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German Pages [139] Year 2019
Astrid v. Sichart
Systemischdokumentarische Paartherapie Resilienz in Partnerschaften entdecken und stärken
Astrid v. Sichart
Systemischdokumentarische Paartherapie Resilienz in Partnerschaften entdecken und stärken
Mit 4 Abbildungen und 1 Tabelle
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: M. Rohana/Shutterstock.com Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-45382-3
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1 Wie gelingt es eigentlich Paaren, die keine Therapie machen, zusammenzubleiben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.2 Wie kann man dem Gelingen von Partnerschaft auf die Spur kommen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 1.3 Womit beschäftigt sich die Paarforschung im Moment? 13 1.4 Gibt es etwas Neues in der Paarforschung? . . . . . . . . . . 14 1.5 Zum Gebrauch dieses Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Legende zum Lesen von Transkripten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2 Theoretische Grundlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 2.1 Die Entwicklung der systemischen Paar- und Familientherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.2 Die Dokumentarische Methode in groben Zügen . . . . . 23 2.3 Gemeinsamkeiten von Dokumentarischer Methode, Systemtheorie und systemischer Therapie . . . . . . . . . . . 25 2.4 Auf Spurensuche: Exploration des Impliziten . . . . . . . . 29 3 Die Dokumentarische Methode als Handwerkszeug für Therapeut*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 3.1 Fremdverstehen: Wo verbirgt sich der Schlüssel zu Resilienz? Zum Unterschied von kommunikativem und konjunktivem Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.2 Wie Sprache auf einen Bedeutungsgehalt hinweist: Indexikalisches Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 3.3 Und sie wussten nicht, was sie taten: Orientierungs‑ schema und Orientierungsrahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3.4 Wie Paare sich beim gemeinsamen Erzählen aufeinander beziehen: Diskursanalyse . . . . . . . . . . . . . . . 46 Inhalt
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3.5 Die Rekonstruktion der transkribierten Erzählung durch den Therapeuten/die Therapeutin . . . . . . . . . . . . . 48 3.6 Zusammenfassung: Rekonstruktives Vorgehen als Erweiterung des systemischen Arbeitens mit Paaren . . 56 4 Schritt für Schritt: Rekonstruktion anhand eines ausführlichen Beispiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Formulierende Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Reflektierende Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Wie es weitergeht … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die habituellen Resilienzmuster des Paares Anne und Johan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5 Therapie und Dokumentarische Methode . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Fallgeschichte 1: Umgang mit einer Affäre . . . . . . . . . . . 5.2 Fallgeschichte 2a: Versöhnung vor dem Sterben . . . . . . 5.3 Fallgeschichte 2b: Unterschiedliche Wahrnehmungen . 5.4 Transkripte und Fotos als Medium der Selbst‑ erkenntnis in der Paartherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76 77 84 95
6 Gibt es Resilienztypen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Typ 1: Orientierung an einer Beziehungsordnung: »Beziehung immer wieder austarieren« . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Typ 2: Orientierung an Normalität: »… bis die Vernunft wiederkommt« . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Typ 3: Orientierung an familiären Generations‑ zusammenhängen: »… dieser Gegensatz von den Familien her« . . . . . . . . . .
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104 114 121
7 Wie stellt sich resilientes Verhalten bei Paaren her? . . . . . . 127 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
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Inhalt
Vorwort
Astrid v. Sichart hat mit diesem Buch einen Schritt getan, der als Pionierarbeit gelten kann. Es ist dies der Schritt von einer sozialwissenschaftlichen Forschungsmethode, die sich gerade in umfassenderer Weise zu etablieren beginnt, hin zu deren Applikation als Methodik professionellen Handelns. In der neueren sozialwissenschaftlichen Diskussion um die Professionalisierung in pädagogischen und sozialen Organisationen stellt dieser Weg aktuell einen Fokus dar. Eine vergleichbar überzeugende Applikation ist hier aber bisher nicht zu beobachten. Applikation bedeutet in diesem Fall nicht, die professionelle Praxis – hier diejenige der Therapie – aus der Forschungsmethodik, hier derjenigen der Dokumentarischen Methode, abzuleiten. Vielmehr geht es darum, die eigene Berufserfahrung, das eigene handlungsleitende und somit überwiegend implizite Wissen, vor diesem Hintergrund partiell zu explizieren, methodisch zu reflektieren und zu systematisieren. Um die Explikation impliziten Wissens – hier desjenigen der Klient*innen – geht es auch in der therapeutischen Praxis selbst. Dieses unterscheidet sich elementar von deren theoretischem Wissen, welches auf der Unterstellung von Motiven und Intentionen und häufig eben auch Schuldzuweisungen basiert. Die Logik des praktischen Handelns ist aber eine andere, wie auch die Fallgeschichten in diesem Buch zeigen. Neben der Dokumentarischen Methode ist es die Systemtheorie, welche die Logik von Alltagstheorien nachhaltig in Frage gestellt und die Eigengesetzlichkeit und interne Logik, d. h. die Selbstreferenzialität, der Praxis in präziser Weise rekonstruiert hat. Astrid v. Sichart vermag beide Theorieansätze miteinander zu verbinden. Vorwort
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Die Rekonstruktion des impliziten Wissens, welches die Klient*in nen selbst um die Logik ihres Handelns und ihrer Probleme haben, sowie die Methodik der Schaffung eines Diskurses, d. h. eines Erfahrungsraumes, in dem diese zur Artikulation gebracht werden können, basiert wesentlich auf der Dokumentarischen Methode respektive ihrer Grundlagentheorie, der Praxeologischen Wissenssoziologie in der Tradition von Karl Mannheim. Astrid v. Sichart geht auf dieser Grundlage aber noch einen – für das vorliegende Buch wesentlichen – Schritt weiter: Sie sucht den Anschluss nicht nur an das Wissen der Klient*innen um ihre Probleme, sondern auch an deren Wissen um ihre Bewältigung. Das bedeutet, sich systematisch jener (impliziten) Praktiken und Strategien zu vergewissern, mit deren Hilfe die Paare in ihrer bisherigen lang andauernden gemeinsamen Geschichte Krisen und Konflikte ohne professionelle Unterstützung überwunden haben. Erst das Gespür für die Potenziale der Resilienz, wie Astrid v. Sichart dies in erheblicher Erweiterung der üblichen Verwendung dieses Begriffs bezeichnet, ermöglicht es, an die Selbstheilungskräfte einer Beziehung anzuknüpfen, die Selbstbestimmung der Klient*innen umfassend anzuerkennen und mit ihnen und nicht gegen sie arbeiten zu können. Wie ich einleitend bereits angedeutet habe, ist dieser Schritt, Forschungsmethoden für den Bereich professioneller Praxis in systematischer Weise fruchtbar zu machen, nicht nur von Relevanz für die therapeutische Praxis, sondern hat darüber hinaus ganz allgemein Modellcharakter für den sozialwissenschaftlichen Diskurs um Professionalisierung und ist auch hier von hoher Aktualität. Prof. Dr. Ralf Bohnsack
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Vorwort
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Einführung
1.1 Wie gelingt es eigentlich Paaren, die keine Therapie machen, zusammenzubleiben? Wie viele meiner Kolleg*innen erlebe ich in der therapeutischen Arbeit mit Paaren viele unterschiedliche Überraschungen. Eine davon ist, dass nach Phasen von zähen und fast perspektivlosen Therapiestunden Paare gelöst und fast heiter zu mir kommen. Die Probleme, die sie hatten, sind zwar weiterhin vorhanden, doch sie werden von den Paaren anders beschrieben: leichter, humorvoller, mit mehr Distanz, und dadurch scheinen für die weitere Arbeit neue Perspektiven auf. Die Frage, worauf dies zurückzuführen ist, bleibt erst einmal unbeantwortet. In den Anfangsjahren meiner Arbeit hätte ich vielleicht eine paradoxe systemische Frage gestellt: Was sie tun müssten, um sich als Paar wieder schlechter zu fühlen. Jetzt denke ich: Nicht daran rühren! Einfach nur mitfreuen! Durch diese und andere Beobachtungen und Erfahrungen stellte sich mir die Frage, wie eigentlich die vielen Paare, die sich nicht zu einer gemeinsamen Therapie aufmachen, ihre Krisen und Probleme überwinden. Gleichzeitig beschlich mich das Gefühl, dass meine langjährige Praxis, also meine Routine, mich nicht nur zu einer erfahreneren Therapeutin machte, sondern auch dazu führte, dass ich durch meine professionelle Deformation den Blick für ganz normale, undramatische, ja vielleicht langweilige Prozesse verloren hatte. Als systemische Paar- und Familientherapeutin bewegen mich immer wieder ähnliche Fragen und Gedankengänge: In welchem Wie gelingt es eigentlich Paaren zusammenzubleiben?
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Maß habe ich wirklich verstanden, worum es einem Paar oder einer Familie mit ihrem Anliegen ging? Inwieweit passen meine systemischen Interventionen zur jeweiligen Problemlage und inwieweit helfen sie, zu einer positiven Veränderung beizutragen? Was passiert eigentlich bei den Klient*innen während einer Therapie? Kann man überhaupt therapieren? Und nicht zuletzt: Wie überwinden all die Paare und Familien Krisen und Konflikte, die keine Therapeutin, keinen Therapeuten aufsuchen? Bemerkenswert ist, dass Paare, die viele Jahre zusammenleben und sich nicht trennen – sich nicht getrennt haben –, so gut wie nie im Fokus von Untersuchungen über Paare stehen. Dies ist umso erstaunlicher, als die größte Längsschnittstudie, die seit 1938 bis jetzt untersucht, was Menschen wirklich glücklich macht, herausgefunden hat, dass es gelingende Beziehungen sind. Dieses Ergebnis der sogenannten Harvard- bzw. Grant-Studie ist allein für sich genommen wahrscheinlich banal, interessant wird es im Zusammenhang mit dem Phänomen, dass Menschen dann auf dem Weg zum Glück sind, wenn sie »loslassen« und mit neuen Konzepten und Ideen wieder neu anfangen können. Dies führt uns zum Thema »Elastizität von Beziehungen«: Wie gelingt es Paaren, sich aus Verstrickungen und festgefahrenen Themen und Situationen zu lösen und neue, andere Wege zu gehen? Es liegt bisher wenig Wissen über das Gelingen längerer Prozesse und Verläufe alltäglichen Zusammenlebens vor. Da es gegen jede (auch die eigene) Lebenserfahrung spricht, dass lange zusammenlebende Paare keine Krisen und beziehungskritischen Situationen durchlebt haben, ist es von besonderem Interesse zu erfahren, wie Paare diese ohne therapeutische Intervention bzw. ohne professionelle Begleitung bewältigt haben – auch und gerade für die therapeutische Praxis. Unsere Wahrnehmung ist nicht nur in der Forschung auf das Defizitäre und Nichtfunktionierende gerichtet. Immer wieder machen uns die Medien darauf aufmerksam, welche Beziehung prominenter Personen wieder in die Brüche gegangen ist, seien es Beziehungen von Politikern oder Schauspielern. Und so erzählen wir uns auch im Bekanntenkreis, wo es wieder kriselt, und nicht, wie lange Herbert und Marianne schon glücklich sind. 10
Einführung
Der Blick in die scheinbar objektive Welt der Zahlen der Statistik sagt uns auch nichts anderes: Der oft beschriebene Weg unserer heutigen Gesellschaft zu einer »Single-Gesellschaft« zeigt sich in Zahlen des Statistischen Bundesamts. Gab es 1950 in Deutschland (BRD und DDR) insgesamt 750.452 Eheschließungen und 134.600 Scheidungen, so wurde im Jahr 2013 trotz einer Zunahme der Gesamtbevölkerung von rund 69 auf 82 Millionen Einwohner*innen mit 373.655 Eheschließungen nur noch ungefähr halb so oft geheiratet – die Scheidungen nahmen auf insgesamt 169.833 zu. Setzt man diese absoluten Zahlen in das Verhältnis pro 1000 Einwohner*innen, so wird der dramatische Rückgang der Eheschließungen besonders deutlich: 1950 kamen auf 1000 Einwohner*innen 10,8 Eheschließungen und 1,9 Ehescheidungen, 2013 allerdings waren es nur noch 4,63 Eheschließungen und 2,11 Ehescheidungen. »Nach den derzeitigen Scheidungsverhältnissen werden etwa 36 Prozent aller in einem Jahr geschlossenen Ehen im Laufe der nächsten 25 Jahre geschieden« (Statistisches Bundesamt 2015). 2017 gibt es eine positive Veränderung, bei 416.000 Eheschließungen 153.000 Scheidungen, das macht einen Rückgang der Scheidungen um 5,5 Prozent. Man könnte diese Zahlen auch anders darstellen, und so wie die Krankenkasse zur Gesundheitskasse wurde, könnte man anstatt von einer Scheidungsstatistik von einer Zusammenbleibstatistik (vgl. Bleckwedel 2014, S. 25) sprechen. Dann käme die Zunahme (nichtehelicher) Lebensgemeinschaften in den Blick, und die Zahlen sprächen von einem Trend zur festen Beziehung: Etwa 60 Prozent aller Deutschen leben in festen Beziehungen; 60 Prozent aller Paare leben mehr als 45 Jahre zusammen; zwei von drei Ehen enden mit dem Tod eines Partners. Dieser dramatische Rückgang des Heiratens sowie die Instabilität von Ehen wird kompensiert durch die Zunahme »nichtehelicher Lebensgemeinschaften und Distanzbeziehungen« (Lenz 2009, S. 25). Insgesamt wird durch die zunehmende Auflösung »traditioneller Vergemeinschaftungsformen« (Lenz 2009, S. 26) ein steigendes »Bedürfnis nach Intimität und emotionaler Absicherung auf die Zweisamkeit« konstatiert (Lenz 2009, S. 26; Beck u. Beck- Gernsheim 2005, S. 37; vgl. auch Schneider, Rosenkranz u. Limmer 1998; H ondrich 1997, S. 306 f.). Wie gelingt es eigentlich Paaren zusammenzubleiben?
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Die Zunahme eines Liebesanspruchs, gestiegene Erwartungen an Empathie und kommunikativem Austausch bei gleichzeitig zunehmender Vielfalt der Möglichkeiten, Zweisamkeit in homooder heterosexueller oder sonstiger Form zu gestalten, kennzeichnet den Wandel von der Familie hin zu alternativen Lebensformen. Der beschriebene Mangel an wissenschaftlich fundierter Information hat natürlicherweise auch Auswirkungen auf die therapeutische Praxis. Darauf werde ich in Kapitel 5 eingehen. Im Unterschied zu einer defizit- und problemorientierten Perspektive soll in diesem Buch gezeigt werden, wie Paare durch Orientierungen, die sich in ihr tägliches Handeln, in ihre Gespräche, in ihr körperliches Zusammensein eingewoben haben, zu einer Überwindung von Konflikten und Krisen und damit zu einer Beständigkeit im Zusammenleben beitragen können.
1.2 Wie kann man dem Gelingen von Partnerschaft auf die Spur kommen? Die Frage nach dem Wie des Gelingens von langjährigen Partnerschaften ist Gegenstand dieses Buches. Im Zentrum hierbei stehen, wie schon erwähnt, Orientierungen der Paare, die sie wie eine Art inneres Navigationsgerät, aus dem gefährlichen Gelände einer Krise heraus begleiten. Interessanterweise können Paare, wenn sie eine krisenhafte Zeit überstanden haben, wenig darüber sagen, wie sie das geschafft haben. »Irgendwann war es einfach wieder besser«, solche oder andere vagen Aussagen äußern Paare, wenn man sie direkt danach fragt. Um herauszufinden, wo sich dieses resiliente – jedoch sowohl für die Paare als auch für Außenstehende unsichtbare – Wissen befindet, habe ich während einer Forschungsphase mit sehr vielen Paaren, die länger als 25 Jahre verheiratet waren und viele Krisen überstanden hatten, Paargespräche geführt. Mit der Dokumentarischen Methode – auf deren theoretische Bausteine als Nutzen für Paartherapeut*innen werde ich in Kapitel 3 eingehen – habe ich das Orientierungs- und Handlungswissen der Paare in ihren Interaktionen, in ihrem Körperwissen und in ihrer gemeinsamen Kommunikation untersucht. 12
Einführung
1.3 Womit beschäftigt sich die Paarforschung im Moment? Der bisherige Stand der deutschsprachigen Paarforschung ist da durch gekennzeichnet, dass der Bereich der Ehe- und Paarforschung wenig entwickelt sowie die bestehende Forschung problemfokussiert ist. Das heißt, trotz der Tatsache, dass viele Paarbeziehungen Jahrzehnte dauern, konzentrieren sich die meisten Studien in der Paarund Familienforschung eher auf kritische Ereignisse und Übergänge in den Partnerschaften. Die Problemorientierung in der Paarforschung – »aufgrund empirischer Untersuchungen [ist] weit mehr über die Entstehung und Auflösung einer Beziehung bekannt als über die Beständigkeit der Beziehung« (Bierhoff 1993, S. 191) – lässt sich mit der öffentlichen Wahrnehmung der steigenden Scheidungszahlen und der damit einhergehenden Bedrohung der Stabilität von Familien begründen. Einen Mangel an deutschsprachiger Forschung im Bereich der Paarforschung beklagen auch die Schweizer Paarforscher Guy Bodenmann und Kurt Hahlweg in einem Interview: »Im angelsächsischen Raum, vor allem in den USA, ist die Paarforschung ein eigenständiger Forschungsbereich und es gibt eine eigenständige Scientific Community, die hier im deutschen Sprachraum noch sehr unterentwickelt ist. Dies spiegelt sich auch in der Menge an amerikanischen Fachzeitschriften in diesem Forschungsfeld wider. Im deutschen Sprachraum gibt es kaum einschlägige Fachzeitschriften zur Paarforschung und keine zur Paartherapie« (Bodenmann 2006). Ganz anders sieht dies im angelsächsischen und vor allem im amerikanischen Raum aus. In der amerikanischen Forschungstradition werden Paarbeziehungen »close relationship« genannt (vgl. Kelley 1983). Mit dieser Bezeichnung gelingt es, unabhängig von formalen und juristischen Regelungen und unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit, auf die innere Seite einer Beziehung zu schauen. Eine für diese Arbeit sehr brauchbare Definition beschreibt vier charakteristische Kategorien für »close relationship«: »a high degree of interdependence between two people is revealed in four properties of their interconnected activities: (1) the individuals have frequent Womit beschäftigt sich die Paarforschung im Moment?
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impact on each other, (2) the degree of impact per each occurrence is strong, (3) the impact involves diverse kinds of activities for each person, and (4) all these properties characterize the inter-connected activity series for a relative long duration of time« (Kelley 1983, S. 13). Von einer eigenständigen Paarforschung lässt sich in Deutschland erst seit den Forschungsarbeiten von Schneewind und Wunderer Mitte der 1990er Jahre sprechen. Sie beschreiben u. a. einen »in den letzten Jahren feststellbaren Wandel von einer vornehmlich defizitzu einer stärker ressourcenorientierten Paarbeziehungsforschung« (Wunderer u. a. 2001, S. 75). Mit dem Hinweis auf wesentliche demografische und bevölke rungspolitische Veränderungen fordern u. a. Nave-Herz (2002) und Lenz (2009) eine vom System Familie unabhängige Betrachtung von Paarbeziehungen. Sie konstatieren und beschreiben: ȤȤ einen Anstieg der Lebenserwartung; allein in der Zeit von 1960 bis 1990 ist die Lebenserwartung von westdeutschen Männern um sechs Jahre gestiegen, die von Frauen um zehn Jahre, was in der Folge zu einer nachfamilialen Paarphase von bis zu 20 oder gar 25 Jahren führen kann; ȤȤ eine Verlängerung der kinderlosen Zeit vor der Familienphase; ȤȤ eine Kinderlosigkeit von etwa 20 Prozent aller Ehen; ȤȤ eine sogenannte Empty-Nest-Phase; da sich die Familienbildung zunehmend auf ein oder zwei Kinder beschränkt (25 Prozent aller Ehen haben ein Kind, 40 Prozent zwei Kinder) bei gleichzeitig geringer werdenden Abständen zwischen den Geburten, verlassen die Kinder das Elternhaus zeitlich dichter und die Familienzeit verkürzt sich dadurch.
1.4 Gibt es etwas Neues in der Paarforschung? Eine qualitative Untersuchung zum Thema, wie Paare eine Krise ohne therapeutische Hilfe überwinden, gibt es nicht. Die Frage, wie Paare mithilfe eigener Möglichkeiten, quasi aus sich heraus Krisen und Konflikte überwinden, lenkt den Blick auf Untersuchungen und Konzepte zum Thema »Resilienz«. In ihrem Kongressband »Gedeihen trotz widriger Umstände« versammeln Hildenbrand und Welter-Enderlin (2006) Untersuchungen, 14
Einführung
wie Paare mit therapeutischer Unterstützung Krisen und Konflikte meistern und welche nachhaltigen Kompetenzen diese Paare Jahre später aufweisen. In diesem Zusammenhang übertragen sie den Begriff der Resilienz auf Beratung und Therapie bei Paaren. »Das Konzept der Resilienz bezieht sich aber explizit nicht auf Therapeuten oder therapeutisches Vorgehen, sondern auf Menschen in ihrem natürlichen Umfeld« (Hildenbrand u. Welter-Enderlin 2006, S. 10). In ihrem Buch wird erstmals in der Literatur der Begriff der Resilienz in der Anwendung auf das System Paar verwendet. Hildenbrand und Welter-Enderlin definieren den Begriff in der Weise, dass »unter Resilienz die Fähigkeit von Menschen verstanden wird, Krisen im Lebenszyklus unter Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen zu meistern und als Anlass für Entwicklung zu nutzen« (Hildebrand u. Welter-Enderlin 2006, S. 13). Der Begriff »Resilienz« stammt ursprünglich aus der Kindheitsforschung. Mit sehr wenigen Ausnahmen wird er auf Kompetenzen von Individuen – besonders von Kindern – bezogen. Ursprünglich bezeichnete er diejenigen Eigenschaften von Kindern, die ihre psychische Gesundheit trotz widrigster Umstände (Armut, Krieg, Flucht, Scheidung der Eltern etc.) bewahren konnten. In diesem Zusammenhang wird oft die Studie von Emmy Werner genannt, die in einer Langzeitstudie über 40 Jahre 700 Kinder des Jahrgangs 1955 auf Kauai, einer hawaiianischen Insel, beobachtet hat. Resilienz kann mit Widerstandsfähigkeit, Elastizität oder Spannkraft beschrieben werden und meint dabei die Fähigkeit, mit belastenden Situationen umzugehen (vgl. Wustmann 2004, S. 18). Als zentrale Merkmale von Resilienz gelten (vgl. Wustmann 2004): ȤȤ Resilienz ist eine variable Größe und damit nicht stabil und voraussehbar; ȤȤ Resilienz ist situationsspezifisch und kontextabhängig; ȤȤ Resilienz ist ein dynamischer Lernprozess.
1.5 Zum Gebrauch dieses Buches Für wen ist dieses Buch? An erster Stelle ist es für systemische Paartherapeut*innen gedacht, die ihr Handwerkszeug erweitern und sich durch eine neue Methode dazu anregen lassen wollen, sich auf Zum Gebrauch dieses Buches
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andere Art und Weise mit dem Material zu beschäftigen, das Paare in die Therapie mitbringen. Studierende, die sich in die Dokumentarische Methode einarbeiten wollen, finden hier Material aus der Praxis, das Schritt für Schritt interpretiert wird und die Vorgehensweise nachvollziehbar macht. Und natürlich ist das Buch auch für Leser*innen interessant, die nicht therapeutisch oder beraterisch arbeiten und für die insbesondere die Paarinterviews und deren Interpretation als Geschichten über gelingende Paarbeziehungen aufschlussreich sind. Damit sich alle Lesenden gut orientieren können, habe ich in den einzelnen Kapiteln Rubriken eingebaut, die sich an unterschiedliche Interessen richten. Für diejenigen Leser*innen, die stärker an Theorie interessiert sind, gibt es die Rubrik Vertiefender Kommentar – weniger an Theorie Interessierte können diese einfach überspringen, ohne den roten Faden zu verlieren; für die mehr therapeutisch orientierten Leser*innen gibt es zusätzlich die Rubriken Praxistipps sowie Therapeutische Zwischenüberlegungen. Wie alle wissenschaftlichen Methoden und Ansätze hat auch die Dokumentarische Methode eine Reihe neuer Vokabeln, die ich im Text erkläre. Für alle Leser*innen, die sich vertiefend mit der Herleitung und dem Gebrauch des neuen Vokabulars beschäftigen möchten, empfehle ich die Lektüre von Ralf Bohnsack: Praxeologische Wissenssoziologie, 2017 Zum Lesen und zum Verständnis der zitierten Interviewpassagen, die von Tonbandaufnahmen in Transkripte übertragen worden sind, empfiehlt sich ein Blick auf die Transkriptionslegende.
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Einführung
Legende zum Lesen von Transkripten
(.)
kurze Pause, kurzes Absetzen
(3)
Anzahl der Sekunden, die eine Pause dauert
nein
laut gesprochen
nein
betont gesprochen
.
stark sinkende Intonation
,
schwach steigende Intonation
vielleich-
Abbruch eines Wortes
ja:::
Dehnung, die Häufigkeit von : entspricht der Länge der Dehnung
hab=ich
schleifend, ineinander übergehend gesprochene Wörter
(stehen)
Unsicherheit bei der Transkription
( )
unverständliche Äußerung, je nach Länge
((stöhnt))
parasprachliche Äußerungen
@ja@
lachend gesprochen
@(.)@
kurzes Auflachen
//mmh//
Hörersignal
I
der/die Interviewer*in
B
der/die Interviewte
war da (I: //mmh//) und
Hörersignal während des Sprechens
L
Überlappung der Redebeiträge
°hier°
sehr leise gesprochen
[es klingelt]
Anmerkungen des/der Transkribierenden
//ähm//
Sprechpause, Denkpause
Zum Gebrauch dieses Buches
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2
Theoretische Grundlagen
Dieses Kapitel ist eine Zumutung in zweierlei Hinsicht: Leser*innen, die gern etwas Neues lernen wollen, müssen sich erst in ein fremdes Gebiet begeben, bevor sie den unmittelbaren Nutzen für eine vielleicht andere (auch therapeutische) Gesprächsführung und die darin liegenden Schätze an resilienten Mustern erkennen können. Leser*innen, die theoretisch gern sehr in die Tiefe gehen wollen, wird hier eine Art Light-Produkt serviert. Da ich die Erfahrung gemacht habe, dass die Beschäftigung mit einer Methode im wissenschaftlichen Kontext mir zugleich einen großen Gewinn in meinem professionellen therapeutischen Denken und Handeln gebracht hat, ist es mir ein Anliegen, diese Methode aus dem wissenschaftlichen Kontext der (rekonstruktiven) Sozialforschung herauszulösen und sie in pragmatischer Form so zu beschreiben, dass sie für therapeutisches Arbeiten brauchbar werden kann. Neues lernt man am besten auf sicherem Boden. Deshalb ist der Ausgangspunkt dieser theoretischen Reise das vertraute Terrain des systemischen Denkens. Von hier aus wird der Unterschied zu einer rekonstruktiven Haltung und einem rekonstruktiven Arbeiten, wie es mit der Dokumentarischen Methode möglich ist, verständlicher. Ich versuche, einfach zu schreiben, und dort, wo es komplexer wird und es zu abstrakt werden könnte, versuche ich über Beispiele wieder auf die Ebene der Konkretion zu kommen. Zumutung hat auch etwas mit Mut zu tun. Bestimmend für die Untersuchung von Resilienz bei Paaren waren zwei Theorielinien: die systemische Theorie (in Unterschei dung zur Systemtheorie Luhmann’scher Prägung vorrangig basierend auf den Erkenntnissen Batesons, von Foersters und von Varela/ Maturana) und die Dokumentarische Methode. 18
Theoretische Grundlagen
Die Dokumentarische Methode liefert uns für das Verstehen resilienter Prozesse bei Paaren die notwendigen Instrumentarien durch die wesentliche Unterscheidung von Theorien über die Handlungspraxis und die Handlungspraxis selbst (vgl. Bohnsack 2001, S. 227). In einigen wesentlichen Punkten haben die systemische Theorie und die Dokumentarische Methode übereinstimmende erkenntnisleitende Ausgangspunkte. In den folgenden Unterkapiteln werden Kernfragen des psychotherapeutischen Arbeitens auf der Basis eines systemischen Ansatzes mit den Ansprüchen einer qualitativen Sozialforschung vor dem Hintergrund der aktuellen Paarforschung verknüpft. Damit soll verdeutlicht werden, welche Perspektive die Dokumentarische Methode als Zugang zum System »Paar« eröffnet, indem sie auf das handlungsleitende Wissen der Akteur*innen fokussiert. Im Unterschied dazu hat ein psychotherapeutisches, auf Intervention gerichtetes Arbeiten eher den intentionalen Gehalt im Blick.
2.1 Die Entwicklung der systemischen Paar- und Familientherapie Das Wissen systemischer Paar- und Familientherapeut*innen über die Handlungspraxis von Familien und Paaren und auch über die eigene Handlungspraxis ist groß. Für die heutige Haltung ist es nicht unerheblich, dass die systemische Familientherapie ihre Anfänge etwa 1950 in Palo Alto genommen hat, bekannter unter dem Namen »Silicon Valley« und als Hochburg der Computerindustrie. Gemeinsamer Kern sowohl der Computerentwicklung als auch der Entwicklung der systemischen Paar- und Familientherapie war die Frage nach der Ordnung von Regelkreisläufen (Kybernetik). In der Familientherapie war das damals bestimmende Prinzip die Homöostase: ein Modell, mit dem Angleichungen und Abweichungen des Familiensystems an Umweltbedingungen als Gleichgewicht über positives oder negatives Feedback beschrieben werden konnten. Eines der Hauptprobleme des Homöostasekonzepts war die darin implizierte unreflektierte Vorstellung über einen Idealzustand des Gleichgewichts eines Systems. Davon ausgehend entDie Entwicklung der systemischen Paar- und Familientherapie
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wickelten sich therapeutische Techniken, die in das Familiensystem eingriffen, um die Anpassungsleistung für ein wie auch immer geartetes Gleichgewicht zu erhöhen. Zu Beginn der 1980er Jahre begann in Europa die Rezeption und Verbreitung der systemischen Paar- und Familientherapie. In Abgrenzung von psychoanalytischen Konzepten gab es auf bundesrepublikanischen Weiterbildungsforen intensive Theoriediskussionen. Im Zentrum der theoretischen Auseinandersetzungen stand der Übergang der Regelkreismodelle der Kybernetik erster Ordnung zu Konzepten der Kybernetik zweiter Ordnung (Heinz von Foerster) und der Diskussion zwischen der Theorie der Autopoiesis (Humberto Maturana und Francisco Varela) in ihrer intensiven Auseinandersetzung zur soziologischen Systemtheorie (Niklas Luhmann). Dieser kurze Hinweis auf das theoretische Lokalkolorit jener Zeit verweist auf einen Theorie-Praxis-Diskurs, der aus Sicht praktizierender Berater*innen und Therapeut*innen für ihre Professionalisierungs prozesse von unschätzbarem Wert war. Der mentale und professionelle Erfahrungsraum der Therapeutenszene der 1980er Jahre basierte noch auf Vorstellungen von Empathie und Introspektion und gleichzeitig auf einer Unruhe darüber, dass diese mentalen Modelle in Ablösung begriffen waren. Diese Phase der Irritation wird im Wesentlichen ausgelöst durch die Theorie diskussion zwischen Maturana und Luhmann bezüglich der Erkenntnis und Frage, dass und inwiefern Familien und Paare autopoietische Systeme sind und wie diese sich prinzipiell selbstreproduzierenden Systeme trotzdem noch für Interventionen durch Therapeut*innen und Berater*innen offen sein können. Die Antwort auf die Frage, wie Therapeut*innen an das Kli ent*innensystem ankoppeln können, war für die therapeutische Praxis der ressourcenorientierte Ansatz, der Impulse setzt, die eigenen Ressourcen der Klient*innen zur »Heilung« einzusetzen und idealerweise weiterzuentwickeln. Für die systemische Therapie ist der epistemologische Blickwinkel des Konstruktivismus ein grundlegender und ab den 1980er Jahren auch unhinterfragter Baustein, auch wenn die Arbeitsformen und Ausprägungen sich in der konkreten Praxis unterscheiden. »Der Konstruktivismus hat in der systemischen Therapie kanoni20
Theoretische Grundlagen
schen Stellenwert erlangt; die Bezugnahme auf ihn muss nicht mehr begründet werden« (Levold 2011, S. 485). Das Gleiche gilt für die Interpretation eines gehörten oder geschriebenen Textes. Wir hören und lesen aus unserem persönlichen Blickwinkel, der sich aus unserer Sozialisation bzw. aus unserer Erfahrungswelt ergibt. Damit ist unweigerlich ein Analysestandort vonnöten, der die Trennung von »beobachtetem System« und »System der Beobachtung« aufhebt. Diese Erkenntnis führt in der Praxis der systemischen Therapie zu einer Gesprächshaltung, die nicht Dinge für sich beobachtet, sondern Akteur*innen bei ihren Beobachtungen beobachtet, denn jede Mitteilung über eine beobachtete Situation beinhaltet gleichermaßen Mitteilungen über die Beobachter*innen selbst. Es geht auch hier um eine Analyseeinstellung, die sich weniger mit dem Was einer Beobachtung beschäftigt als vielmehr mit dem Wie der Beschreibung einer Beobachtung. Das Homöostasekonzept wurde vor allem durch Arbeiten der chilenischen Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela abgelöst. Sie konnten nachweisen, dass die Anschlussfähigkeit eines Systems zum Erhalt seiner Überlebensfähigkeit nach eigenen Regeln und in Selbstproduktion seiner Elemente verläuft. Das Wissen über den Prozess der Selbst-Erschaffung und des Eigen-Sinns von Systemen (Autopoiesis) löste in der Therapeutenwelt zuerst einen Schock und in der Folge neue Einsichten aus. Ein Meilenstein auf diesem Weg war 1991 der in Heidelberg veranstaltete »systemische« Kongress mit dem Titel »Das Ende der großen Entwürfe«. Auf dieser Veranstaltung wurden zwischen Maturana, Varela, von Foerster, Luhmann, der Heidelberger familientherapeutischen Schule (Stierlin, Simon, Schmidt u. a.) und der Mailänder familientherapeutischen Schule (Cecchin, Boscolo) heftige und gewinnbringende Diskussionen geführt. In den Worten der Dokumentarischen Methode ausgedrückt: Es kam dort zu einem Wechsel von Theorien über die Handlungspraxis zur Handlungspraxis selbst. Im Rückblick auf die letzten 30 Jahre fällt auf, dass es wenig Neu- oder Weiterentwicklungen im Bereich der epistemologischen Grundlagen der systemischen Therapie gegeben hat (vgl. Levold 2011). Die Entwicklung der systemischen Paar- und Familientherapie
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Vertiefender Kommentar
Nach Luhmann sind soziale Systeme gleichzeitig operativ geschlossen und umweltoffen als Basiseigenschaften ihrer Möglichkeiten zur Selbstreproduktion. »Das geht über ein bloßes Ersatzbeschaffen für absterbende Teile weit hinaus und ist auch mit Hinweis auf Umweltbeziehungen nicht zureichend erklärt. Es geht nicht um Anpassung, es geht nicht um Stoffwechsel, es geht um einen eigenartigen Zwang zur Autonomie, der sich daraus ergibt, dass das System in jeder, also in noch so günstiger Umwelt schlicht aufhören würde zu existieren, wenn es die momenthaften Elemente, aus denen es besteht, nicht mit Anschlussfähigkeit […] ausstatten und so reproduzieren würde« (Luhmann 1984, S. 28). Diese Anschlussfähigkeit nennt Luhmann »strukturelle Koppelung« und übernimmt deren Konzeption von Humberto Maturana, der darauf hinweist, dass Nervensysteme keinen direkten Umweltkontakt haben, sondern immer nur auf ihre eigenen Prozesse zurückgreifen können.
Im Anschluss an die Autopoiesisdebatte wurden viele schon bekannte systemtheoretische Überlegungen zu Kontext (Luhmann 1997; Bohnsack 2010) und Kommunikation (Bateson 1983; Baecker 1999; Luhmann 1984), zu der Frage des Beobachtens und der Rolle des Beobachters (von Foerster 1993; Simon 2007), zur Frage nach den Möglichkeiten von Veränderung überhaupt (Maturana u. Varela 1987, Simon 1995) neu thematisiert und zusammengebracht. Baecker formuliert dies stellvertretend: »Systeme können keine Informationen aus ihrer Umwelt aufnehmen und keine Information an ihre Umwelt abgeben, ebenso wenig wie ein psychisches System aus sich heraus – oder in sich hinein kommunizieren kann. Soziale Systeme verdanken alle Informationen sich selbst« (Baecker 1999, S. 60). Als weiterer Baustein dieser Überlegungen für die qualitative Sozialforschung wie auch für die systemische Therapie dient die Erkenntnis, dass Kommunikation im Sinne eines komplexen Sinngebungs- und Verstehensprozesses nicht direkt beobachtet, sondern nur erschlossen werden kann. »Im Gegensatz zum alltäglichen Sprachgebrauch ist Kommunikation nicht als Handlung einzelnen Akteuren zuzurechnen (›Herr X kommuniziert großartig …‹) oder 22
Theoretische Grundlagen
gar als Ausdruck einer individuellen Fähigkeit zu interpretieren. Man kann nicht allein kommunizieren, handeln hingegen kann man allein – das ist der Unterschied« (Simon 2006, S. 88). Für die Akteur*innen, die in einem Kommunikationszusammenhang, also einem Gespräch, sind, lässt sich der Erfolg von Kommunikation durch die Anschlusskommunikation beschreiben. »Eine Kommunikation hat Erfolg, wenn ihr Sinn als Prämisse weiteren Verhaltens übernommen wird und in diesem Sinne Kommunikation durch andere Kommunikationen fortgesetzt wird« (Luhmann 1997, S. 337).
2.2 Die Dokumentarische Methode in groben Zügen Um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Dokumentarischen Methode und eines systemisch-therapeutischen Vorgehens in einer ersten Annäherung besser verstehen zu können, möchte ich in diesem Abschnitt lediglich in groben Zügen verdeutlichen, um was es bei der Dokumentarischen Methode geht. Das Ziel des daran anschließenden Kapitels 3 ist es, das konkrete, handwerkliche Vorgehen zu beschreiben. Um es nicht im Vagen und Abstrakten zu belassen, sollen vor allem die wesentlichen Unterschiede beider Ansätze anhand zweier Interviewausschnitte, nämlich eines systemisch geführten Interviews sowie eines Interviews nach der Dokumentarischen Methode, illustriert werden. Die Dokumentarische Methode geht zurück auf die Wissenssoziologie von Karl Mannheim, die vor allem in den 1920er und 1930er Jahren entwickelt und seit den 1980ern von Ralf Bohnsack weiterentwickelt wurde. Die zentrale Annahme besteht darin, dass unser Wissen und damit unsere Einstellungen, unsere Werthaltungen und Orientierungen auf Erfahrungen basieren, die wir abhängig von unserem Geschlecht, unserer Zugehörigkeit zu einer Generation und zu einem sozialen Milieu machen. So hat z. B. eine Frau, die Anfang der 1950er Jahre geboren und im Zeitgeist der »68er« sozialisiert wurde und aus einem bildungsbürgerlichen Milieu stammt, ein anderes Wissen über Kindererziehung als Frauen, die zehn Jahre davor oder danach aufgewachsen sind und z. B. in einem Handwerksbetrieb oder als Tochter einer alleinerziehenden Kassiererin groß wurden. Die Dokumentarische Methode in groben Zügen
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Die Lebensumstände unseres Aufwachsens und unsere Erfahrungen, die wir dabei machen, sind das zugrunde liegende Material für unser intuitives Wissen, welches uns in unserem Handeln leitet. So entsteht aus den Erfahrungen unseres Lebens und den je spezifischen Bedingungen ein Alltagswissen, das uns ganz praktisch wieder für den Alltag zur Verfügung steht und uns z. B. hilft, in undurchsichtigen bürokratischen Angelegenheiten weiterzukommen, oder eben auch – in Bezug auf unser Thema – intuitive Handlungsimpulse in Konflikten mit unserem Partner/unserer Partnerin gibt. Wie gehandelt wird, weist immer auf unterschiedliche Ausformungen des Alltagswissens hin und damit auch auf unterschiedliche soziale Bedingungen im Leben der Handelnden. Auch wenn uns unser Alltagswissen als exklusive Erfahrung erscheint, so ist sie doch über uns als Individuum hinaus in unser soziales Umfeld eingebettet. Karl Mannheim spricht hier von der »Seinsverbundenheit« des Menschen. In ihrer Ausrichtung auf die Praxis des Handelns von Menschen fokussiert die Dokumentarische Methode auf das handlungsleitende implizite oder inkorporierte Wissen der Akteur*innen und unterscheidet es von deren explizitem Wissen. Dieses intuitive oder implizite Wissen ist uns so selbstverständlich und in »Fleisch und Blut« übergegangen – wir haben es inkorporiert. Es ist ein Wissen, das uns wegen seiner Selbstverständlichkeit reflexiv kaum zur Verfügung steht. Demgegenüber ist ein explizites Wissen ein theoretisches Wissen der Erforschten über ihr Handeln, welches sogenannten Alltagstheorien oder auch Common-Sense-Theorien entspringt. Diese Theorien beziehen sich in ihrem Ursprung auf Alfred Schütz und sein Modell zweckrationaler Handlungsentwürfe. Im Zentrum dieses Modells stehen sogenannte Um-zu-Motive und Weil-Motive, die dem*der Beobachter*in weitestgehend durch die Attribuierung von Intentionen zugänglich erscheinen. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: In einem Gespräch erzählt ein Paar, dass sie häufig nach einem Streit gemeinsam etwas Schönes unternehmen. Eine Attribuierung eines Motivs könnte sein: Sie machen etwas Schönes miteinander, um sich 24
Theoretische Grundlagen
zu versöhnen oder um den Streit zu vergessen. In diesem Fall sind das Ergebnis der Rekonstruktionen zugeschriebene und formulierte Intentionen und Motive aus der Perspektive von Beobachter*innen.
Die Dokumentarische Methode, die in der Tradition von Karl Mannheim steht, unterscheidet sich in ihrem Fokus und in ihrem forschungspraktischen Vorgehen von der hermeneutischen Wissenssoziologie Schütz’scher Prägung dahingehend, dass sich die Beobachterhaltung auf die Rekonstruktion des Modus Operandi, d. h. der Herstellungspraxis der Handelnden Personen bezieht. Einfacher ausgedrückt: Es geht nicht um die Motive des Handelns, die aus der Vergangenheit kommen können, oder um Absichten des Handelns, die in der Zukunft liegen mögen, sondern es geht um die Frage: Wie funktioniert das Handeln. Wie geschieht der Handlungsvollzug im Kontext von Geschlechterzugehörigkeit, von Zugehörigkeit zu einer Generation mit den jeweiligen historischen Merkmalen? Welche Denk-, Fühl- und Handlungsmuster lassen sich rekonstruieren?
2.3 Gemeinsamkeiten von Dokumentarischer Methode, Systemtheorie und systemischer Therapie Die für diese Arbeit bestimmenden Theorielinien der Dokumen tarischen Methode sowie der Systemtheorie zeigen also zentrale Gemeinsamkeiten. Diese beziehen sich insbesondere auf zwei Punkte: Eine Gemeinsamkeit ist die identische analytische Beobachterhaltung, nämlich die der Beobachtung zweiter Ordnung. In der systemischen Therapie zeigt sich diese analytische Haltung an der Beobachtung von partnerschaftlichen oder familialen Mustern. Für eine außenstehende Person bedeutet Verstehen eine Rekon struktionsleistung, die sich nur aus einer längeren Gesprächseinheit und im Kontext erarbeiten lässt. Das Zauberwort heißt also Kontext: Im Einzelinterview kann ich die Einzeläußerung erst im Gesamtkontext einer Erzählung oder längeren Darstellung adäquat verstehen. »Dadurch, dass die Einzelnen wechselseitig aufeinander Bezug nehmen, bildet sich ein kommunikativer Kontext, durch den der Sinngehalt der je einzelnen Äußerung für mich deutlicher wird. Gemeinsamkeiten
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Und gegenüber denjenigen, mit denen die Einzelnen auch in ihrem Alltag zusammen sind, werden sie die Symbole, die Sprache und vor allem auch die Metaphern, die Bilder verwenden, die für diese jeweilige Lebenswelt typisch sind« (Bohnsack 2010, S. 21). Eine zweite Gemeinsamkeit bezieht sich auf das Paradigma selbstreferenzieller Systeme. Für die systemische Therapie wurde dies weiter oben am Beispiel der Kommunikation verdeutlicht, welche sich immer als Anschlusskommunikation innerhalb eines Kontextes zeigt. Und auch in der Dokumentarischen Methode geht es um die Untersuchung von Anschlusskommunikation in der Untersuchung der jeweiligen Diskursmodi, also die unterschiedlichen Weisen, sich kommunikativ aufeinander zu beziehen. Schwieriger wird der Zusammenhang von Beobachtung und Verstehen aus dem jeweiligen Kontext heraus allerdings bei psychischen Phänomenen, die nur durch Selbstbeobachtung – und auch dabei nur schwer – zugänglich sind. Alle Empfindungen wie Liebeskummer, Schmerz, Trauer, Freude lassen sich zwar kommunikativ vermitteln, sind aber in ihrer Mitteilung nicht identisch mit der Empfindung. »Psychische Strukturen entstehen, so lässt sich zusammenfassen, in einem selbstreferentiellen Prozess, bei dem das Individuum sich selbst Botschaften und Mitteilungen gibt – über sich selbst und die Welt; und diese Botschaften finden ihren Weg zurück über die Vermittlung körperlicher und sozialer Prozesse« (Simon 1995, S. 62). Um zu verstehen, welche unterschiedlichen Erkenntnisse durch unterschiedliche Gesprächsstrategien entstehen, werden etwas später in diesem Kapitel zwei unterschiedlich geführte Interviewausschnitte aus demselben Gespräch vorgestellt und vergleichend analysiert. Der eine Abschnitt ist nach der Dokumentarischen Methode als ein »selbstläufiges Interview«, der andere Ausschnitt ist eher nach dem Vorgehen der systemischen Therapie durchgeführt worden. Dabei wird herausgearbeitet, welche Vorteile sich aus einer Kombination von beiden Durchführungsarten für die systemische Beratung und Therapie ergeben könnten. Eines der Hauptanliegen, sowohl der rekonstruktiven Sozial forschung als auch jeder Beratung und Therapie systemischer Ausprägung, ist das Verstehen der sozialen Umwelt. Gemeinsames Theorieelement der systemisch-therapeutischen Praxis und der Do26
Theoretische Grundlagen
kumentarischen Methode ist ein – im weiteren Sinne verstandener – Konstruktivismus. Dieser lenkt den Blick auf die Tatsache, dass wir im Gespräch (sei es ein Interview für Forschungszwecke, sei es ein systemisches Interview in der Therapie) nicht einfach Material erheben, sondern dieses durch unsere Anwesenheit auch erzeugen, zumindest beeinflussen. Für die systemische Therapie ist der erkenntnisleitende Blickwinkel des Konstruktivismus ein grundlegender und ab den 1980er Jahren auch unhinterfragter Baustein, auch wenn die Arbeitsformen und Ausprägungen sich in der konkreten Praxis unterscheiden. »Der Konstruktivismus hat in der systemischen Therapie kanonischen Stellenwert erlangt; die Bezugnahme auf ihn muss nicht mehr begründet werden« (Levold 2011, S. 485). Das Gleiche gilt für die Interpretation eines gehörten oder geschriebenen Textes. Wir hören und lesen aus unserem persönlichen Blickwinkel, der sich aus unserer Sozialisation bzw. aus unserer Erfahrungswelt ergibt. Damit ist unweigerlich ein Analysestandort vonnöten, der die Trennung von beobachtetem System und System der Beobachtung aufhebt. Diese Erkenntnis führt in der Praxis der systemischen Therapie zu einer Gesprächshaltung, die nicht Dinge für sich beobachtet, sondern Akteur*innen bei ihren Beobachtungen beobachtet, denn jede Mitteilung über eine beobachtete Situation beinhaltet gleichermaßen Mitteilungen über die Beobachter*innen selbst. In der systemischen Therapie werden Beobachtungen in zweierlei Hinsicht genutzt: Beobachtungen führen zu Diagnosen, und daraus erwachsen Hypothesen über das System. Wenn die zu Hypothesen geronnenen Beobachtungen dem System mitgeteilt werden, dienen sie auch als therapeutischer Impuls. Dies soll an einem Beispiel verdeutlicht werden: In einer Paartherapie erzählen Mann und Frau vom Tod der Mutter der Frau und berichten, dass seither ihre Paarprobleme größer geworden sind. Die Therapeut*innen nehmen die Beobachtung des Paares »seither sind die Probleme größer« auf und beleuchten diese Beobachtungen aus mehreren Perspektiven mit der Technik des zirkulären Fragens: Gemeinsamkeiten
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»Wer von Ihnen hat zuerst bemerkt, dass seither die Probleme größer geworden sind?«, »Wer außer Ihnen hat beobachtet, dass die Probleme größer geworden sind?«, »Wer sieht das anders?«. Neben der Diagnose über das Paarsystem und sein Umfeld bekommt das Paar die implizite Mitteilung, dass Beobachtungen keine »Wahrheiten« sind, sondern im Denken des Betrachters, der Betrachterin entstehen.
Damit rücken in der systemischen Therapie Beobachtungen in den Mittelpunkt des therapeutischen Prozesses, und zwar in zwei Richtungen: Zum einen zwingt es die Therapeut*innen zu einer permanenten Selbstreflexion über die gemachten Interpretationen von Beobachtungen, zum anderen ist die Relativierung von Beobachtungen schon ein therapeutischer Impuls in Richtung auf das Klient*innensystem. Für die systemische Praxis zeigt sich dieser Erkenntnisstand in der Technik des zirkulären Fragens, die vor allem von den Mailänder Familientherapeut*innen um Mara Selvini Palazzoli entwickelt wurde. Zirkuläre Fragen implizieren einen Perspektivwechsel sowie Hypothesen darüber. Beispiele hierfür sind: »Was glauben Sie, wie Ihre Kinder Ihre Beziehung beschreiben würden?« oder: »Angenommen, Sie und Ihr Mann würden sich in Ihrer Beziehung wohler fühlen, wer in der Familie würde das zuerst bemerken?«. Die Technik der zirkulären Befragung dient nur zu einem kleinen Teil der Rekonstruktion von familialen Mustern und damit der Diagnose durch die Therapeut*innen. Die hauptsächliche Intention besteht vielmehr darin, dem Paar bzw. der Familie durch diese Form der Befragung, die mehrere Perspektiven der Beschreibung aus dem System einholt, neue Impulse zu geben und die Beteiligten durch diese neue Sicht auf ihre familialen Beziehungen zu neuen, für das Gesamtsystem insgesamt nützlicheren Beziehungsstrukturen anzuregen. Systemisches Denken in der Familientherapie versucht das Verhalten von Personen aus ihren Beziehungen untereinander heraus zu verstehen und zu erklären und nicht aus deren inneren Eigenschaften. Diese Sichtweise bedeutet für das therapeutische Vorgehen, dass nicht einem Systemmitglied, d. h. einem Familienmitglied, die Ursache von Problemen zugeschrieben wird, sondern die Ursache liegt in dem Zusammenspiel aller am Problem Beteiligter. 28
Theoretische Grundlagen
Bei einem Vergleich von Dokumentarischer Methode und systemischer Praxis in Beratungs- und Therapiesituationen lässt sich feststellen, dass beide in ihrem Vorgehen am Modus Operandi interessiert sind – in der Dokumentarischen Methode geht es genereller um die Frage, wie sich Handlungen in einem sozialen Feld unter den Aspekten von Milieu, Generation, Gender herstellen, in der systemischen Praxis um die Frage, wie sich die Beziehungsqualität und Beziehungsmuster herstellen. Gregory Bateson, einer der Begründer des systemischen Denkens, beschreibt die Verknüpfung von Beobachtungen und Beziehung als rekursiv, was sowohl für die Dokumentarische Methode wie auch für die systemische Therapie von Relevanz ist. Nach seiner Definition ist Beziehung »immer ein Produkt doppelter Beschreibung. Es ist richtig (und eine große Verbesserung), wenn man anfängt, über die beiden Parteien einer Interaktion so nachzudenken wie über zwei Augen, von denen jedes eine monokulare Sicht des Geschehens gibt, beide zusammen aber ein binokulares und tiefes Bild entstehen lassen. Diese doppelte Sicht ist die Beziehung« (Bateson 1983, S. 165).
2.4 Auf Spurensuche: Exploration des Impliziten Bisher haben wir viel über die gemeinsamen Grundlagen, Blickwinkel und Haltungen der Dokumentarischen Methode und der systemischen Therapie gesprochen. Hier soll nun der wesentliche Unterschied zwischen den beiden methodischen Herangehensweisen verdeutlicht und herausgearbeitet werden, wie sich dieser Unterschied für die paartherapeutische Praxis nutzen lässt. Das hier in zwei Ausschnitten zitierte Interview mit Nina und Robert ist ein Beispiel dafür, wie sich durch unterschiedliche Haltungen und Fragen unterschiedliche Zugänge zu expliziten oder impliziten Wissensbeständen generieren. Interviewausschnitt 1
Auf Spurensuche: Exploration des Impliziten
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Die Frage der Interviewerin richtet sich an Robert, da er sich aus Sicht der Interviewerin bisher nicht so am Interview beteiligt hat wie seine Frau Nina. Die Auswirkungen der direktiven Frage an nur eine Person machen sich nach Roberts Antwort sofort bemerkbar. Nina fühlt sich übergangen und bringt sich ins Interviewgeschehen ein, indem sie seine Antwort wiederholt und über ihn redet. Sie bleibt in dem Modus, über ihn zu reden, und bewertet ein Verhalten, dass er als »nicht so ernst nehmen« beschreibt, als »leichtsinnig«. Diese Interpretation seines Verhaltens brachte sie in der Vergangenheit dazu, sich um ihn zu kümmern, »ihn an die Hand zu nehmen«, was ihr gleichzeitig auch missfällt: »bin nicht deine Mutter«. Es fällt auf, dass sie die Dynamik zwischen sich und ihrem Mann – die sie eigentlich ablehnt – auf der performatorischen Ebene im Interview wiederholt. 30
Theoretische Grundlagen
In einer tatsächlichen Therapiesituation hätte die Therapeutin vielleicht eine erste Hypothese in Richtung einer Schieflage zwischen Nina und Robert aufgestellt, in dem Sinne, dass er die Beziehung insgesamt nicht so ernst nimmt und sie zu wenig als Partnerin auf Augenhöhe agiert und eine Mutterrolle übernimmt. Um diese Hypothese zu überprüfen und sie auch als Information an das Klient*innensystem zu geben, wäre eine mögliche zirkuläre (eventuell auch paradoxe) Frage sinnvoll: »Was müssten Sie noch tun, um füreinander die Mutter- und Vaterrolle zu übernehmen?«; oder: »Was sagen gute Freunde über Sie?«; »Wer von Ihnen beiden übernimmt eher die Elternrolle für den anderen?«. Nina wartet nun ihrerseits nicht darauf, gefragt zu werden, sondern beantwortet von sich aus die Frage der Interviewerin. Damit übernimmt sie als Reaktion auf die einseitige personenspezifische Frage der Interviewerin erneut die Mutterrolle und antwortet für Robert. Hiermit wird deutlich, wie durch die Frage der Interviewerin im Zusammenspiel mit dem Paar ein Muster entsteht, das sie, wenn sie ihr Vorgehen nicht kritisch reflektiert, als alleiniges Muster des Paares identifizieren könnte. Die Interviewerin wiederholt mit anderen Worten ihre Eingangsfrage, die sie dieses Mal an beide richtet, und möchte noch einmal wissen, was Nina und Robert sich erarbeitet haben. Die Frage nach dem Was evoziert im besten Fall eine Aufzählung von Tätigkeiten. In diesem Interview folgt ein Zeichen des Nachdenkens: »Mhh.« Die Interviewerin lässt allerdings dafür keine Zeit, sondern formuliert die Frage ein zweites Mal in eine Frage um, die eher auf die Gegenwart und Zukunft bezogen ist als auf die Vergangenheit. Die Antwort von Nina macht deutlich, wie Fragen nach dem Was eines Handlungsgeschehens das explizite Wissen hervorbringen: »Dass wir achtsam miteinander umgehen« (Z. 398). Dieses explizite Wissen rekurriert auf ein normatives und regelgeleitetes Verhalten. In Verbindung mit dem Wort »achtsam«, das auf den momentanen Sprachgebrauch von Therapeuten verweist, wird nicht deutlich, wie genau sich das achtsame Verhalten von Robert und Nina in der Praxis zeigt, wann sie es anwenden und wie es sich auf ihre Beziehung auswirkt. Im Interview wird die darauffolgende Anschlusskommunikation in einer Art und Weise weitergeführt, die deutlich macht, dass Nina Auf Spurensuche: Exploration des Impliziten
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und Robert zum Aspekt Achtsamkeit keine gemeinsame Rahmung haben. Der letzte Abschnitt des Interviews wiederholt das Muster zwischen der Interviewerin, Nina und Robert: Die Interviewerin lässt es durch ihre Ungeduld nicht zu einem selbstläufigen Dialog zwischen dem Paar kommen, sondern lenkt durch ihre steuernden Fragen den Fokus auf sich. Nina erzählt nicht weiter, sondern übernimmt ebenfalls Steuerungsfunktion, indem sie die Antwort an Robert delegiert. Der folgende Interviewausschnitt entspricht mehr dem Stil der Dokumentarischen Methode und zeigt, wie Selbstläufigkeit entsteht und welche Erkenntnisse daraus gewonnen werden können. Interviewausschnitt 2
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Theoretische Grundlagen
In diesem Ausschnitt des Interviews fragt die Interviewerin nach den qualitativen Merkmalen, die sich das Paar zur Überwindung seiner Krise erarbeitet hat. Im Unterschied zur oberen Passage formuliert sie sie jedoch nicht als Was-Frage, sondern fragt nach dem Wie. Sie richtet, ebenfalls im Unterschied zur anderen Textstelle, die Frage an beide. Der dritte Unterschied besteht in der wesentlichen Tatsache, dass die Interviewerin Geduld aufbringt, sodass ein selbstläufiger Dialog zwischen Nina und Robert entstehen kann. Die selbstläufigen Erzählungen und Beschreibungen von Nina und Robert beinhalten, wieder im Unterschied zur oberen Passage, ihren jeweils persönlich unterschiedlichen Habitus, der sich bei Nina auf Ehe und Zweisamkeit bezieht und bei Robert auf die Familie. Der Vergleich dieser beiden Interview-/Gesprächssequenzen ergibt für eine Beratungssituation im Unterschied zur üblichen Praxis folgende Erweiterung: Ziel einer (systemischen) Beratung ist die Aktivierung der Ressourcen für die Lösungsorientierung. Dabei wird davon ausgegangen, dass jedes System bereits über alle notwendigen Ressourcen verfügt, sie aus unterschiedlichen Gründen im Moment aber nicht nutzt (vgl. von Schlippe u. Schweitzer 2013). Die Frage der Interviewerin zielt auf Um-zu-Motive im Sinne von »worauf achten Sie, um Konflikte zu vermeiden?«. Ihre Erwartung ist, über diese Fragestellung Antworten zu resilientem Verhalten des Paares zu bekommen. Wie die zweite Gesprächspassage und die bisherige Diskussion dieser Untersuchung verdeutlichen, liegen die Hinweise dazu aber nicht in den Orientierungsschemata, d. h. in den Intentionen der Akteur*innen, sondern im Habitus. Der Habitus lässt sich, wie wir gesehen haben, aber eben nur aus Erzählungen und Beschreibungen rekonstruieren, nicht aus Erklärungen und Argumenten. Wie diese Untersuchung gezeigt hat, liegt der Schlüssel des resilienten Verhaltens der Paare in ihrem impliziten Wissen, also in den handlungsleitenden Wissensstrukturen oder dem Habitus. Damit wird deutlich, wie sinnvoll es ist, in einem Beratungsgespräch erzählgenerierende Impulse zu setzen, um einen Zugang zu den Ressourcen der Klient*innen zu erhalten. Die Erfahrung mit Interviewgesprächen, wie sie auf Basis der Dokumentarischen Methode erhoben werden, macht deutlich, welche Unterschiede sich aus einer systemischen Fragehaltung mit zirAuf Spurensuche: Exploration des Impliziten
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kulären Fragen und einer Explorationsmethode nach der Dokumentarischen Methode ergeben. Zirkuläre Fragen produzieren auf der Seite der Befragten hauptsächlich Gedankenprozesse und Antworten, die sich als argumentativ und erklärend beschreiben lassen. Damit werden theoretisch-reflexive Wissensbestände produziert und ausgedrückt. Diese sind dem Bereich der Orientierungsschemata zuzuordnen. Eine Exploration im Sinne der Dokumentarischen Methode verlangt nach einem Anfangsimpuls die vollständige Zurückhaltung der Interviewerin. Dies erzeugt ein selbstläufiges Erzählen der Befragten, wodurch zusätzlich zum explizit Gesagten auch implizite Wissensbestände und der Habitus des Paares sichtbar werden. Sehr theoretisch ausgedrückt: Durch die Initiierung von Selbstläufigkeit kann die selbstreferenziell-systemische Struktur des Gesprächs unmittelbarer ihren Ausdruck finden. Für die Praxis gesprochen: Für ein erfolgreiches therapeutisches Vorgehen ergibt sich die Notwendigkeit zu einer Erweiterung der Fragetechnik über zirkuläres Fragen hinaus zu einem Interviewstil, der Paare dazu anregt, in ein gemeinsames Erzählen zu kommen. Die folgende synoptische Darstellung macht abschließend deutlich, worin die Hauptunterschiede der Frage- bzw. Interviewstile liegen:
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Theoretische Grundlagen
Tabelle 1: Unterschiede zwischen systemischem Beratungsgespräch und rekonstruktiver Gesprächsführung Systemisches Beratungsgespräch
Rekonstruktive Gesprächsführung
Personenkreis
Ratsuchende, HilfeempfängerInnen
Expertinnen, interessierte Erzählpersonen
Ziel
(Wieder) Herstellung von Handlungsfähigkeit, Veränderungen
Themenbezogene Erzählungen und Beschreibungen
Haltung
Neugierde, einfühlendes Verstehen
Suspendierung eigener Bezugssysteme, Anerkennung von Autonomie
Gesprächsführung
Steuernde Frageformen (zirkuläres Fragen),direktiv, affektiv, Feedback- und Deutungsangebote
Initiierung von Selbstläufigkeit offen, Zurückhaltung eigener Affektivität
Zugang
Kommunikativ-generalisiertes Wissen Orientierungsschemata
konjunktiver Erfahrungsraum, Orientierungsrahmen
Methode
Mustererkennung
Rekonstruktion von Homologien auf der Grundlage der komparativen Analyse
Zeitliche Dimension
Schnelles Handeln und Verstehen
Entschleunigung, durch Rekonstruktion des Interviewtextes
Auf Spurensuche: Exploration des Impliziten
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Die Dokumentarische Methode als Handwerkszeug für Therapeut*innen
In diesem Kapitel geht es darum, das Werkzeug kennenzulernen, das für die Erkundung von Orientierungen, die auf Resilienz hinweisen, wichtig ist. Dieses Werkzeug ist der Dokumentarischen Methode entliehen, über die es schon im letzten Kapitel einen kurzen Abriss gab. Die Dokumentarische Methode hat einen ähnlichen epistemologischen (erkenntnisleitenden) Ausgangspunkt, wie er auch in Konzepten der systemischen Therapie besteht. Bei beiden besteht die Annahme, dass Wirklichkeit nicht objektiv schon vorhanden und auch nicht das Produkt der Intentionen der beteiligten Akteur*innen ist, sondern in der Eigendynamik von Interaktionsprozessen hergestellt wird. Diese Konstruktionen werden von den Akteuren also nicht bewusst und intentional hergestellt, sie entwickeln sich vielmehr im Prozess des Alltagshandelns. Von Interesse ist dabei nicht in erster Linie, was als Realität erscheint, sondern wie diese Realität in ihrer Bedeutung von den Beteiligten »hergestellt« wird. Das Wissen, das die Akteure über ihr Handeln haben, ist implizit, d. h., es steht ihnen nicht in all seinen Facetten von sozialen Regeln, Begründungszusammenhängen und Motiven über Zukunftsentwürfe mental zur Verfügung, weder im aktuellen Handlungsvollzug noch in der späteren Kommunikation darüber. Und trotzdem wissen die Akteure implizit, welche Regeln des sozial anerkannten Handelns sie anwenden müssen, sie können sie lediglich nicht benennen. Damit spitzt sich die Schwierigkeit des Fremdverstehens zu: Wie können andere verstehen, worüber man selbst nur ein implizites Verständnis hat? Bei der Beantwortung der Frage »Wie stellen lange zusammen lebende Paare in ihrer Alltagspraxis Resilienz her?« geht es also weni36
Die Dokumentarische Methode als Handwerkszeug für Therapeut*innen
ger um einzelne Handlungen als solche, als vielmehr um die Bedeutungswirklichkeiten, die von den Paaren darüber hergestellt werden. Die wichtigen Strukturen, die für die Herstellung des Phänomens Resilienz bedeutsam sind, sind bei den Paaren als implizites Wissen vorhanden und für einen anderen, jemand Außenstehenden, nicht direkt zugänglich. Damit erweitert sich unser Fokus um die Frage eines methodischen Aspektes: »Wie bekommen Fremde Zugang zu diesem impliziten Wissen?«
3.1 Fremdverstehen: Wo verbirgt sich der Schlüssel zu Resilienz? Zum Unterschied von kommunikativem und konjunktivem Wissen Fragt man Paare in einem Interview danach, wie sie Krisen meistern, dann können sie – nach einigem Nachdenken – in der Regel Antworten dazu geben (z. B.: »Wir streiten und irgendwann ist genug gestritten.«). Dieses Wissen über sich stellt das Paar über Reflexionen her und es kann darüber kommunizieren. In der Dokumentarischen Methode wird dieses Wissen mit Bezug auf Karl Mannheim als kommunikativ-generalisiertes Wissen bezeichnet. Kommunikatives Wissen ist ein Wissen, das den Akteur*innen sofort zugänglich ist. Es ist auf einer öffentlich-gesellschaftlichen Ebene angesiedelt und bei jedem in gleicher Weise vorhanden. So ist die Bedeutung des Begriffs »Ehe« unmittelbar und unproblematisch zugänglich, da wir alle ein Wissen um die Institution Ehe haben. Nicht unmittelbar zugänglich ist uns aber der sogenannte konjunktive Erfahrungsraum, der als Begriff auch auf Karl Mannheim zurückgeht. Er bedeutet, dass Menschen, die sich in ähnlichen Erfahrungsräumen befinden – in den Dimensionen von Geschlecht, Generation, Milieu – wesentliche Aspekte einer gemeinsamen Weltanschauung und einen ähnlichen Denkstil teilen, ohne dass sie sich persönlich kennen müssen. Die Erkundung des konjunktiven Erfahrungsraums der Paare durch uns als Therapeut*innen ist deshalb so lohnenswert, weil sich hier alle Ingredienzien für einen resilienten Umgang eines Paares untereinander verbergen. Die Mitglieder eines konjunktiven Erfahrungsraums haben strukturähnliche Erfahrungen. So sind die Kinder, die im Nationalsozialismus aufFremdverstehen
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gewachsen sind, ein gutes Beispiel. Nur sie wissen und spüren noch heute, was es bedeutet, in der Hitlerjugend dabei gewesen zu sein. Menschen aus dieser Zeit erzählen uns strukturähnliche Episoden, in einer ähnlichen Sprache und mit einer ähnlichen Weltanschauung oder mit einem ähnlichen Denkmuster. Ohne sich zu kennen, verstehen sie einander unmittelbar, wenn sie von ihren Erfahrungen erzählen (siehe auch unter Indexikalität). Paare, die über zwanzig Jahre miteinander gelebt haben, haben miteinander einen konjunktiven Erfahrungsraum geschaffen. Das zeigt sich ganz konkret daran, wie sie in der Abwesenheit des Partners bzw. der Partnerin »in seinem oder ihrem Sinne« Entscheidungen treffen, wie sie politische oder gesellschaftliche Themen ähnlich wahrnehmen und interpretieren und andere alltagspraktischen Dinge miteinander verhandeln. Das Wissen, das diesen Entscheidungen und Handlungen zu grunde liegt, ist implizit, das bedeutet, dass es den Paaren selbst nicht auf direktem Weg zugänglich ist. Und hier liegt der Schatz und zugleich die Mühe für uns Therapeut*innen, diese verbindenden Fäden und Muster in den transkribierten Erzählungen zu heben (zu rekonstruieren), zu entdecken und sie dem Paar zu zeigen oder ihm selbst das Handwerkszeug in die Hand zu geben, den eigenen Mustern auf die Spur zu kommen. Die Antwort auf die oben gestellte Frage, wie Fremde, also auch Therapeut*innen, von außen Zugang zu diesen verborgenen, impliziten Mustern bekommen, lautet: in Form von Erzählungen und Beschreibungen. Befragt man Paare mit einem sogenannten offenen und erzählgenerierenden Eingangsimpuls (»Mich interessiert, wie Sie als Paar leben und wie Sie Konflikte und Krisen meistern. Können Sie einmal erzählen …«), fordert diese Vorgehensweise das Paar dazu auf, über sein Leben zu erzählen sowie Situationen zu beschreiben. In diesen »selbstläufigen Erzählungen«, in denen Paare ihre Handlungspraxis darstellen, wird auf ein anderes und größeres Wissensrepertoire zurückgegriffen. Dieses Wissen wird als implizites, atheoretisches oder konjunktives Wissen bezeichnet. »Atheoretisch ist dieses Wissen, weil wir in unserer Handlungspraxis darüber verfügen, ohne dass wir es alltagstheoretisch auf den Punkt bringen und explizieren müssten« (Nohl 2009, S. 10). 38
Die Dokumentarische Methode als Handwerkszeug für Therapeut*innen
3.2 Wie Sprache auf einen Bedeutungsgehalt hinweist: Indexikalisches Wissen Ausgangsbasis für die Dokumentarische Methode sind die sozialen und historisch gewachsenen Merkmale der Kontexte der Beforschten, in denen die Denk-, Deutungs- und Handlungsmuster entstehen. Das bedeutet für Therapeut*innen, dass sie in ihrer Beobachter- und Analyseeinstellung vom Was zum Wie wechseln. Die explorative Frage verändert sich von »Was geschah?« zu »Wie vollzieht sich die interaktive und erlebnismäßige Herstellung des Geschehenen?«. Garfinkel (1984), ein Hauptvertreter der Ethnomethodologie, bezieht sich auf Karl Mannheim und weist darauf hin, dass in der Alltagsverständigung Missverständnisse umso stärker auftreten, je weniger uns mit unserer Gesprächspartnerin oder unserem Gesprächspartner ein kultureller und Erfahrungshintergrund verbindet. Dieses Missverstehen beruht auf der sogenannten Indexikalität der Sprache. Indexikalität meint, dass sich die Bedeutung eines Begriffs immer nur in seinem konkreten Gebrauch und in Relation zu anderen begrifflichen Konzepten herstellt. Das folgende Beispiel verdeutlicht das Phänomen der Indexikalität: Die Großmutter erzählt am Tisch (mit am Tisch sind der Großvater, die Eltern und die Kinder) eine Anekdote aus dem Krieg und sagt: »Und dann kochten wir eben Wassersuppe«. Die Kinder lachen und wiederholen: »Wassersuppe?« Sie können sich eine Suppe aus Wasser vorstellen und verstehen den indexikalischen Hinweis auf die Begriffe »Wasser« und »Suppe« als allgemein verständliche Begriffe (kommunikativ generalisierende Ebene). Die Bedeutung des Essens von Wassersuppe in Zeiten von Hunger und Entbehrung, den Geschmack von Wassersuppe (Basis auf Wasser, nicht auf Brühe) und die damit verbundene Sehnsucht nach etwas Anderem, können sich die Kinder nicht vorstellen. Dies ist nicht Teil ihrer Erfahrungen, gleichwohl aber ein geteilter Erfahrungsraum von Großeltern und Eltern. Ein weiterer Verweisungsaspekt zielt auf die gemeinsamen Erfahrungen. Es müssen hierbei nicht tatsächlich konkret geteilte Erfahrungen sein; auch andere Großeltern und Eltern, die den Krieg an einem Indexikalisches Wissen
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anderen Ort erlebt haben, sind Teil dieses konjunktiven Erfahrungsraums, da sie den oben beschriebenen Zusammenhang ähnlich erlebt haben und die Bedeutung von »Wassersuppe« ohne weitere Erklärungen verstehen können.
Wir alle sind Teilhaber*innen mehrerer solcher Erfahrungsräume. Hier können geschlechtstypische von bildungsmilieutypischen und generationstypischen Erfahrungsräumen unterschieden werden, die sich in ihrer Erlebnisschichtung überlagern. Dies bedeutet auch, dass soziale Gruppen bei einem Zusammentreffen einige Erfahrungsräume gemeinsam haben, andere nicht. Die Kinder in diesem Beispiel sind in diesem Zusammenhang Fremde. Sie gehören zu einem anderen konjunktiven Erfahrungsraum, der vielleicht auch den Begriff »Wassersuppe« kennt – aber als eine Suppe, die in der Sandkiste aus einer Mischung von Sand und Wasser »gekocht« wird. »Diejenigen, die durch gemeinsame Erlebniszusammenhänge miteinander verbunden sind, die zu einem bestimmten ›Erfahrungsraum‹ gehören, verstehen einan der unmittelbar. Sie müssen einander nicht erst interpretieren. Damit verbunden sind zwei fundamental unterschiedliche Modi der Erfahrung bzw. der Sozialität: die auf unmittelbarem Verstehen basierende ›konjunktive‹ Erfahrung und die in wechselseitiger Interpretation sich vollziehende ›kommunikative‹ Beziehung« (Bohnsack 2010, S. 59 f.). Wenn wir uns also fragen, wie Paare mit Krisen umgehen und auf welche Ressourcen sie dabei zurückgreifen, dann rekurrieren wir dabei auf die auf unmittelbarem Verstehen basierende »konjunktive Erfahrung«, auf ein Handlungswissen, das den Paaren wegen seines impliziten Charakters selbst nicht zugänglich ist und damit auch im Interview nicht expliziert wird. Es ist für die Akteur*innen in einem Maße selbstverständlich, dass sie es nicht hinterfragen und damit auch nicht explizieren (müssen). Zur Beantwortung unserer Frage nach der Resilienz bei Paaren muss also genau dieses implizite Wissen der untersuchten Paare, das für ihre jeweilige Praxis des Zusammenlebens bestimmend ist, rekonstruiert werden. Den Zugang zu diesen konjunktiven Wissensbeständen erhält man dann, »wenn wir uns (auf dem Weg von Erzäh40
Die Dokumentarische Methode als Handwerkszeug für Therapeut*innen
lungen und Beschreibungen oder auch der direkten Beobachtung) mit der Handlungspraxis vertraut gemacht haben« (Bohnsack 2007, S. 14). Methodisch schlägt sich die Unterscheidung dieser zwei Wissensarten auch in der Vorgehensweise bei der Auswertung des Interviewmaterials nieder. Es gibt – worauf schon mehrfach hingewiesen wurde – zwei klar voneinander getrennte Arbeitsschritte: die formulierende Interpretation, die nach dem Was des Geschehens fragt, und die reflektierende Interpretation, die nach dem Wie des Geschehens fragt. Da diese Unterscheidung der »zentrale Gegenstand der dokumentarischen Interpretation« (Bohnsack 2007, S. 14) ist, wird diese im nächsten Abschnitt genauer beschrieben. Vertiefender Kommentar
Der Wechsel der Analyseeinstellung vom Was zum Wie als ein Wechsel der Beobachtung von einer Beobachtung ersten Grades zu einer Beobachtung zweiten Grades steht in der Tradition von Wissenssoziologie, Ethnomethodologie, des Konstruktivismus, der Kultursoziologie nach Bourdieu und der Luhmann’schen Systemtheorie und unterscheidet sich von den Konstruktionen zweiten Grades im Sinne von Alfred Schütz. In der Soziologie denkt man bei Wissenssoziologie in der Regel zuerst an Berger und Luckmann; ihr am meisten gelesenes soziologisches Buch in Deutschland hat den Untertitel »Eine Theorie der Wissenssoziologie«, obwohl diese im Wesentlichen auf der phänomenologischen Soziologie von Alfred Schütz basiert.
Bohnsack verknüpft in der Dokumentarischen Methode das Phänomen der Indexikalität mit dem Konzept der Rekonstruktion zweiten Grades (vgl. Bohnsack 2010). Er weist darauf hin, dass es sich immer um eine doppelte Indexikalität handelt. Diese begründet sich einerseits in einer Unsicherheit im kommunikativ-generalisierten Bereich, d. h. in der Vagheit oder Unkenntnis eines Begriffs, und andererseits auf einer Unkenntnis des Erfahrungshintergrunds, des konjunktiven Erfahrungsraums. Sprachliche Äußerungen sind Indexikalisches Wissen
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»lediglich Hinweise auf Bedeutungsgehalte […]. Sie stehen in einem Verweisungszusammenhang. Je weniger gemeinsame Erfahrungen mich mit meinem Gegenüber verbinden, je weniger kulturellen Hintergrund wir teilen, desto weniger bin ich in der Lage, Äußerungen – auf der Ebene von Konstruktionen ersten Grades – treffend zu interpretieren« (Przyborski u. Wohlrab-Sahr 2010, S. 29). Die doppelte Indexikalität des Begriffs »Ehe« besteht in seinem doppelten Verweisungscharakter, zum einen in dem Verweis auf die kommunikativ-generalisierende Ebene und zum anderen auf den konjunktiven Erfahrungsraum des Akteurs oder der Akteurin, der oder die diesen Begriff verwendet. So inkludieren z. B. erst die Generationen, die nach 1960 geboren sind – wenn überhaupt – in die Vorstellung von Ehe auch homosexuelle Paare; der Begriff der »Hausfrauenehe« bleibt heutigen Generationen eher verschlossen. Es geht also nicht um das gemeinsame Erleben derselben Handlungspraxis, sondern um ein strukturidentisches Erleben einer strukturidentischen Handlungspraxis, also um einen strukturidentischen Kontext. Die doppelte Indexikalität des Begriffs »Wassersuppe« zeigt sich also zum einen in seinem direkten Zugang zu Wissen bezüglich »Wasser« und »Suppe« und zum anderen in seinem Bedeutungszusammenhang in einer Zeit, für eine spezifische Generation bzw. ein spezifisches Milieu.
3.3 Und sie wussten nicht, was sie taten: Orientierungsschema und Orientierungsrahmen Diese Überschrift beschreibt sicher häufig den Zustand unserer Klient*innen; deshalb und damit es ihnen besser geht und sie verstehen lernen, wie sie es besser machen können, kommen sie zu uns Therapeut*innen. Um diesen Zustand unserer Klient*innen nicht als Einladung zum »Besserwissen« zu verstehen, soll hier gezeigt werden, wie wir mit den Klient*innen gemeinsam verstehen können, was und wie sie es tun. Orientierungsrahmen und Orientierungsschema beziehen sich auf zwei voneinander zu unterscheidenden Wissenssorten: Ein explizites Wissen, das auf Erwartungen und Absichten beruht, wird 42
Die Dokumentarische Methode als Handwerkszeug für Therapeut*innen
in der Dokumentarischen Methode als Orientierungsschema oder auch kommunikatives Wissen bezeichnet. Demgegenüber bezeichnet Orientierungsrahmen oder auch konjunktives Wissen (synonym auch Habitus) ein implizites Wissen, das in körperlichen und sprachlichen Äußerungen zum Ausdruck kommt, ohne dass wir zu diesem Wissen direkten Zugang haben. »Resilience is something underneath« (Murphy 1974, S. 50) und gehört damit zu einem großen Teil zum »Orientierungsrahmen« und ist weder den Paaren noch den Therapeut*innen auf ausschließlich kommunikativem Wege zugänglich. Der Weg des Erkenntnisgewinns über die Rekonstruktion der alltäglichen Praxis ermöglicht es uns als forschende Therapeut*innen, den Zusammenhang und das Zusammenspiel von sozial geformten Mustern und individuellen Handlungen besser zu begreifen. Durch die Rekonstruktion von Textpassagen bekommt man Einblicke, wie Menschen aus einer spezifischen Schicht und einer Generation agieren; d. h. Einblicke in einen konjunktiven Erfahrungsraum in denen für sie relevanten Kontexten – um es mit dem bisher schon angewendeten Vokabular der Dokumentarischen Methode zu sagen. Einfacher gesagt: was sie tun, wie sie es tun und warum sie es tun. In der Rekonstruktion von Paargesprächen gilt es, die schon beschriebenen zwei Wissensarten, explizites bzw. implizites Wissen, voneinander zu unterscheiden. In den Passagen, in denen die Paare argumentieren und sich im Zuge der Konstruktion von Weil-Motiven und Um-zu-Motiven ihr Handeln erklären, bekommen wir Zugang zu ihrem theoretischen Wissen, d. h. dem Orientierungsschema. Beispiel: »Ich habe das gemacht, weil es dir so wichtig ist, dass ich abends Zeit für dich habe«; »Wir haben beide sehr viel gearbeitet, um schöne Reisen machen zu können«. Das Wissen, das die Paare hier zeigen, formiert sich um Normen und Erwartungen, z. B. bezüglich des Rollenhandelns in der Partnerbeziehung. Das Aufspüren des impliziten Wissens ist schwieriger und aufwendiger. Es lässt sich als Orientierungsrahmen oder synonym als Habitus in den Erzählungen der Paare rekonstruieren. In diesem Sinne versteht sich die Dokumentarische Methode als eine prozessorientierte Rekonstruktion des Alltagswissens: Was und wie erzählt wird, ist von Interesse. Entlang der Äußerungen Orientierungsschema und Orientierungsrahmen
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über die eigene Alltagspraxis werden zugrunde liegende Orientierungen entschlüsselt und erhöhen somit das Fremdverstehen von Therapeut*innen. Zugang zu diesem impliziten Wissen bekommen wir durch die Suche (im transkribierten Text oder im Gespräch) nach einander sich begrenzenden positiven bzw. negativen Lebensstil-Entwürfen. In der Dokumentarischen Methode wird das als (positiver) Horizont beziehungsweise (negativer) Gegenhorizont bezeichnet. Ein Beispiel: Im gemeinsamen Paargespräch spricht Herr Meyer davon, dass sie als Paar, nicht wie viele andere in der Öffentlichkeit Zärtlichkeiten austauschten, sich wie »Turteltäubchen« benähmen, das würden sie nur zu Hause tun. Beide sprechen davon, dass Zärtlichkeit zu kurz kommt, das wäre auch ein Thema für die Beratung. Im Gegenhorizont grenzt sich Herr Meyer in mehr oder weniger expliziter Form von Positionen, Handlungen und Haltungen anderer ab. Der erstrebte Horizont ist ein intimer Raum, in den sie sich zurückziehen. Die Chancen, diesen positiven Horizont auch zu verwirklichen, nennt man Enaktierungspotenzial. Positive und negative Horizonte zusammen mit dem Enaktierungspotenzial (sowohl im Denken als auch im Handeln) umspannen das Gebiet der Orientierungen. Gegenhorizonte und Enaktierungspotenzial gemeinsam lassen Rückschlüsse darauf zu, woran sich die Sprechenden in ihrem alltäglichen Handeln orientieren. Die prozessorientierte Rekonstruktion ermöglicht Einblicke darin, wie die Klient*innen ihre soziale Wirklichkeit herstellen. Sie eröffnet damit, vermittelt über das Alltagswissen, auch Zugänge zu relevanten Kontexten, die die Klient*innen beeinflussen und strukturieren. Dabei stehen nicht einzelne Erlebnisse oder Ereignisse im Vordergrund, sondern die Erzählungen der Klient*innen liefern den roten Faden der implizierten Muster ihrer Orientierungen. Für das Verstehen und für die Erklärung von Resilienz ist gerade das Spannungsverhältnis von Orientierungsschema und Habitus von großer Bedeutung, durch welches sich der Orientierungsrahmen konstituiert. Dies wird später ausführlich an Beispielen veranschaulicht. Der Umgang mit Normen und Werten lässt sich im Material dort rekonstruieren, wo sich die Akteur*innen innerhalb der Erzählun44
Die Dokumentarische Methode als Handwerkszeug für Therapeut*innen
gen und Beschreibungen ihrer eigenen Handlungspraxis in Auseinandersetzung mit den an sie gestellten Erwartungen und Normen befinden. Vertiefender Kommentar
In der Weiterentwicklung der Dokumentarischen Methode wurden von Bohnsack den beiden unterschiedlichen Wissensbeständen unterschiedliche handlungsleitende Orientierungen zugeordnet: dem kommunikativen Wissen das Orientierungsschema und dem konjunktiven Wissen der Orientierungsrahmen. In dieser Zuordnung bezieht sich Bohnsack auf die Handlungstheorie von Alfred Schütz. In seiner Handlungstheorie unterscheidet Alfred Schütz zwei unterschiedliche Motivkategorien des menschlichen Handelns: das Um-zu-Motiv des Handelns, welches sich an einem zukünftigen Ereignis orientiert, und das Weil-Motiv, das die Motivlage aus der Vergangenheit heraus beschreibt (vgl. Schütz 1974). Um dies zu veranschaulichen: Man studiert Jura, um Richter*in zu werden. Im Unterschied zu: Man studiert Jura, weil Ungerechtigkeit einen schon immer wütend gemacht hat. Unter Bezugnahme auf diese Unterscheidung von Motiven und im Zusammenhang mit der schon beschriebenen Unterscheidung von kommunikativ- generalisierter Kommunikation und konjunktiver Kommunikation nach Karl Mannheim gelingt es Ralf Bohnsack, die Differenz von explizitem Wissen (also dem Wissen, das uns von den befragten Paaren als Theorie über ihr eigenes Handeln beschrieben wird) zum atheoretischen oder auch inkorporierten Wissen (das uns erst durch Rekonstruktion zugänglich wird) deutlicher zu veranschaulichen. Bohnsack ordnet dem expliziten, d. h. kommunikativ generalisierten Wissen die Handlungsentwürfe zu, die an die Konstruktion von Um-zu-Motiven gebunden und als reflexiver oder theoretisierender Wissensbestand direkt zugänglich sind, und bezeichnet dies als Orientierungsschema. Davon unterscheidet er das implizite Wissen, welches an die konjunktiven Erfahrungsräume der Akteur*innen gebunden ist, d. h. inkorporiertes Wissen bzw. habitualisiertes Wissen. »Der Habitus dokumentiert sich in konturierter Weise unter anderem im Wie dieser Auseinandersetzung mit der Norm. Somit Orientierungsschema und Orientierungsrahmen
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werden erst in den auf die Rekonstruktion der performativen Struktur des Habitus, des Orientierungsrahmens gerichteten Interpretationen zugleich auch die Regeln und Normen und insgesamt die Orientierungsschemata empirisch in valider Weise rekonstruierbar« (Bohnsack 2013, S. 7). Auch wenn dies sehr abstrakt klingt; diese gedankliche und methodische Unterscheidung und Schärfung ist notwendig. Wie notwendig und sinnvoll dies ist, wird anhand der Beispiele von Rekonstruktionen resilienter Handlungspraxis von Paaren nach der Lektüre des nächsten Kapitels deutlicher.
3.4 Wie Paare sich beim gemeinsamen Erzählen aufeinander beziehen: Diskursanalyse Die gemeinsame Interviewsituation von Paaren bietet den Therapeut*innen die Möglichkeit zu beobachten, wie ein Abschnitt der gemeinsam verbrachten Zeit von einem der Partner herausgegriffen und erzählerisch ausgeschmückt wird und in welcher Form sich der andere Partner darauf dann kommunikativ bezieht: Lässt er die Erzählung ohne Eigenkommentierung zu, wiegelt er ab, greift er ergänzend, korrigierend oder gar mit einem Widerspruch ein? Die Ebene der Performanz (die gemeinsame Gestaltung der Erzählung im Hier und Jetzt) tritt gegenüber der Ebene der Inhalte des Gesprächs deutlich in den Vordergrund: »Indem damit die Ebene der Performanz sehr deutlich zutage tritt, bekommt man mit dem Familien- oder Paarinterview in gewisser Hinsicht validere Daten als in einem Einzelinterview« (Przyborski u. Wohlrab-Sahr 2010, S. 122). Dadurch wird neben den inhaltlichen Aussagen und Passagen die Organisation des Diskurses selbst zu einer weiteren Datenquelle. Gerade in schwierigen Paarsituationen ist die Tendenz von Paaren, sich argumentativ zu bekämpfen und mit ihrer Sicht recht zu haben, sehr groß. Die Einladung und Ermunterung der Therapeut*in, in einen Fluss des Erzählens zu kommen, ist eine Intervention, die die Paardynamik verändert. Wenn die Intervention gelingt, fin46
Die Dokumentarische Methode als Handwerkszeug für Therapeut*innen
det ein Wechsel vom rechthaberischen Schlagabtausch zu einem gemeinsamen Erinnern statt. Das zweite Augenmerk richtet sich darauf, wie die Paare wechselseitig aufeinander eingehen und auf diese Weise eine »Diskursorganisation« (ursprünglich Bohnsack 1989) entfalten: Wie und mit welchem Redebeitrag beziehen sich die Paare aufeinander? Dieser Aspekt ist bei der Interpretation von Paargesprächen besonders wichtig. In Einzelinterviews findet ein kommunikativer Bezug ja nur zwischen dem Interviewer oder der Interviewerin und dem oder der Interviewten statt. Bei einem Paargespräch hingegen, das vonseiten des Therapeuten bewusst ausschließlich durch erzählgenerierende Impulse initiiert und daraufhin durch das befragte Paar eigenständig entwickelt und geführt wird, ist genau die Kommunikation, die implizit oder explizit zwischen den Partnern stattfindet, eine wichtige Quelle der Erkenntnis – und stellt damit ja auch den Mehrwert eines Paargesprächs im Unterschied zu einem Einzelinterview dar. Vertiefender Kommentar
Luhmann betrachtet die Kommunikation sozialer Systeme als ein geschlossenes, autopoietisches System und macht dabei die Unterscheidung von Mitteilung, Information und Verstehen. Für ihn wird Information durch die Selektion eines Beobachters konstituiert, der aus einer Fülle von Möglichkeiten eine Differenz zwischen »informativ« und »nicht informativ« trifft. »Am Anfang steht also nicht Identität, sondern Differenz. Nur das macht es möglich, Zufällen Informationswert zu geben und damit Ordnung aufzubauen; denn Information ist nichts anders als ein Ereignis, das eine Verknüpfung von Differenzen bewirkt – a difference that makes a difference« (Luhmann 1984, S. 11). Kommunikation kommt nur dann zustande, wenn alle drei Selektionsentscheidungen vom Sender und vom Empfänger getroffen werden. Kommunizierte Inhalte hängen nicht mehr allein von der Bedeutungsgebung eines Senders ab, sondern ebenso von den Interpretationsleistungen eines Empfängers. Dabei muss das, was mitgeteilt wird, nicht im gleichen Sinne verstanden werden, es muss lediglich eine Anschlusskommunikation daraus entstehen. Diskursanalyse
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»Da autonome und von internen Strukturen gesteuerte Beobachter zusammentreffen, kann nicht einseitig festgelegt werden, wie das eigene Verhalten bzw. die Kommunikation von anderen verstanden wird, also welcher Sinn dem fremden Verhalten zugeschrieben wird« (Simon 2007, S. 21). Damit nimmt Simon Bezug auf von Foerster: »Alles Gesagte wird von einem Beobachter gesagt« und »Alles Gesagte wird zu einem Beobachter gesagt« (von Foerster 1993, S. 84 f.). Bei der Rekonstruktion von Paargesprächen und Interviews wird durch die reflektierende Interpretation der Habitus (der Orientierungsrahmen im engeren Sinne) der Akteure analysiert.
3.5 Die Rekonstruktion der transkribierten Erzählung durch den Therapeuten/die Therapeutin Zum einen wird die sogenannte Textsorte untersucht, die für die Darstellung der Erfahrungen gewählt wurde, dabei geht es um die Unterscheidung von Erzählung oder Argumentation. Diese Unterscheidung ist insofern bedeutsam, als beim Erzählen der Sprecher oder die Sprecherin seinen/ihren unmittelbaren Erfahrungen näher ist als bei einer Argumentation, die eher in einer öffentlichen Situation und im Sinne einer reflektierten und damit theoretischen Rechtfertigung vor uns selbst gewählt wird (vgl. Przyborski u. Wohlrab-Sahr 2010, S. 290 ff.). Um einen von den Paaren geteilten bzw. nicht geteilten Orientierungsrahmen festzustellen, wird in der reflektierenden Interpretation ein »Dreischritt« der Interaktion betrachtet (Przyborski 2004): ȤȤ die Proposition: das Aufbringen des Themas, ȤȤ die Elaboration: die Ausarbeitung und Fortführung des Themas und ȤȤ die Konklusion: den Abschluss des Themas. Durch diesen Dreischritt der Interaktion entfalten sich unterschiedliche Modi der Diskursorganisation. Przyborski und Wohlrab-Sahr verweisen darauf, dass man von einem geteilten Orientierungs48
Die Dokumentarische Methode als Handwerkszeug für Therapeut*innen
rahmen nur dann sprechen kann, wenn es auf diese drei Schritte der Interaktion eine jeweils »adäquate Reaktion« gibt (2010, S. 291). Über diese forschungsimmanente Bedeutung hinaus deutet sich ein Praxisbezug für therapeutisches Arbeiten an. In therapeutischen Paargesprächen findet üblicherweise eine derartige präzise Beobachtung der kommunikativen Bezugnahme, eine Analyse der Diskursmodi nicht statt. In der Rekonstruktion des Gesprächsmaterials in hier beschriebener exakter Weise bewegt sich das Aufspüren von resilienzrelevanten Übereinstimmungen bei Paaren zwischen der Form und den Inhalten (sogenannte Homologien: dem Was der Erzählung und Beschreibung und dem Wie der Diskursorganisation) und gewinnt daraus seine therapeutische Relevanz. Nach Przyborski (2004) lassen sich fünf unterschiedliche Diskursmodi voneinander unterscheiden: Zuallererst werden die Diskursmodi in inkludierende und exkludierende Modi unterschieden, je nachdem, ob es sich um einen geteilten (inkludierend) oder nicht geteilten (exkludierend) Habitus der Interviewteilnehmer*innen handelt. Im inkludierenden Diskursmodus lassen sich des Weiteren drei, im exkludierenden zwei Unterarten voneinander unterscheiden. Die inkludierenden Modi werden unterschieden in parallele, antithetische und univoke Diskursorganisation; die exkludierenden Modi werden unterschieden in divergente und oppositionelle Diskursorganisation. Aufgrund der zentralen Bedeutung dieses Analyseschritts und Analyseverfahrens werde ich im Folgenden die Rekonstruktion der unterschiedlichen Diskursmodi anhand ausgewählter Beispiele ausführlich darstellen. Inkludierender Modus: Parallele Diskursorganisation Der »prototypische Modus« (Przyborski 2004, S. 97) der Kommunikation ist die »parallele Diskursorganisation«. In vielen Passagen zeigen sich die gleichen Themen immer wieder in der Art, sowohl in der Proposition der Sprechenden, also im Themenimpuls, als auch in der Validierung, der sogenannten Bestätigung des Themenimpulses. Weiterhin finden sie sich in der Elaboration, der Weiterführung des Themas in neuen Variationen bzw. von neuen Erzählungen oder Erklärungstheorien, in der der gleiche Orientierungsgehalt homoDie Rekonstruktion der transkribierten Erzählung
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log aufscheint. Im folgenden Beispiel geht es um mehrere Parallelerzählungen zum Thema »Tischgespräche von Familien«.
Die Parallelität lässt sich innerhalb der Erzählung anhand der Proposition des Themas von Johan zeigen: Tischgespräch beim Mittagessen, und der Validierung: »er kam zum Mittagessen« (Z. 209). Die unterschiedlichen Erfahrungen des Paares zum Thema Interesse aneinander, werden innerhalb eines gemeinsamen Rahmens ausgedrückt. Nun folgt eine weitere Erzählung von Johan über seine Arbeit mit dem homologen Orientierungsmuster: die Problematik des »Interesses aneinander«. Hier dokumentiert sich erneut, dass es aus Johans Sicht um seine Probleme gehen sollte, und nicht um diejenigen ihrer Kinder. Auch hier validiert Anne Johans Proposition, über alternative Möglichkeiten mit »piepsenden« Kindern umzugehen, indem sie das »Piepsen« steigert: »der piepst nicht nur, der schreit« (Z. 225). 50
Die Dokumentarische Methode als Handwerkszeug für Therapeut*innen
Die parallele Diskursstruktur zeigt sich an folgenden Merkmalen: ȤȤ Anne proponiert das »weite Feld« (Z. 199) der Erziehung als ihr Gebiet, in dem sie Probleme miteinander hatten. Sie schildert es aus seiner Perspektive. Orientierung: (fehlendes) Interesse aneinander. ȤȤ Johan will den Versuch unternehmen, die Proposition mit anderen Worten zu umschreiben (1. parallele Struktur). Er schildert in einer vorgelagerten Situation Annes Situation. 2. parallele Orientierung: (vorhandenes) Interesse aneinander. ȤȤ Validierung in Form einer Reformulierung (»er kam zum Mittagessen«; Z. 209). Orientierung: Gemeinsamkeit. Validierung der Reformulierung (»da war ich immer da«; Z. 210/211). Orientierung: Gemeinsamkeit. Inkludierender Modus: Antithetische Diskursorganisation In der antithetischen Diskursorganisation kommen ebenfalls ge meinsame, homologe Orientierungen zum Ausdruck, aber im Unterschied zur parallelen Diskursorganisation zeigen sich diese auf eine sich widerstreitende und verneinende Art und Weise, sodass sich das Gemeinsame der Orientierung oft erst am Ende vieler Passagen in einer Synthese der Positionen »als einander ergänzende Komponenten einer Orientierung, eines Habitus erschließt« (Przyborski 2004, S. 168). Im folgenden Textausschnitt beschreibt das Paar seine verschiedenen Konfliktfelder:
Die Rekonstruktion der transkribierten Erzählung
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Theas Orientierung geht dahin, dass es eine Unterscheidungslinie von »meine Freunde« und »deine Freunde« gibt. Diese Linie zieht eine Grenze und bestimmt die Intensität von Kommunikation. Wenn diese Linie nicht eingehalten wird, kommt es aus ihrer Sicht zu Störungen. Theas Orientierung bezieht sich auf Einhaltung einer Beziehungsordnung. Indem Bruno das Ordnungsprinzip in der Kommunikation mit Freund*innenn bricht, verletzt er ein implizites Regulationsprinzip, das die Nähe und Distanz in den Außenbeziehungen des Paares regelt. Damit erscheint auf den ersten Blick eine Rahmeninkongruenz vorzuliegen. Bruno und Thea sind sich darin einig, dass der be schriebene Vorfall weder eine Krise noch ein Konflikt ist, und beziehen sich damit auf die Erwartungen der Interviewerin, die in der Eingangspassage von Konflikten und Krisen gesprochen hat. 52
Die Dokumentarische Methode als Handwerkszeug für Therapeut*innen
Interessant und typisch für den antithetischen Diskursmodus ist, dass sowohl Bruno als auch Thea in einem verneinenden Modus verbleiben, auch wenn sie sich einig sind (Bruno: »aber des ist doch kein Konflikt«. Thea: »Nein das ist keine Krise«, Z. 77; 78). In dieser Passage wird deutlich, dass beide keine Auseinandersetzung führen über das grundsätzliche Ordnungsprinzip »deine Freunde – meine Freunde«, ihre Auseinandersetzung findet in der Auslegung der Regel in der Praxis statt. Ein weiterer Aspekt ihrer Auseinandersetzung liegt auf der Ebene von subjektiver versus objektiver Wahrnehmung. Dieser antithetische Diskurs wird noch sehr lange fortgeführt, auch über die Frage nach der Lösung. Erst an einer sehr viel späteren Stelle im Interview bringen sie diesen Diskurs durch die gemeinsame Entscheidung, etwas anderes zu tun, als weiter zu reden, zu einem Ende: Thea: “un dann ham wa sagt jetzt tun wa nich wieder (2) Tage (2) darüber streiten sondern (1) ehm versuchen ,einfach auch was vom @Sonntag zu haben@, und dann (unverständlich) Sonntag (5) am Sonntagmorgen“ Bruno: „Ja“; Thea: „(unverständlich) am Sonntagmorgen“ Bruno: „ich vergess sowas“ (Z.150-156)
In ihrem gemeinsamen Entschluss zeigt sich eine Orientierung an etwas Gemeinsamem, das über die Auseinandersetzung hinausgeht, dass sie wieder versöhnt. Erst ab dieser Stelle wird deutlich, dass es sich um einen antithetischen Diskurs mit einer Rahmenkongruenz handelt und nicht um einen oppositionellen Diskurs (siehe übernächste Beschreibung, S. 56) mit einer Rahmeninkongruenz. Die antithetische Diskursstruktur zeigt sich an folgenden Merkmalen: Die Kommunikation findet vorwiegend in einem negativen Modus statt: Bruno »aber des ist doch kein Konflikt« (Z. 77); Thea: »Nein das ist keine Krise« (Z. 78). Über ihre Aussage, dass es sich nicht um einen Konflikt oder eine Krise handelt, sind sie sich zwar einig, doch soll die Einigkeit (noch) nicht offenkundig werden. Zuerst widerspricht Bruno Thea: »des ist doch kein Konflikt«. Worauf wiederum sie ihm widerspricht, indem sie ihren Anschlusssatz mit »Nein« beginnt, das »kein« zwar bestätigt, »Konflikt« aber mit »Krise« bezeichnet. Die gemeinsame Orientierung wird hier im Gegeneinander entfaltet. Die Rekonstruktion der transkribierten Erzählung
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Inkludierende Modi: Univoke Diskursorganisation Die geteilten Orientierungen, die sich in der parallelen und der antithetischen Diskursorganisation in ihrer Strukturidentität, also ihrer Homologie, zeigen, gipfeln in der univoken Diskursorganisation in einer geteilten Erfahrung, die oft gleichzeitig oder zeitlich nur kurz versetzt zur Sprache kommt. Das Paar Bernd und Heinz spricht fast wie mit einer Stimme. In dem kurzen Beispiel wird darüber gesprochen, wie sich die Partner nach einer Auseinandersetzung wieder annähern.
Die Merkmale des univoken Diskursmodus, die in diesem Beispiel deutlich werden, sind: ȤȤ Der Weiterführung der Erzählung durch die andere Person mit der Wiederholung des letztgenannten Wortes (»bestehen«, Z. 33 u. 34). Die Person des Erzählers erscheint beliebig; da die Erzählung von beiden quasi identisch erlebt worden ist, entfällt eine individuelle Konnotation. ȤȤ Der Weiterführung der Erzählung durch den Anderen mit Antizipation der Wortwahl (»was dann langsam wieder ins-in den Fluss kommt«, Z. 38 u. 39). ȤȤ Leichte Korrektur des Gesagten im fast identischen Wortlaut (»hatten wir schon mal – hatten wir einmal«, Z. 43 u. 44). Exkludierende Modi: Divergente Diskursorganisation Der divergente Diskursmodus oder auch die verdeckte Rahmeninkongruenz (Bohnsack 2010, Kap. 12.2) ist durch eine vermeintliche sachli54
Die Dokumentarische Methode als Handwerkszeug für Therapeut*innen
che Übereinstimmung gekennzeichnet. Durch Kommunikationsmarker wie »ja, aber« wird lediglich eine leichte inhaltliche Abweichung suggeriert. Bei näherem Hinschauen wird allerdings deutlich, dass die angedeutete Übereinstimmung nur auf einer formal-sprachlichen Ebene besteht und nicht auf einem gemeinsamen Habitus. Im folgenden Beispiel wird deutlich, wie über die unterschiedliche Bedeutung, die die Krise für die Partner hatte, gesprochen wird.
Nina und Robert haben zwei völlig verschiedene Orientierungsrahmen: Nina bezieht sich auf das System Ehe und ihre Zweisamkeit, während Robert sich auf das Gesamtsystem der Familie bezieht. Die Gesprächsmarker »Ja, gut aber« (Z. 332) ergeben nur oberflächlich eine Anknüpfung an den anderen. Gerade für die Fragestellung von Resilienz bei Paaren sind Paargespräche, in denen keine geteilten Orientierungen vorliegen, von besonderer Relevanz, da hier die Irritation in der Beziehung besonders offenkundig wird. Die Rekonstruktion der transkribierten Erzählung
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Paargespräche, in denen sich ein divergenter Diskursmodus rekonstruieren lässt, sind – so die Erfahrungen der Interviewerin – nicht in der gleichen Häufigkeit anzutreffen wie Gespräche mit paral lelem oder univokem Diskursmodus. Exkludierende Modi: Oppositionelle Diskursorganisation Anders als in der antithetischen Diskursorganisation, in der häufig erst nach langen Passagen des Widerstreits in einer Synthese deutlich wird, dass es sich um einen geteilten Orientierungsrahmen handelt und die Passagen des Widerspruchs als unterschiedliche Aspekte einer letztlich gemeinsamen Orientierung verhandelt werden, findet in der oppositionellen Diskursorganisation keine Einigung statt, die auf eine geteilte Erfahrung schließen ließe. Im Rahmen meiner Untersuchung gab es kein Paarinterview mit einem oppositionellen Diskursmodus – aus diesem Grund ist logischerweise kein Analysebeispiel vorhanden.
3.6 Zusammenfassung: Rekonstruktives Vorgehen als Erweiterung des systemischen Arbeitens mit Paaren Für die Frage der Erforschung von Resilienz bei Paaren lassen sich aufgrund der systemischen und sozialrekonstruktiven Überlegungen handlungs- und erkenntnisleitende Prämissen beschreiben: ȤȤ Das Paarsystem ist ein autopoietisches System, das sich selbst ständig neu erschafft. Für den therapeutischen Prozess bedeutet dies eine konsequente Perspektive aus Sicht der handelnden Personen. Diesen Anspruch erfüllt die qualitative Sozialforschung, da sie Lebenswelten »von innen heraus« (Flick 2007) und mit »Offenheit für das Neue im Untersuchten« über die Rekonstruktion der Deutungsmuster der Akteur*innen selbst erschließt. ȤȤ Kommunikation lässt sich immer nur im Kontext einer Anschlusskommunikation beobachten. Für eine Therapie mit Paaren bedeutet dies, dass es nicht sinnvoll ist, Paare wie üblich in Form eines strukturierten oder halbstrukturierten Interviews zu befragen – denn dadurch ließe sich nur die Anschlusskommunikation mit der/dem Interviewer*in beobachten. Deshalb ist die 56
Die Dokumentarische Methode als Handwerkszeug für Therapeut*innen
Grundvoraussetzung für eine erkenntnisleitende Gesprächsführung, Paare mittels Gesprächsimpulsen zu einem selbstläufigen Erzählen anzuregen. Die Erforschung sozialer und psychischer Phänomene innerhalb von Therapiesitzungen, zu denen auch Resilienz zählt, unterscheidet sich von einem eher naturwissenschaftlichen Zugang dadurch, dass die Phänomene nur durch Beobachtungsprozesse der Akteur*Innen selbst erschlossen werden können. Die Beobachtung dieser Beobachtungen durch die Therapeut*innen sind damit Beobachtungen zweiten Grades.
Zusammenfassung
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Schritt für Schritt: Rekonstruktion anhand eines ausführlichen Beispiels
Dieses Kapitel wendet das oben beschriebene Handwerkszeug an, im Folgenden wird beispielhaft Schritt für Schritt durch den Interpretationsprozess geführt. Zuerst habe ich Ausschnitte aus dem Interview eines Paares in Krisenzeit ausgewählt, anhand derer Zeile für Zeile die Interpretation nachverfolgt werden kann. Im zweiten Teil der Paargeschichte wird das Interviewmaterial aus der Zeit nach der Krise (ohne Interpretationsschritte) zitiert, um aus dem Unterschied zwischen Zeit der Krise und Zeit nach der Krise das Resilienzmuster des Paares nachvollziehend verstehen zu können. Ehepaar Meyer (Anne und Johan) Das Ehepaar Meyer ist seit 52 Jahren verheiratet. Anne Meyer ist 80 Jahre alt, von Beruf Buchhändlerin. Johan Meyer ist 82 Jahre alt und war Architekt. Sie wohnen in einer kleinen Stadt in Süddeutschland, haben vier Töchter und vier Enkelkinder. In den vorherigen Abschnitten ging es um die jeweiligen Interessen des Ehepaares. Frau Meyer ist sehr naturverbunden, Herr Meyer politisch sehr engagiert in der Friedensbewegung. (Y = Interviewerin)
179
Y:
180 181 182 183 184 185 186 187 58
A:
188 189 190
B:
Und würden sie sagen, da lernt ihr Mann, wird angeregt durch sie?
Ja. ja. das würde ich sagen. Also wenn hier im Garten Vögel sind oder so, das interessiert ihn jetzt viel vielmehr als früher, meinetwegen, wann die brüten, wo die brüten, und wenn die Katz kommt, dann scheucht er sie weg oder solche Dinge, doch. Ja, und dann denke ich Kinder, das war natürlich immer ein weites Feld und da haben wir, sagt er jedenfalls Probleme immer gehabt, aber ich hatte sie weniger, H. sagt, wenn unsere Kinder nach Hause kamen und piep gesagt haben und von der Schule erzählt haben, dann war er, dann fühlte er oder hatte er das Gefühl, die hört ja doch nur bei den Kindern zu, so denke ich, dass du das gedacht hast. Schritt für Schritt Ich habs noch anners, ich habs noch deutlicher gesagt, also ich war ja, sie hat ja, eh solange wir keine Kinder hatten durchaus Interesse gehabt an dem was ich gemacht hab, des ist ja nicht so, dass jeder gesagt hat, ich hab da meine eigene Welt und später
179
Y:
Und würden sie sagen, da lernt ihr Mann, wird angeregt durch sie?
180 181 182 183 184 185 186 187
A:
Ja. ja. das würde ich sagen. Also wenn hier im Garten Vögel sind oder so, das interessiert ihn jetzt viel vielmehr als früher, meinetwegen, wann die brüten, wo die brüten, und wenn die Katz kommt, dann scheucht er sie weg oder solche Dinge, doch. Ja, und dann denke ich Kinder, das war natürlich immer ein weites Feld und da haben wir, sagt er jedenfalls Probleme immer gehabt, aber ich hatte sie weniger, H. sagt, wenn unsere Kinder nach Hause kamen und piep gesagt haben und von der Schule erzählt haben, dann war er, dann fühlte er oder hatte er das Gefühl, die hört ja doch nur bei den Kindern zu, so denke ich, dass du das gedacht hast.
188 189 190 191 192 193 194 195 196
B:
Ich habs noch anners, ich habs noch deutlicher gesagt, also ich war ja, sie hat ja, eh solange wir keine Kinder hatten durchaus Interesse gehabt an dem was ich gemacht hab, des ist ja nicht so, dass jeder gesagt hat, ich hab da meine eigene Welt und später als die Kinder da waren, da, ehm, wenn wir hier am Tisch saßen und ich irgendetwas am Mittagessen gesagt hab, was er kam zum Mittagessen da war ich immer da, und es piepste nur eine, dann war ich abgemeldet, und es piepste immer eine von den vieren, so dass also dann, es gab Jahre, wo ich sage ich mal, wo ich über meine
197
A:
198 199 200
B:
A: B:
201 202 203 204 205 206
└ Ach des stimmt auch nicht so, so hast dus empfunden einfach dieses , ehm, dieser Austausch, eh der fand nicht statt, und das Büro war ja gerade nicht eh Zuckerschlecken, weil ich immer Minderwertigkeitskomplexe gegenüber meinem Boss W. hatte, der ja immer so, erstens der Bürogründer und zweitens der vielfach Begabte und Schnelle und ich der Langsame und und so war, und des war alles nicht so ganz einfach, da bin ich ja froh, dass ich das gesund überstanden habe, des ist schon so, sagen amal, und ich erlebe das bei M. und K. jetzt genauso, wenn R. piepst, das ist anders bei R. und C., wenn ich mit R. rede und S. oder T. etwas, dann sagt die R., Moment, im Moment rede ich mit dem H. Funktioniert wunderbar. Des ist bei, in B. genauso, ich kann mit K. was reden, der R. piepst dazwischen └ der piepst nicht nur, der schreit
207
A:
208 209 210 211 212 213 214 215
B:
der schreit dann und dann und nur wenige bringen es fertig, daß sie dann das erledigen und dann fragen, wir haben doch vorhin //mmh//: mitunter ist das Themaabgehakt durch den Zwischenruf, eh, das ist nicht gut. Die F., wie die das machen, das ist toll, und das funktioniert, die akzeptieren das, die kommen ja dran, die R. vergisst auch nicht, dass die S. und T. was wollten, die A. kann das ja sagen, dss das nicht so war, aber ich hab das ja, für mich wars so. Ob man das jetzt einen Konflikt nennt oder etwas, was, ich meine, was ich sagen wollte, was was mich beeinflusst, ist die, gut, das ist die Familieneigenschaft, die Familie P., ihre Familie sind keine Kämpfer
216
A:
°mmh°
217 218 219 220
B:
da ist die Überschrift , Versöhnlichkeit ist die Wichtigste, da hat se auch draußen einen Spruch hängen, da hat se, weil das auch das Lebensmotto meines Schwiegervaters war und des hat der also weitergegeben und des ist auch sagen wir mal die die die eh (5) eh hervorstechendste Eigenschaft, dass sie mit, gut, es gibt Leute, die mag sie nicht
221 222 223 224 225 226 227
A:
└ ((holt den Spruch))Versöhnlichkeit ist der beste Geist des Lebens, etwas von anderen ertragen lernen, sonst wird’s nicht besser auf Erden. Von Karl Förster. Sagt der Name was. Der hat gelebt von 1879 bis 1970. Diesen Förster hat mein Vater, der war Chemiker und hatte einen Garten, der war gärtnerisch, meine Mutter genauso, obwohl sie ein Stadtkind aus Berlin war, war wichtig und für mich ist das wichtig und das ist nicht dasselbe, glaube ich.
228
Y:
was ist für sie ein wichtiges Motto, wenn man das so fassen kann. (Blick zu B)
229
A:
Gerechtigkeit. Ich meine für mich ist auch Gerechtigkeit, aber
230 231 232 233
B:
Ich mein, eh, aber , was sie kann unter diesem Motto mit eh (7) eh vielen Leuten auskommen, ich will nicht sagen, dass ich nicht auskommen kann, aber auf Leute Rekonstruktion eines ausführlichen Beispiels zugehen, die quatscht ja auch jeden aufanhand der Straße an, wie heißen sie, wir haben uns doch schon mal gesehen, ich weiß bloß ihren Namen nicht oder so
234
A:
└ Des ja, des mach ich seit ich alt bin
59
226 227
Stadtkind aus Berlin war, war wichtig und für mich ist das wichtig und das ist nicht dasselbe, glaube ich.
228
Y:
was ist für sie ein wichtiges Motto, wenn man das so fassen kann. (Blick zu B)
229
A:
Gerechtigkeit. Ich meine für mich ist auch Gerechtigkeit, aber
230 231 232 233
B:
Ich mein, eh, aber , was sie kann unter diesem Motto mit eh (7) eh vielen Leuten auskommen, ich will nicht sagen, dass ich nicht auskommen kann, aber auf Leute zugehen, die quatscht ja auch jeden auf der Straße an, wie heißen sie, wir haben uns doch schon mal gesehen, ich weiß bloß ihren Namen nicht oder so
234
A:
235 236 237
B:
└ Des ja, des mach ich seit ich alt bin bei, eh, dieses, ja , die die die eh (8): Umgang mit anderen, es gibt niemand, der mit ihr ein Problem hat, sag ich mal und die verflossenen Freunde unserer Töchter, die kommen ja alle noch zu ihr └ No, manche
238
A:
239 240
B:
241
A:
242 243
B:
Und sie hat die „Puddings“ und wie sie alle heißen alle gekannt und die kommen heut noch und die denken gerne daran, wie nett sie zu ihnen war
244
A:
ich habe auch Briefe noch von den Freunden
manche, ich hab gesagt, ich merk mir die Namen doch gar nicht, das wechselt doch viel zu häufig und eh └ das bestreite ich, dass die
└ Siehste, siehste
245
B:
246 247
A:
248 249 250 251 252 253 254 255 256 257 258
B:
Ja, ja sag ja, des ist eine , des ist sicher eine hervorstechende Eigenschaft mit eh, ja ich will mal sagen, der dumme Spruch, nur keinen Streit vermeiden, aber bei ihr ist es umgekehrt, nur keinen, wirklich, Streit vermeiden und und sagen wir mal, das ist kein Konflikt, aber wo wir andere Auffassung haben so ein Fall bei meinem Freund E., der vor 12 Jahren eh gestorben ist und, wo ich das dreiviertel Jahr von Januar bis August 1999, 60 Tage in K. war und wo die, mit seiner Lebensgefährtin, die er zwei Jahre vorher (8): gewonnen hatte und die sich wirklich sehr geliebt haben und den ich bis zum Tode gepflegt habe und die Kinder, die vier Kinder, die ihn überhaupt nicht verstanden haben und so und wo dann mein Patensohn sagte, du dringst in unsere Privatsphäre ein und da war dann nach seinem Tod, da hab ich dann gesagt (klopft auf den Tisch): es hat keinen Sinn mehr //mmh//: und da hätte sie anders
259 260
A:
└ das kann ich auch heute nicht verstehen, dass du mit diesen Kindern keinen Kontakt mehr haben willst
261
B:
Ja, es gibt Dinge, die sind vorb-:
262
A:
Ja.
263 264 265 266
B:
Ja, da ist ein Unterschied, da mein ich eben, es gibt Dinge die einen, wo es das Fortsetzen eine des(9): ehm(5): ehm //unguten Zustands//: einen guten Zustand vorspiegeln, der in Wirklichkeit zerbrochen ist durch unterschiedliches Naturell oder durch oder eh
267 268
A:
Das ist doch ein gewisses, ein Punkt des Verzeihens, Verzeihen können, das ist es was ich, nicht nur die Versöhnlichkeit
269
B:
ich eh, da eh ich
270
A:
Ich weiß, da haben wir schon oft drüber gesprochen
271 272 273
B:
das ist son, ehm, mein des ist ehm, man kann, also, ich meine man kann nicht, man kann nicht alles um eh Versöhnung willen oder der um um zudecken und so tun als ob, als ob, es gibt
274
A:
275
B:
276
A:
277
B:
60
└ Abschiedsbriefe// mmh//: die hab ich dir glaub ich immer gezeigt
└ Nö; das muss man schon wollen
Schritt für Schritt
└ ich kann nicht, wenn └ dahinterstehen
ein Schnitt zu machen, sagen, des ist wenigstens, also ich halt des immer noch für noch
269
B:
ich eh, da eh ich
270
A:
Ich weiß, da haben wir schon oft drüber gesprochen
271 272 273
B:
das ist son, ehm, mein des ist ehm, man kann, also, ich meine man kann nicht, man kann nicht alles um eh Versöhnung willen oder der um um zudecken und so tun als ob, als ob, es gibt
274
A:
275
B:
276
A:
277 278 279
B:
280 281 282 283 284 285
└ Nö; das muss man schon wollen └ ich kann nicht, wenn └ dahinterstehen ein Schnitt zu machen, sagen, des ist wenigstens, also ich halt des immer noch für noch für richtig, es so gemacht zu haben, ob man das jetzt Verletzung nennt, die da erfahren habe oder, aber ich denke schon und des Unverständnis, ob die vielleicht heute, nach zehn Jahren sagen also des war doch ein des war doch eine wirkliche Freundin, also ich weiß nicht, also ich hab des, es kommt immer wieder, wenn man mal wieder darüber spricht über diesen Schnitt, denn der E. des war wirklich mein engster Freund ,an den denk ich mehr als an alle anderen vor mir gestorbenen so, aber ,ich jetzt auch letztes Jahr in K. in den Zeitungen eine Anzeige aufgegeben zu seinem Gedenken so und hab da von den Kindern auch keine Reaktion gekriegt und so
286
A:
ham se vielleicht nicht gelesen
287 288
B:
des ist auch ne Aussage, sie findet immer etwas, die ha=m nicht reagiert, weil sie nicht wollen, sondern, die ha=ms halt nicht gelesen, des is so=ne typische@(.)@
4.1 Formulierende Interpretation Sinn des Arbeitsschritts: In der formulierenden Interpretation wird der kommunikativ-generalisierte Sinngehalt sprachlich verständlich wiedergegeben. Oft ist es überraschend, wie strukturiert und klar ein anfänglich chaotisches Gesprächstranskript wirkt. Der Therapeutin oder dem Therapeuten dient dies als eine gute Möglichkeit, die eigene Standortgebundenheit zu kontrollieren. Da in der Zusammenfassung des Inhalts die Redebeiträge nicht den einzelnen Sprecher*innen zugeordnet werden, wird der Blick schon hier auf die kollektive Hervorbringung des Textes gelenkt. Die formulierende Interpretation fragt nach dem Was des Geschehens. 1. Schritt Beim Durchlesen der Transkriptpassage versuchen wir das Thema der Passage zu benennen. Was lässt sich als übergreifendes Thema des Textes ermitteln? Das Oberthema »Kämpfen versus Versöhnlichkeit« lässt sich erst nach der Rekonstruktion aller Unter- und Unter-Unterthemen benennen.
Formulierende Interpretation
61
2. Schritt Danach suchen wir nach sogenannten Ober- und Unterthemen bzw. Unter-Unterthemen (im folgenden OT, UT UUT) und wie in einer Nacherzählung fassen wir den Inhalt der Interaktionspassage zusammen. UT: 179–215 Gespräche am Mittagstisch mit den Kindern als Problem UUT: 179–187 Von der Natur zum »Feld« der Kinder Frau Meyer beschreibt, dass ihr Mann die Situation, wenn die Kinder von der Schule kommen und erzählen wollen, als problematisch erlebt hat, weil sie ihm dann nicht mehr zugehört hätte. UUT: 188–194 Vor den Kindern war es anders Bevor die Kinder da waren, hatte seine Frau Interesse an seinem Tun, es war eine Zeit, die nicht durch eine »eigene Welt« geprägt war, im Gegensatz zu der Zeit, als die Kinder da waren und er beim Mittagessen nicht zu Wort kam. Frau Meyer macht deutlich, dass er zum Mittagessen nach Hause gekommen ist. UUT: 194–197 Der Vorrang der Töchter Herr Meyer bestätigt, dass er mittags immer zu Hause war, sobald sich eine Tochter zu Wort meldet, war er abgemeldet. Da bei vier Töchtern immer eine sprach, kam er nicht mehr zu Wort, dieser Zustand ging über Jahre. Frau Meyer widerspricht ihm und reduziert seine Beschreibung auf sein Gefühl. UUT: 198–203 Probleme im Büro Herr Meyer führt fort, dass er einen Austausch vermisst hat. Die Arbeit im Büro war für ihn nicht einfach, »kein Zuckerschlecken«, weil er sich gegenüber dem Bürogründer minderwertiger gefühlt hat. Er ist froh, dass er nicht krank geworden ist. UUT: 204–212 Gegenbeispiel: Wie es funktioniert Er erlebt diesen Zustand auch bei seiner Tochter und deren Mann, im Gegensatz zu seiner ande62
Schritt für Schritt
UT: UUT:
UUT:
UUT:
UUT:
ren Tochter und deren Familie. Wenn er sich mit ihr unterhalten möchte, sorgt sie dafür, dass dies möglich ist, auch wenn ihre Kinder etwas sagen wollen: »Das funktioniert wunderbar.« 213–285 Auseinandersetzung versus Versöhnlichkeit 212–216 In der Herkunftsfamilie von Frau Meyer sind keine Kämpfer Für Herrn Meyer waren diese Situationen schwierig, auch wenn seine Frau das anders sieht. Herr Meyer führt das Verhalten seiner Frau auf deren Herkunftsfamilie zurück, »die waren keine Kämpfer«. 217–226 Versöhnlichkeit als wichtige Eigenschaft Die wichtigste Eigenschaft seiner Frau sei die Versöhnlichkeit. Dieses Motto sei ihr von ihrem Vater weitergegeben worden, so Herr Meyer. Frau Meyer sieht dies auch so und holt das Motto als besticktes Bild aus dem Hauseingang herein. Der Spruch ist von Karl Foerster, einem Staudengärtner und Philosophen aus Potsdam, der für ihren Vater und ihre Mutter sehr wichtig war. 227–246 Kontakt und Bindung Obwohl die Interviewerin Herrn Meyer nach seinem Lebensmotto fragt, antwortet Frau Meyer und nennt Gerechtigkeit; Herr Meyer nimmt wieder seinen Faden auf und schildert, wie das Motto der Versöhnlichkeit Kontaktverhalten seiner Frau gestaltet. Sie kann Menschen auf der Straße einfach ansprechen und hat noch heute Kontakt zu den verflossenen Freunden der Töchter, im Gegensatz zu ihm. 257–276 Auseinandersetzung, Kontaktabbruch versus Versöhnlichkeit Herr Meyer beschreibt seine andersartige Haltung und sein unterschiedliches Verhalten am Beispiel seines besten Freundes, den er bis zu seinem Tod gepflegt hat. Der Freund hatte in den Formulierende Interpretation
63
letzten Jahren eine Lebensgefährtin, die von dessen Söhnen nicht akzeptiert war. Die Kinder des Freundes, auch sein Patenkind, haben ihren Vater nicht »verstanden« und seine Pflege als »Eindringen in die Privatsphäre« empfunden. Das war für Herrn Meyer nach dem Tod seines Freundes der Anlass, den Kontakt zu den Kindern abzubrechen. Frau Meyer versteht den gewollten Kommunikationsabbruch nicht. Die beiden gehen in einen dichten Dialog über die Fragen von Verzeihen und Versöhnlichkeit und Zudecken von unguten Zuständen; ein Dialog, den sie schon oft geführt haben. UUT: 277–285 Neuer Versuch als Bestätigung vs. Abmilderung Herr Meyer denkt immer wieder über die Situation mit den Kindern seines Freundes nach, darüber, ob der Schnitt richtig war, ob die Kinder jetzt im Nachhinein die Freundin des Vaters anerkennen. Auf eine Gedenkanzeige in der Zeitung reagieren die Kinder nicht, was für ihn eine Bestätigung seines Handelns ist. Frau Meyer sieht die Möglichkeit, dass die Kinder die Anzeige nicht gelesen haben, dies ist für Herrn Meyer eine typische Reaktion seiner Frau, die der Situation die Schärfe nehmen soll.
4.2 Reflektierende Interpretation Sinn des Arbeitsschritts: Durch die reflektierende Interpretation versuchen wir Zugang zu den Orientierungen und den Alltagspraktiken eines Paares zu bekommen, die jeweils in eine spezifische Zeit, in ein Milieu eingebettet sind (konjunktiver Erfahrungsraum) und damit über sie selbst als Individuen hinausgehen; sie werden durch einen Habitus zum Ausdruck gebracht. Wir finden den Zugang zum konjunktiven Erfahrungsraum in den Beschreibungen und Erzählungen der Paare. Uns interessiert das »Wie« ihrer Handlungspraxis. Das bedeutet für unsere Suche und Rekonstruktion im Text das Auf64
Schritt für Schritt
spüren einer identischen Sinnstruktur, auf die die Paare in ihren Beschreibungen und Erzählungen zurückgreifen und sich wechselseitig beziehen. Diese Orientierungen und Alltagspraxen sind ein implizites Wissen, d. h., sie sind den Paaren nicht selbstverständlich zugänglich. Die Rekonstruktion durch Therapeut*innen hebt somit einen versteckten Schatz, der in einem weiteren Schritt dem Paar zugänglich gemacht werden kann. Schritt 1: Wir schauen nach den formalen Strukturen Um einen von den Paaren geteilten bzw. nicht geteilten Orientierungsrahmen festzustellen, wird in der reflektierenden Interpretation, wie im letzten Kapitel unter Orientierungsrahmen beschrieben, ein »Dreischritt« der Interaktion betrachtet: ȤȤ Die Proposition: das Aufbringen des Themas. ȤȤ Die Elaboration: die Ausführung und Fortführung des Themas, auch das Erzählen weiterer Beispiele. ȤȤ Die Konklusion: der Abschluss: »so war das«. ȤȤ Weitere Begriffe sind Exemplifizierung: Ausführung eines Beispiels; Validierung: Bestätigung durch den Partner; Parallelisierung: Ausführen eines zweiten ähnlichen Beispiels; Kontinuierung: die Geschichte weitererzählen. Schritt 2: Wir analysieren die Form des Diskurses Schritt 3: Wir suchen nach Horizonten und Gegenhorizonten 179–812 Auf die Schilderung von Frau Meyer über ihr Interesse an der Natur, schließt sich die Nachfrage der Interviewerin an, ob ihr Mann sich von ihr anregen lässt.
Wir haben es insgesamt mit einem Konflikt der beiden innerfamilialen Teilsysteme Ehe und Mutter-Kind-Beziehung) zu tun: Johan tritt in Konkurrenz zu den Kindern um die Fürsorge und die Aufmerksamkeit seiner Frau. Der Vorwurf von Johan lautet: Seine Frau setzt sich gegenüber den Kindern nicht durch und dadurch gerät er ins Hintertreffen. Implizit sehen wir eine konventionelle Rollenverteilung, welche die Verantwortung für die innerfamiliale Kommunikation eher den Müttern zuschreibt. Johan übernimmt Reflektierende Interpretation
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keine Verantwortung und nimmt dadurch die Position eines Kindes ein. Der Konflikt wird entschärft durch Erklärung der fehlenden Durchsetzungsfähigkeit mit positiven Eigenschaften: Sie ist zu gut. Gleichzeitig wird der Konflikt in außerfamiliale Angelegenheiten verlagert und in die Herkunftsfamilie von Anne. Bemerkenswert ist, dass Anne in ihrem Verhalten erklärungs- und legitimationsbedürftig ist, nicht Johan. Sie ist letztlich verantwortlich für den Konflikt. Insgesamt wird der Systemkonflikt als Problem von Persönlichkeitsmerkmalen konstruiert. Ein typischer Fehler von Therapeut*innen besteht darin, dass sie Fragen und auch Nachfragen direkt an Einzelpersonen richten. In den Paarinterviews werden die Fragen hingegen nicht an die Personen direkt gerichtet, da wir dann nicht mehr erkennen können, wie sich die andere Person darauf bezieht, und sich nur so die Struktur des Diskurses entfalten kann, wie sie sich auch im Alltag durchsetzt (wie es falsch gemacht wird, können Sie in Zeile 227 sehen). 180–187 Das Feld der Kinder ist kein gemeinsames Feld In dieser Passage setzt sich der durch die Interviewerin angeregte Modus weiter fort: Anne gibt die Gefühle ihres Mannes wieder, es wird nicht mit ihm, sondern über ihn geredet. Anne bejaht dies und berichtet von seinem zunehmenden Interesse an Natur, und unvermittelt verbindet sie dies mit einer problematischen Erinnerung an ihre Kinder. »Kinder, das war natürlich immer ein weites Feld.« Mit der Fontanemetapher »weites Feld« bleibt sie im Bereich der Natur, wie es genau zur Transposition des Kinderthemas kommt, lässt sich nicht direkt erschließen. Man kann vermuten, dass – wie der Bereich Natur – auch das »Feld« der Kinder ihr Bereich ist, in dem sie es aber nicht vermocht hat, ihren Mann anzuregen, sondern ihn, aus seiner Sicht, ausgegrenzt hat, da er, sobald die Kinder auftauchten, nicht mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. Das Feld der Kinder ist kein gemeinsames.
66
Schritt für Schritt
188–190 Validierung durch Johan Johan verstärkt die Proposition, indem er den positiven Horizont »gemeinsame Welt«, die sie hatten, bevor die Kinder kamen, beschreibt, da hatte sie Interesse an dem, was er macht. Hier dokumentiert sich, dass es für Johan darum geht, dass seine Beteiligung am Gespräch zugleich mit einem Interesse an seinen Problemen, seiner Perspektive verbunden ist. Eine Beteiligung am Gespräch in der Weise, dass er sich auch auf die Perspektive der Kinder bezieht, findet nicht statt. 190–197 Exemplifizierung durch Johan in Antithese zu Anne Das Interesse von Johan an seiner Familie besteht darin, dass diese auch Verständnis für seine Welt habe (wie auch in den Zeilen 198–202 deutlich wird). Dies steckt vermutlich auch im Abbruch seiner Rede in Zeile 196 (meine Themen, Probleme …). Es stellt sich die Frage, ob Anne sich dagegen wendet, dass sie kein Interesse an dem gehabt hat (vgl. 189), was er gemacht hat, oder dagegen, dass er nicht zu Wort gekommen ist. Insgesamt wendet sie sich gegen die Vermischung von Nicht-zu-Wort-Kommen und einem fehlenden Interesse von ihr an ihm. Die geringe Bedeutung der Redebeiträge der Kinder für ihn kommt durch seine Bezeichnung »Piepsen« zum Ausdruck. 198–203 Kontinuierung der Proposition durch Johan Hier wird bestätigt, dass es aus der Perspektive von Johan beim Mittagessen um seine Probleme gehen sollte und nicht um diejenigen der Kinder. Da die Probleme bzw. Themen seiner Frau in dieser Phase aber ihren Schwerpunkt im Bereich der Kinder haben, bedeutet dies zugleich, dass auch die Themen seiner Frau hinter seinen zurückzutreten haben. Johan bringt sich damit in die Position eines vernachlässigten Kindes. 204–212 Proposition eines Gegenhorizonts durch Johan Die Verantwortung für die innerfamiliale Kommunikation liegt damit – unhinterfragt bzw. implizit – bei den Frauen und Müttern. Hier wird noch einmal deutlich, Reflektierende Interpretation
67
dass Johan sich damit strukturell in die Position eines Kindes bringt. Er wartet ab, bis die Frauen für ihn das Rederecht erkämpfen. 212–216 Formulierung der Proposition durch Johan, Validierung durch Anne An der Stelle, an der es um die Frage geht, ob dies ein Konflikt ist oder nicht und wie dieser zu bezeichnen wäre, verlässt Johan den innerfamilialen Bereich und wechselt zur Herkunftsfamilie von Anne und zu außerfamilialen Beziehungen. Der Bruch zur bisherigen Kommunikation wird durch grammatikalische Unordnung markiert. 214–226 Elaboration durch Johan – im Modus einer Erklärung in Kooperation mit Anne und Differenzierung durch Anne Johan beschreibt das Lebensmotto seines Schwiegervaters »Versöhnlichkeit«, das er an seine Tochter weitergegeben hat, womit er im Nachhinein eine Erklärung liefert für das Verhalten seiner Frau am Mittagstich, da sie durch dieses Motto gelernt hat mit (fast) allen Leuten auszukommen. In seiner Orientierung wirkt das Motto der Herkunftsfamilie stärker als ein Interesse an ihm in der jeweils aktuellen Situation. Für Johan besteht der Konflikt mit seiner Frau darin, dass sie für ihn nicht das Rederecht erkämpft hat. Dies erscheint paradox, da er sich das selbst hätte erkämpfen können. Insofern ist eher er nicht der Kämpfer. Wenn wir Zeile 198–202 (Büro) heranziehen, so ist der Konflikt derjenige, dass seine Frau den Kindern mehr Fürsorge hat angedeihen lassen als ihm. Anne validiert dies, indem sie den Spruch hereinholt und vorliest. In dem Spruch »Versöhnlichkeit …« von Karl Foerster schließt sich der Orientierungskreis von Anne: Garten-Natur-Vorbild der Eltern, Glaubenssatz über das Zusammenleben mit anderen, Versöhnlichkeit, ertragen lernen, damit es besser werden kann. »Für mich ist das wichtig und das ist nicht dasselbe« (226). »Es ist nicht dasselbe« könnte heißen, nicht in der Konnotierung, wie sie ihr Mann gibt, nämlich in einer Bedeutung von rei68
Schritt für Schritt
nem Gewähren-Lassen oder Nachgiebigkeit, sie verfolgt mit dieser Haltung auch etwas Kämpferisches, »damit die Welt besser wird«, sie kämpft ihren Kampf mit anderen Mitteln als ihr Mann. 227 Individuelle Adressierung durch Y 227–246 Exemplifizierung durch Johan, versuchte Proposition durch Anne Trotz der Frage nach seinem Lebensmotto durch die Interviewerin und des Versuchs einer Proposition von Anne exemplifiziert Johan den Umgang seiner Frau mit anderen Menschen, der sich aus dem Lebensmotto der Herkunftsfamilie ableitet, dadurch ist es ihr möglich, auf Fremde zuzugehen, sie hat immer noch Kontakt zu verflossenen Freunden ihrer Töchter. Diese Attribuierung ermöglicht es, die Verantwortung zwar der Mutter zuzuschreiben, sie gleichzeitig aber in positives Licht zu rücken: Sie ist einfach zu gut. Obwohl die Interviewerin Johan adressiert, antwortet Anne. Hier zeigt sich eine Reziprozität: Johan formuliert das Motto von Anne und Anne das von Johan. Das ermöglicht beiden, sich nicht selbst in ein positives Licht rücken zu müssen. Und mehr: Es ist valider, wenn diese Beobachtung von anderen stammt. 249–276 Exemplifizierung durch Johan mit Opposition durch Anne Am Fall des Freundes zeigt das Ehepaar Meyer am deutlichsten seine jeweils unterschiedlichen Orientierungen: auf der einen Seite Johan, der dafür eintreten möchte (kämpfen), dass sein Patensohn die Handlungsweise seines Vaters akzeptiert und, da er dies nicht erreicht, den Kontakt zu ihm abbricht, weil er keinen Kontakt zu jemanden haben möchte, der in elementaren Auffassungen des Lebens ganz anders denkt und handelt als er; auf der anderen Seite seine Frau, die allen Menschen gute Motive unterstellt und die ihr Lebensmotto »Versöhnlichkeit« auf »verzeihen« ausweitet und ihn auffordert, dies auch zu tun. Das, was Anne »verzeihen« nennt, interpretiert Johan eher als ausweichendes bzw. naives Verhalten: sich etwas Reflektierende Interpretation
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vorzumachen (einen guten Zustand vorspiegeln; Z. 262), d. h. der Realität nicht ins Auge sehen: Anne ist zu gut – bis zum Realitätsverlust. 277–285 Parallelisierung In der Schilderung der Gedenkanzeige an seinen Freund, auf die die Kinder nicht reagieren, zeigt sich verdichtet der Gesamtkonflikt noch einmal. Für ihn ist die ausbleibende Reaktion der Kinder die Bestätigung seines abgrenzenden Handelns. Für Anne bleibt nach wie vor die Möglichkeit des versöhnlichen Handelns. Die Aussage seiner Frau, die Kinder haben vielleicht die Anzeige nicht gelesen, ärgert ihn, es ist für ihn eine Art des »unguten Zudeckens«, ein Beweis dafür, dass seine Frau keine Kämpferin ist; und hier zeigt sich für ihn die negative Kehrseite ihres Lebensmottos.
4.3 Wie es weitergeht … In der vorausgegangenen Passage fasst die Interviewerin die Erzählungen von Anne und Johan als »kleinere Konflikte« zusammen und möchte jetzt durch eine ganz direkte Frage wissen, ob es in der Beziehung eine Krise gegeben hat. Y:
Aber wenn ich sie jetzt nach einer Krise in ihrer Beziehung fragen würde, gabs sowas?
Anne:
Ja, was ist eine Krise? Dass man gesagt hätte, wir gehen auseinander oder irgend sowas?
Y:
Ja oder ins Zweifeln kommen
Johan: ne ne, da sind wir ich sag mal, da sind wir auch von den Genen und von den Familien in unseren also in ihrer Familie gabs Unverheiratete, Onkels ja des ist auch was des ist jemand der keine Bindung gesucht oder gefunden hat und in unserer Familie Anne: Johan:
└ das hab ich mir noch nie überlegt ((atmet hörbar)): └ ja doch ich mein des schon ich ich mein es gibt ja Dinge die sich wiederholen es gibt es gibt in unserer Familie gab es auch jemand wo immer der Altersunterschied zwischen dem Mann und der Frau war immer ne Generation also des war immer so jemand geheiratet hat der 20 oder 30Jjahre jünger war aber in unserer Familie sind die die Ehen beständig, da hats nie Fremdgehen und daraus ziehende Konsequenzen gegeben, also ich denke
Anne:
70
└ wie, des gabs nicht
└ ne gabs nicht nö gabs bei euch ja auch nicht, ich mein da gabs die Unverheirateten die keine warum auch immer keine keine Schritt fürgefunden Schritt haben die beiden Onkels Onkel K. und der Onkel B. aber des ist Frau sicher was was, aber ich bin sa=m mer mal überzeugt davon dass des nicht eigener Verdienst ist sondern dass auch ein Stück Prägung da ist
Johan:
(Anne/Johan, Z. 314-336)
dem Mann und der Frau war immer ne Generation also des war immer so jemand geheiratet hat der 20 oder 30Jjahre jünger war aber in unserer Familie sind die die Ehen beständig, da hats nie Fremdgehen und daraus ziehende Konsequenzen gegeben, also ich denke └ wie, des gabs nicht
Anne: Johan:
└ ne gabs nicht nö gabs bei euch ja auch nicht, ich mein da gabs die Unverheirateten die keine warum auch immer keine keine Frau gefunden haben die beiden Onkels Onkel K. und der Onkel B. aber des ist sicher was was, aber ich bin sa=m mer mal überzeugt davon dass des nicht eigener Verdienst ist sondern dass auch ein Stück Prägung da ist
(Anne/Johan, Z. 314-336)
Die direkte Frage der Interviewerin bringt Johan dazu, sein explizites Wissen über die Beständigkeit von Ehen zu beschreiben, er bezieht sich dabei auf ein Familienmuster, das er in seiner Familie beobachtet hat, und verallgemeinert es: einen wiederkehrenden Altersunterschied von Mann und Frau, der wiederkehrende Zustand von unverheirateten Menschen und so auch das wiederkehrende Muster der beständigen Ehen. »[…] in unserer Familie sind die Ehen beständig, da hats nie Fremdgehen und daraus ziehende Konsequenzen gegeben« (Z. 328–330). Diese sich wiederholenden Phänomene sind nach seiner Theorie nicht auf eigenständige Entscheidungen zurückzuführen, sondern sind familial vorgegeben. »[…] aber ich bin sa=mer mal überzeugt davon dass des nicht eigener Verdienst ist sondern dass auch ein Stück Prägung da ist …« (Z. 335/336). Anne bezieht sich in ihrer Proposition auf eine zurückliegende Stelle des Interviews (Z. 296–297) und bringt die Elaboration von Johan weg von einer Argumentation, die sich lediglich auf familiale Prägung bezieht, hin zu einer eher normativen Argumentation, die sich auf das Verhalten von Paaren bezieht. └ so nach dem
Anne: Motto, das tut mer nicht Johan:
Anne:
└ des ist des eine des tut mer nicht des andere ist sagen wir mal Gelegenheit macht Diebe besonders in der Liebe sagen wir mal wir hatten die Gelegenheiten dass jeder so wie heute jeder Mann Frau arbeiten geht in irgendwelchem Umfeld und kommt mit Leuten zusammen und so gestern Abend beim Backes └ gestern gings um Ehen
(Anne/Johan, Z. 337-344)
Diese Stelle ist homolog zu Z. 229–231. Wieder lässt Johan es nicht zu, dass über den innerfamilialen Bereich gesprochen wird. Die normativ-moralisch gefärbte Proposition seiner Frau leitet er durch das Sprichwort »Gelegenheit macht Diebe, besonders in der Liebe« Wie es weitergeht …
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(Z. 340) über in eine Generationsanalyse, in der er zum Ausdruck bringt, dass die heutige Generation im Unterschied zu ihrer Generation durch eine andere Arbeitssituation mehr Gelegenheit hat, fremdzugehen. Ebenso wie in der homologen Stelle Z. 229–231 ist diese Stelle markiert durch grammatikalische Unordnung: Das »nicht« fehlt und kann nur durch den sonst fehlenden Sinn erschlossen werden. EbenEbenso, wie in der homologen Stelle Z.229-231, ist diese Stelle markiert durch falls homolog ist das Muster, den innerfamilialen Bereich zu verlassen grammatikalische Unordnung: das ‚nicht‘ fehlt und kann nur durch den sonst fehlenden Sinn und sich auf einen außerfamilialen Kontext – wie hier auf die Fernerschlossen werden. Ebenfalls homolog ist das Muster, den inner-familialen Bereich zu sehsendung mit Wieland Backes (Nachtcafé im SWR) – zu beziehen. verlassen und sich auf einen außerfamilialen Kontext, wie hier auf die Fernsehsendung mit Nach langen Ausführungen über die Personen, die in der FernBackes, zu beziehen. sehsendung über ihre Erfahrungen mit Affären berichtet haben, Nach langen Ausführungen über die Personen, die in der Fernsehsendung über ihre kommt Johan in der folgenden Passage zurück auf seine Erfahrungen mit Affären berichtet haben, kommt Johan wieder in der folgenden Passage wieder eigene zurück aufSituation. seine eigene Situation. Johan: na ja aber des ich denk des spielt die zwei Sachen spielen eine Rolle sagen wir mal ich hab im Büro nie waren da,waren da Mitarbeiterinnen die, die mich └des hab ich mir
Anne: noch nie überlegt@(.)@: └mich gereizt hätten
Johan:
└obs da Möglichkeiten gegeben hätte
Anne:
Johan: Gut ich meine jemand der der attraktiv war des war unsere Schwägerin die die geschiedene Frau von ihrem Bruder A. die R. des war ein attraktives eine attraktive junge Frau die auch, sagen wir einmal mit den Männern gespielt hat so die nicht die nicht zurückhaltend war des war nicht ne wilde Versuchung wie alt ist die R. wie viel jünger? Anne:
47 Jahrgang 47
Johan: also 20 Jahre jünger als du ja? 47? Des also, nö, sagen wir ((bläst die Luft aus)): meine Unterschiede gabs in den erotisch-sexuellen Bedürfnissen des war ein Unterschied, des kannst du bestätigen da war und des └ des stimmt ((atmet laut)):
Anne: Johan:
└ und da war wieder Familie im Hintergrund ich hab bei meinen Eltern doch nie @(.)@:, also des
Y:
Wie ha=m sie des hingekriegt, des ist ja nun ein heikles Thema, aber wenn dass diese Unterschiede doch lebbar waren?
Johan: Ja Anne:
└ mit der Zeit(5) ja des stimmt, also, ich war nicht so (6) so wild@(:)@: └ °ja wild
Johan: war ich auch nicht aber°, mhh aber(5) Anne:
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└ also wir ha=m uns des möchte ich jetzt nochmal ganz grundsätzlich sagen wir haben uns nie gehauen wir haben uns nicht richtig gestritten auch relativ wenig
Schritt für Schritt
Johan:
└ also des was bei anderen Leuten das da mal einer einen Teller oder Geschirr zerschlagen hat
(Anne/Johan, Z. 352-380)
Die Zeilen 354–357 sind in ihrer Konstruktion eine Art Überkreuzdialog, in der Anne in die Erzählung ihres Mannes hinein eine Kommentierung gibt (»das habe ich mir noch nie überlegt«, Z. 354/355), er dann wieder seinen Faden aufnimmt und sie ihre Kommentierung fortführt. In dieser Form des Dialogs lassen sich beide gewähren, ohne ihre eigenen Inhalte aus den Augen zu verlieren und ohne auf den anderen einzugehen. Dieser Überkreuzdialog ist eine Pseudowahrnehmung des jeweilig anderen Partners und erfüllt die Funktion, sich in einem schwierigen Feld, in dem es hypothetisch und theoretisch um Außenbeziehungen geht, nebeneinanderzustellen. Nachdem diese Positionierung hergestellt wurde, erzählt Johan von seinen Beobachtungen eines Frauenbildes, das für ihn gegensätzlich zu dem ist, was für ihn seine Frau verkörpert: eine Schwägerin, die die erotische Beziehung zu Männern aktiv gestaltet (»die auch sagen wir einmal mit den Männern gespielt hat so die nicht die nicht zurückhaltend war«, Z. 360/361). Er geht so weit, dieses erotische Spiel auch auf sich zu beziehen (»das war nicht ne wilde Versuchung«, Z. 361), in dem offenbleibt, ob es überhaupt eine Versuchung war oder nur keine wilde. An dieser heiklen Stelle bezieht er sofort wieder seine Frau durch die Frage nach dem Alter der Schwägerin mit ein und konstruiert damit wieder ein Nebeneinander in der Paarbeziehung, durch die eine, wenn auch nur fantasierte Außenbeziehung in den Hintergrund gestellt wird. Erneut ermöglicht er sich durch die Einbeziehung seiner Frau, über die unterschiedlichen sexuellen Bedürfnisse von ihm und ihr zu sprechen, die sie nach seiner Aufforderung bestätigt. Implizit stellt Johan nun einen Zusammenhang her zwischen der Attraktivität der Schwägerin und der Möglichkeit einer Außenbeziehung und den unterschiedlichen sexuellen Wünschen von sich und seiner Frau. Das Enaktierungspotenzial realisiert sich aufgrund einer nachträglichen Argumentation von ihm nicht, die er wieder mit seiner Erklärungstheorie der Prägung durch die Familie in Zusammenhang bringt. Die Dichte der Passage wird durch das starke Ausatmen von beiden akustisch verstärkt. Die Interviewerin hält die Spannung nicht Wie es weitergeht …
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länger und unterbricht (leider) die Selbstläufigkeit der Passage durch ihre Frage nach der Realisierung dieses Unterschieds. Daraufhin nimmt Anne quasi die Schuld auf sich und benutzt in diesem Zusammenhang interessanterweise das Wort »wild« (Z. 373), das ihr Mann im Zusammenhang mit »wilder Versuchung« (Z. 361) eingeführt hat. Damit verweist sie implizit auf ihr Gegenmodell – die Schwägerin – und gibt auch zu verstehen, dass sie um die Versuchung ihres Mannes weiß. Als Johan daraufhin die Problematik über die Differenzierung des Wortes »wild« aufgreifen möchte, beendet Anne das Thema »Sexualität« aktiv durch ihre Zusammenfassung des Konflikts und grenzt diesen sehr stark ab von einer fiktiven aggressiven Eskalation (»also wir ha=m uns des möchte ich jetzt nochmal ganz grundsätzlich sagen wir haben uns nie gehauen wir haben uns nicht richtig gestritten auch relativ wenig«, Z. 336). Johan validiert die Aussage seiner Frau, indem er ihre Kultur der Auseinandersetzung sehr deutlich von anderen unterscheidet (»also des was bei anderen Leuten dass da mal einer einen Teller oder Geschirr«, Z. 379/380).
4.4 Die habituellen Resilienzmuster des Paares Anne und Johan Aus diesen Orientierungsmustern ergeben sich für ihre Paarbeziehung konfliktvermeidende bzw. konfliktbewältigende Umgangs weisen. Ihre Resilienzmuster lassen sich wie folgt zusammenfassen: ȤȤ Anne und Johan verschieben ihren Systemkonflikt, den Konflikt in der Wichtig- und Wertigkeit von Paar- und Familienebene, auf Persönlichkeitsmerkmale, deren jeweilige Entstehungsge schichten in der Herkunftsfamilie liegen. Dieser soziologisch- psychologische Begründungszusammenhang ist für sie eine quasi naturwissenschaftliche Wahrheit, der sie von jedem Anspruch an persönliche oder Verhaltensveränderung entlastet. ȤȤ Sie entschärfen Konflikte, indem sie Verhaltensmerkmale verschieben und umdeuten und ihnen positive Eigenschaften zu sprechen. So wird beispielsweise Johans mangelnde Durchsetzungsfähigkeit bei Tisch auf Anne verlagert. Die Erklärung 74
Schritt für Schritt
für ihr Verhalten lässt sich mit Familieneigenschaften legitimieren. Gleichzeitig wird ihr Verhalten überhöht: Sie ist zu gut. ȤȤ Sie verlagern innerfamiliale Konflikte in die Außenwelt. Der divergente Diskursmodus entspricht ihrem Resilienzmuster: Konflikte werden durch Pseudobestätigungen in der Anschlussrede verdeckt.
Die habituellen Resilienzmuster des Paares Anne und Johan
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5
Therapie und Dokumentarische Methode
Dieses Kapitel lässt sich am besten mit dem Teil eines Kochbuchs vergleichen, in dem die Beschreibung des Prinzips des Kochens und der grundlegenden Einstellung und Haltung des Kochs zur Verfertigung von aufwendigen Saucen ein Ende findet und endlich Anwendungsbeispiele und Rezepte beschrieben werden. Dieses Kapitel soll Ideen für Anlässe und Anwendungen geben. Im Laufe einer – vor allem in einer langanhaltenden – Partnerschaft kommt es immer wieder zu kleineren und größeren Verletzungen, die in den wenigsten Partnerschaften direkt besprochen werden. Vielmehr sammeln sie sich an und führen bei den Partnern zu unterschiedlichen negativen Gefühlen wie Distanzierung, Wut, Trauer, Einsamkeit und Sehnsucht nach einem »besseren« Partner. In der Paardynamik lassen sich dann oft vorwurfsvolle Verallgemeinerungen (»Du bist sowieso immer …«) und zynische oder resignative Bemerkungen (»na, klar, dass du das nicht siehst, du mit deiner …«) beobachten. Die Bearbeitung dieser zurückliegenden Verletzungen ist daher ein sehr wichtiger Teil in der Paartherapie, um sowohl die aktuellen Schwierigkeiten in der Partnerschaft zu beheben als auch um die bestehende Basis wieder zu stärken. Gerade wenn ein Paar an einen Punkt kommt, wo sich beide Partner auf ihre jeweilige Weise fragen, ob es sich lohnt, die Beziehung weiterzuführen, bietet sich die Arbeit mit Transkripten und auch – wenn vorhanden – mit Fotografien an, um mit dem Paar gemeinsam die zusammenhaltenden Verbindungen zu finden.
76
Therapie und Dokumentarische Methode
5.1 Fallgeschichte 1: Umgang mit einer Affäre Bernd und Heinz sind ein homosexuelles Paar. Sie sind vor der Maueröffnung auf Antrag von der DDR nach Süddeutschland gezogen. Als ich sie kennenlerne, sind sie seit über zwanzig Jahren ein Paar. Bernd hatte eine Affäre mit einem Kollegen.
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Astrid:
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Bernd: Ich hab, das ist ein Kollege von mir gewesen
└ Wie sind sie da rein geraten?
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Heinz:
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Bernd:
└ den ich auch kannte
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Astrid: └ Können sie das noch genauer erzählen, wie sie, wie die Krise war, wie sie dann sich da raus gearbeitet haben, wieder zusammen gekommen sind?
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Bernd: Ja, der H. z.B., ich hab ja oben im Hartz gelebt und der Klaus hat in Leipzig gelebt dann, wir hatten ja eine gemeinsame Wohnung in Leipzig und äh, er ist dann an den WE ist er dann immer. wir hatten erst gedacht, dass wir evtl. so eine Dreier Beziehung aufbauen könnte, aber das geht nicht, das geht absolut nicht. So war das ja am Anfang auch mit meiner Ex Frau. Die wollte unbedingt, dass wir zusammen bleiben und Sie hatte den Klaus akzeptiert, also sie war dann voll damit einverstanden. Aber sowas geht nicht, es geht nicht man tut irgendeinem immer weh, ja und das funktioniert nicht, ja. Und so war das eben auch mit dem Kollegen. Und Klaus war sehr intensiv und hat also nicht locker gelassen, indem er fast jedes WE von Leipzig mit dem Zug, mit dem Bus hoch in den Hartz gefahren ist,
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Heinz:
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Bernd:
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Heinz: Ich hab das auch, äh, ein bisschen mit Geduld versucht, mit, dass Vernunft wiederkommt. Wenn das nicht geklappt hätte,
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Bernd:
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Heinz:
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Bernd:
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Heinz:
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Astrid: Was hat ihnen Hoffnung gegeben?
└ den der H. aber auch kannte, wir haben also. Da hatte sich einfach was entwickelt und äh, das war, ja das war schon sehr kritisch muss ich sagen. Und dann ist aber doch die Vernunft auch irgendwann durchgekommen, sodass wir eigentlich von diesem Zeitpunkt an haben wir eigentlich nie wieder in dieser Hinsicht ein Problem gehabt, absolut nicht, gar nicht und äh
└ mit Hund └ mit Hund. Wir haen damals einen Hund, ja, und äh. Ja, dieser Kollege hatte auch nen Freund, das darf man also auch nicht vergessen, ja, das war also eine sehr kritische Situation auch für ihn. Wir haben aber jeder dann letztendlich doch wieder zu unserem Partner zurückgefunden, ja.
└ ja, mhm └ dann sagen wir wirklich, dann hätte man keine Versuche mehr machen können. Aber ich hab versucht ohne große Szenen, oder irgendwas , sagen wir mal, was negativ ist, äh, einzuspielen oder, oder irgendwie das große, ja, Diskussionen oder, oder irgend sowas. Ich hab das mit Geduld und ja, äh, Hoffnung └ mit Zielstrebigkeit └ dass er wieder normal wird. Das für mich Fallgeschichte 1: Umgang mitwar einer Affäre natürlich auch eine schwere Zeit. Nicht die Flinte ins Korn zu werfen und aber das war dann eigentlich relativ dann schnell wieder ganz normal, also
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man keine Versuche mehr machen können. Aber ich hab versucht ohne große Szenen, oder irgendwas , sagen wir mal, was negativ ist, äh, einzuspielen oder, oder irgendwie das große, ja, Diskussionen oder, oder irgend sowas. Ich hab das mit Geduld und ja, äh, Hoffnung
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Bernd:
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└ mit Zielstrebigkeit
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Astrid: Was hat ihnen Hoffnung gegeben?
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Heinz: Eigentlich die intensive Verbindung, die wir hatten, dann auch H.‘s Pflegemutter, mit der ich auch ne sehr sehr gute Beziehung hatte und die mich schon durch viele Gespräche auf solche Sachen aufmerksam gemacht hatte, dass H. sehr spontan reagiert und äh, manchmal sich die Folgen nicht so im Moment vorstellt, sondern sehr spontane Entscheidungen trifft. Ja so war‘s dann auch und das hat mich eigentlich, diese intensive Verbindung über diese Phase hinweggebracht. Das ich eben gedacht hab, die Zeit vergeht schon irgendwie. Das war
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Bernd: Das war, mhm und das hat uns mehr denn je zusammen geschweißt, eigentlich, ja.
└ dass er wieder normal wird. Das war für mich natürlich auch eine schwere Zeit. Nicht die Flinte ins Korn zu werfen und aber das war dann eigentlich relativ dann schnell wieder ganz normal, also
Bernd beschreibt Heinz’ Bemühungen an der Beziehung dranzubleiben: »hat also nicht lockergelassen«. Die Anstrengung der Bemühung wird durch Heinz’ Äußerung »mit Hund« deutlich. Heinz versucht auch Bernds Bindung an den Hund strategisch zu nutzen. Bernd verweilt nicht lange bei den Bemühungen von Heinz, sondern wechselt schnell die Perspektive auf seinen anderen Freund, der auch einen Freund hat: »ja, das war also auch eine sehr kritische Situation auch für ihn«. Interessant ist das Fehlen einer – sonst oft üblichen – Schuldzuweisung oder eines Schuldeingeständnisses. Hier wird nicht analysiert, sondern nur beschrieben. Es lässt sich vergleichen mit einer Wetterbeschreibung: Es war sehr windig, aber dann kam die Sonne wieder durch. Analog hier: »wir haben aber jeder dann letztendlich doch …«. Heinz wird in seiner Ausführung differenzierter. Seine Orientierung besteht darin, dass er Bernd in einem außergewöhnlichen Zustand wahrnimmt, ähnlich einem Krankheitszustand, und an das Gute, nämlich die Durchsetzungskraft der Vernunft, glaubt. Er selbst begleitet diesen Zustand mit »Geduld« und »Hoffnung«. Sein negativer Gegenhorizont sind »Szenen«, »etwas Negatives einspielen«, oder große »Diskussionen«. Dies wird auch auf der Ebene des von ihnen geführten Gesprächs deutlich: Heinz spricht wenig und wenn, dann immer im Anschluss an die Ausführungen von Bernd. In all ihren Ausführungen lässt sich keine Widerspruchssequenz finden. Auch Heinz möchte einen schnellen Abschluss des Themas Krise. Die Haltung von Heinz gegenüber Bernd ähnelt derjenigen eines Vaters/einer Mutter gegenüber dem Kind, welchem ein undiszipliniertes Verhalten aufgrund der geringen Verantwortlichkeit nachgesehen 78
Therapie und Dokumentarische Methode
wird. Wie man bei Kindern die Abweichung von der Normalität, die Undiszipliniertheit mit Unvernunft gleichsetzt, so ist dies auch hier der Fall. Und wie bei Kindern so wartet auch Heinz, dass Bernd wieder zur Vernunft kommt.
»Vernunft« setzt sich hier nicht in einer Diskussion, in einer diskursiven Auseinandersetzung durch, sondern besteht in der Rückkehr zur Normalität, und Normalität wird mit der Fortführung der Beziehung gleichgesetzt. Die Normalität (bzw. Fortdauer) der Beziehung wird mit Normalität ganz allgemein gleichgesetzt. Es gibt keine andere Normalität als diejenige der Fortführung der Beziehung. Insofern ist auch im Fall der Fremdbeziehung nicht nur die Beziehung selbst nicht normal, sondern auch der Ausbrechende nicht (»dass er wieder normal wird«; Z. 97). Im Sinne dieser allumfassenden Normalität wird auch Vernunft mit Normalität gleichgesetzt und Normalität mit Vernunft. Es findet sich im Hinblick auf die Beziehung ȤȤ keine Relativierung von Normalität im Sinne pluraler Normalitäten, ȤȤ keine Differenzierung von Normalität und Vernunft, ȤȤ kein Gegenhorizont zur Vernunft wie etwa Liebe und Leidenschaft. Von Liebe und Leidenschaft, die gemeinhin in einer Relation zur Leitdifferenz »Vernunft« stehen, ist hier nicht die Rede. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Bernd und Heinz in einer existenziellen Situation der Nicht-Normalität (Homosexualität in der DDR) leben, die aber öffentlich nicht thematisiert wird. Damit wird die Fortdauer der Beziehung zu einer nicht normalen Normalität, deren Wahrung aber umso wesentlicher wird.
❖❖ Therapeutische Zwischenüberlegungen: Verengung und Erweiterung von Erzählungen Die große Stärke in der gemeinsam erzählten Geschichte von Bernd und Heinz ist ihre Fähigkeit, die positiven Aspekte im Verhalten des Anderen hervorzuheben und sich nicht, wie es sehr häufig bei Paaren Fallgeschichte 1: Umgang mit einer Affäre
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zu beobachten ist, auf die Schuldfrage, auf Vorwürfe, auf generalisierte Beobachtungen der Vergangenheit zu versteifen. Grossmann spricht in diesem Zusammenhang von »narrativem Pessimismus« (2012, S. 43). Analog könnte man davon sprechen, dass einer der resilienten Faktoren bei Bernd und Heinz ihr »narrativer Optimismus« ist. Da es eine objektive Wirklichkeit sowieso nicht gibt, schon gar nicht in einer Paarbeziehung, ist das gemeinsame Erinnern im Gespräch, in den Erzählungen über eine gemeinsam gelebte Zeit von immenser Bedeutung für die weitere Entwicklung der Paardynamik. Partner verweben in ihren Erzählungen ihre je spezifische Perspektive miteinander zu einer Wirklichkeit, die sich nach und nach immer mehr bewahrheitet. Durch den verengten Fokus auf Problemaspekte der Beziehung wird eine schwierige Beziehung immer schwieriger. »Die Geschichte in ihrer Gesamtheit ist einer jener Kontextzusammenhänge, der schwieriges Lieben aufrecht erhält« (Grossmann 2012, S. 43). Was wir Therapeut*innen aus der Erzählung von Bernd und Heinz lernen können, ist ihre positive Landkarte, in der sie bei Weichenstellungen in ihrem Leben einen leichten und schönen Weg einschlagen, anstatt erneut durch undurchdringliches Gelände zu laufen. Trotz ihrer individuell unterschiedlichen Orientierung wird anhand des nächsten Interviewausschnitts und Heinz in der Trotz ihrer individuell unterschiedlichen deutlich, Orientierungwie wirdsich aus Bernd dem nächsten InterviewausPhasedeutlich, nach ihrer Beziehungskrise Ebene inaufForm schnitt wie sich Bernd und Heinz inauf der einer Phase gemeinsamen nach ihrer Beziehungskrise einer gemeinsamen Ebene inam Form einer Orientierung am Genuss an gemeinsamen nichtalltäglichen, gemeineiner Orientierung Genuss an nicht alltäglichen, Handsamen treffen sie dies im Diskursinin(Ko-)Kons (Ko)-Konstruktion herstellen. lungenHandlungen treffen und wieund siewiedies im Diskurs truktion herstellen. Bernd: Da haben wir ein Ehepaar, das ist ein Ärzteehepaar. Mit denen hatten wir also diese Phase der Ausreise gemeinsam, gemeinsam durchgestanden. Wir haben uns gegenseitig, wenn dann ein Tiefschlag kam, wieder gestützt, und die ist bis heute, wir treffen uns jedes Jahr Sylvester mit so ner ganzen Clique └ machen viele Auslands-
Heinz: reisen nach Norwegen └ Norwegen sind wir
Bernd:
└ Italien
Heinz:
└ in Rom
Bernd:
└ Österreich
Heinz:
└ Österreich
Bernd: Heinz: Bernd:
└ also Reisen, das war für uns was ganz Tolles und das haben wir eigentlich von Anfang an └ gemacht └ gemacht. Also im Großen und Ganzen kann man sagen, es, ()
Heinz:
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Bernd:
└ @(2)@
Therapie und Dokumentarische Methode
Heinz:
└ bis jetzt war‘s eigentlich ein sehr interessantes, schönes Leben.
Bernd: (Bernd/Heinz, Z.412-429)
└ ja
└ Österreich
Bernd: Heinz: Bernd:
└ also Reisen, das war für uns was ganz Tolles und das haben wir eigentlich von Anfang an └ gemacht └ gemacht. Also im Großen und Ganzen kann man sagen, es, ()
Heinz: Bernd: Heinz:
└ @(2)@ └ bis jetzt war‘s eigentlich ein sehr interessantes, schönes Leben.
Bernd:
└ ja
(Bernd/Heinz, Z.412-429)
Nachdem Bernd auf schwierige Zeiten zu sprechen kommt und auch das Wort »Tiefschlag« (Z. 414) dafür verwendet, geht Heinz ganz auf die positive Seite und exemplifiziert das Thema Reisen. Hier wird ihr bevorzugter Modus im Diskurs, der univoke Modus, besonders hinsichtlich seiner Funktion, über eine identische Erzählperspektive Verbundenheit zu konstruieren und zu erleben, sichtbar. Heinz proponiert das Thema »Reisen« und belegt es gleich mit einem Beispiel: »Norwegen« (Z. 417), das Bernd mit dem gleichen Wort validiert (Z. 418). Heinz exemplifiziert weiter »Italien« (Z.419) und Bernd validiert mit der Hauptstadt von Italien (Z. 420). Heinz nennt »Österreich« (Z. 421), Bernd wiederholt unmittelbar das Wort (Z. 422). In der folgenden Sequenz wiederholt er ebenfalls das letzte Wort von Heinz (»gemacht«, Z. 425/426). Die Konklusion von Heinz: »bis jetzt wars eigentlich ein sehr interessantes schönes Leben« (Z. 428) wird von Bernd unverzüglich durch »ja« (Z. 429) validiert. Für den Zuhörer, die Zuhörerin ist es durch das mehrmalige Wiederholen und Aussprechen der einzelnen Wörter durch beide Beteiligte des Diskurses so, dass man nicht mehr unterscheiden kann, wer was gesagt hat, und es entsteht der Anschein einer gemeinsam gesprochenen Aufzählung. Ihre vormals unterschiedlichen Orientierungen verschmelzen durch den univoken Diskurs scheinbar zu einem einzigen strukturidentischen Erleben.
Im Hinblick auf die Struktur des Interviews, das durch das selbstläufige Erzählen von Bernd und Heinz geprägt ist, befindet sich der Part ihrer univoken Beschreibung genau zwischen zwei Stellen, in denen sie auf problematische Lebensumstände zu sprechen kommen. Damit lässt sich die Funktion des univoken Diskurses als ein »Gefäß« beschreiben, in dem sie ihre gemeinsamen Orientierungen verdichten und einen schon bestehenden gemeinsamen Erfahrungsraum wiederbeleben. Fallgeschichte 1: Umgang mit einer Affäre
81
Im Anschluss an die Konklusion, dass es bisher ein schönes Leben gewesen sei, differenzieren sie gemeinsam das Leben in »Hoch und Tiefs« (Z. 431 u. 432) und reflektieren gemeinsam, wiederum im univoken Diskurs, die Frage, wie man Krankheiten und berufliche Einbrüche überstehen kann. └ mit
Heinz: Bernd: Heinz:
└ mit Hoch und Tiefs └ Hoch und Tiefs, aber umso besser kann man ein Hoch wieder einschätzen, wenn mal ein Tief irgendwie überstanden ist und äh ja auch die Krankheit, die mich natürlich └ mhm
Bernd: Heinz:
└ sehr geschröpft hatte und meine Umwelt, konnte ich eigentlich recht gut überstehen durch viele Freunde. In T.Stadt haben wir mittlerweile einen großen Freundeskreis └ Freundeskreis
Bernd: Heinz:
Bernd:
└ und äh, auch durch Bernd konnte ich das sehr sehr gut überstehen und ärztlicherseits wurde mir immer wieder gesagt: Herr H., wie sie Krankheit gemeistert haben oder auch während der Krankheit, sowas haben wir überhaupt noch nicht erlebt. Sie brauchen fast keine. Das war natürlich Illusion, └ mhm └ aber sie haben eigentlich die beste Medizin. Und das ist,
Heinz: wenn das Umfeld Bernd: Heinz:
└ das Umfeld └ stimmt, kann man unheimlich viel überstehen. Sei es berufliche Einbrüche oder gesundheitliche Sachen und das ist eben das wichtigste, das Umfeld, das familiäre, auch sagen ma, meine Geschwister und Anverwandten immer zu mir gehalten oder zu uns gehalten, die Freunde. Also es ist eigentlich ein sehr abwechslungsreiches, schönes Leben. Kann man eigentlich so
(Bernd/Heinz, Z.431-453)
Im Resümee unterteilen sie ihr gemeinsames Lebens in »Hoch« und »Tiefs«, wobei sich die weiteren Ausführungen von Bernd über die Tiefs auf seine Krankheit und berufliche Schwierigkeiten beziehen und nicht auf ihre Beziehungskrise. In der Leitdifferenz von »Hoch« und »Tief« schaut Heinz zuerst auf das Hoch, das man, nachdem ein Tief »irgendwie überstanden« wurde, besser »einschätzen« (Z. 433) kann. Beim »Überstehen« (Z. 437, 441, 449) von Tiefs sind beide in doppelter Weise am Umfeld orientiert. Es sind die Freund*innen wichtig, die sie inzwischen gewonnen haben – womit sich auch wieder der Kreis 82
Therapie und Dokumentarische Methode
schließt zur Eingangspassage: Freund*innen zu haben, heißt dazuzugehören und damit in eine Normalität eingebunden zu sein. Und sie sind orientiert an der Resonanz auf diese positive Integration in einen Freundeskreis durch die weitere Umwelt, hier die Ärzte. Diese bescheinigten Heinz eine außergewöhnliche Leistung: »Herr H., wie Sie die Krankheit gemeistert haben … sowas haben wir überhaupt noch nicht erlebt« (Z. 442/443). In der wiederholten Erwähnung der vielen Freundschaften und der positiven Bewertung darauf, zeigt sich ein Habitus des Stolzes über ihre Leistung, zu einer »normalen Welt« dazu zugehören.
Beschreibung der habituellen Resilienzmuster des Paares Bernd und Heinz Die Rekonstruktionen der Erzählungen von Bernd und Heinz konnten deutlich machen, dass sich ihre Krisen als Spannungsverhältnis von gesellschaftlichen Normen und Werten und ihrer Existenzweise als gleichgeschlechtliches Paar zeigen. Resilienz äußert sich bei ihnen als gelingende Auseinandersetzung mit normativen Erwartungen. Es dokumentiert sich ein Spannungsverhältnis von Orientierungsschema und Habitus innerhalb des erweiterten Orientierungsrahmens. Dies zeigt sich beispielsweise in ihrem Diskurs über die relativ problemlose Möglichkeit, ihre homosexuelle Beziehung in der DDR zu leben. Beim »Überstehen« (Z. 437, 441, 449) von Tiefs sind beide in doppelter Weise am Umfeld orientiert – in einem Zirkel von Anpassung (Erwartungserwartungen) und Ausrichtung an die positive Resonanz durch Freunde und Ärzte: Freunde zu haben, heißt dazuzugehören und damit in eine Normalität eingebunden zu sein. Aus ihren Erzählungen wird deutlich, wie wichtig eine positive Resonanz durch die Umwelt für sie ist. Erst diese Resonanz gibt ihnen die Gewissheit, dass ihre Anstrengungen dazu zu gehören, erfolgreich waren. Diese Rückmeldung aus der Umwelt ist sozusagen für sie das positive Ergebnis eines Prozesses, den man als gelungenen Anpassungsprozess ihres Habitus an ihre normativen Vorstellungen bzw. an ihr Orientierungsschema bezeichnen kann. Ihre gesamte Praxis als homosexuelles Paar ist darauf ausgerichtet, in der sie umgebenden Gesellschaft nicht durch ein Verhalten aufFallgeschichte 1: Umgang mit einer Affäre
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fällig zu werden, dass sie ausgrenzen würde. Ihre Vorstellungen und Fantasien über gesellschaftliche Ausgrenzung formulieren sie im Paargespräch vor allem im negativen Gegenhorizont der juristischen Verfolgung wegen ihrer gelebten Homosexualität »Man wurde nicht verfolgt oder irgendwas obwohl der Paragraf noch bestand« (Z. 24/25). Ihre Resilienz zeigt sich in ihrem habitualisierten Handeln, Krisen zu entdramatisieren und mit Hoffnung abzuwarten, bis sich wieder eine positive Zeit einstellt. Damit wird innerhalb ihres konjunktiven Erfahrungsraums ihre Auseinandersetzung mit den herrschenden Normen und Werten beschrieben, die eigentlich eine Ausgrenzung von homosexuellen Personen zur Regel haben. Hier wird das Spannungsverhältnis von Orientierungsschema und Handlungspraxis deutlich, das für sie handlungsorientierend wird. Aus dem Spannungsverhältnis von gesellschaftlicher Norm und eigener Handlungspraxis konturiert sich für sie eine übergreifende resiliente Orientierung, mit Problemen umzugehen. Dieser Habitus zeigt sich vor allem in ihrer großen Krise, als Bernd eine Nebenbeziehung eingeht. Ihr univoker Diskursmodus hat die implizite Funktion, ihre intensive Beziehung zu kreieren, zu verstärken und zu bestätigen und gleichermaßen der Umwelt zu präsentieren.
5.2 Fallgeschichte 2a: Versöhnung vor dem Sterben Nina meldet sich bei mir, weil ihr Mann Robert Krebs hat und beide wissen, dass er bald sterben wird. Sie berichtet, dass sie und ihr Mann sehr viele und heftige Krisen hatten, dass sie aber seit einem guten Jahrzehnt das Gefühl hat, dass es ihnen wesentlich besser geht und ihre Beziehung stabil ist. Da ihr Mann sich wenig mit ihr über ihre Beziehung austauscht und sie deshalb von ihm keine (explizite) Antwort bekommt, ob er es auch so sieht, dass es ihnen als Paar jetzt gut geht, konnte sie ihn davon überzeugen, dass es angesichts seines Todes für sie wichtig sei, mit ihm über die Vergangenheit und über die Gegenwart zu sprechen. Ihr Mann legte allerdings Wert darauf, dies in einem geschützten, professionellen Rahmen zu tun, damit sie nicht in alte Streitmuster zurückfallen. Nina und Robert sind seit über 50 Jahren verheiratet. Robert (82 Jahre) ist Innenarchitekt und Nina (80 Jahre) hat Design studiert, einen Beruf aber nicht ausgeübt. Sie haben vier Kinder und sieben Enkelkinder. 84
Therapie und Dokumentarische Methode
Solch eine Anfrage, kurz vor dem Tod eines der Partner, ist in meiner Praxis eher selten. Häufiger erlebe ich solche Anfragen, wenn Paare getrennt sind, sich ein Partner wieder neu binden möchte und um ohne sogenannte Altlasten in die neue Beziehung gehen zu können, den Expartner um einen Rückblick, einen guten Abschluss oder eine Versöhnung bittet. Der Anlass ist in allen Fällen sehr ähnlich: Es geht einem der Partner darum, in der Gegenwart gelassener leben zu können, Frieden mit der Vergangenheit zu machen. Für eine solche Versöhnungsarbeit bietet sich ein gemeinsames Interview an, in dem sich die Partner gegenseitig erzählen können, wie aus ihrer Perspektive die Gestaltung der Vergangenheit war: Was ist gut gelungen? Was sind wunderbare Erlebnisse? Was ist nicht gelungen? Was ist immer noch schmerzlich? Ich vereinbare mit beiden, dass wir uns zweimal treffen, einmal um ein Interview zu führen, das ich aufnehme und an den dichtesten Stellen transkribiere, und ein zweites Mal, um ihnen Rückmeldung zu geben über die Erkenntnisse, die ich gewinnen konnte nach der Interpretation ihres Textes, um danach mit ihnen in einen Austausch zu gehen.
Praxistipp ,, Eine Transkription und eine Interpretation erfordern ungemein viel Zeit. Meine Erfahrung ist, dass es reicht, zwei bis drei Interviews in dieser Ausführlichkeit zu interpretieren. Im Anschluss daran genügt es auf Basis der Übung und Erfahrung, durchgeführte Interviews sich möglichst zeitnah nach dem Gespräch anzuhören (dann weiß man noch, wo es Längen gibt, die man auslassen kann), um stichwortartige Bemerkungen zu den bemerkbaren Orientierungen zu machen. Im Folgenden gebe ich Ausschnitte aus dem Interview wieder, einschließlich meiner im Anschluss gemachten Interpretation. Während des Paargesprächs gibt es zwischen Nina und Robert eine spürbare Spannung, die darin besteht, dass Robert sich nicht an ihre Konflikte als Paar erinnern möchte, sich vielleicht auch wirklich nicht erinnert und deshalb darüber auch nicht viel sprechen möchte. Nina Fallgeschichte 2a: Versöhnung vor dem Sterben
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Während des Paargespräches gibt es zwischen Nina und Robert eine spürbare Spannung, die darin besteht, dass Robert sich nicht an ihre Konflikte als Paar erinnern möchte, sich vielleicht auch wirklichdrängt nicht erinnert unddarüber deshalb darüber auch nicht viel sprechen möchte.wird Nina hingegen darauf, zu sprechen. Dieser Unterschied
hingegen drängt darauf, darüber zu sprechen. Dieser Unterschied wird in der nächsten
in der nächsten Passage deutlich.
Passage deutlich.
Robert: ich habe sicher die Problematik nicht so empfunden, wie du, und da waren ja nicht nur wir zwei, da war ja noch die Familie mit den Kindern und die Bindung an die Familie und das zusammenbleiben mit den Kindern, alles das ist ja so dominant und so wichtig, das kann man nicht. Nina:
Ja, aber das ist nicht unsere Ehe
Robert: nein, aber das gehört ja dazu, nich, deswegen also die eh die Verbindung würde ja von mir niemals aufgelöst worden, niemals, der Gedanke wäre ja niemals gekommen, ich hatte eine Freundin, die heute noch meine Freundin und eh, aber (5):, aber ich bin ja nicht eh rumgesprungen als ich unterwegs war, das hat überhaupt nicht, es geht um eine Situation, die bei mir tiefer ging mit, aber wie gesagt, die Familie war viel wichtiger, das alles, was wir gemeinsam uns erarbeitet haben und die Situation mit den Kindern ist ja sowas Wunderbares ,denn das Verhältnis ist ja immer sehr sehr gut gewesen mit den Kindern, bis heute auch (Nina/Robert, Z.318-330)
Robert bezieht sich hier, wie in vielen Passagen zuvor, auf die Bindungsqualität der Familie. Wie stark diese Bindung ist, sieht man an der dreifachen unterschiedlichen Nennung von Familienbeziehung: »da war ja noch die Familie mit den Kindern und die Bindung an die Familie und das Zusammenbleiben mit den Kindern« (Z. 319/320), die wie eine Beschwörungsformel wirkt und gleichzeitig auf den geringeren Stellenwert hindeutet, die die Zweierbeziehung für ihn hat. Innerhalb der Familie differenziert er nicht zwischen dem System der Familie und dem Subsystem Ehe. Nähe zu einer Frau entwickelt er außerhalb der Familie, hier differenziert er deutlich zwischen sexuellen Affären und einer tiefen Verbindung zu einer Frau. Nina hingegen macht auf die Differenz von Familie und Ehe aufmerksam und fordert wie an anderen Textstellen, das Verhältnis von Mann und Frau unabhängig vom System der Familie in den Blick zu nehmen. Dieser Ausschnitt des Interviews zeigt in einem divergenten Diskurs, dass ihre Orientierungen nicht zueinander passen. Seine Orientierung an Familie und ihre Orientierung an Ehe stellen eine Rahmeninkongruenz dar. Auch hinsichtlich ihrer Außenbeziehungen haben sie unterschiedliche Orientierungen. Eine tiefe Beziehung zu einer Frau, die er nicht sexuell begründet, findet Robert außerhalb der Ehe. Ninas Außenbeziehungen bleiben Episoden, da sie mit dem Mann, mit dem sie eine Mann-Frau-Beziehung führt, auch verheiratet sein möchte, die Männer aber keine Familiengründung eingehen wollten. 86
Therapie und Dokumentarische Methode
begründet, findet Robert außerhalb der Ehe, während Ninas Außenbeziehungen Episoden bleiben, da sie mit dem Mann, mit dem sie eine Mann-Frau-Beziehung führt, auch verheiratet sein möchte, die Männer aber keine Familiengründung eingehen wollen.
Robert: Ich habe ja auch mit internationalen Designern zusammengearbeitet, insofern war das für das Familienleben, das Familienleben, war das schon ne schwierige Situation, nich. Nina:
Dann haben sich auch mal ne Frau und noch ne Frau eingeschlichen in die Ehe, ja und das hat mir den Boden unter den Füßen richtig weggezogen.//mmh//: Also wirklich.//mmh, das war einfach durch diese Kontakte?//: Ja natürlich └Ja.
Robert: Nina:
└Ja, das müssen wir doch auch erwähnen?
Robert:
└Gute Freunde gehabt und haben sich dann auch Verführungen ergeben und das hat dann also auch. (3):für uns beide,: nich
Nina:
└Ja, das war für mich sehr schwierig, ja, denn ich war ja, also ich (.):hab auch jemand kennen-gelernt, der jünger war, ein Rechtsanwalt aus M., er hätte mich geheiratet, aber nicht mit vier Kindern nich @(.)@ Das kam natürlich nicht in Frage. Ne. //Ne//: War nicht daran zu denken.
(Nina/Robert, Z. 233-247)
Roberts Erklärungstheorie für ihre Krise ist in den äußeren Umständen seiner beruflichen Situation begründet: Da er viel auf Reisen war, hat er außerhalb der Familie Freundschaften geschlossen, wodurch sich »Verführungen ergeben« (Z. 242). In seiner Situationsbeschreibung von damals wird seine vermeintlich passive Rolle in Affären deutlich, sie waren ein selbstverständlicher immanenter Teil seines Berufes und hatten – so seine Beschreibung – nichts mit seiner Ehe oder Problemen in der Ehe zu tun. In der nächsten Passage wird die Rahmeninkongruenz der Orientierungen von Nina und Robert in vielfältigster Weise deutlich. Auch hier geht Robert wieder auf die äußere, formale Seite ihrer Problematik ein, indem er auf »Spielregeln« verweist. Nina hingegen orientiert sich in ihrer Beschreibung der Eheproblematik an inneren Haltungen: an dem mangelnden Respekt, den sie ihm gegenüber empfindet, und an der mangelnden Wichtigkeit, die sie aufgrund ihrer Erziehung sich selbst gegenüber, auch in ihrer Ehe, empfindet. Ihr Selbstmordversuch deutet auf ein Spannungsverhältnis in ihrer Haltung hin: Einerseits nimmt sie sich nicht wichtig, andererseits fehlt ihr, dass sie nicht wichtig genommen wird, was sie auch als den Auslöser für ihren Selbstmordversuch beschreibt. Gleichzeitig scheint sich das Muster von Sich-nicht-wichtig-Nehmen und der Sehnsucht nach Wichtig-genommen-werden-Wollen zu perpetuieren, da Robert diese Selbstmordgeschichte anscheinend nie geglaubt hat (»du hast mir nie geglaubt …«, Z. 463). Fallgeschichte 2a: Versöhnung vor dem Sterben
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Seite ihrer Problematik, indem er auf „Spielregeln“ verweist. Nina hingegen orientiert sich in ihrer Beschreibung ihrer Eheproblematik an inneren Haltungen. An dem mangelnden Respekt, den sie ihm gegenüber empfindet und an der mangelnden Wichtigkeit, die sie aufgrund ihrer Erziehung sich selbst gegenüber, auch in ihrer Ehe, empfindet. Ihr Selbst-mordversuch deutet auf ein Spannungsverhältnis in ihrer Haltung hin: einerseits nimmt in sieihren sich nicht wichtig, Eine labile und vordergründige Übereinstimmung Orientieandererseits fehlt ihr, dass sie nicht wichtig genommen wird, was sie auch als den Auslöser
rungen finden sie in der preußischen konservativen Erziehung, die sie beide als Erklärung für das Festhalten an ihrer Ehe angeben (»nicht, wichtig-nehmen’ und der Sehnsucht nach ‚Wichtig-genommen-werden-wollen‘ zu dass man alles ernster nimmt und nicht so überreagiert und alles hinperpetuieren, da Robert diese Selbstmordgeschichte anscheinend nie geglaubt hat („du hast schmeißt«, »sicher« Z. 479/480). mir nie geglaubt…“, Z.463). Nina stimmt Robert zwar zu, geht aber – nach meiner Nachfrage, Eine labile und vordergründige Übereinstimmung in ihren Orientierungen finden sie in der ob das für sie anders sei – in ihrer ambivalenten Haltung bezüglich des preußischen ‚konservativen‘ Erziehung, die sie beide als Erklärung für das Festhalten an ihrer Wichtig-Nehmens eindeutig die negative benennt Ehe angeben („nicht, dass man allesauf ernster nimmt und Seite nicht sound überreagiert undden alles Punkt ihrer „sicher“ Ehekrise genau: Sie wurde in allen Rollen wahrgenommen, hinschmeißt“, Z. 479/480). aberstimmt nichtRobert in der Rolle deraber, Ehefrau. Robert sieht ob das Anteil Nina zwar zu, geht nach meiner Nachfrage, dasnicht für sie als anders sei, in ihrer Eheproblematik, sondern verweist wieder auf den äußeren ihrer ambivalenten Haltung bezüglich des ‚wichtig-Nehmens‘ eindeutig auf die negativeRahSeite men, nämlich die ihrer Bedingungen seines Berufs, ihnwahrgenommen, zwangen, weg und benennt den Punkt Ehekrise genau: sie wurde in allendie Rollen aber nicht in der Rolle der Ehefrau. Robert sieht das nicht als Anteil ihrer Eheproblematik, sondern von der Familie zu sein (»mein Lebenswandel …«, Z. 496). für ihren Selbstmordversuch beschreibt. Gleichzeitig scheint sich das Muster von ‚Sich–nicht–
verweist wieder auf den äußeren Rahmen, nämlich die Bedingungen seines Berufs, die ihn zwangen, weg von der Familie zu sein („mein Lebenswandel…“, Z.496).
Robert: Du auf der einen Seite, ich mit meinem Problem auf der anderen Seite, das war doch alles, das war doch niemals war, sind da Spielregeln (5): fallen, die wir sonst erfüllen. Nina:
Ja, es geht ja nicht um die Spielregeln, sondern ich hab da, ich hab da keinen Respekt mehr dir gegenüber empfunden als die Krise aktuell war, nein das hab ich nicht, du weißt auch weshalb und was es fast ausgelöst hätte, ja(2):
Robert: ((atmet schwer aus)): Nina:
das hast du mir nie geglaubt, dass ich im Keller da war mit dem Teppichmesser und und ich wollt einfach nicht mehr//mmh,mmh//: das hast du mir nie geglaubt und das war aber so und eh, ich hab noch am Gulli gesessen und gedacht, so, ne, wen die Kinder mich finden so, dass eh, dass eh werden sie ihr Leben lang nicht vergessen und das war die Rettung, ab da gings denn, da hab ich, auch, das sich Wichtig nehmen das war bei mir ein großer Punkt, ich weiß von zuhause, ich bin sehr preußisch erzogen worden, es hieß immer, nimm dich nicht so wichtig und das war in unserer Ehe auch noch so, eh
Robert: ja gut, so waren wir beide, konservativ gelebt: └Na ja
Nina:
└so wie das im vorigen Jahr-
Robert: hundert war └ja, sicher, aber
Nina: Robert:
└in gewisser Weise war das auch nicht nur negativ zu beurteilen, sondern hatte auch was für sich └sicher
Nina:
Robert: Nicht, dass man alles ernster nimmt und nicht so überreagiert und alles hinschmeißt. Nina:
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Das war ja auch mmh
Robert: Die Kinder, die aneinander und an dem zuhause hier und in Italien und ich meine alles war so, da das was des in in solchen Gefahren auszusetzen, der Anlass war ja Therapie und Dokumentarische Methode wirklich Nina: Robert: Y:
└Nein └war ja nie gegeben Das war für sie anders?
└sicher
Nina:
Robert: Nicht, dass man alles ernster nimmt und nicht so überreagiert und alles hinschmeißt. Nina:
Das war ja auch mmh
Robert: Die Kinder, die aneinander und an dem zuhause hier und in Italien und ich meine alles war so, da das was des in in solchen Gefahren auszusetzen, der Anlass war ja wirklich Nina:
└Nein └war ja nie gegeben
Robert: Y:
Das war für sie anders?
Nina:
Das war für mich absolut anders, weil ich ja jahrelang, viele, viele , viele Jahre lang nur Mutter und Haushälterin und keine Ehefrau mehr └das hat aber nichts mit der, der
Robert: Nina:
└doch : └mit der Problematik und mit der eh
Robert:
└doch
Nina:
└und unserer Beziehung zu tun
Robert: Nina:
└doch, aber doch
Robert: ((seufzt)): mein Lebenswandel war durch die durch die Situation , die beruflich war, ich war ein Reisender, ich musste unterwegs sein, nicht und Tag und Nachts arbeiten und Nachts Autofahren nich um am nächsten Tag da zu sein und alle diese Probleme, nein Nina:
nein, ich fühlte mich nicht gesehen, eine ganze Zeitlang └ach((seufzt)):, ach Nina
Robert: Nina:
Ja, es war so. und das ist anonym und deshalb kann ich es sagen. @(.)@://mmh//: und das war mir zu wenig.
(Nina/Robert, Z. 456-503)
Die nächste Passage zeigt erneut die unterschiedlichen Orientierungsrahmen von Nina und Robert. Nina bezieht sich in ihren inneren Bildern auf eine Zweierbeziehung, während Robert sich auf die Familie als Ganzes bezieht. Y:
Ja. Wie haben sie das überwunden, diese Krisen ? Was hat sie wieder zusammengeführt?
Robert: Mein Gott, ja natürlich die Familie, die Kinder, das war ja ganz klar und alles was wir hier gemeinsam aufgebaut haben, ist ja └°das war ein Grund, ja°
Nina:
Robert: Eh, dies war zu keiner zu keiner Sekunde war der Gedanke, daß ich mich anderweitig binden würde zu Lasten der Familie, das wär also völlig unmöglich gewesen. Nina:
Aber es war auch keine Nähe in der Zeit, und auch lange Zeit danach nicht.
Robert: ((stöhnt)): Nina:
Und dann war es auch noch so, dass ich dann in der Toscana eine Liebe gefunden hab, die mir den Rücken gestärkt hat, der war sehr viel älter als ich und das war sehr wohltuend. Der hätte mich auch @geheiratet@:, aber das war damals auch zu der Zeit als du aufgehört hast, als du sechzig warst und das hätte ich nicht gemacht, die Familie und dich alleine gelassen
Y:
Fallgeschichte Da waren die Kinder aber aus dem Haus?2a:
Nina:
Ja, ja trotzdem, des ist ein zu starker Eingriff gewesen und da haben wir beschlossen, dass es wieder von vorne anfängt und dass wir zusammen bleiben wollen, ich hab mir noch ein bisschen Zeit ausbedungen und
Versöhnung vor dem Sterben
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Nina:
Aber es war auch keine Nähe in der Zeit, und auch lange Zeit danach nicht.
Robert: ((stöhnt)): Nina:
Und dann war es auch noch so, dass ich dann in der Toscana eine Liebe gefunden hab, die mir den Rücken gestärkt hat, der war sehr viel älter als ich und das war sehr wohltuend. Der hätte mich auch @geheiratet@:, aber das war damals auch zu der Zeit als du aufgehört hast, als du sechzig warst und das hätte ich nicht gemacht, die Familie und dich alleine gelassen
Y:
Da waren die Kinder aber aus dem Haus?
Nina:
Ja, ja trotzdem, des ist ein zu starker Eingriff gewesen und da haben wir beschlossen, dass es wieder von vorne anfängt und dass wir zusammen bleiben wollen, ich hab mir noch ein bisschen Zeit ausbedungen und
Y:
weil sie doch noch am überlegen waren?
Nina:
Ne, daß war schon beschlossen, aber ehm ((stöhnt)): aber ich brauchte Orientierung einfach, //mmh//: ja als die Kinder dann aus dem Haus waren da musste ich ja auch ein bisschen überlegen, was mach ich jetzt alles und denn hat sich ergeben, dass ich erst mal, ich hab mich immer am meisten für Menschen interessiert und wäre auch gerne Ärztin geworden, aber denn wär alles anders geworden,//ja//: @ (.)@: eh ja, denn hab ich erst mal Türkenkinder Sprachhilfe gemacht für die und die Schularbeiten beaufsichtigt und auch geübt mit ihnen und später auch mal Diktate mit ihnen gemacht, wos nötig war. Die eine hat sogar das Physikum gemacht nach dem Abitur, ich hab sie sehr lange begleitet, ja, des war ne Türkin.
(Nina/Robert, Z. 248-277)
❖❖ Therapeutische Zwischenüberlegungen: Nähe und Distanz Zwischen Nina und Robert gibt es eine Übereinstimmung (Rahmenkongruenz) in Bezug auf das System Familie. Beiden ist die Familie so wichtig, dass sie sie nicht auflösen wollen. Robert bezieht sich auf die Familie und ihren Fortbestand, wohingegen Nina mit »zusammenbleiben« (Z. 265), wie der Kontext zeigt, die »Nähe« (Z. 256) meint. Ihr Neuanfang besteht darin, sich wieder nahe sein zu wollen bzw. Nähe zuzulassen. Damit erklären sich auch ihre Ausführungen in den Zeilen 260/261: Nina braucht Zeit, um diese Nähe realisieren zu können. Im Unterschied zu Robert kann sie sich die Realisierung einer nahen Beziehung ohne Ehe nicht vorstellen. Das Muster der schwierigen Aushandlung von angemessener Nähe ist wahrscheinlich das häufigste Thema in Liebesbeziehungen. Für einen der Partner ist die vorhandene Nähe durchaus ausreichend und muss auch nicht ständig exklusiv mit dem Partner allein erlebt werden, sondern kann auch im familialen Kontext erlebt werden. Für den anderen Partner hingegen ist die Voranstellung der Ehe vor das System der Familie sehr wichtig, und die Kategorie Nähe bezieht sich vor allem auf die Nähe zwischen den Liebespartnern. Auch wenn Nina und Robert wegen ihrer preußischen Erziehung zusammenbleiben werden, besteht die Gefahr in ihrer Beziehung wie 90
Therapie und Dokumentarische Methode
in so vielen anderen Beziehungen, dass sie sich beim Thema Nähe in eine zunehmende Verengung begeben. Die Aufgabe von Therapie ist es, hier durch passende Erzählstimuli für eine Erweiterung der Wahrnehmung zu sorgen. Y:
Und wie war so ein beschlossener Neuanfang?
Nina:
Ja, da musste auch erst mal eh Vertrauen eh, wolln mal sagen (5): erarbeitet werden//mmh//:nich und sehr vorsichtig (2): wieder, ja, weil , sehr vorsichtig wieder was zusammen zu machen, was vorher gar nicht
Robert: Zweifellos, ja Nina:
Theater und so was haben wir immer gemacht und Konzerte aber └Ja.:
Robert:
└das hätte
Nina: man mit guten Freunden auch machen können ja Robert: Ja, den Schnitt haben wir natürlich nicht gemacht, der Kinder wegen Nina:
Ne, die haben viel mehr gemerkt └Nich
Robert: Nina:
└Ja, ja, des haben sie uns erst hinterher gesagt, warum hat ihr euch eigentlich nicht getrennt und so, ja, ich glaube nicht, das es Feigheit von mir war, ich wollte auch das Bestehende festhalten, gerade auch weil ich eben auch Flüchtling war und alles, meinen Vater früh verloren hab, im Krieg schon, der ist auch nicht sehr alt geworden, der war sehr krank und des , ja
(Nina/Robert, Z. 291-307)
Nina bleibt auf meine Frage nach dem Neuanfang im Vagen, spricht von vorsichtigem Erarbeiten von Vertrauen, ohne genauer darauf einzugehen. Mit dem Hinweis auf kulturelle Unternehmungen, die man auch mit Freunden hätte machen können, deutet sie implizit an, dass sie eine Vorstellung von etwas hat, das sich in intimeren Rahmen vollzieht. Überraschend kommt Robert auf das Thema einer möglichen Trennung zurück und führt damit wiederum weg von der genaueren Ausgestaltung von Nähe in der Beziehung zu seiner Frau. Nina geht auf sein Thema ein, indem auch sie reflektiert, warum sie sich nicht getrennt haben, eine Frage, die auch die Kinder gestellt haben. Bestandteil ihrer Orientierung ist ihre Vergangenheit als Flüchtlingskind, das den Vater früh verloren hat. Sie möchte das »Bestehende festhalten« (Z. 305). Insofern besteht eine gemeinsame Orientierung bezüglich der Frage, ob sie zusammenbleiben oder nicht, aber nicht hinsichtlich des Wesentlichen in ihrer Beziehung. Danach beginnt Nina über die Ausgestaltung ihrer Beziehung nach der Krise zu sprechen. Nina erarbeitet sich ihr Terrain in einer neuen Fallgeschichte 2a: Versöhnung vor dem Sterben
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professionellen Ausrichtung, damit lässt sie Robert Raum, was dazu führt, dass er sie wahrnimmt und schätzt. Die Frau, die auch in ihrer Beziehung die Beziehungsarbeit alleine leistet (da der Mann die Ausdifferenzierung der Paarbeziehung aus der Familie gar nicht wahrnimmt bzw. anerkennt), tut dies nun auch professionell (zur Erklärung: sie arbeitet seit ihrem gemeinsam beschlossenen Neubeginn in der Telefonseelsorge). Damit wird die bisherige Funktion von Nina von außen gestärkt; Robert ist als Adressat von Beziehungsarbeit entlastet und kann dadurch Nina mit neuen Augen sehen. Y:
was würden sie sagen, wie hat das ihre Zweisamkeit verändert? Dass ihre Frau so neue Wege gegangen ist ?
Robert: das war total ideal .total ideal, weil das hat, weil wir nicht so aufeinander, so aufeinander hockten so └Abstand kriegten.
Nina:
Robert: Also sehr sehr gut, ich kenn ja auch viele Leute, also einige Leute aus diesem Milieu ,also ich freu mich darüber, daß Nina so ein interessantes Leben auf der einen Seite hat ,trotzdem gerne zuhause ist, trotzdem zweimal im Jahr fahren wir für vier Wochen nach Italien in unser Haus und das ist so eine tolle Mischung, nein, ich bin da richtig froh, dass sie, also, wenn sie da nur hier gesessen hätte und irgendwelche Anzeigen entworfen hätte oder so für ((atmet schwer)):nein, das ist jetzt eine ganz neue Welt, in der du da jetzt verschwunden bist. Nina:
@nicht verschwunden@:
Robert: Na, mein Gott für mich verschwunden, ich hör mal ab, und Einige kenne ich natürlich auch └mmh , mmh
Nina: Robert:
└und du erzählst ja auch manches, ich find das also ganz toll, dass sie so ein Wirkungsfeld gefunden hat, da profitiere ich ganz stark davon nicht.
Y:
Inwiefern?
Robert: Ja Ja ich bin Hausmann inzwischen, ich bin gern zuhause, ich habe sehr wenig Kontakte nach außen, nachdem ich meinen Beruf aufgegeben habe dann, dann habe ich nicht nach Freundschaften gesucht, weil ich bin weitgehend hier zuhause, so und draußen in der Natur. Nina:
Ein bisschen Einsiedler.
Robert: Mit Italien mit dem Aufbau wir haben in Italien ja uns nicht in ein fertiges Nest gesetzt sondern ein altes Bauernhaus gekauft, was dann mit Leben erfüllt werden musste und alles gemacht Nina:
└Überhaupt erst mal ausgebeint und alles
Robert: Also das war dann auch für mich eine ganz tolle Zeit, nein, das wir heute so gut miteinander umgehen können, mindestens so gut wie als junge Leute, das hängst sehr stark damit zusammen, dass wir, dass Nina sich verselbständigt hat und, ich weiß das nicht im Detail, aber so ein bisschen kriege ich ja davon mit und unwahrscheinlich nette Bereicherung von Leuten, die man damit kennengelernt hat, Nina hat ja immer wieder hier auch Einladungen gemacht, nein, das war eigentlich eine Entwicklung, die man nicht hätte besser planen können, sage ich so im Nachhinein //mmh,mmh//: und
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Therapie372-407) und Dokumentarische (Nina/Robert
Methode
Robert: Also das war dann auch für mich eine ganz tolle Zeit, nein, das wir heute so gut miteinander umgehen können, mindestens so gut wie als junge Leute, das hängst sehr stark damit zusammen, dass wir, dass Nina sich verselbständigt hat und, ich weiß das nicht im Detail, aber so ein bisschen kriege ich ja davon mit und unwahrscheinlich nette Bereicherung von Leuten, die man damit kennengelernt hat, Nina hat ja immer wieder hier auch Einladungen gemacht, nein, das war eigentlich eine Entwicklung, die man nicht hätte besser planen können, sage ich so im Nachhinein //mmh,mmh//: und (Nina/Robert 372-407)
Die Veränderung ihrer Handlungspraxis zeigt sich darin, dass die Distanz, die sie in ihren Krisenjahren gelebt haben, nur einseitig von Robert auch so gewollt war. Er war beruflich viel unterwegs, wobei sich »Verführungen« ergaben; Nähe hat er als Familienpatriarch gesucht und zugelassen, nicht aber in der Partnerschaft. Nina hingegen war während ihrer Ehe ständig auf der Suche nach einer gemeinsamen Orientierung hin zu einer Partnerbeziehung, die sich in ihrer Qualität von Nähe von der Nähe innerhalb der Familie unterscheidet. Auch in der Phase nach ihrer Krise haben sie keine Rahmenkongruenz in Bezug zu ihrer Partnerschaft. Roberts Orientierungsrahmen zeigt weiterhin Distanzierungsaspekte: »das war total ideal. Total ideal, weil das hat, weil wir nicht so aufeinander, so aufeinander hockten so« (Z. 374/375), »eine ganz neue Welt, in der du da jetzt verschwunden bist« (Z. 383). Er bezeichnet sich selbst als »Hausmann« (Z. 391) der wenig Kontakt nach außen hat und seinen Habitus der Distanz jetzt auch zu seiner Umwelt pflegt: »ein bisschen Einsiedler« (Z.395). Im Unterschied zu ihrer krisenhaften Zeit validiert Nina nun Roberts Distanzierungsverhalten: »Abstand kriegten.« (Z. 376), was ein Hinweis dafür ist, dass sie durch ihre neue Tätigkeit und damit neue Rolle so zufrieden ist, dass sie den Zustand ihrer Ehe akzeptieren kann. Zumal sie von ihrem Mann jetzt die Resonanz bekommt, die sie sich ersehnt hat: »und du erzählst ja auch manches, ich find das also ganz toll, dass sie so ein Wirkungsfeld gefunden hat, da profitiere ich ganz stark davon nicht« (Z. 388/389). Robert stellt eine Verknüpfung her zwischen ihrem neuen Wirkungsfeld und ihrer guten Beziehung: »Also das war dann auch für mich eine ganz tolle Zeit, nein, das wir heute so gut miteinander umgehen können, mindestens so gut wie als junge Leute, das hängst sehr stark damit zusammen, dass wir, dass Nina sich verselbstständigt hat« (Z. 400–402).
Fallgeschichte 2a: Versöhnung vor dem Sterben
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Praxistipp ,, Hier wird sehr deutlich, dass es mehrere Erzählstimuli durch den Therapeuten, die Therapeutin braucht, da sich die Muster zwischen den Partnern sehr verfestigt haben. Aus meiner Erfahrung heraus lohnt es sich, hier immer wieder neu anzusetzen, bis das Paar allmählich anfängt, sich anders zu erinnern und andere Geschichten über sich erzählt oder alte Geschichten mit neuen Aspekten versieht. Dies führt häufig zu einer neuen Sicht zwischen den Partnern. Beschreibung der habituellen Resilienzmuster des Paares Nina und Robert Ninas und Roberts Differenzen und Konflikte entstehen durch ihre unterschiedlichen Erwartungen an eine Partnerschaft. Für Robert ist die Partnerschaft im System der Familie subsumiert und bedeutet für ihn gesamthafte familiäre, emotionale Bindung, die eine Trennung ausschließt. Nina sucht Nähe und Intimität in der Paarbeziehung mit Robert und möchte unabhängig von ihrer Rolle als Mutter stärker als (Liebes-)Partnerin wahrgenommen werden. Im Unterschied dazu gibt es bei Nina und Robert eine Rahmenkongruenz in Bezug auf das System Familie. Beiden ist die Familie so wichtig, dass sie sie nicht auflösen wollen. Eine der Übereinstimmung in ihren Orientierungen finden sie in der preußischen konservativen Erziehung, die sie beide als Erklärung für das Festhalten an ihrer Ehe angeben (»nicht, dass man alles ernster nimmt und nicht so überreagiert und alles hinschmeißt«, »sicher« (Z. 478–480). Bei Nina führt zudem ihre Erfahrung als Flüchtlingskind dazu, die familiäre Bindung – und darin inkludiert die partnerschaftliche Beziehung – nicht aufzulösen. Theoretisch gesprochen gibt es zwischen Nina und Robert eine Spannung zwischen ihrem Orientierungsschema (den Normen, Erwartungen) und ihrem Habitus (der Art und Weise, wie sie zusammen ihr Leben in den vielschichtigen Facetten gestalten). Ihre übereinstimmende Orientierung, die aus einer Erziehung in derselben Zeit resultiert, heißt auf einen Punkt gebracht: Wir bleiben zusammen! Diese Grundüberzeugung dominiert immer wieder auftauchende Überlegungen, die Ehe zu beenden. Dadurch schafft es das Paar, einen neuen, 94
Therapie und Dokumentarische Methode
gemeinsamen Orientierungsrahmen herzustellen, der erstens eine neue Rollenverteilung zwischen Mann und Frau ermöglicht – er ist der Hausmann, sie geht in den Außenraum und arbeitet – und der zweitens, vielleicht noch elementarer, eine neue integrierte Form von Nähe als Paar im Familienverband ermöglicht. Das früher vorhandene Muster »Paarbeziehung versus Familie« ist relativiert und in der ursprünglichen Schärfe lebbar gemildert.
5.3 Fallgeschichte 2b: Unterschiedliche Wahrnehmungen In einer vorrangig sprachorientierten Forschung blieb der Umstand, dass sich Erinnerungen vor allem bildhaft in unserem Gedächtnis verankern, lange unbemerkt bzw. unberücksichtigt. Sprachliche Kommunikationseinheiten verknüpfen sich im Gedächtnis mit Bildern und werden deshalb oft in Form von Metaphern ausgedrückt. »Dies gilt insbesondere in der Hinsicht, dass soziale Situationen oder Szenerien in Form von mentalen Bildern gelernt werden, dass sie u. a. im Medium des Bildes erinnert werden, in wesentlicher Hinsicht bildhaft im Gedächtnis sedimentiert sind« (Bohnsack 2009, S. 28). Damit wird auch verständlich, dass sich wichtige Ereignisse und Situationen, von denen auch Fotos existieren, als Erinnerungen über das Foto einprägen. Der Alltagsgebrauch, ein Bild des Partners im Büro auf dem Schreibtisch, im Geldbeutel oder auf dem Nachttisch, also in ständiger und unmittelbarer Nähe zu haben, ist weit verbreitet. Das Betrachten der Fotos ist durch die Erinnerung an eine Person oder eine Situation eine »bildhafte Verständigung« (Bohnsack 2009, S. 29), in diesem Fall mit sich selbst. Auf die Idee, mit Fotos zu arbeiten, wurde ich durch meine Klient*innen gebracht, wie z. B. Nina und Robert, die in ihre Sitzung die beiden hier abgebildeten Fotos mitbrachten. Das erste Foto ist nach ihren Erzählungen ein Foto aus der Zeit der Krise, das zweite aus der Zeit danach.
Fallgeschichte 2b: Unterschiedliche Wahrnehmungen
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Abbildung 1: Bild aus der Zeit der Krise
Die nach rechts unten verlaufende Linie des Fensterrahmens gibt dem Betrachter, der Betrachterin das Gefühl eines schwankenden Raums, wie es in einem Boot oder Schiff sein könnte; verstärkt wird dieser Eindruck durch die dazu gegenläufige Linie des nach schräg unten links verlaufenden Arms des Mannes. Insgesamt entstehen dadurch Assoziationen von schwankendem Boden oder sinkendem Schiff. Die Körpermittelachse der Frau bzw. ihres Kopfes verläuft parallel zu dem nach rechts abstürzenden Fensterbalken. Dies vermittelt den nachhaltigen Eindruck eines Absturzes, eines Verlustes des Gleichgewichts und der Orientierung. Diese Orientierungslosigkeit wird verstärkt durch: –– den Blick bzw. den Augenausdruck der Frau, der ins Leere gerichtet ist; sie hat offensichtlich keinen Orientierungspunkt und nimmt nicht am Geschehen um sie herum teil. –– durch die Art der Bewegung des Trinkens bzw. der Art und Weise, wie sie das Glas hält: Auch hier ist keine koordinierte und zielorientierte Bewegung erkennbar, da das Glas zwar in einer Höhe gehalten wird, die ein Trinken nahelegt, zugleich aber diese Handlung nicht wirklich mit der dazugehörenden Mimik und den entsprechenden Gebärden ausgeführt wird. Der Versuch des Mannes, diesen Absturz aufzufangen, lässt sich folgendermaßen rekonstruieren: –– Seine klar senkrechte Körpermittelachse wirkt wie ein Auffangen und Dagegenhalten. Das Foto ist in einer Schrägperspektive auf96
Therapie und Dokumentarische Methode
genommen bzw. (sogar wahrscheinlicher) so beschnitten worden, dass die Fensterkreuze schräg zur Bildunter- und Seitenkante verlaufen; dies verstärkt die aufrechte Position und die Bemühung des Mannes. –– Mimisch zeigt er einen Anflug von Amüsement oder Zärtlichkeit. Die Zuwendung erhält dadurch etwas Väterliches, eine Zuwendung, wie sie auch einem Kind gelten könnte. Mit dieser distanzierten Mimik und seiner Körperhaltung sowie seiner Gestik, sie mit dem rechten Arm zu halten, signalisiert er einen patriarchalischen Habitus, der die Orientierungslosigkeit seiner Frau kontrollieren kann.
❖❖ Therapeutische Zwischenüberlegungen: Zuwendung und Autonomie Damit zeigt das Bild als Ganzes mehrere gegensätzliche Verhältnisse: von Annäherung und Distanzierung, von Zuwendung und Kontrolle und von Absturz und Stabilisierung auf der Handlungsebene und ein ebenso gegensätzliches Verhältnis auf der Stimmungsebene von Sehnsucht und Resignation. Durch die Metaphorik der Kleidung, jeder für sich in seinem warmen Mantel – obwohl sie sich in einem Innenraum befinden – entsteht die Idee von »Schutz«, den jeder für sich selbst herstellt. Hiermit wird der Eindruck erweckt, dass man auf die Wärme des Anderen nicht angewiesen ist. Dieser Eindruck kann trotz des Armes des Mannes um seine Frau nicht widerlegt werden, sondern verstärkt die Interpretation der Vergeblichkeit der Annäherung. Die betrachtende und körperliche Zuwendung von Robert lädt zu einer doppelten Lesart ein: Er zeigt in der Szenerie ausschließlich Interesse an seiner Frau, sein Lächeln lässt sich als zärtlich-amüsiert beschreiben, damit entsteht in Bezug auf seine Schutzgeste eine Gegensätzlichkeit von Nähe und Distanz. Nina erwidert seinen Blick nicht, sondern schaut auf einen Punkt vor ihr – auch vorbei an der Bildbetrachterin, am Bildbetrachter. Durch ihr Vorbeischauen und durch die Anordnung eines Vakuums im Bildfokus entsteht der Eindruck von Leere. Robert nimmt seine Frau mit seinem Arm beschützend unter seine Fittiche, während sie sich durch ihren Blick‚in die Weite an einen anderen Ort begibt. Fallgeschichte 2b: Unterschiedliche Wahrnehmungen
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Abbildung 2: Bild nach der Krise
Die Anordnung der Verbindungslinien der Köpfe und der Verbindungslinie der Arme, die in einem 45 °-Winkel zueinander stehen und mit diesem Dreieck den Bildmittelpunkt, nämlich die Baumkrone und die rechte Schulter des Mannes einrahmen, inszeniert hier eine romantische Aufstellung: Es wird eine direkte Verbindung von intakter, blühender Natur und dem Blühen des Paares und der Stärke des Mannes hergestellt. Der gesamte Bildhintergrund wird von blühenden Zweigen ausgefüllt, ohne dass Begrenzungen des Baumes gezeigt werden. Dies nährt die Unendlichkeitsillusion des Blühens. Auch die helle Oberbekleidung des Paares, weiß und beige, greift den Stil von Hochzeitsfotos auf. Da es sich um ein älteres Paar handelt, das an diesem Tag genau 50 Jahre verheiratet ist, wird hier das Neuerblühen der Liebe oder das Immer-noch-Blühen der Liebe inszeniert. Die Gleichausrichtung der Körper vermittelt Harmonie und Übereinstimmung. Die Frau wirkt durch ihr Strahlen und den leicht nach oben geneigten Kopf dynamischer, bewegt sich aber in dem vom Mann abgeschirmten Bereich. Obwohl die Umwelt ausgesprochen freundlich wirkt, schirmt der Mann die Frau nach außen ab und bewahrt sie auch hier vor einem Absturz (hier vom Balkon). 98
Therapie und Dokumentarische Methode
Das Paar positioniert sich in einer in sich ruhenden und äußerst koordinierten Bewegung. Diese Harmonie entsteht kompositorisch durch die Koordination der nach links geneigten Köpfe und durch die nicht nur gleichgerichteten, sondern sozusagen zusammenlaufenden Arme, die nach vorne – in Gehrichtung – weisen. Damit zeigt das Bild ein übergegensätzliches Verhältnis von Freiraum und Schutz. Robert zeigt in beiden Bildern eine beschützende Haltung gegenüber seiner Frau, indem er sie nach außen hin abschirmt und vor dem Absturz bewahrt. In Relation zu seiner Frau nimmt er in beiden Bildern eine distanzierte, in gewisser Weise beobachtende Haltung ein – jeweils Elemente einer patriarchalischen Haltung. Der wesentliche Unterschied vom Bild in der Krise zum Bild nach der Krise besteht in der ausgeprägten Koordination der Körperhaltungen von Robert und Nina, in einer Gleichgerichtetheit einer gemeinsam nach vorne strebenden Bewegung im Bild nach der Krise im Unterschied zu einer gegenläufigen Haltung im Bild während der Krise.
Praxistipp ,, Diese Form des Arbeitens mit Paaren bereitet allen Beteiligten viel Freude. Ich bitte die Paare gemeinsam in ihrem Fotofundus zu schauen, ob sie ein Foto finden aus einer krisenhaften Zeit sowie aus einer Zeit, in der sie besonders glücklich sind. Allein diese Aufgabe erleben die meisten Paare als sehr bereichernd, sie kommen schon zu Hause miteinander ins Gespräch über »gute Zeiten, schlechte Zeiten« und nehmen sich auf eine andere Art Zeit füreinander. In der Sitzung mit mir betrachten wir dann, unabhängig von den Geschichten um die Fotos herum, Körperhaltungen, Mimik und Gesamtkomposition der Fotos. Der interessante Aspekt an dieser Form der Arbeit ist der Blick des Paares auf sich als Paar von außen. Zusätzlich zur Frage: »Wie fühlen wir uns als Paar?« ergibt sich die Frage: »Welches Bild als Paar zeigen wir?« Eine Arbeit mit Fotos ist völlig unabhängig davon, ob vorher mit Texten des Paares gearbeitet worden ist oder nicht.
Fallgeschichte 2b: Unterschiedliche Wahrnehmungen
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5.4 Transkripte und Fotos als Medium der Selbsterkenntnis in der Paartherapie In Folge der Ausdifferenzierung systemischer Ansätze entwickelten sich narrative Ansätze in der Psychotherapie und Beratung, deren Fokus in der Analyse besteht, wie Erzählungen und Geschichten von Akteur*innen für deren eigene subjektive Sinngebung genutzt werden. Das Hauptinteresse der Analyse konzentriert sich bezüglich der Erzählungen der Personen über sich selbst auf die Verknüpfung von vergangenen Erlebnissen mit den Zuständen der Gegenwart sowie den Annahmen über die Zukunft. In diese Verknüpfung fließt die Selbstkonstruktion der Akteur*innen in eine für sie kohärente Form einer Geschichte ein (siehe White u. Epston 2006). Die Erzeugung von Erzählungen und Beschreibungen eigenerlebter Erfahrungen innerhalb der Beratungssituation geben einerseits den Berater*innen diagnostische Hinweise über den Modus Operandi der Selbstkon struktionen; andererseits dienen sie dem Selbstverstehen und der Selbsterkenntnis der Klient*innen. Sehr oft kommen Paare zu einer Paarberatung mit dem Anliegen, einander besser verstehen zu wollen. Meistens ist der Anlass für diesen Wunsch die gemeinsame Erfahrung einer langen, quälenden Zeit von Streitgesprächen und Konflikten. Die Vorstellung der Klient*innen beruht darauf, den subjektiv gemeinten Sinn ihres Partners bzw. ihrer Partnerin kennenzulernen und die Motivlage zu verstehen (Was wurde gesagt? Was bedeutet das? Welche Absicht verfolgt der, die andere? Was ist das dahinterliegende Motiv?), um von diesem neuen Erkenntnisstand aus besser miteinander kommunizieren zu können. Ähnlich einem interkulturellen Training hätte die Therapeutin oder der Therapeut die Funktion einer Lehrerin oder eines Lehrers und die Klient*innen kämen in die Rolle von Schüler*innen. Ein mögliches Alternativsetting, in dem das Selbstlernen und die Selbsterkenntnis der Klient*innen stärker im Vordergrund stehen, ergibt sich durch eine Triade des Paares mit einem Transkriptionstext, der nach der Aufzeichnung eines möglichst selbstläufigen Interviews im Sinne eines Paargesprächs entstanden ist. Die Beschäftigung des Paares mit einem Text, den es selbst produziert hat und auf den es als 100
Therapie und Dokumentarische Methode
eine gemeinsame Produktion schauen kann, externalisiert eine von den Partnern definierte Kommunikationsstörung auf ein fremdes und doch bekanntes Medium. In der Form des Transkripts begegnet ihnen der systemische Charakter ihrer Beziehung in objektivierter und gleichsam materialisierter Form. Analog der beiden Schritte der rekonstruktiven Vorgehensweise zu Forschungszwecken, der formulierenden Interpretation und der reflektierenden Interpretation, lässt sich der Wechsel vom Was zum Wie auch konkret in der Paarberatung als Methode der Selbstwahrnehmung nutzen. Anstatt sich wie bisher über Inhalte auszutauschen und – häufig – über Motivunterstellungen und Erwartungsenttäuschungen zu streiten, ist das Lesen und der Austausch über den Interviewtext eine Form, etwas über die praktizierten kommunikativen Strukturen zu erfahren: Wie beziehen wir uns im Gespräch aufeinander? Wie schaffen wir Reibung, Abgrenzung, Störung? Worin liegen unsere Übereinstimmungen, unsere gegenseitigen Wertschätzungen? Die Paare verstehen die Muster ihres eigenen fortlaufenden und sich wiederholenden Paargesprächs und können dadurch eine Idee bekommen und entwickeln von kommunikativen Wahlmöglichkeiten und Alternativen bezüglich der Art und Weise sich aufeinander zu beziehen. Die Begleitung durch eine Therapeutin oder einen Therapeuten besteht dann darin, das Paar anzuregen, über den eigenen Modus Operandi ihrer Handlungspraxis und ihrem handlungsleitenden impliziten Wissen auf die Spur zu kommen: Welche Strukturen begründen unser Handeln? Wie reagieren wir aufeinander? Wie »erschaffen« wir eine Eskalation, wie eine Deeskalation? In diesem Sinne geben Therapeut*innen Impulse und Hinweise zum Herstellungsprozess und damit auch zum Verstehensprozess, der einen Unterschied macht zwischen Information und Mitteilung. Und genau diese Unterscheidung wird zur Ausgangslage für mögliche alternative Kommunikationsverläufe. Luhmann drückt diesen Kommunikations- und Verstehensprozess wie folgt aus: »Verstehen ist nie eine bloße Duplikation der Mitteilung in einem anderen Bewusstsein, sondern im Kommunikationssystem selbst Anschlussvoraussetzung für weitere Kommunikation, also Bedingung der Autopoiesis des sozialen Systems. Was immer die Beteiligten in ihrem je eigenen selbstreferentiell geschlossenen Bewusstsein davon halten mögen. Transkripte und Fotos als Medium
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Das Kommunikationssystem erarbeitet sich sein eigenes Verstehen oder Missverstehen« (Luhmann 2005, S. 112). Methodisch analog lässt sich ein Vorgehen mit Fotos konzipieren und einsetzen. Der positive Reiz eines solchen Vorgehens liegt in der lediglich methodischen Begleitung von Paaren. Nicht die Therapeut*innen erschließen die Ressourcen des Paares, sondern das Paar wird auf diese Weise zum Expertenpaar des eigenen Diskurses. Damit verschiebt sich eine Hierarchisierung des Besserwissens vom Therapeutensystem zum Klientensystem.
102
Therapie und Dokumentarische Methode
6
Gibt es Resilienztypen?
In meiner Forschungsarbeit und in meiner paartherapeutischen Praxis habe ich Transkripte von Paarinterviews immer wieder miteinander verglichen und sie im Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersucht. Aufgrund dieser vielen Beispiele, die ich gesammelt habe, ist es mir möglich, auf einer abstrakteren Ebene unterschiedliche Handlungspraktiken zu benennen, die den Umgang mit problematischen oder krisenhaft erlebten Lebenssituationen beschreiben, also Praktiken von Resilienz. Interessanterweise lassen sich diese unterschiedlichen Handlungspraktiken zu Typen zusammenfassen. Meine Transkriptionsbeispiele habe ich aus dem Blickwinkel dreier Dimensionen betrachtet. Die erste Dimension ist eine generelle und abstrakte Sicht auf Lebenszusammenhänge der Paare insgesamt: auf die Herkunftsfamilie in ihrem Generationenzusammenhang, auf abstrakte Vorstellungen von Beziehungsgefügen und auf Vorstellungen von gesellschaftlicher Normalität und deren Abweichungen. Ausführungen zu dieser Dimension ergaben sich in fast allen Paargesprächen selbstläufig und konnten meist schon in der Eingangspassage rekonstruiert werden. Die zweite Dimension bezieht sich auf die Zeit der Krise und die dritte Dimension auf die Zeit nach der Krise. Diese beiden letzten Dimensionen ergaben sich aus den Fragestellungen nach dem Orientierungsrahmen während der Krise sowie dem Orientierungsrahmen während der Krisenbewältigung wie auch aus der Neurahmung der Beziehung nach der Krise. Innerhalb dieser drei Dimensionen, die in ihrer Gesamtheit Hinweise auf Resilienzmuster ergeben, lassen sich Typen verdich Gibt es Resilienztypen?
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ten, innerhalb derer die habitualisierten Stile in vielen Aspekten Gemeinsamkeiten aufweisen. Losgelöst von den individuellen Einzelfällen wird in der nachfolgenden Darstellung lediglich auf die Gemeinsamkeiten eingegangen. Ich gebe zuerst einen Überblick über alle drei Typen.
Abbildung 3: Typenbildung von Paaren
6.1 Typ 1: Orientierung an einer Beziehungsordnung: »Beziehung immer wieder austarieren« Die Beschreibungen dieses Typs beziehen sich auf die Paare Thea/ Bruno und Erna/Franz. Die Paare des Typs 1 haben genaue Vorstellungen einer intimen Ordnung ihres Beziehungsgefüges: Diese Vorstellungen beziehen sich auf Nähe und Distanz, auf individuelle Interessen eines Partners versus der Verpflichtung auf Gemeinsamkeit und auf Anspruch nach exklusiver Behandlung in der Öffentlichkeit. Die Ordnung in diesem Paargefüge ist ständig bedroht (Erna/ Franz »Glasperlenspiel«, Z. 58 u. Z. 76; »Gefüge«, Z. 343) und wird von den Paaren beobachtet und reflektiert. Es besteht ein gegenseitiger hoher Anspruch auf Zuwendung und Aufmerksamkeit. Sie ringen miteinander um das »richtige«, das »angemessene« Maß 104
Gibt es Resilienztypen?
an Zuwendung, und da sie dieses aber kommunikativ nicht klären können, bleibt es intransparent und ist immer wieder Anlass für Auseinandersetzungen. Diese Auseinandersetzungen zeichnen sich durch ein langanhaltendes oszillierendes Muster zwischen Problemmuster und Lösungsoptionen aus. Auch in ihrem Lebensstil sind die Paare auf der Suche nach einem angemessenen Maß – und dabei eher bescheiden in ihren Ansprüchen. Bei Thea/Bruno ist diese Haltung verankert in einer christlichen Ausprägung, bei Erna/Franz in einer Abwendung vom »Gefühlskitsch« der 1950er Jahre (keine »Rüschchen«, Erna/Franz, Z. 771), nicht wie die »Turteltäubchen« (Erna/Franz, Z. 758; 759). Ihre Orientierungsrahmen, die im Folgenden beschrieben werden, erscheinen sehr gegensätzlich. Sie werden meistens im antithetischen Diskurs geführt, der von Auseinandersetzungen in der Vergangenheit erzählt, während gleichzeitig Auseinandersetzungen über die damaligen Auseinandersetzungen aktuell in der Interviewsituation stattfinden. Diese Auseinandersetzungen drehen sich dabei nicht um Inhalte, sondern sind Macht- und Positionskämpfe. Geschlechtsstereotypisch beziehen sich die Frauen auf ihre subjektive Wahrnehmung und versuchen, über eine psychologische Analyse des Geschehens, Einfluss auf die Handlungsebene zu gewinnen, während die Männer auf einer objektiven Darstellung insistieren und das äußere Geschehen in ihrer Analyse in den Vordergrund stellen. Gemeinsame negative Gegenhorizonte sind Beziehungen im Bekanntenkreis, die auseinanderbrechen, weil »die« Ordnung nicht ausreichend beachtet wurde. Kommunikativ generalisiertes Wissen über Misslingen bzw. Gelingen in der Partnerschaft steht in hohem Maße zur Verfügung und wird im Paargespräch häufig thematisiert. Es gibt sprachlich sehr ausdifferenzierte Beschreibungen der Unterschiede von Belastungen, Konflikten und Krisen, wobei jede Alltagsbelastung sich zu einer Krise entwickeln kann, wenn einer der Partner sich im Vorfeld zu wenig beachtet oder in die Überlegungen des Anderen zu wenig einbezogen fühlt. In jedem Fall kommt es zu einer Krise, wenn einer der Partner die innere Ordnung, die als impliziter Orientierungsrahmen für das Ausmaß an Unabhängigkeit oder Nähe vom jeweils anderen gilt, irritiert. Typ 1: Orientierung an einer Beziehungsordnung
105
Positionskämpfe oder die Suche nach einem Maß Die folgenden Interviewausschnitte illustrieren die Auseinandersetzungen der beiden Paare um die Frage, wie viel Autonomie für eine Person, für eine/n Partner*in eine Partnerschaft aushält bzw. zulassen soll oder kann. └ und das war dies D-Stadt
Erna: Franz:
Erna: Franz:
└ so zwei Jahre, äh, mussten wir, ich bin ja dann rüber äh, usw., des, also da fragt man natürlich dann, was ist wie viel wert und äh, da wurde uns dann bewusst, ja gut man kann Karriere machen, aber das geht halt vielfach auf Kosten von jemand anderen. Da sind wir wieder bei der Balance. Eine Beziehung hat eine bestimmte interne labile Balance und wenn einer ausbricht, wir haben des ja früh, ja. Für mich war das erste Beispiel von der G. da └ mhm └ von ner Freundin, wo sie plötzlich das ganze gesprengt hat und gesagt die war vorher ne glückliche kleine Familie. Einer hat ein neues Ziel, alles völlig in Ordnung als solches, aber wir haben gesehen, auf einmal gerät das auseinander und zerbricht. └wenn ja, weil auch sozusagen
Erna: Franz: Erna:
└ mhm └ äh, das Gefüge └ jaja
Franz: Erna:
└ da einfach nicht passte, um, dass da einer rausgeht und die anderen mit, ne, so
Franz:
└ jaja, so
(Erna/Franz, Z. 329-347)
Die Erzählung von Franz über seine berufliche Veränderung, die gleichzeitig auch eine örtliche Veränderung zur Folge hatte, ist für das Paar Franz und Erna das gravierendste Beispiel, anhand dessen sie schildern, wie ihre Beziehungsorsdnung und damit ihre Beziehung durcheinandergeraten ist. Franz hat einen generellen Blick auf das Beziehungsgefüge und spricht mit der Formulierung einer »internen labilen Balance« (Erna/Franz, Z. 333/334) wie von einem Gesetz, das ganz allgemein in Beziehungen besteht. Er führt ein Beispiel aus dem Bekanntenkreis an, das dieses Gesetz bestätigt. Eine Balance gibt es dann, wenn jeder auf seine Kosten kommt. In ihrem gemeinsamen (Paar-)Bild ist Beziehung ein Gefüge das nur ein gewisses Maß an autonomem Verhalten aushält. Implizit beschreiben beide, dass man als Person auch nicht immer wissen 106
Gibt es Resilienztypen?
kann, wann das Gefüge der Beziehung individuelle, autonome Handlungen nicht mehr ausgleichen kann. Franz:
└ Aber ab und zu muss man natürlich auch wieder dagegenhalten und dieses labile Glasperlenspiel wieder bisschen so zurechtrücken, └ mhm
Y: Franz:
└ weil ich schon auch den Anspruch habe, als Mann oder als Person oder einfach auch als eigene Figur, ich möchte da auch mitspielen @sozusagen@. └ @(1)@
Erna: Franz:
└ Das ist dann immer wieder auch mal und dann gibt’s halt auch mal Zoff wieder im Einzelfall klar. └ mhm
Y: Franz:
└ wobei es wie immer wieder, die belanglosen kleinen Dinge des Alltags sind, wo man dann wahnsinnig drum streitet, nicht um die großen Dinge, das ist also. Da weiß man auch, das diskutiert man, sagen wir wenn man ein Haus kauft, das wär so ein Ding oder ob man ein oder zwei Kinder hat oder sowas, das hat man schon. Aber es sind eigentlich die Belanglosigkeiten des Alltags und dann ich denke aha. Aber umgekehrt ist dann genau, weil ich dann oft irgendetwas mache. Dann sagst, das hast du überhaupt nicht mit mir └ @(1)@
Erna: Franz:
└ @abgesprochen@. Dann geht’s halt wieder um irgendetwas, also das ist oft nicht so bedeutsam. Aber wir haben schon unsere Positionskämpfe, da
(Erna/Franz, Z. 75-97)
Die Situation einer Beziehung ist insofern immer prekär, als es wichtig und zugleich schwierig ist, die Beziehung als Ganzes in ihrem Funktionieren von ausgeglichener Gegenseitigkeit und ausgewogener Nähe und Distanz im Auge zu haben. Franz wird in diesem Zusammenhang in seiner Formulierung immer abstrakter: »als Mann, als Person, als eigene Figur« und drückt damit seinen Rollenkonflikt in der Dynamik zwischen sich als männlichem Individuum, das eine autonome Position einnehmen möchte, und seiner Rolle in der Beziehung aus, die auf gegenseitiger Bezogenheit und damit Anpassung an die Bedürfnisse der Partnerin basiert. Franz macht dabei einen Unterschied zwischen großen Dingen wie Hauskauf und Kinderkriegen bei denen man um die Balance weiß, und den von ihm so genannten »Belanglosigkeiten des Alltags«, bei Typ 1: Orientierung an einer Beziehungsordnung
107
denen das Wissen um Ausgleich nicht von vornherein vorhanden ist und angewendet werden kann. An diesen entzünden sich Positionskämpfe innerhalb der Paarbeziehung. Auch Bruno und Thea sind auf der Suche nach einem quasi objektiven Über Begriffsdefinitionen kämpfen sie umbeide ihrevon PosiAn der Maßstab. Stelle des Interviews, die kommunikativ am dichtesten ist, erzählen den Schwierigkeiten, die sie lange und jetzt auch wieder aktuell haben.zeigt. Das Treffen mit tionierung, wie derschon folgende Transkriptionsausschnitt Freunden ist der Anlass für Positionskämpfe innerhalb der Paarbeziehung. Bruno: aber des ist doch kein Konflikt Thea:
nein das ist keine Krise
Bruno:
sie wollen doch schon Konflikte
Y:
alles alles
Thea:
ja ja des is jetzt keine schwere Ehekrise aber des is schon schon auch ehm belastend und des is schon auch so dass mich mich des nervt und dass ich find des is gemein ungerecht und ehm (5) ja und wir hatten schon im Grunde so ne ähnliche Diskussion auch grad mit dieser @Freundin@ M. hatten wir jetzt bestimmt schon zum dritten Mal mit so einer ähnlichen Konstellation beim Fest ehm dass quasi ehm den ganzen Abend hat mein Mann mit der M. gesprochen neben mir saß er kein einziges Mal also aus meiner Sicht aus meiner Bruno aus meiner des kann schon sein dass ich übertreibe └Ja ja aber sags doch objektiv
Bruno: Thea :
(unverständlich beide sprechen)
Bruno: es war eine Stunde Thea:
ja weil die M. danach gegangen ist
Bruno: also es war eine Stunde. Weil du sagst den ganzen Abend Thea:
ja
Bruno: un in der Stunde hab ich vielleicht eine halbe Stunde mit ihr gesprochen höchstens höchstens wir hatten ja auch noch ein normales Tischgespräch also Thea:
Ja also aber des is jetzt schon wieder ein bißchen relativ
Bruno: Also stimmts jetzt oder stimmts was ich gesagt hab is es falsch? Thea:
ha nein es war so @(.)@ neben der M war ein Platz frei und neben mir war ein Platz frei wo setzt sich mein Mann hin neben die M. un ehm un hat sich auch sehr intensiv mit der M unterhalten
(Thea/Bruno, Z.77-101)
Das Prinzip des »Im-Kontakt-Seins durch Widerspruch« zeigen Thea und Bruno in diesem Ausschnitt sehr variantenreich. Schon im ersten Satz widerspricht Thea Bruno gleich doppelt und zeigt damit, dass es ihr mit der Figur des Widerspruchs um die Interaktion mit ihrem Mann geht und nicht um eine inhaltliche Auseinandersetzung. Bruno versucht mittels einer Frage an die Interviewerin eine Klärung über einen von außen gesetzten Maßstab einzuführen. Die inhalt108
Gibt es Resilienztypen?
liche Hintergrunderzählung schildert ihre Kämpfe um das Maß der möglichen Außenkontakte in ihrer Beziehung. Einem möglichen Einspruch Brunos zuvorkommend relativiert Thea ihre Erzählung zweifach: zum einem indem sie von einem subjektiven Wahrheitsgehalt spricht und zum anderen diesen noch durch ihre Anmerkung über ihren übertreibenden Sprachstil zurücknimmt. Bruno lässt aber einen subjektiven Maßstab nicht gelten und möchte von ihr eine objektive Beschreibung der Situation. Ihr antithetischer Diskurs führt nicht zu einer inhaltlichen Klärung des Geschehens, sondern wiederholt in eingespielter Weise ihr habituelles Widerspruchsmuster. Wie Erna und Franz beschreiben auch Thea und Bruno die Unvorhersehbarkeit von Konflikten, da diese sich an Kleinigkeiten entzünden können. Bruno: Y: Bruno:
└ich war wirklich überrascht ich hab damit net gerechnet weil wir ham an dem Abend dort └mmh └hab ich das noch garnet mitbekommen mir sitze dann im Audo und dann werde ich bombardiert mit Vorwürfe was mich echt überrascht hat un des is auch so was es is manchmal nicht vorhersehbar (2) weil es kann wirklich sein beim nächsten Mal plötzlich weil ich vorher vielleicht irgendwas nettes oder zwischendurch dann mal gesacht hab eh vielleicht dann mal ganz aus eh ganz bewusst dir signalisier guck mal jetz kümmer ich mich um dich @oder so was@ dann kanns sein das du dann zufrieden bischt └ja das stimmt
Thea: Bruno:
└und von solchen Kleinigkeiten hängt des dann auch oft es es is nich immer (.) so vorherzusehen oder nachzuvollziehen oft auch von so Stimmungen oder Kleinigkeiten abhängig (2) also so empfind ichs zumindest (6) oder?
Thea:
ja das stimmt kann man nicht orientieren (1) festmachen und sagen das Schema XY funktioniert und des Schema ehm (2) Z @funktioniert nicht@ oder so des Schema
(Thea/Bruno, Z. 188-204)
Die Nichtberechenbarkeit und Unvorhersehbarkeit eines Konflikts sind ein gemeinsamer Erfahrungshintergrund der Paare dieses Typs. Wie bei Erna und Franz lässt sich auch hier eine Orientierung an einem Ordnungsprinzip rekonstruieren. Dieses wird deutlich in ihrer Suche nach einem »Schema« (Thea/Bruno, Z. 203/204). Bruno scheint in seiner bewussten Zuwendung zu seiner Frau, die er ihr gegenüber auch markiert, vage ein Muster zu erkennen, das KonTyp 1: Orientierung an einer Beziehungsordnung
109
flikte nicht entstehen lässt. Die Aussage: »Dann kanns sein, dass du dann zufrieden bischt« (Thea/Bruno, Z. 197) macht deutlich, wie prekär und instabil die Situation ist. Der Versuch einer ›Wenn-dann-Relation‹, im Sinne von: ›wenn ich aufmerksam dir gegenüber bin, dann geraten konflikthafte Anlässe nicht zum Konflikt‹, scheitert an ihrer Erfahrung, dass Konflikte von »Stimmungen oder Kleinigkeiten« (Thea/Bruno, Z. 201) abhängig sind. Sprechen vor Handeln Der Orientierungsrahmen, der in der Krise zur – positiven – Wende führt, lässt sich als ein langes intellektuelles Ringen um die Herstellung der inneren Ordnung durch Diskussion beschreiben. Dies ist gewissermaßen eine erste Phase im Umgang mit der Krise, die den Umschwung in der Dynamik vorbereitet. Die zweite Phase zeichnet sich durch den Orientierungsrahmen einer höheren gegenseitigen Wahrnehmung und positiven Aufmerksamkeit aus. (»du hast mir irgendwie was Liebes gesagt«, Thea/Bruno, Z. 157/158); »dann trägts der Partner mit«, Erna/Franz, Z. 387/388). Wenn sich die gemeinsame Ordnung wiederhergestellt hat, und sei es auch nur für einen kurzen Zeitraum, nehmen die Paare die Handlungsebene wieder auf und greifen auf ein Set gemeinsam gemachter positiver Erfahrungen zurück. Aus dieser Möglichkeit zum sofortigen Rückgriff auf gelungene Situationen erzielen die Paare ihre Resilienz. Erna:
└ Wir haben eigentlich nie so viel gesprochen miteinander, Stunden, ich weiß wir sind da oben spazieren gegangen, als, sozusagen, bei ihm der gedankliche, seelische Umbruch kam oder war, ähm, das war unglaublich. └ ja
Franz: Erna: Franz:
└ Wir haben acht Tage von morgens bis abends, wir haben so intensiv miteinander geredet. Das weißt du glaub ich schon gar nicht mehr └ mhm
(Erna/Franz, Z.351–358)
Im Fall von Thea und Bruno stehen ebenfalls Intensität und Häufigkeit des Redens im Fokus. Bei ihnen wird deutlich, dass der Lösungsversuch sich nicht mit dem Akt des Redens begnügt, denn, wie beide 110
Gibt es Resilienztypen?
konstatieren, auf der inhaltlichen Ebene, etwa einer alternativen Verhaltensweise, wird keine Lösung gefunden. Sie können dieses Verhalten sogar in die Zukunft projizieren und wissen, dass sie dann dieses Problem- bzw. Lösungsmuster wiederhaben werden. Bei beiden Paaren ist Reden das selbstverständliche Mittel der Wahl, auch wenn sie – häufig! – die Erfahrung machen, dass es nicht zu einer Lösung führt und sie sich im Kreis drehen. Bei den Paaren dieses Typs lässt sich beobachten, dass das Sprechen miteinander für beide Partner von eminenter Wichtigkeit ist, dabei werden geschlechtsspezifische Unterschiede im inhaltlichen Duktus des Sprechens deutlich. Bei den Männern besteht die Tendenz, Gespräche zu einem inhaltlichen Ende führen zu wollen, während die Frauen weitersprechen möchten. Auch im nächsten Ausschnitt wird ein geschlechtsspezifisches Kommunikationsverhalten deutlich. Dieses wird sogar explizit reflektiert; Bruno beschreibt sein Konfliktverhalten selbst als »Männertypisch@(.)@ die schieben es dann weg oder so« (Thea/Bruno, Z. 137). Bruno: also des Problem ist nicht gelöst also des isch genau beim nächsten Mal das gleiche Problem └ Thea:
des Problem an sich ist nicht gelöst ne └
Bruno: es gibt nur die Lösung entweder du machst mir Vorgaben, 10 Minuten darf ich mit ihr reden oder so irgendwas was halt aus meiner Sicht lachhaft ist aber so irgendwo des is die einzige Lösung es gibt für mich keine Möglichkeit des anders zu handeln außer eben es bleiben zu lassen oder ich muss dich vorher um Erlaubnis fragen wieviel Minuten darf ich heut mit der Martina. reden also des is schon was wo ich mich drüber aufregen könnt e aber des bringt nix also des Problem ist nicht zu lösen (leise) des isch wieder so Männertypisch @(.)@ die schieben es dann weg oder so aber wir ham schon lang wir haben schon oft drüber geredet ich erklär dir immer wie des zustande kommt un ehm ehm un mit dem Mann der Peter ist ein problematischer Mensch aber da geb ich mir eigentlich Mühe ich unterhalt mich schon mit ihm aber des ist nicht so dass ich jetzt so richtig Freude hab des isch schon richtig aber (10) ja wie soll mrs machen? was soll ich machen? Ich hab dir auch schon x mal gesagt du kannst ja mit der M.. immer die hier zum Kaffee einladen oder mit ihr was vereinbaren Thea:
└die hat doch gar keine Zeit Bruno des weisst du auch ° also also °
Bruno:
└also des Problem ist auf jeden Fall noch nicht gelöst
(Thea/Bruno, Z. 128–146)
Wie durch einen Refrain ist dieser Erzählabschnitt eingerahmt und durchwoben mit den Worten von beiden: »des Problem ist nicht gelöst«, er wird variiert durch »das Problem an sich« und »ist auf Typ 1: Orientierung an einer Beziehungsordnung
111
jeden Fall noch nicht gelöst«, »also des Problem ist nicht zu lösen«. In der Wahrnehmung ihrer ungelösten Situation sind sich die beiden einig und es erscheint wie eine leichte Variation ihres Habitus Kontakt durch Widerspruch jetzt als Kontakt durch Probleme im Schwebezustand. Die Funktion des antithetischen Modus Wie aufgezeigt wurde, sind die Partner beider Paare im Kontakt durch Gespräche. Die unterschiedlichen, zueinander im Widerspruch stehenden Positionen vergrößern den Redebedarf und steigern damit den Kontakt zueinander. Obwohl diese Form der Kommunikation als Muster die Beziehung gefährdet, stabilisiert die Kommunikation als performativer Handlungsakt an sich die Beziehung in noch größerem Maße und ist damit ein Teil des resilienten Repertoires. Aus den Interviews wird erkennbar, wie die Paare dieses Typs ihre gemeinsame Orientierung im konkurrierenden (Wider-)Streit finden, der oft erst am Ende einer Erzählung erkennen lässt, dass doch eine gemeinsame Orientierung vorliegt. Durch das Oszillieren zwischen Problemhorizont und Lösungshorizont wird der jeweilige Konflikt in der Schwebe gehalten. Die Paare scheinen aus diesem Muster einen zweifachen Gewinn zu ziehen, zum einen gibt es weder Verlierer noch Gewinner, und zum anderen sichern sie sich auf diese Weise anhaltenden Kontakt. Aus diesem Schwebezustand heraus entwickeln beide Paare eine Möglichkeit, auf eine gelingende Handlungspraxis zurückzugreifen, die sie genauso unvorhersehbar miteinander entwickeln und anwenden wie die Herstellung von Konflikten aus Kleinigkeiten heraus. Damit gelingt es den Paaren trotz der musterbedingten Unmöglichkeit, ohne Streit zu kommunizieren, den beziehungsmäßigen »Point of no Return«, d. h. trennungsinduzierende Situationen zu vermeiden. Die Alternativmöglichkeit zeigt sich beispielhaft im folgenden Textausschnitt von Thea und Bruno. └die hat doch gar keine Zeit Bruno des weisst du auch ° also also °
Thea:
└also des Problem ist auf jeden Fall noch nicht gelöst
Bruno: Thea:
112
ne des Problem ist nicht gelöst also wir haben trotzdem wieder einen Weg zurück gefunden, ehm also Samstagabend war das Fest dann sind wir zurückgefahren und hatten (2) von @Anfang bis Ende ne Auseinandersetzung@ im Auto (2) un dann ham wr geschlafen un am Sontagmorgen ham wa auch noch mal geredet(1) un dann ham wa sagt jetzt tun wa nich wieder (2) Tage (2) darüber streiten sondern (1) Gibt ehm es Resilienztypen? versuchen ,einfach auch was vom @Sonntag zu haben@, und dann (unverständlich) Sonntag (5) am Sonntagmorgen
Bruno: Ja Thea:
(unverständlich) am Sonntagmorgen
└die hat doch gar keine Zeit Bruno des weisst du auch ° also also °
Thea:
└also des Problem ist auf jeden Fall noch nicht gelöst
Bruno: Thea:
ne des Problem ist nicht gelöst also wir haben trotzdem wieder einen Weg zurück gefunden, ehm also Samstagabend war das Fest dann sind wir zurückgefahren und hatten (2) von @Anfang bis Ende ne Auseinandersetzung@ im Auto (2) un dann ham wr geschlafen un am Sontagmorgen ham wa auch noch mal geredet(1) un dann ham wa sagt jetzt tun wa nich wieder (2) Tage (2) darüber streiten sondern (1) ehm versuchen ,einfach auch was vom @Sonntag zu haben@, und dann (unverständlich) Sonntag (5) am Sonntagmorgen
Bruno: Ja Thea: Bruno:
(unverständlich) am Sonntagmorgen └ich vergess sowas
Thea:
└ja ich habs jetzt leider auch vergessen du hast mir irgendwie was Liebes gsagt und dann war der Sonntag sehr schön wir hatten nen normalen Sonntag und ham miteinander über Vietnam gelesen über die Reise die demnägscht stattfindet
Y:
Sie beide?
Thea:
Ja genau wir beide └mit V.
Bruno:
└mmh mmh
Y: Thea:
└ja genau und ehm ham dann abends noch schön gegessen un den Tatort geschaut und dann mach ich den Fernseher aus und ging ins Bett und dann (1) °hab ich zuerst ne Massage gekriegt └@(7)@)
Bruno:
└doch doch doch
Y: Thea:
Dann hast du ne Massage gekriegt
Bruno:
(3) °das war schön (2) ja°
Thea:
un dann ham wa noch ganz schön miteinander °geschlafen° (1) was
Thea.
Un dann isch auch meistens wieder gut wenn wa miteinander geschlafen habm das isch dann wie so (2) weiss au nich (1) so n versöhnlicher Abschluss der au nur geht wenn man dann irgendwie wieder ne Ebene miteinander gefunden hat
(Thea/Bruno, Z.146-175)
Hier wird ein gemeinsamer Orientierungsrahmen beschrieben, der sich auf den Wunsch nach der Abwesenheit von Streit und einem gemeinsamen, »normalen« Sonntag bezieht. Das führt zu einem alternativen, weniger konflikthaften (und damit weniger anstrengenden) Verhaltensmuster: Kontakt wird hergestellt durch Komplimente, durch die gemeinsame Beschäftigung mit den Vorbereitungen auf eine Reise, durch das Gestalten eines Sonntags mit den Ritualen des aktuellen Zeitgeists (»Tatort« im Fernsehen anschauen) und durch die Herstellung intensiven körperlichen Kontaktes, indem sie sich gegenseitig massieren und miteinander schlafen.
Typ 1: Orientierung an einer Beziehungsordnung
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6.2 Typ 2: Orientierung an Normalität: »… bis die Vernunft wiederkommt« Die Paare des Typs 2 orientieren sich an einer Normalität, die in unterschiedlicher Ausprägung an Vernunft und der Praktizierbarkeit im Alltag ausgerichtet ist. Dies geschieht oft vor dem Hintergrund ihrer als gesellschaftliche Sonderstellung empfundenen Position (homosexuell/im Heim aufgewachsen/ehemalige DDR-Bürger/ binational). Eine Orientierung an einer nicht explizit beschriebenen Normalität wird durch beschriebene Abweichungen deutlich. Die Leitdifferenz bezieht sich auf »vernünftiges« versus »verrücktes« Verhalten. Der Diskurs wird im Unterschied zu den anderen Typen auffallend häufig in einem univoken Modus geführt, der das gemeinsame Erleben als identisches Leben präsentiert. Sehr häufig enden Passagen in den Interviewtexten mit einer rituellen Übereinstimmung und Zusammenfassung in der Anmutung einer Beschwörungsformel. Während des Interviews machen sich die Paare immer wieder Komplimente. Die Krisen werden minimiert oder ganz ausgeblendet und nehmen gegenüber den Erzählungen über gelingendes Leben im Vergleich zu den anderen beiden Typen einen geringen Platz ein. In den Erzählungen über das Leben nach der Krise lassen sich Orientierungen an gemeinsamem Besitz und gemeinsamen Freizeitaktivitäten sowie der Wichtigkeit von Freunden rekonstruieren. Umgang mit Normalitätsvorstellungen Gleich in der Eingangspassage des Paargesprächs von Bernd und Heinz werden relevante Themen in ihrem Orientierungsgehalt benannt: Die gesellschaftliche Sonderstellung wird zur Sprache gebracht, in der sich der positive Horizont von gelingendem »normalen« Leben und die geringe Bedeutung von Krisen in Relation zum gesamten Leben verorten. In einer großen Dichte geht der Bogen von der Nennung eines gesellschaftlich anerkannten Berufes über in das Thema der Integration in die Gesellschaft und über Freundschaften und die Akzeptanz ihrer Homosexualität im Kollegenkreis. Wie mit einer Stimme erzählen sie in univokem Diskurs ihr Erleben, welches dadurch die Struktur eines identischen Erlebens erhält. 114
Gibt es Resilienztypen?
22 23 24 25 26
Heinz:
└ die Anfänge, die eigentlich, äh, in der DDR nicht so schwierig waren. Es war zwar anonym, aber es wurde nicht irgendwie, man wurde nicht verfolgt oder irgendwas, obwohl der Paragraph ja noch bestand. In Kollegenkreisen war das auch bekannt. Es wurde nicht darüber gesprochen, aber es wurde akzeptiert. Mit dieser Beziehung hatten wir keinerlei Probleme.
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Bernd:
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Heinz: Im Gegenteil, äh,
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Bernd:
30 31
Heinz:
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Bernd:
33 34 35
Heinz:
└ absolut nicht
└ er ist Zahntechniker └ Es sind dann sehr gute Freundschaen entstanden, die bis heute └ bestehen └ bestehen, sogar sehr intensiv, auch nach der Wende dann wieder durch die Suche usw. dann noch fester geworden und also, äh, wir hatten ja überhaupt keine Probleme
(Bernd/Heinz, Z. 22–35)
In dieser Passage wird die gemeinsame Konstruktion von Bernd und Heinz in ihrem Ringen um einen akzeptierten Platz im Kollegenkreis und damit auch in der DDR-Gesellschaft deutlich. Das Abweichen von der Heteronorm wird pauschal als »nicht so schwierig« (Bernd/ Heinz, Z. 24) beschrieben und erfährt eine zunehmende Steigerung in seiner Problemlosigkeit, die zuerst von Heinz postuliert wird: »Mit dieser Beziehung hatten wir keinerlei Probleme« (Bernd/ Heinz, Z. 27). Dies wird von Bernd validiert mit: »absolut nicht« (Bernd/Heinz, Z. 28). Heinz steigert es dann nochmal: »im Gegenteil« (Bernd/Heinz, Z. 29). In diesem Muster des Herunterspielens einer in Wahrheit problematischen Situation, werden die bedrohlichen und belastenden Aspekte ihrer gesellschaftlichen Stellung gerade auch in ihrem Widerspruch zu ihren Aussagen deutlich: »Es war zwar anonym, aber es wurde nicht irgendwie, man wurde nicht verfolgt oder irgendwas« (Bernd/Heinz, Z. 24/25). Das »zwar« drückt das implizite Wissen um die Abweichung aus. Die Bedrohungskulisse einer Verfolgung wird verneint, ist aber gleichwohl präsent. »Obwohl der Paragraf noch bestand« (Bernd/Heinz, Z. 25) klingt wie eine (irrationale) Beweislage für die Großzügigkeit des DDR-Staats, der trotz offizieller Gesetzeslage nicht interveniert und damit – aus ihrer Sicht – ein Zeichen dafür erbringt, dass Homosexualität ein akzeptierter und damit normaler Bestandteil der Gesellschaft ist. Typ 2: Orientierung an Normalität
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Die Orientierung an ihrer Sehnsucht nach Akzeptanz zeigt sich in der Konkretisierung ihrer Lebenssituation »in Kollegenkrei sen war das auch bekannt. Es wurde nicht darüber gesprochen aber es wurde akzeptiert« (Bernd/Heinz, Z. 25–27). Mit diesem Satz wird das Ringen um gesellschaftliche Akzeptanz besonders deutlich: Die Tabuisierung ihrer Homosexualität, über die eben nicht gesprochen wird, verleugnen sie und konstruieren eine Akzeptanz qua Behauptung. Ihr Habitus ist eine an Normalitätsvorstellungen angepasste Überwindung von Andersartigkeit, die die Differenzen zu den zugeschriebenen und generalisierten Vorstellungen »der Anderen«, die sich ihrer Meinung nach auf der Seite der Normalität befinden, ignoriert oder minimiert. Die Orientierung an ihrer Sehnsucht nach Akzeptanz zeigt sich in der Konkretisierung ihrer Dies zeigt sich auch in der Fortführung der Passage durch Lebenssituation “in Kollegenkreisen war das auch bekannt. Es wurde nicht darüber Bernd: »er ist Zahntechniker« (Bernd/Heinz, Z. 30), womit er dargesprochen aber es wurde akzeptiert“ (Bernd/Heinz, Z. 25-27). Mit diesem Satz wird das auf hinweist, dass Heinz einem ›ganz normalen‹ Beruf nachgeht Ringen um gesellschaftliche Akzeptanz besonders deutlich: die Tabuisierung ihrer Homo(und nicht wie er selbst einem dem Klischeesienach eher szenesexualität, über die eben nicht gesprochen wird, verleugnen und konstruieren eine typischen des Kneipiers). Heinz’ Bemerkung: »es sind dann sehr Akzeptanz qua Behauptung. Ihr Habitus ist eine an Normalitätsvorstellungen angepasste gute Freundschaften entstanden, bis heute bestehen« (Bernd/ Überwindung von Andersartigkeit, die die die Differenzen zu den zugeschriebenen und generalisierten Vorstellungen Anderen‘, sich ihrer und Meinung nach auf derwiederSeite der Heinz, Z. 31–34) wird‚der von Bernddieergänzt von Heinz Normalität befinden, ignoriert oder minimiert. holt. Damit sagen sie beide implizit, dass ihre Andersartigkeit nicht Dies zeigt sich auch wurde, in der Fortführung derdass Passage durch Menschen Bernd: “er ist Zahntechniker“ nur akzeptiert sondern andere an einem (Bernd/Heinz, Z.30), womit mit er darauf hinweist, dass Heinz waren einem ’ganz Beruf intensiven Kontakt ihnen interessiert undnormalen‘ dies auch nachgeht (und nicht, wie er selbst, einem dem Klischee nach eher szenetypischen des Beständigkeit hat. Mit der Konklusion wird der Satz: »damit hatKneipiers). Heinz‘ Bemerkung: “es sind dann sehr gute Freundschaften entstanden, die bis ten wir überhaupt keine Probleme« (Bernd/Heinz, Z. 46) wieder heute bestehen“ (Bernd/Heinz, Z.31-34) wird von Bernd ergänzt und von Heinz wiederholt. aufgenommen, die Beweislage wurde über Beispiele von Indizien Damit sagen sie beide implizit, dass ihre Andersartigkeit nicht nur akzeptiert wurde, sondern der Normalität abgeschlossen. dass andere Menschen an einem intensiven Kontakt mit ihnen interessiert waren und dies Paar Heidi undKonklusion Ali ist wird die der Folie Normalität eine ganz auchBeim Beständigkeit hat. Mit der Satz:der “damit hatten wir überhaupt keine Probleme“ Das (Bernd/Heinz, Z.46) wieder die Beweislage wurdezeigt über Beispiele andere. binationale Paar aufgenommen, (sie ist Deutsche, er Türke) in seivon Indizien der Normalität abgeschlossen. nen Erzählungen einen spielerischen Umgang mit den Differenzen Beim Paar Heidi Normalitätsvorstellungen. und Ali ist die Folie der Normalität eine ganzerzählt andere. Das Paar zu gängigen Heidi vonbinationale Ausflügen (sieeine ist Deutsche, Türke)nimmt zeigt in seinen einenüber spielerischen Umgang mit den in Kircheer und diesErzählungen zum Anlass, ihre unterschiedDifferenzen zu gängigen Normalitätsvorstellungen. Heidi erzählt von Ausflügen in eine Kirche lichen religiösen Wurzeln zu erzählen. und nimmt dies zum Anlass, über ihre unterschiedlichen religiösen Wurzeln zu erzählen.
Heidi:
() Also er geht mit mir () ins Kirchle, wir in die Moschee nicht, aber des ist jetzt auch, also () in die Moschee
Ali:
Des isch Gottes Haus, für mich ob das türkisch oder Dings, äh Moschee, Im Islam gibt’s sowas nicht, des isch Gottes Haus, nennt man so und wegen dem darf ich auch in die Kirche, nach meiner Art kann ich auch beten, des isch kein Problem für
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mich, äh
Gibt es Resilienztypen?
Heidi:
Ja aber das macht’s auch interessant, also ich find’s schon. Also ich finde die
türkische oder südländische Natur, die sind sehr emotional geladen und das ist auch das schöne. Die Deutschen sind eher so ein bissle, finde ich, etwas steif oder bissle, sie lassen nicht soviel Emotionen zu, also. Und des finde ich schön. Er kann weinen
Heidi:
() Also er geht mit mir () ins Kirchle, wir in die Moschee nicht, aber des ist jetzt auch, also () in die Moschee
Ali:
Des isch Gottes Haus, für mich ob das türkisch oder Dings, äh Moschee, Im Islam gibt’s sowas nicht, des isch Gottes Haus, nennt man so und wegen dem darf ich auch in die Kirche, nach meiner Art kann ich auch beten, des isch kein Problem für mich, äh
Heidi:
Ja aber das macht’s auch interessant, also ich find’s schon. Also ich finde die türkische oder südländische Natur, die sind sehr emotional geladen und das ist auch das schöne. Die Deutschen sind eher so ein bissle, finde ich, etwas steif oder bissle, sie lassen nicht soviel Emotionen zu, also. Und des finde ich schön. Er kann weinen und lachen bis, des es so das schöne, also des finde ich auch schön. Wie gesagt ich bin Gottes Geschenk oder Gottes Strafe, also.
Ali:
└ Je nach Position
Heidi:
└Je nach Position: Du bist die Gottes Strafe für mich. Oder dann wieder das Geschenk. Früher hab ich gedacht, dass darf doch wohl nicht wahr sein. Sagt er zu mir. Und jetzt wechselt des halt, jetzt bin ich eher das Geschenk, in letzer Zeit, ge?
(Heidi/Ali, Z. 74-90)
»er geht mit mir …« (Heidi/Ali, Z. 74) ist im Unterschied zu »wir gehen« die Beschreibung einer (seiner) Aktivität mit ihr, im Sinne von: Er geht hier auf meine Wünsche ein, er macht mit, was mir wichtig ist. Sehr verdichtet und mit sprachlichen Auslassungen versehen, verweist Heidi auf ihre unterschiedliche religiöse Zugehörigkeit, die (vielleicht) keine große Rolle spielt. »aber des ist jetzt auch …« (Heidi/Ali, Z. 74/75) könnte mit »egal« fortgesetzt werden. Diese scheinbare Unerheblichkeit des religiösen Ursprungs greift Ali auf, indem er für die Begriffe Kirche und Moschee den Oberbegriff »Gottes Haus« (Heidi/Ali, Z. 76) einführt. In seiner religiösen Orientierung gibt es die Erlaubnis (»wegen dem darf ich …« (Heidi/Ali, Z. 77)), diese eigentlich mehr als konfessionelle Unterscheidung zu ignorieren und seine religiöse Praxis auch in einer christlichen Kirche auszuüben. Sie erweitert den Aspekt ihrer unterschiedlichen Herkunft um die Unterschiedlichkeit der Mentalität und des Habitus: seine andere, expressive Art ist eine Bereicherung für sie. Seine Resonanz auf sie ist in eine religiöse Sprache eingebettet: »Gottes Geschenk« oder »Gottes Strafe« (Heidi/ Ali, Z. 85). Er bestätigt diesen Sprachgebrauch mit der Aussage »je nach Position« (Heidi/Ali, Z. 86, 87) und zeigt damit einen spielerischen Umgang mit seinen Wurzeln. Wahrnehmungen und Sprache sind in den Herkunftswurzeln verankert, es gibt aber die Möglichkeit, damit relativ flexibel umzugehen und humorvoll damit zu Typ 2: Orientierung an Normalität
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spielen. In seinem Horizont bewegt er sich zwischen Ernsthaftigkeit und Humor, stilisiert seine religiösen Wurzeln und distanziert sich gleichermaßen von ihnen. Auf der performatorischen Ebene bestätigt er seinen Wechsel von der negativen Beschreibung ihrer Beziehung zur positiven Seite (»Richtig«, Heidi/Ali, Z. 91), während sie mit den Worten »also des, ja des finde ich auch schön« (Heidi/ Ali, Z. 92) ebenfalls eine positive Bewertung ihres in Fremdartigkeit eingebetteten humorvollen Umgangs miteinander gibt. Das Paar Heidi/Ali zeigt in seiner gemeinsamen Erzählung den Habitus eines selbstbewussten Spiels mit den Differenzen von Fremdheit und Normalität; Heidi und Ali zeigen einen Orientierungsrahmen von exklusiver Andersartigkeit. Bei Bernd und Heinz äußert sich der Umgang mit der Andersartigkeit als Abwendung von ihrem negativen Gegenhorizont: »Szenegänger« und »solche Leute«. Den Gegenhorizont beschreibt Bernd aus der Perspektive generalisierter Anderer, die über sie abfällig reden könnten. Da sie sich aber von den Klischeevorstellungen bewusst unterscheiden und sich von der Szene abgrenzen, erfahren sie Akzeptanz von den »normalen Heterosexuellen«. Ihre Orientierung lässt sich als Bemühung um Anpassung an das imaginierte Normale beschreiben. Bernd:
……… Jetzt muss ich dazu sagen, dass wir beides keine Szenegänger sind, wir gehen also nicht in die Szene oder sowas, gar nicht, nä, deswegen haben wir eigentlich hier auch nie und auch in der DDR keine Probleme gehabt. Wir sind also nicht so dass wir jetzt da, jetzt kommen solche Leute an, das war ja schon damals so n bisschen ein Thema, ja und äh. Wir sind immer in jeder Weise unterstützt worden, also auch von seiner Chefin, ja, also das war. Also, eigentlich haben wir nur gute Erfahrungen gemacht, sehr Gute, wir haben nie eigentlich ein Problem gehabt.
(Bernd/Heinz, Z.59-66)
Handeln vor Sprechen Das Paar Heidi/Ali macht schon in der Eingangspassage deutlich, dass die Krise in den Hintergrund gerückt ist – die Beziehung jetzt wieder gut ist – und sie durch die Krise näher zusammengerückt sind und miteinander sprechen. Ali: Alsomehr über dieses Thema oberflächlich haben wir schon gesprochen aber danach, wo wir gesehen haben, dass das, äh, gut läuft und äh,
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esdes Resilienztypen? DieGibt Paare Typ 2 greifen in ihren Bemühungen, ihre Krise zu überwinden, auf implizites Wissen zurück, welches sie in gemeinsamen Handlungen als etwas erfahren haben, das sowohl jedem einzelnen als auch der Beziehung insgesamt gut tut. Dies können Rituale sein bzw. dem Alltag entrückte, spontan-situative Aktionen.
(Bernd/Heinz, Z.59-66)
Ali:
Also über dieses Thema oberflächlich haben wir schon gesprochen aber danach, wo wir gesehen haben, dass das, äh, gut läuft und äh,
Die Paare des Typ 2 greifen in ihren Bemühungen, ihre Krise zu überwinden, auf implizites
Die Paare Typs in ihrenhaben Bemühungen, ihreerfahren Krise zu überAli: Alsodes über dieses2 greifen Thema oberflächlich wir schon aberhaben, danach, Wissen zurück, welches sie in gemeinsamen Handlungen als gesprochen etwas das woauf wireinzelnen gesehen haben, dass äh, gutinsgesamt läuft und äh, winden, implizites Wissen zurück, welches sieDies in gemeinsamen sowohl jedem als auch der das, Beziehung gut tut. können Rituale sein bzw. dem Alltag entrückte, spontan-situative Aktionen. Handlungen als etwas erfahren haben, das sowohl jedem Einzelnen Die Paare des Typ 2 greifen in ihren Bemühungen, ihre Krise zu überwinden, auf implizites als auch der Beziehung insgesamt guttut. Dies können Rituale Bernd: zurück, Und Heinz war sehr und hat also nicht locker indem erhaben, fast sein jedes Wissen welches sie intensiv in gemeinsamen Handlungen alsgelassen, etwas erfahren das Wochenende von mitspontan-situative dem Zug, mit dem Busgut hoch denkönnen Harz gefahren ist, bzw. Alltag entrückte, Aktionen. sowohldem jedem einzelnen alsLeipzig auch der Beziehung insgesamt tut.inDies Rituale sein bzw. dem Alltag entrückte, spontan-situative Aktionen. Heinz: Bernd: Bernd:
└ mit Hund
Und Heinz sehr hat einen also nicht locker gelassen, indem er fast jedes └ mit war Hund. Wirintensiv hatten und damals Hund, ja, und äh. Wochenende von Leipzig mit dem Zug, mit dem Bus hoch in den Harz gefahren ist,
(Bernd/Heinz, Z.87-90)
Heinz: Bernd:
└ mit Hund └ mit Hund. Wir hatten damals einen Hund, ja, und äh.
(Bernd/Heinz, Z.87-90)
Im Vordergrund der Erzählung werden konkrete Abläufe geschildert, weite Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln, die durch ihren Wiederholungscharakter zu Routinen in der Krise werden und damit auch wieder einen Versuch darstellen, Normalität (wieder-) herzustellen. Die Tatsache, dass er den gemeinsamen Hund mit auf die Reise nimmt, unterstreicht die Annäherung an die Konstruktion einer »ganz normalen« Familie, zumal sie von beiden univok benannt wird. Diese anstrengenden Unternehmungen werden Heinz als Eigenschaft zugeschrieben. Das resiliente Verhalten besteht in ihrer aktiven Gestaltung regelmäßiger Abläufe in gewohnten Umgebungen, um einen Rahmen herzustellen, der für sie Normalität widerspiegelt und der ihnen das Vertrauen gibt, dass hier vernünftiges Verhalten entstehen kann. Das Miteinander-Sprechen und Diskussionen-Führen werden in diesem Zusammenhang als negativ bewertet und könnten den äußeren Rahmen stören. Handlungen werden auf sehr unterschiedliche Weise exemplifiziert und lassen sich auch als Rituale beschreiben, die sich bei den beschriebenen Paaren dieses Typs als »spontan-ungewöhnliche« bzw. »fürsorgliche« Aktionen zeigen. Im ersten Fall handelt es sich um eine gleichberechtigte Partnerschaft, während es sich im zweiten Fall um eine Art von Eltern-Kind-Beziehung handelt. Typ 2: Orientierung an Normalität
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Minimierung und Ausblendung von Krisen Die Paare dieses Typus richten ihr Augenmerk auf die sie umgebende positive Realität: Handlungen, die im Hier und Jetzt stattfinden, Menschen in der unmittelbaren Umgebung und materielle Güter. Krisen und Problemen räumen sie weder in der Wahrnehmung noch im kommunikativen Austausch einen bedeutenden Platz ein. Das Paar Bernd/Heinz minimiert an vielen homologen Stellen das aktuelle Problem und erzählt insgesamt von einer »großen Krise«, die danach auch nicht wieder aufgetreten ist. Das Paar Heidi/Ali erwähnt eine Krise als einmaliges Geschehen in der Vergangenheit, geht aber in den Erzählungen des Gesprächs nicht darauf ein. »Also wir haben wirklich, äh. Ich finde wir haben momentan ein sehr sehr gutes Leben, also, äh, wir haben ein schönes Haus und, äh, verstehen tun wir uns gut. Eventuell oder was weiß ich und wir sitzen hier, hauptsächlich und äh, also, ich lass die Krise, was wir beide gehabt haben, schon« (Heidi/Ali, Z. 5–8). Bei beiden Paaren wird die Krise als singulärer Punkt auf der Beziehungszeitachse beschrieben, der in den Erzählungen jeweils in einen Kontext funktionierender Beziehung eingebettet ist. Neuorientierungen in der Zeit nach der Krise Die Zeit nach der Krise wird von den Paaren des Typ 2 als eine Zeit beschrieben, in der man enger zusammengerückt ist und viel Zeit zusammen verbringt. Vor dem Hintergrund materieller Sicherheit und Integration in einen Freundeskreis als Kriterien von Normalität, eröffnet sich für sie die Möglichkeit, Handlungen im Alltag und in der freien Zeit zu genießen. Im Unterschied zu den Phasen vor der Krise und in der Krise, in denen Orientierungen von Funktionalität und Herstellung von Normalität im Vordergrund standen, ist jetzt, wo die Basis für den Fortbestand bzw. die Stabilität der Beziehung sich eingestellt hat, eine neue Qualität des gemeinsamen Genießens möglich geworden. Ali:
Wir verbringen viel Zeit miteinander, normalerweise. Oder?
Heidi:
└Ja.
Ali:
└Mehr Zeit wie früher. Also, äh, am Wochenende sind wir zusammen.
Y:
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Was machen Sie so, wenn Sie Zeit miteinander haben?
Gibt es Resilienztypen? Heidi: └Kino Ali: Heidi:
└was trinken gehen wir └ laufen wir
Heidi:
└Ja.
Ali:
└Mehr Zeit wie früher. Also, äh, am Wochenende sind wir zusammen.
Y: Heidi:
Was machen Sie so, wenn Sie Zeit miteinander haben? └Kino
Ali:
└was trinken gehen wir
Heidi:
└ laufen wir
Ali: Heidi:
└zum essen, laufen wir was machen wir noch?
Ali:
└Je nach Bedarf machen wir sehr viel.
Heidi: Ali:
└ wir machen immer was. Immer machen wir was
(Heidi/Ali, Z.204-216)
Viel Zeit miteinander zu verbringen, ist für Ali ein wesentliches Kriterium der Neurahmung. Sein »Oder?« ist eine kommunikative Aufforderung an seine Frau, dies zu validieren – was diese auch tut. In den Exemplifizierungen auf die Frage der Interviewerin bestätigt sich noch einmal die Vorrangigkeit von Handlungen vor dem (Be-)Sprechen. Die Konklusion endet in einem univoken Satz »Wir machen immer was«; »immer machen wir was« (Heidi/Ali, Z. 215; 216), der sowohl das gemeinsame Tun als auch die immerwährende Präsenz von Handlungen bestätigt und zusammenfasst.
6.3 Typ 3: Orientierung an familiären Generationszusammenhängen: »… dieser Gegensatz von den Familien her« Die Paare dieses Typs sehen ihre Ehegeschichte eng verwoben mit den geschichtlichen Zusammenhängen (z. B. des Zweiten Weltkriegs) sowie den familiären Mustern aus den jeweiligen Herkunftsfamilien. Im Unterschied zu den anderen Typen machen sie eine deutliche Differenz zwischen dem Teilsystem der Ehe (als Zweiergemeinschaft) und dem der Familie (Eltern mit Kindern). Konflikte zwischen den Partnern entstehen aus einer Konkurrenz der Teilsysteme: Jeweils einer der Partner fühlt sich im Paarsystem zu wenig wahrgenommen. Die Auseinandersetzungen finden über die Frage der spezifischen Qualität der intimen Ehebeziehung statt. Hier stehen sich OrientieTyp 3: Orientierung an familiären Generationszusammenhängen
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rungen an Ehe als intensiver Beziehung mit einem hohen Grad an Aufmerksamkeit und Zuwendung und Orientierungen an Familie mit der Versorgung und Fürsorge von Kindern gegenüber. Die Schwierigkeit der Integration beider Teilsysteme ist Anlass für Konflikte und Krisen. Aus den Erzählungen über den Gegenstand ihre Paarkonflikte lässt sich kein gemeinsamer Orientierungsrahmen rekonstruieren, der Diskursmodus ist sehr häufig divergent. Die Differenzbearbeitung ihrer Konflikte lässt sich als ein Aushalten von Rahmeninkongruenzen beschreiben. Gleichzeitig wird eine enge Verbindung zum Kontext der Herkunftsfamilie hergestellt. Sowohl individuelle Vorlieben als auch Persönlichkeitsmerkmale werden mit der Herkunftsfamilie in Verbindung gebracht. Deren gemeinsamer Orientierungsrahmen bezieht sich auf die Unterordnung individueller Interessen unter die Interessen der familiären Gemeinschaft. Dies wird vor allem in Krisen offenkundig, in denen sich die Frage einer Trennung, wenn überhaupt, nur als Gedankenspiel äußert. Die Zeit nach der Krise geht oft einher mit dem Auszug der Kinder, sodass die Reibung zwischen dem Teilsystem der Kinder und der Eltern als Paar sich von alleine löst, d. h. die Paare definieren sich nicht mehr überwiegend als Eltern, sondern können (und müssen) sich wieder neu als Partner finden. Obwohl die sich zeitlich anschließende Rolle als Großeltern einen nicht unwichtigen Platz einnimmt, gibt es jetzt keinen Konflikt mit dem Ehesystem. Strukturidentisch zur früheren geschlechtsspezifischen Aufteilung in die Rolle der Hausfrau und Mutter und die des berufstätigen Vaters finden sie eine neue Rollenaufteilung in Ehrenamt, Hobbys und häuslichen Zuständigkeiten. Individuelles Aushalten und Abwarten: Das Bestehende festhalten In den Interviews der Paare dieses Typs finden sich unzählige Stellen, die ihren Orientierungsrahmen in Bezug zum Kontext eines großen Familienverbands stellen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist es eine vergangenheitsbezogene Orientierung, aus der innere Haltungen und Werte als Begründung für Handeln oder Nichthandeln herangezogen werden. 122
Gibt es Resilienztypen?
wenigen Ausnahmen abgesehen, ist es eine vergangenheitsbezogene Orientierung, aus der innere Haltungen und Werte als Begründung für Handeln oder Nichthandeln herangezogen werden.
Johan: ne ne, da sind wir ich sag mal, da sind wir auch von den Genen und von den Familien in unseren also in ihrer Familie gabs Unverheiratete, Onkels ja des ist auch was des ist jemand der keine Bindung gesucht oder gefunden hat und in unserer Familie Anne:
└ das hab ich mir noch nie überlegt ((atmet hörbar)):
Johan:
└ ja doch ich mein des schon ich ich mein es gibt ja Dinge die sich wiederholen es gibt es gibt in unserer Familie gab es auch jemand wo immer der Altersunterschied zwischen dem Mann und der Frau war immer ne Generation also des war immer so jemand geheiratet hat der 20 oder 30Jjahre jünger war aber in unserer Familie sind die die Ehen beständig, da hats nie Fremdgehen und daraus ziehende Konsequenzen gegeben, also ich denke
Anne:
└ wie, des gabs nicht
(Anne/Johan, Z. 319-331)
Johan geht in seiner Proposition so weit zu sagen, dass (Struktur-) Merkmale wie heiraten oder ledig bleiben oder der Altersunterschied zwischen den Paaren auf Gene zurückzuführen sind. Diese Eröffnung ist wie eine logische Ableitung und dient als Grundlage seiner Erklärungstheorie für die Beständigkeit von Ehen. Implizit sagt er damit, dass es nicht im Bereich individueller Entscheidungen liegt, ob man eine Außenbeziehung beginnt, d. h. fremdgeht oder nicht, sondern dies biologisch-genetisch durch die Familie so angelegt ist. Im folgenden Abschnitt zeigen die Textausschnitte den Zusam menhang zwischen einerseits Familien- und Generationenbezug und den daraus resultierenden Tugenden, die in den Habitus eines Typs münden, der mit Abwarten und Aushalten beschrieben werden kann. Nina:
das hast du mir nie geglaubt, dass ich im Keller da war mit dem Teppichmesser und und ich wollt einfach nicht mehr//mmh,mmh//: das hast du mir nie geglaubt und das war aber so und eh, ich hab noch am Gulli gesessen und gedacht, so, ne, wen die Kinder mich finden so, dass eh, dass eh werden sie ihr Leben lang nicht vergessen und das war die Rettung, ab da gings denn, da hab ich, auch, das sich Wichtig nehmen das war bei mir ein großer Punkt, ich weiß von zuhause, ich bin sehr preußisch erzogen worden, es hieß immer, nimm dich nicht so wichtig und das war in unserer Ehe auch noch so, eh
Robert: ja gut, so waren wir beide, konservativ gelebt: └Na ja
Nina:
└so wie das im vorigen Jahr-
Robert: hundert war Nina: Robert: Nina:
Typ 3: Orientierung an familiären Generationszusammenhängen └ja, sicher, aber └in gewisser Weise war das auch nicht nur negativ zu beurteilen, sondern hatte auch was für sich └sicher
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Wichtig nehmen das war bei mir ein großer Punkt, ich weiß von zuhause, ich bin sehr preußisch erzogen worden, es hieß immer, nimm dich nicht so wichtig und das war in unserer Ehe auch noch so, eh Robert: ja gut, so waren wir beide, konservativ gelebt: └Na ja
Nina:
└so wie das im vorigen Jahr-
Robert: hundert war Nina: Robert:
└ja, sicher, aber └in gewisser Weise war das auch nicht nur negativ zu beurteilen, sondern hatte auch was für sich └sicher
Nina:
Robert: Nicht, dass man alles ernster nimmt und nicht so überreagiert und alles hinschmeißt. (Nina/Robert, Z. 463-480)
Nina erzählt hier von ihrem Wendepunkt in der Krise, in dem sie den Wert des sich »Nicht-wichtig-Nehmens« (Nina/Robert, Z. 467/468) aus ihrer preußischen Erziehung heranzieht und reflektiert. Sich selbst als Person nicht wichtig zu nehmen, ist die Grundlage für das Aushalten und Ertragen von misslichen (Ehe-)Zuständen. Das Vorhaben und Nicht-Ausführen eines Selbstmords zeigt ihre Wende: Sie nimmt sich in ihrem Unglück jetzt wichtig und möchte es nicht mehr aushalten. Wegen der Kinder bringt sie sich nicht um und transferiert das Thema des Sich-Wichtig-Nehmens in ihren neuen Lebensabschnitt (»das Sich-wichtig-Nehmen das war bei mir ein großer Punkt«, Nina/Robert, Z. 467/468). Robert bezieht sich in seiner Orientierung auf den aus seiner Sicht positiv zu beurteilenden konservativen Teil der preußischen Erziehung in ihrem konjunktiven Erfahrungsraum, der einen Unterschied macht zwischen dem Ernstnehmen einer Situation und dem in seinem Erleben Sich-nicht-sowichtig-Nehmen, dass man die Beziehung oder gar sein Leben beendet. Nina: man mit guten Freunden auch machen können ja Robert: Ja, den Schnitt haben wir natürlich nicht gemacht, der Kinder wegen Nina:
Ne, die haben viel mehr gemerkt └Nich
Robert: Nina:
└Ja, ja, des haben sie uns erst hinterher gesagt, warum hat ihr euch eigentlich nicht getrennt und so, ja, ich glaube nicht, das es Feigheit von mir war, ich wollte auch das Bestehende festhalten, gerade auch weil ich eben auch Flüchtling war und alles, meinen Vater früh verloren hab, im Krieg schon, der ist auch nicht sehr alt geworden, der war sehr krank und des , ja
(Nina/Robert, Z. 300-307)
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Gibt es Resilienztypen?
Trotz ihrer existenziellen Krise, die im nächsten Abschnitt von Nina thematisiert wird, bleibt Nina bei ihrem Mann und trennt sich nicht. Ihren Orientierungsrahmen (»das Bestehende festhalten« (Nina/Robert, Z. 305)) begründet sie mit Erfahrungen aus der Vergangenheit (Nina/Robert, Z.300-307) und dem familiären Erleben des frühen Verlustes des Vaters. Der dieTrotz ihrer existentiellen Krise, die im nächsten Abschnitt von Nina thematisiert wird, bleibt sen Typ kennzeichnende Habitus ist das individuelle Aushalten und Nina bei ihrem Mann und trennt sich nicht. Ihren Orientierungsrahmen: „das Bestehende Ertragen von schwierigen Situationen und Krisen. Es gibt keine Hinfesthalten“ (Nina/Robert, Z.305) begründet sie mit Erfahrungen aus der Vergangenheit und weise darauf,Erleben dass sie Paar, d. h. dass Der sie diesen dies gemeinsam tun. dem familiärem des dies frühenals Verlustes des Vaters. Typ kennzeichnende Die Hintergründe fürAushalten das Aushalten sind in der jeweiligen Habitus ist das individuelle und Ertragen von vielmehr schwierigen Situationen und Krisen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass sie dies als Paar, d.h. dass sie diesist gemeinsam tun. Die persönlichen Lebensgeschichte verankert, und damit auch erst einHintergründe für dasund Aushalten sind vielmehr in der jeweiligen persönlichen Lebensgemal jeder allein sich selbst im Ertragen schwieriger Situationen schichte verankert, und damit ist auch erst einmal jeder allein und sich selbst im Ertragen überlassen. Der nächste Textausschnitt exemplifiziert diesen Begrünschwieriger Situationen überlassen. Der nächste Textausschnitt exemplifiziert diesen dungszusammenhang von Ertragen und familiärem Hintergrund. Begründungszusammenhang von Ertragen und familiärem Hintergrund.
Johan: da ist die Überschrift, Versöhnlichkeit ist die Wichtigste da hat se auch draußen einen Spruch hängen da hat se weil das auch das Lebensmotto meines Schwiegervaters war und des hat der also weitergegeben und des ist auch sagen wir mal die die die eh (5) eh hervorstechendste Eigenschaft dass sie mit gut es gibt Leute, die mag sie nicht Anne:
└ ((holt den Spruch))Versöhnlichkeit ist der beste Geist des Lebens, etwas von anderen ertragen lernen, sonst wird’s nicht besser auf Erden. Von Karl Förster .Sagt die der Name was. Der hat gelebt von 1879 bis 1970 diesen Förster hat mein Vater der war Chemiker und hatte einen Garten der war gärtnerisch meine Mutter genauso obwohl sie ein Stadtkind aus Berlin war, war wichtig und für mich ist das wichtig und das ist nicht dasselbe glaube ich.
(Anne/Johan, Z.236-246)
Bezeichnend ist hier neben den übermittelten Werten durch den Vater, die so wichtig sind, dass sie als Orientierungserinnerung in Form eines Wandspruchs im Eingangsbereich des Hauses hängen, die individuelle Zuschreibung durch ihren Mann. Er wiederholt »da hat se« (Anne/Johan, Z. 237). Es ist ihr Spruch, er kommt von ihrem Vater und erklärt ihre »hervorstechendste Eigenschaft« (Anne/Johan, Z. 239): ihre versöhnliche Haltung anderen Menschen gegenüber. Johan beobachtet und thematisiert (wie Robert auch) seine Frau in der Beziehungsgestaltung zu anderen Menschen, verbindet dies aber nicht mit sich oder ihrer Beziehung. Der folgende Interviewausschnitt belegt genau diese Vereinzelung. Typ 3: Orientierung an familiären Generationszusammenhängen
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Robert: Also das war dann auch für mich eine ganz tolle Zeit, nein, das wir heute so gut miteinander umgehen können, mindestens so gut wie als junge Leute, das hängst sehr stark damit zusammen, dass wir, dass Nina sich verselbständigt hat und, ich weiß das nicht im Detail, aber so ein bisschen kriege ich ja davon mit und unwahrscheinlich nette Bereicherung von Leuten, die man damit kennengelernt hat, Nina hat ja immer wieder hier auch Einladungen gemacht, nein, das war eigentlich eine Entwicklung, die man nicht hätte besser planen können, sage ich so im Nachhinein //mmh,mmh//: und Nina:
Und ich hab auch nicht so gesucht, ich hab gefunden und dafür bin ich so dankbar, dass mir das zugestoßen ist alles.// Ja, das glaube ich//:……..
(Nina/Robert, Z.400-409)
In der Beobachtung der Entwicklung seiner Frau beschreibt Robert die Facetten der Orientierung des individuellen Abwartens: Nina hat sich »verselbstständig« (Nina/Robert, Z. 402), an dieser Entwicklung hat er keinen Anteil, er weiß nicht einmal viel davon (»weiß das nicht im Detail«, Nina/Robert, Z. 403), und diese Entwicklung war nicht geplant, sondern ist passiert. Obwohl aus heutiger Sicht der Entwicklung von Nina von ihr initiierte Entscheidungsprozesse zugrunde liegen, stützt sich ihr Erleben auf Zufall: Es ist ihr passiert (»dass mir das zugestoßen ist«, Nina/Robert, Z. 409). Damit bekommt der Habitus des Abwartens vom Ende des Geschehens her seinen Sinn: Sie wird belohnt. Die Zuordnung von Paaren zu einem Typus unterstützt in der Therapie die Reduzierung der komplexen Aspekte in Bezug auf Wahrnehmungs-, Fühl- und Handlungsdimensionen. Sie gibt Anhaltspunkte auf die Fragen: Was ist diesem Paar wirklich wichtig? Was ergibt einen übergreifenden Sinnhorizont? Natürlich gibt es bei jedem Paar Unterschiede und individuelle Ausprägungen.
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Gibt es Resilienztypen?
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Wie stellt sich resilientes Verhalten bei Paaren her?
Durch die intensive und tiefe Betrachtung der Paargespräche mithilfe der Dokumentarischen Methode ergibt sich für den Umgang mit Paaren in Krisen in der Erfassung von resilienten Mustern eine Erweiterung. Gängige Konzepte beschreiben Resilienz in Bezug auf Einzelpersonen. Auf der Basis der Dokumentarischen Methode gelingt es zu beschreiben, wie sich Resilienz in sozialen Systemen herstellen kann. Resilienz ergibt sich eben nicht nur aus personenbezogenen positiven Merkmalen, sondern auch aus einem interaktiven Prozess. In diesem Schlusskapitel wird die Fragestellung »Wie stellt sich resilientes Verhalten bei Paaren her?« zusammenfassend skizziert und unter dem Aspekt der Spannung und Dynamik von Orien tierungsschemata und Orientierungsrahmen dargestellt. In der Rekonstruktion des empirischen Materials auf der Grundlage der Dokumentarischen Methode wurde im Diskurs der Paare unterschieden zwischen ihrem expliziten Wissen oder auch dem Orientierungsschema und ihrem impliziten Wissen oder auch dem Orientierungsrahmen. Für die Frage, wie sich die Resilienz bei Paaren herstellt, greife ich im Wesentlichen auf die schon erläuterten Begriffe »Orientierungsrahmen« und – synonym dazu – »Habitus« zurück. Habitus (und Orientierungsrahmen) bezeichnet »die Struktur der Handlungspraxis selbst« (Bohnsack 2013, S. 2) und »hat in diesem Sinne die Funktion des Gegenbegriffs zu demjenigen der Orientierungsschemata« (Bohnsack 2013, S. 2., Hervorhebung im Original). Unter Orientierungsschemata werden Bewertungen und Verhaltenserwartungen sowie, bezogen auf diese Untersuchung, rollenkonformes Handeln und Verhaltenserwartungen in der MannWie stellt sich resilientes Verhalten bei Paaren her?
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Frau-Beziehung verstanden. Das Orientierungsschema ist ein theoretisch-reflexives Wissen der Paare bezüglich ihrer Beziehungsdynamik, über ihre Erwartungserwartungen und deren Erfüllung oder – im Konfliktfall – deren Enttäuschung. Sei es beim Paar Johan und Anne, bei dem Johans Erwartung an Anne, dass sie – gleich einer Mutter – bei Tisch das Rederecht für ihn erkämpft, enttäuscht wird, sei es beim Paar Bruno und Thea, das um eine Regelung zwischen Nähe und Distanz in der Beziehung untereinander und zu Freunden ringt, oder sei es beim Paar Nina und Robert, in dem unterschiedliche Vorstellungen darüber existieren, was in einer Mann-FrauBeziehung, die gleichzeitig auch eine Elternbeziehung ist, an erster Stelle steht: die Zweisamkeit oder das Familienleben? Aus den Erzählungen vieler Paare lässt sich rekonstruieren, in welcher Weise die an sie gestellten Rollen- und Verhaltensanforderungen wahrgenommen werden und wie mit diesen umgegangen wird. Für den Nachvollzug und für die Erklärung von Resilienz ist gerade das Spannungsverhältnis von Orientierungsschema und Orientierungsrahmen im Sinne von Habitus von großer Bedeutung. Die Auseinandersetzung mit Normen und Werten lässt sich im Transkriptmaterial dort finden und rekonstruieren, wo sich die Akteur*innen innerhalb ihrer Erzählungen und Beschreibungen ihrer Handlungspraxis in Auseinandersetzung mit den an sie gestellten Erwartungen und Normen befinden. In der Rekonstruk tion der performativen Struktur (zur Erklärung: performativ ist die Herstellung einer »Wirklichkeit« im Moment des Sprechens. Eine performative Aussage zeichnet sich dadurch aus, dass das Adverb »hiermit« zur Verdeutlichung eingefügt werden kann (z. B.: Ich erkläre euch hiermit zu Mann und Frau). Bei der Betrachtung des Habitus wird deutlich, wie sich bei den Paaren durch sich wiederholende Auseinandersetzungen mit den an sie gerichteten Erwartungen der Habitus im Wandel begriffen bleibt. Es wird deutlich, dass sich aus den Erzählungen selbst beschreiben lässt, wie sich anfänglich belastende Situationen in der Paarbeziehung durch eine neue Konfiguration in der Relation von Orientierungsschemata und Habitus innerhalb des Orientierungsrahmens wenden zu einer Handlungspraxis, die sie als weitaus weniger belastend empfinden. Anders gesagt: Die ursprüngliche Spannung von gelebtem Leben 128
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und Normen und Erwartungen an ein Leben als Paar, seien sie von außen herangetragen oder durch das Paar selbst produziert, verändern sich zugunsten einer größeren Elastizität, Durchlässigkeit und Gelassenheit. Orientierungsmuster Orientierungsrahmen (im weiteren Sinne) Orientierungsschema
explizites Wissen kommunikatives Wissen Normen, Rollenhandeln, Erwartungserwartungen
Habitus (= Orientierungsrahmen im engeren Sinne) Spannungsverhältnis implizites/inkorporiertes Wissen konjunktives Wissen Modus operandi
Abbildung 4: Spannung zwischen Orientierungsschema und Habitus innerhalb des Orientierungsrahmens
Der Prozess einer resilienten Handlungspraxis als Auflösung des Spannungsverhältnisses von gesellschaftlicher Norm und eigener Handlungspraxis durch die Herstellung eines übergreifenden Orientierungsrahmens mit Problemen umzugehen, zeigt sich eindrücklich bei Bernd und Heinz in ihrem Diskurs über die Möglichkeit, ihre homosexuelle Beziehung in der DDR zu leben. In der Relation zu einem negativen Gegenhorizont von Verfolgung und Nichtakzeptanz (»man wurde nicht verfolgt oder irgendwas obwohl der Paragraf ja noch bestand« (Bernd/Heinz, Z. 24/25)) positionieren sie sich mit der Aussage »im Gegenteil« (Z. 29) und der unvermittelten Nennung der Berufsbezeichnung »er ist Zahntechniker« (Z. 30) als sozial anerkannt. Ihre gesamte Praxis als homosexuelles Paar ist darauf ausgerichtet, in der sie umgebenden Gesellschaft nicht durch ein Verhalten auffällig zu werden, das sie ausgrenzen würde. Wie stellt sich resilientes Verhalten bei Paaren her?
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An diesem Beispiel wird deutlich, dass der Wandel der Relation von Habitus und Orientierungsschema innerhalb des übergreifenden Orientierungsrahmens, der in der Interpretation der Fallgeschichten als Neurahmung nach der Krise gekennzeichnet wurde, für die Paare Handlungsräume aufzeigt, die sie als konfliktfreier erleben. Genau diesen Neurahmungsprozess bezeichne ich als Resilienz. Für die Rekonstruktion und Beschreibung von Resilienz bei Paaren ist es folglich notwendig, ȤȤ die Orientierungsschemata der kommunikativen Ebene mit den Theorien der Paare über ihr jeweiliges Handeln, ihre normativen Auseinandersetzungen untereinander, die jeweiligen Verortungen ihrer Identität oder ihre Identitätskonstruktion als Individuum und/oder als Paar in den Blick zu nehmen; ȤȤ den Habitus als den konjunktiven Erfahrungsraum mit den impliziten Wissensbeständen über eine gelingende oder problematische Handlungspraxis als Paar zu betrachten; ȤȤ die Dynamik der Relation zwischen Orientierungsschema und Habitus innerhalb des (erweiterten) Orientierungsrahmens in ihrem Wandel zu erfassen. Im vorhergehenden Abschnitt wurde noch einmal auf der Grundlage des empirischen Materials gezeigt, dass, im Unterschied zur bisherigen Betrachtungsweise, Resilienz nicht einfach als individuelles Merkmal vorhanden ist oder sich individuell bildet. Vielmehr werden individuelle Handlungen und Einstellungen in der Dynamik eines Paares und in ihrem Diskurs innerhalb eines gesellschaftlichen Kontextes zu einer spezifischen Rahmung geführt, die sich für die Bewältigung von Krisen und Konflikten als nützlich herausbilden. Die alleinige Ausrichtung auf individuelle Handlungen und Einstellungen zeigt sich so nicht per se vorteilhaft für die Bewältigung von krisenhaften Situationen, da sie in ihren unterschiedlichsten Aspekten komplex miteinander verwoben und eingebettet sind in einen Kontext, der von den konjunktiven Erfahrungsräumen der jeweiligen Generation, des Milieus und des Geschlechts geprägt ist. Damit ergeben sich für die beraterische Praxis neue Zugänge, die die Bewältigung von Krisen und Konflikten auf der Grundlage von lebens- und familiengeschichtlichen sowie sozialen Strukturierun130
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gen betrachten. Bruno Hildenbrand bezeichnet Resilienz deshalb als »relationale Dimensionierung« und »kontextbezogene Kategorie« (Hildenbrand 2005, S. 25). Heidrun Schulze verweist folgerichtig auf die Auswirkungen, die die »mehrdimensionale Aspekthaftigkeit« von Resilienz für die psychosoziale Praxis und in der Begleitung von Menschen in Krisen hat. »Mit diesen Annahmen verändert sich die Aufmerksamkeit und die Interaktion in institutionellen Begegnungen: sie haben ganz handlungspraktische Auswirkungen darauf, wie, über was und warum gesprochen wird, nach was gefragt wird und insbesondere wie zugehört wird« (Schulze 2007, S. 217). Damit ergeben sich insgesamt Impulse für die Professionalisierung von Beratung, die auch in der Supervision von Paartherapeut*innen angewendet werden können. Supervision ist grundsätzlich durch drei Aspekte gekennzeichnet (vgl. Rappe-Giesecke 1999, S. 31): 1. Sie dient der Verbesserung der Handlungskompetenz in Bezug auf Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz. 2. Sie erhöht die Arbeitszufriedenheit, indem sie Hilfen zur Verarbeitung belastender beruflicher Situationen zur Verfügung stellt. 3. Sie unterstützt die Überprüfung der Wirksamkeit des eigenen professionellen Handelns. Analog zur Beschreibung therapeutischen Arbeitens mit Paaren anhand von Transkripten lässt sich auch ein supervisorisches Vorgehen konzipieren. Im Sinne einer Erkenntnisgewinnung steht in der Dokumentarischen Methode die Typenbildung im Vordergrund. Deren Attraktivität für die Praxis der Beratung ergibt sich aus der methodischen Erschließung des Sinnbegriffs, welcher aus dem Kommunikationsgeschehen selbst heraus entwickelt wird und nicht aus den CommonSense-Stereotypen des Alltags, die auf Motivunterstellungen und Introspektion angewiesen sind. Üblicherweise sind Supervisionssitzungen gekennzeichnet durch eine Kommunikation über einen Fall. Mit den Grundlagen der Dokumentarischen Methode lässt sich direkt am Fall arbeiten: AnWie stellt sich resilientes Verhalten bei Paaren her?
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hand von Erzählpassagen bzw. Gesprächssequenzen von Klient*innen wird, ähnlich wie in einer Forschungswerkstatt, der Habitus der Klient*innen durch den beschriebenen Dreischritt von Proposition, Elaboration und Validierung rekonstruiert und im internen Fallvergleich durch Homologien überprüft. Der Zugang zum Habitus und die Auseinandersetzung mit dem Spannungsverhältnis von Orientierungsschema und Habitus innerhalb des gesamthaften Orientierungsrahmens der Klient*innen ermöglicht den Berater*innen einen Zugang zum impliziten Wissen der Klient*innen, den sie je nach therapeutischer Ausrichtung vielfältig nutzen können. Der zentrale Punkt hierbei ist die komparative Analyse, also der Vergleich von Textpassagen mit der Suche nach Ähnlichkeiten oder Unterschieden innerhalb eines Interviews und auch im Vergleich zu Textpassagen anderer Interviews. Erst über den Austausch von Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Fallmaterial werden während einer Supervisionssitzung Sinn- und Bedeutungszusammenhänge sichtbar. Gleichzeitig kontrolliert dieses methodische Vorgehen die Standortgebundenheit der Berater*innen, denn »würde man nicht empirisch vergleichen, wäre die einzige Alternative zur Selektivität des zu untersuchenden Feldes mein eigener Relevanzrahmen, d. h. die Normalitätsvorstellung, die ich selbst als Forscher bei der Behandlung des Themas walten lasse« (Nohl 2001, S. 45). Auch zur Aus- und Weiterbildung von Therapeut*innen und Berater*innen ergeben sich aus den bisher skizzierten Erkenntnissen inhaltliche und methodische Erweiterungen, insbesondere in Bezug auf drei wesentliche Punkte der Professionalität von Beratung: ȤȤ Einübung von Reflexivität, ȤȤ Methodenkompetenz in Bezug auf Fremdverstehen, ȤȤ Gestalten eines Rahmens für Resilienz. Die grundlegende Idee zur Einübung dieser Kompetenzen einer reflexiven Haltung und einer versierteren und dabei gleichzeitig kritischeren Ausübung von Methoden in der Praxis von Beratung beruht auf einem Setting analog einer Forschungswerkstatt. In einer Gruppe von Therapeut*innen werden gemeinsam Transkripte aus Therapie- und Beratungssituationen interpretiert und auf zukünftige therapeutische Vorgehensweisen hin durchgesprochen. Dieses Vor132
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gehen beruht auf der – auch persönlichen – Erkenntnis, dass Kompetenzen, die für qualitative Forschung erworben werden, auch eine Basis für professionelles Handeln darstellen. Meine Überlegungen beziehen sich auf die Vertiefung und Erweiterung der »wissenschaftlichen Reflexivität«. Dabei geht es vor allem um die Erkenntnis des eigenen Standorts, in den durch biografische Erfahrungen Vorannahmen eingelagert sind. Im Prozess des gemeinsamen Interpretierens von Transkripten aus Beratungssitzungen wird der eigene Standort nicht als subjektive Sicht ausgegrenzt, sondern methodisch kontrolliert. Überdies entsteht im gemeinsamen Reflexionsprozess mit der Therapeut*in eine Theoriegenerierung, die auf dem praktischen Erfahrungswissen der Klient*innen und der Therapeut*in beruht und die aus einer anfänglichen kritischen Paarsituation eine über diese hinausgehende sozialwissenschaftliche These macht, die unter Umständen sogar gängigen anderen Thesen kritisch gegenübersteht. Ein besonderer Reiz der Dokumentarischen Methode liegt darin, dass die reflexive Kompetenz des eigenen Standorts nicht gesondert betrachtet werden muss, da sie ein integraler Bestandteil der Methode selbst ist. Die Entwicklung reflexiver Kompetenz insgesamt ist umso mehr angezeigt, als sich vor allem das beraterische Verständnis in den letzten Jahren stark gewandelt hat: von einem »direktiven Beraterverständnis« zu einer »hoch reflexiv angelegte[n] Hilfeform« (Bauer u. Weinhardt 2014, S. 85). Bauer und Weinhardt beschreiben die Veränderung des psychosozialen Beraterverständnisses vor allem mit einem Wandel »bezüglich instruierender Information« hin zu einer Anregung von »Selbstklärungsprozessen« und einer Aktivierung von »Ressourcen zu alltagsnahen Lösungen« (Bauer u. Weinhardt 2014, S. 85). Methodenkompetenz in Bezug auf Fremdverstehen von Klient*innen stellt in der Weiterbildung von Berater*innen keinen besonderen Schwerpunkt dar, obwohl das Verstehen von Äußerungen ein essenzieller Bestandteil der Tätigkeit ist. Verstehen wird als kommunikative, als intuitive Fähigkeit vorausgesetzt wohl wissend, dass Gesagtes nicht nur Inhalte transportiert, sondern auch Einstellungen, Normen, Werte widerspiegelt. Eine reflektierte und systematische Verstehenskultur besteht nicht explizit. Hier wäre eine Orientierung an den Prinzipien der Dokumentarischen Methode Wie stellt sich resilientes Verhalten bei Paaren her?
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im Sinne eines vertieften Verständnisses nicht nur sinnvoll und wünschenswert, sondern geboten. Zur Interpretation von sprachlichen (aber auch bildlichen) Ent-Äußerungen bietet sich der gleiche Kanon von Vorgehensweisen an, der in dieser Arbeit zur Rekonstruktion von Gesprächen detailliert vorgestellt und eingesetzt wurde: ȤȤ Sensibilisierung für Sprache im Prozess in Bezug auf die Indexikalität von Sprache, ȤȤ Unterscheidung von Was und Wie durch formulierende und reflektierende Interpretation, ȤȤ Fallverstehen durch Fallvergleich im Aufsuchen von Homologien und Kontrasten, ȤȤ Rekonstruktion positiver und negativer Horizonte: Rekonstruktion des Enaktierungspotenzials, ȤȤ Analyse von Diskursmodi, ȤȤ Fotointerpretationen. Die methodologische Position einer Erkenntnistheorie, die sich aus der Praxis generiert, stellt die »Hierarchisierung des Besserwissens« (Luhmann, 1992, S. 510) in der Beziehung von Theorie, Methodologie und Praxiss in Frage. (vgl. dazu auch Bohnsack 2017, Kap. 10). Eine »Hierarchisierung des Besserwissens« findet dann ihre Fortführung in der Lehre und in Ausbildungsinstituten. Das Bewusstsein, sowohl von Therapeut*innen als auch von Klient*innen, ist sehr häufig geprägt von Begriffen wie »Anamnese« und »Diagnose«, einem Bewusstsein, das eine Idee von Wahrheit impliziert, die nur die Therapeutin oder der Therapeut kennt. Die Gestaltung eines Raumes, in dem Therapeut*innen und Klient*innen gemeinsam forschend lernen, bedeutet, einen Status des Wissens oder sogar Besserwissens aufzugeben. Nur durch die gemeinsame Interpretation von Texten bzw. Fotos in einem Aus- und Weiterbildungssetting bekommen die sonst eher unzureichend fassbaren Dimensionen von Introspektion und Empathie, die üblicherweise im Bereich individueller Attribuierungen und Projektionen verbleiben müssen, eine valide und interpersonell nachvollziehbare Basis.
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