ist hier »Anfang der 1980er-Jahre«86 am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte eingerichtet worden. Der Bestand umfasst Texte von ebenfalls mehr als 4.000 Schreiber/innen. Die Sammlung Frauennachlässe besteht seit 1990 am Institut für Geschichte der Universität Wien. Hier sind aktuell die schriftlichen Vor- oder Nachlässe von 444 Personen verzeichnet, die u. a. 1.478 Tagebuchbände, ca. 62.690 Korrespondenzschriftstücke oder ca. 79.800 Fotografien enthalten.87 Die Menge an Quellen, die diese drei Spezialsammlungen bieten, ist durchaus beachtlich. Was ihre finanzielle Ausstattung betrifft, sind alle drei Einrichtungen aber verhältnismäßig klein: Die Doku und die Sammlung Frauennachlässe an der Universität Wien sind fix jeweils nur mit einer Teilzeitstelle besetzt. Der Betrieb des Tagebucharchivs in Emmendingen wird wesentlich durch ehrenamtlich tätige Mitarbeiter/innen getragen.88 Die vier weiteren großen Sammlungen für Selbstzeugnisse in Deutschland sind keine eigenständigen Institutionen. Sie sind jeweils Teil von größeren Archiv- bzw. Bibliothekseinrichtungen: Das Kempowski-Biografienarchiv wurde von dem Schriftsteller Walter Kempowski (1929–2007) seit 1980 in Nartum in Niedersachsen als privat geführte Sammlung aufgebaut.89 Inzwischen ist es Teil der von der Akademie der Künste in Berlin verwalteten Archivbestände. Es enthält ca. »8.000 Positionen«, darunter einen großen Bestand von Tagebüchern.90 Die Feldpostsammlung Berlin wird seit 2000 vom Museum für Kommunikation Berlin getragen.91 Sie hat derzeit mehr als 120.000 Schriftstücke im 86 Dazu u. a. Günter Müller: Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, in: Eigner, Hämmerle und Müller: Briefe – Tagebücher – Autobiographien, 2006, S. 140–146, S. 140. 87 Die Sammlung Frauennachlässe verfolgt in Bezug auf das Material der Archivalien einen dezidiert offenen Sammlungsfokus. Es werden neben den papierenen Dokumentationen auch kleine Gegenstände übernommen, falls diese eine Erinnerungsfunktion erkennen lassen. Neben Schatullen, Handtaschen und Koffern, in denen die Selbstzeugnisse aufbewahrt waren, sind das u. a. Sportabzeichen, sogenannte »Judensterne«, Handarbeitsproben, Kinderschuhe, Schmuckschleifen, Stempel oder einzelnes Besteck. 142 Vor- oder Nachlässe (32 Prozent) enthalten derzeit (2020) solche dinglichen Zugaben. Zudem ist eine Sammlung von mehr als 100 Gebetsbüchern vorhanden. 88 Die ehrenamtlichen Mitarbeiter/innen erschließen die Quellen oder fertigen Abschriften davon an. In seinem letzten Tätigkeitsbericht bezeichnet sich das Deutsche Tagebucharchiv dementsprechend selbst als »Citizen-Science-Projekt«. Deutsches Tagebucharchiv: Neues aus dem Deutschen Tagebucharchiv, Emmendingen 2020, Heft 2, S. 4. 89 Walter Kempowski: Culpa. Notizen zum Echolot, München 2007, S. 9. 90 Eine ausführliche Darstellung der Entstehung dieser Sammlung findet sich in Lessau: Sammlungsinstitutionen des Privaten, 2015. Zur Kommunikation von Walter Kempowski mit Übergeber/innen von Selbstzeugnissen siehe Maren Horn: »Still kamen sie, und prachtvoll werden sie sich entfalten«. Das Tagebuch-Universum Walter Kempowskis. Ein Bericht aus der Berliner Akademie der Künste, in Philipp Böttcher und Kai Sina (Hg.): Walter Kempowskis Tagebücher. Selbstausdruck – Poetik – Werkstrategie, München 2014, S. 193–229. 91 Danke an Veit Didczuneit vom Museum für Kommunikation Berlin für die Information zum Gründungsjahr per E-Mail am 15. Mai 2017.

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Bestand. An einer Universität angesiedelt sind die folgenden zwei (vom Umfang ihrer Bestände her bei weitem kleineren) Institutionen: Die Deutsche Auswandererbriefsammlung Gotha (DABS) befindet sich in der Forschungsbibliothek Gotha und umfasst aktuell um die 11.000 Briefe.92 Das Liebesbriefarchiv von Eva Lia Wyss wurde von der Sprachwissenschafterin im Rahmen ihrer Forschungstätigkeiten 1997 gegründet. Inzwischen befindet es sich am Institut für Germanistik an der Universität Koblenz-Landau und umfasst um die 15.000 Korrespondenzstücke. Die Aufstellung dieser größten Institutionen für Selbstzeugnisse im deutschen Sprachraum zeigt bereits die Heterogenität, die sie insgesamt ausmacht. Weitere europäische Einrichtungen sind auf der Website von EDAC, dem 2015 gegründeten European Ego-Documents Archives and Collections Network dokumentiert.93 Ein Grund für die Diversität der Einrichtungen, die aktuell auto/biografische Aufzeichnungen sammeln, liegt auch in ihren vielfältigen Organisationsstrukturen. Einerseits gibt es die Spezialsammlungen. In den vergangenen Jahrzehnten haben andererseits aber auch zahlreiche Archive, die eigentlich einen anderen Fokus verfolgen, damit begonnen, Vor- und Nachlässe aufzunehmen. Nachdem deren »traditionsreiche Sammlungspraxis […] zunehmend in Kritik« geraten war,94 haben auch hegemoniale Einrichtungen wie die Staats- oder Landesarchive damit begonnen, die in ihren Sammlungen dokumentierten Personenkreise zu erweitern. Die stichprobenartige Recherche im Onlinekatalog des Österreichischen Staatsarchiv in Wien hat aktuell (2020) für das Schlagwort »Nachlass« 1.077 einzelne Datensätze ergeben. Das Schlagwort »Tagebuch« ergab 606 Treffer, bei »Brief« konnten aufgrund der Fülle »nur die ersten 1.500 Resultate« angezeigt werden.95 Die enorme Zahl von Positionen, die alleine in dieser einzelnen Einrichtung vorhanden sind, gibt eine leise Ahnung davon, in welchen 92 Die Deutsche Auswandererbriefsammlung Gotha (DABS) setzt sich zusammen aus dem Bestand der Bochumer Auswandererbriefsammlung (BABS), die Wolfgang Helbich in den 1980er-Jahren an der Ruhr-Universität Bochum initiiert hat, sowie dem Bestand der von Ursula Lehmkuhl (Trier) in den 2000er-Jahren gegründeten Nordamerika-Briefsammlung (NABS). 93 Aktuell (2020) sind das die folgenden: Actualités du Patrimoine Autobiographique aux Archives et Musée de la Littérature in Brüssel; Archivio Diaristico Nationale in Pieve Santo Stefano; Association pour l’autobiographie et le Patrimoine Autobiographique in Ambérieuen-Bugey in Frankreich; Expatriate Archive Centre in Den Haag; Nederlands Dagboekarchief in Amsterdam; Institut für Geschichte und Biografie »Deutsches Gedächtnis« in Hagen; Le Stelle in Tasca auf Sizilien und The Great Diary Project in London. 94 Lessau: Sammlungsinstitutionen des Privaten, 2015, S. 339. Für Deutschland dazu auch Hans Booms: Gesellschaftsordnung und Überlieferungsbildung. Zur Problematik archivarischer Quellenbewertung, in: Archivarische Zeitschrift, Bd. 68, 1972, S. 3–40. 95 Die Zahl der Treffer beim Suchbegriff »Tagebuch« ist etwas zu relativieren, da der Titel »Tagebuch« Stichproben zufolge in manchen Fällen auch Teil des Titels einer Publikation sein kann etc.

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Umfängen Selbstzeugnisse in den unterschiedlichen Sammlungen mittlerweile zur Verfügung stehen. Um die bunte Landschaft von historisch ausgerichteten Sammlungen für Selbstzeugnisse systematisch abzustecken, bieten sich verschiedene Typisierungen an. Eine erste Unterscheidung kann sich auf die materielle Zusammensetzung der Bestände beziehen. Diese Sondierung ergibt 1) Einrichtungen, die ausschließlich Vor- und Nachlässe sammeln sowie 2) Einrichtungen, die neben anderen Archivalien wie Urkunden, Akten etc. auch Selbstzeugnisse archivieren. Diese lassen sich weiter aufteilen in 2.a) Sammlungen, die eigene Bestände von auto/biografischen Quellen angelegt haben96 und 2.b) Sammlungen, deren Bestände insgesamt ›gemischt‹ sind.97 Eine zweite Unterscheidung kann sich auf die inhaltliche Zusammensetzung der Bestände beziehen. Diese Sondierung ergibt 1) die Frage: Welche Genres werden hier repräsentiert? 2) Wer sind die dokumentierten Personengruppen? Von wem werden Selbstzeugnisse aufgenommen? Eine dritte Unterscheidung kann sich schließlich auf die Gründungsgeschichten der Einrichtungen beziehen: Wer hat sie wann und warum initiiert? Die Typisierungen nach der inhaltlichen Zusammensetzung der Bestände sowie nach den Gründungsgeschichten der Einrichtungen werden im Folgenden näher ausgeführt.

3.3) Typisierungen von Sammlungen für Selbstzeugnisse Typisierung nach den dokumentierten Genres a)

Geschriebene auto/biografische Formate

Eine Unterscheidung nach den verschiedenen auto/biografischen Formaten, die von den Einrichtungen jeweils archiviert werden, erscheint in Bezug auf die Fragestellung dieser Studie als besonders einleuchtend. Auch lassen die pointierten Namen einzelner Institutionen wie Tagebucharchiv, Feldpostsammlung oder Liebesbriefarchiv eine solche Typisierung als logisch erscheinen. Schon ein erster genauerer Blick in die Bestandsverzeichnisse fördert aber die Erkenntnis zu Tage, dass eine solch klare Unterscheidung in den meisten Fällen nicht 96 Das trifft inzwischen etwa auf den Großteil der kommunalen Archiveinrichtungen zu. 97 Von den im Folgenden jeweils kurz vorgestellten Einrichtungen sind das in alphabetischer Ordnung: das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) in Wien; das Forschungsinstitut Brenner Archiv in Innsbruck; das Montafon Archiv in Schruns in Vorarlberg; das QWIEN in Wien und das STICHWORT. Archiv der Frauen- und Lesbenbewegung in Wien.

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möglich ist: Auch wenn die Selbstbezeichnungen Schwerpunktsetzungen ankündigen, haben die allermeisten Einrichtungen durchwegs verschiedene Genres von Selbstzeugnissen in ihren Beständen. So enthält die Feldpostsammlung Berlin auch eine nennenswerte Anzahl an Tagebüchern.98 Dasselbe gilt für die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, die eigentlich hauptsächlich retrospektiv verfasste Lebenserinnerungen sammelt. Das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen hat seinerseits einen zweiten Schwerpunkt auf Lebenserinnerungen (→ Abschnitt 3.6). In der aktuellen Satzung des Trägervereins findet sich dazu die Angabe: »Zweck des Deutschen Tagebucharchivs ist die Sammlung autobiographischer Lebensberichte.«99 Die Genrebezeichnung ›Tagebuch‹ ist in der Satzung gar nicht enthalten – das Archiv heißt aber dennoch so.100 Hier kann freilich das Argument vorgebracht werden, dass sich einmal konzipierte Schwerpunkte auch ändern. Das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen wurde 1998 gegründet und der breit gefächerte Bestand hat sich in den vergangenen 20 Jahren sicherlich entwickelt. Gleichzeitig greifen aber auch erst vor kurzem gegründete Institutionen auf prägnante Titel zurück. Ein Beispiel dafür ist das Tagebuch- und Erinnerungsarchiv Berlin (TEA). Das TEA ist seit 2012 als Verein am Heimatmuseum Treptow institutionalisiert. Aufgebaut ist es auf der Treptower Schreibwerkstatt, die 1993 erstmals durchgeführt wurde. Der strukturelle Unterbau ist also ein lebensgeschichtliches Erinnerungsprojekt, das auch weitergeführt wird. Die Sammeltätigkeit richtet sich laut Angaben auf der Website auf »Lebensdokumente aller Art«. Das Wort »Tagebuch« steht dennoch prominent im Namen der Einrichtung.101 Gründe für solche unpräzisen Selbst98 2013 enthielt der Bestand der Feldpostsammlung Berlin 67 Tagebuchbestände aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Drei dieser Aufzeichnungen wurden von Frauen verfasst. Vgl. Li Gerhalter: Materialitäten des Diaristischen. Erscheinungsformen von Tagebüchern von Mädchen und Frauen im 20. Jahrhundert, in: L’Homme. Z. F. G., Jg. 24., 2013, Heft 2, S. 53– 71, S. 63. 99 Deutsches Tagebucharchiv e. V.: Satzung, Emmendingen 2015, S. 1, online verfügbar unter: http://tagebucharchiv.de/wp-content/uploads/2015/06/Satzung-des-Deutschen-Tagebucha rchivs-16. 6. 2015.pdf. 100 Diese Abweichung zwischen der Bezeichnung des (primären) Sammlungsgegenstandes und dem tatsächlich vorhandenen Archivmaterial erinnert an die Wiener Sammlung von Charlotte Bühler und ihrer Forschungsgruppe in der Zwischenkriegszeit (→ Abschnitt 2.4). Zwar hatte diese Sammlung gar keinen konkreten Namen, in der zeitgenössischen wie auch in der historischen Forschung wird sie aber zumeist als »Tagebuch-Sammlung« o. ä. bezeichnet. Und Charlotte Bühler gilt als ›Pionierin‹ der Tagebuch- und nicht der Selbstzeugnisforschung. Dazu u. a. Gerhard Benetka, Klaus Grossmann und Brigitte Rollet: Retrospektive: Charlotte Bühler und ihre Zeit [Rundtischgespräch], in: Lieselotte Ahnert (Hg.): Charlotte Bühler und die Entwicklungspsychologie, Wien 2015, S. 37–45, S. 44. 101 Ähnliches gilt auch für das Nederlands Dagboekarchief in Amsterdam. Nach Angaben auf der Website werden hier »persoonlijke dagboeken« (in verschiedenen Formen), »Memoires«, »Brieven« und »Poëziealbums« gesammelt. Vgl.: www.dagboekarchief.nl/collectie.

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bezeichnungen können als Hypothesen formuliert werden. Möglicherweise ist der Begriff ›Tagebuch‹ im allgemeinen Sprachgebrauch mit Implikationen aufgeladen, die insgesamt für »selbstdarstellende Niederschrift[en]« stehen können, wie es die Jugendpsychologin Charlotte Bühler schon 1931 so flexibel definiert hat (→ Abschnitt 2.5 und 2.6).102 Möglicherweise ist die Erklärung auch im Gründungskontext der jeweiligen Sammlung zu finden: Das Tagebucharchiv in Emmendingen und das Tagebuch- und Erinnerungsarchiv Berlin sind beide keine primär wissenschaftlich ausgerichteten Initiativen. Literaturwissenschaftlich fundierte Genrediskussionen spielten bei der Namenswahl wohl eine untergeordnete Rolle. Als Sammlungen, die tatsächlich ausschließlich ein bestimmtes Genre von Selbstzeugnissen berücksichtigen, sind die Deutsche Auswandererbriefsammlung Gotha (DABS), das Liebesbriefarchiv von Eva Lia Wyss sowie das Projekt »Chronisten gesucht« von Irene Dölling in Berlin zu identifizieren. Der konkrete Fokus ergab sich dabei jeweils aus dem Anlass der Gründungen der Bestände. In allen drei Fällen waren es Forschungsprojekte, die sich nur mit einem vorab eingegrenzten Quellenkorpus beschäftigt haben. Das Liebesbriefarchiv und die Deutsche Auswandererbriefsammlung Gotha wurden bereits vorgestellt. »Chronisten gesucht« war ein Projekt der Kulturwissenschafterin und Frauenforscherin Irene Dölling. Sie hat gemeinsam mit Kolleginnen Anfang der 1990erJahre in Berlin Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1989 und 1990 gesucht, gesammelt und bearbeitet.103 Kopien von 59 dieser Aufzeichnungen (von 55 Frauen und vier Männern) wurden bei der Emeritierung von Irene Dölling an das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen übergeben.104 Als erstes Zwischenergebnis in der Frage nach möglichen Typisierungen der Sammlungen für Selbstzeugnisse kann also bereits festgestellt werden: Eine Unterscheidung nach den jeweils dokumentierten Genres ist wenig zielführend. Die allermeisten Einrichtungen beschränken sich nicht auf einen bestimmten Dokumententyp – auch wenn ihre Namen möglicherweise anderes ankündigen. Der Großteil der Einrichtungen verfolgt das Ziel, Lebensläufe oder bestimmte historische Situationen zu dokumentieren – und nicht bestimmte Schreibprak102 »[Dabei] verstehen wir unter selbstdarstellender Niederschrift alle in direkter oder verschleierter Form auf sich selbst bezogene Betrachtungen, die teils in Gedicht- oder Aufsatzoder Romanform, teils in Briefwechseln, teils in Tagebüchern niedergelegt und festgehalten werden.« Charlotte Bühler: Kindheit und Jugend. Genese des Bewußtseins, Leipzig 1931, S. 331. 103 Irene Dölling und Gabriela Seibt: Soziokulturelle Veränderungen im Alltag von Frauen – Tagebücher als individuelle Dokumentation eines gesellschaftlichen Umbruchs: Frauen der Aufbau- bzw. AufsteigerInnengeneration, Halle 1995; Irene Dölling, Adelheid KuhlmeyOehlert und Gabriela Seibt: Unsere Haut. Tagebücher von Frauen aus dem Herbst 1989, Berlin 1992. 104 Böick: »Chronisten gesucht«, 2015, S. 332.

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tiken. Die Heterogenität des gesammelten auto/biografischen Materials ist dabei schon darin grundgelegt, dass Vor- oder Nachlässe immer aus verschiedenen Aufzeichnungsformen bestehen: Die wenigsten Menschen schreiben nur Tagebuch oder stellen nur Fotoalben zusammen. Zudem werden vordefinierte Gestaltungsweisen von den Schreiber/innen häufig individuell umgestaltet und weiterentwickelt.105 Wird nur ein bestimmter Genretyp, etwa ein Bündel von Feldpostbriefen, an ein Archiv übergeben, ist das das Ergebnis einer (wie auch immer gestalteten und motivierten) performativen Auswahl (→ Abschnitt 3.4).106 Ein zweites Zwischenergebnis ist folgende Beobachtung: Die bisher beschriebene ›Vermischung‹ der Genres in den Archivbeständen gilt dann, wenn es sich um geschriebene Dokumente handelt. Andere Formen auto/biografischer Selbstdarstellungen werden in bestimmten Fällen durchaus exklusiv dokumentiert. Konkret handelt es sich dabei um audio/visuelle Medien sowie um ›hergestellte Selbstaussagen‹ (Interviews), die im Folgenden vorgestellt werden. b)

Audio/visuelle auto/biografische Formate

In den letzten Jahren wurden in Rahmen mehrerer europäischer Initiativen Sammlungen initiiert, die sich auf ›privat‹ entstandene Fotografien, Filme und Videos spezialisiert haben. Fotografien und Filme waren im frühen 20. Jahrhundert als neue Medien zunehmend in Gebrauch, Videos dann ab der zweiten Hälfte.107 Die Österreichische Mediathek konnte dabei im Rahmen des Projekts »Wiener Videorekorder« innerhalb von nur drei Jahren über 3.000 Kassetten mit 3.900 Stunden Videomaterial sammeln.108 Einen umfangreichen Bestand hält auch das Österreichische Filmmuseum mit der Sammlung »Amateurfilme«. 105 Dazu u. a. Christa Hämmerle: Fragmente aus vielen Leben. Ein Portrait der »Sammlung Frauennachlässe« am Institut für Geschichte der Universität Wien, in: L’Homme. Z. F. G., Jg. 14, 2003, Heft 2, S. 375–378, S. 375. 106 Ausführliche Überlegungen dazu finden sich im Abschnitt »Nachlässe« des Kapitels »Die Performanz der Quellen« in: Etzemüller: Biographien, 2012, S. 84–91. 107 Ute Holfelder und Klaus Schönberger (Hg.): Bewegtbilder und Alltagskultur(en). Von Super 8 über Video zum Handyfilm. Praktiken von Amateuren im Prozess der gesellschaftlichen Ästhetisierung (Klagenfurter Beiträge zur Visuellen Kultur, Bd. 6), Klagenfurt 2017. Der zukünftige Umgang mit den sogenannten ›Neuen Medien‹ in elektronischer, digitaler und teilweise interaktiver Form sowie eine mögliche Archivierung von Weblogeinträgen, SMS, Chat- oder WhatsApp-Nachrichten in Sammeleinrichtungen ist eine derzeit offene Frage. 108 Gabriele Fröschl: Wie eine Sammlung entsteht. Das Projekt »Wiener Video Rekorder« an der Österreichischen Mediathek, auf: Österreichische Mediathek (Hg.): Wiener Videorekorder. Eine Onlineausstellung der Österreichischen Mediathek, Wien 2017, online verfügbar unter: www.wienervideorekorder.at; Stephan Grundei: Der Wiener Videorekorder – Die Genese einer Sammlung, in: Holfelder und Schönberger: Bewegtbilder und Alltagskultur(en), 2017, S. 87–95; Renée Winter, Christina Waraschitz und Gabriele Fröschl (Hg.): Aufnahme läuft. Private Videobestände – öffentliche Archive?, Wien 2016.

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Regionale Initiativen sind etwa die »Multimedialen Sammlungen« im Universalmuseum Joanneum in Graz, deren früheste Filmaufnahmen aus dem Jahr 1914 stammen. Das Projekt »Bewegtes Leben« wurde vom Land Tirol in Zusammenarbeit mit der Autonomen Provinz Bozen durchgeführt. Das 2013 vom Land Niederösterreich lancierte Projekt »Niederösterreich privat!« hat mehr als 70.000 Filme mit 7.000 Stunden Aufnahmen gesammelt.109 Diese erstaunlich umfangreichen Bestände konnten jeweils binnen kürzester Zeit lukriert werden. Sie belegen eindrucksvoll die Veränderungen in den Formen auto/biografischer Selbstdarstellungspraktiken,110 die mit den technischen Veränderungen des 20. Jahrhunderts einhergegangen sind. Als mittlerweile bereits wieder »[a]ussterbendes Medium«111 sind die Video-Sammlungen auch eine Herausforderung in der Archivierung. Das betrifft die aufwändige sachgerechte Lagerung und auch die technischen Voraussetzungen, die gegeben sein müssen, um die unterschiedlichen Formate überhaupt abspielen zu können.112 Erhaltungsstrategien, die dabei derzeit verfolgt werden, sind Digitalisierungsprojekte. Eine Frage, die konkret an den Bestand »Wiener Videorekorder« geknüpft werden kann, ist die Diskussion der fließenden Grenzen zwischen auto/biografischem und politisch-›öffentlichem‹ Material. Zirka 900 der in diesem Projekt gesammelten Kassetten sind Aufnahmen von Demonstrationen und anderen politischen oder kulturellen Veranstaltungen. Aufgenommen wurden sie von der seit 1978 bestehenden »Gruppe Alternativvideo« rund um den Video- und Gewerkschaftsaktivisten Heinz Granzer (1941–2014).113 Die Überschneidung von persönlich motivierten, ›hergestellten‹ oder auch an eine klar definierte Öffentlichkeit adressierten ›Selbstaussagen‹ ist eine Frage, die bereits in Bezug auf Oral History-Interviews diskutiert wurde.114 Aber gibt es auch eigene Sammlungen für mündlich erzählte Lebensgeschichten? 109 Danke an Renée Winter für die gemeinsame Diskussion der Frage. Der Bestand »Niederösterreich privat!« wird derzeit (2020) im Rahmen eines u. a. vom Institut für Geschichte des ländlichen Raumes (IGLR) in St. Pölten durchgeführten Projekts systematisch erschlossen. Danke an Brigitte Semanek für die Informationen darüber. 110 Renée Winter: Video als auto-/biografisches Medium, auf: Österreichische Mediathek: Wiener Videorekorder, 2017, online verfügbar unter: www.wienervideorekorder.at. 111 Österreichische Mediathek: Wiener Video Rekorder. Stadtgeschichte aus einem neuen Blickwinkel, 2017, online verfügbar unter: www.mediathek.at/ueber_die_mediathek/aktuel les/details/article/wiener-video-rekorder-1. 112 Im Bestand des Österreichischen Filmmuseums sind die am häufigsten dokumentierten Filmformate 16 mm, 9,5 mm, 8 mm und Super 8. Die gängigsten der unzähligen Videoformate sind VHS, Hi8 und MiniDVD. Danke an Paolo Caneppele von der Sammlung »Amateurfilme« für diese Information per E-Mail am 12. Mai 2017. 113 Renée Winter: Videoaktivismus. Heinz Granzer und die Gruppe Alternativvideo, auf: Österreichische Mediathek: Wiener Videorekorder, 2017, online verfügbar unter: www.wie ner-videorekorder.at. 114 Lessau: Sammlungsinstitutionen des Privaten, 2015, S. 341.

Typisierungen von Sammlungen für Selbstzeugnisse

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›Hergestellte Selbstaussagen‹

Wie dargestellt wurde, avancierten lebensgeschichtliche Interviews zu einem zentralen Medium der Datenerhebung der Alltagsgeschichte. Entsprechend umfangreich ist auch das Quellenmaterial, das dabei erarbeitet wurde. Interviews, die ohne konkrete Anlässe durchgeführt wurden und – sozusagen als ›Rohmaterial‹ – zur wissenschaftlichen Benutzung zur Verfügung stehen, sind dabei die große Ausnahme. Zwei Projekte, die solche Quellen erarbeiten, sind »MenschenLeben – Eine Sammlung lebensgeschichtlicher Erzählungen« der Österreichischen Mediathek sowie das »Archiv für Alltägliches Erzählen« am Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie an der Universität Hamburg. Das »Archiv für Alltägliches Erzählen« umfasst um die 550 Positionen. Im Rahmen von »MenschenLeben« wurden seit 2009 bislang um die 1.600 Oral-HistoryGespräche geführt. Teilweise wurden Auszüge davon inzwischen auch online verfügbar gemacht. Der Großteil von lebensgeschichtlichen Interviews wurde und wird im Rahmen von konkreten Forschungsprojekten durchgeführt. Eine Öffnung der eigenen Forschungsarchive (nach Abschluss der Arbeit damit) ist dabei bislang kaum üblich. Eine Ausnahme ist die Interviewsammlung des Wiener Historikers Finbarr McLoughlin, die er um 1980 mit Mitgliedern des Republikanischen Schutzbundes geführt hat. Die Transkripte von 71 dieser Ressourcen hat er 2019 auf seiner persönlichen Website online gestellt. Neben dem üblicherweise zurückhaltenden Umgang mit selbst erarbeiteten Wissensressourcen ist wohl der jeweils spezifische Inhalt von Interviews ein Grund für zurückhaltende Praxis einer möglichen Weitergabe dieser Quellen an andere Forscher/innen. Zeitzeug/ innengespräche sind ja zumeist entlang einer konkreten Forschungsfrage gestaltet. Dennoch kommt in jüngerer Zeit auch die Nachnutzung von Interviews zunehmend in Frage. Der Grund dafür ist profan: Weil die Vertreter/innen jener Generationen, die historische Ereignisse wie etwa den Holocaust persönlich miterlebt haben, zunehmend nicht mehr selbst befragt werden können, bleibt Historiker/innen häufig gar keine andere Wahl.115 Lebensgeschichtliche Interviews, die im Rahmen von populär ausgerichteten Vermittlungsprojekten entstanden sind, werden ihrerseits inzwischen wiederum in kaum noch überschaubarer Auswahl im Internet zur Verfügung gestellt. Inhaltlich lassen sich dabei grob zwei Schwerpunkte unterscheiden: Der eine ist der 115 Auf diese Weise konnte etwa die Historikerin Vida Bakondy für ihre Arbeit über die Wiener Hakoah-Schwimmerin Fritzi Löwy (1910–1994) ein Interview verwenden, das Gabriele Anderl 1988 mit ihr geführt hatte. Dieses ist im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes in Wien archiviert. Vida Bakondy: Montagen der Vergangenheit. Flucht, Exil und Holocaust in den Fotoalben der Wiener Hakoah-Schwimmerin Fritzi Löwy (1910– 1994), Göttingen 2017.

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Fokus auf eine bestimmte Region.116 Der zweite ist der Fokus auf bestimmte Personengruppen wie etwa Menschen, die im NS-Regime verfolgt wurden, Menschen mit Migrationserfahrung oder Menschen, die aufgrund einer bestimmten sexuellen Ausrichtung Diskriminierungen erfahren haben.117 Als drittes Zwischenergebnis in der Frage nach möglichen Typisierungen der Sammlungen für Selbstzeugnisse ist entsprechend festzuhalten: Eine Unterscheidung nach Genres ist wenig zielführend, wenn es sich um schriftliche Quellen handelt. Video- und Filmaufnahmen sowie Interviews – also Bestände, die einen technischen Aufwand in der Archivierung und auch in der Bereitstellung bedeuten – werden hingegen in vielen Fällen in eigenen Spezialsammlungen archiviert.

Typisierung nach den dokumentierten Personen Der gängige inhaltliche Fokus von populärwissenschaftlichen lebensgeschichtlichen Interviewprojekten – entweder auf eine bestimmte Region oder auf eine bestimmte Personengruppe – findet sich auch in den Beständen von geschriebenen Selbstaussagen wieder. Häufig werden beide Kategorien auch aufeinander bezogen dokumentiert. Die Landschaft der regionalen Sammlungsprojekte ist inzwischen besonders vielfältig. Als Ergebnis der oben vorgestellten »neuen Geschichtsbewegung« wurden und werden vielerorts die unterschiedlichsten Vorhaben umgesetzt, häufig im Zusammenhang mit einem bestimmten Anlass wie einem Jubiläum oder einem ›Gedenkjahr‹. Ein Beispiel ist das Montafon Archiv der Gemeinde Schruns in Vorarlberg. Unter dem Titel »Gedächtnis des

116 In der Steiermark wurden u. a. das Oral History-Archiv (OHA-WISOG Graz) an der KarlFranzens-Universität Graz und die »Multimedialen Sammlungen« am Universalmuseum Joanneum aufgebaut. In Vorarlberg befindet sich das »Archiv der Mündlichen Geschichte« am Stadtarchiv Dornbirn und die »Mündliche Geschichte« im Vorarlberger Landesarchiv in Bregenz. 117 Lebensgeschichten von Menschen, die im NS-Regime verfolgt wurden, dokumentieren u. a. das Mauthausen Memorial der KZ Gedenkstätte Mauthausen in Oberösterreich, das Projekt »Erzählte Geschichte« des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) in Wien, die Sammlung »weiter_erzählen« auf »erinnern.at« des Vereins Nationalsozialismus und Holocaust: Gedächtnis und Gegenwart oder das Austrian Heritage Archive (AHA), das in Kooperation des Vereins GEDENKDIENST und mehrerer internationaler Institutionen aufgebaut wird. Migrationsgeschichten dokumentiert das Kölner Projekt »migration-audio-archiv«, das mehr als 130 Interviews online aufbereitet hat. Die jüngste Lesbengeschichte dokumentieren die zwei Projekte »Berlin in Bewegung: Aktivist*innen erzählen von der Frauen/Lesbenbewegung seit 1968« und »›Friedliche Revolution‹? Lesbisch-feministische Perspektiven auf 1989« des FFBIZ in Berlin.

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Tales« werden hier auch Nachlässe gesammelt.118 Ein Merkmal der Bestände dieser auf einen klar definierten lokalen Radius bezogenen Einrichtungen ist, dass sie oft sozial breit gefächert sind, weil sie sich ja auf alle Einwohner/innen der jeweiligen Region beziehen. Staats- und Landesarchive sind per se ebenfalls auf bestimmte Territorien fixiert. Im Gegensatz zu den regionalen Einzelinitiativen fokussieren diese kommunalen Einrichtungen zudem aber meistens auch nur bestimmte Personengruppen, vorrangig ›wichtige‹ Akteur/innen aus dem Kultur- und Kunstbereich und der politischen Sphäre.119 Im Österreichischen Staatsarchiv enthalten etwa das »Kriegsarchiv« oder der »Sonderbestand« »Nachlässe, Familien- und Herrschaftsarchive« auch auto/biografische Quellen. Entsprechend dem inhaltlichen Zuschnitt finden sich hier u. a. Aufzeichnungen mancher hochadeliger Personen oder von höheren Militärangehörigen.120 Diese Selbstzeugnisse dokumentieren zumeist eine privilegiertere Bevölkerungsgruppe. Sie sind dennoch als Quellen für sozial- oder kulturwissenschaftliche Fragestellungen nutzbar. Auch eine Aristokratin oder ein Offizier hatten einen Alltag. Eine klare personenbezogene Auswahl treffen Einrichtungen, die auf bestimmte Berufsgruppen fokussieren. Hier sind etwa die (Arbeits-)Biografien von Wissenschafter/innen in Universitätsarchiven oder in Forschungsstellen gut überliefert.121 Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der politischen Arbeit. Aktiv sind dabei einerseits die Vorfeldorganisationen der verschiedenen Parteien.122 118 Archiviert ist hier etwa die Feldpost von Wilhelm Ganahl vulgo Chreschtli’s (1882–1962) aus Schruns aus dem Ersten Weltkrieg. Diese wurde bereits in zwei Ausstellungen präsentiert und ist als Abschrift auf der Website des Montafon Archiv verfügbar. Dazu u. a. Michael Kasper und Christof Thöny (Hg.): 14/45. Der Süden Vorarlbergs im Zeitalter der Extreme 1914–1945 (Sonderband zur Montafoner Schriftenreihe, Bd. 23), Schruns 2016. 119 Beispiele solcher großer Sammlungen in Wien sind etwa das »Literaturarchiv« sowie die Sammlungen »Handschriften und Nachlässe« in der Österreichischen Nationalbibliothek, der Bestand »Handschriftensammlung« in der Wienbibliothek im Rathaus (zum Tagebuchbestand siehe → Abschnitt 3.6) oder die »Handschriftensammlung« der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur im Literaturhaus Wien. In Innsbruck sammelt das Forschungsinstitut Brenner Archiv Vor- und Nachlässe von Literat/innen, von denen viele auch auto/biografische Aufzeichnungen enthalten. Die Stichprobenrecherche (2020) hat 87 Tagebuchbestände ergeben. Das Archiv der Zeitgenossen an der DonauUniversität Krems befindet sich derzeit im Aufbau. 120 ›Privat‹ organisierte Archive von Adelsfamilien oder Klöstern können ebenfalls Selbstzeugnisse enthalten. Weil sie aber nicht zu Forschungszwecken angelegt wurden (und auch nicht immer zugänglich sind), werden sie hier ausgeklammert. 121 Das Archiv des Alexius Meinong-Institutes an der Forschungsstelle und dem Dokumentationszentrum für Österreichische Philosophie in Graz hat einen Fokus auf Nachlässen von deutschsprachigen Philosoph/innen aus dem 19. und 20. Jahrhundert. U. a. konnte auch ein Teilnachlass von Karl Bühler akquiriert werden. 122 Beispiele aus Österreich sind das Bruno-Kreisky-Archiv und Johanna-Dohnal-Archiv sowie der Verein zur Geschichte der Arbeiter/innenbewegung (VGA) (→ Abschnitt 3.5) für die SPÖ oder das Karl von Vogelsang-Institut für die ÖVP. Auch jüngere politische Parteien ver-

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Andererseits dokumentieren Spezialsammlungen die »Protest-, Freiheits- und Emanzipationsbewegungen«.123 Um die Sichtbarkeit dieser zumeist nicht institutionell verankerten Einrichtungen zu erhöhen, aber auch, um die Nachhaltigkeit ihres Bestehens zu fördern, haben diese »freien Archive« verschiedene Netzwerke aufgebaut. Die feministischen Dokumentationseinrichtungen sind in »frida. Verein zur Förderung und Vernetzung frauenspezifischer Informationsund Dokumentationseinrichtungen in Österreich« (gegründet 1992) sowie »i.d.a. Dachverband deutschsprachiger Frauen-/Lesbenarchive, -bibliotheken und -dokumentationsstellen« (gegründet 1994) vernetzt.124 2009 wurde in Deutschland der »Arbeitskreis Überlieferung der Neuen Sozialen Bewegungen« gegründet.125 Ein neuer Sammlungsfokus, der derzeit von verschiedenen Einrichtungen verfolgt wird, adressiert speziell Migrant/innen im Kontext der (Arbeits-)Migrationsbewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Aktivitäten gingen hier von zivilgesellschaftlichen, migrantischen Initiativen aus, die ihre Projekte dezidiert als Möglichkeit einer Selbstermächtigung wahrnehmen.126 Erst in den letzten Jahren wurde auch von kommunalen und staatlichen Gedächtnisinstitutionen damit begonnen, bisherigen Sammlungslücken in Bezug auf das Thema Migration entgegenzuarbeiten.127

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folgen Strategien der Selbstdokumentation. Das Grüne Archiv wurde 2012 gegründet, die Möglichkeit der Übernahmen von Vor- oder Nachlässen ist auf dessen Website als dezidiertes Vorhaben genannt. Einen Überblick für Deutschland bieten Bacia und Wenzel: Die Archive der Protest-, Freiheits- und Emanzipationsbewegungen, 2017. Die Homosexuellenbewegung/en in Österreich dokumentieren das STICHWORT. Archiv der Frauen- und Lesbenbewegung und QWIEN. Zentrum für queere Geschichte. i.d.a. ist 2015 mit »Meta« ins Netz gegangen, einem Online-Verbund-Katalog, in dem aktuell die Bestände von 38 Mitgliedseinrichtungen aus Deutschland, Österreich, Luxemburg, Italien und der Schweiz verknüpft recherchiert werden können. Jürgen Bacia, Matthias Buchholz, Sabine Happ, Julia Kathke, Nina Matuszewski, Clemens Rehm, Reinhart Schwarz, Anne Vechtel und Cornelia Wenzel: Zur Zukunft der Archive von Protest-, Freiheits- und Emanzipationsbewegungen. Positionspapier des VdA zu den Überlieferungen der Neuen Sozialen Bewegungen, Fulda 2016. Eine besonders frühe Initiative ist das 1990 in Köln gegründete Dokumentationszentrum und Museum über die Migration aus der Türkei e.V. (DOMIT). Hier konnte inzwischen eine umfangreiche Sammlung von Tagebüchern, Korrespondenzen und vor allem Fotografien aufgebaut werden. Eine erste Initiative in Österreich war das Zentrum für MigrantInnen in Tirol (ZeMiT). Danke an Vida Bakondy für die gemeinsame Diskussion dieser Frage. Beispiele aus Österreich sind das Migrationsarchiv am Stadtarchiv Salzburg oder das Projekt »Archiv der Migration«. Dazu Akkılıç, Bakondy, Bratic´ und Wonisch: Schere Topf Papier, 2016. Diaristische Aufzeichnungen sind in diesen Sammlungen noch stark unterrepräsentiert. Das Beispiel eines Tagebuchs sowie eines Notizheftes konnte Vida Bakondy vorstellen in dies.: Geschichtsträchtig. Alltagsobjekte erzählen Migrationsgeschichte, in: Stimme. Zeitschrift der Initiative Minderheiten, Nr. 99, 2016, S. 15–17.

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Als viertes Zwischenergebnis in der Frage nach möglichen Typisierungen der Sammlungen für Selbstzeugnisse kann zusammengefasst werden: Eine Unterscheidung nach den dokumentierten Personengruppen ist zielführender als eine nach Genres. Dass aber auch das häufig zu kurz greift, zeigt das Beispiel der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien. Hier sind durchaus auch Selbstzeugnisse von Männern zu finden. Das mag auf den ersten Blick verwundern, ist aber einfach zu erläutern. Mit dem Schwerpunkt auf auto/biografischen Dokumentationen von Frauen wird ein geschlechterpolitisches Anliegen verfolgt. Das bedeutet aber keinesfalls, dass Aufzeichnungen von Männern ausgeschlossen wären. Anhand von Briefwechseln wird dieses Argument sofort plausibel. Wenn eine Frau mit einem Mann korrespondiert hat, sind auch seine Briefe Teil des Bestandes. Auch können Teilnachlässe von Partnern, Verwandten oder Bekannten übergeben werden. Derzeit (2020) sind in der Sammlung Frauennachlässe 404 Bestände Frauen zugeordnet, 40 Männern (91 zu 9 Prozent → Abschnitt 3.6). Schließlich kann sich der personenbezogene Sammelfokus einer Einrichtung auch verändern. Eine solche Entwicklung ist etwa am Bestand der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (Doku) am Institut für Wirtschaftsund Sozialgeschichte der Universität Wien nachvollziehbar. Der Schwerpunkt dieses Projektes lag anfänglich auf Personen aus bildungsfernen ländlichen Regionen. Tatsächlich konnte eine Fülle entsprechender Erinnerungen gesammelt werden. Mehrere davon wurden in der seit 1983 herausgegebenen Buchreihe »Damit es nicht verloren geht« ediert.128 Dabei handelt es sich um Erinnerungen von ehemaligen Dienstmägden, von »Häuslerkindern«, einer Sennerin, einem Holzknecht und einer Landhebamme (→ Abschnitt 3.6).129 Der Band »Hartes Brot. Aus dem Leben einer Bergbäuerin« von Barbara Passrugger (geb. Hofer, 1910–2001) entwickelte sich zu einem regelrechten Verkaufsschlager.130 Mittlerweilen ist die soziale Streuung der Autor/innen der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen zunehmend breiter geworden. Aus 2006 finden sich die Angaben, der »überwiegende Teil der Verfasser/innen« der Texte im 128 Mitterauer: Lebensgeschichten sammeln, 1991, S. 21, S. 31; Hämmerle: Formen des individuellen und kollektiven Selbstbezugs, 1991, S. 36. 129 Eine Zusammenstellung der bis 1991 erarbeiteten Editionen findet sich in Christa Hämmerle: »Ich möchte das, was ich schon oft erzählt habe, schriftlich niederlegen …« Entstehung und Forschungsaktivitäten der »Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen« in Wien, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen, Jg. 4, 1991, Heft 2, S. 261–278, S. 275f. 130 Barbara Passrugger: Hartes Brot. Aus dem Leben einer Bergbäuerin (»Damit es nicht verloren geht …«, Bd. 18), Wien/Köln/Weimar 19891. Eine ähnliche Bekanntheit erlangte das in anderen Zusammenhängen entstandene Buch von Anna Wimschneider (geb. Traunspurger, 1919–1993). Anna Wimschneider: Herbstmilch. Lebenserinnerungen einer Bäuerin, München 19871.

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Bestand würde »aus unteren und mittleren sozialen Schichten« kommen.131 Im Laufe der Jahre hat hier also eine gewisse Verschiebung stattgefunden. Das fünfte Zwischenergebnis lautet dementsprechend: Eine Typisierung der Sammlungen für Selbstzeugnisse nach den dokumentierten Personen ist zielführend, wenn der Bestand einem klaren inhaltlichen Fokus folgt – und sich etwa auf Personen mit einem bestimmten Beruf oder konkreten Erfahrungen wie Emigration bezieht. Bei Sammlungen, die einer allgemeinen alltags- oder kulturwissenschaftlich Ausrichtung folgen, greift sie allerdings ebenfalls zu kurz. Als weitere Möglichkeit einer Klassifizierung wurde die Unterscheidung nach den Anlässen der Entstehung der jeweiligen Sammlungseinrichtung vorgeschlagen. Wie verhält es sich damit?

Typisierung nach den Gründungsgeschichten Der Monat März des Jahres 2020 wird wahrscheinlich in die globalhistorische Erinnerung eingehen. Durch die Ausbreitung des Covid-19-Virus’ auch in Europa, den Amerikas und Australien wurden in den meisten Staaten dieser Kontinente Ausgangsbeschränkungen verhängt. Die sogenannte ›Corona-Krise‹ entwickelte sich zu einem weltumspannenden Ereignis und Erlebnis. Im Zusammenhang mit den Fragestellungen dieser Studie ist das aus dem folgenden Grund erwähnenswert: Bereits seit Beginn der eingeschränkten Bewegungsfreiheit wurden über die sozialen Medien verschiedene Selbstdokumentationen organisiert. Zum Beispiel startete das Literaturhaus Graz am 17. März 2020 »Die Corona-Tagebücher«: Auf der Website sind bis Ende Juli 2020 »Jeden Freitag neu!« kurze Texte von österreichischen Autor/innen veröffentlicht worden, die eingeladen waren, »über die Auswirkungen des Corona-Virus und die Maßnahmen seiner Bekämpfung auf das alltägliche Leben und den Zustand der Gesellschaft« zu schreiben.132 Andere Initiativen haben die interessierte Bevölkerung zum Mitmachen aufgerufen. Der Rücklauf war dabei teilweise erheblich, wie die folgenden zwei Projekte zeigen: Das WienMuseum warb seit 25. März 2020 unter dem Titel »Corona in Wien: Ein Sammlungsprojekt zur Stadtgeschichte« Fotografien von Dingen ein, die in einem Zusammenhang mit der Pandemiesituation stehen. Bis zum Spätsommer 2020 wurden mehr als 2.000 solcher Bilder auf der Website des Museums veröffentlicht. Zudem wurde die Möglichkeit in Aussicht gestellt, zu einem späteren Zeitpunkt auch die fotografierten Objekte zu übernehmen.133 Der Fachbereich Geschichte – Public History 131 Müller: Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, 2006, S. 141. 132 Literaturhaus Graz (2020): www.literaturhaus-graz.at/die-corona-tagebuecher. 133 WienMuseum (2020): www.wienmuseum.at/de/corona-sammlungsprojekt.

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der Universität Hamburg startete seinerseits am 26. März 2020 das Projekt »coronarchiv«. Hier wurde dazu angeregt, »Erlebnisse, Gedanken, Medien und Erinnerungen« einzureichen. »Sharing is caring – become a part of history!«, hieß es dazu in der Beschreibung. Im Spätsommer 2020 waren bereits mehr als 3.000 Einträge auf der Website veröffentlicht worden und auch dieses Projekt wird derzeit (Ende 2020) noch weitergeführt.134 Diese Ausstellungsinitiativen sind Aggregate zur Erstellung von ›Archiven in Echtzeit‹. In ihrem Aktualitätsbezug entsprechen sie den derzeitigen technischen Möglichkeiten, deren Geschwindigkeit (wie alles im Zusammenhang mit dem Internet) keine historischen Vergleiche kennt. Die spontanen Gründungsgeschichten dieser Sammlungsaktivitäten lagen in der momentanen Situation begründet, ihre Halbwertszeit wird sich zeigen. Allgemein gesehen belegen sie die dynamischen Formen der Public History – und die Rolle von auto/biografischen Formaten dabei.135 In welchen Kontexten wurden die analogen Sammlungen für papierene Selbstzeugnisse gegründet? Auch die historisch ausgerichteten Initiativen werden in neueren Ansätzen mit dem aktuellen Schlagwort »Public History« in Verbindung gebracht.136 Alle in diesem Kapitel bisher vorgestellten Einrichtungen und Projekte stehen dabei in der ›Tradition‹ der genannten »Geschichtsbewegung« des späten 20. Jahrhunderts. Entsprechend stellen die hier tätigen Personen – gleichzeitig – jeweils zwei verschiedene Ansprüche an ihre Arbeit: Der wissenschaftliche Selbstzweck ist es, Quellen zur Verfügung zu stellen, die zuvor nicht systematisch gesammelt worden sind. Der gesellschaftspolitische Selbstzweck ist es, einen institutionellen Ort für Quellen von Personen zur Verfügung zu stellen, die zuvor nicht als ›beforschenswert‹ galten. Vorausgesetzt ist dabei, dass diese Personen selbst ein In-

134 Universität Hamburg (2020): https://coronarchiv.geschichte.uni-hamburg.de. Weitere 1.120 Beiträge von Schüler/innen wurden im Rahmen einer Mitmachaktion der Körber-Stiftung eingereicht. Danke an Thorsten Logge von der Universität Hamburg für die Informationen per E-Mail am 21. August 2020. 135 Diese situationsbezogenen Initiativen erinnern eigentümlich an die »Kriegssammlungen« des Ersten Weltkrieges. Diese waren allerdings propagandistisch ausgerichtet. Die Projekte von 2020 folgen dem demokratischen Leitgedanken der Public History. 136 Zu diesem inzwischen sehr breiten Forschungsfeld als Überblicke Thomas Cauvin: Public History. A Textbook of Practice, New York 2016; Paul Ashton: What is Public History Globally? Working with the Past in the Present, London 2019; David M. Dean: A Companion to Public History, Hoboken 2018; Martin Lücke und Irmgard Zündorf: Einführung in die Public History, Göttingen 2018; Christine Gundermann, Wolfgang Hasberg und Holger Thünemann (Hg.): Geschichte in der Öffentlichkeit. Konzepte – Analysen – Dialoge, Berlin 2019; Frauke Geyken und Michael Sauer (Hg.): Zugänge zur Public History. Formate – Orte – Inszenierungsformen, Frankfurt am Main 2019; Marion Grossmann, Thomas Hellmuth und Thomas Walach (Hg.): Handbuch Public History. Wiesbaden 2021 [in Druck].

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teresse an dieser Form von Selbstdokumentation haben.137 Hierin liegt das zivilgesellschaftliche Moment dieser Arbeit (→ Abschnitt 3.1). Diese Implikation ist inzwischen Teil der ›Meister/innenerzählung‹ der emanzipatorisch ausgerichteten Geschichtswissenschaften.138 Die Logiken und Strategien der Entstehung der einzelnen Archivbestände konnten dabei sehr unterschiedlich sein. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass nur einzelne von vornherein als Sammlungseinrichtung konzipiert und eingerichtet wurden. Das Deutsche Tagebucharchiv Emmendingen (1998) und die Feldpostsammlung im Museum für Kommunikation Berlin (2000) sind zwei dieser Ausnahmen. In den meisten Fällen waren es anfänglich andere Vorhaben, wegen denen Tagebücher oder sonstige Selbstzeugnisse gesucht worden sind. Die Gründungen der ›Sammlungen‹ erfolgte dann in einem nächsten Schritt – aufgebaut auf dem jeweils bereits vorhandenen Quellenkorpus. Ein solcher Ablauf erscheint mir als charakteristisch für dieses Arbeitsfeld. Impulse dazu kamen u. a. aus wissenschaftsfernen Zusammenhängen, wie zwei Beispiele aus Deutschland zeigen. a)

Populäre Film- und Buchformate: Das Kempowski-Biografienarchiv in Berlin

Ein groß angelegtes Projekt war die (heute kaum noch bekannte) Fernsehreihe »Mein Tagebuch« des Filmemachers Heinrich Breloer.139 Der NDR-Redakteur hatte Ende der 1970er-Jahre damit begonnen, diaristische Aufzeichnungen zu sammeln, um sie dann im Fernsehen vorzustellen. Der Rücklauf war enorm und so konnte Heinrich Breloer schließlich aus »über 1000 privaten Tagebüchern […] Geschichten heraus[suchen], die er mit Interviews, alten Fotos und Archivmaterial zu [einem] sehr persönlichen, bewegenden Geschichtsunterricht adaptierte«, wie es in der Online-Datenbank »fernsehserien.de« formuliert ist.140 Die zehnteilige Serie wurde ab 1980 in den regionalen Programmen der ARD ausgestrahlt. 1981 wurde sie mit dem »Adolf-Grimme-Preis« ausgezeichnet. 1984 erschien eine korrespondierende Buchpublikation, die 1999 in gekürzter Form 137 Einen Anspruch auf selbstermächtigte Selbstdokumentation verfolgten auch die verschiedenen Initiativen der Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zum Archiv für Jugendkultur von Siegfried Bernfeld (1913) oder zum Archiv der deutschen Jugendbewegung (1922) siehe → Abschnitt 2.2. 138 Li Gerhalter: Selbstzeugnisse sammeln. Eigensinnige Logiken und vielschichtige Interessenslagen, in: Petra-Maria Dallinger und Georg Hofer (Hg.) unter Mitarbeit von Stefan Maurer: Logiken der Sammlung. Das Archiv zwischen Strategie und Eigendynamik, Literatur und Archiv, Bd. 4, Berlin 2020, S. 51–69. 139 Weiterführend dazu: Lessau: Sammlungsinstitutionen des Privaten, 2015, S. 338–345. 140 imfernsehen GmbH & Co. KG: fernsehserien.de: Mein Tagebuch, D 1980, online verfügbar unter: www.fernsehserien.de/mein-tagebuch.

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unter dem Titel »Geheime Welten« noch einmal aufgelegt wurde. Auch die Fernsehreihe wurde wiederholt.141 Wie die Beschreibung als »bewegender Geschichtsunterricht« schon anklingen lässt, war der von Heinrich Breloer verfolgte Ansatz klar populär und nicht wissenschaftlich angelegt. Einen ähnlichen Zugang wählte der Schriftsteller Walter Kempowski für seine vierbändige Buchreihe »Echolot. Ein kollektives Tagebuch«.142 Er hat darin Auszüge von unzähligen Selbstzeugnissen veröffentlicht, die er seit 1980 privat gesammelt hat (→ Abschnitt 3.2). Seine Zusammenstellungen folgten keinen editionswissenschaftlichen Maßstäben, was zu entsprechend kontroversiellen wissenschaftlichen Diskussionen führte.143 Beide Projekte waren jedenfalls höchst öffentlichkeitswirksam und haben im deutschsprachigen Raum sicherlich »über die geschichtsinteressierten Gruppen hinaus in die Gesellschaft hinein« zur Popularisierung der Einschätzung beigetragen, »Tagebücher ›einfacher Zeitgenossen‹ seien wichtige historische Quellen«.144 Und das obwohl – oder gerade weil? – die zwei Formate nicht wissenschaftlich ausgerichtet gewesen sind. Es wurde demonstriert, dass es sich bei Tagebüchern um Quellen handelt, mit denen auch Fernseh- oder Publikationsreihen gefüllt werden können.145 Das anhaltende Interesse an solchen Darstellungsformen zeigt ein vergleichbares Projekt aus der jüngeren Vergangenheit: Die international koproduzierte dokumentarische Dramaserie »14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs« von Regisseur Jan Peter wurde aus Anlass des Gedenkens an den Beginn des Ersten Weltkriegs 2014 erstausgestrahlt und ebenfalls breit rezipiert und mit einer Auszeichnung bedacht.146 Heinrich Breloer und Walter Kempowski haben sich 141 Lessau: Sammlungsinstitutionen des Privaten, 2015, S. 354. 142 Walter Kempowski: Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch, 4 Bde., München 19931. 143 Problematisiert wurde u. a., dass Walter Kempowski die Textauszüge unkommentiert veröffentlichte. Aus editionswissenschaftlicher Sicht sind zudem die fehlenden Editionsverweise problematisch, die seine Eingriffe in die Texte nicht mehr nachvollziehen lassen. Zudem tritt Kempowski als Autor auf – und nicht als Herausgeber. Dazu zuletzt Arno Dusini: Tagebuch im Krieg. Das Echolot von Walter Kempowski, in: Wiener Digitale Revue. Halbjahresschrift für Germanistik und Gegenwart, Nr. 1, 2020, S. 1–17, online verfügbar unter: https://journals.univie.ac.at/index.php/wdr/article/view/4158. Kempowski wandte ein, dass sein Projekt nicht als eine historische »Dokumentation«, sondern als eine literarische »Collage« zu verstehen sei. Dieses Zitat ist entnommen dem Wissensportal Wikipedia (o. J.): https://de.wikipe-dia.org/wiki/Das_Echolot#cite_ref-35. Danke an Arno Dusini für den Hinweis auf diese Kontroverse. 144 Lessau: Sammlungsinstitutionen des Privaten, 2015, S. 353. 145 Die eigentlich intendierte Anerkennung für die Tagebuchschreiber/innen wurde dabei ggf. konterkariert durch Formulierungen wie jener, das »Echolot« würde neben den Aufzeichnungen von Prominenten auch jene von »namenlose[n] Zeitgenossen« enthalten. Welche/r Zeitgenoss/in hat keinen Namen? Diese Formulierung ist dem Klappentext der gesammelten Ausgabe entnommen. Kempowski: Das Echolot, 19931. 146 Bayerischer Rundfunk. Anstalt des öffentlichen Rechts: www.14-tagebuecher.de.

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die Quellengrundlagen für ihre Vorhaben durch Aufrufe selbst geschaffen. Während Heinrich Breloer die »über 1000 privaten Tagebücher«, die ihm zur Verfügung gestanden haben sollen, nach Abschluss seines Publikationsvorhabens nicht beisammenhielt, hat Walter Kempowski seine umfangreiche Sammlung persönlicher Aufzeichnungen später an das Archiv der Akademie der Künste in Berlin überantwortet. Sie werden dort seit 2005 verwaltet und stehen für die Nachnutzung zur Verfügung.147 Jan Peter konnte mit seinem Filmprojekt von 2014 auf die mittlerweile in Sammlungen verfügbar gemachten Bestände aufbauen, die seit den 1980er-Jahren kontinuierlich entstanden sind. Deren Gründungsgeschichten werden im Folgenden anhand von drei Einrichtungen exemplarisch erzählt. b)

Gesprächskreise, Buchreihe und Schreibaufrufe: Die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen in Wien

Die Gründung der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (Doku) geht auf Gesprächskreise zurück, die der Sozialhistoriker Michael Mitterauer erstmals 1982 mit Studierenden der Universität Wien an der Volkshochschule Ottakring durchführte. Das Thema war »Ich kam vom Land in die Stadt«.148 Bereits 1983 wurden der erste Band der Editionsreihe »Damit es nicht verloren geht« veröffentlicht. Das Buch »Mit neun Jahren im Dienst« enthält die Lebenserinnerungen von Maria Gremel (geb. 1902). Die Aufzeichnungen waren den Projektmitarbeiter/innen über persönliche Kontakte zur Verfügung gestellt worden.149 Von 1984 bis 1986 wurde eine eigene Radiosendung gestaltet. Diese verschiedenen Formen der Öffentlichkeit führten zu den Übergaben von weiteren Manuskripten an die Doku.150 Gleichzeitig wurde damit begonnen, auch thematische Aufrufe zu lancieren und damit zum auto/biografischen Schreiben

147 Lessau: Sammlungsinstitutionen des Privaten, 2015, S. 359. 148 Detaillierte Schilderungen der Anfänge dieser Sammlung und den Veränderungen der Schwerpunkte in den ersten Jahren schilderte Michael Mitterauer in ders.: Lebensgeschichten sammeln, 1991, S. 20–26. Wie in → Abschnitt 2.4 dargestellt wurde, spielte die Volkshochschule (das »Volksheim«) Ottakring auch bei der Etablierung der Psychologie als universitäres Fach in Österreich eine wichtige Rolle. 149 Maria Gremel: Mit neun Jahren im Dienst. Ein Leben im Stübl und auf dem Bauernhof 1900– 1930 (»Damit es nicht verloren geht …«, Bd. 1), Wien/Köln/Weimar 19831. Dazu u. a. Günter Müller: Damit es nicht verlorengeht. Eigene Lebenserinnerungen zur Sprache bringen, in: bn.bibliotheksnachrichten, Jg. 61, 2007, Heft 3, 2007, S. 437–444. 150 Hämmerle: »Ich möchte das, was ich schon oft erzählt habe, schriftlich niederlegen …«, 1991, S. 262; Marija Wakounig: Einleitung, in: Ludmilla Misoticˇ: Die Grenzgängerin. Ein Leben zwischen Österreich und Slowenien, Wien/Köln/Weimar 1992, S. 7–14, S. 8.

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direkt anzuregen (→ Abschnitt 3.6).151 Die Präsenz in den Medien hat die Gründungen weiterer Erzählkreise und Schreibwerkstätten angestoßen, die vom Wiener Projektteam methodisch unterstützt worden sind.152 Die Doku war von Anfang an nicht nur auf den akademischen Bereich bezogen. Vielmehr wurde sie als ein Scharnier zwischen »wissenschaftlich und nichtwissenschaftlich tätige[n]« Personen153 konzipiert – das institutionell an einen universitären Kontext angebunden war und ist. Der Bestand der Doku wird jedenfalls noch immer erweitert und steht an der Universität Wien für die wissenschaftliche Benützung zur Verfügung. Die ebenfalls noch immer laufende Buchreihe umfasst derzeit (2020) 70 Bände. Einig davon sind Monografien, die meisten enthalten thematisch zusammengestellte Editionen von mehreren auto/biografischen Texten. Jedes der Bücher hat eine fachliche Einleitung zur Kontextualisierung der darin veröffentlichten Lebenserinnerungen. Parallel dazu wurde als »interaktives Erinnerungsalbum« die Online-Plattform »Menschen schreiben Geschichte« eingerichtet. c)

Ausstellungsprojekte und Lehrveranstaltungen: Die Sammlung Frauennachlässe in Wien

Die Initiative zum Sammeln von Tagebüchern, Briefen, Haushaltsbüchern, Fotografien und Ähnlichem speziell von Frauen wurde 1989 von Edith Saurer (1942–2011) gesetzt. Der organisatorische Rahmen war ebenfalls eine universitäre Lehrveranstaltung, die außerhalb der Hochschule stattgefunden hat. In einem 2007 geführten Interview mit der bulgarischen Historikerin Kristina Popova schilderte Edith Saurer die Situation, die schließlich zur Gründung der Sammlung Frauennachlässe führte, folgendermaßen: »Ich kann sagen, dass die Entstehung der ›Sammlung Frauennachlässe‹ ein Prozess ist und nicht eine Entscheidung war: ›Wir gründen jetzt eine Sammlung Frauennachlässe…‹ Wahrscheinlich konnte das gar nicht eine Entscheidung sein. Dennoch, am Beginn stand unser Interesse an der Frauen- und Geschlechtergeschichte und das hat uns sensibilisiert für Quellen dieser Art. [Und] Quellen für die Frauen- und Geschlechtergeschichte haben wir auf jeden Fall benötigt.«154 Wie bereits Michael 151 Hämmerle: »Und etwas von mir wird bleiben …«, 2003, S. 159; Eine Aufstellung verschiedener Aufrufe ist online verfügbar unter: http://wirtges.univie.ac.at/Doku/07_Erweiterung _der_Textsammlung_neu.pdf. 152 Mitterauer: Lebensgeschichten sammeln, 1991, S. 27. 153 Ebd.: S. 17f. 154 Das Interview wurde in englischer Übersetzung abgedruckt in Edith Saurer: »For Women, the Act of Writing – Whether Letters or Diaries – Expresses their Identity, their Life’s Ambition, the Will to Survive«, in: Kristina Popova, Marijana Piskova, Margareth Lanzinger, Nikola Langreiter und Petar Vodenicharov (Hg.): Women and Minorities: Ways of Ar-

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Mitterauer verwendete also auch Edith Saurer hier den Begriff »Prozess« im Zusammenhang mit der Entstehung eines Sammlungsbestandes (→ Abschnitt 3.2).155 Dieser Prozess hat sich aus Möglichkeiten ergeben, die die Initiator/innen vorgefunden haben, die sie sich selbst geschaffen und die sie auch immer weiter entwickelt haben.156 Der konkrete Anlass, zu dem 1989 in Wien »Quellen für die Frauen- und Geschlechtergeschichte« benötigt wurden, war eine Ausstellung, die Edith Saurer gemeinsam mit einer Gruppe von Studierenden im progressiven Kulturzentrum WUK in Wien umsetzte. Das Thema war »70 Jahre Frauenwahlrecht in Österreich«, es ging also um die Nationalratswahlen 1919, bei denen Frauen erstmals zugelassen waren.157 Um hier deren Erfahrungen als neue Wählerinnen darstellen zu können, sollten Selbstzeugnisse in das Projekt mit einbezogen werden. Da in den hegemonialen Archiveinrichtungen Wiens bisher keine auto/biografischen Aufzeichnungen von Frauen dokumentiert waren, die nicht in einer prominenten Öffentlichkeit standen, schalteten die jungen Forscherinnen einen Zeitungsaufruf. Die daraufhin eingegangene umfangreiche schriftliche Hinterlassenschaft der Lehrerin und Frauenrechtlerin Mathilde Hanzel-Hübner (1884– 1970) (→ Abschnitt 3.4)158 bildete schließlich einen ersten Grundstock des Bestandes der daraufhin gegründeten und am Institut für Geschichte der Universität Wien auf- und ausgebauten Sammlung Frauennachlässe.159 Die heutige Bekanntheit dieser Einrichtung begründet sich in den wissenschaftlichen Arbeiten, die auf ihren Beständen basieren, auf medialen Berichten und nicht

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chiving, Blagoevgrad/Wien 2009, S. 16–19. Danke an Margareth Lanzinger für das ZurVerfügung-Stellen des deutschen Manuskripts von dem Interview. Mitterauer: Lebensgeschichten sammeln, 1991, S. 17f. Zur Entwicklung der Frauen- und Geschlechtergeschichte in Österreich bzw. an der Universität Wien siehe u. a. Christa Hämmerle und Gabriella Hauch: »Auch die österreichische Frauenforschung sollte Wege der Beteiligung finden …« Zur Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechtergeschichte an der Universität Wien, in: Karl Anton Fröschl u. a. (Hg.): Reflexive Innenansichten aus der Universität Wien. Disziplinengeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik, Göttingen 2015, S. 97–109. Monika Bernold, Edith Saurer und Initiative 70 Jahre Frauenwahlrecht (Hg.): »Wer wählt gewinnt?« 70 Jahre Frauenwahlrecht in Österreich. Katalog zur Ausstellung im WUK, Wien 1989. Dazu u. a. Monika Bernold und Johanna Gehmacher (Hg.): Auto/Biographie und Frauenfrage. Tagebücher, Briefwechsel und politische Schriften von Mathilde Hanzel-Hübner (1884–1970) (L’Homme Archiv, Bd. 1), Wien 2003. Dazu u. a. Hämmerle: »… vielleicht können da einige Briefe aus der Kriegszeit bei Ihnen ein ständiges Heim finden.« Die »Sammlung Frauennachlässe« am Institut für Geschichte der Universität Wien, in: Eigner, Hämmerle und Müller: Briefe – Tagebücher – Autobiographien, 2006, S. 132–139, S. 132; Li Gerhalter: Auf zur eigenen Dokumentation von Erinnerung! Feministische Archive für auto/biografische Dokumente als Schnittstellen von Erinnerungspolitiken und Forschung, in: Elke Krasny und Frauenmuseum Meran (Hg.): Women’s: Museum Frauen:Museum. Curatorial Politics in feminism, education, history and art, Wien 2013, S. 285–295, S. 290–291.

Typisierungen von Sammlungen für Selbstzeugnisse

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zuletzt in der regelmäßigen Teilnahme an Ausstellungsprojekten. Sie ist zudem in der universitären Lehre an der Universität Wien stark verankert. All diese Aspekte waren bereits in dem Anlass angelegt, auf den die Sammlung Frauennachlässe ursprünglich zurückgeht. Die Schnittstelle eines konkreten Forschungsprojekts mit zivilgesellschaftlichen Ansprüchen kann im Zusammenhang mit der Gründung von historisch ausgerichteten Sammlungen für Selbstzeugnisse immer wieder festgestellt werden. In der Forschungsliteratur bisher weniger Beachtung hat eine weitere Schnittstelle gefunden, die sich am Beispiel der Sammlung Frauennachlässe zeigt. Gemeint ist die Initialzündung, die politische ›Gedenkjahre‹ im Berufsfeld von Historiker/innen haben (→ Abschnitt 3.2). Diese konkrete Gründungsgeschichte macht sichtbar, dass solche prinzipiell konservativ angelegten Anlässe auch für emanzipatorische Vorhaben nutzbar gemacht werden können. d)

Nachnutzung von Quellen aus Forschungsprojekten: »Chronisten gesucht« von Irene Dölling in Berlin und Emmendingen u. a.

Eine eigene Form der Bestandsbildung in Archiven ist die Übernahme von Materialsammlungen, die Wissenschafter/innen ursprünglich für ihre eigenen Forschungszwecke zusammengetragen haben, womöglich über Jahrzehnte hinweg. Hier stehen die Quellen nun für die Nachnutzung unter gegebenenfalls anderen Fragestellungen zur Verfügung. Ein frühes Beispiel einer solchen Sammlung von Selbstzeugnissen sind die Tagebücher, auf denen die Psychologin Waltraud Küppers in den 1960er-Jahren ihre Studie »Mädchentagebücher der Nachkriegszeit« (1964) aufgebaut hat. Nach Abschluss der Arbeit hat sie die Quellen an das Archiv des Seminars für Pädagogische Psychologie an der Hochschule für Erziehung in Frankfurt am Main übergeben (wo allerdings nur noch ein Band auffindbar ist → Abschnitt 2.10).160 Der Schriftsteller Walter Kempowski hat seinen umfangreichen Bestand (den er selbst nicht wissenschaftlichen ausgewertet hat) der Akademie der Künste in Berlin überlassen. Kopien der Tagebücher aus den Jahren 1989 und 1990, die im Rahmen des Projekts »Chronisten gesucht« von der Soziologin und Frauenforscherin Irene Dölling ausgewertet wurden, befinden sich jetzt im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen. Zuletzt wurde der Nachlass der Journalistin und Historikerin Brigitte Hamann (1940–2016) an die Wienbibliothek im Rathaus übergeben. Diese Sammlung umfasst – neben anderen Quellen – u. a. 20.000 Korrespondenzstücke von 2.158 verschiedenen Briefpartner/innen. Ein Teil davon sind Feldpostbestände. 160 Waltraut Küppers: Mädchentagebücher der Nachkriegszeit. Ein kritischer Beitrag zum sogenannten Wandel der Jugend, Stuttgart 1964, S. 13, S. 333, Anm. 44.

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Die ehemaligen Forschungsbestände sind jeweils abgeschlossen und werden von den Institutionen, in denen sie sich jetzt befinden, nicht mehr erweitert. Eine Ausnahme bildet das Liebesbriefarchiv der Sprachwissenschafterin Eva Lia Wyss. Es befindet sich inzwischen an der Universitätsbibliothek Koblenz-Landau und umfasst in 665 Konvoluten zirka 18.000 Briefe. Die Zusendung weiterer Korrespondenzen wird aktiv beworben. Zudem wurde im Rahmen eines »Citizen Science Projekt« des deutschen Bundesministeriums für Bildung und Forschung ein großangelegtes Digitalisierungsvorhaben angestoßen. Ob zukünftig weitere Forschungssammlungen zur Nachnutzung verfügbar gemacht werden, wird sich zeigen. In Bezug auf die Frage nach möglichen Typisierungen der Sammlungen für Selbstzeugnisse lässt sich der aktuelle Stand jedenfalls folgendermaßen zusammenfassen: Eine klar definierte Typisierung der Einrichtungen ist kaum zu treffen. Die drei sondierten Unterscheidungsmerkmale der dokumentierten Genres, der repräsentierten Personengruppen und der Gründungsgeschichten sind – in jeweils unterschiedlicher Gewichtung – immer eng miteinander verzahnt und stehen in verschiedenen Beziehungen zueinander. Ein für die Fragestellung dieser Studie zentrales Ergebnis ist dabei: Es gibt in Österreich und Deutschland derzeit keine Sammlung, die ausschließlich Tagebücher in ihrem Bestand hätte. Stattdessen sind diese Quellen in zahlreichen Einrichtungen zu finden, die zusammengenommen eine breite Palette von Selbstzeugnissen bereithalten. Mit der Beschreibung der für die Typisierungen ausgewählten Institutionen konnte eine ›Landkarte‹ dieser zahlreichen Einrichtungen systematisch abgesteckt werden. Damit wurde einerseits die Heterogenität abgebildet, die die auto/ biografischen Quellen kennzeichnet. Andererseits wurde die enorme Menge an Selbstzeugnissen konkreter gefasst, die mittlerweile in Sammlungen als Forschungsquellen zur Verfügung stehen. Forscher/innen bilden die eine Interessensgruppe, die die Archive konsultiert. Die andere Interessensgruppe sind jene Personen, die Tagebücher, Briefe, Fotografien, Videoaufnahmen oder lebensgeschichtliche Erzählungen abgeben möchten. Die in → Abschnitt 2.10 vorgestellte Felice Wolmut hätte im Jahr 2020 die ›Qual der Wahl‹, den bestmöglichen Ort für ihre Tagebücher auszusuchen. Wer sind nun aber jene Personen, die seit dem späten 20. Jahrhundert persönliche Aufzeichnungen in eine Sammeleinrichtung bringen? Welche Aufzeichnungen übergeben sie? Und was könnten ihre Motivationen dazu sein?

Übergeber/innen von Selbstzeugnissen an Sammlungen als »Citizen Scientists«

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3.4) Übergeber/innen von Selbstzeugnissen an Sammlungen als »Citizen Scientists« Damit Selbstzeugnisse als Quellen in Sammlungen und Archiven bereitgestellt werden können, muss eine Reihe an Voraussetzungen gegeben sein. Diese hängen von verschiedenen »Zufällen« ab,161 aber auch von einer Reihe an Entscheidungen, die verschiedene Personen treffen: Die Schreiber/innen müssen Selbstzeugnisse überhaupt einmal verfassen – und sie dann aufbewahren. Die aktuellen Besitzer/innen der Selbstzeugnisse müssen ihnen einen Überlieferungswert zuschreiben, sie müssen darüber informiert sein, dass Archive daran Interesse haben würden und mit diesen in Kontakt treten. Die Archive wiederum müssen bereit sein, die Selbstzeugnisse anzunehmen. Der Weg, den persönliche Aufzeichnungen zurücklegen, bis sie in einer Sammlung landen, ist also durchaus kurvenreich und er birgt auch zahlreiche Gelegenheiten dazu, dass die Quellen dabei verloren gehen können.162 In den bisherigen Ausführungen wurde die Position von Wissenschafter/innen, Sammler/innen, Aktivist/innen, Filmemacher/innen oder Schriftsteller/innen dargestellt. Die Perspektive in dem folgenden Abschnitt richtet sich auf jene Personen, die die auto/biografischen Aufzeichnungen an Sammlungseinrichtungen übergeben (→ Abschnitt 2.7). Die Forscher/innen und anderen Akteur/innen haben verschiedene Möglichkeiten und Voraussetzungen geschaffen, dass Selbstzeugnisse der Forschung oder der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden können. Die Entscheidung dazu obliegt aber jenen Personen, die sie geschrieben haben oder die sie derzeit verwalten. Sie schaffen damit erst die wissenschaftlichen Daten. Entsprechend der Definition »a member of the general public who collects and analyses data relating to the natural world, typically as part of a collaborative project with professional scientists«163 sind die Übergeber/innen der persönlichen Aufzeichnungen als »Citizen Scientists« zu bezeichnen. Jene Autor/innen, die auf konkrete Schreibaufrufe antworten, und damit Selbstaussagen ›herstellen‹, passen exakt in diese Beschreibung. Nach meiner Auslegung trifft sie auch auf jene Personen zu, die ›vorgefundene Selbstaussagen‹ übergeben. Mit der Auswahl, welche Selbstzeugnisse an Archive gegeben werden, findet eine wissenschaftlichsrelevante Entscheidung statt. Ein »collaborative project with pro-

161 Hämmerle: Fragmente aus vielen Leben, 2003, S. 375. 162 Dieser ›kurvenreiche Weg‹ wird nachgezeichnet u. a. in Li Gerhalter: Decisions and Chances – the Winding Path of Women’s Personal Testimonies. The Collection of Women’s Estates / Sammlung Frauennachlässe, Vienna, in: Popova, Piskova, Lanzinger, Langreiter und Vodenicharov: Women and Minorities, 2009, S. 20–34. 163 Vgl. Oxford Languages English Dictionary (o. J.), online verfügbar.

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fessional scientists« ist es in jedem Fall.164 Was sind die Voraussetzungen, dass eine solche Auswahl überhaupt getroffen werden kann?

Entscheidungen, Selbstzeugnisse aufzubewahren Es gibt verschiedene Anlässe um auto/biografische Aufzeichnungen zu verfassen. Das wurde in den vorangegangenen Kapiteln bereits aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet, in → Kapitel 4 wird es zudem am Beispiel von Jugendtagebüchern auch anhand von Archivquellen noch näher dargestellt. Im Zusammenhang mit diaristischen Texten ist erwähnenswert, dass sie nicht nur geschrieben werden, sie werden meistens auch längerfristig aufbewahrt. Vielfach werden sie von den Schreiber/innen später wieder gelesen – und manchmal auch umgearbeitet.165 Entsprechend finden sich in Tagebüchern sowohl Ausstreichungen als auch Einfügungen, wobei die Palette von »vertuschte[n] oder exponierte[n] Eingriffe[n] von kleinen Korrekturen über umfängliche Erweiterungen oder Löschungen bis hin zu kompletten Neuentwürfen« reichen kann.166 Für wen die Änderungen (gegebenenfalls) vorgenommen werden, hängt davon ab, wer die/der Adressat/in der Aufzeichnungen ist (→ Abschnitt 4.4). Die Literaturwissenschafterin Nicole Seifert hat das für Tagebücher von Schriftstellerinnen dargestellt.167 Die Adressat/innen lassen sich aber auch in historisch ausgerichteten Beständen aufspüren, wie die folgenden drei Beispiele aus der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien zeigen. Viele Diarist/innen adressieren ihre Aufzeichnungen an sich selbst.168 Nicole Seifert hat diese Art des Schreibens als eine Form des »Selbstgespräch[s]« klassifiziert. Sie zitierte dabei die Literatin Virginia Woolf, die in ihren ab 1915 in London geführten Aufzeichnungen »immer wieder die alte Frau an[sprach], die sie sein wird, wenn sie ihre Tagebücher einmal wieder liest«.169 An einem anderen Ort und einige Jahre früher stellte sich auch die 13-jährige Schülerin Bernhardine Alma in Wien in ihrem ersten Tagebuch diese Frage: »[…] wenn ich einmal als 164 Dazu u. a. Peter Finke: Citizen Science. Das unterschätzte Wissen der Laien, München 2014; Susanne Hecker, Muki Haklay, Anne Bowser, Zen Makuch und Johannes Vogel (Hg.): Citizen Science: Innovation in Open Science, Society and Policy, London 2018. 165 Seifert: Tagebuchschreiben als Praxis, 2008, S. 41. 166 Holm: Montag Ich, 2008, S. 38. 167 Seifert: Von Tagebüchern und Trugbildern, 2008, S. 64–80. 168 Dazu u. a. Angelika Linke: Sich das Leben erschreiben. Zur sprachlichen Rolleninszenierung bürgerlichen Frauen des 19. Jahrhunderts im Medium des Tagebuches, in: Meredit Puw Davis, Beth Linklater und Gisela Shaw (Hg.): Autobiography by Women in German, Oxford/ u. a. 2000, S. 105–130, S. 122. 169 Seifert: Von Tagebüchern und Trugbildern, 2008, S. 77.

Übergeber/innen von Selbstzeugnissen an Sammlungen als »Citizen Scientists«

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altes Weiblein das Tagebuch lesen werde!! Was werde ich dann wohl denken?«170 Das Mädchen hatte ihr Schreiben also als ein Vorhaben angelegt, welches ihr eigenes späteres ›Ich‹ adressierte. Als Erwachsene war Bernhardine Alma als Schriftstellerin u. a. von Fortsetzungsromanen tätig. Daneben entwickelte sich ihr diaristisches Schreiben zu einem Langzeitprojekt, das sie über 70 Jahre verfolgte. Bis zu ihrem 84. Lebensjahr 1979 verfasste sie schließlich geschätzte 25.000 Einträge. Ob sie die Bücher auch wieder gelesen hat, ist ungewiss. Jedenfalls überantwortete sie das Konvolut von insgesamt 47 Bänden kurz vor ihrem Tod ihrer Nachbarin. Diese bewahrten sie weitere 18 Jahre lang auf und übergab sie 1997 der Sammlung Frauennachlässe.171 Die Lehrerin Marianne Hütter aus Niederösterreich richtete ihre in ›Du-Form‹ formulierten Aufzeichnungen direkt an ihre 1934 geborene Tochter Trudi. Der Zweck der zuerst als Müttertagebuch konzipierten Niederschriften erweiterte sich dabei sukzessive. Am 20. März 1938 deklarierte die Schreiberin ihre Absichten folgendermaßen: »Du wirst ja einmal alles in Geschichte lernen, nur vielleicht etwas anders, als es sich in Wirklichkeit zugetragen hat.«172 Marianne Hütter ging also davon aus, dass ihre Tochter die Tagebücher später lesen würde. Die insgesamt 13 Bände, die sie zwischen 1933 und 1951 führte, waren damit klar an eine zweite Person gerichtet.173 Vom ersten Band (1933 bis 1934) fertigte sie zudem mit der Schreibmaschine eine leicht veränderte Abschrift an. Ihre Tochter hat die Aufzeichnungen später dann tatsächlich gelesen. Und sie hat den Großteil der ab 1938 in Gabelsberger Kurzschrift verfassten Texte auf dem Computer abgeschrieben – und beide Versionen 2007 an die Sammlung Frauennachlässe übergeben. Von der Wienerin Therese Lindenberg liegen 60 Tagebuchbände vor, die sie zwischen 1909 und 1980 geführt hat. Deren Adressiertheit hat sich dabei im Laufe der Zeit gewandelt. Mitte August 1939 notierte die Schreiberin: »Ich habe in meinen alten Büchern gelesen. Welche Welt, welche Welt!! Glaubte zu leiden –

170 Bernhardine Alma (geb. 1895): Tagebuch, 2. Februar 1908, Sammlung Frauennachlässe (SFN), NL 9 I. Zu den umfangreichen Tagebüchern von Bernhardine Alma siehe u. a. Ulrike Seiss: »… ich will keinen Krieg oder als Krankenschwester mit!« Selbstinszenierungen, Kriegsrezeption und Männlichkeitsbilder im Tagebuch einer jungen Frau im Ersten Weltkrieg, Diplomarbeit, Wien 2002; Veronika Helfert: »Lieber Gott lasse mich sterben – u. schenke dafür Wien Frieden u. Segen.« Politische Dimensionen im Tagebuch Bernhardine Almas (1934), in: Gerhalter und Hämmerle: Krieg – Politik – Schreiben, 2015, 33–54. 171 Gespräch von Elfriede Kern (geb. 1926) mit Christa Hämmerle bei der Übergabe der Tagebücher 1997, SFN, NL 9 I. 172 Marianne Hütter (geb. Tribl, geb. 1902): Tagebuch, 20. März 1938, SFN, NL 83 I. 173 Damit ist auch jene Ansicht widerlegt, die etwa die Literaturwissenschafterin Angelika Linke vertreten hat. Sie stellte fest, Tagebücher seien Medien, die nicht für außenstehende Adressat/innen geschrieben und »daher in keine Kommunikationsmodelle einzupassen« seien. Linke: Sich das Leben erschreiben, 2000, S. 105.

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ach, welch ein Kind war ich!«174 Zwei Wochen vor diesem Eintrag hatte die Musikerin den Bescheid ihrer Zwangsdelogierung erhalten. Gemeinsam mit ihrem Ehemann wurde sie genötigt, in eine der Wiener ›Sammelwohnungen‹ für jüdische Menschen zu übersiedeln.175 In den folgenden Jahren berichtete sie wiederholt davon, ihre bisherigen Aufzeichnungen gelesen zu haben. Die Kommentare zu den Lektüreeindrücken wechseln dabei zwischen Unverständnis und dem Wachrufen schöner Erinnerungen.176 »Ich habe jetzt alte Tagebücher gelesen. Nein, ich kann nichts sagen, nur den Kopf schütteln«, vermerkte sie dabei ebenso wie: »Ich habe wieder die Weihnachtsabende gelesen – ach, die am Feuersang [in Salzburg, wo die Schreiberin mit ihrer Familie bis 1938 Winterurlaube verbracht hatte, L. G.]!!«177 1975 fertigte Therese Lindenberg mit der Schreibmaschine eine Kompilation ihrer Tagebücher aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs an. Das Transkript ist inhaltlich stark überarbeitet. Die Autorin erweiterte es vor allem um konkrete Informationen zu der für ihre jüdische Familie lebensbedrohlichen Situation während der NS-Zeit.178 Adressiert war das 39seitige Typoskript an die aus der Emigration zurückgekehrte Tochter und deren Familie.179 Sie waren es wiederum, die den umfangreichen Nachlass von Therese Lindenberg zwischen 1995 und 2005 an die Sammlung Frauennachlässe übergeben haben. In allen drei Fällen hingen das Schreiben, das Aufbewahren und das mögliche Umarbeiten der Tagebücher mit der Erwartung einer gewissen Wertschätzung zusammen. Diese ist wahrscheinlich immer gegeben, wenn Selbstzeugnisse (aller verschiedenen Genres) über längere Zeiträume – oder sogar über Generationen hinweg – aufbewahrt werden. Mitunter erfahren die Dokumente dabei eine aufmerksame Behandlung. Sie werden chronologisch geordnet, beschriftet, mit Zierbändern geschnürt oder in Behältnissen wie Kartons, Schatullen oder Handtaschen verwahrt. Gleichzeitig kann die Entscheidung, Aufzeichnungen aufzubewahren, jederzeit revidiert werden. Die Journalistin Helga J. gab im Jahr 2006 einen Teil ihres schriftlichen Vorlasses an die Sammlung Frauennachlässe. 174 Therese Lindenberg (geb. Trestl, geb. 1892): Tagebuch, 15. August 1939, SFN, NL 3 I. 175 Dazu u. a. Dieter J. Hecht, Eleonore Lappin-Eppel und Michaela Raggam-Blesch: Topographie der Shoah. Gedächtnisorte des zerstörten jüdischen Wien, Wien 2015. 176 Zu den Diskrepanzen, die eine Relektüre der eigenen Aufzeichnungen mit sich bringen kann, siehe u. a. Seifert: Tagebuchschreiben als Praxis, 2008, S. 41. 177 Therese Lindenberg (geb. Trestl, geb. 1892): Tagebuch, 4. Jänner 1943, Dezember 1944 (o. T.), SFN, NL 3 I. 178 Diese Kompilation und die handschriftlichen Aufzeichnungen aus dem Zeitraum von 1938 bis 1946 wurden ediert in Christa Hämmerle und Li Gerhalter (Hg.) unter der Mitarbeit von Ingrid Brommer und Christine Karner: Apokalyptische Jahre. Die Tagebücher der Therese Lindenberg (1938–1946) (L’Homme Archiv, Bd. 2), Wien/Köln/Weimar 2010. 179 Dazu weiterführend Christa Hämmerle: Trost und Erinnerung. Kontexte und Funktionen des Tagebuchschreibens von Therese Lindenberg (März 1938 bis Juli 1946), in: dies. und Gerhalter: Apokalyptische Jahre, 2010, S. 1–60.

Übergeber/innen von Selbstzeugnissen an Sammlungen als »Citizen Scientists«

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Der Bestand umfasst u. a. 20 Hefte mit Tagebucheinträgen, die sie als Schülerin zwischen 1956 und 1958 verfasst hat. Helga J. berichtete davon, in der Zeit zuvor noch elf weitere Hefte geführt zu haben. Diese habe sie allerdings weggeworfen. Sie wollte die schriftlichen Spuren ihres jugendlichen ›Ichs‹ nicht länger dokumentiert haben.180 Neben persönlichen Entscheidungen, etwas nicht (mehr) aufheben zu wollen, spielen bei der Gewährleistung einer langfristigen Aufbewahrung nicht zuletzt äußere Faktoren eine Rolle. Personen aus einem proletarischen Umfeld verfügten häufig nicht über einen kontinuierlichen Wohnraum. Das kann als ein Grund dafür angesehen werden, dass von ihnen ungleich weniger Selbstzeugnisse erhalten sind als von Personen aus sozial bessergestellten Schichten (→ Abschnitt 3.5). Weitere äußere Gründe für das VerlorenGehen von Selbstzeugnissen sind u. a. Kriegszerstörungen, Flucht und erzwungene Migration (→ Abschnitt 2.9). Was sind aber nun mögliche Gründe dafür, die bisher sicher aufbewahrten persönlichen Aufzeichnungen an eine Sammlung zu übergeben? Dieser Frage wird anhand einzelner Übergabegeschichten nachgegangen. Die Beispiele kommen aus drei Einrichtungen: der Sammlung Frauennachlässe, der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen und dem Wiener Stadt- und Landesarchiv. Aus diesen Sammlungen standen mir (neben den Archivquellen) auch die Korrespondenzen mit den Übergeber/innen zur Verfügung. Ich bin seit dem Jahr 2000 als Betreuerin der Sammlung Frauennachlässe tätig und kann daher in diesem Zusammenhang auch auf das Wissen und die Erfahrung einer inzwischen langjährigen Berufstätigkeit zurückgreifen.

Entscheidungen, Selbstzeugnisse zu übergeben Das Aufbewahren der Selbstzeugnisse als eine Voraussetzung für die Übergabe an ein Archiv wurde von einer Nachlassgeberin der Sammlung Frauennachlässe auch dezidiert als Begründung genannt: »Ich freue mich […] darüber, dass meine Mutter in dieser Form weiterleben wird. Irgendwo hat sie das wohl selbst gewollt, sonst hätte sie ja das alles vor ihrem Tod vernichten können. Ich glaube, sie hat keinen einzigen Brief weggeworfen, im Gegensatz zu ihrer energischen Schwester Ursel, die jeden Brief sofort beantwortete und dann vernichtete.«181 Die

180 Gespräch von Helga J. (Pseudonym) mit Li Gerhalter bei der Übergabe einer Auswahl ihrer auto/biografischen Aufzeichnungen im Jahr 2002. 181 Christina N.: E-Mail, August 2016. Aus Datenschutzgründen werden bei zitierten Briefen oder E-Mail von Vor- und Nachlassgeber/innen, die sich nicht auf einen in der Studie inhaltlich ausgewerteten Bestand beziehen, die Namen anonymisiert. Die für die Nachnamen stehenden Buchstaben sind Pseudonyme. Auch der hier für die Schwester angegebene

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Übergeberin schilderte hier unterschiedliche Selbstdokumentationspraktiken innerhalb ihrer Familie. Dass ihre Mutter – im Gegensatz zur Tante Ursel – Selbstzeugnisse langfristig aufbewahrt hat, interpretierte sie als Erwartung, die Aufzeichnungen würden später noch für jemanden von Interesse sein. Sonst hätte sie diese ja ebenfalls entsorgt.182 Genau dieses Interesse – von Außenstehenden – ist ein Aspekt, der im Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Selbstzeugnissen immer wieder zur Diskussion gestellt wurde und wird. Wie Hanne Lessau dargelegt hat, wurde bei der Veröffentlichung der ersten Folgen der Fernsehfilmreihe »Mein Tagebuch« von Heinrich Breloer (→ Abschnitt 3.3) im Jahr 1980 diese Frage im bundesdeutschen Feuilleton unter Schlagworten wie ›Indiskretion‹ oder ›Voyeurismus‹ ausführlich behandelt.183 Anhand von Begleitbriefen, die den Einsendungen beigefügt waren, konnte Lessau jedoch belegen, dass diese Diskussion für die Übergeber/innen der Handschriften selbst »nur eine untergeordnete Rolle« gespielt haben dürfte.184 Diese Einschätzung bestätigt auch die enorme Beteiligung an dem Projekt, welche ja mit »über 1.000 Einsendungen« beziffert wurde.185 Nach Hanne Lessaus Einschätzung wurde durch die Filmreihe von Heinrich Breloer und ähnlichen Unternehmungen der 1980er-Jahre »die Vorstellung, Tagebücher […] seien wichtige historische Quellen [sicherlich] in die Gesellschaft hinein[getragen].«186 Dieser Befund kann auch auf eine andere Weise ausgelegt werden: Der Erfolg dieser Projekte hat nicht zuletzt gezeigt, wie groß die Bereitschaft, persönliche Aufzeichnungen einer Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, auch damals schon gewesen ist. An dieser Stelle muss darauf verwiesen werden, dass die Beweggründe all jener Personen, die diesbezügliche Vorbehalte hegten oder hegen, kaum dokumentiert sind. Da sie gerade deshalb ja selten mit Sammlungsmitarbeiter/innen oder Wissenschafter/innen in Kontakt treten, finden sich Erklärungen wie die folgende nur sehr selten belegt: »der große teil der vorhandenen korrespondenz betrifft briefe zwischen meiner mutter und ihrem bruder. die hat aber so viel familiären inhalt, dass ich sie nicht an die öffentlichkeit geben möchte«.187 Während diese Schriftstücke zurückgehalten wurden, ist die Korrespondenz der Mutter mit einem Jugendfreund hingegen übergeben worden. Diese Briefe ent-

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Name ist ein Pseudonym. Die E-Mails und Briefe wurden – wenn nichts anderes angegeben ist – an die Sammlung Frauennachlässe gerichtet. Vgl. dazu auch: Hämmerle: »… vielleicht können da einige Briefe aus der Kriegszeit bei Ihnen ein ständiges Heim finden«, 2006, S. 133. Lessau: Sammlungsinstitutionen des Privaten, 2015, S. 345–347. Ebd.: S. 349. Ebd.: S. 348. Ebd.: S. 353. Doris R.: E-Mail, April 2017 [Die Schreibweise entspricht dem Original].

Übergeber/innen von Selbstzeugnissen an Sammlungen als »Citizen Scientists«

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halten andere Themen. In manchen Fällen hat das – prinzipielle – Interesse einer öffentlich zugänglichen Institution an den Aufzeichnungen von Vorfahr/innen auch dazu geführt, dass der Zugang dazu innerhalb von Familien neu verhandelt worden ist: »Ich habe gestern um einen Termin für die Übergabe des Albums [mit Fotografien aus dem Zweiten Weltkrieg, L. G.] ersucht, muss ihnen aber mitteilen, dass mein Sohn, dem ich es heute gezeigt habe, es sofort wollte. Daher ist das Album weiter im Privatbesitz geblieben und ich kann es nicht zur Verfügung stellen«.188

Mögliche Anlässe dafür, Selbstzeugnisse zu übergeben Insgesamt hat jede Übergabe eines Vor- oder Nachlasses eine eigene Geschichte. Und die Übergeber/innen verfolgen damit auch immer einen bestimmten Zweck. Dieser kann schlichtweg darin liegen, die Dokumente langfristig gesichert zu wissen. Oft spielen auch Befürchtungen eine Rolle, die Aufzeichnungen könnten nach dem eigenen Tod für niemanden mehr von Bedeutung sein und im Abfall landen. »I håb jå niemanden mehr«, erklärte Franziska Grasel aus Scheiblingkirchen in Niederösterreich in einem Interview.189 Aus Angst, ihre Selbstzeugnisse könnten vielleicht einmal ›in falsche Hände‹ geraten, wollte sie diese sogar verbrennen. Eine Freundin stellte für sie den Kontakt zur Sammlung Frauennachlässe her und sie entschied sich dazu, ihre Aufzeichnungen aus der Zeit im Reichsarbeitsdienst im Umfang von 145 Briefen, 370 Fotografien u. a. hier abzugeben. Aus dem Anlass verfasste Franziska Grasel zudem handschriftlich einen lebensgeschichtlichen Text von 36 Seiten, der diese Dokumente aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges kontextualisiert. Ein anderer Nachlassgeber begründete die Übergabe des riesigen Korrespondenzbestandes seiner Tante, die als Germanistin u. a. in den USA gelebt hat, folgendermaßen: »Es tut mir weh, diese Dinge wegzuwerfen, aber wenn ich sie aufhebe, weiß ich genau, dass ich nie Zeit finden werde, sie zu lesen.«190 Neben einer dauerhaften Sicherung ist also auch die Idee maßgebend, dass sich Interessierte finden könnten, die die Selbstzeugnisse lesen oder sogar wissenschaftlich auswerten würden. Das wird als persönliche Anerkennung wahrgenommen, wie es ein pensionierter Jurist aus Norddeutschland im Zusammenhang mit der Feldpostkorrespondenz seiner Mutter ausgedrückt hat: »Vielen Dank dafür, dass Sie sich dieser vielen Briefe annehmen und damit auch einen 188 Gerhard A.: E-Mail, Oktober 2014. 189 Interview von Martina Smutny mit Franziska Grasel, November 2003, in: Martina Smutny: Der Reichsarbeitsdienst in der Erinnerung. Ein Nachlass als Gedächtnisort, Diplomarbeit, Wien 2004, S. 85. 190 Dieter A.: E-Mail, Dezember 2010.

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Herzenswunsch von mir erfüllen. Ich bin eigentlich ein eher nüchterner und rational denkender Mensch, aber ich muss gestehen, dass mich das alles in den letzten Tagen doch sehr bewegt hat.« »Ich freue mich so sehr, dass dieser Briefwechsel in so gute Hände gekommen ist!«191 Wiederum in Bezug auf das Filmprojekt »Mein Tagebuch« stellte Hanne Lessau für die Zeit um 1980 fest: »Weitaus stärker als diese Frage nach dem Veröffentlichen beschäftigte die Einsender und Einsenderinnen in ihren Schreiben die Frage nach der öffentlichen Relevanz der eigenen Tagebücher. [Sie] warfen in ihren Briefen immer wieder die grundsätzlichere Frage auf, inwiefern die alltäglichen Notizen von einfachen Leuten wie ihnen überhaupt für eine größere Öffentlichkeit von Interesse seien.«192 Aus der Arbeit in der Sammlung Frauennachlässe kann ich bestätigen, dass solche Fragen weiterhin gestellt werden.193 Eine Nachlassgeberin, deren Jugendtagebücher in einer Diplomarbeit analysiert wurden, formulierte dazu eine drastische Bemerkung: »Es ist auch für mich eine gewisse Erleichterung, daß meine Tagebücher nicht völlig umsonst dh. überflüssig waren«.194 Insgesamt scheint sich diesbezüglich in den 40 Jahren, die verstrichen sind, seit Heinrich Breloer sein Projekt startete, aber vieles geändert zu haben. Neben (rhetorischen) Fragen nach der Relevanz der eigenen Lebensgeschichte werden inzwischen auch durchaus selbstbewusste Einschätzungen formuliert. »Ich würde diese ›Zeitzeugen‘ mit der Post an Sie schicken«, schrieb etwa eine pensionierte Lehrerin bereits 2001: »Bitte lassen Sie mich bald Ihr Interesse wissen.«195 Eine zweite Übergeberin erkundigte sich ihrerseits: »Gibt es neue Projekte wo sie ›Input‹ suchen? Ansonsten habe ich sie gut vermerkt.«196 Hier hat also eine Entwicklung stattgefunden, die exemplarisch an einem Brief gezeigt werden kann, den ein Autor in den 1990er-Jahren an die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen geschrieben hat: »Mit der Zusendung […] möchte ich Sie nicht belasten oder Ihnen gar auf die Nerven gehen. Bitte teilen Sie mir mit, wenn es so ist. Ich bilde mir nicht ein, mit meinen Veröffentlichungen große schriftstellerische Leistungen zu vollbringen. Jedoch, ich habe immer wieder aus berufenem Munde gehört, daß gerade von bürgerlichen Familien aus früherer Zeit, aus ihrem Leben, aus Beruf und ihren Schicksalen, wenig Wissen und 191 Holger J., E-Mails, November 2019 und Juli 2020. 192 Lessau: Sammlungsinstitutionen des Privaten, 2015, S. 349. 193 In den Begleitbriefen von Übergeber/innen ist die häufige Verwendung des Begriffs »vielleicht« zu beobachten. Sprachwissenschaftlich wird eine solche abschwächende Form als »Mitigation« bezeichnet. Vgl. dazu auch die Titel mehrerer wissenschaftlicher Darstellungen über die verschiedenen Sammlungen: Müller: »Vielleicht hat es einen Sinn, dacht ich mir«, 1997; Hämmerle: »… vielleicht können da einige Briefe aus der Kriegszeit bei Ihnen ein ständiges Heim finden«, 2006; Müller: »Vielleicht interessiert sich mal jemand …«, 2006. 194 Hedwig P.: E-Mail, Juni 2017. 195 Erika O.: Brief, Oktober 2001. 196 Brigitte R.: E-Mail, Mai 2017.

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Überlieferung vorhanden sind. Warum auch, soll man über ein ›normales Leben‹ was aufschreiben … weil aber die meisten so denken, wird halt nichts aufgeschrieben … Aus diesem Grunde bitte ich Sie, meine Zusendungen nicht als Wichtigmacherei aufzufassen. Falls diese Broschüren nicht Ihren Vorstellungen oder Anforderungen entsprechen, bitte ich um Rücksendung.«197 In diesem Brief ist klar ein gewisses Moment der Legitimation enthalten. Der Schreiber stellte dabei aber nicht die ›Relevanz‹ der eingesandten Lebensgeschichten infrage. Den Erklärungsbedarf bezog er vielmehr auf seine eigene Position als Laie, der sich hier zutraute, ›Fachleuten‹ an der Universität selbst zusammengestellte Aufzeichnungen zuzusenden. Dieser Brief wurde in den 1990er-Jahren geschrieben. Das Konzept der »Citizen Scientists« war damals im deutschsprachigen Raum noch nicht geläufig. Möglicherweise hätte Hans V., der Verfasser, diesen Brief 2020 anders formuliert. Inzwischen kommt es vereinzelt vor, dass Übergeber/innen die Auswertung ihrer Bestände direkt anfragen: »Haben sie vielleicht eine Studentin, die über diese Frau eine Arbeit schreiben möchte? Die Vorarbeiten dazu wären ja jetzt vorhanden!«, schlug eine vor.198 Eine andere kommentierte ihrerseits: »Schade, dass der Stoff noch nicht beforscht wird!«199 Eine dritte antwortete auf die Ankündigung, die Tagebücher ihrer Großmutter würden nun in ein Projekt miteinbezogen werden: »Dass die Aufzeichnungen für die historische Forschung so ergiebig sind, freut mich ungemein. Im konkreten Fall habe ich’s eigentlich erwartet.«200 Solch couragierte Aussagen stellen insgesamt die Ausnahme dar. Sie zeigen aber, dass in breiten Teilen der Bevölkerung durchaus ein Bewusstsein für die Bedeutung der (eigenen) Geschichte vorhanden sein dürfte. Die Kulturwissenschafterin Klara Löffler hat die ›Konjunktur‹ (populär-)wissenschaftlicher Publikationen auf dem Buch- und Medienmarkt der letzten Jahrzehnte als »Interesse am (Auto-)Biografischen« bezeichnet.201 Es scheint, dass sich daraus auch eine Art von neuem auto/biografischem Selbstbewusstsein entwickelt hat. In dem Sinne war die pointierte Aussage einer Grazerin wohl auch nur halb scherzhaft gemeint, als sie 2004 ihre Jugendtagebücher der Sammlung Frauennachlässe zur Verfügung stellte: »Ja, [ich überlasse Ihnen] gern alles, dann werde ich unsterblich«.202 197 Hans V.: Brief an die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (Doku), August 1996. 198 Traude U.: E-Mail, Mai 2013. 199 Christina N.: E-Mail, Jänner 2008. 200 Hannelore Q.: Brief, Juli 2014. 201 Klara Löffler: Das (Auto-)Biografische Interesse. Auf eine lange Zukunft! Von der Topik der Findung zur Topik der Erfindung, in: Ilse Korotin (Hg.): 10 Jahre »Frauen sichtbar machen.« biografiA – datenbank und lexikon österreichischer frauen, Wien 2008, S. 38–41, S. 38. 202 Ilse A.: E-Mail, April 2011.

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Wer übergibt Selbstzeugnisse von wem? Ein gewisses Maß an Selbstbewusstsein ist jedenfalls notwendig, um eigene Aufzeichnungen als Vorlass an eine Sammlung zu übergeben. Wer nun die Selbstzeugnisse von wem übergibt, kann exemplarisch am Bestand der Sammlung Frauennachlässe nachvollzogen werden. Dazu liegen quantitative Erhebungen aus den Jahren 2009, 2013 und 2017 vor – womit sich hier also auch tendenzielle Entwicklungen in einem regelmäßigen Zeitabstand nachvollziehen lassen. Die Zahlen beziehen sich auf die Vor- und Nachlässe von 196 Personen (2009), von 330 Personen (2013) und von 388 Personen (2017).203 Dabei wurden fünf verschiedene Akteur/innengruppen identifiziert, die Bestände übergeben haben. Es waren 1) die Schreiber/innen selbst, 2) ihre Familienangehörigen und 3) Bekannte der Schreiber/ innen. Überraschend häufig handelte es sich auch 4) um Zufallsfunde, die etwa von Flohmärkten stammen, von Wohnungsübernahmen oder sogar aus dem Altpapier.204 5) sind es schließlich Sammelinstitutionen, die einen anderen Fokus verfolgen und daher Bestände, die zuvor ihnen angeboten wurden, an die Sammlung Frauennachlässe weitervermittelt haben. Diese verschiedenen Akteur/innengruppen hatten in den drei Vergleichsjahren diese Anteile an den Übergaben: Tabelle 18: Wer übergibt auto/biografische Aufzeichnungen an die Sammlung Frauennachlässe? (2009, 2013 und 2017)

Verwandte Schreiber/innen selbst

2009 54 % 18 %

2013 51 % 16 %

2017 50 % 14 %

Bekannte Zufallsfunde

16 % 8%

15 % 11 %

12 % 17 %

andere Institutionen

4% 196 Personen

7% 330 Personen

7% 388 Personen

203 Derzeit (2020) sind die Vor- und Nachlässe von 444 Personen dokumentiert. Angaben dazu finden sich online in »Meta«, dem gemeinsamen Katalog des Dachverbandes »i.d.a« unter: www.meta-katalog.eu sowie im gedruckten Bestandsverzeichnis (2., neue bearbeitete und erweiterte Auflage, zusammengestellt von Li Gerhalter unter der Mitarbeit von Brigitte Semanek, Wien 2012). 204 Ein solcher Fall wurde etwa folgendermaßen geschildert: »[Im] Jahr 1988 habe ich als Zivildiener in einem Seniorenwohnheim Dienst versehen. Damals habe ich gelegentlich in den Altpapiercontainer geschaut und das eine oder andere Buch herausgefischt. Einmal fand ich da auch einen Karton mit dem papierenen Nachlass einer kurz vorher verstorben alten Dame, den ich an mich genommen habe, und der mir jetzt beim Sichten des Inventars meines Arbeitszimmers wieder untergekommen ist. Was in dem Karton drin ist, scheint mir durchaus interessant zu sein […]. Frau Theresia W[…] – so glaube ich zu erinnern – scheint bei ihrem Ableben im Heim niemanden mehr gehabt zu haben, sonst wäre der Nachlass nicht im Müll gelandet.« Karl J.: E-Mail, August 2016.

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Grafisch umgesetzt ergeben diese Zahlen die folgenden Diagramme: Tortendiagramme 11 bis 13: Wer übergibt auto/biografische Aufzeichnungen an die Sammlung Frauennachlässe? (2009, 2013 und 2017) 2009

2013

2017

Die konstante Verteilung zeigt einerseits, dass diese Daten als repräsentativ angesehen werden können. Andererseits geht aus den Zahlen deutlich hervor, dass der überwiegende Großteil an Selbstzeugnissen von Familienangehörigen übergeben wird. Nach 54 Prozent (2009) und 51 Prozent (2013) war es 2017 exakt die Hälfte aller Bestände. Der Anteil der von den Schreiber/innen selbst übergebenen Quellen (Vorlässe) ist seit 2009 von 18 Prozent leicht zurückgegangen auf 16 und dann 14 Prozent. Der Anteil an Bekannten ist von 16 auf 15 und 12 Prozent ebenfalls zurückgegangen. Die Übernahmen aus anderen Sammelinstitutionen sind hingegen von 4 auf 7 Prozent leicht gestiegen. Am stärksten veränderte sich der Anteil an Zufallsfunden, der sich von 8 auf 17 Prozent mehr als verdoppelt hat.

Weitere mögliche Anlässe dafür, Selbstzeugnisse zu übergeben Die Übergabe von selbst verfassten Aufzeichnungen (Vorlässen) ist häufig von dem Wunsch getragen, eigene Erfahrungen weiterzugeben. Bei den Selbstzeugnissen anderer Personen (Nachlässen) ist die Übergabe zudem oft mit dem Wunsch nach Erinnerung verbunden. Das wird in den folgenden zwei längeren Zitaten eindrücklich belegt: Helene L. aus Gaming im südlichen Niederösterreich überließ 2010 den Nachlass ihrer Tante der Sammlung Frauennachlässe. An-

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lässlich der Vertragsunterzeichnung kündigte sie an, auch Dokumente ihrer Mutter übermitteln zu wollen: »Die unterschriebene Schenkungsurkunde liegt bei. Ich freue mich über die so genauen Aufzeichnungen über den Ihnen überlassenen Nachlaß. Seit Monaten beschäftige ich mich nun schon sehr intensiv mit dem Nachlaß meiner Mutter und ich bin schon sehr weit damit. Lese ich doch jeden Brief einige Male um die Vergangenheit meiner Mutter ganz intensiv in meinem Herzen zu behalten. Sehr schwer macht es für mich immer wieder, dabei erkennen zu müssen, daß ich die Letzte in unserer Familie bin, es kein ›nach mir‹ gibt. Aber ich werde immer mehr von dem Gedanken geführt, all das, was ich soeben ordne, nicht verloren gehen zu lassen. Und ich bin am richtigen Weg, das zu tun. Der Nachlaß wird vielleicht für manche Menschen ein Anstoß sein, über das Leid aus den Kriegsjahren nachzudenken und was Familien leiden mußten, wenn sie von ihren Liebsten Abschied nehmen mußten. […] Liebe Frau Magister, ich denke, es heuer noch zu schaffen, Ihnen den Nachlaß fertig zu senden.«205 Frances Nunnally hat ihre Beweggründe, der Sammlung Frauennachlässe Schriftstücke zu überlassen, im Jahr 2000 auf besonders nachdrückliche Weise beschrieben: »Wir waren eine jüdische Familie und ich war die Einzige die den Krieg überlebt hat. Im May 1939 wurde ich von meinen verzweifelten Eltern nach England geschickt. Für 3 Monate, bis zum Kriegsausbruch konnten wir korrespondieren. Nachher, schrieben meine Eltern an Verwandte in Brüssel die mir die Briefe schickten. Nach der Eroberung von Belgien, ging unsere Korrespondenz über USA – – eine langsame Angelegenheit! Dann, als Amerika in den Krieg eintrat – – nichts mehr. Meine Eltern, Bruder, Großmutter, Tanten, Onkeln, usw. kamen alle im Holocaust um. Von ihnen verblieb nichts – keine alten Möbeln, Kunstgegenstände, eine goldene Uhr, ein Ring – alles Sachen die in Familien von Generationen zu Generationen weitergehen. Nicht einmal Gräber gibt es für diese Menschen. Der einzige Beweis dass sie jemals auf der Welt waren liegt in ihren Briefen.«206 Die Themen Erinnerung, Überlieferung und Existenzbeweis, die Frances Nunnally als Überlebende des Holocausts hier so nachdrücklich formuliert hat, haben in diesem Zusammenhang eine besondere Schwere.207 Insgesamt liegt aber 205 Helene L.: Brief, 2010 (ohne genauere Datierung). 206 Frances Nunnally: Brief, Februar 2000, SFN NL 36 [Hervorhebungen im Original]. Dieser Briefauszug wurde bereits mehrfach veröffentlicht, u. a. in Hämmerle: »… vielleicht können da einige Briefe aus der Kriegszeit bei Ihnen ein ständiges Heim finden«, 2006, S. 134–137. Zur Biografie und zum Vorlass von Frances Nunnally (geb. Franziska Huppert, geb. 1923) siehe Traude Bollauf: Dienstmädchen-Emigration. Die Flucht jüdischer Frauen aus Österreich und Deutschland nach England 1938/39, Wien 2010. 207 Philipp Mettauer: Deportationen und Konzentrationslager im Familiengedächtnis, in: ders. und Martha Keil (Hg.): Drei Generationen. Shoah und Nationalsozialismus im Familiengedächtnis, Wien/Innsbruck/Bozen 2016, S. 55–72, S. 59f. Zum Thema Erinnern und Holocaust siehe allgemein u. a. Martin S. Bergmann, Milton E. Jucovy und Judith S. Kes-

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wohl allen Übergaben von auto/biografischen Aufzeichnungen das Interesse zugrunde, an ein Ereignis zu erinnern oder eine Person vor dem Vergessen zu bewahren. Und das scheint nicht zuletzt mit der Sicherung von deren Selbstzeugnissen gewährleistet zu sein. Die Verfasser/innen können »in dieser Form weiterleben«,208 wie auch das für dieses Kapitel titelgebende Zitat lautet. Die große persönliche Bedeutung, die viele Übergeber/innen dem zumessen, geht aus den folgenden Zitaten hervor: »Das liebe Dankschreiben [der Studentinnen, die die Quellen in einem Seminar beforscht haben, L. G.] hat mich beinahe zu Tränen gerührt. Diese schönen Arbeiten bestätigen, dass es sich wirklich lohnte, die große Korrespondenz meiner Großeltern zu bewahren und transkribieren, und dass sie verschiedene ForscherInnen interessieren könnte«,209 schrieb die eine. Die zweite formulierte es so: »Ich find das so spannend und so unglaublich schön, dass sich über 70 Jahre später junge Menschen für diese Geschichte interessieren → Gänsehaut!«210 Diese emotionale Ebene muss von den Wissenschafter/innen zur Kenntnis genommen werden. Sie ist eine Anerkennung ihrer Arbeit. Für den Inhalt der wissenschaftlichen Auswertung der Quellen spielt dies freilich keine Rolle. Manche Nachlassgeber/innen verfolgen mit der Übergabe von Selbstzeugnissen auch den dezidierten Wunsch nach gesellschaftspolitischer Bildung. Das trifft zumeist dann zu, wenn es sich um auto/biografische Dokumente von NSTäter/innen bzw. von Angehörigen der NS-›Mehrheitsgesellschaft‹ handelt. Entsprechend kommentierte die Wienerin Eveline E. die Korrespondenz eines systemtreuen Verwandten: »Ich habe diese Briefe der Wissenschaft aus Überzeugung zu Verfügung gestellt, dass sie irgendetwas Positives bewirken könnten (z. Zt. will ich über diesen Wunsch gar nicht näher nachdenken!).«211 Mit dem ›historische Wert‹, der auto/biografischen Aufzeichnungen inzwischen von vielen Menschen zugemessen wird, kann auch der relative hohe Anteil an »Zufallsfunden« im Bestand der Sammlung Frauennachlässe erklärt werden. Hier haben Finder/innen persönliche Dokumente von Menschen gesichert, die sie selbst gar nicht kannten. Ebenfalls in diesem Sinne wurden etliche Übergeber/ innen von sich aus zu Multiplikator/innen der Idee, Quellen zu erhalten. Dabei werden durchaus auch Entscheidungen getroffen, wessen Quellen besonders

208 209 210 211

tenberg (Hg.): Kinder der Opfer. Kinder der Täter. Psychoanalyse und Holocaust, Frankfurt am Main 1998. Danke an Philipp Mettauer für die gemeinsame Diskussion dieser Frage. Christina N.: E-Mail, August 2016. Barbara Q.: E-Mail, Juni 2017. Sabine O.: E-Mail, Mai 2017. Eveline E.: E-Mail, August 2016. Dazu auch Christa Hämmerle: Gewalt und Liebe – ineinander verschränkt. Paarkorrespondenzen aus zwei Weltkriegen 1914/18 und 1939/45, in: Ingrid Bauer und Christa Hämmerle (Hg.): Liebe schreiben. Paarkorrespondenzen im Kontext des 19. und 20. Jahrhunderts, Göttingen 2017, S. 171–230.

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erhaltenswert wären. In dem Sinne erreichen die Sammlung Frauennachlässe immer wieder Nachrichten wie die folgenden: »Ich wünsche Ihnen […] weiterhin Erfolg für die Bearbeitung der ›Frauennachlässe‹. Das ist ja eine ganz wichtige Aufgabe und die neuen Folder werden sicher zu weiteren guten Ergebnissen beitragen. Ein Exemplar wird meine Frau einer älteren Freundin weiterleiten, die meiner Meinung nach sehr geeignet ist, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen«, erklärte ein Nachlassgeber aus Bayern 2001.212 Eine Wienerin schrieb ihrerseits: »Bitte senden Sie mir einige [Broschüren] – ich würde sie weitergeben an Freundinnen, deren Mütter Schauspielerinnen in Wien waren und daher einen guten Fundus an Material haben. […] Jedenfalls mache ich Werbung für Ihre Sammlung – meine Familie hat auch noch diverses Material – vielleicht kann ich sie überzeugen.«213 Eine dritte Nachlassgeberin drückte ihre positive Einschätzung des Werts der Arbeit von Institutionen wie der Sammlung Frauennachlässe in einem persönlichen Kommentar aus. Sie beendete einen ihrer Briefe mit den Wünschen »viel Freude und Erfolg mit Ihrer schönen Arbeit«.214

Entscheidungen, Tagebücher zu übergeben Die in der Sammlung Frauennachlässe archivierten Vor- und Nachlässe sind sehr unterschiedlich, sowohl vom Umfang her als auch in Bezug auf die auto/biografischen Genres, die sie enthalten. Diese Breite ist insbesondere darin begründet, dass hier bei der Übernahme dezidiert keine bestimmten Aufzeichnungsformen bevorzugt behandelt werden. Vielmehr werden alle geschriebenen Selbstzeugnisse oder Fotografien, die in einem Vor- oder Nachlass enthalten sind, aufgenommen – bzw. alles, was davon zur Übernahme angeboten wird. Als Folge dieses offenen Zugangs ist auch der Bestand an diaristischen Aufzeichnungen, der von Mädchen und Frauen sowie von einigen Burschen und Männern vorliegt, sehr vielfältig.215 Die Unterschiede liegen schon in den Umfängen: Tagebücher können nur einen einzigen Band umfassen. Sie können sogar lediglich aus einzelnen Seiten bestehen, wie etwa die fragmentarischen Notizen, die die Wienerin Emilie Wehle während ihrer Internierung im Konzentrationslager Terezín/Theresienstadt von 1943 bis 1945 unter Lebensgefahr auf losen Papier212 213 214 215

Hans V.: Brief, Jänner 2001. Elisabeth E.: E-Mail, Mai 2017. Elisabeth J.: Brief, November 2011. Ein erster Einblick wird gegeben in Li Gerhalter: »Ich werde von nun an mehr hereinschreiben…« Schreiben im Alltag, Schreiben als Alltag. Beispiele von Frauen- und Mädchentagebüchern aus der Sammlung Frauennachlässe, in: Petra Maria-Dallinger (Hg.): (M)Ein Tagebuch. Überlegungen zum autobiographischen Schreiben an ausgewählten Beispielen, Linz 2008, S. 12–51.

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fetzen festhielt.216 Andere Tagebücher wurden wiederum über Jahrzehnte geführt und sind entsprechend umfangreich. Die Aufzeichnungen der Wienerinnen Bernhardine Alma und Therese Lindenberg, die jeweils einen Zeitraum von 71 Jahren abdecken und aus 49 bzw. 60 Bänden bestehen, sind in diesem Kapitel bereits vorgestellt worden.217 Die derzeit frühesten tagebuchähnlichen Aufzeichnungen im Bestand der Sammlung Frauennachlässe wurden zwischen 1815 und 1823 verfasst. Es handelt sich dabei um Einträge von Johanna Candolini in einem Buch, das sie hauptsächlich dazu verwendete, den Landwirtschaftsbetrieb zu dokumentieren, den sie führte. Johanna Candolini war mit einem »k. k. Kameralverwalter« verheiratet, und die Familie lebte zeitweise in der Untersteiermark (heute Slowenien).218 Frühe Notizen sind auch von Anna Ekmeyer aus Ofen/Buda in Ungarn erhalten. Sie berichtete darin zwischen 1843 und 1850 erst chronikhaft von den Geburten ihrer acht Kinder und den Umständen des Todes von mehreren von ihnen (→ Kapitel 1).219 1850 schilderte sie zusammenfassend die politischen Ereignisse der Revolutionszeit von 1848 und 1849. An beiden Beispielen wird die Breite der Formen diaristischer Aufzeichnungen gut sichtbar, die selbst in einem einzigen Band variieren können. Die derzeit jüngsten dokumentierten Tagebucheinträge wurden von der pensionierten Sozialarbeiterin Josefine Titz aus Perchtoldsdorf in Niederösterreich verfasst. Sie begann das Buch 1978 als knapp 60-Jährige und führte es bis zu ihrem Tod im Jahr 2006.220 Abgeleitet von der oben gestellten Frage, wer wessen Vor- oder Nachlässe an Sammlungseinrichtungen bringt, kann in Bezug auf den Fokus dieser Studie weiters gefragt werden, wer konkret Tagebücher abgibt. Ist hier ein Unterschied festzustellen? Sind es bei Tagebüchern eher die Schreiber/innen selbst? Oder halten gerade sie diaristische Aufzeichnungen eher zurück? Geben Verwandte eher Tagebücher ab als Bekannte etc.? Für den Bestand der Sammlung Frauennachlässe liegen dazu wieder Zahlen für die Jahre 2009, 2013 und 2017 vor. Zuerst ist aber zu fragen, wie häufig Tagebücher in diesem Bestand überhaupt vorkommen. Sind sie im Großteil der Vor- und Nachlässe enthalten, oder gehören sie zu den selten übergebenen Aufzeichnungsformen? Die folgenden quantitativen Angaben haben einen exemplarischen Aussagewert, zeigen dabei 216 Emilie Wehle (geb. Schöffer, geb. 1873): Tagebuchnotizen, o. D., SFN, NL 21 I. Dazu Gerhalter: Materialitäten des Diaristischen, 2013, S. 64. 217 Bernhardine Alma (geb. 1895): 49 Tagebuchbände (1908–1979), SFN, NL 9 I; Therese Lindenberg (geb. 1892): 60 Tagebuchbände (1909–1980) (→ Abschnitt 3.4). 218 Johanna Candolini (geb. Surtmann, Geburtsdaten unbekannt): Tagebuchähnliche Einträge in ihrem Wirtschafts- bzw. Haushaltsbuch (1815–1923), SFN, NL 110. 219 Anna Ekmeyer (geb. Reiß, geb. 1812): Müttertagebuch/Familienchronik (1843–1850), SFN, NL 11. 220 Josefine Titz (geb. 1912): Tagebuch (1978–2006), SFN, NL 100 I.

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aber auffällige Regelmäßigkeiten, was auf eine gewisse Konjunktur hindeutet. Die Auswertung des gesamten Bestandes der Sammlung Frauennachlässe hat ergeben, dass hier knapp ein Drittel der dokumentierten Vor- und Nachlässe auch oder ausschließlich diaristische Aufzeichnungen enthält.221 Dieser Anteil ist seit der ersten Erhebung von 2009 relativ gleich geblieben: 2009 waren in 32 Prozent (63) der damals insgesamt archivierten 196 Vor- und Nachlässe (auch) Tagebuchformate enthalten. 2013 waren es 31 Prozent (101) von 330 Vorund Nachlässen, 2017 30 Prozent (116) von 388 Vor- und Nachlässe. Wird nun weiters differenziert, wer die diaristischen Aufzeichnungen übergeben hat, ergeben sich folgende Zahlen: Tabelle 19: Personen, die Tagebücher an die Sammlung Frauennachlässe übergeben haben (2009, 2013 und 2017) Wer übergibt diaristische Aufzeichnungen? 2009 63 Tagebuchbestände (32 % von 196 Vor- und Nachlässen)

2013 101 Tagebuchbestände (31 % von 330 Vor- und Nachlässen)

2017 116 Tagebuchbestände (30 % von 388 Vor- und Nachlässen)

Verwandte Schreiber/innen selbst

36=57 % (von 63) 13=21 %

53=52 % (von 101) 19=19 %

60=52 % (von 116) 20=17 %

Bekannte Zufallsfunde

6=9,5 % 3=4,5 %

11=11 % 6=6 %

14=12 % 10=9 %

1=2 %

12=10 %

andere Institutionen 5=8 %

Wenn die Zahlen jener Personen, die Tagebücher übergeben haben, verglichen werden mit den Zahlen jener Personen, die insgesamt Selbstzeugnisse übergeben haben (→ Tabelle 18 und Tortendiagramme 11 bis 13), stellt sich heraus, dass sich die Anteile der jeweiligen Akteur/innengruppen (Verwandte, Schreiber/innen selbst etc.) nicht merklich voneinander unterscheiden. Der Bestand der diaristischen Quellen ist also auf ziemlich gleiche Weise angewachsen wie der Bestand allgemein. Die Zahlen haben sich parallel entwickelt:

221 Unter diaristischen Aufzeichnungen werden hier alle Formen von tagebuchartigen Aufzeichnungen zusammengefasst. Sie können etwa auch regelmäßige Einträge in Kalendern miteinbeziehen, die über reine Terminnotizen hinausgehen, oder Haushaltsbücher, die um persönliche Anmerkungen erweitert wurden, etc. Vgl. Gerhalter: »Ich werde von nun an mehr hereinschreiben …«, 2008.

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Tabelle 20: Personen, die Bestände (insgesamt) an die Sammlung Frauennachlässe übergeben haben und Personen, deren Bestände (auch) Tagbücher enthalten (2009, 2013 und 2017) Wer übergibt (insgesamt) Selbstzeugnisse und wer diaristische Aufzeichnungen? 2009 2013 2017 gesamt 116 gesamt 63 Tageb. gesamt 101 388 Pers. Tageb. 196 Pers. (32 %) 330 Pers. Tageb. (30 %) (31 %) Verwandte

54 %

57 % (36) 51 %

52 % (53) 50 %

52 % (60)

Schreiber/innen selbst Bekannte

18 %

21 % (13) 16 %

19 % (19) 14 %

17 % (20)

16 %

9,5 % (6) 15 %

11 % (11) 12 %

12 % (14)

4,5 % (3) 11 % 8 % (5) 7%

6 % (6) 17 % 12 % (12) 7 %

9 % (10) 10 % (12)

Zufallsfunde 8% andere Institutionen 4 %

Grafisch umgesetzt ergeben diese Zahlen die folgenden Diagramme: Balkendiagramme 1 und 2: Wer übergibt Bestände allgemein sowie Bestände mit Tagebüchern an die Sammlung Frauennachlässe? (2009, 2013 und 2017) Bestände, die von Verwandten übergeben wurden

Bestände, die von den Schreiber/innen selbst übergeben wurden

Herauszustreichen ist hier der folgende Befund: Der Anteil jener Personen, die (auch) Tagebücher von Verwandten übergeben haben, ist jeweils ähnlich hoch wie der Anteil jener Personen, die insgesamt Selbstzeugnisse von Familienmitgliedern übermittelten. 2009 haben Verwandte 57 Prozent der Bestände mit Tagebüchern übergeben – und 54 Prozent der Nachlässe insgesamt. Ähnliches gilt

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für die eigenen Tagebücher: Die Schreiber/innen selbst haben 21 Prozent der diaristischen Bestände übergeben – und 18 Prozent aller Vorlässe insgesamt. In beiden Fällen ist der Anteil von Beständen mit Tagebüchern also jeweils etwas höher als jener ohne Tagebücher. Die Entwicklungen dieser beiden Gruppen verlief dabei in Bezug auf die Bestände allgemein bzw. die Bestände mit Tagebüchern zwischen 2009 und 2017 jeweils ziemlich parallel. Der Anteil der Bekannten, die Bestände mit Tagebüchern übergeben haben, ist seit 2009 gestiegen und war 2017 auf Gleichstand mit den Bekannten, die insgesamt Quellen übermittelten (→ Tabelle 20; nicht in den Diagrammen dargestellt). Deutliche Unterschiede sind (ansteigend) bei den Übernahmen aus anderen Institutionen zu verzeichnen. Der größte Unterschied besteht bei den Zufallsfunden, die verhältnismäßig am wenigsten Tagebücher enthalten: Während die Zufallsfunde 2017 17 Prozent aller verzeichneten Bestände der Sammlung Frauennachlässe ausgemacht haben, waren es bei jenen Beständen, die (auch) Tagebücher enthalten, nur 9 Prozent.222 Auf der Grundlage einer quantitativen Auswertung der Bestände der Sammlung Frauennachlässe kann hier das folgende eindeutige Ergebnis präsentiert werden: Zwischen den Übergaben von Vor- oder Nachlässen allgemein und den Übergaben von Vor- oder Nachlässen, die (auch) Tagebücher enthalten, sind keine eklatanten Unterschiede festzustellen. Daraus kann der Schluss gezogen werden: Wenn es darum geht, sie an eine Sammlungseinrichtung zu geben, werden Tagebücher im Vergleich mit allen anderen Genregattungen weder auffällig überprivilegiert noch unterprivilegiert. Dies gilt zumindest für den Bestand dieser konkreten Sammlungseinrichtung, die in ihrer Übernahmepolitik keine inhalts- oder genrebezogenen Einschränkungen verfolgt.

Entscheidungen, bestimmte Selbstzeugnisse an bestimmte Sammlungen zu übergeben Übergeber/innen entscheiden darüber, ob sie auto/biografische Aufzeichnungen an eine Sammlungseinrichtung übergeben. Sie entscheiden darüber, welche, und schließlich auch wohin. Der Historiker Thomas Etzemüller hat im Kapitel »Die Performanz der Quellen« seiner Überblicksdarstellung »Biographien« allgemein festgestellt: »So unterschiedlich die Quellen sind, so unterschiedlich sind auch ihre Fundorte [in Sammlungen und Archiven, L. G.]. Im Idealfall gibt es einen 222 In den Fällen, wo die Selbstzeugnisse auf Flohmärkten oder in Altpapiertonnen entdeckt wurden, kommen Fotoalben, Korrespondenzen und amtliche Dokumente wie Lehrbriefe etc. auffallend häufiger vor als Tagebuchaufzeichnungen. Möglicherweise sind diese Formate leichter als Selbstzeugnisse ›erkennbar‹ und werden daher öfter ›gerettet‹ als Tagebuchnotizen, die etwa in unauffälligen Heften verfasst wurden.

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Nachlass in einem Archiv, der alles relevante Material enthält, sodass sich die biografische Erhebungsarbeit auf den reinen Fleiß des Exzerpierens und Kopierens reduzieren kann (aber nicht muß). Im schlechtesten Fall gibt es nichts außer ein paar dürre Behördenakten«223 (→ Abschnitt 3.3). Mit den »Idealfällen« ist es so eine Sache. Wann treten diese schon ein? Und was genau würde »alles relevante Material« umfassen? Ohne auf diese Frage hier näher einzugehen, soll vielmehr der Hinweis von Etzemüller aufgegriffen werden, dass die Überlieferungssituationen von Vor- und Nachlässen sehr ungleich sein können. Manche sind enorm umfangreich, andere bestehen nur aus einem einzelnen Dokument. Auch in der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien sind Bestände dokumentiert, die wahrscheinlich tatsächlich einen Großteil der autobiografischen Aufzeichnungen enthalten, die von den jeweiligen Nachlasser/innen jemals geschrieben (und aufbewahrt) wurden. Ein solcher Fall ist der im Zusammenhang der Gründung dieser Sammlung schon vorgestellte Nachlass von Mathilde Hanzel-Hübner, ihren beiden Töchtern Ruthilt Lemche und Dietgart Pangratz, ihrer Mutter Agnes Hübner und ihren vier Schwestern Berta, Olga, Alla und Mimi Hübner (→ Abschnitt 3.3). Die dokumentierten Materialien der sehr schreibaffinen Frauen dieser Familie füllen derzeit zirka 100 Archivkartons.224 Die vielen tausend erhaltenen Schriftstücke, die sich aus Tagebüchern, Kalendern, Korrespondenzen, Konzeptheften, amtlichen Dokumente und Fotografien zusammensetzen, wurden nicht auf einmal an die Sammlung Frauennachlässe übergeben. Nachdem die ersten Selbstzeugnisse auf den Zeitungsauruf von 1989 hin übernommen worden sind, folgten immer wieder Nachreichungen. Der bisher letzte Transfer fand 2015 statt. Der Aufbau dieses Familiennachlasses erfolgte also verteilt auf den Zeitraum eines Vierteljahrhunderts. Das ist in seiner Dauer ein Ausnahmebeispiel. Dass Teile von Voroder Nachlässen nachgereicht werden, kommt aber regelmäßig vor. Was Edith Saurer in Bezug auf die Entstehung von Sammlungsinitiativen formuliert hat (→ Abschnitt 3.3),225 gilt in vielen Fällen also auch für Vor- und Nachlässe. Auch ihre Zusammenstellung kann sukzessive erfolgen. Viele andere Bestände der Sammlung Frauennachlässe dokumentieren hingegen nur bestimmte Lebensabschnitte der Vor- oder Nachlasser/innen. Wie die Vorlässe der oben vorgestellten Franziska Grasel, Helene L. und Frances Nunnally enthalten sie dann etwa Selbstzeugnisse, die sich nur auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges beziehen. Aus der von den Übergeber/innen getroffenen Auswahl ergibt sich schließlich 223 Etzemüller: Biographien, 2012, S. 84. 224 Mathilde Hanzel-Hübner (geb. 1884), SFN, NL 1; Ruthilt Lemche (geb. Hanzel, geb. 1911), SFN, NL 2 I; Dietgart Pangratz (geb. Hanzel, geb. 1914), SFN, NL 2 II; Agnes Hübner (geb. von Coulon, geb. 1845), SFN, NL 1. 225 Saurer: »For Women, the Act of Writing – Whether Letters or Diaries – Expresses their Identity, their Life’s Ambition, the Will to Survive«, 2009.

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nichts weniger als die Frage, welche Inhalte auf der Grundlage der dadurch verfügbaren Quellen überhaupt beforscht werden können. Gibt das verfügbare Material Informationen zum ganzen Lebenslauf der dokumentierten Person, oder wird ein bestimmter Ausschnitt belegt, den die Übergeber/innen betonen wollten? In diesem Zusammenhang ist wichtig zu erwähnen, dass Vor- und Nachlässe in vielen Fällen nicht nur an eine einzelne Sammeleinrichtung übergeben werden. Es ist öfters der Fall, dass eine schriftliche Hinterlassenschaft auf verschiedene Institutionen verteilt wurde – womit das von Thomas Etzemüller entworfene Szenario noch zu erweitern wäre. Die vielen Möglichkeiten, wo derzeit auto/biografische Aufzeichnungen hingegeben werden können, wurden in den → Abschnitten 3.2 und 3.3 umrissen. Diese Angebote werden von den Übergeber/innen mitunter auch verschieden genützt. Was die Beweggründe dafür bzw. die Anlässe dazu sein konnten, zeigen die folgenden Beispiele. a)

Aufteilen von Vor- oder Nachlässen nach Genres

Die Aufteilung von Vor- oder Nachlässen wird von den Sammlungsinstitutionen provoziert, die bestimmte Quellensorten bevorzugt aufnehmen. Im Fall der Bestände der Sammlung Frauennachlässe gibt es zahlreiche Überschneidungen mit der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (Doku). Diese legt ihren Fokus hauptsächlich auf retrospektiv verfasste Lebenserinnerungen, während die Sammlung Frauennachlässe eher Formate wie Tagebücher, Korrespondenzen, Haushaltsbücher etc. sucht. Nach diesem Schema teilen sich derzeit immerhin 27 schriftliche Hinterlassenschaften zwischen den beiden Institutionen auf. In 14 Fällen befinden sich Dubletten (zumeist in der Form von Originalen und Kopien) in beiden Sammlungen. Bestimmte Schwerpunkte sind Vorgaben, die die Übergeber/innen vorfinden. Die Entscheidung, einen Bestand aufgeteilt an verschiedene Orte zu geben, kann durchaus auch aktiv getroffen werden, wie die folgenden zwei Übergabegeschichten belegen. b)

Aufteilen von Vor- oder Nachlässen nach Schreibaufrufen

Die Wienerin Stephanie Bamer wurde 1919 geboren. Als 14-jährige Realschülerin begann sie im Jahr 1933 mit ihrem Tagebuch, das sie schließlich bis ins hohe Alter führte. Auszüge davon sind in drei verschiedenen Sammlungseinrichtungen in Wien dokumentiert. Im Bestand »Wiener Historische Kommission« im Wiener Stadt- und Landesarchiv befinden sich maschingeschriebene Abschriften der Einträge aus der Zeit von Jänner bis Juni 1945. Diese wurden von Stephanie

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Bamer im Zuge des Aufrufs von 1975 übergeben.226 Wie in → Abschnitt 3.2 dargestellt wurde, war die »Kommission Wien 1945« das früheste Projekt in Wien, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auto/biografische Aufzeichnungen aus der breiten Bevölkerung gesammelt hat. Eine inhaltliche Einschränkung war dabei der eng definierte zeitliche und räumliche Fokus auf die Wochen rund um das Ende des Zweiten Weltkriegs in Wien – den Stephanie Bamer in der Gestaltung ihrer Tagebuchabschriften auch erfüllte.227 In einem Brief an die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen erläuterte sie später, dass sich diese Notizen über das Kriegsende eigentlich sehr von ihrer seit 1933 etablierten und auch später wieder fortgesetzten Tagebuchpraxis unterschieden haben: »Bezüglich 1945 habe ich vorwiegend die Luftangriffe auf unsere Stadt aufgezeichnet, denn zum Festhalten der bösen Erlebnisse im April 1945 fand ich weder Zeit noch Muße, da war Wichtigeres zu tun, um überleben zu können«.228 Weil die »Kommission Wien 1945« aber nur Texte über diese Situation suchte, sandte sie auch nur diese ein, obwohl sie für ihr jahrzehntelanges auto/biografisches Schreiben insgesamt nicht repräsentativ waren. Als 1978 der dritte Aufruf der Stadt Wien veröffentlicht wurde, der auf den Zeitraum von 1918 bis 1938 fokussieren sollte, beteiligte sich Stephanie Bamer auch daran wieder. Entsprechend der Inventarliste von 1981 sandte sie das Folgende ein: »46 Bamer, Stephanie. Erinnerungsbericht 1927–1944.«229 Alleine die Beispiele dieser zwei Übergaben von Stephanie Bamer zeigen deutlich, in welch starker Weise thematische Aufrufe einen Einfluss darauf nehmen, welche Formen von Selbstzeugnissen in Sammlungen gelangen und dabei als Quellen generiert werden. Von Stephanie Bamer sind noch in weiteren Wiener Institutionen Selbstzeugnisse zugänglich. Darin zeigt sich, dass sie in dieser Sache auch weiterhin aktiv war. Nachdem sie die zwei von der Stadt Wien geschaffenen Gelegenheiten wahrgenommen hatte, beteiligte sie sich ab 1985 wiederholt an Aufrufen der inzwischen gegründeten Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen. Sie übergab dabei im Laufe von mehreren Jahren maschingeschriebene Bearbeitungen ihrer Tagebücher, die den Zeitraum von 1933 bis 1944 abdecken

226 Stephanie Bamer (geb. Johne, geb. 1919): Tagebuchabschriften (1945), WStLA, Signatur 3.15.A1 – Kommission Wien 1945 {gesammelt 1975} 120 Stephanie Bamer. 227 In der 1977 veröffentlichten Inventarliste ist Folgendes zu den Aufzeichnungen angegeben: »120. Bamer, Dr. Stephanie. Tagebuch (Abschrift): 4. Bezirk. Luftangriffe, Nationalsozialisten, Kriegswirren, Lebensmittelversorgung, Besatzungsmacht (sowjetisch), Grabeland, Gesundheitswesen«. Klusacek: Material der »Kommission Wien 1945«, 1977, Sonderheft 2, S. 86. 228 Stephanie Bamer: Brief an die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (Doku), Jänner 1997, Doku, Signatur 1919_Bamer_Stephanie. 229 Klusacek: Wiener Historische Kommission, 1981, S. 8.

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und einen Umfang von mehr als 400 Seiten haben.230 Dass das Abschreiben der »[l]ebensgeschichtliche[n] Aufzeichnungen für Forschungszwecke«231 auch einen Arbeitsaufwand bedeutete, sprach Stephanie Bamer in den Begleitschreiben 1985 direkt an: »[Ich] bin überzeugt, dass [meine Tagebücher] manche Dinge enthalten, die auch für die Öffentlichkeit von Interesse sind, doch ist es mir momentan nicht möglich, Wichtiges herauszusuchen.«232 1987 konnte sie dann berichten: »Endlich habe [ich] es zuwege gebracht, aus meinen Tagebüchern einen Auszug zu machen, den ich Ihnen anbei übermittle. Es dürfte dennoch zu lang geworden sein.«233 Ein weiterer Teil wurde 1988 eingereicht, und auch Tagebücher, die der Ehemann von Stephanie Bamer von 1941 bis 1944 geschrieben hatte, gingen an die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen.234 Schließlich erhielt die Sammlung Frauennachlässe 2001 einen Tagebuchauszug von 1933 bis 1937 sowie zwei Poesiealben und ein handgeschriebenes Kochbuch von Stephanie Bamer.235 Ihrem Brief an die Doku von 1985 zufolge war sie überzeugt davon, mit ihren Texten der »Öffentlichkeit« etwas mitteilen zu können. Als einen weiteren Grund für ihre Schreibprojekte präzisierte sie 1997 die Vorliebe, sich schreiberisch zu betätigen: »Obgleich 78 Jahre alt, bin ich eine, die immer noch gerne und viel zu Papier bringt.« Als Stenographin habe sie auch beruflich eine Tätigkeit ausgeübt, »die Liebe zum Schreiben und Konzipieren verlangt«. In ihrem persönlichen Umfeld fühle sie sich »diesbezüglich als ›einsamer Wolf‹, denn die meisten greifen eher zum Telephon, Fax oder vielleicht Internet, um Kontakt zu suchen.«236 Ihrerseits suchte (und hielt) Stephanie Bamer jedenfalls den Kontakt zu verschiedenen Wiener Sammlungseinrichtungen, wo nun eine von ihr selbst gestaltete Auswahl ihrer bearbeiteten Tagebücher entsprechend vertreten ist und ausgewertet werden kann.237 Ihre autobiografische Selbstermächtigung lag dabei insbesondere in der Konzentration auf bestimmte inhaltliche Schwerpunkte. Der Fokus war zuerst von der »Wiener Historische Kommission« vorgegeben worden. Schließlich beziehen sich aber alle von Stephanie Bamer an Sammlungen übermittelten Aufzeichnungen auf die 1930er- und 1940er-Jahre. Diese Einschränkung wäre von der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen oder der Sammlung Frauennachlässe gar 230 Doku, Signatur 1919_Bamer_Stephanie. 231 Formulierung im »Betreff«, Stephanie Bamer: Brief an die Doku, Juni 1988, Doku, Signatur 1919_Bamer_Stephanie. 232 Stephanie Bamer: Brief an die Doku, November 1985, Doku, Signatur 1919_Bamer_Stephanie. 233 Stephanie Bamer: Brief an die Doku, Februar 1987, Doku, Signatur 1919_Bamer_Stephanie. 234 Doku, Signatur 1917_Bamer_Alfred. 235 Stephanie Bamer, SFN, NL 40 (→ Abschnitt 4.2). 236 Stephanie Bamer: Brief an die Doku, Jänner 1997, Doku, Signatur 1919_Bamer_Stephanie. 237 Zuletzt wurden diese Quellen bearbeitet von Kurt Bauer: Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich 1938–1945, Frankfurt am Main 2017.

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nicht vorgegeben gewesen. Stephanie Bamer hat dennoch weder Texte aus anderen Zeiträumen ihrer jahrzehntelang geführten Aufzeichnungen übergeben noch ihre originalen Handschriften – die nach ihrem Tod im Jahr 2006 auch nicht mehr zur Verfügung stehen. c)

Aufteilen von Vor- oder Nachlässen nach Inhalten

Auf eine anders gelagerte systematische Weise ging Barbara Reisner vor. Sie wurde 1943 in New York City geboren, ist pensionierte Orchestermusikerin und lebt in Antwerpen. Von hier aus unternahm sie in den 2010er-Jahren gemeinsam mit einer Freundin drei lange Autofahrten in verschiedene Städte in Deutschland und Österreich. Abgesehen von den damit in Kauf genommenen Strapazen ist das nun noch nicht weiter ungewöhnlich. Das Besondere an diesen Touren war ihr Anlass. Barbara Reisner verwaltet die Nachlässe ihrer Vorfahr/innen aus Teplitz-Schönau/Teplice im heutigen Tschechien, aus Berlin und dem Rheinland. Jede der langen Autofahrten hatte ein bestimmtes Archiv zum Ziel, an das Barbara Reisner jeweils einen Teil dieser Selbstzeugnisse übergeben wollte: 2014 führte die Reise sie in das zirka 725 Kilometer Wegstrecke entfernte Berlin, wo sie den beruflichen Nachlass ihres Großvaters Harry Marcuse an das Archiv jenes Krankenhauses brachte, an dem er im frühen 20. Jahrhundert gearbeitet hatte.238 Das Original seiner Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg kam, zusätzliche 190 Kilometer weiter, an das Militärhistorische Museum der Bundeswehr Dresden. Im Sommer 2015 fuhren Barbara Reisner und ihre Freundin ganze 1.100 Kilometer nach Wien zur Sammlung Frauennachlässe, wo sie eine besonders umfangreiche Zusammenstellung von schriftlichen Aufzeichnungen abgeben wollten. Enthalten waren darin zirka 1.150 Briefe der Großmutter Marie Marcuse (geb. Heller) an Harry Marcuse aus den 1910er-Jahren, Briefe der Urgroßmutter Helene Heller (geb. Fischl) an ihre Tochter Marie Marcuse und eine Vielzahl weiterer Selbstzeugnisse von Mitgliedern dieser Fabrikantenfamilie, die bis in die späten 1930er-Jahre in Berlin und in Teplitz-Schönau lebte. Mehrere der Aufzeichnungen gehen bis in das frühe 19. Jahrhundert zurück, einzelne dokumentieren die Flucht vor den Nationalsozialist/innen in den späten 1930erJahren.239 Die Abschriften eines Großteils der Dokumente hatte Barbara Reisner in Etappen bereits ab dem Jahr 2009 an die Sammlung Frauennachlässe übergeben, nun folgten auch die Originale. 2019 reiste Barbara Reisner schließlich noch in das von Antwerpen ›nur‹ 210 Kilometer entfernte Köln. Hier übergab sie dem Archiv im Rhein-Kreis Neuss die Scans von Dokumenten der aus dem 238 Historisches Archiv am Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge GmbH (KEH). 239 Marie Marcuse (geb. Heller, geb. 1886), SFN NL 120.

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Rheinland stammenden Familie von Herbert Kaufman, ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann. In den Jahren zuvor hatten Barbara Reisner und Herbert Kaufman gemeinsam die unzähligen Briefe der Großeltern sowie auch die Kriegserinnerungen des Großvaters Marcuse mit dem Computer abgeschrieben, ins Englische übersetzt und im Selbstverlag als »Books on demand« veröffentlicht.240 Und sie beteiligte sich an verschiedenen anderen Ahn/innenforschungsprojekten, die zu weiteren Vorfahr/innen durchgeführt wurden.241 Nun legte Barbara Reisner zusammengerechnet zirka 4.500 Kilometer mit dem Personenkraftwagen zurück, um die unterschiedlichen schriftlichen Hinterlassenschaften aus ihrer Familie jenen Sammlungseinrichtungen in Deutschland und Österreich zu übergeben, die sie nach inhaltlichen Bezügen als bestmöglich dafür ausgesucht hatte. Der weite Weg, den die Dokumente dabei transferiert wurden, ist doppelt berührend, als es weder deren erste noch ihre weiteste Reise war. Die Vorfahr/innen der Familien Marcuse und Kaufman hatten Jahrzehnte davor die an verschiedenen Orten im damaligen Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei verfassten Selbstzeugnisse auf ihrer Flucht in die USA mitgenommen. Ihre Enkelkinder Barbara Reisner und Herbert Kaufman sind später wieder nach Europa zurückgekehrt. Die Lebenserinnerungen, Briefwechsel, Kindertagebücher oder amtlichen Dokumente hatten sie dabei ebenfalls wieder im Gepäck. Das weist auf die persönliche Bedeutung hin, die diese Aufzeichnungen für ihr Familiengedächtnis gehabt haben mussten. Sie belegen die Lebensgeschichten ihrer Verfasser/innen und erinnern nachhaltig an diese, was Barbara Reisner (nicht zuletzt unter einem beachtlichen Zeit- und Kostenaufwand) auch gezielt gefördert hat.242

240 Herbert Kaufman (Hg.): War Memoirs 1914–1918 of Dr. Harry Marcuse, Antwerpen (lulu.com) 2010; Barbara Reisner (Hg.): Kriegserinnerungen 1914–1918 von Dr. Harry Marcuse, Antwerpen (lulu.com) 2012; dies. (Hg.): Kriegsbriefe 1914–1918 von Dr. Harry und Mimi Marcuse, Antwerpen (lulu.com) 2013. 241 Antonie Neumann (Hg.): Jakob Ludwig Hellers Erinnerungen. Längst vergessene Begebenheiten aus Alt-Österreich, Neckenmarkt 2001; Klaus Dieter Spangenberg (Hg.): Der Rittmeister Joseph Richard Marcuse (1875–1927): Eine Spurensuche, Berlin 2017; Josef Wißkirchen und Barbara Reisner (Hg.): Stimmen der Verfolgten 1939–1945. Briefe aus Köln, Amsterdam und Tel Aviv, Köln/Antwerpen (lulu.com) 2020. 242 Ähnlich vielfältige Aktivitäten setzte Ruth Steiner, die Enkelin der oben vorgestellten Diaristin Therese Lindenberg im Rahmen von Wiener Sammlungen. Sie hat Teile der Nachlässe ihrer Vorfahr/innen in der Sammlung Frauennachlässe, dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW) und der Akademie der Wissenschaften abgegeben. Auch hat sie eigene Publikationen dazu herausgegeben bzw. Editionen ermöglicht. U. a. Ruth Steiner/Mona Lisa Steiner: Die Philippinen – das war mein Traumland, dort wollte ich hin, in: Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus (Hg.): Erinnerungen. Lebensgeschichten von Opfern des Nationalsozialismus, Bd. 4: Exil in Asien (3), Wien 2015, S. 5–109.

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Die Übergabegeschichten von Barbara Reisner, Stephanie Bamer und den Nachfahr/innen von Mathilde Hanzel-Hübner sind drei besonders engagierte Beispiele. Sie belegen die aktive Rolle als »Citizen Scientits«, die Vor- oder Nachlassgeber/innen bei der Zusammensetzung von archivalischen Beständen einnehmen, besonders deutlich. Die drei Geschichten zeigen aber auch die Handlungsspielräume, die hier ausgeschöpft werden können. Persönliche Interessen der Nachlassgeber/innen wie etwa der Wunsch, die Erinnerung an bestimmte Personen zu sichern oder die eigenen Erfahrungen mitzuteilen, stehen in einer wechselseitigen Beziehung mit den Möglichkeiten der Sammlungseinrichtungen, die seit Ende des 20. Jahrhunderts im Kontext des »Interesses am (Auto-)Biografischen«243 initiiert wurden. Der Aufbau eines Sammlungsbestandes von Selbstzeugnissen setzt Entscheidungen voraus, die von verschiedenen Akteur/innen getroffen werden, die dabei jeweils aufeinander angewiesen sind: Die Schreiber/innen, Nachfahr/innen oder sonstigen Befugten stellen die Briefe, Tagebücher, Fotoalben etc. zur Verfügung. Die Archivar/innen sammeln und verwaltet sie systematisch. Die Forscher/innen werten sie aus.

3.5) Soziale Schicht als Analyseperspektive: Tagebücher von Arbeiter/innen und Dienstbot/innen in Sammlungen Welche auto/biografischen Aufzeichnungen in Sammlungen und Archiven zur Verfügung stehen, ist von verschiedenen Faktoren abhängig – sowie von den Entscheidungen von mehreren Beteiligen. Das ist in dieser Studie bisher anhand verschiedener Gesichtspunkte deutlich geworden. Selbst die mittlerweile sehr umfangreichen Bestände spezifischer Sammlungen können kein exaktes Abbild davon geben, was von wem in vergangenen Zeiten geschrieben wurde. Sie zeigen vielmehr, welche Dokumente in privaten Zusammenhängen aufbewahrt worden sind, welche von Forscher/innen gesucht wurden – und welche von den aktuellen Besitzer/innen als wert bzw. als passend befunden wurden, um sie an eine öffentlich zugängliche Einrichtung zu übergeben. Die Historikerin Hanne Lessau hat das in Bezug auf diaristische Aufzeichnungen formuliert: »Bevor von dem Ausmaß der heute in Archiven verfügbaren Tagebücher belastbare Thesen über das Tagebuchschreiben in der Vergangenheit entwickelt werden können, muss jedoch genauer untersucht werden, wie private Selbstzeugnisse in jene Archive gelangen, die Historiker und Historikerinnen heutzutage aufsuchen, um Tagebücher oder Korrespondenzen von nicht prominenten Zeitgenossen zu finden.«244 Diese Frage ist das zentrale Thema in diesem Kapitel. 243 Löffler: Das (Auto-)Biografische Interesse, 2008, S. 38. 244 Lessau: Sammlungsinstitutionen des Privaten, 2015, S. 337.

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Aber welche Tagebücher sind das überhaupt, die »heute in Archiven verfügbar« sind? In den folgenden zwei Abschnitten wird dargestellt, wie die aktuellen Archivbestände in Bezug auf die Analyseperspektiven 1) soziale Schicht und 2) Geschlecht zusammengesetzt sind. Tagebuchschreiben wird allgemein als bildungsbürgerliche Praxis verortet. Gibt es auch Tagebücher von Arbeiter/innen oder Dienstbot/innen in den Sammlungen? Und was ist mit der Annahme, Tagebücher würden vor allem von Mädchen und Frauen verfasst werden? Spiegelt sich das auch in den Archivbeständen wider? Sind diaristische Formate von Frauen eher dokumentiert als solche von Männern? Anhand von zwei unterschiedlich zusammengesetzten Stichproben kann zu diesen Fragen ein zumindest tendenzieller Eindruck geschaffen werden.

Tagebücher von Arbeiter/innen und Dienstbot/innen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Die Frage nach den sozialen Verortungen des auto/biografischen Schreibens beschäftigt die auf Selbstzeugnisse bezogene Alltagsgeschichtsforschung seit ihrem Beginn vor inzwischen mehreren Jahrzehnten. Die Historikerin Christa Hämmerle beschrieb die dabei entstandene Dynamik folgendermaßen: »Erst in den achtziger Jahren begann eine Art Entdeckungsreise in nichthegemoniale historische Schreibkulturen, die im deutschsprachigen Raum auch von der Volkskunde ausging. Im Jahre 1985 legte Bernd Jürgen Warneken […] sein Buch ›Populare Autobiographik‹ vor, in dem er die Auffassung von der ›BeinaheSchriftlosigkeit des Volkes‹ als Produkt und als Mitproduzent [einer entsprechenden] ›Neglektionsspirale‹ demontierte.«245 Einen Überblick der spezifischen Forschung sowie konstruktive Überlegungen zu dem Thema auto/biografisches Schreiben im (von ihr sogenannten) »Kontext Gruppe/Klasse« lieferte etwa die Sozialhistorikerin Sigrid Wadauer in ihrer Längsschnittdarstellung über die Mobilität von Handwerksgesellen vom 18. bis in das 20. Jahrhundert.246 Die Frage, wer wann wo wie und was geschrieben hat, ist grundlegend immer an die Frage nach dem Grad der Alphabetisierung der Bevölkerung geknüpft, also daran, wer wann und wo überhaupt schreiben konnte. Allgemeine Aussagen dazu sind nicht möglich. Die Forschung hat inzwischen vielmehr darstellen können, dass die Alphabetisierung von verschiedenen Faktoren beeinflusst wurde. Sie konnte sich daher auch innerhalb von Staaten und sogar Regionen stark unterscheiden – und hat sich gerade um 1900 mitunter relativ rasch ge245 Christa Hämmerle: Nebenpfade?, 2000, S. 135–167, S. 141. 246 Sigrid Wadauer: Die Tour der Gesellen. Mobilität und Biographie im Handwerk vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York 2005, S. 55–84.

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ändert.247. Hintergrund waren die fundamentalen Veränderungen im Ausbau und der Professionalisierung der allgemeinen Schulbildung am Ende des 19. Jahrhunderts.248 In der Forschungsliteratur wird jedenfalls davon ausgegangen, dass sich – nicht zuletzt deshalb – das auto/biografische Schreiben in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert zunehmend auf alle gesellschaftlichen Schichten ausgeweitet haben dürfte. Erste Indizien dazu liefern auch Hinweise in zeitgenössischen Forschungsarbeiten (→ Abschnitt 2.7). So wissen wir über diesen Umweg z. B. von einem Textilarbeiter, der in den 1930er-Jahren im Niederösterreichischen Gramatneusiedl ein Tagebuch geführt hat. Zumindest stelle er dieses dem Forschungsteam der 1933 veröffentlichten Studie »Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit« zur Auswertung zur Verfügung (→ Abschnitt 2.3 und 2.4).249 Die Art und Weise, wie die Autor/innen Marie Jahoda (1907–2001), Paul F. Lazarsfeld (1901–1976) und Hans Zeisel (1905–1992) in ihrem Buch auf dieses Tagebuch eingegangen sind, lässt vermuten, dass sie es nicht als Sensationsfund eingestuft haben dürften. Darauf deutet bereits die Nennung dieser Aufzeichnungen im Zusammenhang mit den verfügbaren Quellen hin. Hier heißt es dazu lediglich: »Außerdem erhielten wir ein Tagebuch«.250 Auch in der Auswertung wurde es nicht systematisch oder gar prominent verwendet. In den insgesamt 247 Für Österreich siehe dazu u. a. die Arbeiten von Thomas Stockinger und Andreas Weigl: Während in Vorarlberg in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts verhältnismäßig viele Menschen lesen und schreiben konnten, wird für Kärnten die besonders hohe Rate von 40 Prozent Analphabet/innen angenommen. Merkliche zeitliche Veränderungen um 1900 innerhalb bestimmter Regionen haben Stockinger und Weigl für Niederösterreich belegt. Hier lag 1890 der Anteil der Analphabet/innen (gemeinsam mit Wien) unter Kindern zwischen sechs und zehn Jahren bei 6,3 Prozent, unter Kindern ab zehn Jahre bei 5,3 Prozent. 1910 waren noch 3 Prozent der gesamten (nicht nach Alter differenzierten) niederösterreichischen Bevölkerung (ohne Wien) reine Analphabet/innen, 0,6 Prozent konnten zwar nicht schreiben, aber bereits lesen. Thomas Stockinger: Dörfer und Deputierte. Die Wahlen zu den konstituierenden Parlamenten von 1848 in Niederösterreich und im Pariser Umland (Seine-et-Oise), Wien/München 2012, S. 205 und Andreas Weigl: Schul-(Alltags-)Geschichte, in: Oliver Kühschelm, Ernst Langthaler und Stefan Eminger (Hg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert, Bd. 3: Kultur, Wien/Köln/Weimar 2008, S. 39–71, S. 41. Für Deutschland u. a. Rainer Block: Determinanten der preußischen Alphabetisierung im 19. Jahrhundert, in: Historical Social Research, Jg. 21, 1996, Heft 1, S. 94–121. 248 Dazu u. a. Waltraud Schütz: Educational entrepreneurs and the politics of schooling in nineteenth-century Habsburg society, Dissertation, Florenz 2018. 249 Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langandauernder Arbeitslosigkeit. Mit einem Anhang zur Geschichte der Soziographie, Leipzig (19331) 1975. Vgl. dazu auch Li Gerhalter: Tagebücher als Quellen. Diaristische Aufzeichnungen als Forschungs- und Sammlungsgegenstände in den Sozialwissenschaften bis in die 1930er-Jahre und in den Geschichtswissenschaften ab den 1980er-Jahren, Dissertation, Wien 2017, S. 48–51. 250 Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal, 1975, S. 27.

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zwei Bezügen darauf wird an späteren Stellen ergänzt, dass der Schreiber ein »35jähriger Arbeitsloser« gewesen sei,251 der das Tagebuch »seit Beginn der Arbeitslosigkeit regelmäßig führte«.252 Es wurde schließlich als Beleg für solidarische Handlungen unter der krisengeschüttelten Bevölkerung herangezogen: Laut den Ausführungen hatte die Nachbarin des Diaristen angeboten, »den Kindern einen Teller Suppe« zu bringen.253 Dieser scheinbar lapidare Umgang mit einem – aus heutiger Sicht – seltenem Quellenfund kann dahingehend interpretiert werden, dass er von den Wissenschafter/innen aus dem Umfeld der Tagebuchforscherin Charlotte Bühler als nicht außergewöhnlich wahrgenommen worden ist. Oder er passte schlichtweg nicht in das Forschungsdesign der sozialwissenschaftlichen Studie von 1933.254 Insgesamt wurde die von den Historiker/innen nachträglich konstatierte »Neglektionsspirale« einer nicht gegebenen Literalität von Angehörigen der Arbeiter/innenschicht im frühen 20. Jahrhundert schon von zeitgenössischen Sozialwissenschafter/innen angestoßen (→ Abschnitt 2.7). Wie dargestellt, hatte die NS-affine Jugendpsychologin255 Mathilde Kelchner (geb. 1872) die (von ihr als solche identifizierten) »wenigen Tagebuchschreiber« aus der Arbeiter/innenschaft »als Ausnahmen« bezeichnet.256 Der Sozialforscher Curt Bondy (1894– 1972) hatte seinerseits Anfang der 1920er-Jahre die Einschätzung statuiert, bei Tagebuchschreiber/innen aus dem Arbeiter/innenmilieu müsse es sich »um junge Proletarier handeln, die über dem Durchschnitt ihrer Schicht stehen.«257 251 252 253 254

Ebd.: S. 62. Ebd.: S. 99. Ebd.: S. 62. Diese Frage ist für den Fokus der vorliegenden Arbeit besonders interessant. Im mit 1960 datierten »Vorspruch zur neuen Auflage« betonte Paul F. Lazarsfeld den Einfluss, den die Arbeiten von Charlotte Bühler, besonders jene mit Selbstzeugnissen, auch für diese Studie gehabt haben. Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal, 1975, S. 14. Die Auswertung von Tagebüchern – oder anderen auto/biografischen Aufzeichnungen – stand bei der Marienthal-Studie aber nicht im Zentrum. Das Tagebuch mit dem Hintergrund aktueller Forschungsfragen zu bearbeiten, ist nicht möglich, da es nicht erhalten geblieben ist. Das gesamte Forschungsmaterial der Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle wurde 1936 von der Polizei beschlagnahmt und ist seither verschollen (→ Abschnitt 2.4). 255 Irmgard Weyrather: Die Frau am Fließband. Das Bild der Fabrikarbeiterin in der Sozialforschung 1870–1985, Frankfurt am Main 2003, S. 129. 256 Mathilde Kelchner: Kummer und Trost jugendlicher Arbeiterinnen. Eine sozialpsychologische Untersuchung an Aufsätzen von Schülerinnen der Berufsschule, Leipzig 1929, zitiert nach Annelies Argelander und Ilse Weitsch: Aus dem Seelenleben verwahrloster Mädchen auf Grund ihrer Tagebuchaufzeichnungen (Quellen und Studien zur Jugendkunde, Bd. 10), Jena 1933, S. 111. 257 Curt Bondy: Die proletarische Jugendbewegung in Deutschland mit besonderer Berücksichtigung der Hamburger Verhältnisse. Ein methodischer und psychographischer Beitrag zur Jugendkunde, Dissertation, Lauenburg 1922, zitiert nach Argelander und Weitsch: Aus dem Seelenleben verwahrloster Mädchen auf Grund ihrer Tagebuchaufzeichnungen, 1933, S. 111.

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Jedenfalls wurden solche Aufzeichnungen nicht gezielt ediert, es liegen nur wenige veröffentlichte Fragmente vor.258 Vor allem aber standen sie nicht im hauptsächlichen Fokus der jugendpsychologischen Tagebuchforschung der Zwischenkriegszeit, die insgesamt als ein Projekt der bürgerlichen Selbsterforschung bezeichnet werden kann. Verlässliche Indizien für eine möglicherweise breitere soziale Streuung des Tagebuchschreibens finden sich in retrospektiv verfassten Selbstzeugnissen, wo die ehemaligen Schreiber/innen selbst von ihren auto/biografischen Praktiken berichten. Die 1904 geborene Johanna Gramlinger hat als junge Frau u. a. als Stubenmädchen in Oberösterreich und im Gastgewerbe in Deutschland gearbeitet (→ Abschnitt 4.2).259 Ihre umfangreichen Lebenserinnerungen leitete sie folgendermaßen ein: »Ja, nun habe ich wieder einmal das kleine, versperrbare Büchlein gelesen […] ich will mich ganz einfach nicht davon trennen. […] Dieses hübsche Büchlein habe ich mir buchstäblich vom Munde abgespart, denn ich wollte eines zum Versperren, und da gab es nichts Billigeres. Je weiter ich lese, desto besser kann ich mich in diese Stimmung versetzen, und es ist alles so geschildert, wie es wirklich war. Und es ist nicht etwa so, dass es mich traurig macht, im Gegenteil, es macht mich froh.«260 Dass sie sich mit ihrem Tagebuch »als Ausnahme« wahrgenommen haben könnte, wie Mathilde Kelchner es eingeschätzt hatte, deutete Johanna Gramlinger in ihren Lebenserinnerungen nicht an. Auch nicht, dass es ihr schwergefallen wäre, sich schriftlich auszudrücken: »im Gegenteil«. Weder ihre Aufzeichnungen noch jene des Textilarbeiters aus der Wohnsiedlung »Marienthal« sind erhalten geblieben. Gibt es Tagebücher von anderen Arbeiter/innen oder Dienstbot/innen in den Beständen der historisch ausgerichteten Sammlungen?

258 Argelander und Weitsch: Aus dem Seelenleben verwahrloster Mädchen auf Grund ihrer Tagebuchaufzeichnungen, 1933; Lisbeth Franzen-Hellersberg: Die jugendliche Arbeiterin. Ihre Arbeitsweise und Lebensform. Versuch sozialpsychologischer Forschung zum Zweck der Umwertung proletarischer Tatbestände, Tübingen 1932. 259 Jessica Richter: Brüchigkeit als Normalität – Mobilitäten und Stellenwechsel in Selbstzeugnissen von Hausgehilfinnen (Österreich, ca. 1900–1938), in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, Jg. 29, 2018, Heft 3, S. 97–119. 260 Johanna Gramlinger (geb. 1904), Doku, Signatur 1904_Gramlinger Johanna (→ Abschnitt 4.2). Die Aufzeichnungen wurden ediert von Andrea Althaus (Hg.): Mit Kochlöffel und Staubwedel. Erzählungen aus dem Dienstmädchenalltag (»Damit es nicht verloren geht …«, Bd. 62), Wien/Weimar/Köln 2010.

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Tagebücher von Arbeiter/innen und Dienstbot/innen in Sammlungen Um abschätzen zu können, welche Tagebücher aus bildungsferneren Bevölkerungsgruppen inzwischen in den Archiven zur Verfügung stehen, wurden die drei großen Spezialsammlungen für Selbstzeugnisse in Österreich und Deutschland konsultiert. Es wurde der gesamte Bestand vom Deutschen Tagebucharchiv Emmendingen, der Sammlung Frauennachlässe und der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen danach durchsucht. Der zeitliche Rahmen war die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Der inhaltliche Fokus lag auf Schreiber/innen, die in dieser Zeit als Arbeiter/innen in der industriellen Produktionssphäre oder im häuslichen oder ländlichen Dienst gearbeitet haben. Die Aufzeichnungen sollten zudem kein konkretes Thema verfolgen (wie Elterntagebücher oder Soldatentagebücher), sondern ›alltägliche‹ Schilderungen enthalten. Eine kulturelle Praxis wie das Führen eines Tagebuches ist klarerweise kaum quantitativ zu erfassen (→ Abschnitt 4.3). Ein systematischer Blick in die Bestände ließ aber erwarten, zumindest tendenzielle Aussagen über die soziale Streuung treffen zu können. Und da die seit den 1980er-Jahren initiierten historisch ausgerichteten Sammlungen ihr Interesse am Anfang ja dezidiert auf die Dokumentation von bildungsferneren Personen gelegt hatten,261 war anzunehmen, dass diese hier inzwischen auch gut dokumentiert sein würden (→ Abschnitt 3.1). Hat sich diese Erwartung bestätigt? Das Rechercheergebnis fiel eindeutig aus. In den drei großen Beständen sind tatsächlich Tagebücher enthalten, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Arbeiter/innen oder Dienstbot/innen geschrieben wurden. Es sind aber nur einzelne Nachweise, die im Gesamten einen verschwindend kleinen Anteil ausmachen. Außerdem hat sich bei diesem Nachforschen einmal mehr bestätigt, dass die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht fluid sein kann. Es ist letztlich vage und individuell biografisch veränderbar, welche Lebensweise oder Form von Erwerbstätigkeit wann und wo der ›Arbeiter/innenschaft‹ oder den ›Dienstbot/ innen‹ zuzuordnen war.262 Die Tagebücher belegen stattdessen die Flexibilität in den Erwerbstätigkeiten, die häufig changierten: Die meisten Schreiber/innen, die jemals Dienstbot/in waren oder in einer Fabrik gearbeitet haben, sind im Laufe ihres Lebens auch anderen Erwerbstätigkeiten nachgegangen. Oft fanden die 261 Dazu u. a. Günter Müller: Die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, in: Eigner, Hämmerle und Müller: Briefe – Tagebücher – Autobiographien, 2006, S. 140–146. 262 Dazu u. a. Sylvia Hahn, Wolfgang Maderthaner und Gerald Sprengnagel: Aufbruch in der Provinz: niederösterreichische Arbeiter im 19. Jahrhundert, Wien 1989; Sylvia Hahn: Frauenarbeit vom ausgehenden 18. bis zum 20. Jahrhundert, Wien 1993 und zuletzt Richter: Brüchigkeit als Normalität – Mobilitäten und Stellenwechsel in Selbstzeugnissen von Hausgehilfinnen (Österreich, ca. 1900–1938), 2018. Danke an Jessica Richter für die gemeinsame Diskussion dieser Frage.

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Wechsel innerhalb von kurzen Zeiträumen statt. Die Suche nach Tagebüchern von Arbeiter/innen und Dienstbot/innen stellte sich also als bei weitem komplizierter heraus als gedacht. Und als weit weniger ergiebig als gehofft. In der Sammlung Frauennachlässe sind derzeit (2020) insgesamt 1.478 Tagebuchbände von 138 Tagebuchschreiber/innen dokumentiert. Zwei von ihnen passen in den exakten Fokus. Sie waren junge Näherinnen und haben beide auch temporär als Dienstmädchen gearbeitet. In der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen sind es derzeit insgesamt gut 300 Tagebuchbände von 71 Schreiber/innen. In den engen Fokus passt niemand von ihnen.263 Im Deutschen Tagebucharchiv Emmendingen waren 2017 insgesamt 13.909 Tagebuchbände archiviert. Entsprechend der Recherche waren unter allen Schreiber/ innen im zeitlichen Fokus ein Dienstmädchen, eine Weißnäherin und ein Fabriksarbeiter.264 Dieser Befund ist eine Tendenz. Aber selbst wenn er mehrfach daneben läge, wäre er eindeutig. Zusammengenommen sind im gesamten Bestand der drei großen Einrichtungen offenbar weniger als 10 Diarist/innen dokumentiert, die vor 1950 als Arbeiter/innen oder Dienstbot/innen gearbeitet haben. Und das, obwohl ihre Tagebücher seit mehreren Jahrzehnten aktiv gefragt sind. Vor dieser Folie war das Ergebnis in seiner Deutlichkeit wahrlich überraschend. Ob eine systematische Suche z. B. durch weitere gezielte Aufrufe eine bisher unbekannte Menge solcher Selbstzeugnisse zu Tage fördern würde, könnte nur die praktische Umsetzung zeigen.265 Bevor einzelne der recherchierten Bestände konkret vorgestellt werden, seien hier allgemeine Bemerkungen dazu zusammengefasst. Das überaus magere Resultat ist folgendermaßen zu relativieren: 1.) Die genannte Anzahl bezieht sich nur auf (nicht thematisch geführte) Tagebücher – Lebenserinnerungen wurden nicht berücksichtigt. Mit retrospektiv verfassten Texten sind (ehemalige) Arbeiter/innen oder Dienstbot/innen in den Beständen sehr gut vertreten. Die vorhandenen Autobiografien wurden für diese Auswertung nicht in Bezug auf 263 Danke an Günter Müller für die zuvorkommende Unterstützung bei der Quellenrecherche, für das Zur-Verfügung-Stellen von umfangreichen Daten und die gemeinsame Diskussion dieser Frage. 264 Die für das DTA vorhandenen Zahlen beziehen sich auf Tagebuchbände und nicht auf die Schreiber/innen (→ Abschnitt 3.6). Danke an Jutta Jäger-Schenk und Gerhard Seitz für die zuvorkommende Unterstützung bei der Quellenrecherche. 265 Als außereuropäisches Referenzbeispiel für eine umfangreiche Sammlung von Tagebuchquellen aus einer ländlichen Umgebung kann »The Rural Diary Archive« an der University of Guelph in Kanada genannt werden. Hier wurden bisher persönliche Aufzeichnungen von »over 150« Personen aus ruralen Regionen gesammelt. Viele von ihnen werden als »farmer« oder »farmers wife« ausgewiesen (was jedoch keine Aussage über ihre soziale Schicht ist, da die Landwirtschaft ja ein sehr heterogenes Betätigungsfeld war und ist). 43 der Schreiber/ innen waren Frauen. 115 der 147 vorliegenden Tagebücher wurden im 19. Jahrhundert geschrieben bzw. begonnen, der früheste Eintrag wurde 1801 verfasst, der späteste 1960. Die Tagebücher sind auf der Website des Projekts als Scans vollständig online verfügbar.

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die sozialen Kontexte ihrer Verfasser/innen untersucht. Diese Aussage kann stattdessen mit jenen Quellen abgestützt werden, die Jessica Richter für ihre Studie zu Hausgehilfinnen in Österreich von etwa 1914 bis 1938 zur Verfügung standen:266 Sie hat dabei unterschiedliche auto/biografische Formate von 27 Frauen und 16 Männern ausgewertet. 22 davon waren lebensgeschichtliche Texte, eines war ein Tagebuch.267 2.) Neben den Unterscheidungen nach Geschlecht und Genre sind in den dokumentierten Beständen aus proletarischen Zusammenhängen verschiedene Personengruppen unterschiedlich stark vertreten. Die Frauen waren in der Mehrzahl Näherinnen in kleinen Gewerbebetrieben. Dienstbot/innen sind nur vereinzelt belegt. Die wenigen Fabriksarbeiter/innen dürften Facharbeiter/innen gewesen sein. Diaristische Aufzeichnungen von Heim- oder Hilfsarbeiter/innen konnten bisher nicht recherchiert werden. 3.) Proletarische Schreiber/innen haben häufig aus Anlass einer Arbeitsmigration diaristische Aufzeichnungen verfasst – und auch aufbewahrt. Beispiele dazu hat zuletzt der Schweizer Historiker Peter-Paul Bänziger in seiner Studie zur »Geschichte der Konsum- und Arbeitsgesellschaft 1840–1940« gebracht.268 Damit knüpfen diese Texte an die vormoderne Tradition der Dokumentationen von Gesellenwanderungen an, die Sigrid Wadauer für die Zeit ab 1800 beschrieben hat.269 Ein weiterer Hintergrund waren Arbeitslosigkeit – oder das Engagement in der sozialdemokratischen Bewegung. 4.) Die vorhandenen Tagebücher von Proletarier/innen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts belegen die Vielgestaltigkeit ihrer Arbeitsrealitäten. Dabei waren einerseits die Grenzen zwischen Dienst, Fabriksarbeit und Handwerk fließend. Anderseits waren auch mehrere der Diarist/innen für bestimmte Zeiträume in der industriellen Produktion beschäftigt, die selbst nicht in der Arbeiter/innenschicht situiert gewesen sind.270 Wird der Blick in die Bestände entsprechend erweitert, ergibt die thematisch fokussierte Zusammenschau das folgende Bild: Jene zwei Näherinnen, deren Tagebücher in der Sammlung Frauennachlässe archiviert sind, waren beides junge Frauen aus Niederösterreich: Josefa Dona266 Jessica Richter: Die Produktion besonderer Arbeitskräfte. Auseinandersetzungen um den häuslichen Dienst in Österreich (ca. 1900 bis 1938) [Arbeitstitel], Berlin 2021 [in Druck]. 267 Josefa Donabaum (geb. Gastegger, geb. 1905): Tagebuch (1921–1926), SFN, NL 47. 268 Peter-Paul Bänziger: Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Konsum- und Arbeitsgesellschaft, 1840–1940, Göttingen 2020. Danke an Peter-Paul Bänziger für die gemeinsame Diskussion dieser Frage. 269 Wadauer: Die Tour der Gesellen, 2005. 270 Umgekehrt – und noch häufiger – sind Tagebuchschreiber/innen dokumentiert, deren Eltern Arbeiter/innen oder Dienstbot/innen waren, die selbst aber mit einer Fachausbildung in einer anderen Berufssparte tätig wurden. Bei Frauen war das zumeist der Handel, die Büroarbeit oder die Verwaltung.

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baum aus Herzogenburg war erst wegen einer Anstellung als Dienstmädchen nach Wien gezogen, wo sie dann eine Stelle in einer Textilmanufaktur annahm. Von hier ging sie nach Deutschland und später weiter nach Belgien. Zwischen 1921 und 1926 führte sie ein Tagebuch. Der Text beinhaltet Berichte von Freizeitund Ballvergnügungen sowie dem Netzwerk von Freundinnen und Kolleginnen der Schreiberin, aber auch eine genaue Schilderung der langen Bahnreise nach Deutschland, von ihren Eindrücken in der neuen Umgebung und den Arbeitsbedingungen.271 Friederike Debor aus Klosterneuburg war in einer Schneiderei beschäftigt. Ihr Tagebuch führte sie von 1923 bis 1931, die Inhalte sind wiederum vor allem Berichte aus der Freizeit, Erlebnisse in der Tanzschule, im Turnverein oder Bekanntschaften mit Burschen. Im Sommer 1930 verbrachte sie einige Monate in Kopenhagen in Dänemark, um sich »zu erholen«, wobei sie währenddessen (vermutlich) als Kindermädchen gearbeitet hat.272 Ein Tagebuch eines Arbeiters oder Dienstboten ist in der Sammlung Frauennachlässe derzeit nicht dokumentiert. In den erweiterten Blickwinkel würden stattdessen die Aufzeichnungen von einem jungen Maurer passen. Rudolf A. hatte den Beruf Speditionskaufmann gelernt, nach Ende des Zweiten Weltkrieges arbeitete er aber am Bau. Zwischen Herbst 1945 und Sommer 1951 hat er in sieben Schreibheften stichwortartig die dabei erledigte Akkordarbeit notiert. Daneben hielt er ein bemerkenswert reges Konsumverhalten sowie Besuche von Kulturund Sportveranstaltungen fest.273 In der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (Doku) ist derzeit kein Tagebuch archiviert, das Dienstbot/innen oder Arbeiter/innen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben haben. Wird der zeitliche Fokus der Stichprobe erweitert, kann der Schlosser Friedrich Jira aus Wien vorgestellt werden. Von ihm sind Tagebuchnotizen erhalten, die er ab 1967 über 40 Jahre lang in Kalendern eingetragen hat. Er schilderte dabei ausführlich seinen Tagesablauf, Ereignisse in der Familie, der Arbeit und der Freizeit, sein körperliches Befinden, das Wetter und sein Engagement in der sozialdemokratischen Ar271 Josefa Donabaum (geb. Gastegger, geb. 1905): Tagebuch (1921–1926), SFN, NL 47. Dazu Bänziger: Die Moderne als Erlebnis, 2020, S. 231–233 und Jessica Richter: Freizeit, Freude und Fleiß. Genussmomente ländlicher Arbeiterinnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Theresa Adamski, Doreen Blake, Veronika Duma, Veronika Helfert, Michaela Neuwirth, Tim Rütten und Waltraud Schütz (Hg.): Geschlechtergeschichten vom Genuss. Zum 60. Geburtstag von Gabriella Hauch, Wien 2019, S. 324–335. 272 Friederike Debor (geb. 1906): Tagebuch (1923–1931), SFN, NL 218 I. Dazu Verena Junghans: Arbeit, Netzwerke und Gefühle in Frauentagebüchern der Zwischenkriegszeit (1918 bis 1933), Diplomarbeit, Wien 2016. 273 Rudolf A. (geb. 1927): Tagebuch (1945–1951), SFN, NL 229. Dazu Li Gerhalter: »Es war eine Spitzenleistung. Und die anderen gaben auch ihr Bestes.« Kunstgenuss in diaristischen Aufzeichnungen und Theaterbüchern seit dem späten 19. Jahrhundert, in: Adamski u. a.: Geschlechtergeschichten vom Genuss, 2019, S. 90–103.

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beiter/innenbewegung.274 Von proletarischen Frauen oder Mädchen sind in der Doku bisher ebenfalls keine Tagebücher vorhanden. Die gelernte Weißnäherin und Hausgehilfin Maria Wieser aus Gänserndorf in Niederösterreich hat hingegen ein Tourenbuch hinterlassen, in das sie zwischen 1920 und 1938 ihre Ausflüge notierte. Auch sie war in der Arbeiter/innenbewegung organisiert.275 Während Fabriksarbeiter/innen also nur eingeschränkt dokumentiert sind, haben gleich mehrere Schreiber im Handwerk oder im Handel gearbeitet. Derzeit sind in der Doku sieben solche Tagebuchprojekte von Männern vorhanden. Die Hintergründe für deren Beginn waren mehrfach Arbeitslosigkeit bzw. -suche und eine damit verbundene Arbeitsmigration.276 Ein frühes Beispiel ist Philipp Menning. Er war 1912 von Siebenbürgen über Budapest nach Wien gekommen. In seinem Tagebuch dokumentierte er bis 1913 verschiedene Anstellungen als Handelsgehilfe, später machte er sich mit einer Eisenwarenhandlung selbständig.277 An inhaltlich ausgerichteten Aufzeichnungen aus der Arbeiter/innenschicht wären zudem (neben zahlreichen Soldatentagebüchern) zwei Elterntagebücher vorhanden, die jeweils Väter für ihre neugeborenen Töchter angelegt haben (→ Kapitel 1).278 Zudem liegen diaristische (Reise-)Aufzeichnungen vor, die ein Industriearbeiter in Duisburg 1938 während dem mehrwöchigen Aufenthalt seines 9-jährigen Gastkindes aus Österreich zusammengestellt hat.279 Im Deutschen Tagebucharchiv Emmendingen (DTA) konnten 2017 für den engen inhaltlichen Fokus die folgenden Bestände recherchiert werden: Agnes Vorwerk hatte wie die genannten Friederike Debor und Josefa Donabaum verschiedene Anstellungen als Hausgehilfin und als Näherin inne. Auch sie hat ihr von 1902 bis 1909 geführtes Tagebuch in der Zeit als Arbeitsmigrantin ge-

274 Friedrich Jira (geb. 1922): Kalendertagebücher (1964–2007), Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen. (Die Archivsignaturen der Doku setzen sich jeweils aus dem Geburtsjahr und dem Namen der Schreiber/innen zusammen, z. B. 1922_Jira_Friedrich.) Neben den ausführlichen Tagebüchern sind von Friedrich Jira auch Lebenserinnerungen archiviert. 275 Maria Wieser (geb. 1900). 276 Nach Geburtsjahr geordnet: Franz Adam (geb. 1892); Albert Lang (geb. 1892); Ernst Jauernik (geb. 1900); Alois Stöckl (geb. 1908); Franz Kals (geb. 1908) und Anton Krautschneider (geb. 1911). Dazu Irina Vana: Gebrauchsweisen der öffentlichen Arbeitsvermittlung, Dissertation, Wien 2013. 277 Philipp Menning (geb. 1887): Tagebuch (1912–1913). Dasselbe Buch enthält auch Kindheitserinnerungen von Philipp Menning (zusammen ca. 120 Seiten), zudem hat seine Ehefrau Anna Menning (geb. 1905) darin von 1929 bis 1931 gesundheitsbezogene Einträge über die Tochter Philippine Anna eingetragen (→ Kapitel 1). 278 Franz Josef Raimann (geb. 1883): Vätertagebuch (1925) und Karl Rauch (geb. 1911): Vätertagebuch (1945). 279 Georg Konrad (geb. um 1900): Tourenbuch/(Reise-)Tagebuch (1938).

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schrieben.280 Maria Brunnbauer war als Dienstmädchen in verschiedenen Stellungen in Österreich tätig. Ihr zwischen 1911 und 1941 geführtes Tagebuch ist in vier schmale Bände eingetragen.281 Solche umfangreichen diaristischen Aufzeichnungen einer Hausangestellten sind in den Archivbeständen bisher eine besondere Seltenheit.282 Das gilt, wie inzwischen klar geworden ist, auch für das Tagebuch des Metallarbeiters Paul Jacob. Er hatte zudem eine außergewöhnliche Biografie. In seinen Aufzeichnungen sind die Wanderschaften dokumentiert, die ihn zwischen 1884 und 1929 von Berlin aus durch Südamerika, Afrika, Europa und Nordamerika geführt haben.283 Wird der inhaltliche Fokus wiederum erweitert, können aus dem Bestand des DTA zwei Diaristinnen vorgestellt werden, die für eine bestimmte Zeit in Fabriken beschäftigt waren, hier aber nicht im Akkord oder am Fließband gearbeitet haben: Lina Neuhaus war während des Ersten Weltkriegs als »Fabrikspflegerin« (Sozialarbeiterin) in Rüstungsbetrieben in Nordrhein-Westfalen tätig, wo überwiegend von Frauen Granaten hergestellt wurden.284 Gertrud Mezger war ihrerseits selbst während des Zweiten Weltkriegs im Kriegsdienst eingesetzt. Nach dem Besuch einer Nähschule in Stuttgart arbeitete sie im Bosch-Konzern in der Rüstungsindustrie. In ihren Erinnerungen berichtete sie davon, insgesamt 35 Bände von Tagebüchern beschrieben zu haben, diese seien allerdings zum Großteil bei Fliegerangriffen verloren gegangen. Auch wenn sie nicht mehr erhalten sind, so ist die Schilderung davon ein Beleg für ein ausführliches Tagebuchprojekt einer jungen Arbeiterin.285 Zwei weitere Schreiber, in deren Berufsbiografien die Arbeit in einer Fabrik eine Rolle spielte, waren Karl Gagauer und Hans Walter. Gagauer hatte u. a. eine Vorstandsfunktion in einem Arbeiter/innenbildungsverein inne, ab 1899 war er Staatsanwalt in Konstanz. Sein Tagebuch reicht von 1896 bis 1900.286 Walter hat nach Abschluss eines Gymnasiums in Erfurt bis zum Beginn seines Studiums in Hannover als Maschinenbauschlosser Geld verdient. In seinem von 1919 bis 1925 geführten Ta280 Agnes Vorwerk (geb. 1879): Tagebuch (1902–1909), Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen (DTA), Reg.-Nr. 61. Dazu Bänziger: Die Moderne als Erlebnis, 2020, u. a. S. 139–152. Danke an Peter-Paul Bänziger für den Hinweis auf diesen Bestand. 281 Maria Brunnbauer (geb. 1890): Tagebuch (1911–1941), DTA, Reg.-Nr. 1977,1–1977,4, dazu zahlreiche Bezugnahmen in Bänziger: Die Moderne als Erlebnis, 2020. 282 Retrospektiv verfasste Texte sind Doris Viersbeck (geb. 1868): Doris Viersbeck: Erlebnisse eines Hamburger Dienstmädchens, (München 19101) Berlin 2013 sowie die Beiträge in Althaus: Mit Kochlöffel und Staubwedel, 2010. 283 Paul Jacob (geb. 1867): Tagebuch (1884–1929), DTA, Reg.-Nr. 242-1 (242-I,1). 284 Lina Neuhaus (geb. 1888): Tagebuch (1917–1918), DTA, Reg.-Nr. 2.000. 285 Gertrud Mezger (geb. 1922), Erinnerungen, DTA, Reg.-Nr. 977,2. Andere im weiteren Sinn thematisch bezogene Tagebücher liegen vor von der gelernten Schneiderin Sophie ScheuberGehweiler und der Gärtnerin Ida T. Sophie Scheuber-Gehweiler (geb. 1902): Tagebuch (1920–1944), DTA, Reg.-Nr. 79,1; Ida T. (geb. 1914): Tagebuch (1934–1935), DTA, Reg.Nr. 1512,2 (→ Abschnitt 4.2). 286 Karl Gagauer (geb. 1852): Tagebuch (1896–1900), DTA, Reg.-Nr. 740-3 (803-I,3).

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gebuch beschrieb er neben dieser Arbeit u. a. seine Freizeitaktivitäten in einer deutschnationalen Burschenschaft.287 Alle diese Schreiber/innen wechselten ihre Wohnorte mehrfach, was sie wiederum mit den zuvor genannten Näherinnen und den meisten Handwerkern verbindet.

Tagebücher von Aktivist/innen der Arbeiter/innenbewegung in Sammlungen Die Selbstzeugnisse der Bewegungsaktivist/innen Maria Wieser, Friedrich Jira und Karl Gagauer ließen vermuten, dass gegebenenfalls noch weitere Aufzeichnungen von politischen Funktionär/innen in entsprechenden Archiven vorliegen könnten. Mit der Dokumentation der Geschichte der Arbeiter/innenbewegungen beschäftigt sich in Österreich und in Deutschland jeweils eine eigene Institution. Die Bestände beider Sammlungen wurden für diese Studie ebenfalls nach Tagebuchquellen befragt: Der Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung (VGA) in Wien wurde 1959 gegründet. Der hier verwaltete Quellenbestand ist auf dem Alten Parteiarchiv der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Deutschösterreichs) (SDAP) aufgebaut, das 1959 aus dem Exil im Amsterdamer Internationalen Institut für Sozialgeschichte (IISG) nach Wien rückgeführt wurde.288 Die Friedrich-Ebert-Stiftung mit Sitz in Bonn geht auf eine testamentarische Verfügung des Reichspräsidenten Ebert (1871–1925) zurück und wurde bereits 1925 eingerichtet. Der Grundstein für das hier angebundene Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) wurde 1967 gelegt, die Eröffnung 1969 gefeiert. Festredner bei beiden Anlässen war der damalige deutsche Außenminister und spätere Bundeskanzler Willy Brandt (1913–1992).289 Sowohl im AdsD als auch im VGA werden u. a. Nachlässe von Politiker/innen und Aktivist/innen gesammelt. Einige davon enthalten ebenfalls diaristische Aufzeichnungen – aber auch hier ist deren Umfang überschaubar. In Wien waren es bis 2017 drei Bestände: Von der Wiener SDAP-Landtagsabgeordneten und Bildungspolitikerin Aline Furtmüller (geb. Klatschko, 1883– 1941) ist ein Tagebuch mit Einträgen von 1939 bis 1941 archiviert. Sie war 1938 oder 1939 vor den Nationalsozialist/innen nach Paris und dann nach New York 287 Hans Walter (geb. 1904): Tagebuch (1819–1925), DTA, Reg.-Nr. 855-1 (882-1). 288 Weiterführende Informationen finden sich auf der Website des Vereins für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung (VGA). 289 Zur Geschichte des Archivs der sozialen Demokratie (AdsD) siehe Hans-Holger Paul: Vom Parteiarchiv zur zentralen Forschungsstätte der Arbeiterbewegung und Sozialgeschichte. Zum 30. Jahrestag der Gründung des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-EbertStiftung, in: Der Archivar. Mitteilungsblatt für deutsches Archivwesen, Jg. 52, 1999, Heft 4, S. 291–296; ders.: Archiv der sozialen Demokratie. Geschichte, in: Archiv der Sozialen Demokratie: Bestandsübersicht, Bonn/Bad Godesberg 2006, S. 9–16.

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geflüchtet. Dort gehörte sie der Auslandsvertretung der österreichischen Sozialist/innen an und hat (wahrscheinlich) die Kinder der 1942 in der NS-Tötungsanstalt Bernburg in Sachsen-Anhalt ermordeten Käthe Leichter (geb. Pick, 1895– 1942) betreut.290 Von der Widerstandskämpferin und Politikerin Rosa Jochmann (1901–1994) befindet sich ein Tagebuch aus dem Zeitraum von 1945 bis 1966 im Bestand des VGA.291 Von dem späteren Bundespräsidenten Adolf Schärf (1890– 1965) liegen Aufzeichnungen vor, die er auf Auslandsreisen 1952 in die USA und 1956 nach Pakistan, Indien und Japan angefertigt hat.292 Ein vergleichbares Bild zeigt sich in Bonn. Im AdsD waren 2017 Tagebücher von 37 Männern und zwei Frauen dokumentiert.293 Die Aufzeichnungen der Aktivistin Martha Kühn (geb. Scheer, 1902–1974) enthalten Berichte zum Arbeiter-Jugendbund Magdeburg von 1912 bis 1929.294 Von der Münchner Lehrerin, Redakteurin und Politikerin Else Reventlow (geb. Reimann, 1897–1984) ist die Dokumentation einer USA-Reise 1952/53 erhalten.295 Zehn der 37 vorliegenden Tagebuchbestände von Männern wurden im 19. Jahrhundert verfasst. Besonders frühe Aufzeichnungen aus 1835/36 liegen von dem Frühsozialisten und -zionisten Moses Hess (1812–1875) vor. Weitere sind Teile der Nachlässe des Mitbegründers der deutschen Sozialdemokratie August Bebel (1840–1913) oder des Reichspräsidenten und Stiftungsgründers Friedrich Ebert. Die Historikerin und Archivarin Ilse Fischer brachte 2007 in einer Beschreibung des Bestandes des AdsD das Bild von einem vorgedruckten Kalender mit dem Aufdruck »Notiz-

290 Dazu Oskar Achs: Zwischen Gestern und Morgen: Carl und Aline Furtmüllers Kampf um die Schulreform, Wien 2016. 291 Dazu Veronika Duma: Rosa Jochmann. Politische Akteurin und Zeitzeugin, Wien 2020. 292 Danke an Alexander Schwab und Georg Spitaler von der Bibliothek und dem Archiv des VGA für diese Auskünfte per E-Mails am 13. und 14. April 2016 sowie am 10. Februar 2017. Eine wissenschaftliche Auswertung von Selbstzeugnissen von Adolf Schärf findet sich in Margit Sturm: Lebenszeichen und Liebesbeweise aus dem Ersten Weltkrieg. Zur Bedeutung von Feldpost und Briefschreiben am Beispiel der Korrespondenz eines jungen Paares, Diplomarbeit, Wien 1992. 293 Danke an Sabine Kneib und Christian Schemmert vom AdsD für diese Auskunft per E-mail am 12. Mai 2016 und 6. Februar 2017. Im Vergleich dazu sind in 61 Nach- und Vorlässen auch lebensgeschichtliche Texte enthalten. 49 wurden von Männern verfasst, 12 von Frauen. Die Angaben zu den vorliegenden Tagebuchaufzeichnungen sind dem online verfügbaren Findbuch des AdsD entnommen (Zugriff: 12. Mai 2016). Informationen aus der gedruckten Bestandsübersicht von 2007 sind gesondert ausgewiesen. 294 Martha Kühn (geb. Scheer, geb. 1902): Tagebuch (1912–1929), AdsD, Bestand: Scheer, Martha, AdsD: Bestandsübersicht, 2007, S. 364. 295 Else Reventlow (geb. Reimann, geb. 1897): Reisetagebuch (1952–1953), AdsD, Bestand: Reventlow, Else. Von Else Reventlows Ehemann Rolf Reventlow (1897–1981) sind autobiografische Aufzeichnungen vorhanden: AdsD, Bestand: Reventlow, Rolf, AdsD: Bestandsübersicht, 2006, S. 341–343.

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kalender für Arbeiter 1900«.296 Dieser wurde von dem Gewerkschafter Theodor Thomas (1876–1955) mit Tagebuchaufzeichnungen voll beschriebenen.297 Das Layout dieses Büchleins gibt einen Hinweis darauf, dass es solche vorgefertigten Formen auch dezidiert für Protelarier/innen gegeben hat (→ Abschnitt 4.3). Alle hier mit ihren Tagebüchern vertretenen Personen zählen zur österreichischen und deutschen Politprominenz. Diaristische Aufzeichnungen von Angehörigen der Arbeiter/innenschicht, die in keiner politischen Öffentlichkeit standen, sind im Bestand des Vereins für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung und des Archivs der sozialen Demokratie nicht erhalten – sie stehen aber auch nicht in deren vorrangigem Sammelfokus.

Selbstzeugnisse von Aktivist/innen der Arbeiter/innenbewegung in zeitgenössischen Editionen Im Zusammenhang mit auto/biografischen Darstellungen von Funktionär/innen ist zu ergänzen, dass die österreichische und die deutsche Arbeiter/innenbewegung bereits in den 1890er-Jahren solche Aufzeichnungen selbst veröffentlicht hat. Diese retrospektiv verfassten Lebenserinnerungen stammten vornehmlich von bekannten Persönlichkeiten aus den verschiedenen Organisationen und wurden innerhalb der proletarischen Bewegung breit rezipiert (→ Abschnitt 2.2). Ihr ursprünglicher Zweck war die Identifikation mit sozialdemokratischen Forderungen (und deren Vertreter/innen). Jetzt sind sie historische Quellen.298 Einige dieser Publikationen sind von Frauen herausgegeben worden. Die österreichische Aktivistin Emma Adler (geb. Braun, 1858–1935) hat bereits 1895 das 296 Ilse Fischer: Autobiographische Quellen zur Geschichte der Arbeiterbewegung im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Jg. 6, 2007, Band 3, S. 143ff. 297 Theodor Thomas (geb. 1876): Kalendertagebücher (1895, 1899–1900 und 1908–1955), AdsD, Bestand: Thomas, Theodor. 298 Dazu u. a. Richard Klucsarits und Friedrich G. Kürbisch (Hg.): Arbeiterinnen kämpfen um ihr Recht. Autobiographische Texte zum Kampf rechtloser und entrechteter »Frauenspersonen« in Deutschland, Österreich und der Schweiz des 19. und 20. Jahrhunderts, Wuppertal 1975; Wolfgang Emmerich (Hg.): Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland, Reinbek 1975; Bernd Jürgen Warneken: Zur Interpretation geschriebener Arbeitererinnerungen als Spiegel und Instrument von Arbeiterbewußtsein, in: Rolf Wilhelm Brednich u. a. (Hg.): Lebenslauf und Lebenszusammenhang. Autobiographische Materialien in der volkskundlichen Forschung, Freiburg im Breisgau 1982, S. 182–196; Charlotte Heinritz: Autobiographies of Working-Class Women in 1900: The Beginning of a New Genre, in: Christa Hämmerle (Hg.): Plurality and Individuality. Autobiographical Cultures in Europe. Proceedings of an International Workshop at IFK Vienna, 21st–22nd October 1994, Wien 1995, S. 51–60; Wolfgang Harböck: Stand, Individuum, Klasse. Identitätskonstruktionen deutscher Unterschichten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Münster/u. a. 2006.

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»Buch der Jugend. Für die Kinder des Proletariats« auf den Markt gebracht.299 Emma Adler war Übersetzerin, Redakteurin und verheiratet mit Viktor Adler (1852–1919), einem der formalen Gründer der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich. Adelheid Popp (geb. Dworak, 1869–1939) publizierte 1909 ihre eigene Lebensgeschichte, 1912 gab sie das »Gedenkbuch. 20 Jahre österreichische Arbeiterinnenbewegung« heraus.300 Adelheid Popp zählt zu den bekanntesten Politikerinnen der Ersten Republik. Sie war eine der acht ersten Frauen, die 1919 in den Nationalrat gewählt worden sind, und die erste Frau, die im österreichischen Parlament jemals das Wort ergriffen hat.301 Die Veröffentlichung der auto/biografischen Textsammlungen aus der Bewegung war also ›Chefinnensache‹ in der Sozialdemokratie. Vorgestellt wurden darin neben den eigenen Lebenserinnerungen jene von weiteren Vorkämpferinnen der gemeinsamen Sache wie Anna Boschek (1874– 1957), Therese Schlesinger (geb. Eckstein, 1863–1940), Emmy Freundlich (geb. Kögler, 1878–1948) sowie die »eine[r] Genossin aus Brüssel«.302 Mehrere von ihnen hatten auch selbst in einer Fabrik gearbeitet. Die Schilderungen der Spinnereiarbeiterin Anna Altmann (geb. Urbantschky, 1851–1937), der früheren Hausgehilfin und Metallarbeiterin Adelheid Popp, der Glasschleiferin Aurelia Roth (ca. 1874–1935) oder der früheren Heimarbeiterin und Hausgehilfin Gabriele Proft (geb. Jirsa, 1879–1971) sind seltene Berichte von Industriearbeiterinnen, die entsprechend dem Alter der Schreiberinnen bis in die 1850er-Jahre zurückreichen.303 Sie berichten dabei von den oft katastrophalen Zuständen in den Fabriken und den Lebenszusammenhängen der Angehörigen der Arbeiter/ innenschicht, die u. a. von einer hohen Kindersterblichkeit und selbstverständlicher Kinderarbeit geprägt waren.

299 Emma Adler (Hg.): Buch der Jugend. Für die Kinder des Proletariats, Berlin 1895. 300 Adelheid Popp: Die Jugendgeschichte einer Arbeiterin. Von ihr selbst erzählt. Mit einem Geleitworte von August Bebel, München 1909; dies. (Hg.): Gedenkbuch. 20 Jahre österreichische Arbeiterinnenbewegung, Wien 1912. Zu Adelheid Popp zuletzt Katharina Prager: Adelheid Popps (fest-)geschriebenes Leben, in: Adelheid Popp: Jugend einer Arbeiterin, hg. von Sibylle Hamann, Wien 2019, S. 15–32. 301 Dazu zuletzt Gabriella Hauch: Im Parlament! Akteurinnen, Themen und politische Kultur in der Ersten Republik, in: Blaustrumpf Ahoi! (Hg.): »Sie meinen es politisch!« 100 Jahre Frauenwahlrecht in Österreich, Wien 2019, S. 97–121. 302 Zu den einzelnen Frauen u. a. Edith Probst und Brigitta Wiesinger (Hg.): »Die Partei hat mich nie enttäuscht.« Österreichische Sozialdemokratinnen (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik, Bd. 41), Wien 1989 und Gabriella Hauch: Frauen bewegen Politik. Österreich 1848–1938 (Studien zur Frauen- und Geschlechterforschung, Bd. 10), Innsbruck/ Wien/Bozen 2009. 303 Anna Altmann: Aus dem Leben eines Proletarierkindes, in: Adler: Buch der Jugend, 1895, S. 186–191; dies.: Blätter und Blüten, in: Popp: Gedenkbuch, 1912, S. 23–34; Aurelia Roth: Eine Glasschleiferin, in: Popp: Gedenkbuch, 1912, S. 52–61.

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Auch in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts wurden lebensgeschichtliche Schilderungen von Arbeiter/innen noch kaum erhobenen.304 Entsprechend außergewöhnlich ist die Textsammlung »Mein Arbeitstag – mein Wochenende« (→ Abschnitt 2.2).305 Sie war auf einem Schreibwettbewerb aufgebaut, zu dem die Arbeiterinnensekretärinnen des Deutschen TextilarbeiterVerbands (DTAV) 1928 ihre Mitglieder aufgerufen hatten. Die Teilnehmerinnen kamen aus ganz Deutschland und waren zum Großteil Frauen, die ihren Lebensunterhalt als Akkordarbeiterinnen in der Textilindustrie verdient haben. Von den Einreichungen wurden 1930 150 Beiträge veröffentlicht. Diese ergeben schon durch ihre Anzahl einen breiten Querschnitt von proletarischen Lebensrealitäten in den 1920er-Jahren. Eine weitere Besonderheit dieser Selbstzeugnisse liegt in ihrer Form: Durch die offen gehaltene Aufgabenstellung und die teilweise umfangreichen Schilderungen liegen damit eindrucksvolle auto/biografische Sequenzen vor, die ich in einer anderen Auswertung 2017 als »bedingt tagebuchähnlich« definiert habe.306 Bezogen auf ihren Inhalt sind die kurzen Texte in »Mein Arbeitstag – mein Wochenende« mit jenen Schilderungen vergleichbar, die im Rahmen des groß angelegten britischen Forschungsprojekts »Mass Observation« gesammelt wurden (→ Abschnitt 3.1). Diese Initiative kann als internationales Referenzbeispiel genannt werden. Seit 1937 war in dem Rahmen dazu aufgerufen worden, den Ablauf eines konkreten einzelnen Tages zu beschreiben. »No special instructions were given to diarists, and consequently the diaries vary considerably in style and content«, heißt es dazu in der Bestandsbeschreibung.307 Die Sammlung wurde bis 304 Eine Sammlung von Lebenserzählungen in der Form von Gesprächsprotokollen findet sich in der Dissertation von Marie Jahoda. Sie hat um 1930 Interviews mit zirka 50 Frauen und Männern geführt, die um 1850 geboren worden waren. Die Dissertation wurde herausgegeben und kontextualisiert von Johann Bacher, Waltraud Kannonier-Finster und Meinrad Ziegler (Hg.): Marie Jahoda. Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850– 1930, Dissertation 1932, Innsbruck/Wien/Bozen 2017. 305 Deutscher Textilarbeiter-Verband (DTAV), Arbeiterinnensekretariat (Hg.): Mein Arbeitstag – Mein Wochenende. 150 Berichte von Textilarbeiterinnen, (Berlin 19301) Hamburg 1991. Kontextinformationen enthalten in der Neuauflage von 1991 das Vorwort und die Einleitung von Alf Lüdtke (»Erwerbsarbeit und Hausarbeit«, S. IX–XXXIII) und der Artikel »Frauen in der Männerwelt Fabrik« von Isolde Dietrich (S. 234–251). 306 Gerhalter: Tagebücher als Quellen, 2017, S. 56–72, S. 66. In Bezug auf die genannte Annahme, dass das Schreiben nicht zu den gewohnten Tätigkeiten von Arbeiter/innen gehören würde (»Neglektionsspirale«) ist bemerkenswert: Auch die Initiatorinnen von diesem Schreibaufruf gingen davon aus, die potentiellen Beiträgerinnen könnten Bedenken wegen ihren »Schreibfehlern – oder schlechter Schrift und mangelhaftem Papier« haben. Deutscher Textilarbeiter-Verband: Mein Arbeitstag – Mein Wochenende, 1991, S. 231. Die Beiträgerinnen lassen in ihren Texten solche Unsicherheiten nicht erkennen. 307 Die Einreichungen werden auf der Website des Mass Observation Archive als »special diaries recording details of a single day« bezeichnet. Mass Observation Online (o. J.): www.massob servation.amdigital.co.uk/Introduction/TheDocuments. Bezogen auf ihren Inhalt würde

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1967 erweitert.308 Sie umfasst die Tagebuchaufzeichnungen von »about 500« Frauen und Männern und wird im Mass Observation Archive an der Sussex University aufbewahrt. Mehrere der Tagebücher wurden auch ediert. Während die Ergebnisse der »Mass Observation« wissenschaftlich ausgewertet werden sollten, war »Mein Arbeitstag – mein Wochenende« »zunächst mehr als ein M i t t e l z u r S e l b s t v e r s t ä n d i g u n g und […] in zweiter Linie als eine Möglichkeit z u r B e e i n f l u s s u n g d e r O e f f e n t l i c h k e i t gedacht«, wie es die Herausgeberinnen im Vorwort der Publikation formulierten.309 Entsprechendes gilt auch für ein weiteres internationales Referenzbeispiel aus Moskau, das der Historiker Jochen Hellbeck vorgestellt hat: Hier hat die Zeitschrift »Metrostroy« in den 1930er-Jahren die Metro-Arbeiter aufgerufen, »production diaries« zu führen. Ein Herausgeber/innenteam würde »the best of« davon aussuchen und dann veröffentlichen.310 Dazu wurden ›Richtlinien‹ ausgegeben, was denn die Metro-Arbeiter in ihren Aufzeichnungen darstellen sollten – und auch wie sie das zu schreiben hätten: »The diary must be written so that the worker or another person asks himself what he has done of value on a given day«.311 Die Texte sollten sich dabei insbesondere von denen unterscheiden, die in einem »bourgeois’ diary« zu finden wären. Diese Form wurde als »a socially useless record filled with ineffectual talk« abgewertet, »a girl’s high school activity: a girl who sits down and writes all sorts of nonsense«.312 Das Projekt scheint schließlich ein Misserfolg gewesen zu sein: »The results of the initiaitve proved disappointing.« Der Rücklauf war insgesamt gering und sowohl die Inhalte als auch die Sprache der Einsendungen genügten den Anforderungen der Redakteur/innen nicht: »Of the journals the editors received, many were barely literate, filled with orthographic errors and clumsy expressions. Others

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diese Beschreibung auch auf die Beiträge in »Mein Arbeitstag – Mein Wochenende« exakt zutreffen. Hinton: The Mass Observer, 2013. Deutscher Textilarbeiter-Verband: Mein Arbeitstag – Mein Wochenende, 1991, S. 5 [Hervorhebungen im Original]. Bislang habe ich in der Forschungsliteratur keinen Hinweis darauf gefunden, dass die Textsammlung zur Argumentation konkreter politischer Forderungen herangezogen worden wäre. Eine 1923 ebenfalls vom DTAV in der Region von Crimmitschau in Sachsen durchgeführte Erhebung hatte konkret das Untermauern von Forderungen zum Thema Schwangerenschutz zum Ziel gehabt. Deutscher TextilarbeiterVerband: Erwerbsarbeit, Schwangerschaft, Frauenleid. Statistische Erhebungen über die soziale und wirtschaftliche Lage sowie die Familienverhältnisse der in der deutschen Textilindustrie beschäftigten verheirateten und verheiratet gewesenen Frauen, Berlin 1923. Dazu Lüdtke: Erwerbsarbeit und Hausarbeit, 1991, S. XVI; Gerhalter: Tagebücher als Quellen, 2017, S. 57–59. Jochen Hellbeck: Revolution on My Mind. Writing a Diary under Stalin, Cambridge, MA 2006, S. 43–46. Ebd.: S. 43. Ebd.: S. 44.

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did not reach the interpretive depth the editors had sought to attain«.313 Zu einer Publikation kam es nicht. Die Beiträge wurden dazu als ungeeignet klassifiziert. Diese Episode aus der Sowjetunion sagt nun meiner Auslegung nach nichts darüber aus, ob das Tagebuch eine für Metro-Arbeiter in Moskau passende auto/ biografische Ausdrucksform gewesen sein könnte oder nicht. Vielmehr deute ich die Unzufriedenheit der Initiator/innen als Beleg für den Zweck, zu dem sie diese Texte sammeln und veröffentlichen wollten. Es war die politische Agitation – und dafür scheinen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts individuell gestaltete auto/biografische Tagebuchtexte als wenig brauchbar wahrgenommen worden zu sein. An einem einzigen Tag passiert zumeist zu wenig, um damit die Notwendigkeit revolutionärer Forderungen plastisch illustrieren zu können. Die sich wiederholenden Berichte bergen stattdessen sogar die Gefahr, das Lesepublikum möglicherweise zu langweilen (→ Kapitel 4). Pointiert verfasste retrospektive Texte – oder aber die statistisch verwertbaren Ergebnisse von Umfragen und Fragebögen – schienen sich hier besser zu eignen. Eine solche Konzeption findet sich im Großteil der zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Studien. Diese wurden nicht auf der Quellengrundlage von Einzelfällen aufgebaut, sondern auf möglichst umfangreiche quantitative Daten gestützt.314 Ein Beispiel sind die drei Studien zu den Lebens- und Arbeitsverhältnissen von Heim- und Industriearbeiterinnen, die Käthe Leichter zwischen 1926 und 1932 als Referentin für Frauenarbeit der 1920 gegründeten Wiener Kammer für Arbeiter und Angestellte (AK) durchgeführt hat.315 Den drei Erhebungen der jungen Forscherin und ihren Mitarbeiterinnen vor Ort liegen die beeindruckenden Datenmengen von jeweils mehreren tausend ausgegebenen Fragebögen zugrunde. Die Prämisse war dabei Vergleichbarkeit. Nach Käthe Leichters Ausführungen von 1932 war es wichtig, dass die Fragebögen »genau beantwortet« wurden. Insbesondere war für die gelernte Staatswissenschafterin relevant, »daß die Antworten präzis und überprüfbar« waren.316 Dazu schien es notwendig, den befragten Frauen beim Ausfüllen der Erhebungsbögen Unterstützung zur Seite zu stellen.317 Das übernahmen jene Gewerkschaftsfunktionä313 Ebd.: S. 45f. Konkrete Angaben zur Zahl der Rückmeldungen sind in der Forschungsliteratur nicht verfügbar. 314 Dazu allgemein das Kapitel »›Präzis und überprüfbar.‹ Subjektive Daten und auto/biografische Formate in den Sozialwissenschaften seit 1900« in Gerhalter: Tagebücher als Quellen, 2017, S. 29–86. 315 Käthe Leichter: Wie leben die Wiener Hausgehilfinnen, Wien 1926; dies.: Wie leben die Wiener Heimarbeiter? Eine Erhebung über die Arbeits- und Lebensverhältnisse von tausend Wiener Heimarbeitern, Wien 1928; dies.: So leben wir … 1320 Industriearbeiterinnen berichten über ihr Leben. Eine Erhebung, Wien 1932. 316 Leichter: So leben wir …, Wien 1932, S. 4. 317 Ebd. Entsprechend sind auch bei Käthe Leichter Anleihen der oben besprochenen »Neglektionsspirale« dokumentiert.

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rinnen, die bereits die Verteilung der vielen Fragebögen in den Fabriken organisiert haben – unter ihnen auch Rosa Jochmann für die Chemische Industrie. Frei verfasste auto/biografische Texte sind also auch in diesen Projekten als nicht adäquat angesehen worden. Das Beispiel des Aufrufs der Zeitschrift »Metrostroy« unter den Metro-Arbeitern, das die Initiator/innen gar nicht zufriedenstellte, ist nicht zuletzt aus genretheoretischer Sicht erhellend. In der Forschungsliteratur zum Thema der auto/biografischen Praktiken wurde inzwischen herausgearbeitet, dass Tagebücher – wie alle Formen von Selbstzeugnissen – einerseits von zeitlich und sozial gebundenen Konventionen und Moden geprägt sind, andererseits von individuellen Umsetzungspraktiken und Gestaltungsfreiheiten.318 Aus verschiedenen Blickwinkeln wurde dabei auch die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer politischen Einflussnahme auf die diaristischen Schreibpraktiken von einzelnen Personen ausgelotet. Zwei überzeugende Studien zum Tagebuchschreiben in der NS-Zeit und die damit möglicherweise verbundene »politische Selbsterziehung«319 haben zuletzt die Historiker/innen Janosch Steuwer und Veronika Siegmund vorgelegt.320 Siegmund ging der Frage nach, welche Vorgaben in den Lagern der Erweiterten Kinderlandverschickung (KLV) für das Tagebuchschreiben von Kindern und Jugendlichen lanciert worden sind. Sie konnte belegen, dass unter Umständen selbst in einem faschistischen kollektiven Kontext gewisse Gestaltungsmöglichkeiten im diaristischen Schreiben offen blieben. Hier lässt sich der Schluss ziehen, dass das Führen von Tagebüchern mit einem sehr genau eingegrenzten inhaltlichen und auch sprachlichen Fokus nur bedingt angeleitet werden konnte. Zumindest außerhalb von frei gewählten wissenschaftsgeleiteten Zielsetzungen (→ Kapitel 1), und zumindest in jenen gesellschaftlichen Schichten, in denen die schriftliche Selbstdokumentation nicht zu einer gängigen sozialen Praxis zählte.

318 Vgl. dazu u. a. die Ausführungen in Gerhalter: »Einmal ein ganz ordentliches Tagebuch«, 2015, S. 64–85. 319 Janosch Steuwer: »Weltanschauung mit meinem Ich verbinden«. Tagebücher und das nationalsozialistische Erziehungsprojekt, in: Steuwer und Graf: Selbstreflexionen und Weltdeutungen, 2015, S. 100–123, S. 111. 320 Janosch Steuwer: Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933–1939, Göttingen 2017; Veronika Siegmund: »Mobilmachung aller gestalterischen Kräfte…«. Die politische Instrumentalisierung des Tagebuchs in der Erweiterten Kinderlandverschickung (1940–1945), in: Zeitgeschichte, Jg. 47, 2020, Heft 3, S. 315–341.

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3.6) Geschlecht als Analyseperspektive: Tagebücher von Frauen und Männern in Sammlungen Durch engagierte Initiativen in den vergangenen Jahrzehnten ist in zahlreichen Sammlungen inzwischen ein großer Bestand von Selbstaussagen auch jener Personen dokumentieret, die zuvor in den hegemonialen Institutionen unterrepräsentiert gewesen sind. Eine dieser Personengruppen waren Frauen. Diesbezüglich hat sich sehr viel geändert. Im Umfeld der sogenannten Neuen Frauenbewegung wurden eigene feministische Archiv- und Dokumentationseinrichtungen gegründet. Diese bewahren die Spuren der politischen und zivilgesellschaftlichen Aktivitäten der Bewegung.321 Wie aber sieht es aus in Bezug auf persönliche Vorund Nachlässe?

Selbstzeugnisse von Frauen und Männern in hegemonialen Sammlungseinrichtungen Die Bibliothekswissenschafterin Dagmar Jank unterzog die Bestände von deutschen Sammlungen, die kulturell tätige Personen dokumentieren, zu Beginn des 21. Jahrhunderts einer entsprechenden Revision. Als Ressource nützte sie dazu u. a. die deutsche »Zentrale Datenbank Nachlässe«. Hier waren 2006 um die 25.000 Personen aufgenommen. Etwa 2.000 (8 Prozent) davon waren Frauen.322 Anfang 2020 waren in dieser vom deutschen Bundesarchiv in Koblenz zusammengestellten Datenbank exakt 28.605 Personen erfasst. Eine geschlechterspezifische Auswertung der aktuellen Zahlen liegt noch nicht vor.323 Sie dürften sich aber ohnedies nicht extrem verschoben haben: Selbst wenn bei jenen 3.600 Personen, die nach der Auswertung von Dagmar Jank neu aufgenommenen wurden, gleich viele Frauen und Männer gewesen wären ( je 1.800, was kaum 321 Die feministische Archiv- und Dokumentationsarbeit ist gut (selbst-)dokumentiert. Zu Österreich siehe dazu Ulrike Koch: Sammeln, speichern, archivieren: Feministische/frauen*spezifische Wissensspeicher in Österreich, Masterarbeit, Wien 2014. Zum deutschsprachigen Raum: Nikola Staritz: Bewahren und (Auf)Begehren. Geschichte, Konzeption und Herausforderungen feministischer Archive im deutschsprachigen Raum, Masterarbeit, Berlin 2013. Auf Europa bezogen: Sara de Jong und Sanne Loevoets (Hg.): Teaching Gender with Libraries and Archives: The Power of Information, Budapest/New York 2013. Auf die USA bezogen: Lyz Bly und Kelly Wooten (Hg.): Make Your Own History. Documenting Feminist and Queer Activism in the 21st Century, Los Angeles 2012 und Kate Eichhorn: The Archival Turn in Feminisms: Outrage in Order, Philadelphia 2013. 322 Dagmar Jank: Frauennachlässe in Archiven, Bibliotheken und Spezialeinrichtungen. Beispiele, Probleme und Erfordernisse, in: Botho Brachmann (Hg.): Die Kunst des Vernetzens. Festschrift für Wolfgang Hempel, Berlin 2006, S. 411–419, S. 411. 323 Auskunft per E-Mail von Konrad Zrenner, Bundesarchiv, 14. Jänner 2020. Danke an Konrad Zrenner für die Information.

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realistisch ist), würden die damit nun insgesamt (hypothetisch) dokumentierten 3.800 Frauen zirka 13 Prozent von allen genannten Personen ausmachen. Diese Tendenz lässt sich mit Zahlen aus dem »Verzeichnis der künstlerischen, wissenschaftlichen und kulturpolitischen Nachlässe in Österreich« bestätigen: In dieser vom Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek erstellten Datenbank sind derzeit laut Angaben auf der Website »rund 6.100« Personen erfasst. Zu 3.473 von ihnen stehen im »Personenlexikon« biografische Notizen online zur Verfügung. 384 davon sind Frauen (11 Prozent). Entsprechend solcher Ergebnisse kam Dagmar Jank zu der pessimistischen Prognose, dass auch die radikal veränderten Archivierungspraktiken der jüngeren Vergangenheit »die Versäumnisse einer männlich geprägten Archiv- und Bibliothekswelt nicht wieder wett machen« könnten.324 Für Künstler/innennachlässe bleibt das wohl zu befürchten. Dass dieser Fokus nichts darüber aussagen kann, wie viele Vor- oder Nachlässe von Frauen insgesamt in den verschiedensten Sammlungseinrichtungen erhalten sind, zeigt ein Blick in »biografiA. biografische datenbank und lexikon österreichischer frauen«. Diese Dokumentation wurde in langjähriger Arbeit von einer Forscherinnengruppe um die Literaturwissenschafterin Ilse Korotin erstellt. Enthalten sind darin mehr als 19.600 biografische Datensätze von Frauen aus Österreich. Die räumliche Beschränkung bezieht sich auf die jeweiligen Landesgrenzen, der zeitliche Rahmen reicht bis zum Geburtsjahr 1938.325 Von rund 6.500 der in »biografiA« dokumentierten historischen Akteurinnen wurden 2016 autobiografische Darstellungen im vierbändigen »Lexikon österreichischer Frauen« veröffentlicht.326 Nach einer Schätzung von Ilse Korotin dürften zwei Drittel der 19.600 in die Datenbank aufgenommenen Frauen auch schriftliche Spuren hinterlassen haben – was immerhin knapp 13.000 Nachlässe ausmachen würde.327 Diese Zahlen sind hypothetisch. Sie stellen aber in Aussicht, dass Selbstzeugnisse von Frauen gefunden werden können, so sie denn systematisch gesucht werden. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis zentral, dass die schriftlichen Hinterlassenschaften ›unbekannter‹ Frauen häufig in den Nach-

324 Jank: Frauennachlässe in Archiven, 2006, S. 412. 325 Die inhaltlichen Schwerpunkte wurden in mehreren Forschungsprojekten erarbeitet. Themen waren dabei: Bibliothekarinnen; Frauen im Widerstand gegen den NS; intellektuelle Frauen im Wien der Zwischenkriegszeit (Schwerpunkt Psychoanalyse); Wissenschafterinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; Naturwissenschafterinnen; Kinder- und Jugendbuchautorinnen; jüdische Wissenschafterinnen, Künstlerinnen und Schriftstellerinnen; Frauen im Umfeld des jüdischen Prager Kreises. 326 Ilse Korotin (Hg.): biografiA. Lexikon österreichischer Frauen, 4 Bde., Wien/Weimar/Köln 2016. 327 Danke an Ilse Korotin von biografiA für das Zur-Verfügung-Stellen dieser Daten. Vgl. dazu auch Gerhalter: Auf zur eigenen Dokumentation von Erinnerung!, 2013, S. 287.

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lässen ihrer ›bekannten‹ Ehemänner, Söhne etc. versteckt sind.328 Dort sind sie zwar häufig (noch) nicht erschlossen – sie sind aber vorhanden und können gegebenenfalls gehoben werden.329 Diese potenziell optimistische Einschätzung lässt sich schließlich auch von jener Masse der auto/biografischen Aufzeichnungen von Frauen ableiten, die bereits veröffentlicht worden sind. Die Historikerin Gudrun Wedel stellte in ihrem fast 1.500-seitigen Lexikon »Autobiographien von Frauen« (2010) mehr als 2.000 Autorinnen vor, die im 19. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum geboren wurden und »sich mit ihren publizierten autobiographischen Schriften der Öffentlichkeit präsentierten«.330 Dabei konnte Wedel auch eine gewisse soziale Streuung erreichen – so enthält das Lexikon etwa Hinweise auf publizierte Texte von 27 (ehemaligen) Arbeiterinnen, 24 (ehemaligen) Heimarbeiterinnen, 54 (ehemaligen) Dienst- und einem Küchenmädchen, drei Hausgehilfinnen und 19 Dienstmägden.331 Veröffentlichte Tagebuchaufzeichnungen hat Gudrun Wedel im Register nicht eigens angeführt – sie scheinen so häufig vorgekommen zu sein, dass das Schlagwort mit der Bezeichnung »passim« klassifiziert wurde.332 Eine »Bibliographie von veröffentlichten Tagebüchern in deutscher Sprache« wurde zudem schon 1992 von der Erziehungswissenschafterin Anke M. Melchior veröffentlicht.333 Auf der Grundlage von mehreren Datenbanken, Lexika und Bibliografien konnte sie dabei bereits vor nunmehr fast 30 Jahren 492 Titel recherchieren. 155 davon waren in der Zeit »seit dem Mittelalter« bis in das 19. Jahrhundert ediert worden, die übrigen 337 bis in die 1990er-Jahre des 20. Jahrhunderts.334 Wie aber ist die Situation in Bezug auf Vor- und Nachlässe von Frauen, die in keiner prominenten Öffentlichkeit standen? Sind Frauen und 328 Dazu u. a. Anke M. Melchior und Beatrix Piezonka: Sozialisation in Frauentagebüchern. 3. Kommentierte Bibliographie, Siegen/Halle 1995. Zur Rolle von (Ehe)Frauen für die Generierung der Nachlässe ihrer ›bekannten‹ Männer siehe die Arbeiten der Musikwissenschafterin Gesa Finke, u. a. dies.: Die Komponistenwitwe Constanze Mozart. Musik bewahren und Erinnerung gestalten, Wien/Köln/Weimar 2013. 329 Im Rahmen der Recherche zu Tagebüchern von Mädchen und Frauen aus Wien (→ Ende von diesem Abschnitt 3.6) konnten die Historikerinnen Ingrid Brommer und Christine Karner z. B. drei Bände von Ida Qualtinger (1898–1981) entdecken, die sie zwischen 1928 und 1935 geführt hat. Sie war die Mutter des österreichischen Schauspielers Helmut Qualtinger, als Teil von dessen Nachlass sich die Tagebücher auch in der Wienbibliothek im Rathaus (WBR) befinden (Signatur Ia 206517–19). 330 Gudrun Wedel: Autobiographien von Frauen. Ein Lexikon, Köln/Weimar/Wien 2010 (Klappentext). 331 Siehe dazu die Angaben im »Sachregister« in Wedel: Autobiographien von Frauen, 2010, S. 1261–1286. 332 Wedel: Autobiographien von Frauen, 2010, S. 1283. 333 Anke Melchior: Mädchen- und Frauentagebücher seit dem Mittelalter. Eine Bibliographie von veröffentlichten Tagebüchern in deutscher Sprache, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, Jg. 5, 1992, Heft 2, S. 271–314. 334 Die derzeit aktuelle Zahl kann entsprechend höher angesetzt werden.

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Männer in den (alltags-)historisch ausgerichteten Sammlungen ausgewogen dokumentiert, oder gibt es auch hier Unterschiede?

Selbstzeugnisse von Frauen und Männern in historisch ausgerichteten Sammlungen Um auszuloten, in welchem Verhältnis Vor- und Nachlässe von Frauen und von Männern in historisch ausgerichteten Sammlungen für Selbstzeugnisse vertreten sind, werden im Folgenden die Bestände von drei verschiedenen Einrichtungen verglichen. Es sind das 1) die Bestände »Kommission Wien 1945« bzw. »Wiener Historische Kommission« im Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA),335 2) der Bestand des Deutschen Tagebucharchivs in Emmendingen (DTA) sowie 3) jener der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien (Doku). Die Daten stammen damit aus drei Sammlungen mit verschiedenen Gründungsgeschichten, sehr unterschiedlichen Umfängen und zeitlichen und regionalen Rahmungen. Die Einrichtungen wurden gewählt, um eine möglichst breit angelegte Aussage zu erhalten. Die Auswertungen ihrer Bestände sind wiederum als Tendenzen zu verstehen. Aus der Zusammenschau lassen sich dabei mehrere Ergebnisse ableiten, auf denen weiterführende Thesen zu geschlechtsspezifischen Schreib-, Erinnerungs- und Übergabepraktiken aufgebaut werden können.

Die vorhandenen Daten Aus den drei Einrichtungen liegen detaillierte Daten zu der Zusammensetzung der jeweiligen Bestände vor. Die Informationen zum Bestand des DTA (Stand Frühling 2017) wurden mir dankenswerterweise von Jutta Jäger-Schenk, Hans D. Schmitz und Gerhard Seitz zugänglich gemacht. Dabei handelt es sich um die Zahlen der 2017 in der Datenbank erfassten Personen sowie der verzeichneten Tagebuchbände, lebensgeschichtlichen Texte, Briefe und Postkarten. Das DTA stellt umfangreiche Zahlen zu seinen Beständen auch auf seiner Website zur Verfügung.336 Die Daten zum Bestand der Doku (Stand Frühling 2017) wurden dankenswerterweise von Günter Müller zusammengestellt. Dabei handelt es sich ebenfalls um die Zahlen der erfassten Personen sowie der verzeichneten Tage335 Die beiden Bestände werden in der Auswertung der besseren Lesbarkeit wegen nur mit ihrer aktuellen Bezeichnung »Wiener Historische Kommission« benannt. 336 Danke an Jutta Jäger-Schenk, Hans D. Schmitz und Gerhard Seitz vom Deutschen Tagebucharchiv Emmendingen für das Zur-Verfügung-Stellen dieser Daten per E-Mail am 23. Mai 2017 und 24. Mai 2017. Eine genaue Aufstellung davon findet sich im → Anhang.

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buchbände und lebensgeschichtlichen Texte. Zusätzlich wurden mir Informationen zu den Rückläufen auf ausgewählte Schreibaufrufe gewährt. Diese gesamten Informationen sind zuvor nirgends veröffentlicht worden.337 Die Informationen zu den Beständen des WStLA habe ich aus drei Listen erarbeitet, die 1977 und 1981 in der Zeitschrift »Wiener Geschichtsblätter« veröffentlichten worden sind.338 Diese rudimentären Inventare enthalten die Namen der Einsender/innen sowie einzelne Schlagworte zu den Themen ihrer Aufzeichnungen.339 Entsprechend sind auch für diese Sammlung Angaben über die Personen, die Tagebücher und die lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen verfügbar.340 Die Informationen zu den drei Sammlungen sind aufgrund unterschiedlicher Zählweisen nicht zur Gänze einheitlich. Die Angaben zur »Wiener Historischen Kommission« im WStLA und zur Doku beziehen sich auf Personen. Sie besagen etwa, wie viele Frauen Tagebücher abgegeben haben, wie viele Männer lebensgeschichtliche Texte etc. Die Zahlen des DTA beziehen sich hingegen auf die Anzahl der Schriftstücke, wobei jedes Dokument einzeln gezählt wird. Das heißt konkret: Sollte eine Diaristin z. B. acht Tagebuchbände eingereicht haben, ist 337 Danke an Günter Müller von der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen für das Zur-Verfügung-Stellen dieser Daten per E-Mail am 19. Mai 2017, 3. Juni 2017 und 4. Juni 2017. In den Verzeichnissen des DTA und der Doku werden die verschiedenen Formen diaristischer Aufzeichnungen nicht unterschieden, die Benennungen lauten jeweils auf »Tagebücher«. 338 Die Angaben zum Aufruf von 1956 finden sich in Kretschmer: Materialsammlung aus dem Jahr 1956, 1977; die Angaben zum Aufruf von 1975 in Klusacek: Material der »Kommission Wien 1945«, 1977; die Angaben zum Aufruf von 1978 in Klusacek: Wiener Historische Kommission, 1981 (→ Abschnitt 3.3). 339 Um einen Eindruck zu geben: Die ersten fünf Einträge lauten folgendermaßen [die Trennstriche zwischen den einzelnen Positionen sowie die Doppelpunkte nach den Vornamen wurden zur besseren Lesbarkeit eingefügt]: »1 Kubelle, Leopold: Luftangriff, Besatzungsmacht (sowjetisch) | 2 Leitner, Rosa: Kriegswirren, Hainfeld | 3 Duenbostel, Leopoldine: Hinweis auf Dokumentation ›Das Ende des tausendjährigen Reiches‹ von Prof. Josef Buchinger | 4 Knittel, Maria: Allgemeines Krankenhaus, Luftangriff, Besatzungsmacht (amerikanisch, sowjetisch), Kriegswirren | 5 Giller, Reinhold: Wiener Verkehrsbetriebe, Wiederaufbau. Klusacek: Material der »Kommission Wien 1945«, S. 78f. 340 Die genaue Aufstellung findet sich im → Anhang. Die Unterscheidung nach Genres habe ich aus den Angaben in den Inventaren generiert. Lebensgeschichtliche Erzählungen sind dort nicht eigens ausgewiesen, nur »Dokumente, Fotos und andere originale Erinnerungsstücke sind gesondert ausgeworfen« (Klusacek: Material der »Kommission Wien 1945«, S. 78). Unter »Dokumente« wurden dabei auch Briefe oder Tagebücher subsumiert. Aus den vorhandenen Angaben habe ich die folgenden Genrebezeichnungen zusammengefasst: »lebensgeschichtliche Texte«, »Tagebücher«, »Briefe«, »Postkarten«, »Fotografien«, »Gedichte«, »Chroniken« und »amtliche Dokumente/Gedrucktes«. Unter »lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen« und unter »diaristischen Formaten« sind jeweils mehrere verschiedene angegebene Formen zusammengefasst. Der Großteil der »Tagebücher« sind bearbeitete Abschriften (→ Abschnitt 3.3). Unter »amtliche Dokumente/Gedrucktes« sind etwa Ausweise zusammengefasst, aber auch Flugblätter, Lebensmittelmarkten, Zeitungsausschnitte etc.

Geschlecht als Analyseperspektive

341

jeder Band auch einzeln gelistet. Das muss bei der Interpretation der Auswertung ebenso mitgedacht werden wie das allgemeine Faktum, dass quantitative Angaben immer gewisse Varianzen enthalten. Insbesondere ist anzumerken, dass die folgenden Zahlen keine Aussagen über die Umfänge der vorliegenden Bestände geben. Sie beziehen sich ausschließlich auf die geschlechterspezifische Verteilung zwischen Autorinnen und Autoren bzw. zwischen Übergeberinnen und Übergebern. Ob dabei insgesamt mehr Dokumente von Frauen oder mehr von Männern vorliegen, ist damit noch nicht erhoben. Schließlich sind aufgrund der vorliegenden Daten keine Aussagen über die sozialen Hintergründe der Schreiber/innen möglich. Die folgenden Ausführungen sind aber der erstmalige Versuch, verschiedene Bestände von Sammlungen für Selbstzeugnisse auf einer Zahlenggrundlage systematisch auf ihre genrespezifische und ihre geschlechtsspezifische Zusammensetzung hin zu vergleichen. Die daraus abgeleiteten quantitativen Daten sind als erste Resultate zu verstehen, die einen tendenziellen Eindruck geben und fortsetzende Fragestellungen andeuten können.

Die Auswertungen Bei einer geschlechterspezifischen Analyse der Bestände der drei untersuchten Sammeleinrichtungen ist als erstes die Frage von Interesse, wie viele Frauen und wie viele Männer als Übergeber/innen von Selbstzeugnissen verzeichnet sind. Wie ist dieses Verhältnis zueinander? Des Weiteren kann gefragt werden, welche Selbstzeugnisse sie übergeben haben. Ist eine Unterscheidung nach Genres bemerkbar? Haben Frauen vielleicht mehr Tagebücher abgegeben? Und Männer mehr Lebenserinnerungen?341 Als erstes Ergebnis kann gleich vorab folgendes zusammengefasst werden: Frauen und Männer sind auch in historisch ausgerichteten Sammlungen für Selbstzeugnisse nicht im gleichen Ausmaß dokumentiert. Das Ungleichgewicht fällt dabei aber deutlich geringer aus als in den Institutionen, die sich auf Kulturschaffende fokussieren. Die im Kontext der alltagshistorischen Fragestellungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen Sammlungen sind – in Bezug auf die Kategorie Geschlecht – also demokratischer zusammengesetzt als die hegemonialen Dokumentationseinrichtungen. Hier sind zudem Bestände erarbeitet worden, in denen Frauen stärker vertreten sind als Männer. Als zweites Ergebnis ist festzustellen: Die Auswertungen der Bestände des WStLA, des DTA und der Doku zeigen deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede in Bezug auf verschiedene auto/biografische Genres. Männer und 341 Die verschiedenen Formen der diaristischen Formate werden in der Auswertung nicht unterschieden.

342

Tagebücher in historisch ausgerichteten Sammlungen ab den 1980er-Jahren

Frauen geben dementsprechend (tendenziell) jeweils bestimmte Dokumentengattungen eher ab als andere. Mit der folgenden Auswertung werden beide Ergebnisse mit Zahlen gestützt. Wie setzen sich diese konkret zusammen? a)

Der Bestand »Wiener Historische Kommission« im Wiener Stadt- und Landesarchiv

Die Sammlungen »Kommission Wien 1945« und »Wiener Historische Kommission« im Wiener Stadt- und Landesarchiv wurden von der Stadt Wien über Aufrufe von 1956, 1975 und 1978 zusammengestellt (→ Abschnitt 3.2). Die in den »Wiener Geschichtsblättern« veröffentlichten drei Inventare dokumentieren insgesamt 539 Personen als Übergeber/innen. Männer sind dabei stärker vertreten als Frauen. Die Verzeichnisse bieten die Gelegenheit, auch nach den möglichen zeitlichen Veränderungen der Beteiligung von Frauen und Männern an diesen frühen Erinnerungsprojekten zu fragen. Konkret gestaltete sich das folgendermaßen: Den insgesamt 284 verzeichneten Männern stehen 223 Frauen gegenüber. Die Beteiligung von Frauen (im Schnitt 41 Prozent) hat sich dabei zwischen 1956 und 1978 nicht stark geändert. Sie war 1956 mit 45 Prozent am höchsten, 1975 mit 40 Prozent am niedrigsten. Der Anteil der Männer (im Schnitt 53 Prozent) variierte etwas stärker. Er changierte zwischen 57 Prozent (1975) und 48 Prozent (1978). Ein kleinerer Teil an Teilnehmer/innen der drei Aufrufe hat auch jeweils darauf verzichtet, mit vollem Namen oder überhaupt namentlich genannt zu werden. Diese Personen werden hier unter der Bezeichnung »k. A.« geführt, ihr Anteil liegt im Durchschnitt bei immerhin 6 Prozent aller Übergeber/innen.342 Tabelle 21: Personen im Bestand »Wiener Historische Kommission« im Wiener Stadt- und Landesarchiv (1956, 1975 und 1978)

1956 1975

Frauen 45 % (37) 40 % (99)

Männer 50 % (41) 57 % (143)

k. A. 5 % (4) 3 % (8)

gesamt 82 250

1978 gesamt

42 % (87) 41 % (223)

48 % (100) 53 % (284)

10 % (20) 6 % (32)

207 539

Die geschlechtsspezifische Verteilung der Schreiber/innen fällt bei den retrospektiv verfassten lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen besonders deutlich aus:

342 In den Inventaren des WStLA werden jene Übergeber/innen, die nicht namentlich genannt sind, unter der Kategorie »anonyme Personen« zusammengefasst. In den folgenden Rechnungen werden hier noch jene Personen dazu genommen, deren Geschlecht – zumeist durch abgekürzte oder fehlende Vornamen – nicht ausgewiesen ist.

343

Geschlecht als Analyseperspektive

Tabelle 22: Lebensgeschichtliche Texte im Bestand »Wiener Historische Kommission« im Wiener Stadt- und Landesarchiv (1956, 1975 und 1978)

1956 1975

Frauen 36 % (16) 35 % (70)

Männer 57 % (25) 61 % (119)

k. A. 7 % (3) 4 % (8)

gesamt 44 197

1978 gesamt

37 % (46) 36 % (132)

60 % (79) 60 % (223)

3 % (4) 4 % (15)

129 370

Männer haben bei allen drei Aufrufen anteilsmäßig weitaus mehr retrospektiv verfasste Texte eingereicht als Frauen, wobei sich die jeweiligen Anteile zwischen 1956 und 1978 kaum verändert haben. Im Schnitt machen die von Frauen eingereichten Lebenserinnerungen 36 Prozent aus (Schwankung zwischen 35 und 37 Prozent), jene von Männern 60 Prozent (Schwankung zwischen 57 und 61 Prozent). Im Zusammenhang mit diesem Genre ist der Unterschied zwischen Frauen und Männern also größer als bezogen auf die allgemeine Beteiligung (41 zu 53 Prozent). Werden die lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen mit den diaristischen Formaten verglichen, zeigt sich zuallererst, dass bei weitem mehr retrospektive Erinnerungstexte eingereicht wurden (gesamt 370) als Tagebücher (75).343 Tabelle 23: Tagebücher im Bestand »Wiener Historische Kommission« im Wiener Stadtund Landesarchiv (1956, 1975 und 1978)

1956 1975

Frauen 53 % (15) 60 % (15)

Männer 47 % (13) 40 % (19)

k. A. 0 0

gesamt 28 (38 %) 34 (9 %)

1978 gesamt

31 % (4) 45,33 % (34)

61,5 % (8) 53,33 % (40)

7,5 % (1) 1,33 % (1)

13 (6 %) 75

Dieser Unterschied ist vermutlich mit dem inhaltlichen Schwerpunkt der Aufrufe zu erklären, der dezidiert auf Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg lag (→ Abschnitt 3.2). Gleichzeitig fördert der zeitliche Vergleich zwischen den drei Aufrufen ein aussagekräftiges Ergebnis zutage: Im Jahr 1956 standen 28 (bearbeitete) Tagebuchtexte 44 Erinnerungen gegenüber (38 zu 62 Prozent), 1975 waren es 13 zu 129 (9 zu 91 Prozent), 1978 13 zu 194 (6 zu 94 Prozent). Daraus lässt sich ableiten, dass ein zunehmender zeitlicher Abstand zu den Geschehnissen auch die Form der eingereichten Texte beeinflusst hat.344 (Be343 Bei den Tagebüchern im Bestand der »Wiener Historischen Kommission« handelt es sich in den meisten Fällen um bearbeitete Auszüge (→ Abschnitt 3.4). 344 Da der Großteil dieser Bestände aus bearbeiteten Texten besteht, liefern sie keine Aussagen über die ursprünglichen auto/biografischen Praktiken bzw. die diaristischen Formen während der Zeit des Zweiten Weltkrieges oder der Zwischenkriegszeit. Diese Diskrepanz wurde am Beispiel der Einreichungen von Stephanie Bamer an das WStLA bereits besprochen (→ Abschnitt 3.4).

344

Tagebücher in historisch ausgerichteten Sammlungen ab den 1980er-Jahren

arbeitete) Tagebuchtexte wurde zunehmend weniger gewählt, je länger der zu dokumentierende Zeitraum zurücklag. Die merkbaren zeitlichen Tendenzen lassen keine klaren geschlechterspezifischen Verschiebungen erkennen, vielmehr weisen die Einreichungen in den 1970erJahren große diesbezügliche Unterschiede auf. Eine Systematik ist hier nicht abzulesen. Diese Differenz könnte möglicherweise durch einen Blick auf die Inhalte der entsprechenden Aufzeichnungen erklärt werden – an dieser Stelle sei sie vorerst zumindest erwähnt. Die übrigen Antworten auf die Frage der Geschlechterverteilungen im Bestand »Wiener Historische Kommission« im Wiener Stadt- und Landesarchiv fallen hingegen eindeutig aus. Bilanzierend lässt sich dazu feststellen: Frauen und Männer sind hier insgesamt nicht im gleichen Ausmaß vertreten (41 zu 53 Prozent). Die geschlechterspezifische Verteilung der diaristischen Formate entspricht mit 45,33 zu 53,33 Prozent in etwa der Beteiligung von Frauen und Männern insgesamt. Das Tagebuchformat wurde dabei von Frauen häufiger gewählt (45,33 Prozent) als Erinnerungstexte (36 Prozent). Männer sind als Autoren von lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen mit 60 Prozent besonders stark vertreten. Grafisch umgesetzt ergeben diese Zahlen die folgenden Diagramme: Balkendiagramme 3 bis 5: Frauen und Männer als Autor/innen im Bestand »Wiener Historische Kommission« im Wiener Stadt- und Landesarchiv (1956, 1975 und 1978) Frauen und Männer im Tagebücher (1956 bis 1978) Bestand allgemein (1956 bis (75 Texte) 1978) (539 Personen)

lebensgeschichtliche Texte (1956 bis 1978) (370 Texte)

Werden die Zahlen von 1956, 1975 und 1978 zusammengefasst dargestellt, ergeben sich für die drei Bestände die folgenden Verteilungen:

345

Geschlecht als Analyseperspektive

Tortendiagramme 14 bis 16: Frauen und Männer als Autor/innen im Bestand »Wiener Historische Kommission« im Wiener Stadt- und Landesarchiv (1956, 1975 und 1978) Tagebücher (1956 bis 1978) Frauen und Männer im Bestand allgemein (1956 bis (75 Texte)345 1978) (539 Personen)

lebensgeschichtliche Texte (1956 bis 1978) (370 Texte)

Der 1978 unter dem Namen »Wiener Historische Kommission« im Wiener Stadtund Landesarchiv zusammengefasste Bestand wurden vor mehreren Jahrzehnten gesammelt und ist in sich abgeschlossen. Die quantitative Auswertung spiegelt geschlechtsspezifische Übergabepraktiken aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wider. Sind aktuelle Sammlungen anders zusammengesetzt? b)

Der Bestand des Deutschen Tagebucharchivs in Emmendingen

In der Datenbank des Deutschen Tagebucharchivs waren im Jahr 2017 4.043 Personen erfasst.346 Die Auswertung des Bestandes förderte überraschend große Ähnlichkeiten mit dem WStLA zutage – zumindest, was die Verteilung der jeweiligen Übergeber/innen nach Geschlecht anbelangt. Sowohl der Anteil aller Frauen, die hier als Vor- oder Nachlassgeberinnen gelistet waren (41 Prozent), als auch der Anteil der von Frauen verfassten lebensgeschichtlichen Texten (36 Prozent) war identisch mit jenem der »Wiener Historischen Kommission«. Konkret setzen sich die Zahlen des Deutschen Tagebucharchivs folgendermaßen zusammen:

345 Die hier gerundet dargestellten Zahlen entsprechen den technischen Möglichkeiten des verwendeten Auswertungsprogramms. 346 Dokumente, die von mehreren Autor/innen verfasst wurden oder von Institutionen etc., sind hier nicht mitgezählt.

346

Tagebücher in historisch ausgerichteten Sammlungen ab den 1980er-Jahren

Tabelle 24: Frauen und Männer als Autor/innen im Bestand des Deutschen Tagebucharchivs Emmendingen (2017)347

Personen Tagebücher (Bände)

Frauen Männer anonym 41 % (1.666) 56 % (2.266) 3 % (111) 51 % (7.128) 47 % (6.561) 2 % (220)

gesamt 4.043 13.909

lebensgeschichtliche Texte

36 % (1.050) 63 % (1.852) 1 % (30)

2.932

Die zahlenmäßig teilweise exakte Gleichheit in der Zusammensetzung der Bestände im Wiener Stadt- und Landesarchiv und im Deutschen Tagebucharchiv ist ein Zufall. Einerseits unterscheiden sich die Zählweisen der beiden Sammlungen.348 Andererseits handelt es sich dabei um eine Momentaufnahme aus 2017, die sich inzwischen auch bereits marginal verändert hat.349 Als Tendenz ist dieses Ergebnis jedenfalls so aussagekräftig wie verblüffend. Die Überschneidungen sind umso erstaunlicher, als es sich hier um sehr unterschiedliche Sammlungen handelt. Der Bestand im WStLA wurde in den 1950er- und 1970er-Jahren zusammengetragen und umfasst Selbstzeugnisse von 539 Personen. Die Aufrufe waren geografisch auf den Raum Wien und inhaltlich auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges bzw. die Zwischenkriegszeit beschränkt. Das DTA hält den derzeit umfangreichsten Bestand an auto/biografischen Aufzeichnungen im deutschsprachigen Raum (2017 von 4.043 Personen), der laufend erweitert wird. Er fokussiert hauptsächlich auf Tagebücher und Lebenserinnerungen, wobei keine inhaltlichen Einschränkungen verfolgt werden. Grafisch umgesetzt ergeben diese Zahlen die folgenden Diagramme:

347 Eine erste Darstellung der Zahlen zum Unterschied zwischen Autorinnen und Autoren im Bestand des Deutschen Tagebucharchivs in Emmendingen hat die Historikerin Stefanie Risse 2010 veröffentlicht. In ihrem Doppelportrait des DTA und des Archivio Diaristico Nazionale in Pieve S. Stefano in Italien hat Risse die folgenden Zahlen publiziert: 2010 stammten 45,2 Prozent der Tagebuchbestände im DTA von Frauen. Das geschlechtsspezifische Verhältnis scheint sich zwischen 2010 und 2017 also ein Stück weit austariert zu haben. Stefanie Risse: Liebes Tagebuch – Caro Diario! Europäische Tagebucharchive im Vergleich: Das Archivio Diaristico Nazionale und das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen, in: L’Homme. Z. F. G., Jg. 21, 2010, Heft 1, S. 89–96, S. 93, S. 95. 348 Die aus dem DTA vorliegenden Zahlen beziehen sich auf die vorhandenen Tagebuchbände, die alle einzeln gelistet sind, nicht auf ihre Schreiber/innen. 349 Als aktuelle Zahlen (2020) werden auf der Website unter »Faken & Zahlen« 4.712 Schreiber/ innen angegeben (+ 669 seit 2017). 44 Prozent davon sind derzeit Frauen (+ 3 Prozent seit 2017), 56 Prozent (+/- 0 Prozent seit 2017) Männer.

Geschlecht als Analyseperspektive

347

Tortendiagramme 17 bis 19: Frauen und Männer als Autor/innen im Bestand des Deutschen Tagebucharchivs Emmendingen (2017) Frauen und Männer in den Tagebuchbände (2017)350 Beständen allgemein (2017)

lebensgeschichtliche Texte (2017)

Diese Ergebnisse erlauben die Annahme, dass es sich dabei um Tendenzen handelt, die die Übergaben von persönlichen Dokumenten an Sammeleinrichtungen allgemein charakterisieren: Diese waren Mitte des 20. Jahrhunderts geschlechtsspezifisch unterschiedlich gestaltet – und diese Unterschiede bestehen noch heute. Als Begründungen dafür können Hypothesen gebildet werden. Eine davon kann der thematische Fokus auf den Zweiten Weltkrieg bzw. die NS-Zeit sein. Dieser war in den Beständen des WStLA vorgegeben. Auch im DTA liegt einer der zeitlichen Schwerpunkte auf den Jahren von 1931 bis 1950. Für diesen Zeitraum sind anteilsmäßig die meisten Schreiber/innen verzeichnet.351 Es könnte sich etwa auf die Geschlechterverteilung ausgewirkt haben, wenn verstärkt Männer die Erinnerungen an ihren Kriegsdienst übergeben haben. Um eine fundierte Erklärung für diese Tendenzen zu erarbeiten, müssten auch die Inhalte der Aufzeichnungen berücksichtigt werden. Zum Vergleich wurde als drittes Sample der Bestand der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien ausgewertet. Lassen sich die bisherigen Ergebnisse hier bestätigen?

350 Die hier gerundet dargestellten Zahlen entsprechen den technischen Möglichkeiten des verwendeten Auswertungsprogramms. 351 Derzeit sind für die Jahre von 1931 bis 1950 etwa 2.900 Schriftstücke von etwa 1.100 Schreiber/innen verzeichnet. Damit ist das der Zeitraum mit den (anteilsmäßig) meisten Beiträger/innen, nicht aber mit den (anteilsmäßig) meisten verzeichneten Schriftstücken. Dieser liegt mit etwa 4.400 Schriftstücken von etwa 250 Schreiber/innen zwischen 1971 und 2000. Vgl. die online verfügbaren Angaben auf der Website.

348 c)

Tagebücher in historisch ausgerichteten Sammlungen ab den 1980er-Jahren

Der Bestand der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen in Wien

Nach den großen Ähnlichkeiten der geschlechtsspezifischen Charakteristika der Bestände im Wiener Stadt- und Landesarchiv und im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen sind die Ergebnisse der entsprechenden Auswertung des Bestands der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen umso überraschender: Hier bestand ebenfalls ein Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern, allerdings verhielt es sich entgegengesetzt zum WStLA und dem DTA. Entsprechend den Zusammenstellungen von Günter Müller, der die Doku seit vielen Jahren leitet, waren im Jahr 2017 in der Datenbank dieser Sammlung 3.326 Personen namentlich erfasst. 1.882 (57 Prozent) von ihnen waren Frauen, 1.444 Männer (43 Prozent).352 Die konkreten Zahlen waren die folgenden: Tabelle 25: Frauen und Männer als Autor/innen im Bestand der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen in Wien (2017)

insgesamt

Frauen 57 % (1.882)

Männer 43 % (1.444)

gesamt 3.326

lebensgeschichtliche Texte Tagebücher

58 % (1.718) 39,5 % (90)

42 % (1.263) 60,5 % (138)

2.981 228

Insgesamt gesehen ist die Differenz zwischen Frauen und Männern Günter Müllers Aussage zufolge im Begriff, abzunehmen. Wie sich grafisch darstellen lässt, ist die geschlechtsspezifische Zusammensetzung aber weiterhin deutlich erkennbar und variiert auch hier nach Genres: In der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen sind nicht nur deutlich mehr Autorinnen verzeichnet als Autoren, es liegen auch mehr retrospektive Erinnerungstexte (im engeren Sinn) von Frauen vor als von Männern. Das Verhältnis ist hier 1.718 zu 1.263 Texte bzw. 58 zu 42 Prozent. In Bezug auf dieses Genre entsprach die geschlechtsspezifische Aufteilung also ziemlich genau der Aufteilung von Autor/innen allgemein (57 zu 43 Prozent). Bei den 2017 verzeichneten Tagebüchern war die Aufteilung umgekehrt.353 39,5 Prozent wurden von Frauen geschrieben, 60,5 Prozent von Männern.

352 Danke an Günter Müller von der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen für die gemeinsame Diskussion dieser Frage. In der Datenbank der Doku ist die Kategorie »k. A.« nicht vergeben. Die Angaben enthalten keine Aussagen über die Umfänge der Bestände. 353 Bei den hier als »Tagebücher« benannten Texten handelt es sich im Großteil um Abschriften oder Kompilationen von Tagebuchaufzeichnungen.

349

Geschlecht als Analyseperspektive

Tortendiagramme 20 bis 22: Frauen und Männer als Autor/innen im Bestand der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen in Wien (2017) Frauen und Männer im Bestand insgesamt (2017)

Tagebücher (2017)354

lebensgeschichtliche Texte (2017)

Dass in diesem Bestand Männer als Tagebuchautoren so stark vertreten sind, führt Günter Müller auf einen klaren Überhang von diaristischen Texten (in verschiedenen Formen) zurück, die während des Ersten und des Zweiten Weltkrieges von Soldaten verfasst wurden. Mit dieser Einschätzung kann die oben in Bezug auf den Bestand des DTA formulierte Hypothese untermauert werden.355 Geschlechtsspezifische Zusammensetzungen von Beständen von Selbstzeugnissen als Ergebnis von Aufruf-Politiken Die geschlechterspezifisch so verschiedene Zusammensetzung der Bestände des WStLA und des DTA sowie der Doku führt Günter Müller auf die spezielle Aufrufpraktik dieser Einrichtung zurück. Hier wurden und werden einerseits lebensgeschichtliche Texte gesammelt, die von ihren Autor/innen in Eigeninitiative verfasst wurden: Texte, für die in dieser Studie der Begriff ›vorgefundene Selbstaussagen‹ vorgeschlagen wird (→ Einleitung, Abschnitte 3.1 und 3.3). Andererseits hat die Doku von Beginn an verschiedenste Aufrufe lanciert – und somit auch das Anfertigen von einer Fülle an ›hergestellten Selbstaussagen‹ an-

354 Die hier gerundet dargestellten Zahlen entsprechen den technischen Möglichkeiten des verwendeten Auswertungsprogramms. 355 Diese Hyphothese bestätigt sich auch im Bestand der Sammlung »Dokumente« im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin. Hier waren mit Stand Frühling 2017 gut 240 Bände von Tagebüchern aus dem Zeitraum von 1741 bis 1997 dokumentiert. Das Schwergewicht liegt dabei auf Aufzeichnungen von Soldaten aus verschiedenen Kriegen im 19. und im 20. Jahrhundert. Dabei sind zirka 120 Schreiber verzeichnet, dem gegenüber nur 25 Schreiberinnen. Danke an Thomas Jander vom DHM für die zuvorkommende Betreuung bei der Archivrecherche.

350

Tagebücher in historisch ausgerichteten Sammlungen ab den 1980er-Jahren

geregt. Diese Aufrufe wurden und werden etwa in Zeitungen oder über das Radio veröffentlicht (→ Abschnitt 3.3).356 In der Zusammenstellung einer Auswahl von sieben unterschiedlichen öffentlichen Aufrufen der Doku aus dem Zeitraum von 1983 bis 2013 sind die folgenden Gesamtzahlen enthalten: Insgesamt haben 1.566 Autor/innen geantwortet. 995 davon waren Frauen, 571 Männer, was einer Verteilung von 64 zu 36 Prozent entspricht.357 Die Schreibaufrufe waren und sind jeweils auf konkrete inhaltliche Fragen bezogen.358 Die Themenstellungen lauteten dabei etwa »Als ich ein Kind war…« (ab 1985), »Altern« (1998) oder »1945 erinnern« (2005).359 Auf der Grundlage der Rückmeldungen ließ sich feststellen, dass die Beteiligungen von Frauen und Männern sehr von den gefragten Inhalten abhängig sind. Ein besonders großer Unterschied war beim Aufruf »Altern« zu verzeichnen. Hier haben 133 Frauen geantwortet und 30 Männer (82 zu 18 Prozent). Verhältnismäßig ausgeglichen war die Beteiligung am Aufruf zum Thema »1945 erinnern« mit 68 Frauen und 50 Männern (58 zu 42 Prozent).360 Die Fragestellungen haben also einen starken Einfluss auf die geschlechtsspezifische Beteiligung. Besonders ›Alltagsthemen‹ werden von Männern weit weniger aufgegriffen. Ein weiterer Faktor für geschlechtsspezifische Schreib- und Übergabepraktiken liegt in der Form der Aufrufe. Neben den öffentlichen, inhaltlich zugeschnittenen Aktionen richtet die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen regelmäßig Schreibappelle als sogenannte »Rundbriefe« an jene Personen, die bereits mit der Sammlung in Kontakt stehen. Auch diese Aufrufe enthalten jeweils konkrete Fragestellungen. Nach Günter Müllers Erfahrung haben sich Frauen bisher insbesondere stark an dieser Form von Aufrufen beteiligt. Seit 1995 haben etwa 800 Personen zumindest einmal auf einen Rundbrief reagiert und einen Text eingeschickt.361 Frauen machten dabei 70 Prozent der Autor/innen aus.

356 Eine Aufstellung verschiedener Aufrufe ist online verfügbar unter: https://wirtges.univie.ac. at/Doku/07_Erweiterung_der_Textsammlung_neu.pdf. 357 Günter Müller: E-Mails am 19. Mai 2017, 3. Juni 2017 und 4. Juni 2017. 358 Die Aufrufe der »Kommission Wien 1945« bzw. der »Wiener Historischen Kommission« hatten im Gegensatz dazu einen thematischen Zuschnitt auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs oder die Zwischenkriegszeit – nicht aber inhaltliche Fragestellungen. 359 Dieser Aufruf ist online verfügbar unter: http://wirtges.univie.ac.at/Doku/Projekt1945_Info blatt.pdf. 360 Günter Müller: E-Mails am 19. Mai 2017, 3. Juni 2017 und 4. Juni 2017. 361 Ebd.

351

Geschlecht als Analyseperspektive

Tabelle 26: Rückläufe auf Aufrufe der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen in Wien (2017)

Antworten auf inhaltliche, öffentliche Aufrufe (Auswahl) … auf inhaltliche Aufrufe in Rundbriefen unaufgeforderte Zusendungen fertiger Manuskripte an den Verlag

Frauen 64 % (995)

Männer 36 % (571)

gesamt 1.566

70 % (560)

30 % (240)

800

47 % (65)

53 % (74)

139

Grafisch umgesetzt ergeben diese Zahlen die folgenden Diagramme: Tortendiagramme 23 bis 25: Rückläufe auf Aufrufe der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen in Wien (2017) Antworten auf inhaltliche, öffentliche Aufrufe (Auswahl seit 1983)

Antworten auf inhaltliche Aufrufe in Rundbriefen (seit 1995)

unaufgeforderte Zusendungen fertiger Manuskripte an den Verlag (bis 2017)

Der Einfluss der Form der Schreibaufrufe auf geschlechtsspezifische Rückmeldungen lässt sich schließlich noch mit der dritten Gruppe jener Einsender/innen belegen, die von sich aus fertige Manuskripte für eine mögliche Veröffentlichung in der Buchreihe »Damit es nicht verloren geht« zugesendet haben. Diese wird seit 1983 von der Doku herausgebracht und konnte einen großen Bekanntheitsgrad erreichen (→ Abschnitt 3.3). Dazu wurden und werden auch immer wieder unaufgefordert Manuskripte beim Verlag eingereicht. Hier waren Männer (74) bisher stärker vertreten als Frauen (65; also 53 zu 47 Prozent). Bei diesen unaufgefordert eingesandten Texten handelt es um selbst konzipierte Lebenserinnerungen, die auf Eigeninitiative entstanden sind – und nicht als (direkte) Antworten auf Schreibaufrufe. Wie die Zahlen andeuten, wird diese offene Form von Männern offenbar ein wenig vorgezogen.

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Tagebücher in historisch ausgerichteten Sammlungen ab den 1980er-Jahren

Insgesamt kann die Buchreihe »Damit es nicht verloren geht« ein Grund dafür sein, dass bisher zusammengenommen mehr Autorinnen an dem Projekt der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen partizipiert haben als Autoren. Insbesondere zu Beginn wurden unter sozial- und alltagshistorischen Prämissen vornehmlich Lebenserinnerungen von Frauen veröffentlicht, die zumeist aus bildungsferneren Schichten gekommen sind (→ Abschnitt 3.3). Mehrere dieser Bücher wurden sehr gut verkauft. Die Verfasserinnen waren ehemals Dienstmägde, Bäuerinnen und Hebammen oder sind als »Häuslerkinder« aufgewachsen. Ihre Erinnerungstexte hatten einen nachhaltigen Einfluss und eine Vorbildwirkung auf Folgeprojekte. Entsprechend formulierte es Günter Müller in einem Portrait der Bücher: »Maria Gremel, Barbara Passrugger, Maria Horner oder Barbara Waß sind Autorinnen, die als gänzlich unbekannte Schreiberinnen mit ihren persönlichen Lebenserzählungen ein überraschend großes öffentliches Echo gefunden haben. Sie haben auf ihre Art österreichische Geschichte (neu) geschrieben und das Image der Buchreihe als Ganzes nachhaltig geprägt.«362 Eine weitere These dafür, dass Frauen im Bestand der Doku stärker vertreten sind, kann schlichtweg in der demographischen Altersentwicklung liegen. Mitteleuropäische Frauen erreichen derzeit durchschnittlich ein höheres Alter als Männer – und können daher auch länger schriftlich tätig sein.363 Die Rolle, die Schreibaufrufe sowie auch Vorbildtexte bei geschlechtsspezifischen Schreib- bzw. Veröffentlichungspraktiken spielt, kann nicht überschätzt werden. Das lässt sich abschließenden mit einem weiteren Beispiel aus der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen belegen: 1996 wurde über eine große österreichische Tageszeitung die Suche nach der ›ältesten Autobiografie‹ gestartet. Hier ging es also um Texte, die nicht erst geschrieben werden sollten. Gesucht wurden Aufzeichnungen, die schon lange Zeit in Schreibtischladen, auf Dachböden oder an anderen Orten aufbewahrt worden waren. Nach Günter Müllers Darstellung war das der bisher einzige Aufruf der Doku, auf den mehr Texte von Männern eingegangen sind als von Frauen. Die Autor/innen waren im Großteil um 1900 geboren worden, zirka drei Viertel davon waren Männer. Mögliche Gründe lassen sich als Fragen formulieren: Haben Männer vor jener Zeit, in der sich das »Interesse am (Auto-)Biografischen« so stark ver362 Müller: Damit es nicht verlorengeht, 2007, S. 437. Die Publikationen, auf die Günter Müller sich hier bezieht, sind Maria Gremel: Mit neun Jahren im Dienst (Bd. 1, 19831); dies.: Vom Land zur Stadt. Lebenserinnerungen 1930 bis 1950 (Bd. 20, 1991); Barbara Passrugger: Steiler Hang (Bd. 27, 1993); Barbara Waß: Mein Vater, Holzknecht und Bergbauer (Bd. 6, 1989); dies.: »Für sie gab es immer nur die Alm…« Aus dem Leben einer Sennerin (Bd. 16, 1994). Zum Thema der »Überformung« siehe → Abschnitt 4.2. 363 Nach den online verfügbaren Angaben der Statistik Austria unter dem Titel »Bevölkerung nach Alter und Geschlecht« waren am 1. Jänner 2020 in Österreich 236.696 Frauen und 154.242 Männer älter als 80 Jahre. 59.284 Frauen und 22.632 Männer waren älter als 90 Jahre, 1.019 Frauen und 174 Männer waren »mindestens 100 Jahre alt«.

Geschlecht als Analyseperspektive

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breitert hat, mehr Selbstzeugnisse geschrieben? Oder wurden ihre Texte eher aufbewahrt? Oder wurden sie eher als relevant eingestuft, um eingesandt zu werden? Jedenfalls wurden sie eingesandt. Das führt wiederum zum Schluss, dass die Zusammensetzung der Bestände von Sammlungen für Selbstzeugnisse (in Bezug auf ›vorgefundene Selbstaussagen‹) Einblicke über Aufbewahrungs- und Übergabepraktiken zulässt. Dass diese nicht unbedingt direkt mit den vergangenen Praktiken des auto/biografischen Schreibens korrespondieren müssen, wurde schon mehrfach angesprochen. Auf der Grundlage von drei verschiedenen Beständen konnten jedenfalls Tendenzen geschlechtsspezifischer Erinnerungspraktiken und -strategien aufgespürt und Thesen abgeleitet werden. Es ist damit ein Themenfeld erschlossen und abgesteckt worden, das noch viele offene Fragen bereithält, die in weiterführende Auswertungen einfließen könnten. Als Abschluss dieses Abschnittes wird noch eine Einrichtung in den Blick genommen, die ihren Fokus konkret auf Vor- und Nachlässe von Frauen gelegt hat. d)

Der Bestand der Sammlung Frauennachlässe in Wien

Die Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien verfolgt eine insgesamt geschlechtsspezifische Schwerpunktsetzung (→ Abschnitt 3.3). Der Bestand setzt sich aktuell (2020) aus den Vor- und Nachlässen von 404 Frauen und 40 Männern zusammen (91 zu 9 Prozent → Abschnitt 3.3). Aus diesem Grund ist diese Sammlung für einen Geschlechtervergleich nur bedingt geeignet und wurde in die entsprechenden Auswertungen nicht miteinbezogen. Die folgenden Zitate sollen stattdessen noch einmal auf den zivilgesellschaftlichen Aspekt hinweisen, der der Arbeit von historisch ausgerichteten Sammlungen für Selbstzeugnisse eigen ist. Der Fokus dezidiert auf die Dokumentation von Frauen wurde von Übergeber/innen immer wieder als Anlass benannt, sich an dieses Archiv gewandt zu haben. Die Oberösterreicherin Hedwig P. formulierte es direkt: »[Ich] bin stolz, daß meine Tagebücher als historische Dokumente ein Mosaiksteinchen in der Erforschung von Frauenleben sind. Danke, daß Sie dazu beitragen, Frauen in der Geschichte sichtbar zu machen.«364 In einem früheren Statement von Hedwig P. wird zudem offenkundig, dass die Übergabe von Selbstzeugnissen an eine Sammlungseinrichtung nicht zuletzt eine Frage des Vertrauens ist. Nachdem sie u. a. ihre Jugendtagebücher übergeben hatte, stellte Hedwig P. fest: »Die Wertschätzung und Wärme, die Frauen ent364 Hedwig P.: Brief, Juni 2017. Die Jugendtagebücher von Hedwig P. [Pseudonym] wurden ausgewertet in Magdalena Perkonigg: Privatleben, Beruf und Religiosität im Leben und den Zukunftsplänen junger Frauen in Tagebüchern im Umbruch der 1950er und 1960er Jahre, Diplomarbeit, Wien 2017.

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Tagebücher in historisch ausgerichteten Sammlungen ab den 1980er-Jahren

gegengebracht wird ohne Wertung und zusammen mit wissenschaftlichem Arbeiten freut mich dabei ganz besonders.«365 Die Rückmeldungen von Besucher/innen im Gästebuch einer 2009 gezeigten Ausstellung der Sammlung Frauennachlässe belegen, dass sich das Wissen um solche Erinnerungsprojekte schließlich nachhaltig auf den Umgang mit schriftlichen Hinterlassenschaften in persönlich-familiären Bereichen auswirken kann. Vielleicht führt die Kenntnis über die bestehenden Möglichkeiten, Selbstzeugnisse an Sammlungseinrichtung übergeben zu können, gar nicht dazu, das auch zu tun – sondern stattdessen zu einer veränderten Wahrnehmung der möglicherweise vorhandenen Dokumente (→ Abschnitt 3.4). Eine Besucherin konnte praktische Anregungen aus der Ausstellung ziehen: »Vielen Dank – beeindruckende Frauenspuren! Habe gerade den Nachlass meiner Eltern zu sortieren: … Nehme eine Menge Inspiration und Nachdenkliches mit«, schrieb sie in das Gästebuch. Eine zweite bezog die neu gewonnenen Eindrücke auf ihre eigene auto/biografische Praxis: »Die Freude ES richtig gemacht zu haben … schreibe seit 1972 und bin heute bei Tagebuch Nr. 339 … Hoffentlich folgen noch viele.« Mehrere Besucherinnen kommentierten das Gesehene auch auf einer allgemeineren Ebene: »Geschichte hinter mir wird sichtbar.«, »Jede von uns hat eine Geschichte ….« oder: »Endlich werden die Frauenleben aufgezeigt.« Eine weitere stellte fest: »Einfach berührend – auf zur eigenen Dokumentation der Erinnerung!«366

Tagebücher von Mädchen und Frauen in historisch ausgerichteten Sammlungen Die bisher in diesem Kapitel vorgestellten Bestände historisch ausgerichteter Sammlungen in Österreich und Deutschland haben einen Eindruck vom Umfang der inzwischen erarbeiteten Quellenbasis gegeben. Zum Abschluss soll eine Skizze der Vielfalt der derzeit vorliegenden Tagebuchformate gezeichnet werden. Diese Skizze ist aufgebaut auf den Beständen von fünf Sammlungen in Wien. Hier wurden die jeweils archivierten diaristischen Aufzeichnungen erfasst, die Mädchen und Frauen geschrieben haben, die in Wien lebten. Diese Zusammenstellung wurde als Rechercheprojekt unter dem Titel »Bibliografie unver-

365 Hedwig P.: E-Mail, Jänner 2009. 366 Einträge im Gästebuch der von Christa Hämmerle, Li Gerhalter und Nikola Langreiter kuratierten Ausstellung »Fragmente aus vielen Leben«, die als Kooperation im Sommer 2009 im Frauenmuseum Hittisau im Bregenzerwald in Vorarlberg gezeigt wurde. [Hervorhebung wie im Original.] Weiterführende Informationen zu der Ausstellung finden sich in: Gerhalter: Auf zur eigenen Dokumentation von Erinnerung!, 2013, S. 292–294.

Geschlecht als Analyseperspektive

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öffentlichter Tagebücher von Wiener Frauen in Wiener Archiven« im Kontext der Sammlung Frauennachlässe im Jahr 2012 erarbeitet und ist online verfügbar.367 Die Bibliografie enthält Informationen zu den Tagebüchern von insgesamt 110 Schreiberinnen. Diese sind in der Sammlung Frauennachlässe (SFN) (38 Bestände), der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (Doku) (31 Bestände), den Beständen »Wiener Historische Kommission« (18 Bestände) sowie »Nachlässe und private Sammlungen« (acht Bestände) im Wiener Stadtund Landesarchiv (WStLA) und in der »Handschriftensammlung« in der Wienbibliothek im Rathaus (15 Bestände) archiviert.368 Sie decken einen Zeitraum von 180 Jahren ab. Der früheste Eintrag wurde 1832 verfasst, der späteste 2012.369 Dabei sind eindeutige zeitliche Schwerpunkte zu verzeichnen: Aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind insgesamt drei Bestände dokumentiert (2 Prozent), aus der zweiten Hälfte 14 (10 Prozent).370 Der Großteil von 81 Beständen (59 Prozent) wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschrieben. Zwölf davon decken die Zeit des Ersten Weltkrieges ab, 48 die Zeit des Zweiten Weltkrieges, 17 weitere nur einige Monate im Jahr 1945.371 Aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegen 31 Bestände vor (22,5 Prozent), aus der Zeit nach 2000 neun (6,5 Prozent).

367 Sammlung Frauennachlässe: Bibliografie unveröffentlichter Tagebücher von Wiener Frauen in Wiener Archiven, zusammengestellt von Li Gerhalter unter der Mitarbeit von Brigitte Semanek, Ingrid Brommer und Christine Karner, Wien 2012. Die Zusammenstellung wurde im Rahmen des gleichnamigen Projekts erarbeitet. Es wurde vom Verein zur Förderung der Dokumentation von Frauennachlässen durchgeführt und von Christa Hämmerle geleitet. Die detaillierten Ergebnisse sind unter dem Titel auf der Website der Sammlung Frauennachlässe zugänglich. 368 Die fünf Sammlungen haben jeweils noch weitere Tagebücher archiviert. In der Zusammenstellung sind nur jene enthalten, die in Wien verfasst worden sind. Eine Unterscheidung, ob es sich um originale Handschriften oder um Bearbeitungen etc. handelt, wurde dabei nicht vorgenommen. Die fünf Sammlungen sind zudem nicht die einzigen in Wien, die Tagebücher enthalten. Weitere Bestände haben etwa das Österreichische Staatsarchiv (ÖStA) oder die Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB). 369 Die frühesten Aufzeichnungen stammen von Auguste Bingler (geb. um 1817): Tagebuch (1932–1843), WStLA, Bestand »Nachlässe und private Sammlungen«, Signatur 3.5.41.A1.11 Familie Leithe-Jasper 1–7. Die spätesten Aufzeichnungen stammen von Edith Lasar (geb. 1923), SFN, NL 200. 370 Mehrere Bestände decken auch verschiedene Zeiträume ab. Sie wurden in dieser Aufstellung mehrfach zugeordnet. Einige Bestände aus dem 18. Jahrhundert wären etwa im ÖStA verfügbar. Hier sind u. a. Tagebuchauszüge (Abschriften) von Maria Josepha Eleonora Gräfin Hohenwart (geb. 1720) von 1770 bis 1798 archiviert. ÖStA, Familienarchiv Hohenwart, Karton 9. 371 Zu den Tagebüchern aus 1945 siehe weiterführend Gerhalter: Selbstzeugnisse sammeln, 2020, S. 63.

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Tagebücher in historisch ausgerichteten Sammlungen ab den 1980er-Jahren

Tortendiagramme 26 bis 28: Tagebücher von Wiener Mädchen und Frauen in Sammlungen (2012) Bestände

dokumentierte Zeiträume

Alter der Schreiberinnen

Aufzeichnungen aus dem Zweiten Weltkrieg sind die einzige in dieser Zusammenstellung vergebene Kategorie, die allen fünf konsultierten Archivbeständen zugeordnet werden konnte. Weder ein anderer Zeitraum noch eine der (unten vorgestellten) Unterscheidungen nach (Sub-)Genres war ebenfalls in allen Sammlungen vertreten.372 Der Fokus auf die Zeit zwischen 1938 und 1945 kann sicherlich in vielen Fällen mit einem gesteigerten Dokumentationsbedürfnis der Schreiber/innen erklärt werden. Wie am Beispiel der Selbstzeugnisse von Stephanie Bamer, die in mehreren Wiener Einrichtungen aufliegen, gezeigt wurde, kann es aber auch an den fokussierten Nachfragen der Sammlungsinstitutionen liegen (→ Abschnitt 3.4). Entsprechend beziehen sich alle im Bestand der »Wiener Historischen Kommission« archivierten Texte auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges (→ Abschnitt 3.2). Zwölf der insgesamt 48 für 1938 bis 1945 recherchierten Texte und sechs der insgesamt 17 aus dem Frühjahr 1945 sind hier archiviert. Der Großteil der nach 1950 verfassten Tagebücher von Wiener Frauen befindet sich im Bestand der Sammlung Frauennachlässe. 2012 waren hier 23 der 31 erhobenen Aufzeichnungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu finden sowie sechs der neun nach 1999 verfassten Quellen. Das kann mit der speziellen Übernahmepraktik der Sammlung Frauennachlässe erklärt werden. Hier besteht die Möglichkeit, ganze Vor- oder Nachlässe zu übergeben. Die besonders zeitnahen diaristischen Aufzeichnungen waren dabei jeweils Teil von umfangreicheren Beständen, die über einen langen Zeitraum geführt wurden. 372 Zahlreiche in dieser Kategorie verzeichneten Bestände gehen insgesamt über den Zeitraum des Zweiten Weltkrieges hinaus.

Geschlecht als Analyseperspektive

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Fünf davon wurden erst nach dem Tod der Schreiberinnen übergeben. Nur ein einziges Buch mit Einträgen aus dem Jahr 2000 wurde von der Schreiberin selbst zur Verfügung gestellt.373 Werden die Tagebücher nach dem Alter bzw. den Lebensphasen der Schreiberinnen unterschieden, ergibt sich folgendes Bild: Drei der vorliegenden Tagebuchaufzeichnungen wurden von Kindern unter zehn Jahren verfasst (2 Prozent), 36 von Jugendlichen bis 20 Jahren (28 Prozent), 68 von Frauen zwischen 20 und 60 Jahren (52 Prozent), 23 von Frauen ab 60 Jahren (18 Prozent).374 Aufzeichnungen von Schreiberinnen im Alter zwischen zehn und 20 Jahren sind in den Wiener Sammlungen also sehr stark vertreten. Die Meinung, dass Jugendliche verstärkt Tagebücher führen würden, wurde von der Jugendpsychologin Charlotte Bühler bereits in den 1920er-Jahren vertreten (→ Kapitel 2). Ich möchte diese Frage hier dezidiert offenlassen. Vor der Folie der in dieser Studie angestrengten Differenzierungen ist von solchen Generalisierungen abzusehen. Stattdessen ist klar festzustellen, dass Jugendtagebücher zu jenen Quellen zählen, die sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart häufig beforscht wurden und werden (→ Kapitel 2 und 4). Dass sie in Archivbeständen gut vertreten sind, ist nach meiner Auslegung nicht zuletzt ein Resultat davon. Was mehr beforscht wird, wird auch mehr dokumentiert. Das lässt per se noch nicht zwingend darauf schließen, dass Jugendtagebücher auch besonders häufig geführt worden wären. Offenkundig wurden sie häufig aufbewahrt und dann auch abgebeben. Werden die Tagebücher von Wiener Mädchen und Frauen schließlich noch nach Inhalten unterschieden, lassen sich die folgenden (Sub-)Genres benennen: Müttertagebücher (elf Bestände, → Kapitel 1), Reise-, Ausflugs- oder Urlaubstagebücher (neun Bestände) sowie Aufzeichnungen im Kriegsdienst im Zweiten Weltkrieg (acht Bestände). Bezogen auf erweiterte Formen diaristischer Aufzeichnungen sind zudem Brieftagebücher (drei Bestände), Kalender mit diaristischen Aufzeichnungen (14 Bestände) und »tagebuchähnliche Aufzeichnungen« erhoben worden (sechs Bestände).375 373 Beatrix Fischer (geb. 1935): Tagebuch (1983–2000), SFN, NL 28. Wie oben erwähnt wurde, hält das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen einen besonders großen Bestand von Schriftstücken aus dem Zeitraum von 1971 bis 2000. 374 Zahlreiche Bestände decken verschiedene Lebensabschnitte ihrer Schreiberinnen ab. Sie wurden in dieser Aufstellung mehrfach zugeordnet. In der Sammlung Frauennachlässe war 2012 der jeweils größte Bestand an Kindertagebüchern (zwei von drei), Jugendtagebüchern (20 von 36) sowie an Tagebüchern der ab 60-jährigen Frauen (elf von 23) archiviert. Zu Aufzeichnungen von älteren Frauen siehe u. a. Lubica Herzanova: Autobiographies and life records as sources for research into old age in Bratislava and Vienna, in: Zuzana Profantová (Hg.): Small history of great events after 1948, 1968 and 1989, Bratislava 2007, S. 420–437. 375 Der größte Bestand an Müttertagebüchern (sieben von elf), Brieftagebüchern (zwei von drei), Kalendertagebüchern (neun von 14) und »tagebuchähnlichen Aufzeichnungen«

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Tagebücher in historisch ausgerichteten Sammlungen ab den 1980er-Jahren

Dieses Schlaglicht der auf Wien zugeschnittenen Stichprobe gibt einen Eindruck des Umfanges und auch der diversen Zusammensetzungen der diaristischen Aufzeichnungen, die inzwischen in historisch ausgerichteten Sammlungen für Selbstzeugnisse zur Verfügung stehen. Tagebücher als Quellen sind also reichlich vorhanden – und sie können mit unterschiedlichsten Fragestellungen beforscht werden. Eine mögliche Herangehensweise ist eine historisch-kulturwissenschaftliche Analyse. Eine solche wird im abschließenden Kapitel dieser Studie vorgenommen. Der Fokus liegt dabei auf diaristischen Aufzeichnungen von Mädchen und jungen Frauen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, womit auch der Faden des → zweiten Kapitels wieder aufgenommen wäre.

(sechs von neun) war 2012 in der Sammlung Frauennachlässe archiviert, der größte Bestand von Aufzeichnungen im Kriegsdienst (sechs von acht) in der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen.

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»Von nun an wird dieses Buch der Brunnen aller meiner Geheimnisse sein«: Historische Tagebücher von Mädchen kulturwissenschaftlich gelesen um 2020

In diesem Kapitel werden zum Abschluss dieser Studie Tagebücher als Quellen historisch-kulturwissenschaftlich gelesen und ausgewertet. Das Medium Tagebuch wird dabei unter genretheoretischen Fragestellungen besprochen. Dieser Blickwinkel zeigt exemplarisch einzelne Schwerpunkte der aktuellen wissenschaftlichen Beschäftigung mit diesen Quellen. Damit kann einerseits die historische Perspektive dieser Studie abgerundet werden. Die Ergebnisse sind andererseits ein Beitrag zu Diskussionen der rezenten Auto/Biografieforschung. Diese findet laufend statt und ist nicht abgeschlossen. Die Tagebuchforschung wird damit schließlich als aktuelles, dynamisches Forschungsfeld vorgestellt. Für den inhaltlichen Fokus wurden diaristische Aufzeichnungen von Mädchen und jungen Frauen gewählt. Als Untersuchungszeitraum die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dieser Fokus erscheint – gleichzeitig – breit und konkret genug, um daran allgemeinere historisch-kulturwissenschaftliche Fragestellungen anknüpfen zu können. Auch können direkte Querverbindungen zu den bisherigen Kapiteln hergestellt werden: Die ausgewerteten Quellen stammen zum Großteil aus jenen seit den 1980er-Jahren gegründeten Sammlungen und Archiven, die in → Kapitel 3 vorgestellt worden sind. Insgesamt ist das Kapitel auf Tagebuchquellen aus neun öffentlich zugänglichen und zwei privaten Sammlungsbeständen in Österreich und Deutschland aufgebaut sowie auf fünf veröffentlichten Editionen. Eines der zitierten Tagebücher war Teil des Bestandes der jugendpsychologischen Sammlung von Charlotte Bühler (geb. Malachowski, 1893–1974) und ihrer Forschungsgruppe in Wien. Es ist einer jener fünf Bände, die von dem ansonst verschollenen Material wiedergefunden worden sind (→ Abschnitt 2.9). Mit dem Fokus auf Tagebücher von Jugendlichen wird andererseits in doppelter Weise an → Kapitel 2 angeknüpft. Die jugendpsychologische Tagebuchforschung hat zu derselben Zeit stattgefunden, in der viele der im Folgenden besprochenen Quellen verfasst wurden. Selbstzeugnisse waren eine häufig gewählte Quelle in der jugendpsychologischen Forschung der Zwischenkriegszeit. Dabei wurde versucht, eine verallgemeinerbare Darstellung ›des Jugendalters‹ zu erarbeiten. Gefragt wurde nach den

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Historische Tagebücher von Mädchen kulturwissenschaftlich gelesen um 2020

Ausdrucksformen »normaler Entwicklung«,1 die (u. a.) in diaristischen Texten aufgespürt werden sollte. In aktuellen historisch-kulturwissenschaftlich ausgerichteten Zugängen werden Tagebücher unter anderen Gesichtspunkten analysiert. Diaristische Aufzeichnungen zu verfassen wird als eine »Praxis« verstanden,2 die bestimmten Anlässen folgt und die auch verschiedene Funktionen für die Schreiber/innen hat (→ Abschnitt 3.1). Als jene Anlässe, die jugendliche Mädchen dazu bewogen haben können, ein Tagebuch zu schreiben, werden im Folgenden Vorgaben von den Eltern oder von Lehrer/innen vorgestellt. Daneben werden literarische Texte, veröffentlichte Editionen sowie die Aufzeichnungen von Freundinnen als Vorbilder identifiziert. Solche Motive benannte der Wiener Reformpädagoge und Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld (1892–1953) bereits in den 1930er-Jahren als Grund dafür, ein Tagebuch zu führen. Sie können hier auf der Grundlage von Archivquellen ausdifferenziert dargestellt werden. Entlang der drei Formulierungen ›ein Tagebuch bekommen‹, ›ein Tagebuch haben ‹ und ›ein Tagebuch anfangen‹ werden verschiedene Situationen des Zuschreiben-Beginnens gezeigt. Als ein zentraler Aspekt wird dabei betont, dass jene Bücher, in die diaristische Texte eingetragen wurden, seit Beginn des 20. Jahrhunderts Konsumartikel waren. Sie wurden in der industriellen Massenproduktion angefertigt und haben sich als Geschenkgaben speziell für Mädchen etabliert. In dem Zusammenhang wird auch gefragt, in welchem Ausmaß die konkrete Erscheinungsform der mit einem seitlich angebrachten Schloss versperrbaren Tagebücher realiter verbreitet gewesen sein könnte und ob sich hier im Laufe der Jahrzehnte Veränderungen feststellen lassen. Abschließend wird das Thema Geheimnis besprochen. Damit greife ich beispielhaft einen auf die Inhalte von Tagebüchern bezogenen Aspekt heraus, der landläufig vor allem mit Aufzeichnungen von Jugendlichen assoziiert wird. Den Aspekt Geheimnis verstehe ich dabei als eine Funktion bzw. als eine bestimmte Form der Kommunikation. Wie die Quellen zeigen, wurde damit durchaus unterschiedlich umgegangen. Somit kann nicht zuletzt die Vielfalt der möglichen Varianten gezeigt werden, die das diaristische Format haben konnte und haben kann – auch bei Jugendlichen. Wiederum entlang von drei Formulierungen – den ›gelüfteten Geheimnissen‹, den ›kommunikativen Geheimnissen‹ und den ›geteilten Geheimnissen‹ – werden verschiedene Praktiken der Handhabung ›geheimer‹ Tagebuchtexte von einzelnen jungen Schreiberinnen vorgestellt. Diese konnten weit über das Einschließen hinter Schlössern oder in Schubladen hinausgehen. Entsprechend mehrdeutig hat es eine zwölfjährige Schülerin 1956 in 1 Charlotte Bühler (Hg.): Tagebuch eines jungen Mädchens (Quellen und Studien zur Jugendkunde, Bd. 1), Jena 19221, S. IV. 2 Nicole Seifert: Tagebuchschreiben als Praxis, in: Renate Hof und Susanne Rohr (Hg.): Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay, Tübingen 2008, S. 39–60.

»Erwartungshaltungen« an das Genre Tagebuch

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dem titelgebenden Zitat formuliert: »Von nun an wird dieses Buch der Brunnen aller meiner Geheimnisse sein.«3

4.1) »Erwartungshaltungen«4 an das Genre Tagebuch Wahrscheinlich sind Tagebücher – und dabei insbesondere Tagebücher von Jugendlichen – jene Selbstzeugnisse, zu denen die meisten Menschen ganz allgemein spontan konkrete Bilder im Kopf haben. Häufig werden dabei vermutlich Begriffe wie ›Einblick‹, ›Wahrheit‹ oder ›Geheimnis‹ in Verbindung gebracht. Diese populären Assoziationen spiegeln sich beispielsweise in der Verwendung des Wortes ›Tagebuch‹ in den Titeln verschiedener aktueller Fernsehformate wider. Eine erfolgreiche Fantasyserie ist etwa »The Vampire Diaries«.5 Diese wurde vom US-amerikanischen CW Television Network von 2009 bis 2017 in 171 Episoden in acht Staffeln produziert. Die Handlung dreht sich (grob gesagt) um die Verwicklungen einer Jugendlichen mit einer Gruppe von Vampir/innen. Die Serie »X-Diaries – love, sun & fun« wird dem Genre der Scripted-Reality-/ Pseudo-Doku-Sendungen zugeordnet.6 Sie wurde vom deutschen Privatsender RTL 2 von 2010 bis 2015 in 505 Episoden in sechs Staffeln produziert. Darin stellen Lai/innendarsteller/innen erfundene Urlaubsgeschichten von Paaren, Cliquen oder Familien nach. Auch die deutsch-österreichische Arztserie »Doctor’s Diary« trägt den Begriff »Tagebuch« im Titel.7 Sie wurde von den Sendern RTL und ORF von 2008 bis 2011 in 24 Episoden in drei Staffeln gedreht. Das Tagebuchschreiben der Hauptprotagonistin ist ein an den Rändern jeder Folge wiederkehrendes Motiv. Die erwachsene Spitalsärztin hält dabei in einem rosa Heft vornehmlich die neuesten Entwicklungen ihres komplizierten Liebeslebens fest.8 Auch die zentralen Figuren in »The Vampire Diaries« werden als Tagebuchschreiber/innen vorgestellt. In der Pilotfolge der Serie verliert eine von ihnen 3 Ilse Brandt (geb. 1944): Tagebuch, »Ostern 1956«, o. D., Sammlung Frauennachlässe (SFN), NL 106. 4 Renate Hof: Einleitung: Gender und Genre als Ordnungsmuster und Wahrnehmungsmodelle, in: dies. und Rohr: Inszenierte Erfahrung, 2008, S. 7–24, S. 14. 5 imfernsehen GmbH & Co. KG (o. J.): www.fernsehserien.de/vampire-diaries (Alle in diesem Kapitel zitierten Websites und Webressourcen wurden zuletzt aufgerufen am 7. Oktober 2020.) 6 Ebd.: www.fernsehserien.de/x-diaries-love-sun-and-fun. 7 Ebd.: www.fernsehserien.de/doctors-diary-maenner-sind-die-beste-medizin. 8 Dabei spielt der Inhalt des Tagebuchs mitunter auch bei der Beschleunigung der Handlung eine Rolle. In Folge 20 der dritten Staffel (»Oh je! Dein Ex auf Wein, das lass sein!«, 2010) bricht etwa einer der Verehrer der Schreiberin ihren Spind am gemeinsamen Arbeitsplatz auf, um aus ihrem dort abgelegten Tagebuch Klarheit über ihr Verhältnis zueinander zu bekommen. Diesen Regelverstoß bezahlt er mit der Gewissheit, dass sie seinen Widersacher liebt. Serienjunkies.de GmbH & Co. KG (o. J.): www.serienjunkies.de/doctors-diary/3x05-oh-je-dein-exauf-wein-das-lass-sein.html.

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Historische Tagebücher von Mädchen kulturwissenschaftlich gelesen um 2020

ihr Buch auf einem Friedhof – und die Handlung nimmt ihren Lauf.9 In diesen beiden Serien wurde das auto/biografische Schreiben also auch in die Handlung eingebaut, um sie voranzutreiben. In der Pseudo-Doku-Sendung »X-Diaries – love, sun & fun« spielen Tagebücher aber keine Rolle. Dass der Begriff dennoch in den Titel übernommen wurde, liegt vermutlich an der Idee, er würde dann besonders persönliche oder sogar verfängliche Informationen über die Akteur/innen versprechen – und dadurch besonders neugierig machen. Ähnliche Vorannahmen werden häufig auch real verfassten Tagebüchern von Jugendlichen entgegengebracht. Die Literaturwissenschafterin Nicole Seifert formuliert das folgendermaßen: »Das Wort Tagebuch ist im allgemeinen Verständnis nahezu ein Synonym für Geheimnis. Die Vorstellung, dass Tagebücher von ihren Besitzern versteckt oder verschlossen gehalten werden, gehört genauso selbstverständlich zu diesem Genre wie die Annahme, dass der Autor hier nur für sich selbst schreibt.«10 Mit solchen »Erwartungshaltungen« wurde und wird die Quelle Tagebuch schließlich auch im Rahmen wissenschaftlicher Auswertungen vielfach konfrontiert, wobei insbesondere dem Tagebuchschreiben von jugendlichen Mädchen mit solchen hartnäckigen Vorurteilen begegnet wird. Diese Richtung ist dabei nicht neu in der Forschungsliteratur. Sie geht zurück auf die Auslegungen der jugendpsychologischen Arbeiten von Charlotte Bühler. Sie hat sich in der Zwischenkriegszeit gemeinsam mit einem Forschungsteam ausführlich mit Tagebüchern beschäftigt. Nach meinem Dafürhalten hatte und hat insbesondere die ( jugendpsychologisch ausgerichtete) Interpretation des Tagebuchschreibens von Bühler einen nachhaltigen Einfluss auf alle anderen Wissenschaftsrichtungen – auch auf die Literatur- und die Geschichtswissenschaften.11 Den Grund, warum junge Menschen solche Aufzeichnungen führen würden, sah die Psychologin hauptsächlich in ›allgemeinen‹ »seelischen Pubertätser-

9 Der Titel der Folge heißt »Liebes Tagebuch«. Vgl. dazu die Angaben auf der Website der »Fandom TV Community« der Serie mit dem Titel »Vampire Diaries Wiki« (o. J.), http://de. vampirediaries.wikia.com/wi-ki/Liebes_Tagebuch. 10 Nicole Seifert: Von Tagebüchern und Trugbildern. Die autobiographischen Aufzeichnungen von Katherine Mansfield, Virginia Woolf und Sylvia Plath, Berlin 2008, S. 64 (→ Abschnitt 3.1). 11 So fasste es etwa Helmut Gold, der Direktor des Museums für Kommunikation Frankfurt, zusammen: »Die gängigen Vorstellungen von Tagebuch und Weblog sind nämlich oft – selbst in der wissenschaftlichen Diskussion – verengt und damit auch trügerisch. Es gibt weit mehr Spielarten, Typen und Zwischenformen von Tagebüchern als das Journal intime des 19. Jahrhunderts und die in dieser Tradition verfassten Selbstbekenntnisse vor allem (weiblicher) Jugendlicher.« Diarist/innen verfolgen mitunter also Spielarten und verschiedene Typen, es sei denn, sie sind »weibliche Jugendliche«. Helmut Gold: Vorwort, in: ders., Christiane Holm, Eva Bös und Tine Nowak (Hg.): @bsolut privat!? Vom Tagebuch zum Weblog, Heidelberg 2008, S. 6–7, S. 6.

»Erwartungshaltungen« an das Genre Tagebuch

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scheinungen« einer »Ergänzungsbedürftigkeit« (→ Abschnitt 2.6).12 Ihrer Definition nach war der Anlass oder Zweck, warum Jugendliche diaristische Aufzeichnungen führen würden, »meist der einfache Trieb, sich irgendwie über Dinge, die mit seinem Leben zusammenhängen, auszusprechen.« Ein junger Mensch würde sich in seinem Tagebuch mit »Dinge[n] beschäftigen, mit denen er allein sein will oder muß«. Entsprechend widmeten sich Jugendliche in ihren diaristischen Texten nach Ansicht der Psychologin zumeist »Fragen die sich der Aussprache [mit anderen Menschen] mehr oder minder verwehren«.13 Dieser Lesart zufolge bestanden Tagebücher von Jugendlichen also insbesondere aus verschriftlichten Geheimnissen. Mit Sicherheit haben junge Diarist/innen tatsächlich verborgenste Gedanken in ihre Tagebücher eingetragen oder darin von Ereignissen berichtet, die keine andere Person wissen sollte. Und so kann die von Charlotte Bühler verwendete Formulierung, das Tagebuch sei eine Möglichkeit, sich ›auszusprechen‹, auch wortwörtlich in Archivquellen aus den historisch ausgerichteten Sammlungen gefunden werden. Die 21-jährige Augusta Carolina Holzleitner aus Enns in Oberösterreich hielt das im Jänner 1898 folgendermaßen fest: »Ich bin so froh daß ich dieses Büchlein hab, wenn ich jemanden meine Gedanken mittheilen kann dann fühl ich mich wohl. Es ist mir als ob ich an der Seite einer lieben Freundin säße und ihr meine Erlebnisse erzählte«.14 An anderer Stelle sprach die junge Frau ihr Tagebuch direkt an: »Empfehle mich schön meine kleine Vertraute!« Allgemein waren und sind diaristische Aufzeichnungen – auch von Jugendlichen – aber zumeist sehr abwechslungsreich gestaltet. ›Das Tagebuch‹ gibt es nicht. Die Vielfältigkeit dieses auto/biografischen Genres ist in der Forschung inzwischen umfassend dokumentiert worden.15 Sie kann bereits die Form ihrer Textgestaltung betreffen, die von Fließtexten in Prosaform mit einem lyrischen

12 Charlotte Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen. Versuch einer Analyse und Theorie der psychischen Pubertät, Jena 1923², S. VII. 13 Charlotte Bühler: Die Bedeutung des Tagebuchs für die Jugendpsychologie, in: dies. (Hg.): Zwei Knabentagebücher (Quellen und Studien zur Jugendkunde, Bd. 3), Jena 1925, S. V–XIV, S. VIIIf. 14 Augusta Carolina Holzleitner (geb. 1877): Tagebuch, Jänner 1898, ohne Tagesdatierung, SFN, NL 97. Die Schreiberinnen der Tagebücher, die in Sammlungen recherchiert werden konnten, werden in diesem Kapitel mit jenen Nachnamen genannt, mit dem sie die zitierten Jugendtagebücher geführt haben. 15 Dazu u. a. Christiane Holm: Montag Ich. Dienstag Ich. Mittwoch Ich. Versuch einer Phänomenologie des Diaristischen, in: Gold, Holm, Bös und Nowak (Hg.): @bsolut privat!?, 2008, S. 10–50; Li Gerhalter: »Einmal ein ganz ordentliches Tagebuch«? Formen, Inhalte und Materialitäten diaristischer Aufzeichnungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Janosch Steuwer und Rüdiger Graf (Hg.): Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2015, S. 64– 85.

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Grundton bis hin zu Stichwörtern in Kalendern reichen kann.16 Aber auch die dokumentierten Inhalte variieren stark. Es kann das selbstkritische ›Gespräch‹ mit der »lieben Freundin« sein, oft handelt es sich aber auch nur um ganz alltägliche Themen, die wie protokollartig immer wieder notiert worden sind. Dabei kommen wiederkehrende Berichte über das Wetter ebenso vor wie die Buchhaltung der besuchten Theater- und Filmaufführungen.17 Und neben ausführlichen Erörterungen der gelesenen Literatur und des schulischen Lernstoffes werden ganze Gespräche in direkter Rede wiedergegeben etc. Andere Aufzeichnungen enthalten wiederum fantastische Zukunftsvorstellungen oder Erinnerungen an vergangene Ereignisse etc. Das Führen eines Tagebuchs konnte aber profan auch einfach als Schreibübung verstanden werden, wie es die Literaturwissenschafterin Angelika Linke für die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts dargestellt hat.18 Die großbürgerlich situierte 15-jährige Wienerin Marietta van der Nüll drückte das 1883 selbst so aus: »Endlich fange ich ein Tagebuch an, was ich mir schon lange vorgenommen habe; theils um mich im Aufsatze zu üben, theils um später zu wissen, was ich in meiner Jugend alles getrieben und erlebt habe.«19 Dass Jugendliche zu Beginn ihrer Schreibprojekte den Zweck darlegten, wozu sie von nun an dieses Tagebuch führen wollten, lässt sich sehr häufig beobachten.20 Die Pläne, die sie dabei im Kopf hatten, konnten recht allumfassend sein. Entsprechend erklärte Fanny Röhl im April 1920: »Heute will ich mein Tagebuch einweihen. Vorgestern, zu meinem 16. Geburtstag habe ich es von Mutti geschenkt bekommen. Alles, was mich bewegt und was ich so erlebe, will ich ihm

16 Die Wienerin Rudolfine Gandlmayr (persönliche Daten unbekannt) hat ihrerseits die außergewöhnliche Form eines gezeichneten Tagebuchs gewählt. Li Gerhalter und Jens Wietschorke: Aus dem Bleistiftgebiet. Das gezeichnete Tagebuch von Rudolfine Gandlmayr aus den Jahren 1909–1943, in: Susanne Blumesberger, Christine Kanzler und Karin Nusko (Hg.): Mehr als nur Lebensgeschichten. 15 Jahre biografiA. Eine Festschrift für Ilse Korotin, Wien 2014, S. 134–152. 17 Li Gerhalter: »Es war eine Spitzenleistung. Und die anderen gaben auch ihr Bestes.« Kunstgenuss in diaristischen Aufzeichnungen und Theaterbüchern seit dem späten 19. Jahrhundert, in: Theresa Adamski, Doreen Blake, Veronika Duma, Veronika Helfert, Michaela Neuwirth, Tim Rütten und Waltraud Schütz (Hg.): Geschlechtergeschichten vom Genuss. Zum 60. Geburtstag von Gabriella Hauch, Wien 2019, S. 90–103. 18 Angelika Linke: Sprachkultur und Bürgertum. Zur Mentalitätsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Stuttgart/Weimar 1996, S. 267–270. Zuletzt dazu auch Carola Groppe: Im deutschen Kaiserreich. Eine Bildungsgeschichte des Bürgertums 1871–1918, Wien/Köln/Weimar 2018. 19 Marietta van der Nüll (geb. 1868): Tagebuch, 1. April 1883, Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA), Bestand »Nachlässe und private Sammlungen«, Signatur 3.5.96.A1.1.6. 20 Zu den zu Beginn in Tagebüchern formulierten Vorsätzen und Widmungen siehe auch Siegfried Bernfeld: Trieb und Tradition im Jugendalter. Kulturpsychologische Studien an Tagebüchern, Leipzig 1931, in: Ulrich Herrmann (Hg.): Siegfried Bernfeld. Trieb und Tradition im Jugendalter (Sämtliche Werke, Bd. 7), Gießen 2015, S. 3–216, S. 13–23, S. 15f.

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anvertrauen.«21 Die Berliner Gymnasiastin nahm sich also nichts weniger vor, als von nun an alles für sie Relevante diaristisch festzuhalten. Vorausblickend fügte sie noch hinzu: »Hoffentlich brauch ich nur Frohes und Schönes einzutragen.« Hedwig Peter, eine Gymnasiastin aus Niederösterreich, hatte an ihr Schreibprojekt zu Anfang der 1960er-Jahre noch weit umfassendere Absichten geknüpft gehabt. Nach etwas mehr als einem Jahr stellte sie dazu fest: »Wie ich dieses Tagebuch anfing, dachte ich, ich werde nun mein Leben ganz ändern. Mit dem neuen Schuljahr wollte ich neu beginnen.« Offenbar war dieser Plan nicht umgesetzt worden und die 14-Jährige modifizierte das Konzept: »Nun will ich versuchen, zu schreiben, was ich erlebte und darüber denke.«22 Die Tagebücher von Marietta van der Nüll, Fanny Röhl und Hedwig Peter belegen verschiedene Schreibpraktiken jugendlicher Diaristinnen über einen Zeitraum von mehr als 80 Jahren. Jede von ihnen formulierte dabei selbst die Funktionen ihrer Aufzeichnungen, die von Schreibübungen über Erinnern, Selbstdokumentation bis hin zu Selbsterziehung reichen konnten. Diese verschiedenen Absichten konnten möglicherweise parallel in ein und demselben Buch verfolgt werden – und gegebenenfalls wurden sie revidiert. Vielfach war das Beginnen auch an konkrete Anlässe und Motivationen geknüpft. Einige davon werden im Folgenden dargestellt.

4.2) Anlässe und Motivationen zum Tagebuchschreiben Wie kam es also dazu, dass Jugendliche ihre Gedanken, die sie womöglich mit keiner anderen Person teilen wollten, ausgerechnet schriftlich ausdrückten? Etwas »aufzuschreiben, was niemand wissen soll«, es auf Papier festzuhalten – und damit erst recht wieder für andere auffindbar und nachlesbar zu machen, ist ja »im Grunde paradox«, um mit Nicole Seifert zu sprechen.23 Charlotte Bühlers Erklärungen für dieses Paradoxon waren psychologisch ausgerichtet – was ja ihrer fachlichen Profession entsprach. Historisch gesehen sind ihre Auslegungen als zeitgenössische Resultate ihrer Forschungsdisziplin zu verorten und entsprechend wissenschaftsgeschichtlich einzuordnen. In historisch-kulturwissenschaftlichen Analysen stehen aber die kulturellen, sozialen, politischen etc. Hintergründe und Kontexte auto/biografischer Praktiken zur Diskussion. Einen 21 Fanny Röhl (Pseudonym, geb. 1904): Tagebuch, 16. April 1920, Archiv der Fachbibliothek Psychologie der Universität Wien (ABP), Signatur M 88 (→ Abschnitt 2.9). 22 Hedwig Peter (Pseudonym, geb. 1947): Tagebuch, 27. November 1961, SFN, NL 117 III. Dazu auch Magdalena Perkonigg: Privatleben, Beruf und Religiosität im Leben und den Zukunftsplänen junger Frauen in Tagebüchern im Umbruch der 1950er und 1960er Jahre, Diplomarbeit, Wien 2017. 23 Seifert: Von Tagebüchern und Trugbildern, 2008, S. 66.

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(auch) kulturwissenschaftlichen Zugang zum ›Phänomen Tagebuchschreiben‹ wählte bereits in der Zwischenkriegszeit der ebenfalls schon ausführlich vorgestellte Siegfried Bernfeld (→ Abschnitt 2.6). Um es noch einmal kurz zusammenzufassen: Bernfeld sah im Tagebuchschreiben eine »Norm«, »Tradition« oder einen »literarischen Brauch«,24 den die Jugendlichen auch deshalb ausübten, weil es ›Mode‹ war. Dieses Bündel an Motivationen fasste er unter dem Begriff der »Nachahmung« zusammen.25 Siegfried Bernfelds Einschätzungen davon, was der psychologische Zweck bzw. die psychologischen Funktionen sein könnten, die das Tagebuchschreiben für Jugendliche hat, unterschieden sich nicht von den Ergebnissen von Charlotte Bühler. Für ihn war aber weiterführend auch die Frage relevant, wie die Jugendlichen »zur Kenntnis dieser Normen und des Brauches überhaupt gelangt« waren.26 Während Bühler das diaristische Schreiben essentialistisch als bestimmtes ›Bedürfnis‹ definierte, kamen nach Bernfelds Auslegung Motivationen von außen dazu. Dabei konnten hier gleich mehrere Seiten Einfluss nehmen. Das konnten 1) Erziehungsberechtigte oder Personen aus dem Umfeld der Jugendlichen ebenso sein wie 2) literarische Vorbilder und 3) die kommerzielle Werbung.27 Diese Aspekte erscheinen auch knapp 90 Jahre nach ihrer ersten Veröffentlichung noch plausibel. Sie werden im Folgenden durch Zitate aus Beständen verschiedener Sammlungen und Archive in Österreich und Deutschland sowie einzelnen veröffentlichten Quellen abgestützt, ausdifferenziert und in Verbindung mit der aktuellen Forschungsliteratur gebracht. Dabei werden teilweise auch längere Tagebuchzitate gebracht, womit nicht zuletzt ein Eindruck vermittelt werden kann, auf welche Weisen die jungen Schreiberinnen sich ausgedrückt haben. Zuvor werden aber noch kurz andere Formen von Selbstzeugnissen vorgestellt, die Kinder und Jugendliche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts häufig verfasst haben. Damit soll deutlich gemacht werden, dass das Führen von Tagebüchern keine isolierte Praktik war, die aus einem ›naturgegebenen Bedürfnis‹ heraus im Geheimen durchgeführt wurde. Es fand im Kontext einer Vielzahl anderer Schreibpraktiken statt, die alle eine Rolle dabei spielten, wie (zukünftige) Diarist/innen es erlernt und eingeübt haben, sowohl persönliche als auch bilanzierende Themen überhaupt aufzugreifen und aufzuschreiben.

24 25 26 27

Bernfeld: Trieb und Tradition im Jugendalter, 1931 (2015), S. 8. Ebd.: S. 145. Ebd.: S. 8. Ebd.: S. 146–148.

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Verschiedene Formen des auto/biografischen Schreibens von Kindern und Jugendlichen Ein zentrales Medium, sich schriftlich auszudrücken, waren Korrespondenzen. Damit wurden einerseits klarerweise Informationen ausgetauscht. Andererseits war das Anfertigen von ›guten‹ Briefen für junge Schreiber/innen auch ein Mittel zu demonstrieren, dass sie die von ihnen erwarteten gesellschaftlichen Rollen erfüllten.28 So war es für Kinder aus dem Bürger/innentum bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein üblich, zu Neujahr ›schöne‹ Briefe an ihre Eltern zu verfassen. Sich hier ›korrekt‹ ausdrücken zu können, wurde als »Geschenk« an die Mutter und an den Vater gewertet.29 Ähnliches galt für die Zeit der Sommerfrische, wo etwa regelmäßig an den Vater zu schreiben war, wenn er sich wochentags in der Stadt aufhielt. Das machte auch der 15-jährige Wiener Friedrich Lienhart im Juni 1890, der artig alles meldete: »Ich nehme daher Feder, Tinte und Papier, um dir zu berichten, was wir seit dem letzten Montag gemacht haben.«30 Dass es dabei eher um das Schreiben gehen konnte als um den Inhalt, zeigt die Mitteilung auf einer Urlaubspostkarte von Harald Fiedler an seinen Onkel aus der Mitte der 1920er-Jahre: »Ich kann Dir leider nichts schreiben da ich leider nichts erlebe«, stellte der Jugendliche gelangweilt fest, und brachte es dennoch auf den Postweg.31 Das Korrespondieren war ein Fixpunkt im Tagesund Wochenablauf in den Ferien, so wie das Spazierengehen oder der Kirchenoder Tempelbesuch, der Sportunterricht, die Handarbeit, das Naturerlebnis – und das Tagebuchschreiben. Ein zweiter Ausdruck bürgerlicher Selbstdokumentation um 1900 war es, die besuchten Theater- und Opernaufführungen zu verzeichnen (und später auch die Kinofilme), wofür es eigens vorgedruckte Alben zu kaufen gab. Solche Theaterbücher sind von Lilli Wehle erhalten.32 Sie ist im großbürgerlichen Umfeld einer Wiener Fabrikant/innenfamilie aufgewachsenen, ihre Eltern waren passionierte Theaterbesucher/innen.33 Die Einträge im Verzeichnis der Tochter 28 Siehe dazu u. a. Christa Hämmerle und Edith Saurer: Frauenbriefe – Männerbriefe? Überlegungen zu einer Briefgeschichte jenseits von Geschlechterdichotomien, in: dies. (Hg.): Briefkulturen und ihr Geschlecht. Zur Geschichte der privaten Korrespondenz vom 16. Jahrhundert bis heute, Wien/Köln/Weimar 2003, S. 7–32. 29 Linke: Sprachkultur und Bürgertum, S. 291–316, S. 299 (Kapitel »Sprachkultur und bürgerliche Kinderstube«). 30 Friedrich Lienhart (geb. 1875): Brief, Juni 1890, o. T., SFN, NL 16 III. Dazu auch Alexandra Rabensteiner: »Wunderhübsch ist’s – reizend – wo soll ich beginnen?« Sommerfrische – Wiener Kindheitserinnerungen um 1900, in: Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.): Sommer_frische. Bilder. Orte. Praktiken, Wien 2014, S. 87–113. 31 Harald Fiedler (geb. 1911): Postkarte, o. D. (Mitte der 1920er-Jahre), SFN, NL 271 V. 32 Lilli Wehle (geb. 1894): Theater- und Opernbuch, 1899–1907, SFN, NL 21 II. 33 Dazu Gerhalter: »Es war eine Spitzenleistung. Und die anderen gaben auch ihr Bestes«, 2019, S. 93.

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beginnen 1899, als sie erst fünf Jahre alt war. Die verschiedenen Handschriften lassen vermuten, dass sie zuerst von ihren Eltern oder der Kinderfrau verfasst wurden. Lilli Wehles eigene Schrift ist parallel dazu ab 1904 zu erkennen. Sie hat also eine von ihrem sozialen Umfeld vorgelebte Praxis übernommen und weitergeführt. Ihre Aufzeichnungen enden aber schon 1907. Lilli Wehles Mutter Emilie Wehle hat ihr Theaterbuch währenddessen bis 1935 geführt. In dieser Anekdote ist der zentrale Hinweis enthalten, dass das Ausüben auto/biografischer Konventionen einerseits übernommen wird. Andererseits kann sie aber auch abgelehnt oder wieder beendet werden. Ein drittes häufig auch von bürgerlichen Kindern und Jugendlichen festgehaltenes Thema waren Reisen und Urlaubsaufenthalte. Von den Schwestern Ilse und Marie Heller aus Teplitz-Schönau/Teplice im damaligen Böhmen ist aus den 1890er-Jahren ein Büchlein mit dem Titel »Unsere Badereise« erhalten. Darin beschrieben die zwei Volksschülerin tagebuchartig ihre Ferien im mondänen Urlaubsort Ostende in Belgien. Die detaillierten Schilderungen sind dabei als vierzeilige Reime gestaltet: »Der Leierkasten spielte wie voriges Jahr | Wir tanzten, wo die große Versammlung war | Wir nahmen hier keine Stunden im Tanzen | Sondern hatten völlige Vakanzen. | Affenmänner [vermutlich Schausteller mit dressierten Tieren, L. G.] stellten sich ein | Ein Vogelmann zeigte die Vögelein | Da gab’s Blumencorso und Kinderball | Letzterer fand statt in einem großen Saal.«34 Das Dichten und Schönschreiben der insgesamt 58 Verse hat den beiden Mädchen sicherlich viel Zeit gekostet – vermutlich wurde das Ergebnis dann auch einem entsprechenden Publikum vorgetragen. Aufzeichnungen über persönliche Erlebnisse zu führen bzw. diese in beschriebener Form zu ›ordnen‹, war also Teil der bildungsbürgerlichen Konventionen im Fin de Siècle. Die drei Beispiele stehen stellvertretend für die verschiedenen möglichen Formate des auto-/biografischen Schreibens von Kindern und Jugendlichen. Fritz Giese (vermutlich 1890–1935) und Siegfried Bernfeld haben dafür den (nach heutiger Lesart etwas irreführenden) zeitgenössischen Überbegriff der »gänzlich freien jugendlichen Dichtungen« verwendet (→ Abschnitte 2.2 und 2.6).35 Das ›geheime Tagebuch‹ war jedenfalls eines dieser Formate, wenn auch das wahrscheinlich am meisten beachtete. Auf welche Weisen wurde diese Form angelernt und eingeübt?

34 Marie Heller (geb. 1886): Reisetagebuch, 1890er-Jahre, o. D., SFN, NL 120 [die Trennstriche im Zitat wurden zur besseren Lesbarkeit eingefügt]. Zur Übergabegeschichte dieser Aufzeichnungen durch die Nachfahrin Barbara Reisner siehe → Abschnitt 3.4. 35 Fritz Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, Leipzig 1914.

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Angeleitetes Tagebuchschreiben: Vorgaben von den Eltern und der Schule Siegfried Bernfeld schrieb den Eltern der Diarist/innen eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Schreibens von Tagebüchern zu. Einen noch größeren Einfluss sah er aber in der Schule. Hier sprach er sogar von einem »Zwang«. Um seine Behauptung zu belegen, zitierte er 28 Beispiele von Tagebüchern, die zwischen 1774 und 1920 als Editionen veröffentlicht worden waren.36 Auch der französische Literaturwissenschafter Philippe Lejeune dokumentierte angeleitetes Schreiben. Die Ergebnisse seiner Studien zu veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen von französischen Mädchen aus dem 19. Jahrhundert wurden in der historischen Jugendtagebuchforschung insgesamt als richtungsweisende rezipiert.37 In den von mir recherchierten Sammlungs- und Archivbeständen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fanden sich bisher keine konkreten Hinwiese auf einen direkt ausgeübten Druck auf die Jugendlichen, schreiben zu müssen. (Das gilt zumindest für demokratische Gesellschaften.) Ein Beispiel aus der Edition des deutschen Psychologen Fritz Giese von 1914 ist stattdessen der Beleg dafür, dass jungen Schreiber/innen als Vorbilder mitunter die Aufzeichnungen ihrer Eltern imitiert haben. Die namentlich nicht ausgewiesene elfjährige Schreiberin »Probe Nr. 486« schilderte diese Situation als nicht ganz frei von Friktionen: »Mama hat auch als junges Mädchen [ein Tagebuch] geführt und hat es mir gezeigt. Mir gefällt’s zwar nicht, aber sie sagt, es wäre sehr schön. Es hat goldumrandete, fest eingebundene Blätter, das mag ich nicht, dann kann ich nicht schreiben. Und so sauber sieht Mamas Buch aus so sauber wie Mama überhaupt. Das kann ich auch nicht.«38 Sowohl die Mutter als auch die Tochter beschäftigten sich offenbar noch zwei Jahre später mit der Frage, wie denn das Tagebuch des Mädchens nun zu führen sei: »So wie Mama sagt, kann ich doch nicht schreiben. Es geht nicht, ich kann nicht schreiben, was ich erlebe. Ich muß immer schreiben, was ich denke.«39 Zwar finden sich in den Einträgen keine unmittelbaren Verweise darauf, dass die Mutter sie kontrolliert oder gelesen hätte. Dass die junge Schreiberin deren Vorstellungen anspricht, lässt aber darauf schließen, dass der Inhalt und die Form der Aufzeichnungen zumindest besprochen worden sein dürften und dass von der Mutter hier auch klare Vorgaben formuliert worden waren. Das Tagebuchschreiben war in diesem Fall ein intergenerationell angelegtes Projekt mit eindeutiger Rollenverteilung. 36 Bernfeld: Trieb und Tradtion im Jugendalter, 1931 (2015), S. 148–150. 37 Vgl. u. a. Philippe Lejeune: »Liebes Tagebuch«. Zur Theorie und Praxis des Journals, München 2014. Dieser von dem Literaturwissenschafter Lutz Hagestedt herausgegebene Sammelband enthält zahlreiche Beiträge von Philippe Lejeune als deutsche Erstübersetzungen. 38 Unbekannte Schreiberin/»Probe Nr. 486« (»11 bis 12 Jahre«): Tagebuch, o. D., zitiert nach Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, Bd. 2, 1914, S. 224. 39 Ebd. S. 225.

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Der Einfluss der Schule auf das diaristische Schreiben von Kindern und Jugendlichen im 20. Jahrhundert ist eine derzeit noch relativ offene Fragestellung. In den Beständen des Kempowski-Biografienarchivs in der Akademie der Künste in Berlin sowie der Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien konnte ich zwei Quellen recherchieren, die ein angeleitetes Schreiben direkt belegen. Von der deutschen Bürgerschülerin Fanny W. liegt ein Schulheft vor, das sie zwischen 1913 und 1917 geführt hat. Der Titel »Tagebuch« ist darauf sogar aufgedruckt – es war also ein Produkt aus dem Papierhandel.40 Darin enthalten sind Aufsätze zu Themen wie u. a. »Unsere Turnstunde«, »Was mich freut«, »Der erste Schnee« oder »Das höfliche Kind«. Auch von der damals zehnjährigen Klara Wieser aus Bozen/Bolzano in Südtirol ist ein Schulheft erhalten, das sie im Jahr 1934 verwendet hat. Am Deckblatt vermerkt ist handschriftlich der Titel »Diario«.41 Eingetragen sind darin die Nacherzählungen von verschiedenen Erlebnissen. Diese wurden offenbar als Hausaufgabe in italienischer Sprache verfasst. Die Lehrerin hat sie auf Rechtschreibfehler hin ausgebessert. Das Heft diente also gleichermaßen der Übung in der italienischen Grammatik wie auch im Aufsatz- und im Tagebuchschreiben. Die Aufzeichnungen von Klara Wieser aus Italien und Fanny W. aus Deutschland können als Mischform interpretiert werden, die zwischen auto/biografischen Texten und Schulaufsätzen changiert.42 Die – von den Schulen jeweils vorgegebene – Be40 Fanny W. (persönliche Daten unbekannt): Schulheft/Tagebuch (1913–1917), KempowskiBiografienarchiv in der Akademie der Künste (WKBA), Berlin, Signatur 5514. 41 Klara Wieser (geb. 1924): Schulheft/Tagebuch (1934), SFN, NL 114. 42 Schulaufsätze wurden bisher in der Geschichtsforschung als Quelle nicht bevorzugt behandelt (→ Abschnitt 2.7). Einzelne Auswertungen finden sich u. a. in Heinz Abels, Heinz-Hermann Krüger und Hartmut Rohrmann: »Jugend im Erziehungsfeld«. Schüleraufsätze aus den fünfziger Jahren im Roeßler-Archiv, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, Jg. 2, 1989, Heft 1, S. 139–150; Christina Benninghaus: Die anderen Jugendlichen: Arbeitermädchen in der Weimarer Republik, Frankfurt am Main/New York 1999; Annett Gröschner (Hg.): »Ich schlug meiner Mutter die brennenden Funken ab«. Berliner Schulaufsätze aus dem Jahr 1946, Reinbek bei Hamburg 2001; Christina Benninghaus: In Their Own Words: Girls’ Representations of Growing Up in Germany in the 1920s, in: Mary Jo Maynes, Birgitte Søland und Christina Benninghaus (Hg.): Secret Gardens, Satanic Mills. Placing Girls in European History, 1750–1960, Bloomington 2004, S. 178–192; Martin Lücke: Aufsätze männlicher Fürsorgezöglinge aus der Weimarer Republik. Eine Einführung, in: Werkstatt Alltagsgeschichte (Hg.): Du Mörder meiner Jugend. Edition von Aufsätzen männlicher Fürsorgezöglinge aus der Weimarer Republik, Münster/u. a. 2011, S. 11–16; Benjamin Möckel: »Die Bewährung der jungen Generation«. Geschlechterbilder in Jugendtagebüchern des Zweiten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit, in: Li Gerhalter und Christa Hämmerle (Hg.): Krieg – Politik – Schreiben. Tagebücher von Frauen (1918– 1950), Wien/Köln/Weimar 2015, S. 87–107; Peter-Paul Bänziger: Work. Producing Emotional Attachments to the Workplace in Post-World War II West-German Vocational Schools, in: Anne Schmidt und Christoph Conrad (Hg.): Bodies and Affects in Market Societies, Tübingen 2016, S. 41–57; Katja Kosubek: »genauso konsequent sozialistisch wie national!« Die Alten Kämpferinnen der NSDAP vor 1933, Göttingen 2017.

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zeichnung klassifizierten sie aber als »Tagebuch« bzw. »Diario«, was sich möglicherweise auch in der (Eigen-)Wahrnehmung der Schreiberinnen manifestiert haben konnte. Während der beiden Weltkriege wurden in den Schulen auto/biografische Aufzeichnungen für propagandistische Zwecke eingesetzt.43 Sowohl aus dem Ersten als auch aus dem Zweiten Weltkrieg liegen verschiedene diaristische Formen vor, in denen Kinder regelmäßig die Fortgänge an den Fronten festgehalten haben. Die Gastwirtstochter Anna Hörmann aus Graz hat in ihrem von Oktober 1916 bis November 1917 vorliegenden Tagebuch zahlreiche solcher Berichte eingeschrieben. Dass das von der Schule angeleitet worden ist, liegt nahe.44 Wie das Beispiel der veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen von Jo Mihaly (Elfriede Alice Kuhr, geb. 1902) zeigt, konnte der Anstoß, politische Ereignisse im Tagebuch zu dokumentieren, auch von den Eltern gekommen sein.45 Aus dem Zweiten Weltkrieg liegen in der Sammlung Frauennachlässe drei Alben vor, in die verschiedene Jugendliche (ausschließlich) Zeitungsausschnitte mit Erfolgsberichten von den Kriegsfronten eingeklebt haben. Diese wurden mit handschriftlich verfassten Datumsangaben und teilweise mit schön gestalteten Überschriften versehen.46 Eines der drei Alben trägt den Titel »Kriegstagebuch Eva Koller. 1. Jahrgang. Hauswirtschaft«. Damit kann dieses spezielle Format klar im schulischen Kontext verortet werden. Ein spezieller Schultyp ist dabei nicht zu identifizieren. In autoritären Regimen wie im Faschismus in Italien oder im Nationalsozialismus in Österreich und Deutschland wurde das diaristische Schreiben also systematisch als Instrument zur politischen Bewusstseinsbildung von Jugendlichen verstanden. Aber auch hier dürften die Formen vielfältig gewesen sein. 43 Katja Kosubek: Die Mobilmachung der Kinder – Kriegskindheit 1914 – 1918 in Halle/Westfalen, in: LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte und LWL-Museumsamt für Westfalen (Hg.): Zeugnisse von der »Heimatfront« – Westfalen 1914 bis 1918, Münster 2016, S. 185–194. 44 Anna Hörmann (geb. 1903): Tagebuch, SFN, NL 53. Dazu Petra Putz: »Die heldenmutigen Truppen kämpfen siegreich an allen Fronten …« Die Wirkung der Propaganda im Ersten Weltkrieg am Beispiel des Mädchentagebuchs von Anna H. (1916/17), Diplomarbeit, Wien 2008. Ausgewählte Tagebucheinträge von Anna Hörmann wurden in der Online-Edition der Sammlung Frauennachlässe veröffentlicht: Der Erste Weltkrieg in Nachlässen von Frauen (2014–2019), online verfügbar unter: www.univie.ac.at/Geschichte/salon21/?p=24266. 45 Wie das Beispiel aber auch zeigt, konnten die jungen Schreiber/innen die Vorgaben schließlich ausweiten und die Inhalte sich ändern. Jo Mihaly: … da gibt’s ein Wiedersehn! Kriegstagebuch eines Mädchens 1914–1918, Freiburg im Breisgau 19811. Dazu u. a. Christa Hämmerle: Ein Ort für Geheimnisse? Jugendtagebücher im 19. und 20. Jahrhundert, in: Peter Eigner, Christa Hämmerle und Günter Müller (Hg.): Briefe – Tagebücher – Autobiographien. Studien und Quellen für den Unterricht, Innsbruck/Wien/Bozen 2006, S. 28–45, S. 42–43. 46 Herta Kvasznicza (geb. 1928): Album von September 1939 bis September 1944, SFN, NL 217 II; Eva Koller (geb. 1926): Album von April 1940 bis Oktober 1942, SFN, NL 269; Alfred N. (persönliche Daten unbekannt): Album von April 1941 bis Mai 1942, SFN, NL 84 V.

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Neben den Alben mit propagandistischen Zeitungsausschnitten finden sich auch ›frei‹ geführte Tagebücher mit ausführlichen persönlichen Schilderungen. Ein solches ist von der Schülerin Marianne R. aus dem Schwarzwald erhalten. Sie hat ebenfalls ein Schulheft mit dem Titel »Tagebuch« versehen. Der Inhalt sind Berichte über die politischen Ereignisse im Spätsommer 1939. Ende August schilderte sie den Durchzug deutscher Truppen auf dem Weg »in das deutsche Gebiet«, wo sie bald »einmarschieren« würden. »Diese Nachricht löst natürlich eine große Begeisterung aus, denn der Führer war noch niemals bei uns gewesen. Wir wurden sofort von unserem Lehrer heimgeschickt und mußten die Uniform anziehen. Hernach bekam jeder zwei Hackenkreuzfähnchen und dann gings geschlossen an die Rehauer Straße. Hier bildeten wir ein Spalier. Gespannt wartete die Einwohnerschaft auf die Ankunft des Führers. Jedes Militärauto oder Motorrad wurde von uns begeistert begrüßt. So vergeht die Zeit etwas schneller. Endlich um ½ 11 Uhr fährt der Führer von Hof kommend hier durch. Jubelnde Begeisterung schallt unserem Führer entgegen. Er sitzt ernst in seinem Wagen u. hebt die Hand zum Gruß. Wir brüllen was wir brüllen können. Doch der Führer ist zu schnell gefahren und schon ist er wieder verschwunden. Ich trage den Anblick jetzt noch in meinem Herzen. In den meisten Orten unseres Gaues Bayerische Ostmark erlebte er einen Empfang, der ganz begeistert war. In Eger wurde er empfangen, wie es nur einmalig in der Geschichte dasteht und nur mit Linz zu vergleichen ist.«47 Das Mädchen berichtete hier von persönlichen Erlebnissen, die sie um Informationen erweiterte, die sie offenbar aus den Medien wusste. In den folgenden Tagen übertrug sie auch Informationen zum Tagesablauf des »Führers« und sammelte zudem Zeitungsausschnitte in dem Heft. Dieser auto/biografische Beleg politischer Radikalisierung befindet sich heute als Geschichtsquelle im Bestand des Deutschen Historischen Museums in Berlin. Die gesellschaftspolitischen Maßnahmen gingen im Zweiten Weltkrieg aber bekanntlich über die Schule hinaus. Die Kinder der ›Mehrheitsgesellschaft‹ wurden auch in ihrer Freizeit organisiert und indoktriniert. Der Historiker Janosch Steuwer hat dazu eine umfangreiche Analyse von Tagebuchaufzeichnungen vorgelegt, die in nationalsozialistischen Schulungslagern verfasst worden sind.48 Veronika Siegmund hat in ihrer Masterarbeit eine Fallstudie zu Aufzeichnungen in der Erweiterten Kinderlandverschickung (KLV) erarbeitet.49 47 Marianne R. (persönliche Daten unbekannt): Tagebuchartige Aufzeichnungen, September 1939, o. T., Sammlung »Dokumente« im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin, Signatur Do2 2009/49. 48 Janosch Steuwer: Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse. Politik, Gesellschaft und privates Leben in Tagebüchern 1933–1939, Göttingen 2017. 49 Veronika Siegmund: »Mobilmachung aller gestalterischen Kräfte…«. Die politische Instrumentalisierung des Tagebuchs in der Erweiterten Kinderlandverschickung (1940–1945), in: Zeitgeschichte, Jg. 47, 2020, Heft 3, S. 315–341.

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Diese beiden rezenten Arbeiten belegen die Einflussnahmen der Bildungs- und Erziehungsinstitutionen innerhalb des faschistischen NS-Regimes auf auto/ biografische Praktiken, die auch spezielle Formen von diaristischen Selbstzeugnissen evoziert haben (→ Abschnitt 3.5).

Überformtes Tagebuchschreiben: Nachahmen von Freundinnen und Romanen In faschistischen Kontexten ist das Tagebuchschreiben von einer gesellschaftspolitisch speziellen Situation geprägt. Jugendliche Tagebuchschreiber/innen haben ihre auto/biografischen Praktiken aber – zu jeder Zeit – auch ›freiwilligen‹ Einflussnahmen unterzogen. Besonderes Gewicht dürften dabei die Mitglieder der jeweiligen ›Peergroups‹ gehabt haben, unter denen die Tagebücher zum gegenseitigen Lesen ausgetauscht wurden. Aus dem Untersuchungszeitraum der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden sich in den Sammlungsbeständen zahlreiche Belege dafür. Damit konnten die Texte der jeweils anderen als Vorbilder für das eigene Schreiben herangezogen werden. Die Literaturwissenschafterin Christiane Holm hat für ein solches Nachahmen den Begriff der »Überformung« verwendet.50 In diesem Sinne berichtete die schon genannte 16jährige Berlinerin Fanny Röhl 1920 von der Lektüre des Tagebuchs ihrer besten Freundin Erika Morgan: »Ich habe heute das Tagebuch von Erika gelesen und sie meins. […] Erikas Tagebuch hat mir sehr, sehr gut gefallen, viel besser als meins. Ich finde, bei ihr hört sich alles viel natürlicher und wahrer an. Und dann hat sie auch immer alles viel besser beschrieben und geschildert als ich. Viel ausführlicher ist ihr Tagebuch auch. Zuerst ist es nicht so gut, aber dann, wie sie z. B. den Konflikt mit ihrer Mutter beschreibt, das ist wirklich lesenswert; schade, dass ich keinen besseren Ausdruck finde. Das sagt nämlich gar nichts. […] Mich hat sie auch beschrieben. Zwar hält sie mich für mehr wert als ich bin, aber ich hab doch gestaunt, wie sie mich versteht. […] Was ich auch sehr nett finde, ist, dass sie manchmal zu ihrem Tagebuch spricht. Das hört sich so nett an. Und dabei gefällt ihr mein Tagebuch besser. Überhaupt geht es ihr darin so wie mir. Sie sagt, bei mir klingt alles viel besser und ich finde die richtigen Ausdrücke. Das stimmt aber gar nicht, Koch [der gemeinsamen Lehrerin, L. G.] würde Erikas Buch auch besser gefallen. Bestimmt!«51 Neben Vorbildern aus dem persönlichen Umfeld konnten auch Veröffentlichungen auf dem Buchmarkt Anregung zum Führen von Tagebüchern geben. Nach Christiane Holms Auslegung entstand durch Editionen sowie auch durch 50 Holm: Montag Ich, 2008, S. 35. 51 Fanny Röhl (Pseudonym, geb. 1904): Tagebuch, August 1920, o. T., ABP, Signatur M 88 [Die Namen aller genannten Personen in dieser Quelle sind Pseudonyme].

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die fiktive Literatur ein »produktives Wechselverhältnis[…] zwischen Alltagspraxis und Lesestoff«. Dabei hat die »Vergleichbarkeit von verschiedenen diaristischen Möglichkeiten« auch eine praktische »Verständigung über Formfragen mit sich« gebracht. Anders ausgedrückt: Die veröffentlichten Texte haben sich einerseits auf die Gestaltung von individuell geschriebenen Tagebuchtexten ausgewirkt. Umgekehrt wurde »das Tagebuch zunehmend literarisch interessant, wie etwa die Entstehung des Tagebuchromans zeigt.«52 Der Einfluss der Lektüre von Romanen auf das auto/biografische Schreiben der Leser/innen lässt sich in den Archivquellen direkt nachvollziehen: Die 20-jährige Gärtnerin Ida T. aus Castrop-Rauxel in Nordrhein-Westfalen gab in ihren 1934 begonnenen Aufzeichnungen den pazifistischen Tagebuchroman »Die Katrin wird Soldat« als Vorbild an.53 Die 14-jährige Schülerin Stephanie Johne aus Wien hatte ebenfalls in den 1930er-Jahren Anleihen an einem belletristischen Text genommen: »Durch den Roman ›Zwei Menschen‹ von Richard Voss angeregt, möchte auch ich ein Tagebuch führen.« Lakonisch fügte sie hinzu: »Hoffentlich endet es nicht so traurig wie bei diesem Junker Rochus.«54 Von einem noch früheren Tagebuchprojekt berichtete Johanna Gramlinger in ihren Lebenserinnerungen.55 Sie hat in den 1920er-Jahren als junge Frau u. a. als Stubenmädchen und im Gastgewerbe gearbeitet. Und sie hat dabei ein Tagebuch geführt. Über den Inhalt stellte sie nachträglich mit einem Augenzwinkern fest: »Die ersten zwei Seiten sind gar so schnulzig, wahrscheinlich habe ich gerade ein Courths-Mahlerbuch gelesen, das mich zu so einem unmöglichen Gefasel inspiriert hat« (→ Abschnitt 3.5).56 Diese drei Beispiele zeigen, dass es den jugendlichen Nachahmer/innen wohl weniger um die Inhalte der Textvorbilder ging: Die Protagonistin von »Die Katrin 52 Holm: Montag Ich, 2008, S. 35; dazu weiters u. a. Seifert: Tagebuchschreiben als Praxis, 2008, S. 50. 53 Ida T. (geb. 1914): Tagebuch, o. D., Deutsches Tagebucharchiv Emmendingen (DTA), Reg.Nr. 1512,2. Das hier genannte Buch von Hertha Strauch wurde 1930 unter dem Pseudonym Adrienne Thomas in Berlin veröffentlicht. Es war ein Verkaufsschlager und wurde in 15 Sprachen übersetzt. Dazu u. a. Yun Jung Seo: Frauendarstellungen bei Adrienne Thomas und Lili Körber, Marburg 2003, S. 54. 54 Stephanie Johne (geb. 1919): Tagebuch, September 1933, o. T., SFN, NL 40. Die Diaristin bezog sich hier auf das Buch Richard Voss: Zwei Menschen, Stuttgart 1911. Es war ebenfalls ein Verkaufsschlager, die Auflage wird mit bis zu 1.040.000 angegeben. Irene Zanol: »Es ist gerade so, als ob die Auflagen verdunsteten.« Die Rezeption von Richard Voss’ Bestseller Zwei Menschen, Seminararbeit, Innsbruck 2010, S. 2, online verfügbar unter dem Titel. Stephanie Johne hieß nach ihrer Eheschließung Bamer. Die Strategien ihrer Übergaben persönlicher Aufzeichnungen an öffentliche Einrichtungen wurden in → Abschnitt 3.4 vorgestellt. 55 Johanna Gramlinger (geb. 1904), Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (Doku), Signatur 1904_Gramlinger Johanna. 56 Die Diaristin bezog sich hier auf die belletristischen Publikationen von Hedwig CourthsMahler (1867–1950).

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wird Soldat« stirbt im Kriegsdienst im Ersten Weltkrieg, »Junker Rochus« übernimmt ein Kirchenamt und verunmöglicht damit ein glückliches Zusammenleben mit seiner Jugendliebe. »So traurig« wollten die beiden jungen Tagebuchschreiberinnen, die sich von diesen Büchern inspirieren ließen, sicherlich nicht enden. Die Jugendlichen wurden durch diese Bücher aber offensichtlich dazu angeregt, überhaupt zu schreiben. Dass sie dabei möglicherweise (vorerst) die Form und Formulierungen übernommen haben, die sie später selbst als »unmögliches Gefasel« abqualifizierten, gehörte zu den ersten Gehversuchen in der neuen kulturellen Praktik. Mitunter war es für die jugendlichen Leser/innen von veröffentlichten Tagebuchtexten auch gar nicht klar, ob es sich dabei um Fiktion handelte, was wiederum die Berlinerin Fanny Röhl 1920 beschrieben hat: »Gestern habe ich ein Buch gelesen, dass mächtigen Eindruck auf mich gemacht hat: ›Tagebuch eines zum Tode Verurteilten‹. Furchtbar tragisch geschildert. […] Ich weiß aber nicht, ob das Buch erlebt, oder nur geschrieben ist.« Das schien aber letztlich egal zu sein. Fanny Röhl kam stattdessen zum Schluss: »Ich persönlich bin ganz und gar gegen die gewaltsame Tötung eines Menschen.«57 Neben fiktiven Texten, die sich der Tagebuchform bedienten und damit offenbar auch kommerzielle Erfolge werden konnten, waren seit dem 19. Jahrhundert auch zahlreiche Editionen von auto/biografischen Aufzeichnungen (zumeist verstorbener) Jugendlicher auf dem Markt. Und auch diese konnten hohe Auflagen erreichen.58 Eine erfolgreiche Publikation war etwa das Tagebuch von Marie Bashkirtseff (1858–1884). Drei Jahre nach dem Tod der jungen ukrainisch-französischen Malerin waren Fragmente von ihren Aufzeichnungen als Buch veröffentlicht worden. Diese gekürzte Version soll sich innerhalb von drei Jahren 8.000-fach verkauft haben, was dazu führte, dass noch weitere Passagen aus ihrem Tagebuch ediert und schließlich mehrfach übersetzt wurden.59 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden dann insbesondere die Aufzeichnungen von Anne Frank (1929–1945) breit rezipiert. Sie hatte diese zwischen 1942 und 1944 in einem Versteck in den besetzten Niederlanden geführt, 57 Fanny Röhl (Pseudonym, geb. 1904): Tagebuch, Mai 1920, o. T., ABP, Signatur M 88. Das Buch, auf das sich die Diaristin hier bezog, war Alfred Hermann Fried: Das Tagebuch eines zum Tode Verurteilten, mit einer Einleitung über die Todesstrafe von Professor Dr. Ludwig Büchner, Berlin 1898. 58 Die Erziehungswissenschafterin Anke Melchior publizierte bereits 1992 eine Bibliografie von veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen von Mädchen und Frauen, die »seit dem Mittelalter« erschienen sind (→ Abschnitt 3.6). Bis Ende des 19. Jahrhunderts konnte sie 155 Titel recherchieren. Für das 20. Jahrhundert legte sie 337 Titel vor. Anke Melchior: Mädchen- und Frauentagebücher seit dem Mittelalter. Eine Bibliographie von veröffentlichten Tagebüchern in deutscher Sprache, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, Jg. 5, 1992, Heft 2, S. 271–314. 59 Rachel Mader: Beruf Künstlerin. Strategien, Konstruktionen und Kategorien am Beispiel Paris 1870–1900, Berlin 2009, S. 95–98.

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wohin die im Holocaust verfolgte Familie geflüchtet war. Die Jugendliche starb Anfang 1945. Ihr Tagebuch wurde 1947 von ihrem Vater in einer ersten Version veröffentlicht.60 Die Pädagogin Tine Nowak hat es treffend als das »meistgelesene Tagebuch der Welt« bezeichnet.61 Wahrscheinlich ist es nicht nur »meistgelesen«, sondern wurde auch zum Anstoß für so manches neue Schreibprojekt genommen. Eine Nachlassgeberin, die Selbstzeugnisse ihrer Eltern an die Sammlung Frauennachlässe übergeben hat, bestätigte das unmittelbar. Gleichzeitig deutete sie an, dass letztlich weder die nachgeahmte Form noch das Tagebuchschreiben an sich passend für sie gewesen sind. Zumindest für einige Zeit hat sie es aber versucht: »Mit ca. 12 oder 13 Jahren [um 1965, L. G.] habe ich das Tagebuch der Anne Frank zum ersten Mal gelesen. Abgesehen vom Inhaltlichen (das ich bei diesem ersten Lesen vermutlich noch gar nicht richtig begriffen habe), hat es mich sofort zur Nachahmung verführt. Nein, eigentlich zu einer Kopie: denn ich habe, genau wie Anne, meinem Tagebuch einen Freundinnennamen gegeben. Welchen, das weiß ich leider nicht mehr. Und ich habe, genau wie Anne, dann mit dem Tagebuch ›geredet‹– was mir von Anfang an ziemlich albern vorgekommen ist. Es war ja auch nicht von langer Dauer; in meiner Erinnerung nur einige wenige Wochen.«62 Als Zwischenergebnis kann an dieser Stelle festgehalten werden: Bereits die bisherigen kurzen Ausführungen haben gezeigt, dass die überkommene Annahme, Tagebuchtexte wären von ›Authentizität‹ und ›Unmittelbarkeit‹ geprägt, nicht haltbar ist. Diese für die Tagebuchforschung zentralen Fragen wurden von Genretheoretiker/innen ausführlich und überzeugend dekonstruiert63 und mit sprechenden Bezeichnungen wie »Gespenst unserer Köpfe«64 oder »Schimäre«65 unterstrichen. Auch die naturwissenschaftlich ausgerichtete psychologische In60 Von Anne Franks Aufzeichnungen wurden bisher vier verschiedene Versionen veröffentlicht. Siehe dazu Anne Frank: Gesamtausgabe. Tagebücher – Geschichten und Ereignisse aus dem Hinterhaus – Erzählungen – Briefe – Fotos und Dokumente, hg. vom Anne Frank Fonds, übersetzt von Mirjam Pressler, Frankfurt am Main 2013. 61 Tine Nowak: Das meistgelesene Tagebuch der Welt. Anne Franks Zeitzeugnisse, in: Gold, Holm, Bös und Nowak: @bsolut privat!?, 2008, S. 142–145. Dazu weiters u. a. Sylke Kirschnick: Anne Franks Tagebuch in der ostdeutschen Erinnerungskultur, in: Steuwer und Graf: Selbstreflexionen und Weltdeutungen, 2015, S. 257–287; dies.: Anne Frank und die DDR. Politische Deutungen und persönliche Lesarten des berühmten Tagebuchs, Berlin 2009. 62 Karin R.: E-Mail an Li Gerhalter, Juni 2017. Dieses Tagebuch ist nicht erhalten. Aus Datenschutzgründen ist der Name der Schreiberin anonymisiert und es werden auch keine weiteren Informationen gegeben. Der für den Nachnamen verwendete Buchstabe ist ein Pseudonym. 63 Dazu als Überblick u. a. Christa Hämmerle und Li Gerhalter: Tagebuch – Geschlecht – Genre im 19. und 20. Jahrhundert, in: Gerhalter und Hämmerle: Krieg – Politik – Schreiben, 2015, S. 7–31. 64 Arno Dusini: Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung, München 2005, S. 71. 65 Janosch Steuwer und Rüdiger Graf: Selbstkonstitution und Welterzeugung in Tagebüchern des 20. Jahrhunderts, in: dies.: Selbstreflexionen und Weltdeutungen, 2015, S. 7–36, S. 31.

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terpretation von Charlotte Bühler, das Schreiben wäre auf einem ›inneren Bedürfnis‹ aufgebaut, erweist sich damit als zu kurz gegriffen. Dieser Befund kann auf der Grundlage von unveröffentlichten Archivquellen eindeutig belegt werden. Die jeweilige Situiertheit der Inhalte von Tagebüchern wurde im Rahmen dieser Studie bereits in verschiedenen Zusammenhängen angesprochen. Auch die durchwegs unterschiedlichen Praktiken im Umgang mit diaristischen – bzw. allgemein auto/biografischen – Aufzeichnungen wurde inzwischen mehr als deutlich. Unter anderem wurden bestimmte Formen seit dem 19. Jahrhundert ediert und von einem breiten Lesepublikum konsumiert (→ Abschnitt 2.3). Große Verbreitung fanden dabei die (bearbeiteten) Editionen von Texten der Aktivist/innen der Arbeiter/innenbewegung sowie von einzelnen (auch sehr jungen) Akteur/innen aus dem Kulturbetrieb. Neben Marie Bashkirtseff wäre hier etwa noch Otto Braun (1897–1918) zu nennen.66 Solche Texte wurden gerne gelesen. Sie wurden aber gleichzeitig auch als Quellen für jugendpsychologische Fragestellungen herangezogen. Unter dem Zwischentitel »Die Herstellung von ›situiertem Wissen‹ durch die Auswahl der ausgewerteten Tagebücher« habe ich in → Abschnitt 2.8 die These formuliert, dass die Quellenauswahl der Jugendpsycholog/innen der Zwischenkriegszeit nachhaltigen Einfluss auf die späteren Selbstzeugnisforschungen in verschiedenen Fächern hatte. Auch in den Geschichtswissenschaften. Die Entscheidung von Charlotte Bühler und ihren Kolleg/innen, welche Formate von Selbstzeugnissen sie gesammelt und ausgewertet haben, hat maßgeblich die Erwartungen geprägt, welche Informationen Wissenschafter/innen fortan in diaristischen Texten zu finden dachten. Dieser normierende Zuschnitt wurde durch die Auswahl jener zehn Tagebücher, die Charlotte Bühler zwischen 1923 und 1934 (in Auszügen) als Editionen herausbrachte, noch verfestigt. Bühler hatte diese Texte ausgesucht, weil sie ihrer »Kenntnis des n o r m a l e n Mädchens in der Entwicklung« entsprochen haben.67 Sie wollte nicht die Varianten der diaristischen Formen ergründen. Sie wollte Quellen für psychologische Forschungen liefern, die einen ›Normalverlauf‹ des Heranwachsens junger Menschen belegen sollten. Mitgestaltet wurde dabei aber auch die – wissenschaftliche – Vorstellung davon, was ein ›normales‹ Tagebuch sein könnte. Eine der Zielsetzungen dieser vorliegenden Studie ist es, die mögliche Vielfalt des diaristischen Schreibens zu belegen – und gleichzeitig die (diesbezügliche) Eindimensionalität der kinder- und jugendpsychologischen Forschung seit 1800. Die mögliche Vielfalt kann sowohl in den Inhalten der Tagebücher entdeckt werden. 66 Dorothee Wierling: Eine Familie im Krieg. Leben, Sterben und Schreiben 1914–1918, Göttingen 2013. 67 Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 1923², S. VI [Hervorhebung im Original].

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Aber auch in ihren materiellen Erscheinungsformen, wie im Folgenden gezeigt wird.

4.3) Anlässe und Motivationen, ein »kommerzielles Fertigtagebuch« zu verwenden Der Theoretiker Siegfried Bernfeld benannte bereits 1931 als einen Faktor für den Erfolg des Mediums Jugendtagebuch die »geschäftliche Werbung«, die »im Schreibwarenladen und Kaufhaus« dafür gemacht wurde. Daran geknüpft sah er »die ökonomischen Interessen der Industrie und des Handels«.68 Er erinnerte damit an den Umstand, dass es zum Schreiben von Tagebüchern ja auch papierene Unterlagen braucht. Und diese konnten käuflich erworben werden. Im 19. Jahrhundert handelte es sich dabei um händisch gebundene Bücher, die zum Teil aufwändig ausgestaltet waren. Gegebenenfalls waren sie auch individuell verziert. Im Nachlass der deutschen Frauenrechtlerin Minna Cauer (1841–1922) ist ein Tagebuch erhalten, das sie als 29-jährige Lehrerin 1870 begann. Es ist hart gebunden und trägt die goldene Namensprägung »M. C. 1870« am Deckblatt.69 Solche Gegenstände hatten freilich einen entsprechenden Preis und waren deshalb nur einem bestimmten Personenkreis zugänglich. Mit der industriellen Massenproduktion wurden auch die Schreibunterlagen erschwinglicher. Der Pädagoge und Historiker Heinz Schmidt-Bachem gab in seiner detailreichen Studie einen Eindruck von der breiten Produktpalette an Papierwaren, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts fabriksmäßig hergestellt wurde.70 Das Angebot enthielt u. a. verschiedene Textträger für das diaristische Schreiben. Für diese konkrete Erscheinungsform wird hier im Weiteren der Begriff »kommerzielle Fertigtagebücher« verwendet.71 Dabei handelte es sich

68 Bernfeld: Trieb und Tradition im Jugendalter, 1931 (2015), S. 148. 69 Minna Cauer (geb. 1841): Tagebuch, 18. Februar 1870, FrauenMediaTurm (FMD), Archiv und Dokumentationszentrum in Köln, Nachlass Minna Cauer. Die Aufzeichnungen sind mit folgender Erklärung eingeleitet: »Dieses Buch erbat ich mir von meinem geliebten Mann, damit ich dann u. wann einige Notizen aus meinem Leben aufzeichnen könnte.« Ihren »lieben Mann« hatte die jung verwitwete Cauer 1869 geheiratet. Gabriele Braun-Schwarzenstein: Minna Cauer. Dilemma einer bürgerlichen Radikalen, in: feministische studien, Jg. 3, 1984, Heft 1, S. 99–116. 70 Heinz Schmidt-Bachem: Aus Papier. Eine Kultur- und Wirtschaftsgeschichte der Papier verarbeitenden Industrie in Deutschland, Berlin 2011. Es ist anzunehmen, dass auch die vielfältigen Papierwaren zur Etablierung der verschiedenen Formen des Tagebuchschreibens beigetragen haben. Dazu Gerhalter: »Einmal ein ganz ordentliches Tagebuch«, 2015. 71 Der Begriff »Fertigtagebuch« wurde von Siegfried Bernfeld in Gebrauch genommen. Bernfeld: Trieb und Tradition im Jugendalter, 1931 (2015), S. 148. Das Begriffspaar »kommerzielles Fertigtagebuch« wird übernommen von Marianne Soff: Jugend im Tagebuch. Analysen zur

Anlässe und Motivationen, ein »kommerzielles Fertigtagebuch« zu verwenden

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womöglich um schön gestaltete, hart gebundene Bücher mit seitlichem Schloss. Es konnten aber auch Formen wie das einfache Hausübungsheft mit dem Aufdruck »Tagebuch« sein, das die Bürgerschülerin Fanny W. aus Deutschland in den 1910er-Jahren verwendete (→ Abschnitt 4.2). In jedem Fall waren diese in Massenproduktion gefertigten Schreibwaren dezidiert dazu vorgesehen, um ein Tagebuch darin zu führen. Eine weitere Form von industriell hergestellten Vorlagen waren sogenannte Schreibkalender. Die Traditionen dieser Mischform aus Informationsmedium und Ort für eigene Einträge reichen bis in das 17. Jahrhundert zurück. Auch im 19. Jahrhundert war sie noch enorm verbreitet.72 In der Selbstzeugnisforschung wurden die Schreibkalender als »historische Referenzformen« der diaristischen Aufzeichnungen identifiziert.73 Eine ihrer Besonderheiten lag darin, dass sie zumeist an bestimmte Personengruppen adressiert waren, die sie führen sollten.74 Und eine dieser Zielgruppen waren Mädchen und Frauen.75 Die Form der Schreibkalender verlor um 1900 allmählich ihre Bedeutung. Stattdessen kamen vorgedruckte Wochenkalender in Gebrauch, die häufig auch als Werbegeschenke gratis erhältlich waren.

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Ich-Entwicklung in Jugendtagebüchern verschiedener Generationen, Weinheim/München 1989, S. 255. Helga Meise: Das archivierte Ich. Schreibkalender und höfische Repräsentation in HessenDarmstadt 1624–1790, Darmstadt 2002; Harald Tersch: Schreibkalender und Schreibkultur. Zur Rezeptionsgeschichte eines frühen Massenmediums, Graz/Feldkirch 2008. Einzelne Ausgaben erschienen in Großbritannien bereits um 1650 in einer Auflage von 400.000 Stück. Tersch: Schreibkalender und Schreibkultur, 2008, S. 18. Holm: Montag Ich, 2008, S. 12. Eine Überschneidung der beiden Genres zeigte sich auch in teilweise aufgetretenen Namensgleichheiten. Tersch: Schreibkalender und Schreibkultur, 2008, S. 22f. Im Bestand des Archivs der sozialen Demokratie (AdsD) in Bonn ist ein mit Tagebuchaufzeichnungen voll beschriebener vorgedruckter Kalender mit dem Aufdruck »Notizkalender für Arbeiter 1900« archiviert. AdsD, Bestand: Thomas, Theodor (→ Abschnitt 3.5). Anke Melchior hat in ihrer Bibliografie veröffentlichter Tagebücher sieben Exemplare vorstellen können, die an Mädchen gerichtet waren. Diese sind erschienen zwischen 1774 und 1935. Ihre Titel lauteten etwa »Tagebuch für Fleißige, gute und fromme Kinder. Ein Geburtstags- und Weihnachtsgeschenk, I für Söhne/II für Töchter« (1840), »Tagebuch für die jüdische Jugend« (1916) oder »Tagebuch für den Konfirmationsunterricht« (1935). Von den an Frauen gerichteten Exemplaren hat Melchior 55 recherchieren können. Diese sind zwischen 1739 und 1941 erschienen. Ihre Titel lauteten etwa »Hauswirtschaftliches Tagebuch für Damen. Für alle Tage im Jahre« (1836) oder »Tagebuch einer Dame, 2 Theile« (1907). Melchior: Mädchen- und Frauentagebücher seit dem Mittelalter, 1992, S. 312–314. Beispiele finden sich weiters in Holm: Montag Ich, 2008, S. 23. Vorgedruckte »Ladies’ Diaries« wurden auch für den englischsprachigen Raum beschrieben. Noch in den 1940er-Jahren waren hier etwa »School Girls’ Diaries« in Gebrauch. Cynthia A. Huff: British Women’s Diaries. A Descriptive Bibliography of Seleceted Nineteenth-Century Women’s Manuscript Diaries, New York 1985, S. xiv–xvi.

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Gerade im Zusammenhang mit Tagebüchern von Mädchen setze sich aber eine andere Vorstellung davon durch, wie diese dinghaft beschaffen wären. Konkret handelte es sich dabei um jene schmucken, kleinformatigen Büchlein, die seitlich angebracht ein Schloss haben, auf dem Deckblatt den eingeprägten Aufdruck ›Tagebuch‹ und mit Goldschnitt verzierte Blätter. Nach meiner Auslegung ist die Idee, Mädchentagebücher würden genau dieses Aussehen haben, die hartnäckigste materielle Vorannahme gegenüber auto/biografischen Aufzeichnungen insgesamt. Gegenüber Tagebüchern sowieso. Dabei ist bislang unklar, wann und wo diese auffällige Form im deutschsprachigen Raum überhaupt aufgekommen ist. Das früheste Tagebuch mit Prägung und Schloss, das ich bisher recherchieren konnte, wurde 1905 begonnen.76 Das früheste nur mit einem Schloss ausgestattete Buch (ohne Prägung) 1870.77 Zwei weitere waren jeweils ab 1885 in Gebrauch – eines davon übrigens von einem erwachsenen Mann.78 Wie verbreitet waren diese »kommerziellen Fertigtagebücher« aber nun tatsächlich? Und wie kamen sie in den Besitz ihrer jugendlichen Schreiberinnen?

Ein Tagebuch haben Über die tatsächliche Verbreitung der konkreten Erscheinungsvariante der versperrbaren »Fertigtagebücher« lassen sich wohl kaum handfeste zahlenmäßige Aussagen treffen. Dasselbe gilt ja auch für das diaristische Schreiben allgemein, auch wenn bereits mehrfach versucht wurde, diese Praxis in Zahlen zu fassen: Charlotte Bühler hatte in den Jahren 1925 und 1931 jeweils Ergebnisse von Umfragen veröffentlicht, die sie unter ihren Hörer/innen durchgeführt hatte. Dabei hätten zirka 60 Prozent dieser jungen Leute angegeben, schon einmal ein Tagebuch geführt zu haben.79 Die Psychologin Marianne Soff stellte 1989 eine Auflistung von acht weiteren quantitativen Erhebungen zusammen, die zwischen 1942 und 1985 an verschiedenen Orten und von verschiedenen Stellen durchgeführt wurden. Die Ergebnisse waren dabei je nach Setting extrem unter-

76 Dieses Tagebuch wurde verwendet von der im Zusammenhang mit ihren Theaterbüchern bereits vorgestellten Lilli Wehle (geb. 1894): Tagebuch (1905–1926), SFN, NL 21 II. 77 Frieda Bader (geb. 1844): Tagebuch (1870), DTA, Reg.-Nr. 1116/I,3. Dazu zahlreiche Bezugnahmen in Peter-Paul Bänziger: Die Moderne als Erlebnis. Eine Geschichte der Konsum- und Arbeitsgesellschaft, 1840–1940, Göttingen 2020. 78 Josefine Berger (geb. um 1865): Tagebuch (1885), WStLA, Bestand »Nachlässe und private Sammlungen«, Signatur 3.4.B.156 und Gustav Hübner (geb. 1848): Tagebuch (1885–1892), SFN, NL 1. 79 Charlotte Bühler: Die Bedeutung des Tagebuchs für die Jugendpsychologie, in: dies. (Hg.): Zwei Knabentagebücher (Quellen und Studien zur Jugendkunde, Bd. 3), Jena 1925, S. V–XIV, S. VII; dies.: Kindheit und Jugend. Genese des Bewußtseins, Leipzig 1931, S. 331.

Anlässe und Motivationen, ein »kommerzielles Fertigtagebuch« zu verwenden

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schiedlich. Sie changierten nach Zeit, Ort und konkreter Fragestellung zwischen »3 Prozent« und »71 Prozent«.80 Um nachträglich einen Eindruck über das Tagebuchschreiben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewinnen zu können, bietet sich der Blick auf die Zusammensetzung von Archivbeständen an. Wie in den vorangegangenen Kapiteln ausführlich dargelegt worden ist, ist dabei zwar streng genommen mehr über die verschiedenen Übergabeentscheidungen und -möglichkeiten zu erfahren als über die tatsächliche Verbreitung vergangener auto/biografischer Praktiken.81 Immerhin kann aber der Umfang und die Beschaffenheit der in aktuellen Sammlungen vorhandenen Quellenbasis festgestellt werden, die hier für wissenschaftliche Auswertungen zur Verfügung steht. In → Abschnitt 3.6 wurde die Bestandserhebung vorgestellt, die ich gemeinsam mit Kolleginnen 2012 in fünf verschiedenen historisch ausgerichteten Sammlungen in Wien durchgeführt habe. Recherchiert werden konnten dabei 110 verschiedene Tagebücher, die Frauen und Mädchen in Wien geführt haben. Der Zeitraum reichte dabei von 1832 bis 2012. Anhand dieses Bestandes lässt sich exemplarisch feststellen, dass diaristische Aufzeichnungen von Jugendlichen in historisch ausgerichteten Sammlungen gut dokumentiert sind. In diesem Sample waren sie sogar die verhältnismäßig am stärksten vertretene Gruppe: Von den 110 Wiener Beständen enthielten 36 (28 Prozent) auch Aufzeichnungen von Schreiberinnen im Alter zwischen zehn und 20 Jahren. Auch der Bestand der Sammlung Frauennachlässe ergibt ein ähnlich optimistisches Bild: Hier waren mit Stand Sommer 2015 insgesamt 76 Tagebuchbestände von Mädchen oder Frauen archiviert. Der Zeitraum reichte dabei von 1848 bis 2006.82 Davon enthielten immerhin 36 (47 Prozent) auch oder nur Aufzeichnungen, die von Diaristinnen unter 20 Jahren verfasst wurden. Deren Einträge reichten von 1870 bis 1968. Jugendtagebücher sind in Selbstzeugnisarchiven inzwischen also gut dokumentiert (→ Abschnitt 3.4).83 Zurückkommend auf die Frage, welche Schreibunterlagen Mädchen und junge Frauen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts für ihre diaristischen Einträge verwenden haben könnten, ergibt sich am Beispiel des Bestandes der Sammlung Frauennachlässe das folgende Bild: Nur 15 (42 Prozent) der 36 hier dokumentierten jungen Schreiberinnen haben ihre zwischen 1870 und 1968 geführten Aufzeichnungen in »kommerzielle Fertigtagebücher« eingetragen. Die 80 Soff: Jugend im Tagebuch, 1989, S. 20. 81 Dazu u. a. auch Hanne Lessau: Sammlungsinstitutionen des Privaten. Die Entstehung von Tagebucharchiven in den 1980er und 1990er Jahren, in: Steuwer und Graf: Selbstreflexionen und Weltdeutungen, 2015, S. 336–365, S. 337. 82 Aktuell (2020) sind es 106 Tagebuchbestände von Mädchen und Frauen. 83 Hier ist der Vollständigkeit halber zu ergänzen, dass 37 (49 Prozent) dieser 76 Bestände über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren geführt wurden. Die drei am längsten geführten Tagebücher decken jeweils einen Zeitraum von 71 Jahren ab.

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Variante mit Aufdruck und Schloss kommt sogar nur acht Mal vor. Die Mehrheit von 21 Schreiberinnen (58 Prozent von 36) verwendete andere Schreibunterlagen wie Schulhefte, Kladden oder Kalender für ihre Aufzeichnungen. Um eine tendenzielle Aussage darüber treffen zu können, ob sich die Verwendung der verschiedenen Schreibunterlagen im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert haben könnte, wurde das Sample der 36 in der Sammlung Frauennachlässe vorliegenden Jugendtagebücher für eine zusätzliche Berechnung erweitert. Es wurde ergänzt durch jene Quellen, auf die Marianne Soff Ende der 1980er-Jahre ihre Studie zur »Ich-Entwicklung in Jugendtagebüchern verschiedener Generationen« aufgebaut hat. Dabei handelte es sich um 32 Tagebücher, deren Zeitraum von 1958 bis 1984 reicht (→ Abschnitt 2.10).84 Die damit insgesamt 68 dokumentierten Tagebuchprojekte reichen von 1870 bis 1984. In dieser langen Zeitspanne haben sich die verwendeten Schreibmaterialien klar verändert. »Kommerzielle Fertigtagebücher« (aller Formen) waren in den ersten fünf Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch nicht sehr weit verbreitet. Weniger als ein Drittel (zehn von 33) der im Sample dokumentierten jugendlichen Schreiberinnen haben dieses Format verwendet.85 Verstärkt vorgekommen sind sie ab den 1950er-Jahren, wo 20 von 34 Fälle (59 Prozent) »Fertigtagebücher« in Gebrauch hatten. Ab den 1970er-Jahren handelte es sich dann um die überwiegende Form. Jetzt waren es 19 von 26 (73 Prozent).86 Diese Zahlen identifizieren die »kommerziellen Fertigtagebücher« als eine Erscheinung, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark verbreitet wurde. Damit lässt sich auch einschätzen, wie die Vorstellung von der Hegemonie dieser Form zeitlich situiert ist. Grafisch umgesetzt ergeben diese Zahlen die folgenden Diagramme:

84 Soff: Jugend im Tagebuch, 1989, S. 254–358. Die Studie enthält die Edition von kurzen Auszügen der Tagebücher und eine detaillierte Beschreibung der dinghaften Beschaffenheit aller Bände. 85 Manche Bestände enthalten exakt gleiche Textträger für Schulaufgaben und Tagebuchnotizen. Vgl. u. a. Ruthilt Hanzel (geb. 1911), SFN, NL 2 I. 86 Die zeitliche Zuordnung bezieht sich jeweils auf den ersten Eintrag. Weitere Ausführungen zu dieser Auswertung wurden veröffentlicht in Li Gerhalter: Materialitäten des Diaristischen. Erscheinungsformen von Tagebüchern von Mädchen und Frauen im 20. Jahrhundert, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, Jg. 24, 2013, Heft 2, S. 53–71, S. 55f.

Anlässe und Motivationen, ein »kommerzielles Fertigtagebuch« zu verwenden

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Tortendiagramme 29 bis 31: Verwendung »kommerzieller Fertigtagebücher« von 1870 bis 1984 (Stichprobe) 1870 bis 1949 (33 Tagebuchbestände)

1950 bis 1969 (34 Tagebuchbestände)

1970 bis 1984 (26 Tagebuchbestände)

Der Altersvergleich hat des Weiteren ergeben, dass »Fertigtagebücher« im gesamten 20. Jahrhundert tendenziell von Schreiberinnen verwendet wurden, die bei Beginn der jeweiligen Projekte jünger waren als 14 Jahre. Sie sind demnach eindeutig sehr jungen Diaristinnen zuzuordnen.87 Die ›idealtypischen‹ Textträger wurden also – auch von Mädchen – weniger häufig verwendet, als es dem Klischee vielleicht entsprechen würde.88 Eine mögliche Erklärung für die hartnäckige Vorstellung von einer Dominanz der verschließbaren Tagebücher liegt wohl in den ebenfalls starren konventionellen Zuschreibungen gegenüber dem ›weiblichen‹ Tagebuchschreiben an sich.89 Diese scheinen seltsam fest an die Tradition des ›journal intime‹ gebunden zu sein, das seinerseits an den bürgerlichen Ge87 Eine gravierende Veränderung des Alters beim Beginn des Tagebuchschreibens ist in dem von mir zusammengestellten Sample nicht festzustellen. Es blieb von 1848 bis 1984 breit gestreut mit einem Schwerpunkt zwischen zwölf und 15 Jahren. Auch Charlotte Bühler und ihre Forschungsgruppe haben entsprechende quantitative Auswertungen unternommen. Auf der Grundlage von Berechnungen ihrer Studentin oder Mitarbeiterin Maria Latka stellte Bühler in der Ausgabe von »Das Seelenleben des Jugendlichen« von 1929 fest: » I m M i t t e l f a n g e n K n a b e n e t wa m i t d e m 1 5 . , M ä d c h e n m i t d e m 1 4 . G e b u r t s t a g z u s c h r e i b e n a n ; die Streuung bei beiden um diesen Durchschnitt ist allerdings recht groß.« Bühler: Das Seelenleben des Jugendlichen, 19295, S. 2 (Einleitung) [Hervorhebung im Original] (→ Abschnitte 2.6 und 2.8). 88 Über die Verbreitung von »kommerziellen Fertigtagebüchern« unter Burschen lassen sich anhand der mir vorliegenden Daten keine systematischen Aussagen treffen. Im Bestand des Kempowski-Biografienarchivs in Berlin habe ich bisher stichprobenartig zwei Tagebücher von jungen Männern mit Schlössern und Titelprägung recherchiert. Diese wurden 1917 und 1920 begonnen (Signatur 7225 und 6906/1). Im Sample von Marianne Soff verwendeten zwei der elf Schreiber »Fertigtagebücher«. Beide hatten jeweils kein Schloss. 89 Dazu Hämmerle: Ein Ort für Geheimnisse?, S. 28–45.

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sellschaftsidealen des 19. Jahrhunderts orientiert war. Diese ›Geschlechtscharaktere‹ wurden in der Forschung inzwischen ja ebenso überzeugend dekonstruiert90 wie die Idee der ›Authentizität‹ oder ›Unmittelbarkeit‹ von Tagebuchtexten. Dass sich die jugendlichen Schreiberinnen durchaus Gedanken über das Angebot an verschiedenen Textträgern für diaristische Aufzeichnungen gemacht haben, lässt sich wiederum anhand von Quellenzitaten aus mehreren Sammlungen sowie auch aus Veröffentlichungen belegen. Die persönlichen Meinungen gingen dabei offenbar weit auseinander: Die österreichische Frauenrechtlerin Rosa Mayreder berichtete in ihrer Autobiografie, sie habe als Mädchen eine Art »Scheu« davor gehegt, ein »Tagebuch gewöhnlicher Art« zu verwenden. Dies war »auch auf den Spott meiner Umgebung zurückzuführen, in deren Augen, weiß der Himmel warum, die weiblichen Wesen, die ein Tagebuch führten, sich lächerlich machten.« Um ihre Notizen von einem »gewöhnlichen Tagebuch zu unterscheiden«, verfasste sie diese stattdessen auf losen Blättern.91 Die Schilderungen jener Tagebuchschreiberin, die Fritz Giese 1914 als »Probe Nr. 486« auszugsweise veröffentlicht hat, weisen wiederum darauf hin, dass ein aufwändig gestaltetes Buch junge Diaristinnen möglicherweise auch eingeschüchtert haben kann. Um das Mädchen unter diesem Gesichtspunkt noch einmal zu zitieren: »[Das Buch] hat goldumrandete, fest eingebundene Blätter, das mag ich nicht, dann kann ich nicht schreiben.« Ein solches Schmuckstück müsse »sauber« gehalten werden – »Das kann ich auch nicht.«92 Die ebenfalls bereits vorgestellte Johanna Gramlinger berichtete in ihren Lebenserinnerungen schließlich ihren ganz umgekehrten Zugang. Sie habe sich als junges Dienstmädchen genau so ein ›richtiges‹ Tagebuch unbedingt gewünscht: »[Dieses] hübsche Büchlein habe ich mir buchstäblich vom Munde abgespart, denn ich wollte eines zum Versperren und da gab es nichts Billiges«.93 Die Zeiträume, aus denen diese drei Schreiberinnen hier berichtet haben, lagen mit den 1870er- und den 1920er-Jahren weit auseinander. Und auch ihre sozialen Umfelder waren sehr unterschiedlich. Ihre divergenten Berichte lassen 90 Karin Hausen: Der Aufsatz über die »Geschlechtscharaktere« und seine Rezeption. Eine Spätlese nach 30 Jahren, in: dies.: Gesellschaftsgeschichte als Geschlechtergeschichte, Göttingen 2013, S. 83–105. 91 Rosa Mayreder (geb. 1858), zitiert nach dies.: Mein Pantheon. Lebenserinnerungen. Mit einem Vorwort von Susanne Kerkovius, Dornach 1988, S. 33. Danke an Kyra Waldner für diesen Hinweis. Zu den Tagebuchpraktiken von Rosa Mayreder in späteren Jahren siehe Brigitte Semanek: Von der Edition zum Original. Politik im Tagebuch Rosa Mayreders (1918– 1934), in: Gerhalter und Hämmerle: Krieg – Politik – Schreiben, 2015, S. 139–161. 92 Unbekannte Schreiberin/»Probe Nr. 486« (»11 bis 12 Jahre«): Tagebuch, o. D., zitiert nach Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, Bd. 2, 1914, S. 224. 93 Johanna Gramlinger (geb. 1904), Doku, Signatur 1904_Gramlinger Johanna, zitiert auch in Hämmerle: Ein Ort für Geheimnisse?, S. 36.

Anlässe und Motivationen, ein »kommerzielles Fertigtagebuch« zu verwenden

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aber die Interpretation zu, dass das Führen eines Tagebuchs in verschiedenen sozialen Kontexten jeweils unterschiedliche Rollen gespielt haben kann. Diesen Aspekt systematisch zu untersuchen, wäre eine spannende Forschungsfrage, die weiterführend verfolgt werden könnte.94

Ein Tagebuch bekommen Wenn diaristische Einträge nach Vorbildern literarischer oder edierter Veröffentlichungen gestaltet sind, kann von einer inhaltlichen »Überformung« gesprochen werden. Wenn nun gekaufte Schreibunterlagen verwendet werden, die der jeweils aktuellen Mode entsprechen, findet dieser Effekt darin seine materielle Entsprechung. Die Erfolgsgeschichte des Mediums ›Mädchentagebuch‹ ist im 20. Jahrhundert jedenfalls auch die eines Konsumgegenstandes. Durch die industrielle Fertigung war dieser leichter erhältlich und auch entsprechend erschwinglicher geworden. Die Verbreitung des Tagebuchschreibens ist also auch im Kontext der Konsumgesellschaft zu sehen, die sich im ausgehenden 19. Jahrhundert parallel zu der Entstehung größerer Warenhäuser entwickelt hat.95 Gerade Tagebücher für Kinder und Jugendliche standen dabei auch in einem Zusammenhang mit zeitgenössischen Geschenkkulturen. Dass Mädchen ihre (ersten) Tagebücher oft als Geschenk erhielten, findet sich in den Archivquellen in zahlreichen Episoden beschrieben. Wie in den bisherigen Ausführungen auch bereits angeklungen ist, waren die Anlässe dazu Namensoder Geburtstage, Firmungen, Konfirmationen, Bat Mizwas, Weihnachten – oder andere Gelegenheiten wie Besuche von Verwanden. Interessant ist dabei, dass Tagebücher in den ersten Jahrzehnten nach 1900 offenbar häufig als ein Geschenkgegenstand neben anderen überreicht wurden. So hat etwa die elfjährige Wienerin Lilli Weber-Wehle ihr erstes Tagebuch 1905 von einer Tante bekommen, die aus Budapest auf Wienbesuch war. Dazu gab es »noch [eine] Nußschale mit Bildern von der St. Louiser Ausstellung, leider mit englischer Erklärung, die ich nicht lesen kann.«96 Die Pastorentochter Susi G. und ihre Zwillingsschwester aus der brandenburgischen Prignitz »bekamen dieses Tagebuch« im Jahr 1912 94 Zur Diffamierung des Tagebuchschreibens von Mädchen durch die bolschewistische Propaganda in den 1930er-Jahren siehe Jochen Hellbeck: Revolution on My Mind. Writing a Diary under Stalin, Cambridge, MA 2006, S. 44 (→ Abschnitt 3.5). 95 Dazu aus einer geschlechterhistorischen Perspektive zuletzt Christina Linsboth: »Shopping liegt bei uns noch in der Wiege«. Erzeugung, Verkauf und Konsum von Bekleidung in Wien (1880–1914), Dissertation, Wien 2016 und das laufende Forschungsprojekt von Matthias Ruoss (Bern) zu Konsumkrediten in Mitteleuropa. 96 Lilli Wehle (geb. 1894): Tagebuch, 15. Februar 1905, SFN, NL 21 II. Gemeint ist vermutlich die 1904 in St. Louis in Missouri in den USA gezeigte Weltausstellung. Laut Etikett hatte das in der Wiener Innenstadt erworbene Buch vier Kronen gekostet.

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zum 12. Geburtstag. Das war aber noch längst nicht alles. Auf dem Geschenketisch fanden sie außerdem »ein Seidenbatisttaschentuch und noch ein Kasten mit Taschentüchern. Ein Nähkasten, ein Häkelhaken und ein Knäul dazu, und Anna hat uns einen Waschlappen gestrickt. […] Dann bekamen wir noch eine Schokoladentafel, eine Kette, zwei Kästen mit Briefpapier und drei Bücher. Dann noch einen Matrosenrock, eine kleine Flasche für das Puppenbaby, zwei Torten, eine aus Schokolade und die andere aus Marzipan. Dann noch jeder einen kleinen Blumentopf mit Primeln.«97 Bei der ebenfalls zwölfjährigen Niederösterreicherin Ella Reichel war wiederum der Namenstag im März 1917 »der Tag wo ich mein Tagebuch bekam. Auch andere Geschenke bekam ich: Ein Silberkörbchen mit frischen Blumen gefüllt, 2 Hyazinthen-Stöcke, eine große Mandeltorte und Geld von den Großeltern.«98 Wie alle drei Zitate belegen, waren Tagebücher zu Beginn des 20. Jahrhunderts offenbar bereits etablierte Geschenkgaben, exklusiv behandelt wurden sie dabei aber nicht. Vielmehr scheint es beinahe erstaunlich, wie umfangreich die jungen Mädchen hier offenbar jeweils bedacht worden sind. Tagebücher waren also ein Geschenk unter anderen. Dass dabei eine möglichst aufwändige optische Gestaltung des Bandes gar nicht im Vordergrund stehen musste, kann ebenfalls am Beispiel von Ella Reichel gezeigt werden. Bevor sie im März 1917 ihr erstes »kommerzielles Fertigtagebuch« zum Namenstag bekam, hatte sie schon seit 1913 Einträge in drei verschiedenen anderen kleinformatigen Büchlein verfasst. Das früheste trägt den Aufdruck »Wirkwaren-Niederlage Ludwig Stenger. Gegründet 1886« und dürfte ein Werbegeschenk gewesen sein. Der allererste Eintrag der damals Achtjährigen darin lautet: »Bekommen von Vater und Mutter«.99 Die Tatsache, dass »Fertigtagebücher« industriell produziert und in großen Mengen angeschafft bzw. verschenkt wurden, sagt nun freilich noch wenig über ihre tatsächliche Verwendung aus. Das belegen nicht zuletzt zahlreiche abgebrochene Schreibprojekte.100 Den mir bisher bekannten kürzesten Versuch hielt ein Mädchen aus Wien 1942 fest: »Gestern war Omama 97 Susi G. (geb. um 1900): Tagebuch, 6. April 1912, Privatarchiv von Falko Henning. Vielen Dank für das Zur-Verfügung-Stellen. 98 Ella Reichel (geb. 1905): Tagebuch, 26. März 1917, SFN, NL 38 V. 99 Ella Reichel (geb. 1905): Tagebuch, 23. November 1913, SFN, NL 38 V. Das Deckblatt des zweiten, zwischen 1914 und 1916 verwendeten Büchleins hatte die Schreiberin mit (vermutlich aus der Zeitung ausgeschnittenen) Portraits von Kaiser Franz Joseph I. und Kaiser Karl I. versehen. Das dritte, nur im Jahr 1914 verwendete Büchlein trägt den Aufdruck »Notes«. Ausgewählte Tagebucheinträge von Ella Reichel während der Zeit des Ersten Weltkrieges wurden in der Online-Edition der Sammlung Frauennachlässe veröffentlicht: Der Erste Weltkrieg in Nachlässen von Frauen (2014–2019), online verfügbar unter: www.uni vie.ac.at/Geschichte/salon21/?p=29601. 100 Siehe dazu auch den Hinweis der vorne zitierten Tagebuchschreiberin, die von Anne Frank inspiriert wurde, ein Tagebuch zu beginnen, das Projekt aber dann nur kurz durchhielt (→ Abschnitt 4.2). Aus der Forschungsliteratur dazu Philippe Lejeune und Victoria A. Lodewick: How Do Diaries End?, in: Biography, Jg. 24, 2001, Nr. 1, S. 99–112.

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Ottis 82. Geburtstag. Darum gab sie jedem von uns ein Tagebuch«, schrieb sie als ersten Eintrag ein – und legte das Buch damit für immer zur Seite.101 »Fertigtagebücher« sind also in das Ensemble jener Dinge einzuordnen, die im 20. Jahrhundert für das (westliche) »ideal self as owner« über ihre Wertzuschreibungen wirkten,102 wobei der primäre Zweck der Objekte dabei unter Umständen sogar an Bedeutung verlieren kann.103 Demgemäß wurden sie (hauptsächlich von Verwandten) womöglich gar nicht mit der Intention verschenkt, die jungen Empfängerinnen zum Schreiben zu animieren – oder deren diesbezüglichen Wünschen zu entsprechen. Sie waren vielmehr ein Gegenstand, der als Geschenk ›anerkannt‹ war. Dass durch das nunmehrige Vorhandensein des materiellen Rahmens Mädchen (vielleicht auch ohne vorherige Absichten) dazu angestiftet wurden, mit dem Schreiben zu beginnen, ist zu vermuten. Die 19-jährige Fabrikant/innentochter Ricci Ratzenbeck aus Triest/Trieste beschrieb diese Situation 1902: »Schon lange Zeit, ja fast ein ganzes Jahr, liegt dieses Buch unberührt auf meinem Tische herum. Ich wußte lange nicht wozu ich es verwenden solle, ob ein Kochbuch od. ein Tagebuch daraus werden sollte. Heute, es ist der 18. September 1902, ergreife ich die Feder und beginne zu schreiben.«104 Es wurde also kein Kochbuch – sondern der erste von 14 Tagebuchbänden, die Ricci Ratzenbeck in den kommenden 63 Jahren noch vollschreiben würde. Gleichzeitig waren sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts längst nicht alle Erwachsenen darüber einig, ob es eigentlich wirklich zu fördern wäre, dass Kinder oder Jugendliche ein Tagebuch führten. Belege dafür finden sich über den gesamten Untersuchungszeitraum verstreut immer wieder und in verschiedenen Ausformungen. Manche Diaristinnen führten ihre Aufzeichnungen versteckt vor den Eltern. So hielt die 17-jährige Lehramtskandidatin Josefine Stegbauer aus Wien im Winter 1906 fest: »War das ein Tag! Es ist ½ 1 Uhr nachts. Wenn Papa wüßte, daß ich Tagebuch schreibe! Er meint, ich lerne noch.«105 Während dieser Vater offenbar der Meinung war, seine Tochter solle ihre Zeit mit ›Nützlicherem‹ verbringen, ging es anderen Erziehungsberichtigten um die Inhalte, die sie in den Aufzeichnungen der Mädchen vermuteten. Das schilderte noch Mitte des 20. Jahrhunderts die in der Lüneburger Heide aufgewachsene Ilse Brandt, als sie mit zwölf Jahren zu Ostern 1956 ihr erstes Tagebuch bekam: »Vati ist doof! Er hat 101 Dorli Zdansky (geb. um 1932): Tagebuch, Februar 1942, o. T., SFN, NL 85. Das Buch wurde später von ihrer älteren Schwester Hedi verwendet und voll beschrieben. 102 Gisela Ecker: Geschichten von Koffern, in: Philip Bracher, Florian Hertweck und Stefan Schröder (Hg.): Materialitäten auf Reisen. Zur kulturellen Transformation der Dinge, Berlin 2006, S. 215–232, S. 221. 103 Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Hamburg 2006, S. 17. 104 Ricci Ratzenbeck (geb. 1883): Tagebuch, 18. September 1902, SFN, NL 271 V. 105 Josefine Stegbauer (geb. 1889): Tagebuch, 16. Februar 1906, SFN, NL 104.

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gemeckert, weil Mutti mir heimlich das Tagebuch gekauft hat. Er sagt, wenn jemand Flausen im Kopf hat, muß er das nicht auch noch aufschreiben. Mutti war lieb und hat mich in Schutz genommen. Naja, sie war ja auch mal ein Mädchen«.106 Auch hier handelte es sich wieder um ein intergenerationelles Projekt. Zumindest wurde es von der jungen Tagebuchschreiberin als ein solches interpretiert.

Ein Tagebuch anfangen Eine weitere Variante der »Überformung« von Tagebuchtexten ist häufig darin zu finden, wie ihr Beginn gestaltet ist. Oft fangen Tagebücher ähnlich an. Das wurde bereits im Zusammenhang mit den Beschreibungen, auf welche Weise Mädchen ihr Buch jeweils bekommen haben, angedeutet. Insgesamt lassen sich bei der Art und Weise, wie diaristische Texte eingeleitet worden sind, auch gewisse zeitliche Veränderungen nachvollziehen. Noch nach 1900 war die Floskel »Mit Gott« ein verbreiteter Einstieg.107 Diese wurde teilweise abgewandelt, wie etwa von der Frauenrechtlerin Minna Cauer, die ihr Tagebuch 1870 mit dem Leitspruch »Immer heiter! Gott hilft weiter!«108 begonnen hat. Solche Sprüche sind in den Tagebüchern von Jugendlichen zur Mitte des 20. Jahrhunderts hin nicht mehr zu finden. Stattdessen konnten nun verschiedene Sinnsprüche oder Gedichte Verwendung finden, die dem ganzen Schreiben als übergeordnetes Motto vorangestellt worden sind. Insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts finden sich in manchen Fällen eingangs auch eingeklebte Portraitfotografien der Diaristinnen.109 Häufig wurden zu Beginn von Jugendtagebüchern auch Steckbriefe eingetragen, die die Schreiberinnen von sich selbst erstellt haben. Christiane Holm hat solche Vorwörter als »Silvesterphänomen« bezeichnet. Nach ihrer Auslegung »markiert der Beginn des Tagebuchs [dabei] nichts Geringeres als die Aneignung 106 Ilse Brandt (geb. 1944): Tagebuch, »Ostern 1956«, o. D., SFN, NL 106. 107 Vgl. u. a. Nikola Langreiter (Hg.): Tagebuch von Wetti Teuschl (1870–1885) (L’Homme Archiv, Bd. 4), Wien/Köln/Weimar 2010, S. 7, S. 19. 108 Minna Cauer (geb. 1841): Tagebuch, 18. Februar 1870, FMD, Nachlass Minna Cauer. 109 Vgl. dazu etwa das 1908 von Johanna K. (geb. 1892) in Cottbus begonnene Tagebuch (SFN, NL 10) oder die 1909 von Rudolfine Gandlmayr (persönliche Daten unbekannt) in Wien angefangenen gezeichneten Aufzeichnungen (WStLA, Bestand »Nachlässe und private Sammlungen«, Signatur 3.4.B.155); Gerhalter und Wietschorke: Aus dem Bleistiftgebiet, 2014, S. 135. Zur Funktion und der Handhabe von Portraitfotografien siehe auch Li Gerhalter: »Erika hätte so gern ein Bild von Koch.« Materielle Erinnerungskulturen in Mädchenschulen in Österreich und Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Genre & Histoire, La revue de l’Association Mnémosyne, Nr. 8, 2011, o. S., online verfügbar unter: http://genrehistoire.revues.org/1153.

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der Kulturtechnik des Schreibens als solche für die persönliche Selbstformung.«110 Nach meiner Lesart weisen diese sich wiederholenden Einleitungsfloskeln und die häufig ähnlichen Anfänge auf den hohen Grad der Konventionalisierung des Tagebuchschreibens hin. Insbesondere die geschriebenen Selbstdarstellungen belegen die Absicht, einen stringenten Inhalt zu liefern. Damit ist nicht zuletzt die Frage nach dem ›Mitdenken‹ von möglichen Rezipient/ innen verknüpft. Dabei wurden teilweise ausführliche Informationen gegeben, wie anhand der folgenden Archivbeispiele gezeigt werden kann: Die 18-jährige Handelsschülerin Gertrud Becker aus Dortmund verwendete im Jahr 1913 die beiden ersten Einträge in ihrem Tagebuch dafür, um sich hier selbst vorzustellen. Über sieben Seiten berichtete sie von einzelnen Stationen ihres bisherigen Lebens und gab auch allgemeine Informationen zu Orten etc.: »Endlich habe ich das so lang ersehnte Tagebuch erhalten und ich werde recht fleißig meine Erlebnisse darin aufzeichnen. Damit ich aber nicht wie man […] sagt, mit der Tür ins Haus falle, will ich noch einige Vorbemerkungen machen. Im Jahre 1895 habe ich zuerst das Tageslicht erblickt. Es war zu Dortmund, einer ziemlich großen Stadt in Westfalen.« Nach ausführlichen retrospektiven Darstellungen erklärte sie schließlich ihre aktuelle Situation: »Ich bin nämlich auf ein Jahr in der Handelsschule angemeldet, um mir kaufmännische Kenntnisse zu erwerben, damit ich später in einem Kontor als Korrespondentin eine gute Stellung bekleiden kann.«111 Hier überschneidet sich das Genre des Tagebuchs mit einer retrospektiven Lebenserzählung – und mit der Schilderung von Zukunftsplänen. Dabei konnte sich die ursprüngliche Konzeption auch umgekehrt entwickeln, wie es bei den besonders ausführlichen auto/biografischen Ausführungen der Wienerin Josefine Stegbauer der Fall gewesen ist. Das Mädchen hatte bereits ganze fünf Schreibhefte mit insgesamt 908 Seiten damit gefüllt, die 16 Jahre ihres bisherigen Lebens zu schildern, als sie während der Sommerfrische im Juli 1905 mitten im sechsten Band dazu überging, datierte Tagebucheinträge einzuschreiben. Diese Praktik hat sie schließlich in mehr als 20 Bänden bis September 1924 fortgeführt. Was der konkrete Anlass für ihren so umfangreichen Lebensbericht war, hat Josefine Stegbauer nicht dokumentiert.112 Von anderen Schrei110 Holm: Montag Ich, 2008, S. 39. 111 Gertrud Becker (geb. 1895): Tagebuch (1913–1916), 26. und 27. März 1913, DTA, Reg.Nr. 326/I,1. Dazu auch Josefa Donabaum (geb. Gastegger, geb. 1905): Tagebuch (1921–1926), SFN, NL 47. 112 Die lebensgeschichtlichen Aufzeichnungen sind nach thematischen Kapiteln geordnet, die Überschriften mit Bildcollagen aus Zeitungsausschnitten oder mit Klebebildchen teils auch aufwändig verziert. Der erste Band enthält auf 296 Seiten folgende Themen: »1904–1905. Der Geburtstag«, »1. Lebensmorgen«, »2. Die Geschwister«, »3. Verlorene Lichter«, »4. Der Gang«, »5. Im Hof«, »6. Dienstbare Geister«, »7. Erste Jugend«, »8. Die Großeltern«, »9. Die Verwandten«, »10. Spiel«, »11. Mißtöne«, »12. Ein anderes Haus«, »13. Andere Nachbarn«,

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berinnen aus der Zeit der Jahrhundertwende ist das Verfassen einer damals sogenannten »Selbstbiografie« als Schulaufgabe belegt.113 Damit würde hier auch der Aspekt des direkt angeleiteten Schreibens wieder zu tragen kommen (→ Abschnitt 2.4). Das Beispiel von Josefine Stegbauers 900-seitigem Lebensbericht ist mit Sicherheit außergewöhnlich. Das Phänomen, dass Jugendliche ihren diaristischen Einträgen Selbstbeschreibungen vorangestellt haben, ist aber auch 50 Jahre später noch zu finden. Ilse Brandt aus der Lüneburger Heide hat dabei nicht nur ihr erstes Tagebuch mit einem Steckbrief begonnen. Das Mädchen stellte sich am Anfang aller drei ihrer zwischen Ostern 1956 und Weihnachten 1959 begonnenen Aufzeichnungen immer wieder auf das Neue vor. Dabei wurden die Darstellungen ihrer einmal so benannten »Einleitung[en]« zunehmend ausführlicher: »Ich bin Ilse Brandt. 12 Jahre alt, geb. am 30.6.44 in Bodenteich. Habe blondes Haar und muß wegen Kurzsichtigkeit eine Brille tragen. Finde, daß ich ganz gut aussehe, nur daß ich eine blöde Nase habe. Von nun an wird dieses Buch der Brunnen aller meiner Geheimnisse sein. Und der, der es einmal lesen wird, wird zuerst mit daran teilnehmen.«114 »Über mich. Heute, an meinem 14. Geburtstag, bekam ich, Ilse Brandt, dieses 2. Tagebuch. Wohnort: Bodenteich, Hauptstr. 15. Augen: blau-grau-grün. Figur: schlank u. {mittel}groß. Hobby: Schauspielersammeln [Autogrammkarten, L. G.], Photographieren u. Schlager anhören. Ich glaube an Horoskop. Ich kann Klavierspielen. Ich bin evangelisch. Ich habe ein eigenes Zimmer. Ich war schon auf Sylt und im Harz. Ich zeichne gern.«115 »Gestern am Heiligabend habe ich dieses Tagebuch bekommen. Ich will heute nur eben die Einleitung hineinschreiben, damit, wenn es überhaupt einmal ein Fremder liest, der gleich weiß, wer und wie ich bin. Name: Ilse Brandt (Ich finde ihn schick!) Geboren: Am 30. Juni {44} (Gerade das richtige Datum, Geburtstag »14. Herr Stößl«, »15. In der Schule«, »16. Gott und ich«. Josefine Stegbauer (geb. 1889): Lebenserinnerungen, 1905, SFN, NL 104. Später hat sie dann die Datumsangaben einzelner Tage ähnlich aufwändig gestaltet und damit hervorgehoben. So etwa auch den Tag vor dem Eintritt in die Lehrerinnenbildungsanstalt. Dabei reflektierte die junge Schreiberin, dass diese Hervorhebung möglicherweise voreilig sein könnte: »Ich weiß nicht, ob die Zukunft rechtfertigen wird, daß ich diesen Tag in Glückskleeblätter gerahmt.« Josefine Stegbauer (geb. 1889): Tagebuch, 15. Februar 1906, SFN, NL 104. Zu den späteren Tagebüchern von Josefine Stegbauer siehe auch Annette Pommer: »(Wiener) Kinder aufs Land!« Die Kinderverschickung im Ersten Weltkrieg, Diplomarbeit, Salzburg 2019. 113 Helga Maria Wolf: Briefwechsel. Kriegsliebe, in: schaufenster. Kultur.Region, Februar 2014, S. 16–17. 114 Ilse Brandt (geb. 1944): Tagebuch, »Ostern 1956«, o. J., SFN, NL 106. [Die geschwungenen Klammern {…} in den folgenden Zitaten bezeichnen nachträgliche Einfügungen.] 115 Ilse Brandt (geb. 1944): Tagebuch, 30. Juni 1958, SFN, NL 106 [Hervorhebung im Original]. Zum »Schauspielersammeln« von Ilse Brandt – und anderen Jugendlichen – siehe Gerhalter: »Es war eine Spitzenleistung. Und die anderen gaben auch ihr Bestes«, 2019, S. 90–103.

Das Geheimnis als eine Funktion des Tagebuchschreibens

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zu {feiern} in: Bodenteich (Das finde ich doof. Daher sage ich oft, daß ich in Braunschweig geboren bin. Da ist Mutti her.) Mutter: […] Vater: […] Schule: […] Meine Haare: […] Augen: […] Zähne: […] Größe. […] (Ich muß schon sagen, ’ne ziemlich annehmbare Figur.) Sonstiges: Ich trage eine Brille (schick!), bin evangelisch (bin stolz darauf), möchte gern Sekretärin werden, sammle Ansichtskarten, bin im Horoskop Krebs (Ich möchte so gern nicht daran glauben, aber ich komme einfach nicht von ab), ich spiele Klavier, etwas Gitarre, Schifferklavier, Mundharmonika. Mein Wesen: Ich kann (glaube ich jedenfalls!) sehr freundlich, gütig und angenehm sein, aber irgendeine dumme Bemerkung eines Menschen (besonders Eltern) kann meine gute Laune den ganzen Tag vertreiben. Ich bin dann launisch und antworte nur ganz kurz. Bei einigen bin ich beliebt, weil jeder zu mir kommen kann, der Rat braucht und ich helfe gern. Aber ich bin ziemlich unbeliebt. Vor allen bei denen, die ich nicht ausstehen kann, weil sie sich bei anderen einschmeicheln wollen. Und denen sage ich dann meine Meinung.«116 Gertrud Becker hatte 1913 als Anlass für ihre ausführliche Selbstdarstellung angegeben, sie wollte mit ihren Aufzeichnungen ja nicht »mit der Tür ins Haus falle[n]«. Ilse Brandt adressierte mit ihren Steckbriefen 1956 und 1959 den, »der es einmal lesen wird«. Sie fand, dass es gut wäre, wenn »ein Fremder«, der vielleicht einmal ihre Tagebücher lesen könnte, »gleich weiß, wer und wie ich bin«. Verschiedene Möglichkeiten von Adressierungen von diaristischen Texten wurden in → Abschnitt 3.4 besprochen.117 In diesem Kapitel wurde zudem schon die Möglichkeit genannt, das Tagebuch als Freund/in zu konstruieren – und dabei gegebenenfalls auch direkt anzusprechen. Im Fall von Gertrud Becker und Ilse Brandt waren die Einträge an eine unbestimmte Person gerichtet – eventuell an »einen Fremden«. Solche Vorstellungen laufen gerade entgegengesetzt zu der Annahme, Tagebücher von Jugendlichen wären als Geheimnis konzipiert. Wie könnten diese beiden Aspekte dennoch zusammenpassen?

4.4) Das Geheimnis als eine Funktion des Tagebuchschreibens Das Geheimnis ist eine der gängigsten Zuschreibungen an das Genre Tagebuch. In den Quellen können vielfältige Umgangsformen damit beobachtet werden. Die jungen Schreiber/innen haben die Vorstellung davon, die Inhalte von diaristischen Aufzeichnungen müssten vor fremden Blicken geschützt werden, auch geflissentlich für sich genützt. Sie haben die Tagebücher nicht nur versteckt, sie 116 Ilse Brandt (geb. 1944): Tagebuch, 25. Dezember 1959, SFN, NL 106. 117 Dazu ausführlicher Seifert: Von Tagebüchern und Trugbildern, 2008, S. 64–80 (Kapitel »Das Tagebuch und sein Adressat«).

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haben diese auch ganz gezielt ausgewählten Leser/innen gezeigt. Für mich ist dieser bedachte Umgang der Beleg dafür, dass das (vermeintliche) Geheimnis eine eigene Funktion des Tagebuchschreibens war. Geheimnisse werden in diesem Sinne als »eine Form des kommunikativen Handelns« verstanden, als eine eigene Form von Kommunikation, wie es Claudia Schirrmeister in Rekurs auf die Arbeiten des Soziologen und Philosophen Georg Simmel (1858–1918) definiert hat.118 Was könnte aber mit der Weitergabe von Tagebüchern kommuniziert worden sein? Die »kommerziellen Fertigtagebücher« tragen häufig ein seitlich angebrachtes Schloss. Das ist nicht zuletzt der dinghafte Ausdruck dafür, dass darin Geschriebene müsste unter Verschluss gehalten werden. Das – für alle gut sichtbare – Schloss wies nicht nur die Umwelt darauf hin, es regte auch die Schreiber/innen dazu an, die Inhalte auf diese Weise wahrzunehmen. Die britische Schriftstellerin Virginia Woolf (1882–1941) hat in ihrem 1929 erstmals veröffentlichten berühmten Essay »A Room of One’s Own« die Voraussetzungen formuliert, die gegeben sein müssten, damit sich Frauen intellektuell betätigen könnten. Das war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ja noch keine Selbstverständlichkeit.119 Versperrbare Tagebücher können nun als eine Minimalvariante eines »Room of One’s Own« verstanden werden. Oder zumindest als eine – durch das Schloss auch sichtbar gemachte – Willensbekundung zu einem eigenen, selbstbestimmten und geschützten Ort. Neben dem emanzipatorischen Potenzial für die Schreiber/innen ist damit aber auch ein paradoxes Moment der Disziplinierung verbunden, das sich im Besonderen an Mädchen aus dem Bürger/innentum richtete. Sie sollten bis in das 20. Jahrhundert hinein ohnehin bevorzugt in der häuslichen Sphäre agieren. Mittels der modischen, versperrbaren »Fertigtagebücher« wurden sie nun angeleitet, sogar ihre Gedanken in den Zwischenraum von zwei Buchdeckeln zurückzuziehen und dort einzusperren. Die »Flausen im Kopf« der oben zitierten 12-jährigen Ilse Brandt würden hier die Umwelt weniger stören?120 Abgesehen davon erforderte die sachgemäße Handhabe der geheimen Tagebücher einen sorgsamen Umgang damit. Wurden sie – oder die Schlüssel – nicht gut aufbewahrt, konnten sich die Schreiber/innen auch selbst daraus ausschließen, wie es 118 Claudia Schirrmeister: Geheimnisse. Über die Ambivalenz von Wissen und Nicht-Wissen, Wiesbaden 2004, S. 33. 119 »Was Virginia Woolfs Vorgehensweise auszeichnet, ist zunächst ein durchaus Roher Materialismus: es geht wirklich um die materiellen Lebensbedingungen und im Besonderen um die materiellen Lebensbedingungen von Frauen, die lesen und schreiben (wollen).« Johanna Dvorˇák: Virginia Woolf und die gesellschaftliche Stellung der Frauen. Am Beispiel von Ein eigenes Zimmer, in: Blumesberger, Kanzler und Nusko: Mehr als nur Lebensgeschichten, 2014, S. 125–133, S. 125f. 120 Ilse Brandt (geb. 1944): Tagebuch, »Ostern 1956«, o. D., SFN, NL 106.

Das Geheimnis als eine Funktion des Tagebuchschreibens

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die 13-jährige Internatsschülerin Thea H. aus Sachsen 1920 schilderte: »Nun habe ich mehrere Tage nicht in mein liebes Tagebuch schreiben können, denn ich hatte den Schlüssel zu demselben verloren, nun habe ich ihn wieder«.121 Ähnliches hatte die gleichaltrige Ella Reichel aus Niederösterreich bereits zwei Jahre zuvor berichtet: »Eben komme ich vom Geschäft herauf, wo Flürl mir einen kleinen Schlüssel für mein Tagebuch aussuchte, denn ich verlor meine Geldbörse mit dem Tagebuch-Schlüssel. Darum schrieb ich so lange nichts ein.«122 Mit dem genannten »Geschäft« ist vermutlich die von den Eltern geführte Eisenwarenhandlung am Hauptplatz des Städtchens Neulengbach gemeint. »Flürl« dürfte ein/e Angestellte/r gewesen sein. Mit der Instandsetzung des ›geheimen‹ Tagebuchs der Schülerin waren also vermutlich gleich mehrere Personen beschäftigt, durch deren Hände es dabei auch gegangen sein dürfte. Die Rettungsaktion zog sich entsprechend auch über drei Wochen. Optisch weniger auffällig als ein Schloss sind Bannsprüche. Diese wurden von Jugendlichen häufig auf den ersten Innenseiten angebracht und waren klar an unbefugte Leser/innen gerichtet. Die dabei angedrohten Konsequenzen wurden verschieden drastisch ausgedrückt, wie die folgenden Beispiele zeigen, die zwischen 1911 und 1955 in Graz, in Zemun/Semlin bei Beograd/Belgrad, im sächsischen Vogtland und in Gengenbach in Bayern verfasst wurden: »Bitte, wenn es in fremde Hände kommen sollte, es ungelesen zurückzugeben, da gewiß niemand in Tagebuchgeheimnisse u.s.w. unerlaubter Weise eindringen wird.«123 »Ein Feind soll mir ein jeder sein, der solchen Charakter hat, das Heft ohne meine Erlaubnis durchzusehen. Ich warne schon jetzt ehe er (sie) es wagt, es durchzulesen. Überlege!!!«124 »Nur Du sollst alle meine Geheimnisse wissen! Und ich verachte den Menschen, der aus bloßer Neugierde darin eindringt! Ruth Beda«125 »Tagebuch bitte nicht lesen! Bei Deiner Würde!«126

Neben moralischen Appellen wurde also auch die Rache der Schreiber/innen in Aussicht gestellt. Oder sogar ein bleibender Schaden für den Charakter derjenigen Person, die sich unautorisiert den Tagebuchinhalten nähern würde. Diesen Schreiberinnen war es ernst.

121 122 123 124 125

Thea H. (geb. 1907): Tagebuch, 30. März 1920, WKBA 2918. Ella Reichel (geb. 1905): Tagebuch, 24. Jänner 1918, SFN, NL 38 V. Ida Pohlner (geb. 1895): Tagebuch, September 1911, o. T., SFN, NL 5. Irmgard Weinberger (geb. 1928): Tagebuch, 1. Jänner 1943, SFN, NL 118. Ruth Beda (geb. 1924): Tagebuch, 2. Mai 1940, Privatbesitz. Danke an Karin Schulze für das Zur-Verfügung-Stellen dieses Bannspruches. 126 Helga M. Hochhäusl (geb. 1940): Tagebuch, Jänner 1955, o. T., SFN, NL 68.

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Gelüftete Geheimnisse An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass die Geheimhaltung der Einträge längst nicht in allen Tagebüchern von Jugendlichen thematisiert oder problematisiert wird. Viele scheinen sich darüber keine Gedanken gemacht zu haben. Falls jedoch ›fremde Blicke‹ befürchtet wurden, hatten die verdächtigten Personen ein ziemlich ähnliches Profil. Zumeist handelte es sich um die Eltern oder Erziehungsberechtigten, um Geschwister oder um die Lehrerinnen in Internatsschulen. Und wie zahlreiche Beispiele zeigen, haben die zuvor Verdächtigten dann häufig tatsächlich die Bücher geöffnet. Die Situationen waren dabei sehr verschieden. Es konnte ein Streich unter Geschwistern sein, wie es die 16jährige Ida Pohlner 1911 beschrieb: »Schönes Wetter. Wir standen um ½ 10 h auf. Frühstückten und ließen dann den Grammophon laufen. Franzl stahl mir mein Tagebuch und las alles mit Toni. Ich war ganz böse und wollte nichts mehr sprechen.«127 Als Ilse Brandt (inzwischen 16-jährig) im Jahr 1960 gewahr wurde, dass ihre Mutter das Tagebuch gelesen hatte, fasste sie den Entschluss, mit dem Schreiben aufzuhören: »Ich habe meine Tagebücher durchgeblättert und mit anderen Augen gelesen. Alles, was Mutti wußte, hatte sie nicht von anderen erfahren, sondern kurz vorher, wahrscheinlich regelmäßig gelesen. Meine innersten Gedanken, meine Schwindeleien, meine Gefühle, die ich so ehrlich von mir geschrieben habe. […] Ich werde nie mehr ins Tagebuch schreiben.«128 Offenbar stellte sich dieses Vorhaben für die Jugendliche aber als nicht umsetzbar heraus. Sie begann bald wieder mit ihren Aufzeichnungen, änderte aber die Modalitäten. Der folgende Eintrag ist in Kurzschrift verfasst: »Doch, ich schreibe wieder, aber gewisse Stellen nur in Steno. Ich muß meine Gedanken aufschreiben, sonst platze ich. Nur, wenn ich mir alles von der Seele schreibe, kann ich wieder ruhig werden. Ich habe jetzt ein gutes Versteck für mein Tagebuch!«129 An verschlüsselten oder versteckten Tagebüchern gibt es zahlreiche prominente Beispiele aus der Literaturgeschichte, die Schülerin war mit ihrer neuen Strategie also in guter Gesellschaft.130

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Ida Pohlner (geb. 1895): Tagebuch, 17. August 1911, SFN, NL 5. Ilse Brandt (geb. 1944): Tagebuch, Juni 1960, o. T., SFN, NL 106. Ilse Brandt (geb. 1944): Tagebuch, 17. Juni 1960, SFN, NL 106 [Eintrag in Kurzschrift]. Ein berühmtes Beispiel sind die von 1660 bis 1669 geführten Aufzeichnungen des britischen Beamten und Politikers Samuel Pepys (1633–1703). Er hat darin auf mehr als 3.000 Seiten über offizielle Ereignisse berichtet, aber auch von seinen persönlichen Ansichten, privaten Verwicklungen oder über korrupte Machenschaften. Samuel Pepys hat die Einträge in einer Kurzschrift verfasst und seine Aufzeichnungen zusätzlich Zeit seines Lebens geheim aufbewahrt. Phil Gyford: The Diary of Samuel Pepys. Daily entries from the 17th century London diary (o. J.), online verfügbar unter: www.pepysdiary.com/about. Weitere Beispiele

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Eine andere – und eigentlich logische – Strategie konnte sein, gewisse Inhalte erst gar nicht schriftlich festzuhalten. Das ist für Forscher/innen nachträglich klarerweise schwierig nachzuvollziehen, außer es wurde wie in dem folgenden Fall konkret erwähnt: »Niemand, auch Du liebes Tagebuch, soll den Namen wissen, des Mädchens, das mir als einzige sein Herz ausschüttet; es muß ein Geheimnis bleiben.«131 Dieses Tagebuch wurde im Kontext einer Internatsschule geschrieben. Die direkte Bezugnahme der Verfasserin auf die Unsicherheit der Wahrung des Inhalts verweist darauf, dass sie davon ausging, dass es von anderen gelesen werden könnte. Dieses Tagebuch enthält also ein tatsächliches Geheimnis, eines, das es auch »bleiben« musste – und blieb. Eine 14-jährige Gymnasiastin aus Oberösterreich erklärte die Auslassungen in ihrem Tagebuch 1961 wiederum mit einem praktischen Grund: »Es hat sich eine Menge ereignet, ich mag es aber nicht schreiben.«132 Interessanterweise verschlüsselten manche jugendlichen Schreiberinnen im 20. Jahrhundert ihre Eintragungen auch dann, wenn sie in versperrbaren Büchern verfasst waren und es keine Hinweise auf Befürchtungen ›fremder Blicke‹ gibt. Eine 15-jährige Gymnasiastin aus Wien verbarg etwa in Kurzschrift genauere Informationen darüber, was denn bei einer Tanzveranstaltung im Sommer 1937 nun genau »sehr schön« gewesen war. Im Herbst 1938 machte sie dann auf dieselbe Weise den Grund unkenntlich, warum sie nicht in den BDM (Bund Deutscher Mädel) aufgenommen worden war.133 In diesem Fall sollten die betreffenden Angaben vermutlich gar nicht vor anderen Augen geschützt werden. Die Schreiberin wollte sie wohl nicht direkt und damit dauerhaft in ihrem Tagebuch festhalten. Das kann eine weitere Funktion der Verschlüsselung von auto/ biografischen Aufzeichnungen sein. In dem Sinne sind auch nachträgliche Bearbeitungen von Tagebucheinträgen zu interpretieren, bei denen Passagen ausgestrichen, Seiten ausgeschnitten oder ganze Buchteile herausgerissen sein können.134 Als Spuren bleiben diese – nun unlesbaren – Stellen dennoch Teil des Textes.135 Sie verweisen damit auf die Prozesshaftigkeit als einen weiteren Aspekt

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werden geschildert u. a. in Arno Dusini: … im Leben blättern … Das Tagebuch als materialisierte Zeit, in: Gold, Holm, Bös und Nowak: @bsolut privat!?, 2008, S. 97–99, S. 99. Ida Pohlner (geb. 1895): Tagebuch, 21. September 1912, SFN, NL 5. Hedwig Peter (Pseudonym, geb. 1947): Tagebuch, 5. Mai 1961, SFN, NL 117 III. Hertha Bren (geb. 1922): Tagebuch (1943–1947), SFN, NL 41 II. Die hier zitierten Themen werden in Kurzschrift behandelt. Dazu auch Eleonore Lappin-Eppel: »Halbjüdisch« oder »halbarisch«? Das prekäre Überleben jüdischer »Mischlinge« und »Mischehen« im nationalsozialistischen Wien 1938–1945, in: Chilufim. Zeitschrift für Jüdische Kulturgeschichte, Jg. 20, 2016, S. 33–88. Nikola Langreiter: Nachbemerkungen – Wetti Teuschls Tagebuch als kulturwissenschaftliches und historisches Material, in: dies. (Hg.): Tagebuch von Wetti Teuschl, 2010, S. 151–194, S. 159–162. Holm: Montag Ich, 2008, S. 39.

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des Führens von Tagebüchern. Sie werden geschrieben und aufbewahrt, aber darüber hinaus werden sie möglicherweise auch gelesen, kommentiert, abgeschrieben oder umgestaltet. Ganz allgemein muss die Verwendung von Kurzschrift in Tagebüchern aber nicht automatisch dazu genützt worden sein, um die Einträge zu verschlüsseln.136 Nachdem viele junge Frauen im 20. Jahrhundert Stenografie in der Schule gelernt und im Büroarbeitsbereich verwendet haben, konnte es für sie einfach ein Mittel gewesen sein, um auch im Tagebuch schneller schreiben zu können (→ Abschnitt 3.4). Wenn sie ihre Aufzeichnungen in Kalendern eingetragen haben, kann der Grund für das Verwenden von Kürzeln auch schlichtweg darin gelegen sein, Platz zu sparen. Die vorgedruckten Tagesfelder beschränkten ja die Menge, die täglich eingetragen werden konnte. Der Einsatz einer selbst erfundenen Geheimschrift kann schließlich auch eine Spielerei gewesen sein.

Kommunikative Geheimnisse In mehreren Fällen haben die Schreiberinnen von einem sehr unbesorgten Umgang mit den Inhalten von Tagebüchern berichtet. Die selbstverständliche Art, wie die 15-jährige Steirerin Ida Pohlner über das diaristische Schreiben ihrer Internatsfreundin berichtete, lässt vermuten, dass diese Mädchen (unter sich) offen mit ihren Aufzeichnungen umgegangen sind: »Hilda begann heute ihr Tagebuch, sie schreibt halt ungestüm wie sie überhaupt ist, die ›wilde Hilde‹«.137 Ähnliches ist auch in außerschulischen Zusammenhängen und noch in den 1960er-Jahren zu finden: »Lottchen ist bei mir herunten: Tagebuchlesen. Eben ist Lottchen gegangen. Sie las einiges von meinen 2 Tagebüchern. Erika wollte auch, aber sie ging bald wieder.«138 Aus Internatsschulen oder Fürsorgeeinrichtungen ist wiederum belegt, dass es einerseits gängig war, dass Lehrer/innen oder Erzieher/innen die Tagebücher der Jugendlichen eingesehen haben. Dem Anschein nach wurde darüber dann offen gesprochen und womöglich der Inhalt kommentiert. Annelies Argelander (1896–1980) und Ilse Weitsch haben das in den 1930er-Jahren in ihrer jugend136 In den verschiedenen Sammlungen und Archiven für Selbstzeugnisse sind zahlreiche Bestände an Tagebüchern dokumentiert, die zur Gänze oder teilweise in Kurzschrift geführt wurden. Im Tagebucharchiv Emmendingen sind derzeit (2020) 221 Bestände (aller Genres) in Stenografie verfasst. Diese Daten sind online verfügbar auf der Website der Sammlung. In manchen Fällen haben die Schreiber/innen die Modalitäten auch geändert. So führte die bereits vorgestellte Steirerin Ida Pohlner erst den letzten ihrer fünf vorliegenden Tagebuchbände in Stenografie. Ida Pohlner (geb. 1895): Tagebuch (1914–1919), SFN, NL 5. 137 Ida Pohlner (geb. 1895): Tagebuch, 8. November 1910, SFN, NL 5. 138 Hedwig Peter (Pseudonym, geb. 1947): Tagebuch, 10. Dezember 1960, SFN, NL 117 III.

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psychologischen Studie »Aus dem Seelenleben verwahrloster Mädchen auf Grund ihrer Tagebuchaufzeichnungen« für ein nicht näher genanntes Heim in Deutschland beschrieben. Hier mussten »die Mädchen damit rechnen, daß ihre Niederschriften kontrolliert wurden und daß es Strafe gab, wenn etwas ›Unanständiges‹ darin stand« (→ Abschnitt 2.7).139 Ida Pohlner hatte schon 20 Jahr zuvor von einer solchen Praxis berichtet. Sie besuchte um 1910 eine konfessionelle Lehrerinnenbildungsanstalt in Graz. Auch hier haben die Erzieherinnen die Tagebücher der Schüler/innen kontrolliert bzw. ständig darüber verhandelt: »M. fragte mich auch ob ich ihr das Tagebuch lesen lassen wolle. ›Nein, Schwester, es geht nicht!‹ rief ich. Nie und niemals werde ich das tun.«140 Einige Woche später traf es die ›wilden‹ Aufzeichnungen der Freundin Hilde: »Gestern hat Schw[ester] Bonifazia der Hilde das Tagebuch genommen und es gelesen und sie dann zur Rede gestellt. Das war nicht schön von ihr, hatte immer gedacht Schw. Boni [unleserlich durch Kurzschrift, L. G.] daß sie die Tagebücher lese. Es ist nicht schön von ihr. Wenn sie so wäre wie Schw. Alfonsa so möchte sie das nicht tun, denn diese fragte, ob sie es lesen könne und als ich es verneinte, fragte sie mich nie mehr und wenn sie es finden würde, möchte sie es bestimmt nicht lesen.«141 Die Reaktion der Schülerin auf die Einsichtnahmen der Erzieherinnen war nun einerseits der Einsatz von Kurzschrift. Das kann als das Einführen einer weiteren Textebene interpretiert werden (die die Lehrerinnen vielleicht nicht entziffern konnten). An anderen Stellen verwendete Ida Pohlner auch eine Art von Geheimschrift.142 Gleichzeitig sprach sie die Kontrollen der Klosterschwestern in ihrem Eintrag direkt an und beschwor die Integrität der Erzieherinnen. Das lässt sich als eine Form der indirekten Kommunikation deuten: Falls eine der Frauen es tatsächlich einsehen würde, würde sich doch spätestens an dieser Stelle Bedenken entwickeln? Die Angelegenheit blieb jedenfalls aktuell und einige Monate später war es dann tatsächlich soweit: »Gott heute sah mir Sch. Bonifazia das Tagebuch an und ich habe auch jetzt die Versicherung, daß sie es, wenn es vielleicht mal verloren geht, nicht lesen wird.«143 Immerhin schien die Durchsicht in diesem Fall im Wissen der Schreiberin stattgefunden zu haben. Sie nahm daraufhin beruhigt an, die Erzieherin würde ihre Aufzeichnungen zukünftig nicht mehr »ansehen«, da sie sie ja nun kannte.

139 Annelies Argelander und Ilse Weitsch: Aus dem Seelenleben verwahrloster Mädchen auf Grund ihrer Tagebuchaufzeichnungen (Quellen und Studien zur Jugendkunde, Bd. 10), Jena 1933, S. 112. 140 Ida Pohlner (geb. 1895): Tagebuch, 3. Mai 1911, SFN, NL 5. 141 Ida Pohlner (geb. 1895): Tagebuch, 25. Juni 1911, SFN, NL 5. 142 Dazu u. a. Hämmerle: Ein Ort für Geheimnisse?, S. 43–44. 143 Ida Pohlner (geb. 1895): Tagebuch, 21. Jänner 1912, SFN, NL 5.

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Fremde Einsichtnahmen in ihr Tagebuch im familiären Rahmen hat die Berlinerin Fanny Röhl dokumentiert. Die Geschichte fing damit an, dass sie es im Jänner 1921 für einige Zeit nicht finden konnte. Die weitere Entwicklung ist in den Aufzeichnungen detailliert geschildert. Dabei wird der Umgang mit den auto/biografischen Aufzeichnungen von jugendlichen Mädchen innerhalb ihrer Familien auf verschiedenen Ebenen beschrieben. Am Anfang stand jedenfalls das Verschwinden des Tagebuchs: »Ich bekam einen großen Schreck und hatte Angst, dass jemand es gelesen hatte oder lesen wollte. Ich suchte mein Schreibfach ganz und gar ab, suchte überall wo es hätte sein können. Aber es war nirgends zu finden, dann fragte ich Mutti, Lola, Mina [die beiden Schwestern der Schreiberin, L. G.], ob sie mein Tagebuch genommen hätten, oder wüssten, wo es sei, aber sie verneinten. Ich war schon ganz beunruhigt und konnte mir gar nicht erklären, wo es geblieben sei. Ich suchte heute wieder in allen Ecken und Enden, aber vergeblich! Da sagte Mina vorhin: ›weißt Du, Lolas Briefe waren doch auch mal so spurlos verschwunden und nach Wochen fand sie sie im Regal auf dem Korridor. Sieh doch da mal nach!‹ Das schien mir zwar sehr zweifelhaft, […] aber ich sah doch mal nach – und fand mein Tagebuch an derselben Stelle, wo damals Lolas Briefe gelegen haben. […] Wie war es aber dahin gekommen? Das ist mir direkt rätselhaft. Ja ich bin sogar fast geneigt, an überirdische Dinge zu glauben und an Übernatürliches zu denken.«144 Drei Monate später klärte sich der profane Hintergrund der Sache auf: »Mutti hat mein Tagebuch gelesen ohne mein Wissen. Ich war darüber empört und traurig. Mutti sagte mir die Gründe: sie wollte wissen, wie ich über meine Einsegnung denke, warum ich dagegen war und wie weit sie mich verloren hat. – Nebenbei bemerkt hatte sie es gelesen an jenem Tage, als es verschwunden war.«145 Die weiteren Ausführungen der Schülerin sind womöglich überraschend. Sie zeigte sich darin zwar betreten. Der Grund dafür war aber weniger der Umstand, dass die Mutter ihr Tagebuch gelesen hatte, als vielmehr, dass sie dies getan hatte, ohne es vorher mit der Tochter abzusprechen: »Ich finde es nicht schön und nicht richtig von Mutti, aber ich kann es ihr nicht übel nehmen, da sie selbst es ja für richtig hielt. Aber sie hätte es nicht heimlich zu lesen brauchen, es mir sagen können. Das finde ich so komisch und nicht fein. Vielleicht hat sie mich nicht gefragt, weil sie sich dachte, dass ich es nicht erlaubt hätte. Ich wollte doch gerade vermeiden, dass sie Stellen liest, die sie verletzt haben müssen und dass sie manches erfährt, was sie schmerzt.«146 Die Gymnasiastin ängstigte sich offenbar weniger vor direkten Sanktionen der Mutter, vielmehr fürchtete sie, diese mit den Inhalten ihrer Einträge gekränkt zu haben.

144 Fanny Röhl (geb. 1904, Pseudonym): Tagebuch, Jänner 1921, o. T., ABP, Signatur M 88. 145 Ebd., April 1921, o. T. 146 Ebd.

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Es zeigt sich hier ein komplexes System von innerfamiliärer Kommunikation, bei dem auch die Ebene der Tagebuchtexte des Mädchens einbezogen worden ist. Fanny Röhl hatte überdies noch andere Erfahrungen mit dem Weitergeben ihres Tagebuchs: Sie tauschte es regelmäßig mit ihrer besten Freundin Erika Morgan aus, deren Aufzeichnungen sie dabei viel besser fand als ihren eigenen (→ Abschnitt 4.2). Dabei finden sich schließlich Belege dafür, dass die Freundinnen auch Einträge in den Tagebüchern der jeweils anderen verfasst haben. So hinterließ Erika Morgan im Tagebuch von Fanny Röhl im September 1920 einen langen, an sie gerichteten Eintrag: »Meine innig geliebte Fanny! Du hast gestern Dein Tagebuch hier gelassen und ich benütze die Gelegenheit, einige Zeilen von mir hineinzuschreiben. Fanny, ich schreib, was ich fühle. Hier in diesem Buche, das Dein Innerstes umschließt – oder besser gesagt, Dein Innerstes umschließen soll – zeigst Du mir, dass Du mich lieb hast. Und hier will ich Dir antworten. […] Du siehst, ich tue, als hätte ich mein Tagebuch vor mir.«147 Hier wurde die gegenseitige Kommunikation also direkt aufgenommen, und das Jugendtagebuch von Fanny Röhl erweiterte sich – zeitweise – auch zu einem Brieftagebuch.148

Geteilte Geheimnisse Die tatsächliche Handhabe von Tagebüchern war also vielfältig und konnte über das Einschließen und Geheimhalten von Gedanken weit hinausgehen. Sie wurden etwa unter Freundinnen weitergegeben, um die jeweiligen Beziehungen zu etablieren oder zu festigen.149 Anhand dieser Beispiele wird die oben vorgeschlagene Lesart des Geheimnisses als »Form des kommunikativen Handelns« besonders gut sichtbar. Die im Text enthaltenen Informationen wurden dabei als eine Art ›Währung‹ oder ein ›Pfand‹ eingesetzt, die das Verhältnis zum Gegenüber aufwerten sollten. Die 16-jährige Lehramtskandidatin Tilly Hübner aus Wien reflektierte im Jahr 1901 den Zweck der Weitergabe ihres Tagebuchs an ihre Freundin im Eintrag vor dem geplanten Austausch: »Morgen will ich Anna mein Tagebuch bringen. Ist es nicht zu gewagt? – Doch nein, sie ist gut – und dann 147 Eintrag der Freundin Erika Morgan (Pseudonym, persönliche Daten unbekannt) im Tagebuch von Fanny Röhl (Pseudonym, geb. 1904): Tagebuch, September 1920, o. T., ABP, Signatur M 88. 148 Als zeithistorische Arbeiten zu dem Genre des Brieftagebuchs siehe u. a. Edith Saurer: »Aber wie unendlich weit ist diese Stimme …«. Nähe und Erinnerung in Otto Leichters Brieftagebuch, geschrieben in der Pariser Emigration 1938/39, in: Hämmerle und Saurer (Hg.): Briefkulturen und ihr Geschlecht, 2003, S. 219–234 und Kathryn Sederberg: »Als wäre es ein Brief an dich«. Brieftagebücher 1943–1948, in: Steuwer und Graf: Selbstreflexionen und Weltdeutungen, 2015, S. 143–162. 149 Zum Thema Freundinnenschaften siehe u. a. Eva Labouvie (Hg.): Schwestern und Freundinnen: Zur Kulturgeschichte weiblicher Kommunikation, Köln/Weimar/Wien 2009.

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werden wir einander besser verstehen!«, stellte sie für sich fest – und teilte das damit der zukünftigen Leserin auch gleich indirekt mit.150 Für die Funktion der ›geteilten Geheimnisse‹ bot sich das Format Tagebuch gerade wegen der überkommenen Zuschreibungen an das Genre besonders an. Die Rezipient/innen konnten gleich ›erkennen‹, dass es sich bei der Weitergabe der Inhalte um einen Vertrauensbeweis handelte. Welche Art von Information diese Inhalte dann bereitstellen würden, mag dabei gegebenenfalls sogar zur Nebensache geworden sein.151 Wie die 13-jährige Internatsschülerin Isolde Herzig 1927 berichten musste, konnten solche diaristische Transaktionen auch schiefgehen: »Ich gab der Fanny und Rosina mein Tagebuch. Da nahm es ihnen die Heimmutter weg. Ich schämte mich furchtbar.«152 Manche jungen Schreiberinnen formulierten ihrerseits wiederum dezidiert den Wunsch, einer verehrten Lehrerin ihr Tagebuch zeigen zu wollen. Bisher habe ich kein Beispiel gefunden, das dokumentieren würde, dass das auch wirklich umgesetzt worden wäre. Fanny Röhl hat ein entsprechendes Ansinnen zwar mehrfach angesprochen, es aber nicht realisiert. Es blieb für sie ein »Traum«, wie sie im Oktober 1920 geschrieben hat: »Ach, was hatte ich heute Nacht für einen Traum! Ich träumte, sie hätte mein Tagebuch gelesen (!) und hineingeschrieben: ›Viele Grüsse und Küsse!‹ ich besinne mich noch deutlich auf das Gefühl einer verlegenen Seligkeit, das ich im Traum empfand. Es war ein Traum! Leider oder Gott sei Dank?«153 Außerhalb schulischer oder familiärer Zusammenhänge gaben junge Frauen ihre Aufzeichnungen schließlich auch an ihre Partner/innen weiter oder lasen ihnen daraus vor.154 Diese Praxis ist bereits aus dem 19. Jahrhundert bekannt und 150 Tilly Hübner (geb. 1884): Tagebuch, 10. März 1901, SFN, NL 1. 151 Zur direkten schriftlichen Kommunikation stand ja noch das Mittel der Korrespondenz zur Verfügung. So kommt im Nachlass von Tilly Hübner die im Tagebuch adressierte Freundin Anna Nittner durch einzelne vorhandene Briefe auch selbst zu Wort. 1902 schrieb sie aus der Sommerfrische in Podhor/Podhornívrch in Böhmen: »Liebe Tilly! […] Du weißt ja, wie gern ich Dich habe, u. wie ich stets mit Dir mitfühlte, wenn Du mit so einem Weltschmerz-Gesicht umhergiengst. Landluft u. Ferienruhe wird hoffentlich auch das ihrige tun. Aber Du, unverbesserliches Wesen, verunreinigst sicherlich die gute Luft mit jener äußerst schädlichen, die aus Schulbüchern, insbesondere Grammatik u. Geschichtsbüchern herausweht. […] Also schreibe mir recht bald wieder. Indessen wird Deiner sehr oft gedenken Deine Dich liebende Anna.« Anna Nittner an Tilly Hübner, 29. Juli 1902, SFN, NL 1. Eine solch zärtliche Sprache ist eines der Merkmale von Freundinnenbriefen um 1900. Dazu Li Gerhalter: Freundinnenschaft als geschriebener Ort. Briefliche Selbst/Inszenierungen von Frauenfreundschaften der jungen Lehrerin Tilde Mell (Wien, 1903–1912), in: Ariadne. Forum für Frauen- und Geschlechtergeschichte, 2005, Heft 48, S. 62–69. 152 Isolde Herzig (geb. 1914): Tagebuch, 10. September 1927, Doku, Signatur 1914_Herzig Isolde. 153 Fanny Röhl (Pseudonym, geb. 1904): Tagebuch, Oktober 1920, o. T., ABP, Signatur M 88. Zum Thema Lehrerinnenverehrung Gerhalter: »Erika hätte so gern ein Bild von Koch«, 2011. 154 Tilly Hübner (geb. 1884): Tagebuch, 28. Mai 1905, SFN, NL 1.

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noch für die 1970er-Jahre belegt.155 Die 22-jährige Studentin Ruthilt Hanzel aus Wien hat ihre von 1922 bis 1930 geführten Tagebücher im Jahr 1933 sogar in Auszügen mit der Schreibmaschine abgetippt, um damit ihrem Verlobten ihr jüngeres Selbst vorzustellen. Selbstironisch kommentierte sie dabei einen Eintrag aus dem Jahr 1926: »Wenn man so nach zwei Jahren seine Jeremiaden liest, so denkt man sich: Meingott war ich aber patschert.«156 In dem Fall fand also nicht nur ein Teilen des jüngeren ›Ichs‹ mit dem neuen Partner statt – die junge Frau distanzierte sich auch von der ›früheren Ausgabe‹ ihres eigenen Selbst.157 Um sich vollständig zu präsentieren, mussten die inzwischen als überholt empfundenen Teile in der Abschrift jedoch ebenfalls beibehalten werden. Zumindest in diesem konkreten Fall der Selbstedition sind keine Bearbeitungen festzustellen. Nur geteilte Geheimnisse sind keine Geheimnisse. Zurückgezogen geführte Tagebücher waren nur eine der Formen des diaristischen Schreibens, die unter Jugendlichen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verbreitet waren. Tagebuchschreiben gehörte zu den Konventionen der bürgerlichen Selbstdokumentation. Dass die Inhalte dabei für keine fremden Augen bestimmt sein sollten, wurde durch das versperrbare Schloss von »Fertigtagebüchern« optisch unterstrichen. Wie die Archivbeispiele belegen, haben viele Schreiber/innen ihre Aufzeichnungen aber auch geteilt und einem ausgewählten Lesepublikum präsentiert. Das war zumeist als Vertrauensbeweis gedacht. Damit ist auf den kommunikativen Aspekt verwiesen, den das Tagebuchschreiben auch haben konnte und kann. Umgekehrt wurden gerade auch in jenen Fällen, in denen die Einträge versteckt, versperrt oder verschlüsselt verfasst sind, (potenzielle) Leser/innen mitgedacht: Eben jene Personen, vor deren Augen die Aufzeichnungen bewahrt werden sollten. Das konnten nun konkrete Menschen aus der Familie, der Schule oder dem Internat sein. In manchen Fällen waren es auch imaginierte Leser/ innen. Ilse Brandt brachte diesen Zwiespalt als Zwölfjährige in ihrem ersten Tagebuch 1956 auf den Punkt: Einerseits solle das Tagebuch »der Brunnen aller [ihrer] Geheimnisse sein«, die nur sie selbst etwas angingen. Andererseits rechnete sie fest damit, dass es »einmal« jemand lesen »und dann mit daran teil155 Rebecca A. Steinitz: Shared Secrets and Torn Pages: Diaries and Journals in Ninteenthcentury British Society and Literature, Berkeley 1997; Rüdiger Graf: Die Langeweile der Revolution und die Privatisierung des Politischen, in: Steuwer und Graf: Selbstreflexionen und Weltdeutungen, 2015, S. 207–233, S. 223. 156 Ruthilt Hanzel (geb. 1911): Tagebuchabschrift, 1933, SFN, NL 2 I. 157 Solche Entwicklungen sind in Tagebüchern sehr häufig zu finden, auch bei sehr jungen Schreiberinnen. So stellte die schon mehrfach zitierte Gymnasiastin Hedwig Peter bereits als 15-Jährige fest: »Nun muß ich noch schreiben, daß alles, was ich hier schreibe, als Gedanken der Zeit aufgefaßt werden muß. Über vieles, was ich früher schrieb, denke ich jetzt schon viel anders und viel besser.« Hedwig Peter (Pseudonym, geb. 1947): Tagebuch, 29. Juli 1962, SFN, NL 117 III.

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nehmen« würde.158 Jahrzehnte später hat sie sich dazu entschlossen, selbst zu entscheiden, wer an allen ihren »Geheimnissen« »teilnehmen« sollte: Sie richtete sie an die Öffentlichkeit. Zum einen gab Ilse Brandt Auszüge ihrer Aufzeichnungen im Selbstverlag heraus.159 Zum anderen gab sie Digitalisate der Tagebücher in der Sammlung Frauennachlässe in Wien und im Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen ab. Damit wollte sie eventuelle wissenschaftliche Auswertungen ihrer Aufzeichnungen ermöglichen – was hiermit umgesetzt wäre, und was auch zuvor schon einige Male umgesetzt worden ist.160 Auch der zukünftige Umgang mit ihren Aufzeichnungen ist schon geregelt. Im Februar 2016 teilte sie der Sammlung Frauennachlässe dazu Folgendes mit: »Für die ›Verteilung‹ der Originale habe ich in meinem Testament – vorläufig einmal – vermerkt, dass die Aufzeichnungen aus meiner ›Deutschlandzeit‹ nach Emmendingen und die der ›Österreichzeit‹ nach Wien übergeben werden sollen […] und ich hoffe, dass ich noch recht lange neue Tagebucheinträge nachliefern kann.«161 Dieses Beispiel zeigt einen nachträglich geänderten Umgang mit den eigenen Tagebuchaufzeichnungen, der wohl auch einen geänderten Zugang dazu bedeutet. Damit wird nicht zuletzt noch einmal deutlich, dass sich die Funktionen, die auto/biografische Aufzeichnungen für ihre Schreiber/innen haben, im Laufe der Zeit möglicherweise verändern (→ Abschnitt 3.4). Bei der Übergabe in eine Sammlung wird das Tagebuch zu einer wissenschaftlichen Quelle. Mit dem Einverständnis der Schreiberin, des Schreibers oder von Befugten wird das, was erst versperrt, versteckt oder nur mit der besten Freundin geteilt worden ist, jetzt für einen erweiterten Leser/innenkreis zugänglich gemacht. Vielleicht sind in diesem Kreis auch Historiker/innen. Und vielleicht schreibt eine davon ein Buch über Tagebücher als Quellen.

158 Ilse Brandt (geb. 1944): Tagebuch, »Ostern 1956«, o. D., SFN, NL 106. 159 Ilse Brandt: Petticoat und Pferdeschwanz. Bodenteicher Tagebücher 1956–1964, Book on demand, Graz 2000. 160 Die Aufzeichnungen wurden u. a. ausgewertet in Peter-Paul Bänziger: Arbeiten in der »Konsumgesellschaft«. Arbeit und Freizeit als Identitätsangebote um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Lars Bluma und Karsten Uhl (Hg.): Kontrollierte Arbeit – disziplinierte Körper? Zur Sozial- und Kulturgeschichte der Industriearbeit im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2012, S. 107–134. 161 Ilse Brandt: E-Mail an die Sammlung Frauennachlässe, Februar 2016.

»Nun muß ich noch schreiben, daß alles (…) als Gedanken der Zeit aufgefaßt werden muß«: Abschluss und Ausblicke

Wie und von wem wurden Tagebücher als Quellen zu unterschiedlichen Zeiten seit 1800 beforscht? Wie und von wem wurden sie dafür gesammelt? Und wessen Tagebücher waren das? Diese Fragen wurden in der vorliegenden Studie entlang von ausgewählten Schwerpunkten behandelt. Deren Gemeinsamkeit ist der Fokus auf Aufzeichnungen von Personen, die nicht in einer prominenten Öffentlichkeit standen. Die ausgewählten Forschungsfelder sind die Pädagogik und Kleinkinderforschung seit 1800, die Jugendpsychologie in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts und die alltagshistorisch ausgerichtete Geschichtsforschung seit den 1980er-Jahren. In allen drei Forschungsfeldern wurden auf der Basis verschiedener Formen diaristischer Aufzeichnungen erste fachliche Grundlagen erarbeitet. Tagebücher haben sich also als höchst vielseitige und ertragreiche Quellen herausgestellt. In dieser Studie wurden die einzelnen Entwicklungen dieser Forschungsfelder in den Blick genommen. Diese betreffen die Auswahl der Tagebuchformate, denen in den verschiedenen Kontexten Wissenschaftsrelevanz zugesprochen wurde. Sie betreffen die Art und Weise, wie diese Tagebücher gesammelt wurden und schließlich die Informationen, die aus ihnen herausgelesen werden sollten. Sichtbar wurde dabei der allgemeine Wandel der jeweils zeitgenössischen Einschätzungen davon, was Forschung ist, wie sie ist, und wer daran beteiligt sein kann.

Ein Zwischenstand als Abschluss In der Langzeitperspektive zeigte das Beispiel der Tagebuchforschung einerseits die zunehmende Institutionalisierung und Professionalisierung der wissenschaftlichen Arbeit. Noch im frühen 20. Jahrhundert waren viele Forscher/innen Autodidakt/innen und die sogenannte Lai/innenforschung war etabliert. Die Öffnung der Hochschulen in der Zwischenkriegszeit hatte einerseits wesentlichen Einfluss auf die Partizipationsmöglichkeiten von Frauen. Andererseits waren seit damals, insgesamt zunehmend, nur noch Universitätsabsolvent/innen

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Abschluss und Ausblicke

in der Forschung tätig, wie die in dieser Studie vorgestellten Jugendpsycholog/ innen zeigen. Inzwischen ist das wissenschaftliche Feld ein komplexes System – wobei der ›Elfenbeinturm‹ an verschiedenen Ecken zumindest ein stückweit für die interessierte Öffentlichkeit aufgemacht wird. Eine der entsprechenden Scharnierpositionen haben nicht zuletzt Sammlungen für Selbstzeugnisse inne. Grundlegende Veränderung fanden also auch in der jeweiligen Organisation des Quellenkorpus statt, auf dem die Tagebuchforscher/innen ihre Arbeiten aufgebaut haben. Die einzelnen Pädagogen, Physiologen, Psycholog/innen und Sprachwissenschafter/innen des 19. Jahrhunderts verwendeten für ihre Kleinkinderforschungen Quellen, die sie selbst gesammelt haben. In vielen Fällen haben sie sie sogar selbst angefertigt. Im Kontext der Jugendpsychologie der Zwischenkriegszeit wurden systematisch einzelne Sammlungsbestände mit Selbstzeugnissen aufgebaut, die für die gesamte Forschungsgemeinschaft zugänglich waren. Meiner Auslegung nach hat das wesentlich zur Professionalisierung der Tagebuchforschung beigetragen. Einerseits konnten durch die leichter verfügbaren Quellen sehr viel mehr Studien durchgeführt werden – andererseits wurden deren Ergebnisse überprüfbarer. Insgesamt blieb das Forschungsfeld aber weiterhin überschaubar. Die einzelnen Protagonist/innen können konkret eruiert werden. Entsprechend wurden sie in der Studie auch vorgestellt. Die aktuelle historisch ausgerichtete Selbstzeugnisforschung unterscheidet sich wesentlich davon: Es kann von einer regelrechten ›Explosion‹ von Arbeiten gesprochen werden, die seit den 1980er-Jahren in diesem Forschungsfeld entstanden sind. Als Beleg für diesen ›Boom‹ wurden exemplarisch drei Sammelbände zum Thema »Tagebücher« herangezogen, die im Jahr 2015 publiziert wurden und jeweils zeithistorisch ausgerichtet sind. Sie versammeln die Beiträge von 35 verschiedenen Autor/innen, die alle zu diesem spezifischen Themenfeld gearbeitet haben.1 Der von mir als ›Explosion‹ bezeichnete Boom im Feld der Tagebuchforschung bezieht sich einerseits auf die Anzahl der Arbeiten. Andererseits sind auch die Inhalte und Herangehensweisen inzwischen sehr facettenreich geworden: Die Kinderforscher/innen und die Jugendpsycholog/innen haben Tagebücher als Informationsquellen für ihre jeweiligen Fragestellungen verwendet. Mit dem Genre an sich haben sie sich nicht näher auseinandergesetzt. Eine Ausnahme war Siegfried Bernfeld. In der aktuellen historisch-kulturwissenschaftlichen Selbstzeugnisforschung werden auch genretheoretische Fragestellungen verfolgt. 1 Frank Bajohr und Sybille Steinbacher (Hg.): »…Zeugnis ablegen bis zum letzten.« Tagebücher und persönliche Zeugnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust, Göttingen 2015; Li Gerhalter und Christa Hämmerle (Hg.): Krieg – Politik – Schreiben. Tagebücher von Frauen (1918–1950), Wien/Köln/Weimar 2015; Janosch Steuwer und Rüdiger Graf (Hg.): Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2015.

Ein Zwischenstand als Abschluss

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Aufgebaut werden kann dabei auf den Ergebnissen, die parallel von den Literaturwissenschaften erarbeitet wurden und werden. Dieser Blick auf die Gestaltung der auto/biografischen Formen an sich hat auch großen Mehrwert für deren inhaltliche Auswertung. Daneben ist die zeitgebundene wissenschaftliche Beschäftigung mit Selbstzeugnissen selbst zu einem historiografischen Thema geworden. Das vorliegende Buch ist ein Beispiel dafür. Das dinghafte Ergebnis (und gleichzeitig die Grundlage) der ›Explosion‹ der historischen Tagebuchforschung ist die große Anzahl der verschiedenen Sammlungen, die seit den 1980er-Jahren eingerichtet worden sind, um Selbstzeugnisse zu dokumentieren. Ihre Landschaft ist inzwischen beinahe unüberschaubar. In dieser Studie wurde eine Typisierung vorgeschlagen, um die sehr unterschiedlich organisierten und ausgerichteten Einrichtungen zu sondieren. Dabei wurde ein Überblick über die aktuellen Bestände gegeben. Ein wesentlicher Unterschied der alltagshistorisch ausgerichteten Initiativen zu allen davorliegenden wissenschaftlichen Beschäftigungen mit Tagebüchern und anderen auto/biografischen Aufzeichnungen liegt schließlich in den zivilgesellschaftlichen Implikationen, die jetzt daran geknüpft sind. Es ist nicht mehr bloße Forschung über jemanden – im Rahmen der »neuen Geschichtsbewegung«2 wurde den Schreiber/innen der Selbstzeugnisse eine völlig veränderte Position zugesprochen. Während sie in den kinder- und jugendkundlichen Arbeiten als Proband/innen gesehen wurden, geht es nun darum, sie selbst zu Wort kommen zu lassen, ihre individuellen Lebensgeschichten zu erinnern und für eine interessierte Öffentlichkeit sichtbar zu machen. Dieser emanzipatorische Anspruch wird in den geschlechter- und schichtspezifischen Schwerpunktsetzungen klar sichtbar. Als Konsequenz dieser prinzipiellen Selbstverortung wurden in dieser Studie als Akteur/innen der Tagebuch- und Selbstzeugnisforschung nicht nur die Forscher/innen der verschiedenen Fachrichtungen in den Blick genommen. Es war eine meiner zentralen Thesen, dass das Forschungsfeld nur funktionieren kann, wenn es gleichzeitig von mehreren Akteur/innen getragen wird: Das sind die Forscher/innen, die die Quellen auswerten, die Archivar/innen, die sie suchen, lukrieren und zugänglich machen – und schließlich jene Personen, die sie den Sammlungen zur Verfügung stellen. Diese drei Interessensgruppen sind voneinander abhängig bzw. sie ermöglichen sich gegenseitig. Entsprechend wurde in der Darstellung die Position der Übergeber/innen von Selbstzeugnissen gleichrangig in den Blick genommen – soweit das aufgrund der überlieferten Informationen machbar war. Für die Kinderforschung des 19. Jahrhunderts war das 2 Hanne Lessau: Sammlungsinstitutionen des Privaten. Die Entstehung von Tagebucharchiven in den 1980er und 1990er Jahren, in: Steuwer und Graf: Selbstreflexionen und Weltdeutungen, 2015, S. 336–365, S. 338.

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nur bedingt möglich, für die Jugendforschung in der Zwischenkriegszeit teilweise gut, für die Geschichtswissenschaften und Sammlungen der letzten Jahrzehnte sehr gut. Insgesamt schlage ich vor, die Übergeber/innen von Selbstzeugnissen mit dem Begriff »Citizen Scientists« zu bezeichnen. Das aktuelle Feld der historisch ausgerichteten Selbstzeugnisforschung ist prosperierend. Die wissenschaftliche Ausdifferenzierung ist weiterhin voll im Gang. Auch die Schwerpunkte der Sammlungsbestände verändern sich stetig. Als Beispiele wurden die erst in den letzten Jahren aufgebauten Bestände von Videoaufnahmen genannt, oder die Versuche, Migrationsgeschichten besser zu dokumentieren. In dem Sinn gibt dieses Buch einen aktuellen Zwischenstand aus den Geschichtswissenschaften wieder. Die Zielsetzung dieser Studie war es, die Arbeit der Forscher/innen und der Sammler/innen, die sich mit Tagebüchern (und anderen auto/biografischen Quellen) beschäftigen, zusammengedacht darzustellen. Die von ihnen verfolgten Schwerpunkte beeinflussen, welche auto/biografischen Formate überhaupt wissenschaftlich wahrgenommen wurden und werden. Damit wird einerseits die Zusammensetzung von Archivbeständen geleitet und beeinflusst. Andererseits werden Quellen auch konkret für die jeweiligen wissenschaftlichen Interessen hergestellt. Dass das auch für auto/biografische Aufzeichnungen gilt, wurde in der Studie deutlich gezeigt. Ein Anliegen war es außerdem, Anknüpfungspunkte für mögliche weiterführende Forschungen offenzulegen. Einige davon, die mir in wissens- und sammlungsgeschichtlicher, in frauen- und geschlechterhistorischer sowie in auto/biografietheoretischer Hinsicht als besonders substanziell erscheinen, sollen zum Abschluss im Grundriss skizziert werden:

Ausblicke auf mögliche weitere Forschungsfragen Im Zusammenhang mit mehreren Themen sind noch Informationsleerstellen auszumachen. Das betrifft etwa den Verbleib der einzelnen Sammlungen der Pädagogik und der Psychologie, die vor den 1930er-Jahren aufgebaut wurden. Keine der in der Studie besprochenen Einrichtungen ist heute noch erhalten, die genauen Umstände ihres Verschwindens liegen jeweils im Dunkeln. Noch weiter nachgegangen werden könnte den verwischten Spuren des Archivs für Jugendkultur von Siegfried Bernfeld und der Quellensammlung von Charlotte Bühler und ihrer Forschungsgruppe. Auch nach der von William Stern und Otto Lipmann begonnenen Quellensammlung des Instituts für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung in Potsdam-Kleinglienicke könnte weiter gesucht werden. Und was ist mit den Tagebüchern geschehen, die Walter Abegg, Wolfgang Fischer und Waltraud Küppers in den 1950er- und 1960er-Jahren für ihre Forschungsprojekte lukriert haben?

Ausblicke auf mögliche weitere Forschungsfragen

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Ein nähere Kenntnis darüber, wie die verschiedenen Bestände verloren gegangen sind, kann einen allgemeinen Aufschluss über den Umgang mit Wissensressourcen innerhalb verschiedener Kontexte geben. Sollten dabei sogar Archivalien wiedergefunden werden, wären damit weitere Quellen für die Forschung (neu) gesichert. In diesem Sinn wären auch Relektüren und kommentierte Neuherausgaben von Forschungsarbeiten oder Textsammlungen aus dem frühen 20. Jahrhundert lohnend. In diesem Buch wurden etwa die Publikationen von Siegfried Bernfeld und die Aufsatzsammlung »Mein Arbeitstag – mein Wochenende« aus dem Jahr 1928 ausgewertet. Diese Texte sind jeweils als Neuauflagen verfügbar. Zuletzt ist die 1932 eingereichte Dissertation von Marie Jahoda als Publikation neu herausgegeben worden. Die Sozialforscherin hat dafür 52 lebensgeschichtliche Interviews geführt. Unter anderem hat sie dabei mit ehemaligen Dienstbot/innen gesprochen, einer Personengruppe, von der aus der Zeit des frühen 20. Jahrhunderts kaum Selbstaussagen vorliegen. Die Protokolle dieser Gespräche sind durch die Neuauflage für eine breitere Auswertungen zugänglich.3 Hier geht es also vorerst auch einfach darum, weitere Quellen für die historische Forschung verfügbar zu machen. Weiterführende Untersuchungen könnten sich klarerweise noch näher mit der inhaltlichen Entwicklung der verschiedenen Forschungsschwerpunkte auseinandersetzen. Oder auch konkret mit den Forschungsarbeiten einzelner Wissenschafter/innen. In Bezug auf die Elterntagebuchforschung wäre etwa interessant, noch näher zu untersuchen, welche geografische Reichweite die Rezeption der publizierten ›wissenschaftsgeleiteten‹ Aufzeichnungen hatte. Die veröffentlichten Beispiele sind alle in (dem historischen Gebiet von) Deutschland geschrieben worden. Gibt es Belege für Nachahmungen in Österreich, oder von anderswo? Ein weiteres Augenmerk könnte auf die Frage gelegt werden, in welcher Weise das Geschlecht der jeweils beobachteten Kinder in diesem Genre behandelt worden ist. Ist hier eine Spezifik zu erkennen? Wenn ja, ab welchem Alter wurden Kinder dabei als vergeschlechtlichte Wesen wahrgenommen? Und wie veränderte sich das im Laufe des 19. Jahrhunderts? Aus der Jugendtagebuchforschung könnte der systematische Vergleich der verschiedenen Auflagen des Buches »Das Seelenleben des Jugendlichen« ergiebig sein. Wie in der vorliegenden Studie herausgearbeitet wurde, hat Charlotte Bühler ihr Konzept der jugendlichen Entwicklung in den Ausgaben von 1921 bis 1929 immer weiter ausgebaut. Was hat sich hier konzeptionell verändert? Und hat sie auch neu verfügbare Quellen miteinbezogen? Die Entwicklungspsycholog/ innen der Zwischenkriegszeit haben für ihre Arbeiten ja jeweils einen ›bunten 3 Johann Bacher, Waltraud Kannonier-Finster und Meinrad Ziegler (Hg.): Marie Jahoda. Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850–1930, Dissertation 1932, Innsbruck/Wien/Bozen 2017.

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Strauß‹ verschiedenster Quellen gebunden. Dabei wurden veröffentlichte Tagebücher und Selbstzeugnisse von Literat/innen oder Künstler/innen wie Marie Bashkirtseff oder Otto Braun munter vermischt mit Aufzeichnungen von Jugendlichen, die die Forscher/innen in ihrem persönlichen Umfeld gesammelt hatten. Wurden die Quellen der unterschiedlichen Provenienzen dabei vielleicht im Zusammenhang mit verschiedenen Themen beforscht? Jugendliche aus bildungsferneren Schichten sind häufig mit ›Devianz‹ in Verbindung gebracht worden. In welchem Zusammenhang wurden die auto/biografischen Aufzeichnungen von Lou Andreas-Salomé, Johann Wolfgang von Goethe oder Felix Dahn zitiert? Spannend wäre auch die Beschäftigung mit den ›Karrieren‹ einzelner Quellen. Es wurde dargestellt, dass in den Studien der Zwischenkriegszeit wiederholt Texte ausgewertet worden sind, die Fritz Giese 1914 veröffentlichten hat. Giese formulierte wiederum den pointierten Hinweis, die Geschwister Hilde, Günther und Eva Stern seien »in der Psychologie fast historische Größen«.4 Er bezog sich hier auf den Umstand, dass die Aufzeichnungen ihrer Eltern über sie immer wieder rezipiert worden sind. Wie ich zeigen konnte, gilt ähnliches für die Tagebuchschreiberin »M 4 Irmgard Winter« aus dem Sample von Charlotte Bühler, die uns auch in den Studien anderer Forscher/innen immer wieder begegnet. Hier stellt sich die allgemeinere Frage, welche Aufzeichnungen zur Herstellung von welchem ›situierten Wissen‹ womöglich immer wieder aufs Neue herangezogen worden sind. Es hat sich gezeigt, dass verschiedene auto/biografische Formate erst im Zuge von Forschungs- oder Sammlungsprojekten entstehen. Um diesen Prozess deutlich zu machen, habe ich die Formulierungen ›vorgefundene‹ bzw. ›hergestellte Selbstaussagen‹ entwickelt. Besonders in Bezug auf die ›hergestellten Selbstaussagen‹ bieten sich Vertiefungsmöglichkeiten an. Vermutlich besonders ergiebig wäre ein konkreter Blick auf Texte, die im Zuge von Schreibaufrufen entstanden sind. Welche Themen werden in welchem Format behandelt? Was wurden zum Beispiel Textilarbeiterinnen gefragt – und was Schüler/innen? Die sogenannte Aufsatzmethode fand ab der Zwischenkriegszeit Verwendung. Dabei wurden ›Reizwörter‹ ausgegeben wie zum Beispiel »Arbeit – Freude – Arbeitslosigkeit«, was diese Form in die Nähe von psychologischen Experimenten bzw. Intelligenztests rückt.5 Wie wurden die Proband/innen ausgewählt und zur Teilnahme motiviert? Sind bei den Forschungsdesigns inhaltliche Schwerpunkte auszumachen? Wie wurden die Aufrufe organisiert, und wo wurden die Texte 4 Fritz Giese: Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, Bd. 1, Leipzig 1914, S. 13. 5 Peter Dudek: Jugend als Objekt der Wissenschaften. Geschichte der Jugendforschung in Deutschland und Österreich, Opladen 1990, S. 200.

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gesammelt? Ein umfangreicher Bestand aus den 1950er-Jahren ist im Archiv »Deutsches Gedächtnis« im »Roeßler-Archiv« an der Fernuniversität in Hagen erhalten.6 Sind solche Quellen auch aus der Zwischenkriegszeit verfügbar? Oder ist hier eine weitere (durch die NS-Zeit begründete?) Lücke in der Überlieferungslandschaft festzustellen? Um die Forschungspraktiken der tagebuchbasierten Jugendpsychologie der Zwischenkriegszeit zu konturieren, würde sich der Vergleich mit anderen Disziplinen wie der Soziologie, den Literatur- oder den Geschichtswissenschaften anbieten.7 Dort wurden zu dieser Zeit aber vornehmlich die Aufzeichnungen von prominenten Personen untersucht. Welche Themen wurden dabei beforscht? Welche Formate wurden zu welchem Zweck verwendet? Und wo waren die Quellen dafür verfügbar? Zu einem Vergleich herangezogen werden könnten auch die sogenannten »Kriegssammlungen«. Diese wurden mit propagandistischen Absichten in österreichischen und deutschen Museen, Bibliotheken oder Archiven angelegt, um den Ersten Weltkrieg zu dokumentieren. Dabei wurden auch (bearbeitete) auto/biografische Aufzeichnungen gesammelt.8 Welche Aufzeichnungen waren das genau? Unterschieden sie sich von jenen, die von den Jugendpsycholog/innen ausgewertet wurden? Oder von jenen, die inzwischen in historisch ausgerichteten Sammlungen zur Verfügung stehen? Diese Fragestellung führt schließlich zu den Konjunkturen der Geschichtswissenschaften seit den 1980er-Jahren: In dieser Studie wurden zwei österreichische Sammlungen für Selbstzeugnisse vorgestellt, die bereits in den 1950erJahren initiiert worden sind. Der Anlass war jeweils ein politisches ›Gedenkjahr‹. Ich vermute weitere solche Bestände in Archiveinrichtungen. Eine gezielte Suche danach könnte die Darstellung der Entwicklung der öffentlichkeitsbezogenen historischen Arbeit mit Tagebüchern und anderen auto/biografischen Aufzeichnungen komplettieren. Ein großer Fragenkomplex in der historischen Selbstzeugnisforschung ist allgemein jener nach den verschiedenen Praktiken des vergangenen auto/biografischen Schreibens. Wer hat wann, wo, wie, was geschrieben? Es wurden dazu bereits umfassende Erkenntnisse erarbeitet – die durch Fallstudien immer noch 6 Heinz Abels, Heinz-Hermann Krüger und Hartmut Rohrmann: »Jugend im Erziehungsfeld«. Schüleraufsätze aus den fünfziger Jahren im Roeßler-Archiv, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, Jg. 2, 1989, Heft 1, S. 139–150. Danke an Peter-Paul Bänziger für diesen Hinweis. 7 Vgl. dazu etwa den vielzitierten Aufsatz von Siegfried Kracauer: Die Biographie als neubürgerliche Kunstform, in: Frankfurter Zeitung. Literaturblatt, 29.6., 1930, Neuabdruck in: Bernhard Fetz und Wilhelm Hemecker (Hg.) unter der Mitarbeit von Georg Huemer und Katharina J. Schneider: Theorie der Biographie, Grundlagentexte und Kommentare, Berlin/ New York 2011, S. 119–123. 8 Julia Freifrau Hiller von Gaertringen (Hg.): Kriegssammlungen 1914–1918, Frankfurt am Main 2014.

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weiter ausdifferenziert werden können. Ein Aspekt, der jedenfalls noch ausbaufähig ist, ist der systematische Blick auf die Zusammensetzung der Quellen, die in den Sammlungen inzwischen zur Verfügung stehen. In dieser Studie wurden zwei solcher Stichproben gemacht. Einerseits wurde gefragt, welche Tagebücher von Arbeiter/innen und Dienstbot/innen in ausgesuchten Archiven vorhanden sind. Das Resultat war überraschend überschaubar. Diese Nachforschungen in anderen Sammlungen fortzusetzen, wäre jedenfalls lohnend. Andererseits wurden Tagebücher vorgestellt, die bisher von Frauen und Mädchen aus Wien gesammelt wurden. Dabei hat sich nicht zuletzt die Vielfältigkeit des diaristischen Schreibens eindrücklich bestätigt. Die hier erarbeiteten Ergebnisse sind als erste Einschätzungen tendenziell belastbar. Der Vergleich mit weiteren Beständen könnte diese Tendenzen schärfen. Welche Formate sind dort in welchem Ausmaß vorhanden? Welche Inhalte werden darin jeweils dokumentiert etc.? Gibt es geschlechtsspezifische oder schichtspezifische Unterschiede? Dabei ist zudem zu unterscheiden zwischen Schreibpraktiken und Erinnerungspraktiken. Eine weiterführende Frage wäre dabei, wer die Personen sind, die Selbstzeugnisse an historisch ausgerichtete Einrichtungen übergeben. Wie dargestellt worden ist, überlässt der Großteil der Übergeber/innen Tagebücher, Korrespondenzen etc. von Vorfahr/innen. Die Übergeber/innen und die Schreiber/innen sind also zumeist nicht dieselben Personen. Daher können sie auch in unterschiedlichen sozialen Kontexten leben. Die Aufzeichnungen einer Näherin werden gegebenenfalls von einer Bibliothekarin übermittelt, jene einer Fabrikant/innenfamilie von einem Laboranten. Wie ist nun konkret die soziale Verortung der Übergeber/innen einzuschätzen? Wen sprechen solche Erinnerungsprojekte an? Eine Zusammenschau von ganzen Archivbeständen könnte schließlich bei der Klärung der allgemeinen Frage nützlich sein, ob und gegebenenfalls wie sich die Erscheinungsformen der »popularen Autobiografik«9 von jenen Formaten unterscheiden, die von Schriftsteller/innen produziert worden sind. Also von jenen Personen, die als Autor/innen der »Höhenkammliteratur«10 im kanonorientierten literaturwissenschaftlichen Interesse standen und stehen.11 Hat etwa eine Lehrerin anders geschrieben als eine Literatin? Diese methodisch-theoretische Frage ist sehr weit gesteckt, im Rahmen der historischen Beschäftigung mit Archivquellen stellt sie sich aber über kurz oder lang. Vergleiche könnten dabei 9 Bernd Jürgen Warneken: Populare Autobiographik. Empirische Studien zu einer Quellengattung der Alltagsgeschichtsforschung, Tübingen 1985. 10 Christiane Holm: Montag Ich. Dienstag Ich. Mittwoch Ich. Versuch einer Phänomenologie des Diaristischen, in: Helmut Gold, Christiane Holm, Eva Bös und Tine Nowak (Hg.): @bsolut privat!? Vom Tagebuch zum Weblog, Heidelberg 2008, S. 10–50, S. 10. 11 Dazu Petra-Maria Dallinger, Georg Hofer und Bernhard Judex (Hg.): Archive für Literatur. Der Nachlass und seine Ordnungen (Literatur und Archiv, Bd. 2), Berlin 2018.

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sowohl in die zeitliche Tiefe gehen als auch räumlich bzw. sprachlich angelegt sein. Daran geknüpft sind wiederum Überformungsmechanismen etc. All diese Überlegungen sind Ausblicke in verschiedenen Richtungen, wohin die in dieser Studie erarbeiteten Ergebnisse weiterverfolgt werden könnten. Es gäbe noch viel zu erforschen in diesem spannenden Feld. Die Kommentare von zwei jugendlichen Tagebuchschreiberinnen bringen derweil den Ablauf von meinem Projekt auf den Punkt: Die 20-jährige Fanny Röhl aus Berlin ließ im allerletzten Eintrag ihres Tagebuchs am Silvestertag 1924 Vergangenes Revue passieren: »Der Abschluss meines Tagebuches, das ich [über mehrere Jahre] geführt habe. So manches – vieles liegt dazwischen: Erlebnisse, Menschen, Fortschritte, Rückschritte, Lernen, Lieben, Leiden – und auch ein paar Freuden.«12 Die Arbeit an einer Dissertation kann ähnlich beschrieben werden. Die junge Berlinerin setzte fort: »Doch ich will mich mit all diesem Zeug nicht mehr so beschäftigen, nicht mehr grübeln und verzweifeln, sondern an allgemeinere und praktischere Sachen und an andere Menschen denken«.13 Hier konnte ich ihr nicht ganz folgen, vielmehr habe ich mich entschlossen, auch noch diese vorliegende Druckfassung der Dissertation fertigzustellen. Dabei halte ich es mit der 15-jährigen Hedwig Peter aus Oberösterreich. Sie stellte im Sommer 1962 fest: »Nun muß ich noch schreiben, daß alles, was ich hier schreibe, als Gedanken der Zeit aufgefaßt werden muß«.14 Das trifft nun auch exakt auf wissenschaftliche Texte zu. Und gerade darin liegt eine der anregenden Herausforderungen – zumindest für Historiker/innen.

12 Fanny Röhl (Pseudonym, geb. 1904): Tagebuch, 31. Dezember 1924, Archiv der Bibliothek für Psychologie der Universität Wien, Signatur M 88. 13 Ebd. 14 Hedwig Peter (Pseudonym, geb. 1947): Tagebuch, 29. Juli 1962, Sammlung Frauennachlässe, NL 117 III.

Dank

Dieses Buch handelt von der Arbeit mit Quellen, vom Schreiben, Sammeln und Forschen. Und es handelt von verschiedenen Netzwerken. Von Arbeitsverhältnissen, die weit in andere Lebenszusammenhänge hineinreichen, von langjährigen Kolleg/innenschaften, Freund/innenschaften und von Familienbanden. Es handelt von Handlungsspielräumen, von Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten sowie von zivilgesellschaftlichem Engagement. Diese verschiedenen Netzwerke sind der Gegenstand der Studie – und gleichermaßen auch das Umfeld, in dem sie entstanden ist. Dementsprechend möchte ich allen danken, die mich auf unterschiedliche Weisen dabei unterstützt oder beeinflusst oder mir Gesellschaft geleistet haben: Das Buch baut auf der Dissertation auf, die ich 2017 am Institut für Geschichte der Universität Wien abgeschlossen habe. Für die langjährige Betreuung und viele anregende Diskussionen dieser Arbeit danke ich Christa Hämmerle, für die ebenso umsichtige Begutachtung Gabriella Hauch, für das wertvolle Fachlektorat Brigitte Semanek. Ich danke den Herausgeberinnen der L’Homme-Schriften für die Aufnahme der Studie in diese renommierte Reihe. Die hier vorliegende Fassung wurde einem anonymen Peer-Review-Verfahren unterzogen. Ich danke allen daran Beteiligten für ihre wichtigen Hinweise und Katharina Gerhalter für das überlegte Korrektorat. Der Druck wurde ermöglicht durch die finanzielle Unterstützung des Instituts für Geschichte, der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät und der Fakultätsvertretung Geisteswissenschaften an der Universität Wien, dem Institut für Historische Sozialforschung sowie dem Verein zur Förderung der Dokumentation von Frauennachlässen und dem Verein zur Förderung von L’Homme. Z. F. G. Für die Zusage, ihr Bild »Ohne Titel« (2018) am Cover abdrucken zu können, danke ich der Wiener Künstlerin Anna Reschl. Für den solidarischen Gedankenaustausch und inspirierende Anmerkungen danke ich Brigitte Semanek, Jessica Richter, Michaela Königshofer und Matthias Ruoss sowie Vida Bakondy, Peter-Paul Bänziger, Günter Müller und Renée Winter, für Expert/innenauskünfte oder konkrete Literatur- und Quellenhinweise Arno Dusini, Falko Henning, Ulrich Herrmann, Siegfried Hoppe-Graff,

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Dank

Karl Fallend, Christian Fleck, Philipp Mettauer, Ulrich Schwarz, Marianne Soff, Janosch Steuwer und Michaela Zemanek, für verschiedenste Denkanstöße weiters Theresa Adamski, Monika Bernold, Johanna Gehmacher, Michaela Hafner, Karin Hausen, Veronika Helfert, Nikola Langreiter, Margareth Lanzinger, Klara Löffler, Ina Markova, Sonja Niederacher, Ines Schweighofer-Glück, Waltraud Schütz, Mischa Suter, Anton Tantner, Christopher Treiblmayr und Thomas Tretzmüller sowie allen Autor/innen der zitierten Forschungsliteratur. Für die zuvorkommende Betreuung in den Sammlungen und das Zur-Verfügung-Stellen von Archivinformationen danke ich im Besonderen Günter Müller von der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, Michaela Zemanek von der Fachbereichsbibliothek Psychologie an der Universität Wien sowie Jutta Jäger-Schenk, Gerhard Seitz und Hans D. Schmitz vom Deutschen Tagebucharchiv in Emmendingen; Des Weiteren Gunnar Berg vom Yidisher visnshaftlekher institut (YIVO) in New York, Paolo Caneppele von der Sammlung »Amateurfilme« im Österreichischen Filmmuseum in Wien, Veit Didczuneit von der Feldpostsammlung im Museum für Kommunikation Berlin, Ingrid Facchinelli vom Frauenarchiv/Archivio storico delle donne in Bozen/Bolzano, Christina Fuhr und Sabine Michel von der Universitätsbibliothek der GoetheUniversität in Frankfurt am Main, Thomas Jander von der Sammlung »Dokumente« im Deutschen Historischen Museum in Berlin, Volker Kaukoreit von der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien, Sabine Kneib und Christian Schemmert vom Archiv der sozialen Demokratie in Bonn, Ilse Korotin von biografiA in Wien, Silke Mehrwald und Cornelia Wenzel vom Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel, Ingrid Ramirer vom Archiv der Universitätsbibliothek Wien, Susanne Rappe-Weber vom Archiv der deutschen Jugendbewegung bei Witzenhausen, Jasmin Schenk vom FrauenMediaTurm in Köln, Alexander Schwab und Georg Spitaler vom Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung in Wien, Markus Stumpf von der Fachbereichsbibliothek Zeitgeschichte der Universität Wien und Kyra Waldner von der Wienbibliothek im Rathaus in Wien. Allen Personen, die Tagebücher und andere auto/biografische Aufzeichnungen an die verschiedenen Sammlungseinrichtungen übergeben haben, danke ich für ihr Vertrauen und ihren wesentlichen Beitrag zum Aufbau dieser Wissensbestände, Alieda Ungar für die Möglichkeit eines Zeitzeuginneninterviews. Für ihr stetes Interesse an meiner Arbeit und ihre Unterstützung in unterschiedlischsten Belangen danke ich Paul Brauner, Brigitta Gerhalter, Brigitte und Rudolf Gstättner, Christine Gerhalter, Johanna Gerhalter, Juliane Gstättner und Anna Brolli sowie allen Mitgliedern unserer großen Familie in der Steiermark, in Salzburg und Wien oder an ihren jeweils aktuellen Aufenthaltsorten. Ich beende dieses Buch im Andenken an Edith Saurer.

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Sammlungen und Archive Die zitierten unveröffentlichten Selbstzeugnisse bzw. Informationen zu Sammlungsbeständen wurden in folgenden Einrichtungen recherchiert: Archiv der deutschen Frauenbewegung (AddF) in Kassel Archiv der deutschen Jugendbewegung auf Burg Ludwigstein in Witzenhausen in Hessen Archiv der Fachbereichsbibliothek Psychologie (ABP) der Universität Wien Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) in Bonn Archiv der Universitätsbibliothek Wien Bibliothek der Arbeitsbereiche Pädagogische Psychologie und Psychoanalyse sowie Bibliothek Gesellschaftswissenschaften und Erziehungswissenschaften (BGE) an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main Deutsches Tagebucharchiv (DTA) in Emmendingen Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen (Doku) am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien Feldpostsammlung im Museum für Kommunikation Berlin Frauenarchiv/Archivio storico delle donne in Bozen/Bolzano FrauenMediaTurm, Archiv und Dokumentationszentrum (FMD) in Köln Kempowski-Biografienarchiv in der Akademie der Künste (WKBA) in Berlin Österreichische Mediathek des Technischen Museums in Wien Privatsammlung von Falko Henning in Berlin Privatsammlung von Karin Schulze in Wien Sammlung »Dokumente« im Deutschen Historischen Museum (DHM) in Berlin Sammlung »Familienarchiv Hohenwart« im Österreichischen Staatsarchiv (ÖStA) in Wien Sammlung »Handschriften und Nachlässe« in der Österreichischen Nationalbibliothek (ÖNB) in Wien Sammlung »Kommission Wien 1945« bzw. »Wiener Historische Kommission« im Wiener Stadt- und Landesarchiv (WStLA) Sammlung Frauennachlässe (SFN) am Institut für Geschichte der Universität Wien Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung (VGA) in Wien Wienbibliothek im Rathaus (WBR) in Wien Yidisher visnshaftlekher institut (YIVO) in New York

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Forschungsliteratur Walter Abegg: Aus Tagebüchern und Briefen junger Menschen. Ein Beitrag zur Psychologie des Entwicklungsalters, München/Basel 1954. Heinz Abels, Heinz-Hermann Krüger und Hartmut Rohrmann: »Jugend im Erziehungsfeld«. Schüleraufsätze aus den fünfziger Jahren im Roeßler-Archiv, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, Jg. 2, 1989, Heft 1, S. 139–150. Erik Adam: Siegfried Bernfeld und die Reformpädagogik. Eine kritische Rezeptionsgeschichte, in: Karl Fallend und Johannes Reichmayr (Hg.): Siegfried Bernfeld oder die Grenzen der Psychoanalyse. Materialien zu Leben und Werk, Basel/Frankfurt am Main 1992, S. 91–106. Emma Adler (Hg.): Buch der Jugend. Für die Kinder des Proletariats, Berlin 1895. Arif Akkılıç, Vida Bakondy, Ljubomir Bratic´ und Regina Wonisch (Hg.): Schere Topf Papier. Objekte zur Migrationsgeschichte, Wien 2016. James C. Albisetti, Joyce Goodman und Rebecca Rogers (Hg.): Girls’ Secondary Eduction in the Western World. From the 18th to the 20th Century, New York 2010. Gordon W. Allport: The Use of Personal Documents in Psychological Science, New York 1942. Peter-André Alt: Sigmund Freud: Der Arzt der Moderne, München 2016. Andrea Althaus (Hg.): Mit Kochlöffel und Staubwedel. Erzählungen aus dem Dienstmädchenalltag (»Damit es nicht verloren geht …«, Bd. 62), Wien/Weimar/Köln 2010. Céline Angehrn: Nicht erledigt. Die Herausforderungen der Frauengeschichte und der Geschlechtergeschichte und die Geschichten des Feminismus, in: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft (Z. F. G.), Jg. 28, 2017, Heft 1, S. 115–122. Céline Angehrn: Arbeit am Beruf. Feminismus und Berufsberatung im 20. Jahrhundert, Basel 2019. Anna Altmann: Aus dem Leben eines Proletarierkindes, in: Emma Adler (Hg.): Buch der Jugend. Für die Kinder des Proletariats, Berlin 1895, S. 186–191. Anna Altmann: Blätter und Blüten, in: Adelheid Popp (Hg.): Gedenkbuch. 20 Jahre österreichische Arbeiterinnenbewegung, Wien 1912, S. 23–34. Klaus Amann und Karl Wagner (Hg.): Autobiographien in der österreichischen Literatur. Von Franz Grillparzer bis Thomas Bernhard, Innsbruck/Wien 1998. Sabine Andresen: Die Produktion von Wissen im Tagebuch. Eine historische Diskursanalyse über die Bedeutung von Tagebüchern für die Forschung über Kindheit und Jugend, in: Susann Fegter u. a. (Hg.): Erziehungswissenschaftliche Diskursforschung. Empirische Analysen zu Bildungs- und Erziehungsverhältnissen, Wiesbaden 2015, S. 75–88. Monika Ankele: Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900. Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn, Wien/Köln/Weimar 2009. Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich (o. J.): http://agso.uni-graz.at.1

1 Alle in dem Buch zitierten Websites und Webressourcen wurden zuletzt aufgerufen am 7. Oktober 2020.

Forschungsliteratur

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Verzeichnisse

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Forschungsliteratur

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Verzeichnisse

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450

Verzeichnisse

Marco Vogrinez: Hermine Hug-Hellmuth. Zur Theorie und Praxis einer Pionierin der Psychoanalytischen Pädagogik, Diplomarbeit, Wien 2010. Else Voigtländer: »Verwahrlosung«, in: Max Marcuse: Handwörterbuch der Sexualwissenschaft: Enzyklopädie der natur- und kulturwissenschaftlichen Sexualkunde des Menschen, Berlin/New York 2001 (Berlin 19231), S. 795–797. Antje Vollmer: Die Neuwerkbewegung. Zwischen Jugendbewegung und religiösem Sozialismus, Freiburg im Breisgau 2016. Major Moritz Adolf (Adolph) von Winterfeld: Tagebuch eines Vaters über sein neugeborenes Kind, in: Braunschweiger Journal, 1789, Nr. 5, S. 404–441. Richard Voss: Zwei Menschen, Stuttgart 1911. Sigrid Wadauer: Die Tour der Gesellen. Mobilität und Biographie im Handwerk vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main/New York 2005. Hermann Wagener: Der jugendliche Industriearbeiter und die Industriefamilie, Münster 1931. Marija Wakounig: Einleitung, in: Ludmilla Misoticˇ: Die Grenzgängerin. Ein Leben zwischen Österreich und Slowenien, Wien/Köln/Weimar 1992, S. 7–14. Ingeborg Waldschmidt: Maria Montessori – Leben und Werk, München 20103. Bernd Jürgen Warneken: Zur Interpretation geschriebener Arbeitererinnerungen als Spiegel und Instrument von Arbeiterbewußtsein, in: Rolf Wilhelm Brednich u. a. (Hg.): Lebenslauf und Lebenszusammenhang. Autobiographische Materialien in der volkskundlichen Forschung, Freiburg im Breisgau 1982, S. 182–196. Bernd Jürgen Warneken: Populare Autobiographik. Empirische Studien zu einer Quellengattung der Alltagsgeschichtsforschung, Tübingen 1985. Bernd Jürgen Warneken (Hg.): Populare Schreibkultur. Texte und Analysen, Tübingen 1987. Milicent Washburn Shinn: The Biography of a Baby, Boston/New York 1900. Barbara Waß: Mein Vater, Holzknecht und Bergbauer (»Damit es nicht verloren geht …«, Bd. 6), Wien/Köln/Weimar 1989. Barbara Waß: »Für sie gab es immer nur die Alm…« Aus dem Leben einer Sennerin (»Damit es nicht verloren geht …«, Bd. 16), Wien/Köln/Weimar 1994. Gudrun Wedel: Autobiographien von Frauen. Ein Lexikon, Köln/Weimar/Wien 2010. Andreas Weigl: Schul-(Alltags-)Geschichte, in: Oliver Kühschelm, Ernst Langthaler und Stefan Eminger (Hg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert, Bd. 3: Kultur, Wien/Köln/ Weimar 2008, S. 39–71. Irmgard Weyrather: Die Frau am Fließband. Das Bild der Fabrikarbeiterin in der Sozialforschung 1870–1985, Frankfurt am Main 2003. Wien Geschichte Wiki (o. J.): Einträge zu Charlotte Bühler; Kinderübernahmestelle. Wiener Kunstgeschichte gesichtet (o. J.): Eintrag zu Else Hofmann. Dorothee Wierling: Eine Familie im Krieg. Leben, Sterben und Schreiben 1914–1918, Göttingen 2013. Wikipedia. Die freie Enzyklopädie (hosted by: Wikimedia Foundation) (o. J.): Einträge zu Adolf Busemann; Alice von Großbritannien und Irland; Charlotte Bühler; Das Echolot; Die Gartenlaube; Dr.-Karl-Renner-Ring; Familie Schönflies und Hirschfeld; Friedrich Adolf Krummacher; Gustav Theodor Fechner; Joachim Heinrich Campe; Ludwig IX. von Hessen-Darmstadt; Mary Cover Jones; Österreichischer Berufsverband der Sozi-

Tabellen und Diagramme

451

alarbeiterInnen; Siegfried Bernfeld; Tagebuchmethode; Volkshochschule Ottakring; Wilhelm Wundt; William Preyer; YIVO. Viktor Winkler-Hermaden: Psychologie des Jugendführers (Quellen und Studien zur Jugendkunde, Heft 6), Jena 1927. Renée Winter, Christina Waraschitz und Gabriele Fröschl (Hg.): Aufnahme läuft. Private Videobestände – öffentliche Archive?, Wien 2016. Renée Winter: Video als auto-/biografisches Medium, auf: Österreichische Mediathek (Hg.): Wiener Videorekorter. Eine Onlineausstellung der Österreichischen Mediathek, Wien 2017. Renée Winter: Zuhause im Archiv. Video als Übergangsmedium, in: Ute Holfelder und Klaus Schönberger (Hg.): Bewegtbilder und Alltagskultur(en). Von Super 8 über Video zum Handyfilm. Praktiken von Amateuren im Prozess der gesellschaftlichen Ästhetisierung (Klagenfurter Beiträge zur Visuellen Kultur, Bd. 6), Klagenfurt 2017, S. 106–117. Klemens Wittebur: Die deutsche Soziologie im Exil 1933–1945. Eine biographische Kartographie, Münster 1991. Gudrun Wolfgruber: Ideale und Realitäten. Von der städtischen Jugendfürsorge zur Kinder- und Jugendhilfe, Wien 2017. Heide Wunder: »Er ist die Sonn’, sie ist der Mond«. Frauen in der Frühen Neuzeit, München 1992. Ralph-Rainer Wuthenow: Europäische Tagebücher. Eigenart – Formen – Entwicklung, Darmstadt 1990. Angelika Zach und Renner-Institut: »Frauen machen Geschichte«, Wien o. J., online verfügbar unter dem Titel. Irene Zanol: »Es ist gerade so, als ob die Auflagen verdunsteten.« Die Rezeption von Richard Voss’ Bestseller Zwei Menschen, Seminararbeit, Innsbruck 2010, online verfügbar unter dem Titel. Meinrad Ziegler: Die Dissertation von Marie Jahoda, in: Johann Bacher, Waltraud Kannonier-Finster und Meinrad Ziegler (Hg.): Marie Jahoda. Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850–1930. Dissertation 1932, Innsbruck/Wien/Bozen 2017, S. 167–214. Jürgen Zinnecker: Forschen für Kinder – Forschen mit Kindern – Kinderforschung, in: Michael-Sebastian Honig, Andreas Lange und Hans Rudolf Leu (Hg.): Aus der Perspektive von Kindern? Zur Methodologie der Kindheitsforschung, Weinheim/München 1999, S. 69–80. Susanne zur Nieden: Alltag im Ausnahmezustand. Frauentagebücher im zerstörten Deutschland 1943 bis 1945, Berlin 1993.

Tabellen und Diagramme Tabellen 1:

Umfang des Bestandes der Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler von 1921 bis 1938 → Abschnitt 2.4

452 2 und 3:

Verzeichnisse

Aufgenommene und ausgelassene Bestände der Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler im Inventar von 1934 → Abschnitt 2.4 4: Berufe der Väter der Tagebuchschreiber/innen der Sammlung von Charlotte Bühler bis 1934 → Abschnitt 2.7 5: (Spätere) Eigene Berufe der Tagebuchschreiber/innen der Sammlung von Charlotte Bühler bis 1934 → Abschnitt 2.7 6: Herkunftsländer der Tagebuchschreiber/innen in der Sammlung von Charlotte Bühler bis 1934 → Abschnitt 2.7 7: Geburtsjahre der Tagebuchschreiber/innen in der Sammlung von Charlotte Bühler bis 1934 → Abschnitt 2.7 8: Berufe der Väter und eigene Berufe der Tagebuchschreiber/innen in der Studie von Annelies Argelander und Ilse Weitsch (1933) → Abschnitt 2.7 9: Die fünf meistgenannten Mädchen in »Das Seelenleben des Jugendlichen« (1929) → Abschnitt 2.8 10: Die fünf meistgenannten Burschen in »Das Seelenleben des Jugendlichen« (1929) → Abschnitt 2.8 11 bis 16: Schreiber/innen von edierten Tagebüchern der Reihe »Quellen und Studien zur Jugendkunde« (1922–1933) → Abschnitt 2.8 17: Die wiedergefundenen Quellen der Sammlung von Charlotte Bühler → Abschnitt 2.9 18: Wer übergibt auto/biografische Aufzeichnungen an die Sammlung Frauennachlässe? (2009, 2013 und 2017) → Abschnitt 3.4 19: Personen, die Tagebücher an die Sammlung Frauennachlässe übergeben haben (2009, 2013 und 2017) → Abschnitt 3.4 20: Personen, die Bestände (insgesamt) an die Sammlung Frauennachlässe übergeben haben und Personen, deren Bestände (auch) Tagbücher enthalten (2009, 2013 und 2017) → Abschnitt 3.4 21: Personen im Bestand »Wiener Historische Kommission« im Wiener Stadt- und Landesarchiv (1956, 1975 und 1978) → Abschnitt 3.6 22: Lebensgeschichtliche Texte im Bestand »Wiener Historische Kommission« im Wiener Stadt- und Landesarchiv (1956, 1975 und 1978) → Abschnitt 3.6 23: Tagebücher im Bestand »Wiener Historische Kommission« im Wiener Stadtund Landesarchiv (1956, 1975 und 1978) → Abschnitt 3.6 24: Frauen und Männer als Autor/innen im Bestand des Deutschen Tagebucharchivs Emmendingen (2017) → Abschnitt 3.6 25: Frauen und Männer als Autor/innen im Bestand der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen in Wien (2017) → Abschnitt 3.6 26: Rückläufe auf Aufrufe der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen in Wien (2017) → Abschnitt 3.6 27: Bestand »Kommission Wien 1945« im Wiener Stadt- und Landesarchiv (1956) → Anhang 28: Bestand »Kommission Wien 1945« im Wiener Stadt- und Landesarchiv (1975) → Anhang 29: Bestand »Wiener Historische Kommission« im Wiener Stadt- und Landesarchiv (1978) → Anhang 30: Bestand des Deutschen Tagebucharchivs Emmendingen (2017) → Anhang

Tabellen und Diagramme

453

Kurvendiagramm 1:

Umfang der Tagebuchsammlung von Charlotte Bühler von 1921 bis 1938 → Abschnitt 2.4

Tortendiagramme 1 und 2: 3 und 4: 5 und 6: 7 und 8: 9: 10: 11 bis 13: 14 bis 16: 17 bis 19: 20 bis 22: 23 bis 25: 26 bis 28: 29 bis 31:

Herkunftsländer der Tagebuchschreiber/innen in der Sammlung von Charlotte Bühler bis 1934 → Abschnitt 2.7 Geburtsjahre der Tagebuchschreiber/innen in der Sammlung von Charlotte Bühler bis 1934 → Abschnitt 2.7 Sozialwissenschaftliche Studien bis in die 1930er-Jahre, die in ihrem Titel eine Analyseperspektive auf das Thema Schicht erkennen lassen → Abschnitt 2.7 Sozialwissenschaftliche Studien bis in die 1930er-Jahre, die in ihrem Titel eine Analyseperspektive auf das Thema Geschlecht erkennen lassen → Abschnitt 2.8 Bezüge auf Mädchen und Burschen in »Das Seelenleben des Jugendlichen« (1929) → Abschnitt 2.8 Bezüge auf die zehn am häufigsten genannten Schreiber/innen in »Das Seelenleben des Jugendlichen« (1929) → Abschnitt 2.8 Wer übergibt auto/biografische Aufzeichnungen an die Sammlung Frauennachlässe? (2009, 2013 und 2017) → Abschnitt 3.4 Frauen und Männer als Autor/innen im Bestand »Wiener Historische Kommission« (1956, 1975 und 1978) → Abschnitt 3.6 Frauen und Männer als Autor/innen im Bestand des Deutschen Tagebucharchivs Emmendingen (2017) → Abschnitt 3.6 Frauen und Männer als Autor/innen im Bestand der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen in Wien (2017) → Abschnitt 3.6 Rückläufe auf Aufrufe der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen in Wien (2017) → Abschnitt 3.6 Tagebücher von Wiener Mädchen und Frauen in Sammlungen (2012) → Abschnitt 3.6 Verwendung »kommerzieller Fertigtagebücher« von 1870 bis 1984 (Stichprobe) → Abschnitt 4.3

Balkendiagramme 1 und 2: 3 bis 5:

Wer übergibt Bestände allgemein sowie Bestände mit Tagebüchern an die Sammlung Frauennachlässe? (2009, 2013 und 2017) → Abschnitt 3.4 Frauen und Männer als Autor/innen im Bestand »Wiener Historische Kommission« (1956, 1975 und 1978) → Abschnitt 3.6

Anhang

4 (5 %) 82

37 (45 %) 41 (50 %)

28

0

15 (53 %) 13 (47 %)

Tagebücherb)

3 (7 %) 44

Lebensgeschichtliche Textec) 16 (36 %) 25 (57 %)

4

0

0

4

Briefe

1

0

0

1

Postkarten

1

0

1

0

Fotos

2

0

0

2

Gedichte

3

0

2

5

1

2

Chronik amtliche Dokumente/ Gedrucktesd) 1 2

Helmut Kretschmer: Materialsammlung aus dem Jahr 1956 (Bestände des Wiener Stadt- und Landesarchivs zum Jahr 1945), in: Wiener Geschichtsblätter, Jg. 32, 1977, Sonderheft 2 (»Kommission Wien 1945« Abschlußbericht), S. 98–101. b) Unter »Tagebüchern« sind hier die unterschiedlichsten diaristische Texte zusammengefasst. Es kann sich um Tagebuchnotizen, -auszüge, Kalenderauszüge oder auch Einträge in Notizheften handeln. Der Großteil davon sind mehr oder weniger bearbeitete Abschriften (→ Abschnitt 3.3). c) Unter »lebensgeschichtlichen Texten« sind hier die unterschiedlichsten Formen retrospektiv verfasster Texte zusammengefasst. Zumeist sind diese Texte im Verzeichnis nicht ausgewiesen. In manchen Fällen als »Erlebnisbericht«. Vereinzelt handelt es sich auch um literarisierte Texte wie z. B. »Romanmanuskripte«. d) Unter »Dokumente« sind hier verschiedene amtliche Dokumente zusammengefasst, aber auch anderes Gedrucktes wie Flugblätter, Lebensmittelmarkten, Zeitungsausschnitte etc.

a)

anonym oder ohne Vornamen

Männer

Frauen

Personen

Tabelle 27: Bestand »Kommission Wien 1945« im Wiener Stadt- und Landesarchiv (1956)a)

456 Anhang

27 284

»entfällt«b)

0 25

0

0

15 (60 %) 10 (40 %)

Tagebücher

0 198

8 (4 %) 0

Lebensgeschichtliche Texte 70 (36 %) 119 (60 %)

0 11

0

0

7

3

Briefe

0 5

0

0

2

3

Postkarten

0 13

0

0

6

7

Fotos

0 6

0

0

3

3

Gedichte

0 6

5

0

1

0 48

0

1

30

Chronik amtliche Dokumente/ Gedrucktes 0 16

Christine Klusacek: Material der »Kommission Wien 1945«, in: Wiener Geschichtsblätter, Jg. 32, 1977, Sonderheft 2 (»Kommission Wien 1945« Abschlußbericht), S. 78–97. b) Siehe dazu die Erklärung in → Abschnitt 3.3.

a)

8 (3 %) 5

99 (40 %) 143 (57 %)

anonym oder ohne Vornamen Pfarren

Männer

Frauen

Personen

Tabelle 28: Bestand »Kommission Wien 1945« im Wiener Stadt- und Landesarchiv (1975)a)

Anhang

457

0 12

1 (8 %) 12

3 (25 %) 8 (67 %)

Tagebücher

1 124

4 (3 %) 123

Lebensgeschichtliche Texte 46 (37,5 %) 73 (59,5 %)

0 7

7

2 0 2

1

1

5

Postkarten

2

0

0

Briefe

0 15

15

5

3

7

Fotos

0 3

3

0

2

1

Gedichte

0 8

8

1

3

0 40

40

8

10

Chronik amtliche Dokumente/ Gedrucktes 4 22

Christine Klusacek: Wiener Historische Kommission. Tätigkeitsbericht 1975–1980, in: Wiener Geschichtsblätter, Jg. 36, 1981, Beiheft 2, S. 7–19.

1 208

mehrere Personen

a)

20 (10 %) 207

87 (42 %) 100 (48 %)

anonym

Männer

Frauen

Personen

Tabelle 29: Bestand »Wiener Historische Kommission« im Wiener Stadt- und Landesarchiv (1978)a)

458 Anhang

2.975

43

30 (1 %) 2.932

Lebensgeschichtliche Texte 1.050 (36 %) 1.852 (63 %)

174.541

6.906

964

5.941

159.270 15.250

1

3.430

2.511

Postkarten (Stück)

21

81.765

77.505

Briefe (Stück)

Danke an Hans D. Schmitz vom Deutschen Tagebucharchiv Emmendingen für das Zur-Verfügung-Stellen dieser Daten per E-Mail am 24. Mai 2017.

13.952

4.156

a)

43

113

mehrere Personen

220 (2 %) 13.909

7.128 (51 %) 6.561 (47 %)

111 (3 %) 4.043

1.666 (41 %) 2.266 (58 %)

Tagebücher (Bände)

anonym

Männer

Frauen

Personen

Tabelle 30: Bestand des Deutschen Tagebucharchivs Emmendingen (2017)a)

Anhang

459

L’Homme Schriften Band 28:  Veronika Helfert

Frauen, wacht auf! Eine Frauen- und Geschlechtergeschichte von Revolution und Rätebewegung in Österreich, 1916–1924 2021. 399 Seiten, gebunden € 50,– D / € 52,– A ISBN 978-3-8471-1184-9 eBook: € 39,99 ISBN 978-3-8470-1184-2

Band 26: Ingrid Bauer, Christa Hämmerle und Claudia OpitzBelakhal (Hg.)

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Band 25: Therese Garstenauer

Band 24: Laura Fahnenbruck

Russlandbezogene Gender Studies

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2018. 474 Seiten, gebunden € 60,– D / € 62,– A ISBN 978-3-8471-0742-2 eBook: € 49,99 ISBN 978-3-8470-0742-5

Die Bände von „L’Homme Schriften“ 1 bis 22 und „L’Homme Archiv“ 1 bis 5 sind beim Böhlau Verlag erhältlich: www.boehlau-verlag.com

L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 31. Jg., Heft 2 (2020)

Verstörte Sinne hg. von Ulrike Krampl und Regina Schulte 174 Seiten, kartoniert € 25,– D / € 26,– A ISBN 978-3-8471-1162-7 eBook: € 19,99 ISBN 978-3-8470-1162-0

Vorschau: 32. Jg., Heft 1 (2021)

Frauenwahlrecht – umstrittenes Erinnern hg. von Birgitta Bader-Zaar und Mineke Bosch Erscheint im Juli 2021

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