Raum, Resilienz und religiös begründete Radikalisierung: Radikalisierungsprävention in städtischen Räumen 9783839461075

Befördern räumliche Konstellationen Prozesse der Radikalisierung oder können sie ihnen gar entgegenwirken? Im Kontext de

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German Pages 250 Year 2022

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Inhalt
Resilienz im Fokus der Stadt- und Radikalisierungsforschung: eine Einleitung
Räumliche Perspektiven auf Radikalisierung und Prävention
Der soziale Raum ist eine Momentaufnahme seiner Zeit
Radikalisierende Räume
Von »Brutstätten« und »Hochburgen« der Radikalisierung im städtischen Raum
Raumbezogene Radikalisierungsprävention
»Winning Hearts and Minds?«
Resiliente Räume und Zusammenhalt
Teilhabe, Zusammenhalt und Vernetzung als stadtteilorientierte Ansätze der Resilienzstärkung
Die Prävention demokratiegefährdender Polarisierung
Lokalexpertise und Narrative des gesellschaftlichen Zusammenhalts
Community-Kompetenz durch Empowerment und kollektive Wirksamkeit
Raumbezogene Präventionspraxis: Einblicke und Reflexionen
Mehr als präventiv: Jugendliche als Expert*innen ihrer eigenen Geschichte im Modellprojekt kiez:story
Lokale Identitätskonstruktionen als Resilienzfaktoren gegen religiös begründete Radikalisierung
Moscheegemeinden als gesellschaftliche Akteure
Verzeichnis der Autor*innen
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Sabine Behn, Britta Elena Hecking, Kayra Hohmann, Victoria Schwenzer (Hg.) Raum, Resilienz und religiös begründete Radikalisierung

Urban Studies

Sabine Behn, geb. 1960, arbeitet seit 1998 bei »Camino« (Werkstatt für Fortbildung, Praxisbegleitung und Forschung im sozialen Bereich gGmbH und Institut für gesellschaftliche Teilhabe und soziale Integration GmbH) und ist dort seit 2001 Geschäftsführerin. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Gewalt- und Radikalisierungsprävention sowie Jugendarbeit und Jugendforschung. Sie studierte Geschichte und Sozialwissenschaften an der Freien Universität Berlin. Britta Elena Hecking (Dr. phil.), geb. 1978, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei »Camino« und forscht an den Schnittstellen der Stadt- und Jugendforschung. Sie promovierte am Orientalischen Institut der Universität Leipzig im Lehrbereich Human- und Wirtschaftsgeografie. Kayra Hohmann, geb. 1997, studierte Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin und absolviert ihr Masterstudium der Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migrationsund Geschlechterstudien. Victoria Schwenzer, geb. 1968, ist seit 2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei »Camino« und setzt Evaluation und Praxisforschungsprojekte in den Themenfeldern Demokratieförderung und Radikalisierungsprävention, Sport, Migration sowie soziale Teilhabe um. Sie studierte Europäische Ethnologie und Germanistik in Tübingen, Barcelona und Berlin.

Sabine Behn, Britta Elena Hecking, Kayra Hohmann, Victoria Schwenzer (Hg.)

Raum, Resilienz und religiös begründete Radikalisierung Radikalisierungsprävention in städtischen Räumen

Die Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung des BMFSFJ oder des BAFzA dar. Für inhaltliche Aussagen tragen die Autorinnen und Autoren die Verantwortung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Jan Gerbach, Bielefeld Umschlagabbildung: Markus Spiske (https://unsplash.com) Lektorat: Annette Schmaltz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6107-1 PDF-ISBN 978-3-8394-6107-5 https://doi.org/10.14361/9783839461075 Buchreihen-ISSN: 2747-3619 Buchreihen-eISSN: 2747-3635 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Resilienz im Fokus der Stadtund Radikalisierungsforschung:  eine Einleitung Sabine Behn, Britta Elena Hecking, Kayra Hohmann, Victoria Schwenzer .................... 7

Räumliche Perspektiven auf Radikalisierung und Prävention Der soziale Raum ist eine Momentaufnahme seiner Zeit Zum Verhältnis von Raum, Radikalität und Resilienz Michael Gerland .......................................................................... 33

Radikalisierende Räume Skizze eines Projekts zu den räumlichen Mustern von Radikalisierung und Ansatzpunkte für den Transfer in die Prävention Gerrit Weitzel, Andreas Zick, Sebastian Kurtenbach, Janine Linßer, Armin Küchler ......... 53

Von »Brutstätten« und »Hochburgen« der Radikalisierung im städtischen Raum Eine Betrachtung aus Perspektive der kritischen Raumforschung Britta Hecking ........................................................................... 67

Raumbezogene Radikalisierungsprävention Skizzierung einer Strategie zur Implementierung fallunspezifischer und -spezifischer Handlungsansätze Sebastian Kurtenbach, Linda Schumilas, Andreas Zick .................................... 83

»Winning Hearts and Minds?« Eine intersektionale Perspektive auf Präventionsarbeit im städtischen Raum am Beispiel der britischen Prevent-Strategie Catharina Peeck-Ho ...................................................................... 101

Resiliente Räume und Zusammenhalt Teilhabe, Zusammenhalt und Vernetzung als  stadtteilorientierte Ansätze der Resilienzstärkung Britta Hecking, Victoria Schwenzer ...................................................... 123

Die Prävention demokratiegefährdender Polarisierung Erfahrungen aus einem europäischen Projekt Julia Rettig ............................................................................. 143

Lokalexpertise und Narrative des gesellschaftlichen Zusammenhalts Aushandlungen in einem partizipativen Forschungsprojekt Tatiana Zimenkova, Verena Molitor....................................................... 157

Community-Kompetenz durch Empowerment  und kollektive Wirksamkeit Eine Analyse sozialräumlicher Resilienz Victoria Schwenzer, Britta Hecking ...................................................... 173

Raumbezogene Präventionspraxis: Einblicke und Reflexionen Mehr als präventiv: Jugendliche als Expert*innen ihrer eigenen Geschichte im Modellprojekt kiez:story Pierre Asisi, Claudio Caffo, Phươ ng Thúy Nguyễn ........................................ 199

Lokale Identitätskonstruktionen als Resilienzfaktoren  gegen religiös begründete Radikalisierung Ein Essay Nabil Hourani ........................................................................... 219

Moscheegemeinden als gesellschaftliche Akteure Ansätze und Erfahrungen aus dem Projekt kiez-einander Lydia Nofal.............................................................................. 227

Verzeichnis der Autor*innen ..................................................... 245

Resilienz im Fokus der Stadtund Radikalisierungsforschung:  eine Einleitung Sabine Behn, Britta Elena Hecking, Kayra Hohmann, Victoria Schwenzer

Städte müssen heute gegenüber einer Vielzahl von Bedrohungen und Krisen resilient sein. Eine davon ist die Bedrohung durch Radikalisierung. Das Erstarken rechtsextremer Parteien ebenso wie der wiederkehrende Terror durch rechtsextremistische und islamistische Anschläge und die steigenden Fallzahlen ideologisch motivierter Hasskriminalität erfordern eine Auseinandersetzung mit dem breiten Phänomen der Radikalisierung. In einem Bericht über Entwicklungen und Trends »urbaner Sicherheit« gaben zwei Drittel der 21 befragten Städte an, dass Radikalisierung für sie die größte Herausforderung sei – vor den Themen Jugendgewalt, Sicherheit im öffentlichen Raum und organisierte Kriminalität (Rettig et al. 2022). Diese Einschätzung bezieht sich allerdings nicht vordergründig auf eine unmittelbare Bedrohungslage vor Ort, sondern darauf, dass Radikalisierung als aktuelles gesellschaftspolitisches Thema wahrgenommen wird, auf das Städte präventiv reagieren müssen. Radikalisierung ist nicht nur ein urbanes Phänomen – dennoch gibt es spezifische Beziehungen zwischen städtischen Räumen und Radikalisierung: Städtische Räume sind Zentren der Macht und spielen als politische Orte eine Rolle für die Machtkämpfe extremistischer Gruppen, sie sind mediatisierte Räume, die durch Terroranschläge Aufmerksamkeit erzeugen. Gleichzeitig gelten urbane Räume als Alltagsort besonders vieler Menschen, sind dadurch Orte der Begegnung und der Anonymität und bieten somit Gelegenheiten für Mobilisierung und Rekrutierung. Für viele Menschen sind darüber hinaus die öffentlichen und gemeinnützigen Räume einer Stadt eine wichtige Ressource, insbesondere im Zusammenhang mit sozialen Unsicherheiten und Armut. Hier setzen extremistische Akteure an und übernehmen Aufgaben im sozialen Bereich, wie z.B. Freizeit- und Bildungsangebote für Jugendliche oder Nahrungsmittelspenden (Radicalisation Awareness Network (RAN) 2020). So lassen sich islamistische Akteure häufig in marginalisierten Stadteilen nieder, die in den europäischen Einwanderungsstädten meist auch Einwanderungs- und Ankommensquartiere sind. Dies kann mit der Verfügbarkeit

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günstiger Immobilien in diesen Quartieren zu tun haben (ebd.), aber auch mit Vorstellungen davon, wer besonders anfällig für die eigene extremistische Ideologie sein könnte (Bouhana 2019, 15). Auch in den Medien und in der Radikalisierungsforschung ist die Benennung bestimmter Stadtteile als »Brutstätten« oder »Hochburgen« religiös begründeter Radikalisierung weit verbreitet (vgl. Hecking in diesem Band). Dies beruht auf der Annahme, dass es eine Beziehung zwischen dem Aufwachsen in einem marginalisierten Stadtteil und Radikalisierung gibt. Als Interventionsräume sozialer Stadtentwicklungspolitiken werden marginalisierte Stadtteile darum zunehmend auch zu Laboratorien für Radikalisierungspräventions- und Sicherheitspolitiken (vgl. Peeck-Ho in diesem Band). Ob und wie ungleiche Stadtentwicklung eine Rolle im Prozess der Radikalisierung spielt, wird jedoch kontrovers diskutiert. Eindeutig lässt sich feststellen, dass sich die Mehrheit der Stadtbewohner*innen trotz wachsender urbaner Ungleichheiten und multipler sozialer Unsicherheiten nicht radikalisiert, also über gewisse Resilienzen zu verfügen scheint, die sie widerstandsfähig gegen diverse Arten der Radikalisierung machen. Diese Resilienzen städtischer Räume stehen im Fokus des vorliegenden Sammelbands »Raum, Resilienz und religiös begründete Radikalisierung«. Entstanden ist dieser Sammelband im Rahmen des Praxisforschungsprojektes Resiliente Sozialräume und Radikalisierungsprävention, das von 2019 bis 2022 durch das Bundesprogramm Demokratie leben! des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert wurde. Im Rahmen dieses Projektes wurden Risiko- und Schutzfaktoren gegenüber religiös begründeten Affinisierungs- und Radikalisierungsprozessen am Beispiel zweier ausgewählter innerstädtischer Sozialräumen herausgearbeitet. Die zentralen Ergebnisse aus der Praxisforschung werden in den Beiträgen von Britta Hecking und Victoria Schwenzer in diesem Band aufgegriffen.

Religiös begründete Radikalisierung: eine Begriffsbestimmung Der Begriff der »Radikalisierung« ist heute im alltäglichen Sprachgebrauch allgegenwärtig, doch nicht immer wird klar oder einheitlich bestimmt, worauf er sich genau bezieht. Definition und Verwendung der Begriffe »Radikalisierung« und »Extremismus« haben jedoch erhebliche Auswirkungen auf politische Interventionen (Hardy 2019); beide Bezeichnungen sollten darum in ihrer Bedeutung und Verwendung kritisch reflektiert werden. Unter dem Begriff der »religiös begründeten Radikalisierung« verstehen wir einen Prozess, in dem ein Individuum oder eine Gruppe religiös begründete Denkund Handlungsweisen entwickelt oder übernimmt, die gegen Menschenrechte verstoßen, Gewalt legitimieren und demokratische Prinzipien und Lebensformen ab-

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lehnen, sowie unter Umständen auch Gewalt ausübt und dies mit Bezug auf eine Religion begründet1 . Dieses Verständnis von Radikalisierung beinhaltet nicht, dass es in der Mitte demokratischer Gesellschaften und in ihren Institutionen keine Menschenrechtsverstöße oder ideologisch begründete Gewalt gibt, wie es durch einen Extremismusbegriff, der diese an den »Rändern« verortet, impliziert wird2 . Vielmehr verstehen wir »Radikalisierung« als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Was als radikal gilt, hängt letztendlich von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, genauer: der etablierten Gesellschaftsordnung, ab. Im Unterschied zum Begriff »Extremismus«, der eine Zustandsbeschreibung darstellt, hat der Begriff »Radikalisierung« einen Prozesscharakter und wird damit der Prozesshaftigkeit und Komplexität des bezeichneten Problems eher gerecht. Die Rolle der Religion im Radikalisierungsprozess wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Während die einen einen deutlichen Bezug und somit eine Radikalisierung fundamentalistischer religiöser Werte und Praktiken sehen (Kepel 2009; Mansour 2017), gehen andere eher von einer Islamisierung der Radikalität aus (Kiefer et al. 2018; Roy 2017). Mit der Bezeichnung der »religiös begründeten Radikalisierung« beziehen wir uns auf die Theorie des religiösen Framings radikaler Kämpfe und stellen Religion nicht als Ursache für Radikalisierung in den Vordergrund. Wir gehen davon aus, dass die Bedeutung von Religion im Radikalisierungsprozess variieren kann und in Beziehung zu unterschiedlichen Bedürfnissen steht, z.B. dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Orientierung, Lebenssinn, Aufwertung oder Vergebung. Einig ist sich die Forschung darin, dass es keine monokausalen Erklärungen für Radikalisierungen und keine einheitlichen Profile »Radikalisierter« gibt. Die Literatur diskutiert eine Vielzahl an Erklärungsansätzen und Risikofaktoren für Radikalisierungsprozesse, die sich grob in individuelle Faktoren (z.B. persönliche und familiäre Krisensituationen, Bindungsverlust, Sinnsuche), gruppenbezogene Faktoren (z.B. Peer-Gruppen-Dynamik, kollektive Ungerechtigkeitserfahrungen) und strukturelle Faktoren (z.B. Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen, Armut und soziale Ungleichheit) unterscheiden lassen (vgl. Neumann 2020; Srowig 1

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Im vorliegenden Sammelband verwenden wir den Begriff der »religiös begründeten Radikalisierung«, um den Prozess der Hinwendung zu Gruppen zu beschreiben, die unter dem Sammelbegriff »Islamismus« zusammengefasst werden. Dieser kann gefasst werden als Bezeichnung »für alle politischen Auffassungen und Handlungen, die im Namen des Islam die Errichtung einer allein religiös legitimierten Gesellschafts- und Staatsordnung anstreben« (Pfahl-Traughber 2011). Der Begriff ist unscharf, weil er eine Vielzahl von Strömungen umfasst, und wird in medialen Diskursen häufig mit Terrorismus verknüpft, während im akademischen Diskurs die kausale Verbindung von Islamismus und Gewalt/Terror kritisiert wird. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff »Extremismus« siehe Baron et al. 2018.

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et al. 2018, 1ff.). Einige Autor*innen nehmen den Versuch vor, diese Prozesse in Form von Modellen zu erklären, wobei der lineare und statische Charakter dieser Modelle, z.B. des Vier-Phasen-Modells von Silber und Bhatt (Silber/Bhatt 2007) oder des Fünf-Stufen-Modells von Moghaddam (Moghaddam 2005), als ungenügend zur Erklärung der Mechanismen von Radikalisierung gilt. Wir ordnen Radikalisierung als einen komplexen und nicht zwangsläufig linearen Prozess ein, der keine monokausalen Erklärungsansätze zulässt. Wir verstehen sie als einen sozialen Prozess, der durch ein Wechselspiel struktureller und individueller Faktoren gerahmt ist (Vidino et al. 2017). McDonald hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass sich viele Erklärungsansätze auf die Vulnerabilität von Individuen oder Gruppen beziehen und Radikalisierung als passiven Prozess beschreiben, in welchem einer vulnerablen Person Radikalisierung quasi »angetan« wird (McDonald 2018, 10). Dahingegen beinhaltet Radikalisierung auch Aspekte aktiver Lebensgestaltung und selbstbestimmter Entscheidungen und ist dadurch vielmehr ein Prozess »… full of exchanges, communications and shared emotions« (ebd., 11).

Raum, Radikalisierung und exposure Ob und wie der Raum eine Rolle im Prozess der Radikalisierung von (jungen) Menschen spielen kann, wird wissenschaftlich kontrovers diskutiert und ist empirisch nicht einfach zu beantworten, eben weil die Ursachen für Radikalisierung vielschichtig sind und religiös begründete Radikalisierung in Deutschland mit Blick auf die Fallzahlen ein »Mikro-Phänomen« bleibt. In der Beschäftigung mit ihren Ursachen und den Hinwendungsprozessen zu extremistischen Ideologien werden in erster Linie Biografien von Auslandskämpfer*innen und Täter*innen oder Einstellungen und Deutungsmuster Jugendlicher analysiert. Im Fokus stehen dadurch vor allem individuelle Ursachen und Verläufe von Radikalisierung (Srowig et al. 2018), z.B. biografische Brüche und Krisen sowie geringe Selbstkontrolle (Bouhana 2019) oder Identitätskrisen und Bedürfnisse nach Anerkennung und Aufwertung (z.B. Khosrokhavar 2016; Roy 2017). Auch das Interesse an Online-Radikalisierung hat dazu beigetragen, die Beschäftigung mit lokalen Kontexten und der Frage nach dem »Wo« in den Radikalisierungsverläufen (Bouhana 2019) in den Hintergrund zu rücken bzw. populärwissenschaftlicher, ideologisch gefärbter und medialer Berichterstattung zu überlassen. International und insbesondere auch in der deutschsprachigen Forschung gibt es nur wenige Studien, die sich stadtsoziologisch oder raumtheoretisch fundiert mit den möglichen Zusammenhängen zwischen Raum und Radikalisierung auseinandersetzen (für einen Forschungsüberblick siehe Hecking, Kurtenbach et al. und Weitzel et al. in diesem Band). Es scheint, als würden in der Radikalisierungs-

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forschung und -prävention häufig hegemoniale Annahmen und Konzepte aus der Stadtforschung und -politik übernommen, die einer tief verankerten Angst vor den städtischen »anderen« entspringen – seien es die »städtischen Armen« im globalen Süden (Bayat 2012) oder die rassifizierten muslimischen Communities (Tsianos 2013) in europäischen Städten. So wird z.B. Segregation sehr häufig als Risikofaktor für Radikalisierung genannt, obwohl sich in der Mehrheit marginalisierter Stadträume keine Konzentration von Radikalisierungsfällen beobachten lässt. Wir schlagen hier unter Bezugnahme auf die Arbeiten von Bouhana (Bouhana 2019; Bouhana/Wikström 2011) einen anderen Blick vor: Eine räumliche Perspektive bietet die Möglichkeit, das Zusammenspiel individueller und struktureller Faktoren, die eine Anfälligkeit für Radikalisierung beeinflussen, zu untersuchen, und diese Anfälligkeit wiederum in Beziehung zu sozialer Selektion und exposure (d.h. dem Ausgesetztsein gegenüber Radikalisierung) zu setzen: »… to be truly vulnerable to something, one needs to be at risk of coming into contact with it. In other words, one needs to be at risk of exposure. [As] much as we need to understand why people vary in their susceptibility to extremism, we need to understand why they vary in their risk of exposure to extremism-enabling environments. We need to understand selection.« (Bouhana 2019, 14) Die individuelle Anfälligkeit von Individuen entsteht z.B. durch krisenhafte Lebensereignisse oder durch den Verlust unterstützender Bezugspersonen und Netzwerke. Diese begünstigen eine kognitive und emotionale Öffnung für extremistische Ideologien, da in sich verändernden Lebenssituationen und Momenten persönlicher Krisen bestimmte Bedürfnisse oder Verunsicherungen auftreten (Bouhana/Wikström 2011), die von extremistischen Gruppen befriedigt oder aufgefangen werden können. Vulnerabilität entsteht erst dann, wenn anfällige Individuen in ihren Aktivitätsräumen auf Angebote extremistischer Akteure stoßen (Crenshaw 1981), diesen also durch Prozesse der Selektion ausgesetzt sind. In Anlehnung an Bouhana nehmen wir an, dass eine Hinwendung zu radikalen Ideologien oder Gruppen nicht nur einer persönlichen Anfälligkeit entspringt, sondern auch davon abhängt, ob es vor Ort »Radikalisierung fördernde Settings« gibt (Bouhana 2019). Radikalisierung findet demnach meist in solchen Settings statt, in denen es keine Kontrolle durch Akteure gibt, die sich an konventionellen Normen und moralischen Regeln orientieren, oder in Settings, die sich der Beobachtung und Kontrolle entziehen, z.B. durch einen Rückzug in private Räume (Bouhana/Wikström 2011, 36).

Raum, Radikalisierung und Macht Forschung, die sich mit der Bedeutung von Räumen in Radikalisierungsprozessen befasst, sollte Räume immer auch in ihrer Beziehung zu gesellschaftlichen Macht-

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verhältnissen betrachten. Durch die raumbezogene Perspektive können dann gesellschaftliche Ungleichheiten und Machtverflechtungen sichtbar gemacht und in ihrer Bedeutung für Radikalisierungsprozesse untersucht werden. Der vorliegende Sammelband möchte einen Beitrag dazu leisten, diese Zusammenhänge zu beleuchten. Eine theoretisch und empirisch fundierte Forschung kann dazu beitragen, medial vermittelte Bilder sogenannter »Brutstätten der Radikalisierung«, »extremistischer Hochburgen« oder negativer Zukunftsszenarien kritisch zu betrachten und stattdessen differenzierte Erkenntnisse über mögliche Zusammenhänge von Raum und Radikalisierung zu gewinnen. Gleichzeitig soll die Resilienz von Räumen in den Blick genommen werden. Raum wird heute in der Sozialforschung als sozial (re-)produziert betrachtet (Lefebvre, 1991 [1974]) und gilt als unabgeschlossenes Produkt von Wechselbeziehungen, das laufend neu hergestellt und verändert wird. Die (Re-)Produktion des Raums ist dabei stets ein machtgeladener Vorgang. Werden städtische Räume als sozial produzierte Räume untersucht, können die verschiedenen Akteure, die an der Produktion des Raums beteiligt sind, und ihre Beziehungen zueinander in den Blick genommen werden. Dazu gehören beispielsweise neben den Bewohner*innen und Nutzer*innen eines Stadtteils auch Wissenschaftler*innen, Sicherheitsakteure, Stadtplaner*innen oder Sozialarbeiter*innen, die über ihre Performanzen im Raum sowie über das Wissen und die Diskurse, die sie herstellen, zur Produktion eines Raums beitragen (Dirks et al. 2016). Aber auch radikale Akteure können räumliche Strategien verfolgen, indem sie durch symbolische »Raumbesetzungen« ihre Dominanz im Raum ausdrücken. So sind z.B. »rechte Räume« zugleich ein Produkt rechtsextremer Aktivitäten und Raumbesetzungen als auch ein Konstrukt der Forschung. Rolfes kritisiert, dass in solchen Darstellungen die unterschiedlichen Perspektiven und Beziehungen der Bewohner*innen zum Raum und vor allem ihre Widerstände häufig nicht oder zu wenig gesehen werden (Rolfes 2011). Der vorliegende Sammelband knüpft an diese Perspektive an. Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit dem Konzept der »Resilienz« ist die Annahme, dass Räumen ein transformatives Potenzial inhärent ist. Um das resiliente Potenzial von Räumen in den Blick zu nehmen, ist es notwendig, diese in ihrer Vieldeutigkeit zu fassen. Die »Multiplizität des Raums« (Massey 2005) beruht auf dem Verständnis, dass sich Menschen nicht in abgeschlossenen »Containern« bewegen, sondern Räume durch ihre Praktiken und Beziehungen produzieren und mitgestalten: »… space is a product of practices, relations, connections and disconnections. We make space in the conduct of our lives, and at all scales, from the intimate to the global.« (Massey 2006, 89f.)

Resilienz im Fokus der Stadt- und Radikalisierungsforschung: eine Einleitung

Räume und gesellschaftliche Machtverhältnisse werden in ihrer wechselseitigen Wirkung also kontinuierlich reproduziert, aber auch durch Aneignungsprozesse herausgefordert und verändert. Die Entwicklung eines Raums ist somit als ein fortlaufender und offener Prozess zu fassen. In Bezug auf das Thema der religiös begründeten Radikalisierung heißt das: Selbst wenn es in einem Raum mögliche Risiko- und Konfliktpotenziale für Radikalisierung gibt oder radikale Akteure sich vor Ort verankern, muss sich dieser Raum nicht zwangsläufig zu einem sogenannten Zentrum extremistischer Aktivitäten entwickeln. Im vorliegenden Sammelband wollen wir den Blick auf die Resilienzen und Widerstände in städtischen Räumen gegenüber Radikalisierung richten, aber auch auf raumbezogene Ansätze der Radikalisierungsprävention und ihr Verhältnis zur Resilienz des Raums eingehen. Die Resilienzperspektive, so unsere Annahme, bietet die Möglichkeit, Reaktionen auf Bedrohungen und Krisen zu fokussieren, gleichzeitig aber den Blick auf die in den Stadtteilen vorhandenen Potenziale zu richten (z.B. auf ein dichtes soziales Netz) sowie auf ihre Funktion als »sichere« Räume für Minderheiten oder als Vorreiter für Inklusion und Teilhabe in der Migrationsgesellschaft.

Zum Resilienzbegriff Der aus der Physik und Materialforschung entlehnte Begriff der »Resilienz« (lat. resilire: zurückspringen) bezeichnet die Dehnbarkeit und die Fähigkeit von Materialien, ihren Ausgangszustand nach einem Fremdeinwirken wiederherzustellen (bouncing back). Von der Psychologie wurde der Begriff übernommen, um die Widerstandskraft eines vulnerablen Individuums im Kontext einer Krise zu bezeichnen. In den Sozial- und Politikwissenschaften wurde er auf die Widerstandskraft, Anpassungs- und Innovationsfähigkeit von Organisationen und Gruppen übertragen (Rahner 2021, 48f.). Mit »sozialer Resilienz« bezeichnen Christmann et al. »die Fähigkeit sozialer Systeme, aus früheren Erfahrungen mit gefährdenden Ereignissen zu lernen, sich an veränderte Bedingungen anzupassen und erforderliche Transformationen im sozialen System erfolgreich vorantreiben zu können« (Christmann et al. 2018, 185). Im Zentrum der psychologischen Resilienzforschung stand zu Beginn die Frage, warum sich Kinder mit den gleichen negativen Ausgangsbedingungen (z.B. Gewalt, Vernachlässigung, Traumatisierung) unterschiedlich entwickelten, also warum und wie es manchen Kindern gelingt, sich trotz aller Hindernisse positiv zu entwickeln. In der Forschung, die sich mit den Resilienzen von Kindern und Jugendlichen in von Problemen und Krisen gekennzeichneten Lebenslagen befasst, werden dazu sogenannte Risiko- und Schutzfaktoren identifiziert und ihr Verhältnis zueinander für die Ausbildung von Resilienzen untersucht. Wichtig ist es,

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zu betonen, dass sich Resilienz aus erlern- und förderbaren Fähigkeiten entwickelt und dass die Resilienzperspektive nicht die Defizite oder Risiken in den Vordergrund stellt, sondern vorhandene Potenziale in den Blick nimmt. Dabei gilt es zu beachten, dass einzelne Schutzfaktoren gleichzeitig auch als Risikofaktoren gelten können, denn »die Resilienz von X kann zur Vulnerabilität von Y werden« (ebd., 186). Diskutiert werden hierzu unter anderem die Bedeutung von PeerBeziehungen in der Gewaltprävention (vgl. Bröckling 2017, 119 mit Bezug auf Bender/Lösel 1996) oder der Rückgriff auf Gewalt, die für junge Menschen durch ihre ermächtigende Funktion vorübergehend auch resilienzstärkend wirken kann: »Far from justifying antisocial behaviour, recent research on risk and resilience does indicate that deviant or problem behaviour can help some individuals experience themselves as resilient.« (Grossman et al. 2017, 17) Resilienzen stehen also in Beziehung zu unterschiedlichen Positionalitäten von Akteuren und ihren Beziehungen zueinander in sozialräumlichen Kontexten. Für die Resilienzforschung stellt sich daher immer die Frage, aus welcher Perspektive und Positionalität heraus Widerstandsfähigkeit definiert wird. Es muss also beachtet werden, dass sich die Wahrnehmung von Krisen und Handlungsbedarfen je nach Sprecher*in unterscheidet, insbesondere bei Betroffenen und Nicht-Betroffenen, und dass nicht alle betroffenen Akteure in der Einschätzung von Risikolagen und Resilienzen gehört werden: »So, the first question in relation to resilience narratives should be – whose voice is heard, and how does it get articulated?« (Brantz/Sharma 2020, 21) Dies ist insbesondere für die policy-orientierte Resilienzforschung von Bedeutung, da diese mit Interventionen einhergeht, die in das Leben der Zielgruppen von Resilienzmaßnahmen eingreifen. Bröckling reiht den Begriff der »Resilienz« neben dem der »Prävention« im foucaultschen Sinn als »Regierungstechnik« ein (Bröckling 2017). In der Präventionsarbeit und -forschung wird der Resilienzbegriff sowohl synonym als auch alternativ zum Begriff der »Prävention« verwendet: »Während Prävention heute interveniert, damit morgen die befürchteten Schäden nicht eintreten, will Resilienzförderung heute dazu befähigen, die möglicherweise morgen eintretenden Schäden besser zu bewältigen« (ebd., 115f.). Demnach geht die Resilienzperspektive also nicht davon aus, dass Katastrophen, Krisen oder Bedrohungen immer gänzlich verhindert werden können. Im Unterschied zur Prävention folgt sie darum nicht der Logik des Verhinderns, sondern der Logik des Stärkens vorhandener Potenziale und Schutzfaktoren, um die Handlungsfähigkeit eines Individuums, einer Gruppe oder einer Stadt gegenüber möglichen Bedrohungen zu fördern. Hieraus kann sich auch ein wesentlicher Unterschied zwischen Ansätzen der Prävention und der Resilienzstärkung ergeben, wenn »Resilienz« nicht einfach nur zu einem anderen Wort für »Prävention« wird.

Resilienz im Fokus der Stadt- und Radikalisierungsforschung: eine Einleitung

So macht es im Hinblick auf das Stigmatisierungspotenzial im Themenfeld der religiös begründeten Radikalisierung einen Unterschied, ob bestimmte Stadtteile oder Gemeinschaften bezüglich ihrer Defizite oder Anfälligkeiten oder bezüglich ihrer Potenziale und Widerstände in den Blick genommen werden. Es gibt jedoch auch deutliche Kritik am Resilienzbegriff. Dieser wird von Kritiker*innen als »Modewort« und neoliberales Instrument zur Übertragung der Verantwortung an private Akteure und Bürger*innen wahrgenommen, die den Rückzug des Staats im Umgang mit aktuellen Krisen und Bedrohungen ausgleichen müssen: »Resilience is, in this view, the mask that hides the face of the shrinking state« (Brantz/Sharma 2020, 13). Die häufige Verwendung des Begriffs ohne theoretische Fundierung hat mitunter auch dazu geführt, dass er an Definitionsschärfe und theoretischem Gehalt verloren hat (Christmann et al. 2012, 1). Auch bleiben z.B. historische Bedeutungen und Entwicklungen eher unbeachtet (Moss 2020, 211), ebenso wie die Beziehungen zwischen Raum und Resilienz – und das, obwohl Resilienzstrategien oft räumlich orientiert sind. Insbesondere die Kritik an der neoliberalen Instrumentalisierung des Begriffs erscheint uns hier relevant und sollte bei seiner Verwendung im Forschungskontext Berücksichtigung finden, indem deutlich gemacht wird, welche Rolle staatliche bzw. kommunale Infrastruktur bei der Stärkung von Resilienzen in Städten und Stadtteilen spielt. In der raumbezogenen Resilienzforschung, an die wir mit diesem Sammelband anknüpfen, geht es nicht nur darum, das Vorhandensein bestimmter Schutzfaktoren im Raum zu identifizieren und zu analysieren, sondern auch um das resiliente Potenzial von Räumen an sich. Räume werden demnach auch als Ressourcen verstanden: Die Nutzung und Aneignung bestimmter Räume entfaltet Resilienzen – angefangen von der Nutzung und Aneignung öffentlicher Räume für Praktiken des Sich-Durchschlagens (Bayat 2012) bis hin zur Nutzung und Aneignung des transformativen und somit auch politischen Potenzials von Räumen (Harvey 2013; Lefebvre 1991 [1974]; Massey 2005).

Stadt-Raum und Resilienz Städten wird in der Resilienzforschung eine bedeutende Rolle zugeschrieben. Zum einen ist dies damit zu begründen, dass viele der großen Krisen des 21. Jahrhunderts (z.B. der Klimawandel und die globale Finanzkrise) auch urbane Krisen sind. Ihre Konsequenzen wirken sich in besonderem Maß auf das Leben in Städten aus: »The consequences are understood to be especially acute for cities, given their population densities and immense metabolic needs, their interconnected infras-

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tructures, their strategic significance as sites of business, political and institutional power, and the high concentration of vulnerable people and places within them. These features are seen to increase urban exposure to hazard, but also to contribute to risk through such consequences as excessive energy consumption and carbon emissions, the juxtaposition of immense wealth and power differentials, and stresses placed on urban infrastructures and services.« (Amin 2014, 309) Zum anderen waren Städte immer schon Orte des Wandels und der Innovation. Damit verfügen sie über Eigenschaften, die für die Ausbildung von Resilienzen wichtig sind, und zwar sowohl auf der Ebene der strategischen Resilienzförderung durch Stadtentwicklungsakteure als auch auf der Ebene des alltäglichen Zusammenlebens durch Alltagspraktiken der Bewohner*innen. Städte sind einer Vielzahl von Bedrohungen ausgesetzt und stehen demnach in einem stetigen Spannungsfeld diverser Risikolagen und vielfältiger Resilienzen (Brantz/Sharma 2020). Daher sind auch die Themen der stadtbezogenen Resilienzforschung breit aufgestellt und variieren von Naturkatastrophen, Umweltbelastungen, dem Ausfall von Infrastrukturen, Finanzkrisen, organisierter Kriminalität, Terrorismus und der Verlagerung der Kriegsführung in den urbanen Raum (Graham 2013) bis zu sozialen Konflikten und gesellschaftlicher Polarisierung. Der Resilienz-Ansatz scheint hier vielversprechend, da durch die Ressourcenorientierung auch Schutzfaktoren identifiziert werden, die phänomenübergreifend zum Umgang mit Krisen und Problemen beitragen. Bei der Entwicklung von Maßnahmen zur Resilienzstärkung durch Akteure aus der Stadt- und Sozialpolitik muss daher klar definiert werden, mit Bezug auf welche Gefährdungen und mit welchem Ziel diese implementiert werden (Christmann et al. 2018, 188). Ein großer Teil der Forschung, die sich mit städtischen Räumen und Resilienz befasst, konzentriert sich auf die lokale Ebene und nimmt Stadtteile oder territorial definierte Gemeinschaften in den Blick – ausgehend von der Annahme, dass Resilienzen lokalspezifisch wirken. Dennoch sollten lokale Kontexte oder Stadtteile nicht als feste, in sich geschlossene Containerräume betrachtet werden, sondern als relationale Räume (Löw 2018; Massey 2005), die mit anderen räumlichen Ebenen (scales) ebenso wie mit anderen Orten verflochten sind. Somit ist Resilienz zugleich lokalspezifisch und relational (Moss 2020, 214). In der englischsprachigen Resilienzforschung stehen Communities im Fokus, doch auch die Community-Forschung musste sich in den letzten zwei Jahrzehnten mit den Veränderungen des urbanen Alltags durch Mobilität und räumliche Entankerung in der globalisierten und digitalisierten Stadt auseinandersetzen (Blokland 2017). Zum übergreifenden Konsens der quartiers- und community-bezogenen Resilienzforschung zählen die Fülle und Vielfalt an Ressourcen und die adaptive Fähigkeit, diese zu nutzen, sowie die Fähigkeit, aus Krisen zu lernen. Hierfür wiederum spielen Vernetzungen innerhalb von Gemeinschaften sowie die Bindungen zu

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externen Akteuren eine Rolle (Longstaff et al. 2010; Norris et al. 2008; Schnur 2013). Auch in Deutschland wird das Potenzial des Resilienzkonzepts zur Untersuchung des Umgangs mit Krisen auf städtischer Ebene erforscht. Im Rahmen eines Gutachtens zu resilienten Städten für das Forschungsforum »Öffentliche Sicherheit« der Freien Universität Berlin haben Kilper und Christmann 2015 den internationalen Forschungsstand systematisch ausgewertet und nennen folgende Faktoren als resilienzstärkend: »Redundanz, Vielfalt, Flexibilität/Anpassungsfähigkeit und in diesem Zusammenhang auch Innovationsfähigkeit« (Kilper/Christmann 2015, 12).

Resilienz und religiös begründete Radikalisierung Die Resilienzperspektive hat auch in der Radikalisierungsforschung an Bedeutung gewonnen: Hier besteht aktuell Interesse daran, die Potenziale von Stadtteilen und Gemeinschaften für die Resilienzstärkung gegenüber religiös begründeter Radikalisierung auszuloten (Ellis/Abdi 2017; Grossman et al. 2017; Morina et al. 2019; Stephens et al. 2021; Wimelius et al. 2018). Im Unterschied zu Ansätzen der Prävention, die spezifische Interventionen zur Verhinderung einer Radikalisierung oder ihrer weiteren Entwicklung vornehmen, richtet die Resilienzförderung ihre Perspektive – wie bereits ausgeführt – auf schon vorhandene Potenziale und Schutzfaktoren eines Quartiers oder einer Kommune. Gerade in marginalisierten Stadtteilen, insbesondere wenn diese von Programmen sozialer Stadtentwicklung gefördert werden, sind häufig schon Akteursund Bewohnernetzwerke vorhanden, die auch für die Stärkung von Schutzfaktoren gegenüber Radikalisierung genutzt werden können. Hier setzen einige Resilienzstudien an, die spezifische Risiko- und Schutzfaktoren gegenüber religiös begründeter Radikalisierung hin zu gewaltbereitem Extremismus identifizieren (Grossman et al. 2017; Morina et al. 2019). Die grundlegenden Resilienzfaktoren aus der phänomenübergreifenden raumbezogenen Resilienzforschung werden auch von der Radikalisierungsforschung bestätigt (Ellis/Abdi 2017; Grossman et al. 2017; Stephens et al. 2021; Wimelius et al. 2018). Hierzu zählen in erster Linie die Bedeutung ausreichender und vielfältiger Ressourcen, die Fähigkeit, diese nutzen zu können, sowie die Vernetzung innerhalb von Gemeinschaften wie auch mit externen Akteuren, z.B. auf städtischer Ebene (s. oben). Darüber hinaus werden weitere spezifische Schutzfaktoren gegenüber religiös begründeter Radikalisierung identifiziert. Dazu zählen wir zum einen Faktoren, die damit zu tun haben, dass Radikalisierung als Gewaltphänomen verstanden wird und folglich Gewaltlosigkeit und die Delegitimierung von Gewalt ein Schutzfaktor vor Radikalisierung hin zu gewaltbereitem Extremismus

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ist. Als resilienzstärkende Faktoren werden hier vor allem Empowerment- und Antidiskriminierungs-Strategien und Ansätze zur Förderung kollektiver Wirksamkeit genannt (siehe Schwenzer/Hecking in diesem Band). Zum anderen lassen sich Faktoren zusammenfassen, die sich darauf beziehen, dass gesamtgesellschaftliche Polarisierung, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit sowie Segregation Risikofaktoren für Radikalisierung sind. Als resilienzstärkende Faktoren werden vor allem solche genannt, die das Miteinander und die Teilhabe in einer pluralen Gesellschaft fördern sollen (siehe Molitor/Zimenkova in diesem Band, z.B. durch die Stärkung inklusiver Gruppenzugehörigkeiten (siehe Hourani in diesem Band) und inklusiver Räume, durch die Förderung des sozialen Zusammenhalts, kultureller Offenheit, interreligiösen Dialogs (siehe Nofal in diesem Band), sowie Antidiskriminierungsarbeit. Auch hier können Empowerment-Strategien zur Stärkung gleichberechtigter Teilhabe Resilienzen fördern (siehe Schwenzer/Hecking und Asisi et al. in diesem Band). Beide Gruppen von Faktoren werden im Folgenden unter Bezugnahme auf theoretische Modelle kurz erläutert.

Kollektive Wirksamkeit und Empowerment Als Schutz vor Kriminalität und Gewalt nannte Jane Jacobs in ihrem viel zitierten Aufsatz »Das menschliche Auge« die Präsenz von Menschen »auf den Bürgersteigen« in den städtischen öffentlichen Begegnungsräumen (Jacobs 1992 [1961]). Dies trifft aus Sicht von Bouhana auch auf den Schutz vor Radikalisierung zu, da Risikofaktoren erst dann zu einem Gefahrenpotenzial werden, wenn »anfällige« Individuen Risiken ausgesetzt sind, z.B. durch Beziehungen zu Peers, die sich radikalisieren, oder durch die Präsenz extremistischer Gruppen, die in den Aktivitätsräumen »anfälliger« Individuen agieren oder rekrutieren (Bouhana 2019). Diese Gruppen agieren vor allem in isolierten, anonymen oder vor dem »öffentlichen Auge« geschützten Räumen, um sich einer möglichen Beobachtung zu entziehen. Die Beobachtung junger Menschen im städtischen Raum findet vor allem in der nahräumlichen Umgebung statt und kann durch Eltern, Familien, Nachbar*innen oder Akteure der sozialen Arbeit erfolgen, wenn diese ein Interesse an der Sicherheit und dem Wohlergehen der Menschen im Quartier haben. Aus der Radikalisierungsforschung gibt es einige Beispiele dafür, ob und wie »ein wachsames Auge«, z.B. von Frauen (Denoix de Saint Marc/Lacombe 2018), Akteuren der Zivilgesellschaft oder auch von »Community Leadern« (Morina et al. 2019, 43), dazu beitragen kann, Wissen über das Vorgehen radikaler Akteure in einem Stadtteil zu generieren und dieses weiterzugeben oder selbst etwas gegen die Rekrutierungsversuche zu unternehmen. Neben der Beobachtung sind vor allem auch der Wille und die Fähigkeit, gemeinsam zu handeln, ausschlaggebend dafür, Gewaltphänomene oder andere

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Bedrohungen in einem Stadtteil oder in einer Community zu bewältigen. Einige Autor*innen beziehen sich auf das aus der Stadtsoziologie und Kriminalitätsforschung stammende Konzept der kollektiven Wirksamkeit (Sampson 2012), das als Indikator für sozialräumliche Resilienz gegenüber Radikalisierung genutzt werden kann (Bouhana 2019; Ellis/Abdi 2017; Schröder et al. 2019). Als kollektive Wirksamkeit wird die Fähigkeit bezeichnet, Probleme in einem Stadtteil gemeinsam zu lösen. Laut Sampson (2012) entsteht kollektive Wirksamkeit vor allem in Gemeinschaften oder Räumen, in denen der Zusammenhalt ausgeprägt ist, basierend auf gemeinsamen Interessen und Werten, und in denen eine vertrauensbasierte Beziehung zu staatlichen Institutionen sowie zu sozialen und zivilgesellschaftlichen Akteuren besteht. Welche Faktoren die kollektive Wirksamkeit schwächen, ist in der Forschung allerdings sehr umstritten, insbesondere im Hinblick auf die zunehmende räumliche Entankerung des alltäglichen Handelns in globalisierten Stadträumen und des Bedeutungszuwachses digitaler Begegnungs- und Sozialräume. Sampson betont, dass kollektive Wirksamkeit nicht nur zur Gewaltreduzierung – oder zur Verhinderung von Radikalisierung (Ellis/ Abdi 2017) –, sondern zum allgemeinen Wohlbefinden einer Community beiträgt (Sampson 2012, 178). Auch zeigt sich, so Sampson, dass bestimmte Nachbarschaften trotz struktureller Problemlagen über eine ausgeprägte kollektive Wirksamkeit verfügen. Sampson nimmt an, dass ein Grund hierfür die »collective civic action« (ebd.) einer Vielzahl an zivilgesellschaftlichen Akteur*innen ist, die communityorientiert arbeiten und damit die Folgen anhaltender Armut und anderer sozialer Herausforderungen (ebd., 209) abmildern und bürgerschaftliches Engagement fördern. Zu den resilienzstärkenden Ansätzen der quartiers- oder community-orientiert arbeitenden zivilgesellschaftlichen Akteure gehören auch EmpowermentStrategien. »Empowerment« im sozialpädagogischen Sinn bezeichnet eine soziale Praxis, die Prozesse der Selbstermächtigung fördert (Abushi/Asisi 2020, 220). Im politischen Sinn geht es dabei um die Erweiterung des Handlungsspielraums marginalisierter und minorisierter Gruppen und die Teilhabe an der Macht, um eigene Belange und Interessen zu vertreten (Rosenstrauch 2020, 229). Ellis und Abdi fassen »kollektive Wirksamkeit« und »Empowerment« unter dem Begriff der »Community-Kompetenzen« zusammen, die in der Resilienzstärkung gegenüber Radikalisierung genutzt werden können (Ellis/Abdi 2017 mit Bezug auf Norris et al. 2008).

Förderung des Miteinanders Die Förderung »sozialer Kohäsion« ist heute in vielen Kontexten Ziel lokaler Politiken und geht meist mit einer Warnung vor Polarisierung und Radikalisierung ein-

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her (siehe Rettig in diesem Band). »Soziale Kohäsion« ist ein soziologisches Konzept, mit dem sozialer Zusammenhalt zwischen Gruppen oder Communities in diversen Gesellschaften bezeichnet wird. Die Abgrenzung zwischen Gruppen oder Gemeinschaften und die Abwertung der »anderen« durch eine starke gruppeninterne Kohäsion wird dagegen als »Polarisierung« bezeichnet. Genannt wird eine Vielzahl von Maßnahmen zur Förderung sozialer Kohäsion: politische Bildung und Antidiskriminierungsarbeit, inter- oder transkulturelle Bildung, interreligiöser Dialog und bürgerschaftliches Engagement. Im Fokus der Maßnahmen stehen meist Jugendliche, die über schulische und außerschulische Bildungsprojekte erreicht werden können. Doch gerade mit Bezug auf Polarisierung zeigt sich, dass nicht nur junge, sondern auch ältere Menschen betroffen sind. Diese sollen in der Nachbarschafts- oder Gemeindearbeit erreicht werden. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass sie bereit sind, an Angeboten zur Förderung des Miteinanders teilzunehmen. Neben den zeitlichen Ressourcen sind es oft auch habituelle Distanzen und Barrieren, die Menschen daran hindern, an solchen Angeboten teilzunehmen. Denn auch Diskurse und Praktiken zur Förderung von Toleranz, Multiperspektivität, sozialem Zusammenhalt und interreligiösem Austausch sind von gesellschaftlichen Machtverhältnissen geprägt: Hier muss die Frage gestellt werden, wer Toleranz und ihre Grenzen definiert, wer zum kollektiven Engagement für das Miteinander in der Stadt aufgefordert wird und wer nicht: »… the concept of tolerance is a conditional acceptance of things, ideas, and groups of people, that are to be included in the social order. Hence, it remains an indicator of the power relations between the tolerating and tolerated parties.« (Ülker 2020, 44) Zum Abbau von Polarisierung und zur Förderung sozialer Kohäsion müsste darum zuallererst ein »inklusives Miteinander« gefördert werden, das Differenzen nicht homogenisiert: »Preventing polarisation does not aim for homogenisation or the levelling of differences, instead, it aims to foster social cohesion and an inclusive ›us‹ reflected in intergroup trust, reciprocity, solidarity, and connectedness.« (Boyd-MacMillan et al. 2019, 4) Gerade auch Projekte zur Förderung von Teilhabe stehen oft in der Kritik, Teilhabe eher in Form eines »Particitainments« (Selle 2011) im Sinn »unterhaltsamer« Beteiligungsangebote ohne Substanz zu praktizieren. Teilhabe im Sinne des Teilens von Macht wäre jedoch eine Voraussetzung, um auch strukturelle Ursachen von Polarisierung anzugehen, zu denen strukturelle Ungleichheit, Diskriminierung und Ausgrenzung gezählt werden (Pausch 2020).

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»Bouncing forward« Die Forschung zum Thema Resilienzen gegenüber Radikalisierung im städtischen Raum bildet eine Schnittstelle zwischen der Community- und Quartiersforschung und der Radikalisierungsforschung. Allerdings befassen sich nur wenige Autor*innen explizit mit den Zusammenhängen zwischen Raum, Radikalisierung und Resilienz. Morina et al. und Bouhana plädieren darum für mehr vergleichende Studien im Themenfeld, um sowohl lokalspezifische als auch übertragbare Resilienzfaktoren in städtischen Räumen zu identifizieren und ihr Zusammenwirken zu verstehen (Bouhana 2019; Morina et al. 2019). Ein großer Teil der Kritik am Resilienzkonzept und seiner weit verbreiteten Nutzung in städtischen Politiken basiert auf der semantischen Bedeutung des »Zurückspringens« (bouncing back) in den Ausgangszustand, aus der geschlussfolgert wird, dass resilienzstärkende Faktoren und Praktiken gerade im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Ungleichheiten dazu beitragen, den gesellschaftlichen Status quo zu stabilisieren und bestehende ungleiche Machtverhältnisse zu reproduzieren. Während Bröckling Resilienzstärkung als eine »Regierungstechnik« zur Aufrechterhaltung hegemonialer gesellschaftlicher Normen und Machtbeziehungen bezeichnet (Bröckling 2017), betonen andere Autor*innen gerade das transformative Potenzial von Resilienz als »Fähigkeit eines Systems sich – dynamisch und kontinuierlich – im Hinblick auf Störeinflüsse zu wandeln oder anzupassen« (Schnur 2013, 338). Diese Perspektive auf den Resilienzbegriff basiert auf der Annahme, dass der Resilienzbildung gegenüber Bedrohungen eine transformative Kraft innewohnt: »It suggests that faced with adversities, we hardly ever return to where we were« (Davoudi 2012, 302, zitiert in: Schnur 2013, 338). Strategien zur Resilienzstärkung von Sozialräumen im Kontext städtischer Ungleichheit sollten stets darauf ausgerichtet sein, Resilienz im Sinn eines »bouncing forward«, also einer transformativen Weiterentwicklung, zu verstehen, um am gesellschaftlichen Status quo zu rütteln und die Lebensverhältnisse von Menschen auf lokaler Ebene zu verbessern. Dazu gehören mitunter die Unterstützung der Selbstorganisation lokaler Gemeinschaften, die Förderung von politischer Teilhabe, die Stärkung des sozialen Zusammenhalts, die Schaffung von inklusiven Räumen sowie die Anpassung von Strukturen und Angeboten an veränderte Rahmenbedingungen, Vorfälle und Situationen, die immer unter Beteiligung der Bewohner*innen und unter Einbeziehung ihrer Aneignungspraxen erfolgen sollte (siehe Gerland in diesem Band). Denn nur so können langfristig die strukturellen Risikofaktoren bekämpft werden, die im Zusammenhang mit Ungleichheiten und Ausgrenzungsprozessen stehen und sich auf die Vulnerabilität marginalisierter Gruppen auswirken. Präventive und resilienzstärkende Maßnahmen sollten darum auch immer aus einer intersektionalen Perspektive entwickelt werden (siehe Peeck-Ho in diesem Band).

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Resilienzstärkung sollte keine Strategie zur Verwaltung von Armut sein oder dazu dienen, im Rahmen neoliberaler Sparpolitiken die Verantwortung auf betroffene Gemeinschaften abzuschieben. Strategien zur Resilienzstärkung im städtischen Raum, die ein »bouncing forward« anstreben, müssen auf Ermächtigung und Teilhabe – verstanden als dem Teilen von Macht – basieren. In Bezug auf das Themenfeld der religiös begründeten Radikalisierung würde dies bedeuten, dass Ansätze der Resilienzstärkung dazu beitragen können, die Auseinandersetzung mit und Bekämpfung von Radikalisierung nicht als Top-down-Strategie zum Regieren von Minderheiten und anderen marginalisierten Gruppen im städtischen Raum zu nutzen, wie es z.B. in der Rassismusforschung und kritischen Geografie aufgezeigt und kritisiert wird. Vielmehr sollte Resilienzstärkung als Allianz und Kooperation »auf Augenhöhe« konzipiert werden. Sie sollte in kommunale Sicherheitsstrategien eingebettet werden, die auch Aspekte sozialer Sicherheit für alle Bewohner*innen unabhängig ihres nationalen Status berücksichtigen, wie dies z.B. von den Städtebündnissen der sanctuary oder solidarity cities angestrebt wird, und sie sollte nicht nur die Folgen, sondern auch die Ursachen urbaner Ungleichheit bekämpfen, auch wenn dies sicher noch ein fernes und »hochgestecktes« Ziel ist – sowohl für die Forschung als auch für Politik und Praxis.

Ziele und Aufbau des Sammelbands Nach dieser kritischen Reflexion des Forschungsstands zu den Schlüsselbegriffen »Raum« und »Resilienz« im Kontext religiös begründeter Radikalisierung sollen nun die Ziele und der Aufbau des vorliegenden Sammelbands vorgestellt werden. Sein Anliegen besteht darin, die vielseitigen Beziehungen zwischen Raum, Resilienz und religiös begründeter Radikalisierung näher zu betrachten und Einblicke in aktuelle Forschungen und Praxisprojekte zu geben, die sich mit den resilienten Potenzialen städtischer Räume befassen. Der Sammelband will dazu beitragen, die räumliche Dimension des Phänomens religiös begründeter Radikalisierung in den Blick zu nehmen, um zu verstehen, ob und wie urbane Räume Prozesse der Radikalisierung fördern, vor allem aber, wie sie ihnen entgegenwirken können. Folgende leitende Fragestellungen spielen dabei eine Rolle: Welche Potenziale bieten städtische (Sozial-)Räume zur Verhinderung oder Eindämmung extremistischer und demokratiefeindlicher Ideologien? Welche raumbezogenen Taktiken und Strategien lassen sich in den Widerständen gegen radikale Akteure und ihre Ideologien beobachten? Welchen Mehrwert bringt der Fokus auf »resiliente Räume« für die Radikalisierungsforschung und Prävention? Wie können stigmatisierende Raumdiskurse und Raumrepräsentationen vermieden werden? Welche Fallstricke und Potenziale ergeben sich aus der Forschung über resiliente Räume und sozial-

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raumorientierte Prävention aus gendersensibler und rassismuskritischer Perspektive? Durch die Beiträge von Autor*innen unterschiedlicher Disziplinen werden verschiedene Perspektiven auf das Thema ermöglicht, die durch den Fokus auf das widerständige Potenzial städtischer Räume gegenüber Radikalisierung zusammengeführt werden. Der an den Ressourcen und Potenzialen des Raums orientierte Blick, der hier vorgeschlagen wird, soll eine Stigmatisierung städtischer Räume verhindern, indem diese nicht vorrangig als risikobelastet beschrieben werden. Dabei werden im Sammelband durchaus auch unterschiedliche Positionen, z.B. zum Zusammenhang von Segregation und Radikalisierung, repräsentiert. Der Band möchte einen Beitrag zur kritischen Raum- und Radikalisierungsforschung leisten und gleichzeitig die Schließung der Forschungslücke zum Thema Raum, Resilienz und Radikalisierung vorantreiben. Er setzt sich aus Beiträgen aus Wissenschaft und Praxis zusammen und ist nach drei Themenbereichen gegliedert. Die Beiträge im ersten Themenbereich stellen »Räumliche Perspektiven auf Radikalisierung und Prävention« in den Vordergrund. Im Beitrag »Der soziale Raum ist eine Momentaufnahme seiner Zeit« verbindet Michael Gerland seine theoretischen Reflexionen zum Verhältnis von Raum, Radikalität und Resilienz mit Beispielen aus der Fallanalyse einer Radikalisierung im Hamburger Stadtteil Altona. Er wirft einen kritischen Blick auf die stigmatisierende und entmündigende Wirkung sozialräumlicher Interventionen, die einer präventiven Logik folgen, und erörtert Möglichkeiten der Resilienzstärkung, die sich an den lokalen Aneignungspraktiken der Bewohner*innen orientieren. Gerrit Weitzel, Andreas Zick, Sebastian Kurtenbach, Janine Linßer und Armin Küchler stellen in ihrem Beitrag das Forschungsprojekt Radikalisierende Räume vor und präsentieren ihre theoretischen Vorüberlegungen zu den Beziehungen zwischen Raum und Radikalisierung mit Bezug auf das Konzept der sogenannten Kontexteffekte, die im Lauf des Forschungsprojekts empirisch überprüft werden sollen. Auch der darauffolgende Beitrag von Britta Hecking befasst sich mit den Beziehungen zwischen Raum und Radikalisierung aus Perspektive der kritischen Raumtheorie. Sie beleuchtet dabei die Herausforderungen des räumlichen Blicks in Bezug auf die mediale und wissenschaftliche Verwendung der Begriffe »Brutstätten« und »Hochburgen« und die darunterliegenden theoretischen Annahmen und ihre Verflechtung mit der Produktion »anderer« Räume. Darauf aufbauend werden die Potenziale des räumlichen Blicks auf Radikalisierung ausgelotet. Ein weiterer Beitrag von Sebastian Kurtenbach, Linda Schumilas und Andreas Zick aus dem Forschungsprojekt Radikalisierende Räume führt in die raumbezogene Radikalisierungsprävention ein, der die Annahme zugrunde liegt, dass der Raum einen eigenständigen Effekt auf die Anfälligkeit für Radikalisierung hat. Der Beitrag stellt der dreigeteilten Logik primärer, sekundärer und tertiärer Prävention, wie

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sie auf Individualebene zu finden ist, eine zweigeteilte Logik auf der Raumebene entgegen. Im letzten Beitrag dieses Themenbereichs diskutiert Catharina Peeck-Ho am Beispiel der britischen Prevent-Strategie intersektionale Perspektiven auf Radikalisierungsprävention im städtischen Raum. Der Beitrag schlägt eine postmigrantische und intersektionale Perspektive auf das Feld Prävention vor und plädiert dafür, eine enge Verbindung von sozialer Arbeit und Sicherheitspolitik zu Gunsten einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive auf Inklusion aufzugeben. Im zweiten Kapitel zu »Resilienten Räumen und Zusammenhalt« stehen Ansätze im Vordergrund, die auf der Idee der Resilienzstärkung von Stadtteilen oder städtischen Communities beruhen. Im ersten Beitrag stellen Britta Hecking und Victoria Schwenzer Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt Resiliente Sozialräume und Radikalisierungsprävention vor. Am Beispiel eines innerstädtischen Quartiers untersuchen sie die Beziehungen zwischen einer vernetzten sozialen Infrastruktur, der lokal verankerten Teilhabekultur und des sozialen Zusammenhalts, die in eine kommunale Präventionsstruktur eingebettet sind, als Basis für die Entfaltung von Resilienzen. Julia Rettig geht in ihrem Beitrag vom Begriff der »Polarisierung« aus, die sich schädlich auf das friedliche Zusammenleben in Städten und Regionen auswirken kann, und stellt Ergebnisse aus dem europäischen Projekt BRIDGE vor. Dieses unterstützt lokale und regionale Behörden bei der Analyse von Polarisierung in ihren jeweiligen Kontexten und begleitet die Entwicklung von Strategien und Maßnahmen zur Prävention, um sozialen Zusammenhalt, Inklusion und Bürgerbeteiligung zu fördern. Wie Zusammenhalt in der Stadt gefördert werden kann, erläutern Tatiana Zimenkova und Verena Molitor in ihrem Beitrag »Lokalexpertise und Narrative des gesellschaftlichen Zusammenhalts«. Die Einbeziehung von Bürgerkompetenzen durch die Schaffung inklusiver Räume der Teilhabe haben sie im Projekt ZuNaMi erprobt, das eine gemeinschaftliche Aushandlung des Zusammenhaltsbegriffs und der Zusammenhaltsnarrative im Fokus hat. Im letzten Beitrag des Abschnitts stellen Victoria Schwenzer und Britta Hecking weitere Ergebnisse des Forschungsprojekts Resiliente Sozialräume und Radikalisierungsprävention aus einem zweiten untersuchten Stadtteil vor. Ausgehend vom Konzept der Community-Kompetenz zeigt der Text, inwiefern zwei Aspekte derselben zur Resilienzstärkung eines Quartiers beitragen können. Dabei werden sowohl Effekte von Empowerment-Ansätzen analysiert als auch erfolgreiche Ansätze kollektiver Wirksamkeit im Quartier beschrieben. Der dritte Themenbereich des Bands, »Raumbezogene Präventionspraxis: Einblicke und Reflexionen«, präsentiert drei Beitrage aus der Praxis. In ihrem Beitrag »Kiez-Story« stellen Pierre Asisi, Claudio Caffo und Phương Thúy Nguyễn das gleichnamige Projekt vor. Der Text macht sich für eine multi-

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perspektivische intersektionale Pädagogik stark, in der Jugendliche selbst zu Expert*innen ihrer eigenen Geschichte werden. Mit Bezug auf das Konzept der multidirektionalen Erinnerung plädieren sie für einen pädagogischen Ansatz, der sich von einer präventiven Begründung befreit, auch wenn er implizit durch die Stärkung von Zugehörigkeitsbezügen Abwertungsideologien vorbeugt. Im Anschluss daran erörtert Nabil Hourani in einem Essay aus postmigrantischer Perspektive die Potenziale lokaler Zugehörigkeiten als Schutzfaktoren gegenüber polarisierenden Diskursen und Radikalisierung. Er rückt somit die Bedeutung von Identitäten, Identitätskrisen und verweigerten Zugehörigkeiten im Radikalisierungsprozess in den Fokus. Ebenfalls mit einem expliziten Sozialraum-Bezug beschreibt Lydia Nofal die Hintergründe und Ziele des Projekts kiez-einander, das auf einer sozialräumlichen Vernetzung und Teilhabe von Moscheegemeinden beruht. Sie plädiert dafür, Moscheegemeinden als Partner in die Demokratieförderung einzubeziehen, und zeigt gleichzeitig auf, weshalb Moscheen den Erwartungen, die an sie gestellt werden, bisher nur unzureichend gerecht werden können. Sie schildert die Angebote des Projekts mit dem Ziel, die Voraussetzungen für kooperatives Handeln im Themenfeld zu stärken. Mit der Auswahl dieser Beiträge möchte der Sammelband zum einen dazu beitragen, aktuelle Forschungsergebnisse und Forschungsvorhaben zu den Beziehungen zwischen Raum, Resilienz und religiös begründeter Radikalisierung zu präsentieren und somit für den Transfer in die Praxis nutzbar zu machen. Zum anderen werden Erfahrungen aus der Praxis vorgestellt und somit für die Forschung sichtbar gemacht. Wir hoffen, damit zu einem intensiveren Austausch zwischen Forschung und Praxis beizutragen und neue Perspektiven auf die Zusammenhänge zwischen (urbanen) Räumen und Radikalisierung anzuregen.

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Resilienz im Fokus der Stadt- und Radikalisierungsforschung: eine Einleitung

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Räumliche Perspektiven auf Radikalisierung und Prävention

Der soziale Raum ist eine Momentaufnahme seiner Zeit Zum Verhältnis von Raum, Radikalität und Resilienz Michael Gerland »For a conference on crime-prevention, I think it is of the greatest importance to warn against the development towards life forms where we lose each other as members of the same society.« Nils Christie, Präventionstag 2013 (Christie 2014)

Abstract Der Beitrag setzt sich mit den Beziehungen zwischen Raum, Radikalität und Resilienz auseinander und stellt Bezüge zwischen theoretischen Reflexionen und einem Konflikt zwischen Polizei und Jugendlichen her, der sich im Stadtteil Hamburg-Altona im Zeitraum 2013 bis 2015 ereignete. Im Konfliktverlauf wurde eine Gruppe von Jugendlichen von einer im Stadtteil aktiven dschihadistischen Gruppe rekrutiert, der es gelang, den Konflikt für ihre Mobilisierung zu nutzen. Der Beitrag richtet einen kritischen Blick auf die stigmatisierende und entmündigende Wirkung sozialräumlicher Interventionen, die einer präventiven Logik folgen, und erörtert Möglichkeiten der Resilienzstärkung, die sich an den lokalen Aneignungspraktiken orientieren, die Bevölkerung einbeziehen und Konflikte nicht enteignen. Darüber hinaus plädiert er für eine emanzipatorische soziale Arbeit im Stadtteil.

Einleitung Gibt es Möglichkeiten, auf das Leben in sozialen Räumen so einzuwirken, dass sie gegen den Einfluss von gewaltverherrlichenden und menschenverachtenden Ideologien – in unserem Fall gegen Dschihadismus – resilient, also weitgehend unempfindlich werden? Wenn wir uns eingestehen, dass sich hinter der Aneig-

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nung solcher Ideologien, die meist Ausdruck fehlgedeuteter Konflikte, Krisen und Gewaltverhältnisse sind, eine Reihe sozialer Missstände verbergen, und sie die Funktion haben, andere Gewaltverhältnisse zu legitimieren, dann müssen wir uns auch eingestehen, dass es im Wesentlichen darum gehen sollte, soziale Missstände und bereits vorhandene Gewaltverhältnisse zu benennen und möglichst zu überwinden. Indes kommt Radikalität in Zeiten postmoderner Partikularität und Beliebigkeit auch ohne kohärente Ideologien aus, etwa die Gelbwestenbewegung in Frankreich oder Deutschlands »Querdenker«. Auch die neuen Prosperitätsreligionen Neo-Salafismus und Evangelikalismus (Lanz 2016) bieten kaum die Eindeutigkeiten, für die sie stehen. Ihre religiösen Deutungen müssen sich den fluiden Verhältnissen gleichsam ständig neu anpassen, um alltagskonkret zu bleiben und ihre Anhänger*innen bei der Stange zu halten. Viele Umstände sprechen zudem nicht gerade dafür, dass eine Resilienzförderung durch präventive Aufklärung über die Ziele und Praktiken einer bestimmten Ideologie gerade bei den Personen ankommt, die dafür ggf. eine eher emotionale als kognitive Affinität haben könnten. Eine präventive Sozialraumstrategie mit dem Ziel, Resilienz gegenüber gewaltverherrlichendem und menschenverachtendem Gedankengut und Verhalten herzustellen, muss bei der Gewaltverherrlichung und der Menschenverachtung ansetzen und nicht bei den Ideologien, die diese bloß legitimieren sollen. Prävention kann in einem Sozialraum ansetzen, darf dort jedoch nicht verharren in übergriffigen Maßnahmen, die in die Aneignungsweisen vor Ort unaufgefordert eingreifen.

Gefährliche Orte – gefährdete Menschen Eine geläufige polizeiliche Maßnahme sozialräumlicher Prävention im urbanen Raum besteht in der Konstruktion »gefährlicher Orte« (sogenannter »Gefahrengebiete«). Vor dem Hintergrund polizeilicher Kriminalstatistiken, dem Anzeigeaufkommen und nicht zuletzt öffentlicher Diskurse über Sicherheit können bestimmte Orte – ein Wohnbezirk bzw. ein Revier – vorübergehend zu einem »Gefahrengebiet« erklärt werden. Darauf folgt i.d.R. eine erhöhte Kontrolldichte, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass unabhängig von konkreten Verdachtsmomenten Personenkontrollen durchgeführt werden können. Verdachtsschöpfung gewinnt gegenüber der Verdachtsklärung so vorübergehend die Oberhand. Diese Art von Polizeiprävention birgt zweifellos die Gefahr der Stigmatisierung gegenüber der Bevölkerung, die sich an solch einem als gefährlich ausgewiesenen Ort bewegt. Dies führt dann auch regelmäßig zu Konflikten zwischen Polizei und Bewohner*innen solcher Orte, die beiderseits von den Medien begleitet und oftmals zusätzlich angefeuert werden. Die Gründe solcher Maßnahmen, z.B. gehäuft wahrgenommene Drogendelikte oder andere Formen der Delinquenz am entsprechenden Ort, geraten im Zug solcher Konflikte meistens aus dem Fokus. Schlimmer

Der soziale Raum ist eine Momentaufnahme seiner Zeit

noch: Während ein allgemeiner Konflikt vor Ort sich ausdehnen und zuspitzen kann, läuft das konkrete Geschäft mit illegalisierten Drogen im gleichen Revier oft ungehindert weiter. Unterdessen nimmt der Konfliktverlauf eine Eigendynamik an. Dieses Phänomen ist in urbanen Zentren weltweit beobachtbar: in Brixton oder Tottenham, Clichy-sous-Bois, der Bronx oder Watts. Wo immer Polizeiprävention zentrale Aspekte örtlicher Raumaneignung berührt, kann es zu Konflikten zwischen der Polizei und Teilen der Bevölkerung kommen. Abhängig vom jeweiligem Kontext mit jeweils unterschiedlicher Qualität der Eskalationsverläufe. Solch einen Konflikt, der schließlich in Ausschreitungen endete, die sich über drei Nächte hinzogen, habe ich in einer Veröffentlichung am Beispiel eines Hamburger Wohnbezirks beschrieben und mich dabei um eine multiperspektivische Einordnung bemüht (Gerland 2021). Für das Thema des vorliegenden Sammelbands, »Raum, Resilienz und religiös begründete Radikalisierung«, ist dabei u.a. der Umstand von Interesse, dass die beschriebenen Ereignisse sich in einem Zeitraum (2013 – 2015) abgespielt haben, in dem der öffentliche Diskurs um Sicherheit dominiert wurde von Berichten über Radikalisierungen junger Leute, mutmaßlich mehrheitlich mit sogenanntem Migrationshintergrund, die sich islamistischen Ideologien hingeben, um sich schließlich dschihadistischen Gruppierungen anzuschließen. Der Diskurs über solche »Gefährder*innen« wurde hier wie auch in Frankreich (Kepel/Jardin 2016, 49ff.) und anderswo in Europa medial oft in einen Zusammenhang gebracht mit dem Diskurs über »gefährliche Orte«. In den Medien wurde anlässlich der Ereignisse in Hamburg-Altona dementsprechend mittels Headlines wie »Randale am Ramadan« (Iksanov 2013, 6) und anderer reißerischer Aufmacher eine Kausalität von Migration/Islam/Gewalt konstruiert. Der damalige Vorsitzende der Polizeigewerkschaft forderte in einem Interview gar ein auf »Migranten abgestimmtes Maßnahmenbündel« (Kaiser/Ludwig 2013, 24). Faktisch stellte sich schließlich heraus, dass einige der von diesem Policing betroffenen Jugendlichen innerhalb der Monate nach den »Altonaer Krawallen« (wie die Ausschreitungen um die Kontrollmaßnahmen seinerzeit medial bezeichnet wurden) durch dschihadistische Gruppierungen rekrutiert werden konnten. In der Nachbetrachtung handelt es sich hierbei um eine selffulfilling prophecy, die sich neben vielen anderen Faktoren auch aus dem Zusammenspiel von »racial profiling und medialen Deutungskämpfen« (Mücke/Rinn 2016) ergeben hat. Auch wenn in diesem Fall kein kausaler Zusammenhang besteht, so förderte diese polizeiliche Präventionsmaßnahme zumindest die Radikalisierung der örtlichen Jugendsubkultur (Gerland 2021). Die medialen Zuschreibungen werden Teil des Aneignungsprozesses und damit Teil einer subkulturellen Identität. Auf der Suche nach Einordnung generiert sich zunächst das Bedürfnis nach einem kohärenten Erklärungsmuster. Dieses lässt sich im Ideologieangebot islamistischer Gruppierungen ausmachen. Durch die Ereignisse selbst sowie durch die Berichterstattung sehen die betroffenen Jugendlichen sich in ihrer Ansicht bestätigt, dass sie als Kinder von (mus-

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limischen) Migrant*innen durch den Staat in ihrer freien Entfaltung (Selbst- und Umweltaneignung) eingeschränkt werden. Dadurch erst gelingt es, auf die Kommunikation unter den Jugendlichen dahingehend einzuwirken, dass sich islamistische Deutungsmuster verbreiten können. Die islamistische Gruppe vor Ort fand bezüglich ihres nonkonformen Auftretens (Kleidung, Habitus) zwar Beachtung, jedoch hatte sie kaum Einfluss auf die Aneignungsprozesse. Dies sollte sich nach den Ereignissen rund um das sogenannte Gefahrengebiet ändern. »Die Gruppe konnte sich demnach vergrößern und genoss bald ein gewisses Ansehen unter den Jugendlichen. So finden sich sprachliche Ausdrucksweisen der Gruppe, zusammengesetzt aus fragmentarisch angeeigneten Wörtern aus der arabischen Sprache und verzerrter Koranrezitation, bald im Jargon der örtlichen Jugendsubkultur wieder. In ihren Selbstinszenierungen gelingt es der Gruppe, eine elitäre Aura um sich aufzubauen und sich dadurch Respekt im Quartier zu verschaffen, was sie durch gelegentliche bedrohliche Auftritte unterstreicht.« (Gerland 2021) Unabhängig davon, ob Präventionsarbeit durch polizeiliche oder zivilgesellschaftliche Maßnahmen (Sozialarbeit) getragen wird, sind alle möglichen Entwicklungsdynamiken bei einer Präventionsstrategie mitzudenken. In dem Moment, in dem ein bestimmter Sozialraum zum Ort von Präventionsmaßnahmen gegen Radikalisierung erkoren wird, werden stigmatisierende Zuschreibungen gegenüber den Bewohner*innen nämlich grundsätzlich ermöglicht. Im Umkehrschluss wird Prävention von den Menschen vor Ort verständlicherweise oft mit Skepsis oder gar Ablehnung betrachtet. Unterdessen werden bei der Gestaltung städtischer Räume die dort lebenden Menschen ohnehin nur selten oder gar nicht einbezogen. Wenn, dann geschieht dies nur partikular. Eine Partizipation der Bevölkerung vor Ort ist zudem häufig mit großem Aufwand und Widerständen auf allen Seiten verbunden. Eine Garantie auf konkrete Zugeständnisse für die Bevölkerung im Rahmen des jeweiligen Planungsvorhabens bleibt aus. Die Prämissen der Stadtplanung, sofern sie transparent sind, zeigen sich zudem oft von ökonomischer und sicherheitstechnologischer Funktionalität geprägt, »…von der Umgestaltung und insbesondere der Aufwertung städtischer Räume über Migrationsmanagement oder die Befriedung politischer Dissidenz bis zur Durchsetzung hegemonialer Ordnungsvorstellungen (Ullrich/Tullney 2020)«. Präventionsmaßnahmen, die den Zweck haben, sozialräumliche Resilienz gegen den Einfluss islamistischer Ideologien herzustellen, müssen sich diesen Vorgaben genauso stellen wie dem ungeheuren Einfluss des medialen Diskurses. Dies heißt auch, dass Sozialarbeit, will sie ihrer Aufgabe gerecht werden, erst recht aufgefordert ist, eine kritisch-engagierte politische Haltung gleichermaßen ihrer Klientel sowie ihren Auftraggebern gegenüber einzunehmen.

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Soziale Räume und Raumaneignung Der Begriff »Sozialraum« findet Anwendung in der Stadtplanung sowie in den Sozialwissenschaften, bleibt gleichwohl stark sozialpädagogisch geprägt. Die Sozialarbeit, hier insbesondere Streetwork, die offene Kinder- und Jugendarbeit und die Gemeinwesenarbeit stehen deshalb in besonderem Maß vor der Herausforderung, zivilgesellschaftlich orientierte Prävention im Sozialraum zu gestalten. Die notwendige Parteilichkeit für das Klientel steht dabei oftmals im Widerspruch zu den hegemonialen Ordnungsbedürfnissen. Zudem erfordern die Arbeitsfelder die Anpassung an eine Bewegungsdynamik, die durch Vielfältigkeit geprägt und stark ereignisabhängig ist. Durch die hohe Komplexität postmoderner Gesellschaften entwickeln und definieren sich soziale Räume zudem ständig und in hohem Tempo neu. Das postmoderne Subjekt bewegt sich nicht bloß zwischen diversen Mikrosystemen wie Familie, Nachbarschaft, Bildungseinrichtungen und Arbeitsstätte, sondern auch zwischen analogen und digitalen Räumen auf lokaler und globaler Ebene und baut darauf seine Aneignungsweisen auf. Thomas Dörfler zitiert in einem Artikel zur Raumaneignung den Pädagogen Otto F. Bollnow: »Man sagt in der Regel leichthin: Der Mensch befindet sich ›im Raum‹. Diese Feststellung scheint unangreifbar klar, aber schon sie führt auf Schwierigkeiten; denn offenbar befindet sich der Mensch im Raum in anderer Weise, als sich ein Ding in einem Behälter befindet, also als etwa die Kohlen im Keller. Der Mensch verhält sich zum Raum und ist als die Mitte seines Raums auf die Dinge in seinem Raum intentional bezogen.« (Dörfler 2015, 102) Die Menschen wirken folglich verändernd auf ihren Raum ein, dehnen ihn mal aus, mal grenzen sie ihn ab, vertiefen diesen gelegentlich in Bezug auf die Qualität des Zusammenlebens und geben ihm eine zeitliche bzw. historische Dimension. Menschen konstruieren ihre Räume nicht bloß, sondern gestalten und konstituieren sie auch. Für die tätigen Subjekte ist ihr Raum »eine Momentaufnahme der Zeit – und die Zeit ist der Raum in Bewegung« (Piaget 1974, 14). Mit anderen Worten: Sie eignen sich den Raum an, indem sie ihm ein eigenes soziales Klima geben. »Raumbezogenen Aneignungsprozessen liegt dementsprechend ein Verständnis von gesellschaftlichen, relationalen Räumen zugrunde. Räume werden als relationale Anordnungen sozialer Güter, Menschen und anderer Lebewesen konzipiert. Menschen und Dinge befinden sich weder außerhalb … [noch] innerhalb des Raumes. Sie sind Teil des urbanen öffentlichen Raumes und können als soziale Akteure diese Räume durch ihr Handeln und Verhalten konstituieren. Erst die miteinander verknüpften sozialen Güter und Menschen werden zu öffentlichen Räumen.« (Frey 2004, 220)

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Ein Eingriff von außen in die Aneignungsprozesse eines sozialen Raums kann zwar kaum als Ursache, mithin jedoch als Anlass für Radikalisierungsprozesse gelten. Der Kairos für das Ausbrechen eines Radikalisierungsprozesses ist stark kontextund ereignisabhängig: eine Dynamik, die von außen nur schwer zu erfassen ist. Die o.g. polizeiliche Intervention in dem Sozialraum, den sich die örtliche Jugend angeeignet hatte, wurde zu diesem Zeitpunkt offenbar zu so einem Kairos. Eine Vorbeugung gegen Radikalisierungsprozesse, die sich in einem eingegrenzten und als gefährdet oder gefährlich konstruierten Sozialraum wirksam zeigen könnte, lässt sich unter diesen Umständen schwer leisten, da letztlich kaum vorhersehbar ist, ob und ggf. wann und wo genau sich ein Radikalisierungsprozess entwickeln könnte. Daher sind Präventionsmaßnahmen dazu verurteilt oftmals mehr auf gängige Vermutungen zu bauen und weniger auf valide Erfahrungswerte und sind schon deshalb der latenten Gefahr ausgesetzt, Stigmatisierung zu produzieren. Die Betrachtung und Deutung sozioökonomischer und demographischer Daten – Radikalität aufgrund von Armut, Bildungsferne usw. – bleibt reduziert und wirkt deshalb oft falsch (s. auch Behn et al. (2022): »Einleitung« in diesem Band) – umso mehr, wenn der identifizierte Sozialraum verallgemeinernd als »Behälter« für eine bestimmte, in mehrfacher Hinsicht als defizitär und/oder prekär konstruierte Bevölkerung wahrgenommen wird, die mit Hilfe von außen resilient gemacht werden soll. Sozialräume unterliegen einer Systemarchitektur, die sich weder auf Infrastrukturen noch auf gebaute Realität und auch nicht auf demographische Daten herunterbrechen lässt, auch nicht allein auf politische, ökonomische und soziale Lebensbedingungen. Dies alles sind gleichwohl unbestrittene Einflussfaktoren. Raumaneignung beinhaltet jedoch darüber hinauswirkende Reaktionsmuster, die bei unvorhersehbaren Ereignissen (z.B. Erhöhung der Kontrolldichte durch sicherheitstechnologische Maßnahmen, städtebauliche Veränderungen usw.) dazu neigen, ein Eigenleben zu entwickeln. Besonders urbane Räume sind ständig mit Ereignissen konfrontiert, die den Bewohner*innen entsprechende und ggf. nachhaltig wirkende Spontanaktivitäten abverlangen. Radikalisierungsprozesse als möglicher Ausdruck sozialräumlicher Konflikte bilden ein radikalisiertes soziales Klima ab, das von aufeinander einwirkenden Subjekten und Ereignissen in Konflikt- und Krisensituationen produziert wird. Dieses Klima wirkt auf die Beteiligten sowie auf alle weiteren Faktoren des Prozesses zurück und verdichtet sich gelegentlich zu einem zirkulären Geschehen (Aufschaukelung) innerhalb des Sozialraums und manchmal darüber hinaus. Das zirkuläre Geschehen bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen den Verhaltensweisen der Konfliktbeteiligten und ihrer jeweiligen Rechtfertigungsrhetorik, welche auf zugänglichen Legitimationsideologien basiert. Radikalisierungsprozesse werden i.d.R. jedoch erst in dem Moment als solche wahrgenommen, in dem

Der soziale Raum ist eine Momentaufnahme seiner Zeit

Legitimationsideologien ins Spiel kommen, die als »extremistisch« gelabelt sind und sich vor Ort bereits verselbstständigt und verstetigt haben.

Extremismus? Landläufige Extremismus-Definitionen beziehen ihre Begrifflichkeit aus der Abweichung von bzw. der Gegnerschaft zu der im Grundgesetz (GG) festgeschriebenen demokratischen Verfassung. Eine unter dieser Prämisse als »extremistisch« identifizierte Ideologie wird zudem oft vereinfacht als ursächlich für Radikalisierungsprozesse konstruiert. Eine Prävention, die Radikalisierung vorbeugen und sie möglichst verhindern soll, so der Anspruch, hat demnach dafür zu sorgen, dass bestimmte Ideologien nicht in Sozialräume vordringen können, und dafür, dass sie ggf. keine Möglichkeiten zum Andocken an die örtlichen Aneignungsweisen vorfinden. Die subjektiven Aneignungsweisen werden so zum Objekt der Präventionsarbeit. Damit wäre u.a. das zu verstehen, was Ullrich und Tullney allgemein unter »… Befriedung von politischer Dissidenz« (Ullrich/Tullney 2020) beschreiben. Es stellt sich hier zunächst die Frage, wie eine Ideologie überhaupt in einen Sozialraum und in die Deutungsmuster der darin lebenden Individuen gelangen kann – und weiter, ob es selbsterklärend ist, dass eine Ideologie notwendig am Anfang eines Radikalisierungsprozesses steht. Ferner ist zu fragen, wie konstant der Extremismus-Begriff in Bezug auf die Verfassung ist und ob eine in Gesetze gegossene Verfassung das Zusammenleben, die Kommunikationsweisen, Bedürfnisse und Interessen der Bevölkerung ausreichend und angemessen widerspiegeln kann. Eine jüngere Definition des BAMF gibt ein gutes Beispiel ab für eine allgemein übliche Deutung von »Extremismus«: »Unter dem Begriff ›extremistisch‹ werden ideologisierte Denk- und Handlungsweisen verstanden, die den Menschenrechten, den obersten Wertprinzipien der Demokratie und den Grundprinzipien der Verfassung zuwiderlaufen. Diese beziehen sich auf die unantastbare demokratische Verfasstheit der Bundesrepublik Deutschland, die im Grundgesetz niedergeschrieben und unter der Bezeichnung freiheitliche demokratische Grundordnung zusammengefasst worden ist.« (BAMF 2020, 6) Es fällt auf, dass die Verfassung bzw. das Grundgesetz als »unantastbar« herangezogen wird. Letzteres war allerdings zunächst als Provisorium geplant und gilt erst seit der Wiedervereinigung als verbindliche deutsche Verfassung. Bis dato war es laut dem Rechtswissenschaftler Gusy (Gusy 2008) zudem bereits mehr als 50 Korrekturen unterworfen. Darunter fallen so bedeutende Änderungen wie die Remilitarisierung, die Aufnahme der sogenannten Notstandsgesetze, die Neudefinition des Widerstandsrechts sowie die des Asylrechts, stets im Zusammenhang mit po-

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litischen Ereignissen, die den öffentlichen Raum bestimmt haben. Möglicherweise zeichnet gerade diese »Offenheit für Veränderungen«, also seine grundsätzliche Antastbarkeit, die »praxistaugliche Qualität des Grundgesetzes« aus (ebd.). Demzufolge zeichnet sich die Verfassung durch Wandelbarkeit aus und bleibt damit zweifellos antastbar. Ebenso verhält es sich mit einem Extremismus-Begriff, der sich oft reduktionistisch an das Grundgesetz bindet. Denn die Anwendung von Begriffen »wie ›radikal‹ und ›extrem‹ setzen ein Wissen darüber voraus, was in einer bestimmten Gesellschaft als ›moderat‹ oder ›Mainstream‹ gilt. Und was heute als ›extremistisch‹ gilt, ist vielleicht morgen schon unverrückbarer Teil der staatlichen Ordnung« (Neumann 2017, 43)1 . Zudem ist selbst eine dem Grundgesetz gegenüber skeptische oder auch ablehnende Haltung durch eben dieses weitgehend legitimiert (Art. 5 GG). Die Verfassung bzw. das Grundgesetz erhebt indes nicht den Anspruch eines Wertekanons von universeller Gültigkeit. Es finden sich darin keine Antworten auf existenzielle Fragen nach Sinn, Glück, Liebe, Tod, Glaube, Gut und Böse usw. – also die Fragen, um deren Antworten profane wie sakrale Ideologien gleichsam miteinander wetteifern. Anders ausgedrückt enthält das Grundgesetz »keine umfassende Sinndoktrin, die überdies reich an relevanten praktischen Konsequenzen ist« (Sciuto 2020, 28). Die Erwartung nach einem Bekenntnis zum Grundgesetz kann im ungünstigsten Fall folglich eine Formalität darstellen, die den eigentlichen Anspruch, den Schutz der Würde des Menschen und seiner Menschenrechte, in den Hintergrund der Betrachtung drängt. Gerade die Auseinandersetzung mit diesen universellen, über das deutsche Grundgesetz hinausweisenden Werten bleibt allerdings von großer Bedeutung für die Ausrichtung einer Präventionsarbeit. Der theoretische Überbau herkömmlicher Extremismus-Definitionen bleibt somit der kritischen Betrachtung unterworfen. Auch »Totalitarismus-Theorien«, wie beispielsweise die sogenannte »Hufeisentheorie« nach Eckhard Jesse (Jesse 2009, 2015), dessen Schriften nach wie vor als Standardlektüre der Sicherheitsbehörden gelten, werden innerhalb der Sozialwissenschaften eher kritisch rezipiert (Meyer 2020). Die Annahme, dass sich unabhängig von den jeweiligen Inhalten die unterschiedlichen »Extremismen« – in der »Hufeisentheorie« zunächst noch reduziert auf Links- und Rechtextremismen – in gleicher Weise der Verfassung gegenüber feindlich zeigen, wirkt indes wie ein Relikt aus einer Zeit, in der im Sicherheitsdenken oftmals eine überschaubare, in monolithische Blöcke eingeteilte Weltordnung wahrgenommen wurde. Der Annahme, dass es an den Rändern einer vorgeblich konstanten »politischen Mitte« zwei politische Strömungen gäbe, die sich tendenziell aufeinander zu bewegten, fehlt ein Realitätsbezug zur Gegenwart, 1

Man denke z.B. an die seinerzeit oftmals als »extremistisch« bezeichnete Umweltbewegung der 1970er und 1980er Jahre, deren Inhalte und Forderungen heute zum politischen Mainstream gehören und z.T. bereits Einzug in die Gesetzgebung gefunden haben.

Der soziale Raum ist eine Momentaufnahme seiner Zeit

in der die politische Mitte zunehmend erodiert oder sich zumindest in einem eklatanten krisenbedingten Umgruppierungsprozess befindet, sodass bereits von einem »Extremismus der Mitte« gesprochen wird (Kraushaar 1994; Kailitz 2010). Zudem sind islamistische Ideologien solchen Modellen kaum zuzuordnen. Angesichts der interpretativen Ungenauigkeit und des Stigmatisierungspotenzials sollte die Präventionsarbeit auf den Extremismus-Begriff besser verzichten. Stattdessen sollte sie sich in der Praxis auf konkrete Inhalte fokussieren, wie Antisemitismus, Rassismus, Homophobie, Frauenfeindlichkeit, Gewaltverherrlichung und andere die Menschenwürde unterlaufende Denkmuster, die durch islamistische/dschihadistische sowie etliche andere politische Strömungen legitimiert werden. Ein Bekenntnis zur Verfassung sollte sich vielmehr in einem Bekenntnis zur Würde des Menschen und seiner Menschenrechte aufheben.

Radikalisierung Mit Hilfe der Hegelschen Philosophie kann behauptet werden, dass alle Zustände, die wir wahrnehmen können, Prozesse, alle Prozesse Vorkommnisse und alle Vorkommnisse Übergänge sind (Brecht 1974, 115). Das gilt mithin auch für Radikalisierungen und beschreibt damit deren Vorläufigkeit. Es wäre in dem Sinn interessant zu ermitteln, inwieweit Radikalisierungen und deren Erscheinungsformen überhaupt eine gesicherte Kontinuität besitzen. Diesem Zusammenhang schließt sich die Frage an, ob nicht für viele junge Menschen die Hinwendung zu radikalen Denkmustern lediglich ein für sie notwendig erscheinender Lebensabschnitt ist, anstatt im Sinn von »Fließband- oder Pyramidentheorien« (Baran 2005; Moghadam 2005) einen kausalen Zusammenhang von »Extremismus/ Radikalisierung/Gewalt« zu konstruieren, der jeden Gedanken an eine möglicherweise vorübergehende Phase des Erlernens von Selbstbehauptung erstickt. Die Schriftstellerin Sabine Peters beschreibt die Motivation für Radikalität mit den Worten: »Radikal werden kann man aus Entdeckungslust, um konsequent weiterzufragen – und aus der Erfahrung von Not« (Peters 2017, 21). Peters’ emphatische Beschreibung öffnet einen Zugang zum Kern von Radikalisierung, impliziert so ein Blick doch, dass Radikalität Voraussetzung für die Entwicklung von Menschen und ihren Gesellschaften sein kann, im besten Fall als Anstoß für emanzipatorische Prozesse. Es ist also zunächst zu fragen, inwiefern Radikalität im Allgemeinen sowie im Konkreten – z.B. auch in einzelnen Aspekten einer islamistisch codierten Radikalität – nicht auch emanzipatorische Bedürfnisse abbilden kann. Der Gedanke an Emanzipation kommt nach Peters aus dem Bedürfnis nach einer Wendung von Not – wird also möglicherweise als notwendig empfunden. Die Entdeckungslust ist die Lust, über die Not hinauszudenken, Alternativen zu entdecken. Junge Menschen, die sich Ideologien hingeben, sich

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gleichwohl in ihnen verlieren können und ggf. einen für sie selbst und ihre soziale Umgebung dysfunktionalen, oft verheerenden Weg beschreiten, tragen i.d.R. die Ressourcen in sich, an die jede Präventionsarbeit anknüpfen könnte: Neugier und den Willen zur Veränderung der eigenen Lebensbedingungen. Denn zunächst radikalisiert sich niemand, um eine Mission zu erfüllen oder eine Ideologie zu verwirklichen, sondern um Zustände zu beseitigen, die als Zumutung und Leid verursachend empfunden werden. Radikalität ist nichts anderes als ein gelegentlich auftretendes gesellschaftliches wie individuelles Bedürfnis, bestehende Lebensumstände ihrem Wesen nach infrage zu stellen – ein Bedürfnis, das in Konflikt- und Krisensituationen auftritt und daher auch die Möglichkeit beinhaltet, Grundlage für individuellen und gesellschaftlichen Fortschritt zu sein. Konflikte und Krisen führen zwar nicht automatisch zu radikalen Denk- und Verhaltensmustern, aber diese sind ihnen als Möglichkeit inhärent. Radikalität stellt das bisherige Da-Sein und So-Sein der Individuen infrage und damit ihre Identität. Begreift man Identität dynamisch, als Scharnier zwischen Autonomiebestreben und Anpassungserwartungen, dann kann Radikalität unweigerlich zum Bruch führen: zum Abbruch von Beziehungen oder Bindungen und zum Aufbruch in eine den Verhältnissen entsprechende neue Identität – oder aber in eine identitäre Sackgasse. Nur letzteren Fall gilt es abzuwenden. Präventionsarbeit besteht somit vor allem in der Förderung von Differenzierungsvermögen, Selbstwirksamkeit und Dialogfähigkeit, sprich: Empowerment. Laufende Radikalisierungsprozesse können sich im ungünstigsten Fall ideologisch verselbstständigen und verstetigen – müssen es aber nicht. Von einer Verselbstständigung kann gesprochen werden, wenn die Aneignung ideologischer Erklärungsansätze und Lösungsmodi soweit fortgeschritten ist, dass sie die darunterliegenden Gründe für Konflikte oder Krisen überschatten, d.h. wenn die ideologische Auseinandersetzung bestimmend wird, alle Problemlagen darauf bezogen werden und jede alltagstaugliche Auseinandersetzung mit konkreten Widersprüchen nahezu unmöglich erscheint – also in dem Moment, in dem die Konfliktbeteiligten über nichts anderes mehr sprechen als über eine Ideologie und die dazugehörigen Erscheinungsformen. Eine Verstetigung radikalisierter Kommunikationsmuster kann die Folge einer Verselbstständigung sein, wenn Brüche bereits vollzogen wurden und ein Teil der Konfliktbeteiligten oder Krisenbetroffenen sich in ein »geschlossenes soziales System« (Echokammer, ideologische Blase) innerhalb eines ideologisierten Milieus begibt. Will Präventionsarbeit dem vorbeugen, darf sie nicht erst dort ansetzen. Präventionsmaßnamen verzwergen, wenn eine Ideologie zum bestimmenden Moment der Präventionsarbeit erklärt wird. Radikalisierungsprozesse sind von vielen Einflussfaktoren abhängig und daher grundsätzlich nicht linear. Es handelt sich um intersubjektive/interaktive Ereignisse, bei denen »ständig neue Voraussetzungen für weitere Aktionen und Reaktio-

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nen, das heißt neue Handlungschancen, aber auch neue einschränkende Zwänge geschaffen werden« (Hess, 2006, 117). Eine Definition von Radikalität, die über einen individualisierten Blick hinausreichen und zu einem systemischen Verständnis kommen soll – und darum geht es bei einer sozialräumlichen Perspektive –, muss die diversen Einflussfaktoren angemessen berücksichtigen und jede Kausalitätsvorstellung hinter sich lassen, sei sie auch noch so multifaktoriell konstruiert. So eine Definition könnte in etwa wie folgt lauten: »›Radikalisierung‹ ist ein vorübergehender intersubjektiver und stets auf die unmittelbare sowie die mittelbare soziale Umwelt bezogener ergebnisoffener zirkulärer Prozess mit sich wiederholenden sowie unvorhersehbaren Reaktionsmustern«. Das Problem bei solchen Definitionen ist, dass sie sich scheinbar dem Präventionsgedanken entgegenstellen. Die Behauptung eines nicht linearen, dynamischen und spontanen Auftretens und Verlaufs impliziert, dass Radikalisierungsprozesse nicht vorhersehbar sind. Dieses Nicht-Wissen birgt die Gefahr, dass der Zweck von Prävention ins Gegenteil umschlagen kann, z.B. wenn bloße Zuschreibungen sich in die örtlichen Aneignungsprozesse integrieren und Radikalisierung zu einer selffulfilling prophecy wird. Tatsächlich hängen Radikalisierungsprozesse im Wesentlichen von einer Reihe von Zufällen ab. Zufälle sind nicht zuverlässig, da sie sich einer kausalen Logik entziehen. Der Zufall bleibt gleichwohl die Verwirklichung einer dem Krisenkontext inhärenten Möglichkeit. Radikalisierungsverläufe sind dennoch beobachtbar und dadurch ggf. auch zugänglich für sekundäre oder tertiäre Präventionsmaßnahmen, die allerdings dazu verurteilt bleiben, sich mit der Radikalisierungsdynamik in einen Wettlauf zu begeben. Ein Beispiel aus einem anderen Präventionsfeld mag zur Erhellung beitragen: Keine primäre Prävention gegen Drogenkonsum kann valide Resultate von Aufklärungskampagnen über mögliche unerwünschte Folgen des Konsums vorweisen. Entsprechende Kampagnen wirken bei Konsument*innen sogar oft unglaubwürdig, weil sie ihren subjektiven Erfahrungen solange widersprechen, bis der Konsum sich als Substanzabhängigkeit verselbstständigt und verstetigt hat, was jedoch auch in diesem Fall kein Automatismus ist. Gleichwohl konsumiert niemand Drogen, um sich in ein Abhängigkeitsverhältnis zu begeben, sondern um einem Zustand zu entrücken, welcher als unbefriedigend empfunden wird. Weder Rauschsubstanzen noch Ideologien verfügen über Subjekteigenschaften. Subjekte bleiben die Menschen, die sich für das eine oder andere entscheiden. In den Fragen, die mit ihren jeweiligen Brüchen, Abbrüchen wie Aufbrüchen, verbunden sind, liegen daher auch die Antworten für die Aufhebung der Brüche. Nicht die radikale Entscheidung, sondern der auslösende Konflikt ist daher für die Präventionsarbeit ausschlaggebend. Es geht folglich konkret um das Erlernen eines

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angemessenen Umgangs mit Konflikten oder Krisen und die gemeinsame Suche nach alltagstauglichen Lösungsmöglichkeiten und deren Umsetzung. Dies führt möglicherweise zur Frage einer sozialräumlichen Resilienz.

Resilienz Die allgemeine Systemtheorie bezeichnet »Resilienz« als die Fähigkeit eines Systems, im Fall von »Störungen« selbsttätig in den Ausgangszustand zurückzukehren (lateinisch resilire: zurückspringen/abprallen). Hier geht es schon einmal nicht um Entwicklung, sondern um die Wiederherstellung des »Normalzustands«. Kybernetische Systeme gelten dann als resilient, wenn sie im Störungsfall weiterhin die erforderlichen Systemleistungen erbringen können. Das daraus resultierende Konzept »resilienter Systeme« wurde u.a. in die Human- und Sozialwissenschaften transformiert und findet in Bezug auf das vorliegende Thema auch Anwendung in der systemischen Beratung und Therapie sowie in der Sicherheitstechnologie und der Stadtplanung. Es geht um die Frage, ob die Systemarchitektur ausreichend in der Lage ist, Resilienz im Krisenfall zu gewährleisten, oder eher dazu neigt, Krisen zu begünstigen oder auszulösen, um dann im schlimmsten Fall unter diesen zusammenzubrechen. Insbesondere innerhalb komplexer sozialer Systeme, in denen Interaktion bzw. Intersubjektivität die Systemdynamik beherrscht, findet sich die Systemtheorie vor große Herausforderungen gestellt, denn ein Zurück in den Ausgangszustand ist in der Genese der Subjekte nicht vorgesehen. Ein soziales System hält sich nur solange an die Konstruktionen von Autopoiesis und Homöostase, also an die unterstellten Selbsterhaltungstriebe von Systemen unter Reproduktion gewohnter Denk- und Verhaltensmuster, solange sich diese für die Individuen als alltagstauglich erweisen. In der Psychologie wird Resilienz als die Fähigkeit von Individuen bezeichnet, im Fall krisenbedingter Veränderungen mit einer Anpassung ihres Verhaltens zu reagieren. Als auslösende Momente, die individuelle Resilienz erfordern, gelten in der Psychologie bzw. Psychotherapie vor allem Traumata oder permanenter Stress. Als Resilienz fördernd gelten eine grundsätzlich positive Einstellung zum Leben, Selbstwert und Selbstwirksamkeit sowie ein unterstützendes soziales System. Als gelingende Anpassung wird eine Verhaltensänderung und/oder eine mentale Veränderung im Sinn einer neuen Denkbestimmung als erforderlich angesehen. Dies alles klingt ein wenig nach postmodernen Vorstellungen von Selbstoptimierung: Funktionstüchtige Individuen für das Funktionieren von Systemen. In den Neurowissenschaften gibt es zudem eine Tendenz, Resilienz ebenso wie ihr Gegenteil, die Vulnerabilität, als weitgehend angeboren zu beschreiben. Wäre dem explizit so, dann wäre der Versuch, Resilienz von außen herzustellen, ohne neurologische Interventionen nahezu obsolet. Aber auch wenn Resilienz bzw. Vulnerabilität als

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Ergebnis individueller Sozialisation begriffen wird, bleibt offen, wie sich die handelnden Subjekte, z.B. in Bezug auf radikale Denk- und Verhaltensmuster, einem System gegenüber als wieder anpassungsfähig erweisen sollen, welches sie dazu veranlasst hat, sich eben solche Denk- und Verhaltensmuster anzueignen. Dies sind vor allem Fragen, die die tertiäre Prävention im konkreten Einzelfall vor große Herausforderungen stellen. Es sind jedoch diese Einzelfälle, die im System als störend identifiziert werden. Der Präventionsarbeit im Sozialraum geht es aber weniger um die Resilienz von Individuen, sondern vielmehr um die Resilienz ganzer soziale Systeme. Radikalisierungsprozesse als Folge von Krisen und Konflikten stellen das betroffene soziale System vor eine Entscheidung: Dulden wir abweichende, möglicherweise als radikal wahrgenommene Denk- und Verhaltensmuster und passen unsere Strukturen dementsprechend an, was Entwicklung bedeuten würde, oder dulden wir sie nicht, um unsere Strukturen zu bewahren, was Ausschluss bedeuten würde. Ein auf Kompromissfähigkeit setzendes soziales System erfordert einen Diskurs bzw. einen Aushandlungsprozess, an dem Präventionsarbeit ansetzen könnte. Dabei wäre es m.E. alles andere als produktiv, wenn Prävention mit vorgefertigten Vorstellungen in den Diskurs einsteigen würde. Es ist jedoch zu befürchten, dass im Zuge der »Bekämpfung des Extremismus« die Prämisse von Radikalisierungsprävention eher darin besteht, sich gegen die Teile des Systems in Stellung zu bringen, die (manchmal nur von außen) als störend empfunden werden. An dieser Stelle scheint es mir notwendig, Folgendes in Erinnerung zu rufen: Anspruch und Zweck sowohl sicherheitstechnologischer als auch sozialpädagogischer Prävention im Bereich islamistisch codierter Radikalisierung bleibt die Bekämpfung, im besten Fall die Verhinderung von Terror (Dschihadismus) und menschenunwürdigem Verhalten aus dieser Richtung. Gleichwohl sind weder vorübergehend angeeignete Ideologien und deviante Verhaltensweisen in eins zu setzen mit potenziellem Terrorismus, noch sind die als gefährdet konstruierten Sozialräume Orte, an denen der »War on Terror« mit anderen Mitteln fortgeführt werden sollte. Letzteres sollte auch dann nicht geschehen, wenn eine auffällige Zahl an Individuen innerhalb eines bestimmten Sozialraums sich in diese Richtung radikalisiert (hat), wie in Brüssel-Molenbeek oder eben in Hamburg-Altona. Fakt ist beispielsweise, dass sich im Jahr 2013 in dem von mir beschriebenen »Gefahrengebiet« mit seinen ca. 30.000 Einwohner*innen gerade einmal ein paar Dutzend junge Leute aus der örtlichen Jugend-Subkultur vorübergehend dschihadistischen Ideologien zugewandt hatten. Auch wenn von diesen wiederum eine Handvoll Jugendlicher schließlich in den Dschihadismus abgeglitten ist, was hier nicht verharmlost werden soll, so hat sich der Sozialraum als Ganzes als äußerst widerstandsfähig gegenüber dem Einfluss islamistischer Propaganda herausgestellt –

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bemerkenswerterweise ganz ohne Präventionsmaßnahmen von außen, wenn man von der fehlgeleiteten Polizeistrategie in diesem Fall einmal absieht.2 Offen bleibt, ob ohne dieselben Polizeimaßnahmen die Dschihadist*innen überhaupt die Chance gehabt hätten, in dem Umfang zu rekrutieren, wie es schließlich geschehen ist. Offen bleibt auch, ob die Reaktion der Bevölkerung auf das damalige Policing – nämlich: sich mit den davon betroffenen Jugendlichen zu solidarisieren – verhindert hat, dass die Dschihadist*innen sich noch mehr verankern konnten.

Konfliktaneignung und Empowerment Im Abspann einer Youtube-Dokumentation über die o.g. Ereignisse heißt es: »Während der Auseinandersetzung zwischen Polizei und Jugendlichen in Hamburg-Altona 2013 kam es zu einem Dialog zwischen Polizei und Anwohner*innen, hauptsächlich Angehörigen der betroffenen Jugendlichen. Es wurde schließlich vereinbart, beiderseits deeskalierend in die Auseinandersetzung einzugreifen. Was dazu führte, dass die Ausschreitungen beendet wurden. Die damalige Polizeisprecherin, Frau Sweden, erklärte, dass das Viertel auch nicht problematischer sei als andere.« (Team Jamal al Kathib 2021)3 Dies war ein bemerkenswertes Zugeständnis der Polizei und zugleich der Anfang vom Ende des »Gefahrengebiets«. Vorausgegangen war eine massive Einmischung der Bewohner*innen: eine Kreuzungsbesetzung, eine Bürgerversammlung, eine Demonstration mit ca. 1.000 Teilnehmer*innen aus dem betroffenen Sozialraum und die Einrichtung eines permanenten »Runden Tischs«, an dem ab einem bestimmten Zeitpunkt auch die örtliche Polizeiwache beteiligt wurde (Gerland 2021). Die Menschen im Sozialraum hatten sich den Konflikt zurückgeholt in ihren Verantwortungsbereich. Die Einbindung der örtlichen Polizei in einen fortlaufenden Dialog konnte gelingen, nachdem die Bereitschaftspolizei das Gebiet verlassen hatte und die Kontrolldichte zurückgefahren wurde. Der »Runde Tisch« wurde zu einer permanenten Einrichtung, in deren Rahmen über Probleme im Sozialraum gesprochen wurde – auch über die Drogenproble2

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Es gab bemerkenswerterweise keine präventiven Angebote, auch nicht solche mit präventiver »Nebenwirkung«, jedoch einen organisch gewachsenen Sozialraum: eine intakte Nachbarschaft und eine lange Geschichte sozialer Kämpfe. Angebote (Beratungsstelle, autonom verwalteter Jugendtreff und Streetwork) kamen erst nach den Ereignissen zu Stande. Jamal al Kathib ist ein Projekt mit Aussteiger*innen aus dem islamistischen Milieu in Wien unter der Anleitung von turn – Verein für Gewalt- und Extremismusprävention (www.turnprevention.com/). Die Dokumentation entstand während eines Austauschprojekts mit männlichen Aussteigern aus Hamburg und Wien (www.youtube.com/watch?v=bfvCeSS9Chs).

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matik oder die islamistischen Aktivitäten. Den Jugendlichen wurden Räume zur Verfügung gestellt, die sie sich selbst gestalten konnten. Daraus entstand u.a. ein autonomes Sportangebot. Die Präsenz von Straßensozialarbeit wurde erhöht und ein Beratungszentrum für Jugendliche installiert. All dies waren Voraussetzungen dafür, dass ab 2015 die Hamburger Einrichtung Legato – Fach- und Beratungsstelle gegen religiös begründete Radikalisierungen4 in diesem Sozialraum oft erfolgreich in Radikalisierungsprozesse intervenieren konnte, indem die örtlichen Sozialarbeiter*innen selbst eine von »Legato« begleitete Beratung anboten oder aber Freunde und Angehörige betroffener Jugendlicher direkt an die Beratungsstelle vermittelten. Entscheidend für das konstruktive Verhältnis zwischen Sozialraumakteuren und Beratungsstelle war deren Nicht-Einmischung in die örtlichen Aneignungsprozesse, solange sie nicht ausdrücklich hinzugezogen wurde. Dahinter steckt eine Haltung: »Über öffentliche Räume als Aneignungsräume zu schreiben, bedeutet einem Spannungsfeld gerecht werden zu müssen: Durch Aneignungsprozesse im öffentlichen Raum kann das Individuum der Utopie eines emanzipierten, selbstbestimmten kulturell vielfältigen Lebens in der Stadt näherkommen« (Frey 2004, 219). Es geht also in der sozialräumlichen Präventionsarbeit um die Förderung von Selbstwirksamkeit, Partizipation, Verantwortungsübernahme, Dialog- und Konsensbereitschaft, mit einem Wort: um das Empowerment der Bewohner*innen sowie anderer Akteure des Sozialraums. Präventionsarbeit spielt dabei lediglich eine mittelbare Rolle, als offene niedrigschwellige Beratungsarbeit und in Form von Mediation. Sie baut keine sozialraumbezogenen Strukturen gegen Radikalisierungsprozesse auf, sondern bedient sich der in der Bevölkerung vorhandenen Strukturen, die sich aus deren örtlichen Aneignungsweisen, sprich: Kommunikationsverhalten ergeben. Damit vermeidet Prävention Stigmatisierung und sozialarbeiterischen Paternalismus. Nils Christie spricht in seinem Aufsatz »Konflikte als Eigentum« davon, dass Konflikte auf unterschiedliche Art und von unterschiedlicher Seite den Konfliktbeteiligten »weggenommen, weggegeben, hinweggeschmolzen oder unsichtbar gemacht« werden (Christie 1995, 140). Im Fall Hamburg-Altona sowie in unzähligen anderen Fällen fand zunächst eine polizeiliche und dann eine mediale Enteignung der Konfliktbeteiligten statt, insofern als dass sie zunächst keine Einflussmöglichkeiten auf die Polizeistrategie und die Berichterstattung hatten. Man sprach nicht mit ihnen, sondern über sie. Durch ihre Selbstermächtigung wendeten sie schließlich den Konflikt und leiteten die Deeskalation ein. Die Bewohner*innen des Quartiers, die sich von Beginn an als direkt Betroffene und somit als Teil des Konflikts 4

https://legato-hamburg.de

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verstanden, leisteten mit ihren unterschiedlichen Deeskalationsbemühungen und ihrem unermüdlichen und schließlich erfolgreichen Bemühen um einen Dialog aller am Konflikt Beteiligter einen Akt von Restorative Justice im besten Sinn. Resilienzstärkung beginnt mit der Einbeziehung der Bevölkerung in die Planung ihrer Städte und Gemeinden und sie setzt sich fort in emanzipatorischen Angeboten der Sozialarbeit und anderer zivilgesellschaftlicher Institutionen. Eine Enteignung von Konflikten und Krisen durch paternalistische Maßnahmen staatlicher oder zivilgesellschaftlicher Akteure verhindert hingegen oftmals, dass Sozialräume sich als nachhaltig wirkende Lernorte entwickeln können, und fördert damit grundsätzlich auch Radikalisierung.

Fazit Die Diskussion über urbane Resilienz ist nicht neu und hat seit den Anschlägen auf die Twin Towers 2001 ständig an Fahrt aufgenommen. Oftmals dominierten sicherheitstechnologische Prämissen den Diskurs. Die Stadtforschung suchte nach sozialen Resilienzfaktoren, welche die »Abwehrkräfte« von Bewohner*innen urbaner Räume im Fall terroristischer Anschläge oder anderer Katastrophenszenarien verbessern könnten. Dabei widmete sie sich u.a. dem sozialen und baulichen Verfall von Stadtquartieren sowie dem daraus resultierenden Sicherheitsbedürfnis. Mit Hilfe von Erklärungsmodellen wie der »Broken-Windows-Theorie«, die behauptet, dass äußerliche Verfallserscheinungen eines Wohnbezirks objektive Indikatoren für Delinquenz seien und dass sich daraus weitere unerwünschte Verhaltensweisen ergäben, wurden gefährdete bzw. »gefährliche« Orte konstruiert, die in der Kulturkritik manchmal ironisch als »ontologische Slums« bezeichnet werden. Eine Stadtplanung dieser Art differenziert nicht zwischen den Ebenen der Zuschreibung, der Identität, der Statusbildung und der Aneignungsweisen, wenn sie die Subjekte eines Sozialraums objektiviert. Dadurch kann vorhandene, oft unterschwellige Resilienz nicht wahrgenommen werden. Diese reduzierte Wahrnehmung führt dann zu dem Schluss, dass Resilienz durch Kampagnen von außen hergestellt werden müsse. Diverse Konzepte solcher Art befinden sich bereits in einem Wettbewerb um die dafür bereitgestellten staatlichen Zuwendungen. Dabei konnten bereits zugängliche Untersuchungen zu Sozialräumen zu der Einsicht führen, dass vor allem soziale und politische Probleme Auslöser, Gründe und Begründungen für Radikalisierungsprozesse jeglicher Art zur Verfügung stellen (Großmann 2019; FH-Münster/Mapex 2020), dass die sozialräumlichen Aneignungsweisen eine Eigendynamik entwickeln, die sich zwar nicht mit kausalen Denkbestimmungen oder irgendeiner expliziten ätiologischen Disziplin erklären lassen, jedoch die Möglichkeit in sich tragen, Probleme nicht bloß auszulösen, sondern sie auch zu lösen. Nicht zuletzt können auch umfangreiche quantitati-

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ve und qualitative Sozialraumanalysen zum Thema Radikalisierungsprävention zu der Erkenntnis führen, dass es vor allem eine Stärkung emanzipatorisch-sozialarbeiterischer Angebote braucht, die in der Lage sind, auf Krisen und Konflikte zu reagieren, bevor ein Radikalisierungsprozess in Gang kommt, der sich gegen die Menschenwürde und die Menschenrechte und damit nicht zuletzt auch gegen die Interessen des Sozialraums wendet (s. FH-Münster/Mapex 2020). Resilienz, die nicht als Empowerment verstanden wird, also als Vorgang, der Entwicklung zulässt, sondern sich in der Annahme verliert, eine Reset-Funktion für den Rückzug in einen »Normalzustand« finden zu müssen, wird kaum den Herausforderungen unserer Zeit gerecht. Diese bestehen vor allem darin, die Grundlagen der Demokratie, Dialogfähigkeit und Kompromissbereitschaft, zu stärken und sich nicht in Bekenntnissen zur Verfassung und dem Aufkommen teilweise irrationaler Ängste gegenüber bestimmten Ideologien zu erschöpfen. Es geht um ein friedliches Zusammenleben, nicht um Denkkonformität.

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Radikalisierende Räume Skizze eines Projekts zu den räumlichen Mustern von Radikalisierung und Ansatzpunkte für den Transfer in die Prävention Gerrit Weitzel, Andreas Zick, Sebastian Kurtenbach, Janine Linßer, Armin Küchler

Abstract Islamistisch begründeter Terrorismus und somit auch islamistische Radikalisierung sind inDeutschland wie auch in anderen Ländern zu einem Dauerthema geworden. Dabei zeigt sich international ein Zusammenhang von räumlichen Konstellationen, im Speziellen von segregierten Stadtteilen, und den Ausreisen dschihadistischer »Foreign Fighters«. Der vorliegende Beitrag diskutiert Raum als Faktor der Radikalisierung, gibt einen Einblick in Phänomene des Islamismus in segregierten Stadtteilen und stellt das Verbundprojekt »Radikalisierende Räume« (RadiRa) der Universität Bielefeld und der Fachhochschule Münster vor. Ziel des Projektes ist es, die Rolle urbaner Milieus – bzw. sozialer Räume – hinsichtlich neo-salafistischer Radikalisierungsprozesse zu untersuchen. Mit dem Fokus auf der Handlungsebene des Raums als Radikalisierungsfaktor beabsichtigt das Projekt, so zu einem besseren Verständnis von Radikalisierungsprozessen und Präventionsmöglichkeiten beizutragen.

Raum als Faktor der Radikalisierung Islamistischer Terrorismus und andere Phänomene wie Prozesse islamistisch begründeter Radikalisierung sind in Deutschland wie auch in anderen Ländern nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 in New York und der darauf folgenden Terrorwelle sowie Propaganda des sogenannten »Islamischen Staats (IS)« und anderer extremistischer Gruppen zu einer besonderen Herausforderung für europäische Gesellschaften geworden (Hummel/Riek 2020). Zwar ist die Zahl der Anschläge und strafrechtlich relevanten Delikte sowie die Zahl der vom Verfassungsschutz als Gefährder*innen eingestuften Personen in Deutschland rückläufig, aber zugleich wächst aktuell das vom Bundesamt für Verfassungsschutz als islamistisch

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eingestufte Personenpotenzial1 . Dabei ist davon auszugehen, dass religiös motivierte extremistische Gruppen, wie z.B. neo-salafistische Gruppierungen, weiterhin versuchen, Anhänger*innen zu akquirieren wie auch zu mobilisieren. Diese Gruppen erzeugen dort, wo sie sich verankern, ein besonderes Konfliktpotenzial, auch wenn letztendlich die Wahrnehmung der Bedrohungslage in der Öffentlichkeit vielen Verzerrungen unterliegt (Bock 2017). Bei der Beurteilung des Phänomens »islamistische Radikalisierung« stehen für jene, die sich damit im Bereich der Detektion, Prävention wie Intervention beschäftigen, primär Fragen nach dem Risiko und der Gefährdungs- und Bedrohungslage sowie nach frühen Warnzeichen im Vordergrund. Hierbei sind für die Praxisfelder der Pädagogik und Sozialen Arbeit insbesondere die frühen Zeichen einer Hinwendung zum Islamismus und Möglichkeiten ihrer Verhinderung hoch relevant. Im Zentrum der Radikalisierungsforschung stehen daher oft Biografien von Täter*innen – nicht nur, weil es viele Einzelfälle gibt, sondern auch, weil sie Hinweise auf den Prozess bzw. die Sozialisation in den Extremismus geben und spezifische Faktoren der Radikalisierung, die nicht von verallgemeinerten Modellen erfasst werden, kenntlich machen können (vgl. z.B. Jukschat/Leimbach 2020). Dies hat jedoch dazu geführt, dass vor allem individuellen Ursachen, Prozessen und Folgen der Radikalisierung nachgegangen wird, um aus der Analyse Profile abzuleiten oder Typologien zu identifizieren. Kollektive Gruppenprozesse wie auch die Frage, inwieweit der soziale und geografische Lebenskontext in Wechselwirkung mit den individuellen Biografien auf den Prozess der Hinwendung wirken, können aus dem Blick geraten bzw. sind weitaus schwieriger zu bestimmen (Zick 2020). Dies gilt insbesondere – und hier setzt das später zu beschreibende Projekt Radikalisierende Räume an – für die Frage, inwieweit konkret zu bestimmende Räume, in denen sich extremistisch orientierte Gruppen verorten, bei der Erforschung der Ursachen von Radikalisierung wie auch bei der Ausgestaltung von Prävention und Intervention zu berücksichtigen sind bzw. inwiefern sie überhaupt berücksichtigt werden können. Mit Ausnahme der Nennung bleiben raumbezogene Faktoren oder Muster von Einflussfaktoren von einer Fokussierung auf die Frage nach der Konzentration von extremistischen Gruppen in Stadtteilen sowohl bei der wissenschaftlichen Analyse als auch in der Praxis oft außen vor. Gleichwohl wird die Wahl der Räume für Gruppen und ihre Wirkungen auf Räume von vielen Akteur*innen, die sich damit beschäftigen, als wichtig erachtet. Dass es räumliche Einflüsse und Muster religiös begründeter Radikalisierung gibt, zeigen Auswertungen und Veröffentlichungen u.a. des Berliner Verfassungsschutzes sowie Beobachtungen und Analysen räumlicher Konzentrationen von Terrorgruppen. Zum Beispiel konnte in der Vergangenheit beobachtet werden, dass 1

www.verfassungsschutz.de/DE/themen/islamismus-und-islamistischer-terrorismus/zahlenund-fakten/zahlen-und-fakten_node.html

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sich islamistische Gruppen in bestimmten Stadtteilen stärker verankerten als in anderen und Ausreisende in den selbst ernannten »Islamischen Staat« aus einigen wenigen Stadtteilen kamen. Bis heute konzentrieren sich auch (Neo-)Salafist*innen in ausgewählten Stadtteilen und bilden dort Zentren. Es ist hinlänglich bekannt, dass Räume systematisch Sozialverhalten und Strukturen schaffen, wie z.B. normative Ordnungen. Wie jedoch die räumlichen Strukturen, lokalen Normen und Praxen einen Einfluss auf die Anfälligkeit für Radikalisierung – hier im Besonderen einer islamistischen Radikalisierung – möglicher Anhänger*innen wie auch für die Radikalisierung in extremistische Taten haben, ist nicht systematisch erforscht. Unbekannt sind auch die Wirkungen einer lokalen Konzentration auf die Räume, wie sie sich z.B. in Polarisierungsprozessen zeigen, die aus dem Phänomenbereich Rechtsextremismus bekannt sind (vgl. z.B. Döring 2008). Dies schließt die Frage danach mit ein, ob es einen Unterschied macht, ob extremistische Gruppen im Raum ansässig sind oder sich dort verankern, etwa im Umfeld religiöser Orte, und ob es eine Rolle spielt, wie ausdifferenziert die lokale Angebotslandschaft sozialer und kultureller Einrichtungen ist. Dass lokale Rekrutierungen von Anhänger*innen gelingen und es zu räumlichen Konflikten zwischen extremistischen und anderen Gruppen kommt, ist bekannt. Räume können zudem auch so genutzt werden, dass der Extremismus gerade nicht auffällt, wie es bei der sogenannten Sauerlandgruppe der Fall war, einer Terrorgruppe, die 2007 im ländlichen Ort Medebach-Oberschledorn aufgegriffen wurde. Aber warum dies so ist, welche Orte also welche Wirkungen erzeugen, ist wissenschaftlich nicht hinreichend beleuchtet, auch wenn sich Prävention und Intervention auf Räume beziehen und beziehen müssen und damit selbst zum »Raumgeschehen« gehören. Diese Forschungslücke ist insofern bemerkenswert, als dass in der Analyse von Kriminalität der Raum als beachtenswerte Dimension durchaus mit einbezogen wird. Es gibt demnach eine theoretische, aber auch praktische Lücke in der Untersuchung von Radikalisierung und infolgedessen auch ihrer Prävention. Genau diese Lücke soll mit Blick auf islamistische Radikalisierung das Verbundprojekt Radikalisierende Räume (RadiRa)2 schließen. Im folgenden Beitrag wird zunächst die Rolle des Raums als Faktor der Radikalisierung beleuchtet. Um dies zu entfalten, kann die Analyse an den Forschungsstand zu Sortierungs- und Kontexteffekten anschließen. Die Besonderheit des Projekts Radikalisierende Räume besteht darin, nicht das Ergebnis von Radikalisierung im Sinn von Extremismus zu untersuchen, sondern die Anfälligkeit für Radikalisierung bzw. die Hinwendung zu extremistischen Ideologien von Gruppen, die im

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Das Projekt findet von 2020 – 2024 am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld sowie an der Fachhochschule Münster statt. Gefördert wird es durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung.

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Raum präsent sind, in den Vordergrund zu stellen. Im Anschluss wird der empirische Zugang des Projekts erklärt und kurz das empirische Vorgehen skizziert, denn eine besondere Herausforderung des Projekts besteht auch darin, Raumeinflüsse empirisch nachweisen zu können. Am Ende dieser Darstellung wird die Transferstrategie des Projekts erläutert sowie ein Ausblick formuliert.

Islamismus in segregierten Stadtteilen Mit Blick auf die Ausreisen dschihadistischer Kämpfer*innen aus europäischen Städten im Zug der Eroberungsfeldzüge des IS in Syrien sind innerhalb der letzten 10 – 15 Jahre verschiedene europäische Städte u.a. Berlin (Senatsverwaltung für Inneres und Sport 2017), Brüssel (van Vlierden 2016), London (Soufan/Schoenfeld 2016) und Dinslaken (Duranöz 2017) zu dschihadistischen »Hochburgen« (Varvelli 2016) geworden. Es gibt also bestimmte Stadtteile, in denen es verstärkt zu neosalafistischer Radikalisierung kommt, wobei kaum geklärt ist, wieso dies so ist. Drei Erklärungsansätze erscheinen dabei plausibel und sie geben erste Hinweise auf räumliche Faktoren der Radikalisierung. Erstens kann es schlichtweg Zufall sein, wo sich »Hochburgen« bilden und wo Rekrutierungen, Mobilisierungen und Ausreisen erfolgen. Dies ist allerdings höchst unwahrscheinlich, denn bei genauerer Betrachtung der Orte mit einer größeren neo-salafistischen räumlichen Konzentration fallen Ähnlichkeiten zwischen den unterschiedlichen »Hochburgen« auf. Das Ausmaß an wahrgenommener Diskriminierung, die soziale Ungleichheit, geringe Bildung oder auch in Zeit und Intensität ähnliche Rekrutierungsbemühungen wie auch die Monokulturalität der Räume und geringe interkulturelle und -religiöse Kontakte fallen in allen betroffenen Stadtteilen auf, auch wenn diese geografisch wie strukturell unterschiedlich sind (Hekmatpour/Burns 2019). Anders ausgedrückt: Unterschiedliche Räume weisen ähnliche Bedingungsfaktoren für Radikalisierung auf. Das bedeutet, wären die Faktoren nicht prägend für bestimmte Stadtteile, sollte sich das auch räumlich ausdrücken. Letztlich würden dann alle Stadtteile einer Stadt in ähnlicher Weise beispielsweise Ausreisen in den »Islamischen Staat« oder auch Zustimmungswerte zu extremistischem Gedankengut aufweisen. Dies ist nicht der Fall, was darauf schließen lässt, dass es für die Radikalisierung im Phänomenbereich islamistischer Extremismus »günstige« Raumkonstellationen gibt, auch wenn diese noch nicht genau ermittelt sind. Allein von segregierten Stadtteilen auf Radikalität zu schließen, wäre falsch, denn es braucht in entsprechenden Stadtteilen eben auch Verankerungen des Islamismus. Eine zweite Möglichkeit, die Bildung von räumlichen Verdichtungen des Extremismus zu erklären, wäre die Annahme von Sortierungseffekten: Angehörige einer neo-salafistischen Szene konzentrieren sich zwar an einem Ort, sie werden aber nicht aufgrund des Orts Szeneangehörige. Eine Szene bildet sich am Ort unab-

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hängig von den Gegebenheiten. Stimmt diese These, dann müsste eine Szenekonzentration in einem Raum eine strategische Entscheidung der einzelnen Personen sein, was durchaus möglich wäre. Solche Vorgänge waren im Kontext des Rechtsextremismus an vielen Orten zu beobachten, wie beispielsweise in dem bekannt gewordenen selbst ernannten »Nazikiez« in Dortmund-Dorstfeld. Durch eine bewusste Konzentration auf einen Ort seitens einer Gruppe bzw. Szene entwickelt sich eine entsprechende szenenahe Infrastruktur, wie z.B. eigene Buchläden, Cafés oder im Fall des Islamismus auch Gebetshäuser oder Räume religiösen Austauschs. Um jedoch einen Sortierungseffekt nachzuweisen, müsste sich die spezifische »extremistische Struktur« unabhängig von anderen räumlichen Merkmalen wie der Sozialstruktur oder dem vorhandenen lokalen Normgefüge bilden. Dazu ist keine Evidenz bekannt, was zwar nicht bedeutet, dass sich nicht in Räumen extremistische Nischen bilden, aber eben auch, dass sie doch in Wechselwirkung zu anderen Raummerkmalen stehen, wie in der folgenden These erläutert wird. Die dritte These für die Bildung von »Hochburgen« ist die Annahme von Kontexteffekten: Aufgrund räumlicher Merkmale treten spezifische Phänomene wie Bildungsbenachteiligung oder eben auch Formen der Radikalisierung auf bzw. werden diese Phänomene verstärkt. Der These zufolge käme es zur Bildung und Verankerung einer Szene unter anderem aufgrund spezifischer räumlicher Einflüsse. Auch dies ist plausibel angesichts der oben genannten Ausführungen, ist jedoch ebenso empirisch noch nicht hinreichend geprüft worden. Aus diesem Grund soll das Projekt Radikalisierende Räume alle drei Thesen in Stadtteilen ausgewählter Städte empirisch und unter Berücksichtigung der Perspektiven von Forschung, Prävention wie Intervention – mithin Praxis – untersuchen. Damit wird also explizit der Einfluss des räumlichen Kontexts für die Radikalisierung aufgegriffen. Der in der Forschung teils bereits vorsichtig anerkannten Beobachtung, dass Räume eine Rolle spielen (Khosrokhavar 2016), wird hier die These entgegenstellt, dass sie spezifische und eigenständige Effekte haben. Dazu wird ein Instrument zur Messung der Anfälligkeit für islamistische Radikalisierung entwickelt und empirisch geprüft. Zentrale Vorarbeiten dazu liegen mit dem Projekt Anfälligkeit für Radikalisierung? bereits vor (Kurtenbach et al. 2020). Dieses soll daher im folgenden Abschnitt kurz referiert werden, womit auch erste Befunde berücksichtigt werden können.

Die Studie »Anfällig für Radikalisierung?« Mit Blick auf die Anfälligkeit von Menschen für eine Radikalisierung ist erneut darauf hinzuweisen, dass sich Radikalisierungsverläufe aus einem Zusammenspiel von Persönlichkeitsmerkmalen, Sozialisationsbedingungen, Gelegenheitsstrukturen und weiteren Einflüssen ergeben und somit individuell und kollektiv in Grup-

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pen unterschiedlich verlaufen (Körting et al. 2015; Neumann 2015; Zick 2017, 2020). Dabei wird Radikalisierung als ein Prozess verstanden, der mit einer Wechselwirkung verschiedener Faktoren beginnt, mit einer bewussten oder unbewussten »kognitiven Öffnung« für extremistische Vorstellungen einsetzt (Frindte et al. 2016) und bei der Befürwortung und/oder Verübung einer extremistischen Gewalttat enden kann, zumindest danach strebt (vgl. auch Beelmann 2021). Während Wege in die Gewalt im Rahmen einer rekonstruktiven Analyse biografischer Verläufe von Personen, die eine extremistische Gewalttat begangen haben, gut erforscht sind, ist der genauen Analyse des Prozessbeginns einer islamistischen Radikalisierung noch wenig Aufmerksamkeit zugekommen. Dies ist auch deshalb ein Manko, weil es für die Präventionsarbeit oder -praxis ausgesprochen bedeutsam ist, möglichst die Frühphase einer Radikalisierung zuverlässig zu erkennen und Einschätzungen zu treffen, also erste Anfälligkeiten wahrzunehmen, um einem weiteren Voranschreiten Einzelner auf dem Pfad der Radikalisierung vorzubeugen. Die Anfälligkeit muss dabei wiederum als Zusammenspiel multipler persönlicher, sozialer und struktureller Einflussfaktoren, die die Empfänglichkeit für radikale Botschaften (Narrative) begünstigen, verstanden und eben auch identifiziert werden (Kurtenbach et al. 2020). Es ist bekannt, dass neo-salafistische Gruppen und Agitator*innen gezielt im digitalen wie »analogen« Leben anfällige oder vulnerable Personen ansprechen, deren Themen in direkten oder indirekten salafistischen Botschaften aufgreifen und sie durch das Wissen um Anfälligkeiten binden, ohne dass den Angesprochenen die Gefahr bekannt sein muss (vgl. auch Böckler et al. 2017; Srowig et al. 2017; Zick 2017). Deutlich wird dies auch in Dokumenten von Terrororganisationen. So stellte Omar Bakri, Gründer der 2005 verbotenen salafistischen Gruppe Al-Muhajiroun in den Frühphasen der Terrorwelle bereits fest: »Wenn es im Westen keinen Rassismus gibt, gibt es auch keine Identitätskonflikte. … Wenn es keine Diskriminierung und keinen Rassismus gäbe, wäre es meiner Meinung nach sehr schwierig für uns« (Wiktorowicz 2005, 91, übersetzt aus dem Englischen). Vor diesem Hintergrund erschien es umso dringender, sich im Rahmen von Forschung mit frühen Anfälligkeitsmerkmalen einer möglichen Radikalisierung zu befassen. Genau hier setzte das Projekt Anfällig für Radikalisierung? der Fachhochschule Münster3 an und versuchte, empirische Antworten auf die Frage nach den zentralen Anzeichen einer frühen Anfälligkeit für eine neo-salafistisch motivierte Radikalisierung zu finden. Dafür wurden 33 Gruppendiskussionen mit 162 Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 20 Jahren mit unterschiedlichen soziokulturellen Hintergründen, die im Vorfeld nicht im Hinblick auf neo-salafistisch motivierte Radikalisierung

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Laufzeit 2017 – 2019, gefördert vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, eingebettet in das Netzwerk CoRE-NRW (Connecting Research on Extremism in North Rhine-Westphalia).

Radikalisierende Räume

auffällig in Erscheinung getreten waren, geführt. Untersucht wurde, inwiefern Jugendliche, die bislang nicht als möglicherweise Radikalisierte in ihrem Umfeld in Erscheinung getreten sind, Einstellungen und Haltungen teilen, die sich klassischerweise in neo-salafistischen Narrativen wiederfinden lassen. In den Analysen lässt sich keine weit verbreitete Anschlussfähigkeit an neosalafistisches Gedankengut finden. Es zeigt sich jedoch, dass die Jugendlichen sich vom politischen System nicht genügend ernst genommen und adressiert fühlen, einen Hang zu autoritären Orientierungen haben, eine gewisse Demokratiedistanz aufweisen und sich subjektiv deutlich als Diskriminierungsopfer fühlen bzw. Diskriminierungen z.B. als Muslim*innen wahrnehmen. Die Studie legt die These nahe, dass Jugendliche durch den Kontakt zu entsprechenden Gelegenheitsstrukturen offen für neo-salafistische Narrative werden können, weil diese genau die Faktoren der Anfälligkeit bedienen und eine Alternative für negative Erfahrungen bieten (Kurtenbach et al. 2020; ähnliche Befunde auch bei Goede/Schröder/ Lehmann 2019). Auch vor dem Hintergrund, dass sich in Befragungen der Mehrheitsgesellschaft, wie der Mitte-Studie (Zick/Küpper 2021), der Shell-Jugendstudie (Shell Deutschland Holding 2019) sowie der Untersuchung von Richter et al. (2018), tatsächlich massive Ressentiments und Diskriminierungsabsichten zeigen, ergeben sich nach Analysen des Projekts zentrale Handlungsbedarfe. Erstens wurde klar, wie notwendig es ist, Demokratie für Jugendliche erlebund erfahrbar zu machen und Demokratieförderung als Alltagsaufgabe in Projektund Regelangeboten, beispielsweise der Sozialen Arbeit, fest zu etablieren. Mit dem »räumlichen Blick« hebt das Projekt die Etablierung von Jugendparlamenten als institutionalisierter Form von Beteiligung in den Kommunen hervor. Zweitens ist es geraten, Erfahrungen von Rassismus und Diskriminierung ernst zu nehmen und ihnen vor Ort entgegenzuwirken. Initiativen wie Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage und die Wochen gegen Rassismus bieten gute lokale Möglichkeiten und könnten gerade mit dem präzisen Blick auf räumliche Bedingungen weiterentwickelt werden. Drittens hat sich im Projekt Anfällig für Radikalisierung? auch gezeigt, dass es einen großen Bedarf aufseiten der Fachkräfte in der Praxis gibt, sich zum Phänomenbereich neo-salafistische Radikalisierung untereinander und mit der Wissenschaft auszutauschen und »Evidenz in den Raum« zu transferieren. Es empfiehlt sich die Etablierung kommunaler und überregionaler Foren, z.B. Runder Tische, unter Beteiligung aller mit dem Phänomenbereich in Berührung kommender Akteur*innen.

Das Projekt Radikalisierende Räume Das Projekt Radikalisierende Räume setzt an der Analyse von Anfälligkeiten und der Frage, wie praktische Gegenwirkungen mit Blick auf den Raum gestaltet

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sein müssen, an. Bisherige Forschungsarbeiten, die sich mit (islamistischer) Radikalisierung befassen, wählen in den meisten Fällen einen von drei Zugängen: (1.) Es werden Einstellungen und/oder Handlungsabsichten bisher nicht durch radikale Handlungen aufgefallener Personen gemessen. Aus der Analyse werden evidenzbasierte Praxisvorschläge abgeleitet. (2.) Es werden im Nachhinein biografische Hinwendungsprozesse in die Gewalt rekonstruiert oder (3.) von Islamist*innen hergestellte ideologische Artefakte wie Medien, Chats usw. untersucht. Andere Datenzugänge, wie direkte Interviews mit Szeneangehörigen oder Aussteiger*innen, sind eher selten; noch seltener sind räumliche Zugänge. Im Projekt Radikalisierende Räume wird eine andere Perspektive eingenommen und dies erfordert andere Wege der Datengewinnung. Die geografische Verortung sozialer Prozesse, welche zu einer Anfälligkeit für Radikalisierung führen, wird zur Heuristik und Analyseeinheit zugleich. Das Projekt betrachtet ein soziales Phänomen an bestimmten Orten und prüft dabei unmittelbar und systematisch, ob die Merkmale des Untersuchungsraums einen analytischen Mehrwert bei der Phänomendokumentation und -erklärung haben. Es wird untersucht, ob und wie der lokale Kontext bei der Analyse von Radikalisierungsprozessen mitbedacht werden muss. Wenn der Faktor Raum sich als nicht tragfähig erweist, sollte zur Erklärung von Radikalisierung eher von anderen Faktoren, wie den oben genannten individuellen und sozialen Dispositionen, ausgegangen werden. In beiden Fällen gewinnen wir notwendiges Wissen über die Analyse von Radikalisierung. Damit stehen folgende Fragen im Mittelpunkt der Analyse wie auch der Diskussion um Implikationen der Analyse für die Prävention und Intervention: Wie und unter welchen lokalen Gegebenheiten verankert, entfaltet und etabliert sich eine salafistische Szene im Raum? Welche Auswirkungen hat dies auf das lokale Gemeinwesen? Welche Orte des Raums sind besonders von der Präsenz einer solchen Szene betroffen? Im Zentrum stehen dabei öffentliche Räume, was zugleich eine klare Begrenzung des Analyserahmens darstellt. Um bestehenden Modellen und Befunden der Raumforschung Rechnung zu tragen, wurde ein Modell des Kontexteinflusses zur Analyse von Radikalisierungsanfälligkeit erarbeitet (Kurtenbach/Zick 2021), welches den konzeptionellen Ausgangspunkt darstellt. In diesem Modell werden sowohl Einflüsse des Raums, der Angebotslandschaft als auch individueller Dispositionen auf die Norm der Akzeptanz abweichenden Verhaltens (interpretiert als Mediator) untersucht, welche wiederum die Vorbedingung für die Anfälligkeit für Radikalisierung bildet. Das Modell bzw. die dahinterstehenden Hypothesen werden dann mittels Daten aus standardisierten Befragungen geprüft und mithilfe von Wissen aus ethnografischen Analysen sowie leitfadengestützten Interviews angereichert bzw. eingeordnet. Abschließend wird es darum gehen, vorhandene Interventionen für die gemeinwesenorientierte Sozialarbeit weiterzuentwickeln und gegebenenfalls neue Ansätze auszuarbeiten.

Radikalisierende Räume

Das Modell rahmt zugleich die zentralen Teilstudien des Projekts. Geforscht wird an drei ausgewählten Standorten. Das erste und zugleich wichtigste Auswahlkriterium hierbei war das Vorhandensein salafistischer beziehungsweise islamistischer Gruppen. Weiterhin wurde bei der Auswahl darauf geachtet, dass die Quartiere Gemeinsamkeiten in ihrer Sozialstruktur aufweisen, sich aber dennoch Kontraste finden u.a. in der Art und Weise, wie die Szenen öffentlich am Ort in Erscheinung treten4 . Die projektinterne Replikation durch die konsekutive Untersuchung in drei Stadtteilen hat mehrere Vorteile: Erstens können komparative Analysen erstellt werden, bei denen sich die Spezifika der einzelnen Quartiere zeigen. Dies ist auch für die Formulierung lokaler Präventionsmöglichkeiten von Bedeutung. Zweitens lassen sich die Erfahrungen aus den jeweils vorangegangenen Erhebungen für das weitere Vorgehen nutzbar machen. Für eine differenzierte Analyse haben wird ein mehrmethodisches Design (Mixed Methods) zugrunde gelegt, also eine systematische Kombination qualitativer und quantitativer Analysen. Dies eröffnet die Möglichkeit, methodische Begrenzungen zu überwinden und die komplementären Stärken beider Paradigmen zu fokussieren (Baur et al. 2017, 10). Während eine quantitative standardisierte Bevölkerungsumfrage repräsentative Daten auf Basis validierter Konzepte generiert, ergänzt eine qualitative ethnografische Teilstudie die Forschung um weitere Phänomene. Durch diese Herangehensweise werden Sachverhalte, wie soziale Praxen und Sinnzuschreibungen im Raum, also Phänomene, die sich einer quantitativen Erfassung entziehen, erforschbar. Im Ergebnis wiederum können die Praxen vor Ort mit quantifizierten Einstellungsmustern übereinandergelegt werden und so zu einer differenzierten Einsicht in die Phänomene führen. Ergänzt wird das Vorgehen durch die Einbeziehung von Praktiker*innen der Sozialen Arbeit im Quartier und der Befragung nicht radikal oder extremistisch orientierter Bewohner*innen. Sozialarbeiter*innen kommt vor Ort die Aufgabe zu, Präventionsangebote zu gestalten. Sowohl ihre Perspektive auf das Phänomen als auch auf die bis dato angewandten Strategien sind relevant für die Entwicklung eines gemeinwesenorientierten Präventions-Tools. Um die Anwendbarkeit eines solchen Tools sicherzustellen, sind ein regelmäßiger Austausch sowie die Berücksichtigung praktischer Perspektiven unerlässlich. Ebenso eingebunden sind zwei weitere Teilstudien, die sich auf Grundlage des crime-terror nexus (u.a. Basra/Neumann 2016; Ilan/Sandberg 2018) mit der Verbindung des kleinkriminellen Milieus und radikal-islamistischer Szenen beschäftigen sowie eine Bestandsaufnahme und Auswertung kommunaler Handlungskonzepte zur Radikalisierungsprävention vornehmen werden. Alles in allem sind vier Teilstudien im Projekt Radikalisierende Räume vorgesehen. Im Folgenden sollen die qualitativen und quantitativen Forschungen sowie weitere Pro4

Uns ist bewusst, dass wir die Art und Weise erst im Anschluss an die Analyse genau explizieren können.

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jektteile zum Transfer der Forschung und zur Implementation in die Praxis genauer erläutert werden. Standardisierte Befragungen: Um das Ausmaß für die Anfälligkeit für Radikalisierung in der jeweiligen Stadtteilbevölkerung einzuschätzen, wird ein Messinstrument zur Anfälligkeit für salafistische Radikalisierung entwickelt und getestet, welches dann im Rahmen einer repräsentativen und standardisierten Umfrage eingesetzt wird. Ethnografie: In jeder der drei Städte steht ein Stadtteil im Fokus der Analysen. Dort werden die Interaktionen der salafistischen Szene mit der Stadtgesellschaft ethnografisch untersucht. Damit können die Voraussetzungen für die räumliche Verfestigung bzw. ihr Ausbleiben besser verstanden werden. Für eine möglichst alltags- und lebensnahe Ethnografie wird eine Wohnung im Stadtteil bezogen. Die ethnografische Erhebung und der/die Forscher*in sollen in die Lebenswelt des untersuchten Raums eingebettet sein. Die ethnografische Erhebung bezieht sich vor allem auf den öffentlichen und teilöffentlichen Raum, also auf Alltagsleben und Interaktionen im Stadtteil sowie die sozialen Praktiken und die Agitation der salafistischen Szene. Einbeziehung der Perspektive Sozialer Arbeit: Neben der lebensweltlichen Verortung salafistischer Gruppen im Raum und der Untersuchung des Milieus, in dem diese stattfindet, werden lokale Akteure der Sozialen Arbeit sowie der Zivilgesellschaft, aber auch die Perspektive nicht radikalisierter Bewohner*innen systematisch in die Untersuchung mit einbezogen. Ziel ist die gemeinsame Erkundung von Interaktionsformen der neo-salafistischen Szene sowohl aus professioneller als auch aus alltäglicher Perspektive. Auswertung kommunaler Handlungskonzepte: Eine vierte Teilstudie hat sich aus Gesprächen mit Praktiker*innen zu den Rahmenbedingungen lokaler Prävention entwickelt. Analysiert werden kommunale Handlungskonzepte der Radikalisierungsprävention, die zahlreich vorliegen.

Ausblick und Zusammenfassung Integraler Bestandteil des Projekts Radikalisierende Räume ist der Ergebnistransfer in die kommunale und lokale Praxis und in die interessierte Öffentlichkeit. Darauf ist bereits die oben skizzierte Forschungsstrategie angelegt. Dem praktischen Ziel des Projekts folgend, wird eine Strategie der raumbezogenen Radikalisierungsprävention entwickelt (Kurtenbach/Schumilas/Zick in diesem Band). Diese wird während der Projektlaufzeit in mehreren Workshops mit Fachkräften kontinuierlich überarbeitet und erweitert. Sie hat zum Ziel, dass empirisch und mit dem Fokus auf die jeweiligen Stadtteile abgesichert, sichtbar und umsetzbar wird, was zur Radikalisierungsprävention genau unternommen werden sollte. Weitere transferrele-

Radikalisierende Räume

vante Ergebnisse sind von der Auswertung der kommunalen Handlungskonzepte zu erwarten. Auch wenn die Namen der Städte und Stadtteile, in denen die Forschung stattfindet, aus forschungsethischen und -methodologischen Gründen derzeit nicht offengelegt werden, ist das Projekt maximaler Transparenz verpflichtet. Dazu gehören vor allem drei Standards: Erstens ist die Veröffentlichung der Hypothesen vor Beginn der für den Herbst 2022 geplanten Befragung zu nennen; erfolgt ist sie bereits im August 2021 (Kurtenbach/Zick 2021). Zweitens werden auch alle Erhebungsmaterialien, wie der Interviewleitfaden für Fachkräfte oder die Fragebögen für die standardisierten Befragungen, nach Abschluss der Erhebungen veröffentlicht. Drittens werden die Befragungsdaten dem Archiv des GESIS-Instituts für Sozialwissenschaften zur Verfügung gestellt, sodass auch Dritte mit den Daten eigene Arbeiten verfassen und unsere Hypothesen gegenprüfen werden können. Abschließend lässt sich festhalten, dass der Beitrag auf die Rolle des Raums im Rahmen islamistischer Radikalisierungsprozesse kurz eingegangen ist, um die Grundlagen und Entwicklungsschritte eines raumbezogenen Projekts sichtbar zu machen. Grundsätzlich geht das hier skizzierte Projekt davon aus, dass es sich bei der räumlichen Konzentration radikaler Gruppen nicht um Zufälle handelt, sondern Sondierungs- und/oder Kontexteffekte verantwortlich sind. Ziel des Projekts ist es, den Zusammenhang von Radikalisierung und Raum systematisch im Rahmen eines mehrmethodischen Designs zu untersuchen, welches qualitative wie quantitative Elemente aufweist. In dem skizzierten Projekt Radikalisierende Räume wird geprüft, ob und wie sich ein Zusammenhang zwischen Sozialstruktur, sozialen Praxen, lokalen Normen und Opportunitäten, d.h. im urbanen Raum ansässigen Gruppen, empirisch zeigen lässt (detailliert Kurtenbach 2021). Hierdurch soll die Studie einen Beitrag zum internationalen Forschungsstand leisten und eine Brücke zwischen den bisherigen empirischen Ansätzen bilden. Ebenso relevant ist die Weiterentwicklung raumbezogener Präventionsansätze, um einen informierten Beitrag für die praktische Soziale Arbeit zu schaffen5 .

Literatur Basra, R./Neumann, P. R. (2016): Criminal Pasts, Terrorist Futures: European Jihadists and the New Crime-Terror Nexus. In: Perspectives on Terrorism, 10 (6), S. 25-40

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Auf der Website https://radikalisierende-raeume.de werden die empirischen Erkenntnisse publiziert.

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Beelmann, A. (2020): A social-developmental model of radicalization: A systematic integration of existing theories and empirical research. In: International Journal of Conflict and Violence, 14 (1), S. 1-14 Bertelsen, P. (2017): Der Kampf gegen gewaltbereiten Extremismus: Das AarhusModell. In: Kärgel, J. (Hg.): »Sie haben keinen Plan B«. Radikalisierung, Ausreise, Rückkehr – zwischen Prävention und Intervention. Bonn, S. 173-193 Bock, A. (2017): Islamistischer Terrorismus: Die konstruierte Bedrohung. In: Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik, 10, S. 245-265 Böckler N./Allwin, M./Hoffmann, J./Zick, A. (2017): Früherkennung von islamistisch motivierter Radikalisierung: Vorstellung und empirische Validierung eines verhaltensbasierten Instrumentes zum Fallscreening, In: Kriminalistik, 89, S. 491-497 Döring, U. (2008): Angstzonen: Rechtsdominierte Orte aus medialer und lokaler Perspektive. Wiesbaden Duranöz, Ö. (2017): Radikalisierung und Rückkehr als Themen des Jugendquartiersmanagements in Dinslaken. In: Kärgel, J. (Hg.): »Sie haben keinen Plan B«. Radikalisierung, Ausreise, Rückkehr – zwischen Prävention und Intervention. Bonn, S. 331-345 Frindte, W./Geschke, D./Haußecker, N./Schmidtke, F. (Hg.) (2016): Rechtsextremismus und »Nationalsozialistischer Untergrund«. Interdisziplinäre Debatten, Befunde und Bilanzen. Wiesbaden Goede, L.-R./Schröder, P./Lehmann, L. (2019): Perspektiven von Jugendlichen: Ergebnisse einer Befragung zu den Themen Politik, Religion und Gemeinschaft im Rahmen des Projektes »Radikalisierung im digitalen Zeitalter (RadigZ)«. Forschungsbericht 151. Hannover Hekmatpour, P./Burns, T. J. (2019): Perception of Western governments’ hostility to Islam among European Muslims before and after ISIS: the important role of residential segregation and education. In: The British Journal of Sociology, 70 (5), S. 2133-2165 Hummel, K./Riek, A. (2020): Salafismus, Islamismus und islamistischer Terror. In: Ben Slama, B./Kemmesies, U. (Hg.): Handbuch Extremismusprävention: gesamtgesellschaftlich, phänomenübergreifend. Wiesbaden, S. 87-112 Ilan, J./Sandberg, S. (2019): How gangsters become jihadists: Bourdieu, criminology and the crime-terrorism nexus. In: European Journal of Criminology, 16 (3), S. 31-53 Jukschat, N./Leimbach, K. (2020): Radikalisierung oder die Hegemonie eines Paradigmas – Irritationspotenziale einer biografischen Fallstudie. In: Zeitschrift für Soziologie, 49 (5-6), S. 335-355 Khosrokhavar, Farhad (2016): Radikalisierung. Lizenzausgabe. Bonn

Radikalisierende Räume

Kurtenbach, S. (2021): Radikalisierung und Raum. Forschungstand zur Untersuchung räumlicher Einflüsse auf Radikalisierungsanfälligkeit. In: Kurtenbach, S./Zick, A. (Hg.): Schriftenreihe Radikalisierende Räume, Bericht 1. Bielefeld Kurtenbach, S./Linßer, J./Weitzel, G. (2020): Anfällig für Radikalisierung? Einstellungen und Haltungen von Jugendlichen aus unterschiedlichen Lebenswelten zu den Themen Demokratie, Religion, Diskriminierung und Geschlecht. Bonn Kurtenbach, S./Zick, A. (2021): Ein Kontextmodell zur Erklärung von Radikalisierungsanfälligkeit. In: Kurtenbach, S./Zick, A. (Hg.): Schriftenreihe Radikalisierende Räume, Band 2. Bielefeld Senatsverwaltung für Inneres und Sport, Abteilung Verfassungsschutz (2017): Hintergründe zu den Angehörigen des salafistischen Spektrums in Berlin. Berlin Soufan, A./Schoenefeld, D. (2016): Regional Hotbeds as Drivers of Radicalization. In: Varvelli, P. (Hg.): Jihadist hotbeds. Understanding local radicalization processes. Mailand, S. 15-38 Srowig, F./Roth, V./Böckler, N./Zick, A. (2017): Junge Menschen und die erste Generation des islamistischen Terrorismus in Deutschland: Ein Blick auf Propagandisten, Reisende und Attentäter. In: Hoffmann, J./Böckler, N. (Hg.): Radikalisierung und extremistische Gewalt: Perspektiven aus dem Fall- und Bedrohungsmanagement. Frankfurt a.M., S. 101-118 van Vlierden, G. (2016): Molenbeek and Beyond. The Brussels-Antwerp Axis as Hotbed of Belgian Jihad. In: Varvelli, P. (Hg.): Jihadist hotbeds. Understanding local radicalization processes. Mailand, S. 49-62 Varvelli, P. (2016): Jihadist hotbeds. Understanding local radicalization processes. Mailand Wiktorowicz, Q. (2005): Radical Islam Rising: Muslim Extremism in the West. Lanham Zick, A. (2017): Extremistische Inszenierungen: Elemente und Pfade von Radikalisierungs- und Deradikalisierungsprozessen. In: Hoffmann, J./Böckler, N. (Hg.): Radikalisierung und extremistische Gewalt: Perspektiven aus dem Fall- und Bedrohungsmanagement. Frankfurt a.M., S. 15-36 Zick, A. (2020): Dynamiken, Strukturen und Prozesse in extremistischen Gruppen. In: Ben Slama, B./Kemmesies, U. (Hg.): Handbuch Extremismusprävention: gesamtgesellschaftlich, phänomenübergreifend. Wiesbaden, S. 269-311 Zick, A./Küpper, B. (Hg.) (2021): Geforderte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in der Mitte 2020/21. Bonn

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Von »Brutstätten« und »Hochburgen« der Radikalisierung im städtischen Raum Eine Betrachtung aus Perspektive der kritischen Raumforschung Britta Hecking

Abstract Der Beitrag untersucht die Beziehungen zwischen Raum und Radikalisierung, ausgehend von einer kritischen Betrachtung der Begriffe »Brutstätte« und »Hochburg«, die in medialen und wissenschaftlichen Diskursen über Radikalisierung verbreitet sind, und mit Blick auf die ihnen zugrundeliegenden theoretischen Annahmen über Kontexteffekte und Desintegration sowie die Kritik daran. Daran anknüpfend werden die Potenziale der raumbezogenen Radikalisierungsforschung erörtert, die sich aus einer Konzeptionalisierung des Raums als sozial produziert und offen sowie der Einbeziehung intersektionaler Perspektiven in die Analyse sozialräumlicher Risikofaktoren ergeben.

Einleitung In medialen, aber auch wissenschaftlichen Diskursen werden bestimmte Orte, meistens Stadtteile, als »Brutstätten« für oder »Hochburgen« von religiös begründeter Radikalisierung genannt, so z.B. die französischen banlieues oder der belgische Stadtteil Molenbeek (kritisch Coolsaet 2017; Rougier 2020). Es bleibt jedoch meistens bei Verweisen auf sozialräumliche Marginalisierung als mögliche Ursache für oder Warnung vor Radikalisierung oder bei der Nennung von Radikalisierungsfällen an diesen Orten. In der Analyse der Mechanismen von Radikalisierung wird der Raum nicht weiter beachtet. Im Fokus der Forschung zum Thema Raum und religiös begründete Radikalisierung stehen in Deutschland und Europa vor allem armutsgeprägte Einwanderungsquartiere. Zum einen ist das Reden über bestimmte »Hochburgen« oder »Brutstätten« der Radikalisierung verbreitet, zum anderen gibt es aber nur wenig stadtsoziologisch oder raumtheoretisch fundierte Forschung, die sich kritisch und differenziert mit

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möglichen Zusammenhängen zwischen bestimmten Räumen und Radikalisierung auseinandersetzt: »At the same time, while the term ›hotbed‹ is increasingly abused by the media, it remains one of the most underexplored phenomena in the context of rising violent extremism.« (Magri 2016, 9) Eine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung mit den Beziehungen zwischen Raum und Radikalisierung kann und soll dazu beitragen, mediale Bilder von »Brutstätten« und »Hochburgen« der Radikalisierung aufzubrechen und stattdessen Erkenntnisse über mögliche Zusammenhänge zwischen Faktoren, die die Anfälligkeit für Radikalisierung beeinflussen, und extremistischen Angeboten in digitalen oder analogen Sozialräumen zu erlangen. Die Verwendung der Begriffe »Brutstätte« und »Hochburg« hat für diese Analyseperspektive jedoch keinen Nutzen und trägt aus machtkritischer Perspektive vor allem zum Othering bestimmter Räume bei, wie im Verlauf des Beitrags aufgezeigt wird. Voraussetzung für eine kritische Analyseperspektive auf die Beziehungen zwischen Raum und Radikalisierung ist eine Überprüfung der Annahmen, die in der Radikalisierungsforschung aus der Schnittstelle der Stadt- und Migrationsforschung übernommen werden, z.B. die Problematisierung von »Segregation«. Dazu gibt der Beitrag zunächst einen Einblick in den Forschungsstand zum Zusammenhang zwischen sozialräumlichen Ungleichheiten und Radikalisierung und wirft einen kritischen Blick auf die Verwendung der Begriffe »Hochburg« und »Brutstätte« in der Radikalisierungsforschung. Daran anschließend werden die den Begriffen zugrundeliegenden theoretischen Annahmen über sogenannte Nachbarschaftseffekte und Desintegration erläutert, die in der Stadtforschung kontrovers diskutiert werden, und durch ihre Verwendung in der Radikalisierungsforschung neue Aufmerksamkeit erfahren. Der Abschnitt zum hegemonialen Blick geht auf die Problematisierung »ethnischer Segregation« aus Perspektive der kritischen Migrations- und Stadtforschung ein. Der letzte Abschnitt plädiert dafür, Ansätze der kritischen Raumtheorie und die intersektionale Perspektive in der raumbezogenen Radikalisierungsforschung zu stärken.

Raum als blinder Fleck und alarmistische Metapher in der Radikalisierungsforschung In der Extremismus- und Radikalisierungsforschung ist zunehmend von sogenannten extremistischen hubs (Heinke 2016; Radicalisation Awareness Network (RAN) 2020; Vidino et al. 2017) oder hotbeds (Hüttermann 2018; Varvelli 2016) die Rede, in der deutschsprachigen Forschung übersetzt sowohl als »Hochburg« als

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auch als »Brutstätte«. Die Verwendung dieser Termini basiert auf der Annahme, dass sich Radikalisierung nicht nur zeitlich in Wellen, sondern auch räumlich an bestimmten Orten konzentriert (Bouhana 2019, 9). Als »Hochburgen« der Radikalisierung bezeichnet Heinke soziale Einrichtungen, Moscheen und Koranschulen, aber auch institutionelle Räume wie Gefängnisse (Heinke 2016, 94). Andere Autor*innen bezeichnen vor allem Stadteile, Städte oder Regionen als »Hochburgen« (RAN 2020), meist in Zusammenhang mit hohen Zahlen ausgereister Auslandskämpfer*innen aus diesen Quartieren oder mit dort verorteten Knotenpunkten islamistischer Netzwerke. Die Begriffe gehen gerade in der deutschen Sprache mit der Assoziation von Raum als »fest« und »unveränderlich« einher. Der Begriff der »Brutstätte« wurde schon in der Hygienebewegung des 19. und 20. Jahrhunderts für städtische Armutsviertel verwendet, als Stadtplanung als Herrschaftsinstrument an Bedeutung gewann (Rabinow 1989). Er wurde unter anderem auch für die indigenen Quartiere in den Kolonien verwendet, die ebenso wie die Armutsquartiere in den Industriestädten des globalen Nordens als Ausgangsorte von Krankheiten, aber auch von politischem Aufruhr bezeichnet wurden (ebd.). Es handelt sich also um Begriffe, die in der Wissensproduktion über städtische Räume tief eingeschrieben sind und aktuell sowohl in Bezug auf die Islamismus-Gefahr als auch in Bezug auf die Covid-19-Pandemie in medialen und wissenschaftlichen Diskursen ein Revival erfahren. Obwohl Raum in vielen Extremismus- und Radikalisierungsstudien metaphorische Verwendung findet, geht die Mehrheit der Erklärungsansätze und Modelle der Radikalisierung nicht weiter auf räumliche Aspekte ein (Kurtenbach 2021). Dieser Umstand ist besonders überraschend im Feld der Radikalisierungsforschung, die sich mit der Bedeutung sozialer Ungleichheit auseinandersetzt, da gesellschaftliche Machtverhältnisse immer auch eine räumliche Dimension haben und sich Raum und Machtverhältnisse gegenseitig konstituieren (Massey 2005). So werden in der soziologischen Radikalisierungsforschung strukturelle Ungleichheit, Armut und Ausgrenzung (Khoshrokhavar 2016) als mögliche Ursachen für islamistische Radikalisierung thematisiert, insbesondere im Zusammenspiel mit Diskriminierungserfahrungen (Nordbruch 2016), Frustration (Neumann 2020) und der sogenannten relativen Deprivation (Kurtenbach 2021). Laut Ilan/Sandberg, die sich mit der Schnittstelle zwischen kriminellen und extremistischen Milieus (dem crimeterror-nexus) befassen, ist gerade in der dritten Welle von Dschihadisten der Anteil marginalisierter Jugendlicher und junger Erwachsener mit krimineller Biografie sehr hoch (Ilan/Sandberg 2019, 3). Die Debatte um marginalisierte Quartiere als »Hochburgen« der Radikalisierung ist auch eng mit der Debatte um die Beziehung von Religion und Radikalisierung verknüpft. Im Gegensatz zur These der Islamisierung der Radikalität (Roy 2017) vertreten Kepel und Rougier die These der Radikalisierung des Islams (Kepel 2009; Rougier 2020). Damit messen sie dem »salafistischen Milieu« in den franzö-

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sischen Vororten eine bedeutende Rolle im Prozess der Radikalisierung zu. In »Les territoires conquis de l’Islamisme« beschreibt Rougier, wie islamistische Akteure aus marginalisierten Quartieren heraus agieren, aus Moscheen und Vereinen (z.B. Sportvereinen), und die Quartiersverwaltung in Frankreich unterwandern (ebd.). Während sich die Beschäftigung mit »rechten Räumen« in Deutschland bereits etabliert hat (Berg/Üblacker 2020), aber auch kritisch diskutiert wird (Bescherer et al. 2018), ist das mediale und wissenschaftliche Interesse an islamistischen »Hochburgen« oder »Brutstätten« im deutschsprachigen Raum noch relativ neu. Hüttermann stellt die Frage, ob bestimmte Stadtviertel in Deutschland ähnlich wie Molenbeek in Brüssel oder die banlieues außerhalb von Paris als sozialräumliche »Brutstätten« für neosalafistische Radikalisierung dienen (Hüttermann 2018, 1). Anhaltspunkte sieht er vor allem in der gegenseitigen Verstärkung von Risikofaktoren in einem lokalen Kontext: »Explaining space-related radicalisation processes means more than adding up spatial factors with multiple causes to identify a fixed effect.« (ebd., 15) Andere Studien befassen sich nicht retrospektiv, sondern vorrausschauend mit »Radikalisierungspotenzialen« (Siegert/Stapf 2019) und sozialräumlichen Risikofaktoren (Schröder et al. 2020). Radikalisierung wird hier als negatives Zukunftsszenario in Betracht gezogen, das es zu verhindern gilt. Das Projekt Radikalisierende Räume untersucht aktuell, ob sogenannte Kontexteffekte in »segregierten« Stadtteilen, in denen neosalafistische Akteure aktiv sind, möglichweise ein Faktor der Radikalisierung sind (dazu Kurtenbach et al. und Weitzel et al. in diesem Band). Die These, dass sozialräumliche Marginalisierung eine Rolle im Prozess der Radikalisierung spielt, wird kontrovers diskutiert und bedarf einer kritischen Reflexion der dahinterliegenden Annahmen. Viele Autor*innen betonen, dass die soziodemografischen Profile radikaler Akteure nicht homogen sind (Neumann 2020; Roy 2017). So schreibt der französische Politikwissenschaftler Olivier Roy, »the map of radicalism does not overlap with that of destitute neighborhoods« (Roy 2017, 34). Auch blendet die Bezeichnung bestimmter Stadtteile in europäischen Städten als »Salafisten-Ghettos« die komplexe Realität und Heterogenität dieser Stadtteile aus und liefert keine Erkenntnisse zu Ursachen und Mechanismen von Radikalisierung (ebd.). Auch Kenney wirft am Beispiel des Viertels Príncipe Alfonso in Ceuta einen kritischen Blick auf dessen mediale und wissenschaftliche Konstruktion als sogenannte extremistische »Hochburg« und verweist dabei auf fehlende qualitative empirische Daten (Kenney 2011, 541). Magri (2016, 10) betont, dass es keinen (mono)kausalen Zusammenhang zwischen bestimmten demografischen Merkmalen eines Raums und Radikalisierung geben kann, weil sich selbst in einer Hochburg die Mehrheit der dort lebenden Menschen nicht radikalisiert. So muss vor allem auch die Gefahrenaussetzung (Bouhana 2019) durch die Präsenz extremistischer Akteure im Raum und zufällige Begegnungen mitgedacht werden, die entscheidend dafür

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sein können, ob sich Orte mit den gleichen sozialen und demografischen Strukturen zu Zentren extremistischer Aktivitäten entwickeln oder nicht (Vidino et al. 2017, 96). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das mediale und wissenschaftliche Interesse an sozialräumlicher Marginalisierung als Risikofaktor zwar sehr ausgeprägt, das Thema aber wenig erforscht ist und kontrovers diskutiert wird. Die Theorie von Stadtteilen als »Brutstätten der Radikalisierung« ist tief in die hegemoniale Sicht auf städtische Armut eingeschrieben und von der Theorie der Nachbarschaftseffekte sowie der sogenannten Desintegrationstheorie beeinflusst, in denen vor allem auch die sogenannte »ethnische Segregation« eine Rolle spielt. Im folgenden Abschnitt werden diese Theorien aus kritischer Perspektive vorgestellt.

Nachbarschaftseffekte und Desintegration als Risikofaktoren für Radikalisierung? Gestützt wird die Idee, dass sich bestimmte marginalisierte Stadtteile oder Orte zu extremistischen »Hochburgen« entwickeln können, von der Stadtsoziologie, die sich mit sogenannten Nachbarschaftseffekten (Sampson 2012) befasst. Als »Nachbarschaftseffekt« wird der Einfluss der sozialräumlichen Umgebung auf Individuen bezeichnet. Die Ausgangsthese der Forschungen impliziert, dass durch soziale Problemlagen im Kontext urbaner Ungleichheit aus benachteiligten Quartieren auch benachteiligende Quartiere werden. Es gibt jedoch keine einheitliche Definition von Nachbarschaftseffekten. Zu häufig genannten Gründen für negative Quartierseffekte zählen unter anderem fehlende Infrastruktur, fehlender Zugang zu sozialen Ressourcen, die z.B. einen Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern, fehlende positive Rollenmodelle oder sozialräumliche Stigmatisierung. Besonders Kinder und Jugendliche sind von negativen Quartierseffekten durch Sozialisationserfahrungen und Bildungsbenachteiligung betroffen: »Für die Kinder der Stadtgesellschaft bedeutet das: Soziale Lage der Eltern, Migrationshintergrund der Eltern und Wohnlage sind wichtige Determinanten ihrer Lebenschancen.« (El-Mafaalani/Strohmeier 2015, 30) Ob und wie Quartierseffekte nachgewiesen werden können, ist jedoch umstritten (Senkel 2012). Kritisiert wird hier die Betrachtung des Raums als geschlossenem Behälter (Werlen 2005), in dem sich soziale Phänomene oder (Sub-)Kulturen entwickeln und gewissermaßen als isoliert und aus hegemonialer Perspektive »desintegriert« betrachtet werden. Diese Perspektive ist beeinflusst von Oscar Lewis »Kultur der Armut« (1959) und der Urban School of Chicago (u.a. Robert Park), die

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den »Mythos der städtischen Marginalität« geprägt haben1 . In den Blick geraten hier vor allem negative Einflüsse des Raums, die zu Passivität, Kriminalität oder eben Radikalisierung führen können. In engem Zusammenhang mit der Vorstellung von Nachbarschafts- oder Kontexteffekten steht auch die sogenannte Desintegrationstheorie, die vor allem in der ethnischen Segregation ein Konfliktpotenzial sieht: »Die sogenannte ethnische Segregation gilt aktuell als emblematisch für die Krise der europäischen Stadt und ihrer städtischen Inklusionspolitiken. Sie gilt als eine der entscheidenden Integrationsfragen.« (Tsianos 2014, 63) Mit dem Begriff der »Segregation« werden unterschiedliche Formen der räumlichen Trennung und Teilung bezeichnet. Der Begriff wird dabei in der Regel mit einer geografisch sichtbaren Trennung assoziiert, wie etwa bei Distanzen zwischen einem städtischen Zentrum und seiner Peripherie oder zweigeteilten Städten. Segregation kann sich aber auch kleinräumig und sozial manifestieren, wenn einzelne Gruppen nur bestimmte Räume nutzen und sich dadurch von anderen Gruppen abgrenzen. Meist wird jedoch der Begriff der »segregierten Quartiere2 « nur für marginalisierte Quartiere verwendet, wodurch die Segregation durch Einhegung in der Dominanzgesellschaft ausgeblendet wird. Eine Studie, die in diesem Zusammenhang häufig genannt wird, ist die von Heitmeyer/Anhut über soziale Desintegrationsprozesse und ethnisch-kulturelle Konfliktkonstellationen, laut derer die erfahrene Ablehnung durch »deutsche« Bewohner*innen in den sozial »belasteten« Quartieren zu deutlich sichtbaren »Rückzügen und Selbstethnisierungen, also der Aufwertung der eigenen Gruppe und der Betonung von kultureller Identitätspolitik« führt (Heitmeyer/Anhut 2000, 563) und somit Fundamentalismus und Radikalisierung begünstigt. Bestimmte Quartiere geraten dadurch in Verdacht, besonders anfällig für Radikalisierungen zu sein: »Auch im Kontext der jüngsten Migrationsbewegung von Menschen aus Kriegsund Krisengebieten gibt es Sorgen um entstehende oder wachsende ›Gettos‹ und

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Kritik äußerte daran mitunter Janice Perlman in »Mythos Marginalität«, worin sie die Prozesse der Marginalisierung als Produkt der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur in den Vordergrund rückt (Perlman 1976); zusammenfassend: (Bayat 2012, 52-56). Aus Perspektive der kritischen Raumtheorie folgt daraus, dass marginalisierte Räume (Peripherien) immer in ihrer wechselseitigen Konstitution mit den »normalisierten« Räumen (Zentren) der Mehrheitsgesellschaft gesehen und untersucht werden müssen und nicht als in sich geschlossene Behälter-Räume (Yildiz 2015, 296; Ha 2014). Die deutsche Segregationsforschung unterscheidet dabei vor allem in soziale und ethnische Segregation sowie altersspezifische Segregation (El-Mafaalani/Strohmeier 2015, 18).

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›Parallelgesellschaften‹, was sich bis zu Debatten um die sogenannte Islamisierung Deutschlands auswachsen kann.« (Bescherer et al. 2018, 18) Die Warnung vor Radikalisierung ist in diesem Zusammenhang geprägt von einem den Islam problematisierenden und mitunter auch rassistischen Blick auf Muslime und muslimisch gelesene Menschen: »Das Bedrohungsszenario mündet in Politiken der Kriminalisierung, Verdächtigung und Überwachung von [als] Muslim:innen [Markierten] als potentielle ›Gefährder‹.« (Attia et al. 2021, 18)

Der hegemoniale Blick: wirkmächtige Diskurse Im Fokus der negativen Zukunftsszenarien stehen meist die jugendlichen männlichen Bewohner bestimmter Quartiere. Sie und ihre Stadtteile werden so zur Projektionsfläche gesellschaftlicher Debatten über Normen, Normabweichungen, Radikalität und Unsicherheit. Schon im 19. Jahrhundert wurde besonders die Jugend der Arbeiterklasse als Bedrohung für Ordnung und Disziplin wahrgenommen – eine Darstellung, die bis heute das Bild der »störenden Jugend« (Skelton/Valentine 1998, 4) und des »Problems der Jugend« (Cooper 2009) geprägt hat. Heute sind es in den europäischen Städten vor allem als migrantisch gelesene Jugendliche, die als vermeintlich gefährlich wahrgenommen werden. Eine derart problemfokussierte Sichtweise prägt bis heute stark das Sprechen und Handeln bezüglich marginalisierter Quartiere und Einwanderungsquartiere. Bukow kritisiert, dass sich viele Autor*innen noch immer einer Sprache bedienen, die »den Spielregeln eines hegemonial ausgerichteten kultur-rassistisch deutenden Nationalstaates folgt« (Bukow 2015, 284) und der Diversität städtischer Räume im 21. Jahrhundert nicht gerecht werde. Besonders deutlich wird dies in Debatten über Segregation und das Ideal der europäischen Stadt als »durchmischt« (Lanz 2015). Hier werden essentialistische und dualistische Differenzen zwischen weißen »Deutschen« einerseits und rassifizierten und ethnisierten Menschen andererseits erstellt (Ha 2015), indem z.B. der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund zu einem »Problem-Indikator« gemacht wird. »Es sind hegemoniale Sichtweisen, durch die ›Normalität‹ definiert, soziale Phantasien über ›Wir‹ und ›ethnisch‹ andere produziert und so gesellschaftliche Machtverhältnisse organisiert und verfestigt werden.« (Yildiz 2015, 296) Diese Produktion von »anderen« hat auch eine räumliche Dimension. Aus rassismus- und klassismuskritischer Perspektive erfüllen diese Diskurse vor allem die Funktion des Otherings bestimmter Räume und somit der Reproduk-

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tion gesellschaftlicher Machtverhältnisse, da sich Raum und gesellschaftliche Machtverhältnisse gegenseitig konstituieren. Für den französischen Kontext bezeichnen Germes/Glasze diesen Prozess als Konstruktion von »Gegenorten«: Diese trägt dazu bei, Hegemonien zu sichern, indem über Gewalterzählungen und die »Fremdmachung« dieser Gewalt eine Differenz zwischen dem republikanischen »Wir« und den »anderen« geschaffen wird (Germes/Glasze 2010, 225). Während die banlieues in den 1990er Jahren vor allem noch mit »Jugendgewalt« assoziiert wurden, wurde diese Gewalt in den letzten Jahren zunehmend fremd gemacht: So wandelte sich der Diskurs über die Jugendgewalt der banlieues hin zu Konflikten mit Jugendlichen aus den ehemaligen Kolonien und schließlich hin zum Diskurs über sogenannte von den Islamisten besetzten Territorien. Der französische Kontext unterscheidet sich zwar vom deutschen im Hinblick auf städtebauliche Strukturen, das Ausmaß an Segregation sowie die (post-)koloniale Geschichte der beiden Länder, doch die Funktionen des Sprechens über »gefährliche Orte« ähneln sich: Sie tragen dazu bei, bestimmte Orte und ihre Bewohner*innen als »anders« zu markieren (Tsianos 2014). Wie wirkmächtig Diskurse sind, die Migration problematisieren und mit dem Sicherheitsdiskurs verknüpft sind (Attia et al. 2021), zeigt sich unter anderem in Durchmischungspolitiken und der Warnung vor »Toleranzgrenzen« und »Belastungsgrenzen« (Tsianos/Ronneberger 2009, 10). Die Vielfalt innerhalb eines marginalisierten Quartiers wird dabei ausgeblendet und auch die Ausgrenzungsprozesse dahinter, die zum Entstehen segregierter Stadträume führen, geraten in den Hintergrund: steigende Mietpreise, Rassismus auf dem Wohnungsmarkt, verweigerte Zugehörigkeiten, unsichere Aufenthaltstitel, Ausgrenzung auf dem Arbeitsmarkt und Ressourcenmangel im sozialen Bereich. So distanziert sich z.B. auch die »Fachkommission der Bundesregierung zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit«: »Die Fachkommission sieht das Leitbild der ›gesunden‹ oder ›sozialen‹ Mischung in diesem Zusammenhang kritisch, da es meist negativ zulasten der Eingewanderten interpretiert wird und ihnen in der konkreten Anwendung den Zugang zum Wohnungsmarkt erschwert.« (ebd. 2020, 188) Eine weitere Auswirkung der Diskurse über angebliche »Brutstätten« für Gewalt und Radikalisierung ist die zunehmende »Versicherheitlichung« sozialer Stadtentwicklungspolitiken. Damit werden Prozesse bezeichnet, die das Vordringen des Sicherheitsdenkens in städtische Politiken beschreiben (Lippert/Walby 2015). Hier besteht die Gefahr, dass mitunter soziale Maßnahmen durch sicherheitspolitische verdrängt werden, wenn Integration als »gescheitert« gilt und Forderungen nach einem autoritären Durchgreifen laut werden und daraufhin etwa Ausnahmezustände erlassen oder demokratische Regeln und Verfahren umgangen werden.

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Forschung, die sich mit den Beziehungen zwischen Raum und Radikalisierung befasst, sollte die Bedeutung und Funktion solcher Othering-Prozesse kritisch reflektieren und vorschnelle verallgemeinernde Zuschreibungen, die Stadtteile als »Hochburgen« oder »Nährböden« beschreiben, vermeiden, da Diskurse wirkmächtig und somit auch an der Produktion dieser Räume beteiligt sind. Hierzu gibt es auch Erkenntnisse aus der raumbezogenen Rechtsextremismusforschung: Rolfes kritisiert in diesem Zusammenhang die Pauschalisierung von Räumen als Verursachern von Extremismus, die Verstärkung negativer Stigmatisierungen und somit auch von Segregations- und Polarisierungstendenzen (Rolfes 2011). Die Perspektiven von rechter Gewalt Betroffener und Widerstände gegen rechte Raumbesetzungen werden laut Bürk in Studien über »rechte Räume« zu wenig berücksichtigt bzw. durch solche Zu- und Festschreibungen auch unsichtbar gemacht (Bürk 2020, 364). Außerdem könne der räumliche Blick dazu neigen, den entterritorialisierten Netzwerk-Charakter rechtsextremer Akteure zu verdecken und durch räumliche Begrenzungen Rechtsextremismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen zu verkennen (Decker/Brähler 2018; Zick et al. 2019).

Potenziale des räumlichen Blicks auf Radikalisierung Die vorherigen Kapitel haben gezeigt, dass die Beachtung der räumlichen Perspektive auf Radikalisierung viele Fallstricke birgt, die mit der Übernahme von tief in der Stadtsoziologie verankerten Konzepten verbunden sind. Bestimmte Räume werden zwar häufig genannt, Raum wird aber nicht konzeptionell oder analytisch aufgegriffen bzw. auf seine Bedeutung für Nachbarschaftseffekte und Desintegration reduziert. Diese Konzepte sind jeweils in sehr breite Forschungsfelder eingebettet, in denen sie auch zunehmend herausgefordert und kritisiert werden, insbesondere im Zug einer macht- und rassismuskritischen Auseinandersetzung mit der Wissensproduktion in sich verändernden globalisierten urbanen Räumen. Vor allem fehlen auch in der Radikalisierungsforschung gendersensible, klassismus- und rassismuskritische Perspektiven: »Wie kann (physische, politische, soziale) Gewalt, die sich auf den Islam beruft, in den Blick genommen werden, ohne sich gleichzeitig in rassistische Diskurse zu verstricken?« (Attia 2019, 8) Wird Raum jedoch als sozial produziert gedacht, bietet der räumliche Blick auf Radikalisierung auch Potenziale, z.B. in Bezug auf die Analyse der Bedeutung von

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Ungleichheiten in der Radikalisierung aus intersektionaler Perspektive3 und für eine kritische Auseinandersetzung mit der Wissensproduktion: »Raumtheorie bietet die Chance, erstens die Konstitution des Sozialen in seiner räumlichen Dimension zu verstehen, zweitens die gegenwärtigen Raumanordnungen mit all den damit einhergehenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen in und an Städten zu untersuchen, um Gesellschaft zu verstehen.« (Löw 2018, 162) Grundlegend ist hierfür ein Verständnis von Raum als sozial produziert und als mehrdimensional: als gedachter und diskursiver Raum, als eine Struktur, durch die soziale Beziehungen und Verhältnisse verfestigt werden, und als offener Prozess, durch den Räume immer wieder über Praktiken und Verbindungen neu hergestellt und verändert werden. Durch eine differenzierte und kritische Analyse räumlicher Kontexte kann z.B. der Konstruktion von »Hochburgen« auch entgegengewirkt werden. Aus Coolsaets Forschungsergebnissen über den Stadtteil Moolenbek ergibt sich ein Bild, das der Außendarstellung durch die Medien stark widerspricht: Die überwältigende Mehrheit der Bewohner*innen Molenbeeks lehnt Extremismus ab, es gibt keine »No-go-Areas« und die Bewohner*innen wollen ihre Kinder vor Radikalisierung schützen. Entgegen medialer Darstellungen liefert seine Studie keine Anzeichen für das Vorhandensein einer den Extremismus unterstützenden Community oder Bewohnerschaft (Coolsaet 2017, 42). Auch Kenney kann mit Methoden der ethnografischen Stadtforschung das Bild des Stadtteils Príncipe Alfonso als extremistische »Hochburg« dekonstruieren (Kenney 2011, 554). Um stigmatisierende Diskurse über »Brutstätten« oder »Hochburgen« der Radikalisierung zu vermeiden, kann beispielsweise der Begriff der »Raumbesetzung« genutzt werden, um die diskursiven, performativen oder materialisierten Besetzungen4 von Räumen durch extremistische Akteure oder bezüglich der Bedeutung territorialer Dominanzen im Radikalisierungsprozess zu analysieren. Die Analyse von Raumbesetzungen ermöglicht es auch, diskursive und performative Raumbesetzungen durch Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und Akteur*innen der Präventionsarbeit zu berücksichtigen, die an der Produktion von Räumen beteiligt sind, und somit eine Reflexion über kritisch verantwortungsvolle Wissenschaft in der Radikalisierungsforschung anzuregen. Dabei kann neben der

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Der Begriff der »Intersektionalität« wird auf Kimberlé Crenshaw zurückgeführt und zur Analyse der Verschränkung verschiedener Kategorien sozialer Ungleichheit sowie deren Bezugs zu Macht- und Herrschaftsverhältnissen genutzt (Walgenbach 2017). »Besetzungen beinhalten stets eine territoriale Beanspruchung und Aneignung des Raums und die potenziell gewaltvolle Exklusion anderer« (Ganseforth 2016, 45).

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kritischen Selbstreflexion und der Bereitschaft, hegemoniale und tief in die Wissensproduktion eingeschriebene Annahmen über Marginalität zu verlernen, auch das Aufzeigen möglicher Handlungsoptionen und politischer Strategien bedeutsam sein, z.B. indem Resilienzen und Widerstände gegenüber Raumbesetzungen durch extremistische Akteure und gegenüber Ausgrenzungsprozessen, die mit Radikalisierung im Zusammenhang stehen können, fokussiert werden. In Bezug auf die Frage, ob und wie sozialräumliche Ungleichheit eine Rolle im Prozess der Radikalisierung spielt, scheint die Einbeziehung der intersektionalen Analyse in die Radikalisierungsforschung vielversprechend. Diese beinhaltet eine kritische Auseinandersetzung mit Ohnmachts- und Ermächtigungserfahrungen im Radikalisierungsprozess sowie mit den Zusammenhängen zwischen Risikofaktoren für Radikalisierung und gesellschaftlichen Differenzkategorien. So bleibt bei der Nennung von Risikofaktoren oft unklar, welche Faktoren als kausal und welche eher als korrelational eingestuft werden und wie diese in gesellschaftliche Machtund Herrschaftsverhältnisse eingebettet sind. Ausgehend von der Annahme, dass Wissenschaft niemals neutral ist, erfordert dies eine Reflexion darüber, wer aus welcher Perspektive welche Risikofaktoren identifiziert. Ein Beispiel hierfür ist die häufige Nennung einer fehlenden Vaterfigur im Prozess der Radikalisierung: Inwieweit spielen hegemoniale Vorstellungen einer funktionalen Familie eine Rolle dabei, dass eine fehlende Vaterfigur als kausaler Risikofaktor für Radikalisierung oder die Anzahl alleinerziehender Haushalte als Indikator für benachteiligte Stadtteile eingestuft wird? Aus intersektionaler Perspektive sollten stattdessen gesellschaftliche Verhältnisse sichtbar gemacht werden und die Prozesse und Faktoren in den Vordergrund gestellt werden, die es alleinerziehenden Elternteilen erschweren, ihre Kinder in ihrer Entwicklung zu unterstützen, z.B. auch im Zusammenspiel mit weiteren Differenzkategorien wie Klasse, Sexualität oder Herkunft. Auch für die Analyse der Verschränkung von Rassismus und Sexismus, die in Radikalisierungsverläufen junger Frauen, aber auch bei Männern eine Rolle spielen kann, bietet die intersektionale Perspektive Potenziale, um kulturalisierende Erklärungen für Gewalt- und Radikalisierungsphänomene zu erkennen und zu vermeiden und trotzdem komplexe Machtverflechtungen, z.B. in Bezug auf die Bedeutung von Diskriminierungserfahrungen muslimisch gelesener Frauen, in den Blick zu nehmen: »Eine intersektionale Perspektive ist in der Lage, die kritischen Diskussionen über Prozesse der Vergeschlechtlichung mit denen über Kulturalisierung und Ethnisierung in ihren Überlappungen zu analysieren und zu bearbeiten.« (Stuve/Busche 2007, 22) Werden also Risikofaktoren für Radikalisierung aus einer intersektionalen Perspektive in ihrer Einbettung in macht- und Herrschaftsverhältnisse analysiert, kann die raumbezogene Forschung dazu genutzt werden, Risikofaktoren und

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ihre gegenseitige Verschränkung und Verstärkung im Kontext sozialräumlicher Marginalisierung zu untersuchen. Dazu sollten lokale Kontexte oder Stadtteile jedoch nicht als geschlossene Container-Räume gedacht werden, sondern als offene und mit anderen Orten sowie digitalen Räumen verbundene. So zeigt McDonald die Bedeutung des »distant sufferings« im Prozess der Radikalisierung auf und schildert, wie extremistische Akteure in ihrer Ansprache unter anderem über das Internet imaginäre translokale Verbindungen zwischen Orten erfahrener Unterdrückung und Ausgrenzung herstellen (McDonald 2018, 52ff.).

Fazit Die Frage eines Zusammenhangs zwischen religiös begründeter Radikalisierung und sozialräumlicher Marginalisierung ist wissenschaftlich umstritten und birgt aus rassismuskritischer Perspektive Fallstricke. Denn auch wenn die Studien, die einen solchen Zusammenhang thematisieren, oftmals mit einer Kritik an sozialer Ungleichheit und asymmetrischen Machtbeziehungen einhergehen, tragen sie dennoch dazu bei, sprachlich bestimmte Räume als »gefährlich« oder »anders« zu (re-)produzieren und somit bestehende Machtverhältnisse zu stabilisieren. Insbesondere die Verwendung der Begriffe »Hochburg« und »Brutstätte« wird hier als kontraproduktiv betrachtet, da sie ein unveränderliches Container-Raumbild implizieren und Quartiere somit als problematisch festschreiben. Für die Analyse von Konflikt- und Radikalisierungspotenzialen im Stadtteil ebenso wie für die sozialraumorientierte Präventionsarbeit ist eine radikal kritische Reflexion eigener Sichtweisen und Praktiken notwendig. Eine fundierte kritische Auseinandersetzung mit dem Thema Raum und Radikalisierung aus intersektionaler Perspektive kann dazu beitragen, das Zusammenspiel und die Verschränkung verschiedener Risikofaktoren in den Blick zu nehmen, die Beziehung zwischen individueller Anfälligkeit und extremistischen Angeboten in einem bestimmten Raum besser zu verstehen und somit wissenschaftliche Grundlagen für die Konzeption sozialraumorientierter Resilienzstrategien zu schaffen. Es gilt, darauf zu achten, dass über die Thematisierung von Risikofaktoren, die auf sozialräumliche Marginalisierung zurückgeführt werden, gesellschaftliche Machtverhältnisse und daraus resultierende Ausschlüsse nicht reproduziert werden. Zu berücksichtigen ist auch, dass die an Einfluss gewinnenden sicherheitspolitischen Perspektiven auf diese Stadtteile nicht zu einer Vernachlässigung sozialer Politiken führen sollten und beispielsweise bereits erreichte progressive machtkritische Diversity-Ansätze nicht von Unsicherheitsdiskursen überschattet und zurückgedrängt werden sollten. Dies bedeutet auch, Räume für Differenzen, Radikalität und Rebellion im Sinn einer inklusiven pluralistischen Demokratie und eines

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progressiven Verständnisses von Jugendlichkeit zuzulassen, sofern diese nicht mit menschenverachtenden Ideologien und Gewalt einhergehen.

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Raumbezogene Radikalisierungsprävention Skizzierung einer Strategie zur Implementierung fallunspezifischer und -spezifischer Handlungsansätze Sebastian Kurtenbach, Linda Schumilas, Andreas Zick

Abstract Es wird ein Ansatz raumbezogener Radikalisierungsprävention eingeführt. Zentral ist dabei die Annahme, dass der Raum, in dem sich Menschen verorten, einen eigenständigen Effekt auf die Anfälligkeit für Radikalisierung hat. Diese Annahme begründet sich aus Befunden der Konfliktsowie der Kontexteffektforschung. Zugleich bietet dieser Ansatz eine Grundlage für eine raumbezogene Radikalisierungsprävention, die sich wiederum an bestehende Konzepte aus den Gesundheitswissenschaften anlehnt. Anstelle einer dreigeteilten Logik primärer, sekundärer und tertiärer Prävention, wie sie auf der Individualebene vorzufinden ist, wird auf der Raumebene eine zweigeteilte Logik vorgeschlagen. Dazu gehört die fallunspezifische raumbezogene Prävention, die schon dann greift, wenn es noch keine extremistischen Vorfälle und keine Etablierung einer solchen Gruppierung in einem Raum, wie einem Stadtteil oder einer Kommune, gegeben hat. Weiterhin gehört dazu die fallspezifische raumbezogene Prävention. Sie greift, wenn es zu extremistischen Taten oder der Etablierung extremistischer Gruppierungen gekommen ist. Die beiden Handlungsansätze unterscheiden sich in Steuerung, Themensetzung und Koordination der lokalen Angebotslandschaft.

Einleitung Sowohl die wissenschaftliche als auch die praxisbezogene und öffentliche Diskussion zum Thema Radikalisierung ist weit gefächert und durchaus widersprüchlich.1 Zunächst ist sie geprägt von unterschiedlichen Ansichten zu Terrorphänomen, die an bestimmten Orten auftreten. Bei Anschlägen, wie in Paris im Jahr 2015, werden die Täter schnell einem Ort, in diesem Fall Molenbeek bei Brüssel, zugeordnet und der Stadtteil als Brutstätte für Radikalisierung etikettiert. Dass der Raum eine besondere Bedeutung hat, wird an vielen Stellen betont, aber nicht näher ausgeführt. 1

www.deutschlandfunk.de/molenbeek-hochburg-der-belgischenislamisten.724.de.html?dram:article_id=336953, 31.8.2021.

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Auch in der Extremismus-, Terrorismus- und Radikalisierungsforschung wird immer wieder der Ort genannt, aber kaum in die Analyse einbezogen. Gleiches gilt für Präventionsansätze, die meist nicht mit einem expliziten Raumkonzept operieren. Darüber hinaus finden sich selbst bei Fallanalysen, die Orte der Biografien herausarbeiten, kaum raumbezogene Erklärungsansätze für Radikalisierungskarrieren. Vielmehr wird auf individuelle oder gruppenbezogene Dispositionen verwiesen (Emmelkamp et al. 2020; Pisoiu et al. 2020; Wolfowicz et al. 2019) und diese mit immer weiter ausgearbeiteten Datenerhebungen erschlossen,2 ohne genau die Wechselwirkung zwischen Dispositionen und Raummerkmalen zu erläutern. Wir gehen davon aus, dass der Raum, in dem sich Menschen und Gruppen radikalisieren, nicht nur in seinen strukturellen, geografischen und sozialen Merkmalen relevant ist, sondern Radikalisierungsprozesse signifikant beeinflussen kann. Vorsichtiger formuliert mit Blick auf die lückenhafte Forschungslage, kann gesagt werden: Es bedarf einer Überprüfung, um zu klären, ob der Raum einen Effekt auf die Anfälligkeit für Radikalisierung hat. Dabei wäre es zu einfach, nur darauf zu verweisen, dass Räume grundsätzlich einen Effekt auf menschliche Wahrnehmungen und Verhaltensweisen haben und dass Räume konstruiert sind. Zentral ist die Frage, ob durch Räume Devianz, Abweichung von herkömmlichen Normen und Annäherungen an Gewalt, also Radikalisierung, beeinflusst werden kann (zum Radikalisierungsverständnis vgl. Kurtenbach 2021). Dass Devianz durch Räume, die als Kontexte von Kriminalität verstanden werden können, verstärkt werden kann, ist seit längerem bekannt, wobei es bei den dahinterstehenden Mechanismen durchaus Unterschiede gibt (Goffman 2009; Kling et al. 2005; Zimmerman/ Messner 2011). Dabei zeigt sich, dass nicht der Raum per se Kriminalität erzeugt, dass er aber einen Kontexteffekt hat, der in Wechselwirkung mit anderen Faktoren wie Armut steht (Dubet/Lapeyronnie 1994; Oberwittler 2013). Auch in der Terrorismusforschung liegen – wenn auch viel zu wenige – Befunde zu Raumfaktoren mit Blick auf die Bildung und Handlungen von Terrorgruppen vor (Medina/ Hepner 2013). Beispielsweise weist van Vlierden (2016) auf die Bedeutung lokaler Konstellationen bei der Erklärung von Radikalisierung am Beispiel Belgiens, hier vor allem Molenbeeks, hin. Die Frage, wie Räume einen Teil des Radikalisierungsprozesses erklären, wurde jedoch bislang selten in der Forschung direkt adressiert (Ilan/Sandberg 2019; Rottweiler et al. 2021), auch wenn eben die Kriminalitätsforschung dies nahelegt. Jenseits der Forschung zur Erklärung, wie Radikalisierungen in den Extremismus geschehen, also einer eher grundlagenwissenschaftlichen Frage, findet die Frage nach Raumeinflüssen bei Fragen der Prävention und insbesondere in der praxisbezogenen Deradikalisierungsarbeit eher Beachtung (Bothe 2

Beispiele sind die PIRUS-Datenbank (www.start.umd.edu/profiles-individual-radical ization-united-states-pirus-keshif, 14.9.2021) oder die Global Terrorism Database (www.start.umd.edu/gtd/, 14.9.2021).

Raumbezogene Radikalisierungsprävention

2020). Dies mag daran liegen, dass Praktiker*innen der raumbezogenen Radikalisierungsprävention versuchen müssen, Menschen in Räumen anzusprechen und zu reintegrieren, und dabei lokal-räumliche Gegebenheiten einbeziehen. Aber auch in den Präventionsprojekten wird selten ein dezidiertes Konzept von Raumeinflüssen zugrunde gelegt, sondern es werden, dem Paradigma der Sozialraumorientierung (Böhnisch/Münchmeier 1990) folgend, eher die nahräumlichen Opportunitäten, wie Sportvereine im Stadtteil, als Ressourcen in der Hilfeplanung für Indexklient*innen genutzt. Dieser Beitrag legt daher einen besonderen Fokus auf die Frage, wie ein raumbezogener Ansatz der Radikalisierungsprävention genutzt werden kann. Ziel ist die Entwicklung eines solchen Ansatzes. Dabei beziehen wir uns vor allem auf islamistische Radikalisierung. Dies bedeutet aber nicht, dass eine Generalisierung auf andere Phänomenbereiche ausgeschlossen ist, nur können wir diese noch nicht leisten, auch wenn wir selbst z.B. bei Sozialraumanalysen zum Rechtsextremismus wichtige Kenntnisse gewinnen konnten (Kurtenbach 2018; Zick/Hövermann 2012). Zur Ausarbeitung eines raumbezogenen Ansatzes der Prävention orientieren wir uns an einem Paradigma der Präventionsforschung, die ihre grundsätzlichen Annahmen vor allem an Erkenntnissen der Gesundheitswissenschaften orientiert (Caplan 1964; Gordon 1983) und mit Konzepten der Belastungs-, Stress- und Krankheitsvermeidung und -bewältigung wichtige Forschungen und Ansätze bereitstellt, die auch auf Phänomenbereiche wie die Radikalisierung in ideologisch motivierte Aggression und Gewalt übertragen werden können. Um dem Anspruch des Beitrags gerecht zu werden, tragen wir im folgenden Abschnitt den Forschungsstand und die Praxisansätze zur Radikalisierungsprävention zusammen und reflektieren, inwiefern die bisherigen Ergebnisse zur Ausarbeitung einer raumbezogenen Präventionsstrategie in Bezug auf Radikalisierung tragfähig sind. Im dritten Abschnitt gehen wir der Frage nach, welche Rolle der Raum bei der Erklärung von Radikalisierungsanfälligkeit spielt. Wir wollen damit herausarbeiten, wie eine raumbezogene Präventionsstrategie anzusetzen ist, um nachweislich wirksam zu sein. Im vierten Abschnitt skizzieren wir dann eine raumbezogene Strategie zur Radikalisierungsprävention, die sich der üblichen Klassifikation nach primärer, sekundärer und tertiärer Prävention entzieht (vgl. MAPEX 2020). Zum Abschluss diskutieren wir die Implementierung einer raumbezogenen Radikalisierungsprävention und geben einen Ausblick auf die Weiterentwicklung der Praxisstrategie.

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Forschungsstand und Praxisansätze zur Prävention im Bereich der (neo-)salafistischen Radikalisierung In den letzten Jahren hat das salafistische Personenpotenzial in Deutschland stetig an Zuwachs gewonnen. Lag die Zahl derer, die dem Neo-Salafismus zugeordnet werden, im Jahr 2011 noch bei 3.800, so hat sich diese Zahl fast zehn Jahre später mehr als verdreifacht (Hildmann/Schmid 2021). Zwar gab es in den vergangenen Jahren kaum noch Ausreisen zu Terrororganisationen wie dem sogenannten Islamischen Staat (IS) nach Syrien oder in den Irak, allerdings zeichnet sich damit auch eine neue Herausforderung ab: So kommen seit 2015/2016 zunehmend zum IS Ausgereiste wieder nach Deutschland zurück (BMI 2019). Rückkehrer*innen können an der Waffe ausgebildet worden sein und sie sind höchstwahrscheinlich durch Gewalterfahrungen auch im Zuge ihrer Inhaftierung traumatisiert (Abou-Taam 2015). Sie haben zudem häufig Kinder, die in Krisengebieten aufgewachsen sind und dort sozialisiert wurden und ebenso starke Gewalterfahrungen aufweisen (BMI 2019). Parallel zur Entwicklung der vergangenen Jahre wurde die Radikalisierungsprävention vor allem im Bereich des religiös begründeten Extremismus immer weiter ausgebaut und sie hat sich hinsichtlich ihrer Methoden zunehmend spezialisiert (Kurtenbach/Schumilas 2021), auch oder sogar obwohl der Erfolg von Präventions- und Distanzierungsprogrammen wissenschaftlich schwer nachzuvollziehen ist (Zick et al. 2021). Dies mag auch daran liegen, dass die Präventionsarbeit in Deutschland durch sich verändernde Radikalisierungsphänomene stets mit neuen Anforderungen umgehen muss, nationale wie internationale Ereignisse zu bedenken hat und sich flexibel an das aktuelle Zeitgeschehen anpassen muss. Durch Propagandadelikte, Rekrutierungsversuche, Mobilisierungen und v.a. Anschlagsplanungen oder -ausführungen stehen Praktiker*innen der Präventions- und Deradikalisierungsarbeit unter einem hohen politischen wie gesellschaftlichen Druck. Die Radikalisierungsprävention ist damit ein anspruchsvolles wie auch sich veränderndes Praxisfeld, das zudem im Grenzbereich zwischen gesellschaftlichen, politischen, forschungsorientierten und professionsbezogenen Ansprüchen operieren muss und dies so, dass sie das Phänomen der Radikalisierung treffsicher präventiv oder interventionsbezogen verändern kann. Um das Ziel der Radikalisierungsprävention besser zu greifen, ist eine Gegenstandsbestimmung notwendig. Der Begriff »Radikalisierung« geht auf das lateinische Wort »radix« (Wurzel) zurück. Auf diesem Begriff aufbauend, folgten zahlreiche Definitionen, wonach häufig die Rückbesinnung auf die Wurzeln, z.B. des Islams, im Mittelpunkt der Ideologie steht (Ceylan/Kiefer 2018). Grundsätzlich ist Radikalisierung ein uneinheitlich verwendeter Begriff. Verschiedene Definitionen versuchen ihn zu fassen, wobei es immer wieder zu Vermischungen mit Begriffen des Extremismus oder Terrorismus kommt (Ceylan/Kiefer 2018, 31). Das Bundeskriminalamt (o.J.) beschreibt »Radikalisierung« als eine Hinwendung »zu einer

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extremistischen Denk- und Handlungsweise und die wachsende Bereitschaft, zur Durchsetzung ihrer Ziele illegitime Mittel, bis hin zur Anwendung von Gewalt, zu befürworten, zu unterstützen und/oder einzusetzen« (Bundeskriminalamt, o.J.). In den meisten Definitionen wird der Radikalisierung eine Prozesshaftigkeit zugeschrieben und der Prozess, während dessen das Individuum oder eine Gruppe radikaler wird, in Phasen (Horgan 2008; Kruglanski et al. 2014; Silber/Bhatt 2007; Wiktorowicz 2005), Stufen (Moghaddam 2005) oder Schritten (Sageman 2008) beschrieben. Zudem ist eine Radikalisierung ein dynamischer Prozess, der keinem immer gleichen Ablauf folgt, sondern als Prozess des »Radikaler-Werdens« bei Individuen und/oder Gruppen unterschiedlich verläuft (Ceylan/Kiefer 2018). Konsens scheint darüber zu bestehen, dass am Ende dieses Prozesses der Extremismus steht, wobei zwischen radikalem Denken sowie radikalem Handeln unterschieden wird (McCauley/Moskalenko 2017, 205). Allen definitorischen Begriffsbestimmungen gemeinsam ist, dass der Fokus auf dem Individuum (z.B. Wolfowicz et al. 2019) oder auf Gruppenprozessen (z.B. Smith et al. 2020; Zick 2020) liegt, während die Rolle des Raums bei der Erklärung von Radikalisierung zumeist nicht systematisch berücksichtigt wird bzw. die Frage, wo Radikalisierung stattfindet, kaum eine Rolle spielt. Die Frage nach der Prävention von Radikalisierung stellt sich anders als die Fragen nach dem »Warum« und »Wie«. Prävention richtet sich auf die Verhinderung eines negativen, potenziell schädlichen Ereignisses oder Prozesses durch den Einsatz unterschiedlicher Maßnahmen vor Eintreten dieses Ereignisses. Viel zitiert wird hier der Ausspruch »Vorbeugen ist besser als Heilen« (Ceylan/Kiefer 2018, 18). Für eine Spezifizierung ihrer Ausrichtung begründet die Prävention im Allgemeinen ihre Grundsätze aus der Forschung wie auch der Praxis der Gesundheitswissenschaften. Dies wird evident am Beispiel der Unterteilung in eine primäre, sekundäre und tertiäre sowie universelle, selektive und indizierte Radikalisierungsprävention. Sowohl Caplan (1964) als auch Gordon (1983) führten diese Systematiken für die Gesundheitsprävention ein. Die primäre und universelle Prävention richtet sich bei beiden an die Gesamtbevölkerung ohne bisheriges Eintreten einer Erkrankung. Sekundäre und selektive Prävention wird angewandt bei Personen(-gruppen), die ein erhöhtes Risiko für eine Erkrankung aufweisen, noch bevor eine solche ausgebrochen ist. Während die dritte Stufe in Caplans Modell auch Interventionen nach einer bereits eingetretenen Erkrankung, wie die Verhinderung oder Reduzierung einer Verschlimmerung des Krankheitsverlaufs (Gordon 1983, 107), einschließt und in der Radikalisierungsprävention vergleichbar mit der Deradikalisierungs- und Distanzierungsarbeit ist, bezieht sich Gordon ausschließlich auf Ereignisse, die noch nicht eingetreten sind: »Die von uns vorgeschlagene Klassifizierung würde die Verwendung des Begriffs ›präventiv‹ auf Maßnahmen, Handlungen oder Eingriffe beschränken, die

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von oder an Personen durchgeführt werden, die zu diesem Zeitpunkt nicht an Beschwerden oder Behinderungen aufgrund der Krankheit oder des Zustands leiden, die verhindert werden sollen.« (Gordon 1983, 108, übersetzt aus dem Englischen) Für die Radikalisierungsprävention bietet sich deshalb vorrangig die Einteilung in primäre, sekundäre und tertiäre Prävention an oder es bedarf bei der Gliederung nach Gordon einer zusätzlichen Ebene der Intervention bzw. Deradikalisierung. Diese Orientierung an Systematiken und Paradigmen der Gesundheitsprävention hat Konsequenzen. Sie richten sich nämlich v.a. auf Individuen und daher dominiert auch in der Radikalisierungsprävention der Blick auf das sich radikalisierende Individuum bzw. die Individualebene, weniger der Blick auf gruppenbezogene Faktoren und noch viel weniger der auf die Frage nach einer strukturellen Ebene, wie sie eben durch Räume gegeben ist. Eine Besonderheit in der Radikalisierungsprävention ist das, was Rose (1992) als »Präventionsparadox« beschrieben hat: Das Dilemma besteht darin, dass der Nutzen präventiver Angebote, die sich an die gesamte Bevölkerung richten, für das einzelne Individuum häufig nicht erkennbar ist, ebenso wenig wie Angebote für einzelne gefährdete Personen einen erkennbaren Vorteil für die Gesamtbevölkerung bieten (Rose 1992). Auch das Konzept des Präventionsparadoxons der Gesundheitswissenschaften lässt sich auf die Radikalisierungsprävention übertragen. So ist bei primärpräventiven Maßnahmen zur Demokratieförderung, die gesamtgesellschaftlich angewendet werden, keine direkte Wirkung auf den Einzelnen erkennbar und ihr Nutzen für das Individuum spiegelt sich nicht direkt im Alltag wider. Auch der Erfolg beispielsweise von Deradikalisierungsmaßnahmen bei bereits radikalisierten Personen ist für die breite Bevölkerung nicht sichtbar, da ein entgegenwirkendes Ereignis, wie ein potenzieller Anschlag, ausbleibt. Ein Unterschied zur Prävention gegen Gesundheitsbeeinträchtigungen besteht darin, dass im Bereich der Radikalisierungsprävention das zu verhindernde Ereignis normativ unterschiedlich bewertet und nicht von allen Beteiligten – vor allem nicht von denen, an die sich die Prävention richtet – als ein negatives angesehen wird. Hinzu kommt, dass die Vorstellung von dem, was extrem oder radikal ist, immer eingebettet ist in gesellschaftliche und historische Zusammenhänge, was den Präventionsbegriff in der Radikalisierungsprävention an sich schon besonders werden lässt (Ceylan/Kiefer 2018). Gerade vor dem Hintergrund einer solchen Herausforderungskulisse muss sich die Radikalisierungsprävention hinsichtlich ihrer Auftragsklärung sowie begrifflichen und definitorischen Abgrenzungen ihrer Arbeit stets neu justieren und weiterentwickeln. Dafür stehen relativ viele Ressourcen zur Verfügung, denn in Angebote und Maßnahmen im Feld der Extremismusprävention wurde in Deutschland noch nie so viel Geld investiert wie derzeit (Kiefer 2021). Allerdings scheint die Angebotslandschaft hinsichtlich ihrer Steuerung noch

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nicht so gut aufgestellt zu sein, wie man es anhand der finanziellen Ausstattung zu denken vermag. Es ist zu vermuten, dass »bei der Konzeption der Programme kein abgestimmtes Gesamtkonzept zu Grunde lag. Vielmehr konnte durch das sukzessive Wachstum der Programme ein gewisser Wildwuchs beobachtet werden. Kennzeichen dessen sind Redundanzen, unklare Zuständigkeiten und ungleiche Verteilungen der Maßnahmen und Projekte.« (Kiefer 2021, 29) Dies wirkt sich deutlich auf eine genaue Betrachtung zum Einfluss von Räumen auf Präventionsangebote aus. Unsere Auswertung einer bundesweiten teilstandardisierten Erhebung und einer qualitativen Befragung von Präventionsangeboten im Rahmen des Verbundprojekts MAPEX 3 hat ergeben, dass sich auf einzelne wenige Kommunen – vor allem Landeshauptstädte – eine Vielzahl von Angeboten konzentriert, während die bundesweite Angebotslandschaft in weiten Teilen nur vereinzelte Angebote aufweist und die Angebotsstrukturen der Radikalisierungsprävention im ländlichen wie kleinstädtischen Raum nur schwach ausgeprägt sind. Deutschlandweit wurden 587 Projekte erfasst, die hierzulande im Bereich des religiös begründeten Extremismus arbeiten. Der überwiegende Teil (87 %) ist im primärpräventiven Bereich tätig, was sich auch anhand der Ziele der Projekte und Maßnahmen zeigt. Die dominierenden unspezifischen Ziele sind Demokratieförderung, Förderung von Toleranz, Sensibilisierung für interkulturelle Kompetenzen und deren Förderung, während nur sekundär die Unterlassung von Straftaten oder die Distanzierung von der Ideologie benannt wird (Kurtenbach/Schumilas 2021). Die primärpräventive Ausrichtung der Angebote spiegelt sich auch in der Zielgruppe wider. Mit 83 % richten sich die meisten Projekte und Maßnahmen an die allgemeine Bevölkerung, nur knapp mehr als die Hälfte an Fachkräfte und Multiplikator*innen (57 %), während nur 17 %, nämlich 102 Projekte, mit Extremist*innen selbst arbeiten und damit im Bereich der Distanzierungs- und Deradikalisierungsarbeit tätig sind. Praktiker*innen der Radikalisierungsprävention sind vorrangig im Handlungsfeld Schule tätig, deutlich weniger, aber dennoch häufig vertreten sind sie zudem in der außerschulischen Bildungsarbeit und in der Kinder- und Jugendhilfe. Die Befragung hat zudem gezeigt, dass über die Hälfte der Angebote nicht allein im Bereich des religiös begründeten Extremismus tätig ist, sondern phänomenübergreifend ebenfalls im Bereich der Rechts- sowie Linksextremismusprävention vertreten. Es ist davon auszugehen, dass hier ein deutliches Steuerungsproblem vorliegt und »Angebote unabhängig von ihrer lokalen Notwendigkeit installiert werden« (Kurtenbach/Schumilas 2021, 150). Dies mag aber nicht

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Zu finden unter www.mapex-projekt.de, 11.8.2021.

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den Projekten zuzuschreiben sein, sondern einer grundsätzlich fehlenden Beachtung von Raumeinflüssen, wie wir sie eingangs benannt haben.

Wo bleibt der Raum bei der Prävention von Radikalisierung? Bei der Betrachtung der verschiedenen Modelle zu Ursachen und Verläufen von Radikalisierung fällt auf, dass der Raum kaum konzeptionelle Beachtung findet (Kurtenbach 2021). Dass der Raum als Kontexteinfluss bislang ausgespart wurde, liegt unter anderem an dem zuvor genannten Grund einer Fokussierung der Radikalisierungsforschung wie auch der Prävention auf individuelle Faktoren und Verläufe. Diese haben zweifelsfrei eine hohe, aber eben keine ausschließliche Erklärungskraft. Eine wichtige Erkenntnis aus den zahlreichen Studien zu Radikalisierung besteht darin, dass es kein Zufall ist, wer einen Radikalisierungsprozess durchläuft, sondern dass es Muster und Ursachen gibt, welche eine wirksame Radikalisierungsprävention überhaupt ermöglichen. Allerdings finden sich in der Praxis unterschiedliche Ansätze der Radikalisierungsprävention (Waleciak 2021), was den Schluss nahelegt, dass es in der Präventionspraxis auch unterschiedliche theoretische Vorannahmen zu den Ursachen von Radikalisierungsprozessen und der Wirkung von Präventionsstrategien gibt. Während zahlreiche Arbeiten das »Wie« des Radikalisierungsprozesses beschreiben, fehlt das »Wo«, und das, obwohl es bereits eine lange Forschungstradition der räumlichen Kriminologie bzw. soziologischen Stadtforschung gibt, die Aufschluss über diesen Teilaspekt von Radikalisierung bzw. eine Anfälligkeit für Radikalisierung geben könnte (Bouhana 2019). Dahinter steht folgende Überlegung: Wenn es Einflussfaktoren wie Armut und Diskriminierungserfahrungen gibt, welche immer wieder genannt werden, könnten Orte, an denen solche Merkmale relativ konzentriert auftreten, auch Räume sein, welche einen Kontexteffekt auf die Anfälligkeit für Radikalisierung haben. Dies würde auch bedeuten, dass es raumbezogene Präventionsstrategien braucht, um solche Kontexteffekte abzumildern. Zur Bestimmung des räumlichen Einflusses auf die Anfälligkeit für Radikalisierung wird umso dringender die Ausarbeitung zentraler konzeptioneller Annahmen notwendig. Dies soll nun genauer erfolgen. Radikalisierung kann als voranschreitende Rationalisierung abweichenden Verhaltens mittels ideologischer Begründungen charakterisiert werden, eben als Hinwendung zu einer ideologisch begründeten Gewalt, wie oben beschrieben. Dieser Annahme folgend ist nicht allein eine Tat, sondern v.a. ihre Begründung ausschlaggebend dafür, ob es sich um eine extremistische Tat handelt oder um »normale« Kriminalität. Dabei werden spezifische Handlungen durch die ideologische Prägung wahrscheinlicher als andere. Ein Beispiel ist, dass Islamist*innen eine geringere Wahrscheinlichkeit aufweisen,

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als Konsument*innen in Drogendelikte verwickelt zu werden, als Menschen, welche nicht diesem ideologischen Milieu, sondern eben anderen ideologischen oder kriminellen Milieus angehören. Demzufolge wäre Extremismus als Folge von Radikalisierungsprozessen eine spezifische Form der Akzeptanz abweichenden Verhaltens (Norm) und Terrorismus (Handlung) würde auf dieser basieren. Dies ist ein zentraler Referenzpunkt für die Frage nach bereits existierenden und geprüften Theorien, die auf das Phänomen der Radikalisierung angewendet werden können. Vor allem die Situational Action Theory (SAT) kann hierfür angeführt werden. Sie weist darauf hin, dass dem abweichenden Verhalten vorgelagert das allgemeine Einverständnis zur Normbrechung liegen müsste (Wikström et al. 2012), beispielsweise die Einstellung, dass Gewaltausübung unter spezifischen Umständen erlaubt ist. Radikalisierung würde demnach diese spezifischen Umstände, also den Grund, die Zielgruppe und die Handlungsoptionen maßgeblich bestimmen. Alternativ dazu könnten kriminelle Karrieren eingeschlagen werden, die Spezifizierung würde dann in der Befriedigung materieller Bedürfnisse liegen. Folglich steht die Normkonstruktion der Akzeptanz abweichenden Verhaltens im Fokus und hier kann auf die Ergebnisse der Kriminologie zurückgegriffen werden (Kurtenbach/Zick 2021). Diesen grundsätzlichen Überlegungen folgend, kann der Raum als normbeeinflussender Faktor verstanden werden. Denn wir wissen, dass der Raum einen eigenständigen Effekt auf die Lebenschancen von Menschen hat, wie der Forschungszweig zu Kontexteffekten von Wohngebieten zeigt (Friedrichs 2014; Sharkey/Faber 2014). Beispiele für solche Kontexteffekte sind die Wirkungen des Raums auf Bildungschancen (Galster et al. 2016), Gesundheit (Friedrichs 2017), Einkommen (Chetty et al. 2015), Integration (Zick 2010) oder auf das Gefühl der Teilhabe (Strohmeier 2009). In der räumlichen Kriminologie und Stadtsoziologie gibt es zahlreiche und empirisch bewährte Modelle und Konzepte zur Erklärung von Kontexteffekten (Kurtenbach 2021). Solche Mehrebenenmodelle verbinden individuelle und räumliche Merkmale miteinander und spezifizieren den Raumeinfluss auf individuelles Handeln. Eine Herausarbeitung des Raumeinflusses auf die Anfälligkeit für Radikalisierung kann also auf eine bestehende Forschungstradition zurückgreifen und diese um den Fokus auf Radikalisierungsphänomene im Raum ergänzen. Zugleich kann die Radikalisierungsforschung von der Einbeziehung der Raumperspektive profitieren (Kurtenbach/Zick 2021), was wiederum positive Folgen für die Präventionsarbeit haben kann. Basierend auf dem Argument, dass der Raum einen Effekt auf die Radikalisierungsanfälligkeit haben kann, ohne dabei individuelle Ursachen oder Gruppenprozesse auszublenden, ist eine raumbezogene Strategie der Radikalisierungsprävention sinnvoll und notwendig. In Bezug auf die Befunde der Forschung zur Radikalisierungsprävention sind hier vor allem die normbeeinflussende Wirkung sowie die grundlegende Wirkungsweise des räumlichen Kontexts, welcher in zahlreichen Modellen als Mehrebenenbeziehung konzipiert wurde, zu berücksichtigen. Grund-

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sätzlich folgt aus der Auseinandersetzung mit dem Forschungszweig zu Kontexteffekten, dass der Raum wahrscheinlich einen Effekt auf die Anfälligkeit für Radikalisierung hat, was die Ausarbeitung eines eigenständigen Ansatzes einer raumbezogenen Radikalisierungsprävention rechtfertigt. Ein solcher wird im folgenden Abschnitt skizziert.

Skizzierung einer raumbezogenen Radikalisierungsprävention Auch in Bezug auf die Prävention ist es auffällig, dass die Befunde zu raumbezogenen Strategien der Radikalisierungsprävention bislang keinen systematischen Eingang gefunden haben. Eine raumbezogene Perspektive zur Radikalisierungsprävention ergänzt die in der Präventionsarbeit übliche Individual- und Gruppenebene um die Perspektive auf das sozialräumliche Gefüge, in welches die einzelne Person eingebunden ist. Wenn also der Raum einen Effekt auf das Handeln von Menschen hat, kann dies sowohl zur Erklärung von Radikalisierung, aber auch in der Präventionspraxis nutzbar gemacht werden. Für die Ausarbeitung einer raumbezogenen Strategie zur Radikalisierungsprävention braucht es Annahmen zu den Wirkungen des Kontexts auf die Anfälligkeit für Radikalisierung, welche mit einer solchen abgeschwächt werden sollen. Dabei ist von einer Wechselwirkung zwischen sozialstrukturellen Faktoren, wie einer erhöhten Armutsquote im Stadtteil, und sozialkulturellen Faktoren, wie z.B. dem Gefühl kollektiver Diskriminierung oder Deprivation, auszugehen. Daraus entspringen dann häufig geringe nachbarschaftliche Bindungen (Sampson 2012), die Ablehnung rechtsstaatlicher Normen (Sampson/Bartusch 1998) sowie das Gefühl mangelnder Teilhabe (Strohmeier 2009) oder gering ausgeprägte Möglichkeiten, gleichberechtigtes Mitglied im Raum zu sein (Zick 2010). Liegen diese Faktoren an einem Ort vor, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass der Raum einen Effekt auf die Entstehung von Radikalisierungsanfälligkeit auf der individuellen Ebene hat. Die lokalen Angebote, die Praxis staatlicher Organisationen, wie der Polizei, aber auch die Frage, ob extremistische Gruppierungen bereits im Stadtteil zugegen sind, spielen hierbei eine moderierende Rolle (ausführlich Kurtenbach/Zick 2021). Wie solche Faktoren für eine raumbezogene Radikalisierungsprävention aber nutzbar gemacht werden können, ist bislang noch nicht ausgearbeitet. Dabei ist die raumbezogene Perspektive auf Prävention in den Gesundheitswissenschaften, dem Forschungszweig, aus dem auch die verbreiteten individualbezogenen Präventionsansätze stammen (Caplan 1964; Gordon 1983), bereits seit längerem bekannt. Hier gibt es mehrere Ansätze, wie den der Community-based Practices (Mirahmadi 2016), welche sich sowohl auf Gruppen als auch auf Orte beziehen können, oder den Setting-Ansatz (Engelmann/Halkow 2008). Unabhängig von ihrer genauen Fassung weisen sie darauf hin, dass der Raum eine Ebene in

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der Gesundheitsförderung sein kann. Während auf der Individualebene drei Präventionsebenen (primär, sekundär, tertiär) konzeptionell verankert sind, handelt es sich auf der räumlichen Ebene um eine zweigeteilte Logik, abhängig davon, ob in einem zu betrachtenden Ort (z.B. Stadtteil oder Kommune) ein zu vermeidendes Ereignis eingetreten ist oder nicht. Dass der Raum einen Einfluss auf die Gesundheit und das Wohlbefinden hat, wurde mehrfach belegt (Friedrichs 2017), sodass raumbezogene Präventionsansätze bereits praktiziert werden4 und den Nachweis erbringen, dass benachteiligende Kontexteffekte abgemildert werden können. Demnach wird Prävention vor dem Auftreten besonders bemerkenswerter Vorfälle oder auffälliger Kennzahlen betrieben, doch sind die Effekte einer nachsorgenden Prävention ebenso festzustellen. In einer Studie zu den Effekten eines Präventionsprogramms zum Alkoholkonsum im kalifornischen Sacramento zeigten sich positive Ergebnisse (Treno et al. 2007). Im Kern des Programms stand die Reduktion der Verfügbarkeit von Alkohol für Jugendliche sowie des exzessiven Trinkens. Dabei waren neben den Gewerbetreibenden im Stadtteil auch die Nachbarschaftsnetzwerke angesprochen. Durch Koalitionen unterschiedlicher Partner*innen auf Stadtteilebene, welche ein gemeinsames Ziel einte, das zudem formal gerahmt war, scheint es also zur Reduktion eines unerwünschten Verhaltens gekommen zu sein. Allerdings bedarf die Ausarbeitung einer raumbezogenen Präventionsstrategie der Integration unterschiedlicher Einflüsse. Latkin und Kolleg*innen (2013) untersuchen stadtteilbezogene Einflussfaktoren zur Prävention von HIV und sie weisen darauf hin, dass es zahlreiche Einflüsse gibt, welche bei der Konzeptionalisierung von Präventionsstrategien berücksichtigt werden müssen. »Nachbarschaften sind eine wichtige Analyseeinheit für eine Vielzahl von gemeinschaftsbasierten Interventionen, die sich direkt oder indirekt auf HIV beziehen. Nur durch eine kontinuierliche Analyse der sozialen Organisationen, der Interaktionsmuster, der wahrgenommenen Identität und der geografischen Struktur ist es möglich, die am besten geeigneten geografischen und sozialen Grenzen für Interventionen und die besten Strategien zur Erreichung der gewünschten Ergebnisse zu ermitteln.« (Latkin et al. 2013, 2018, übersetzt aus dem Englischen) Es gibt demnach nicht einen einzelnen Maßnahmentypus oder einen einzelnen Wirkmechanismus, sondern ineinandergreifende Einzelmaßnahmen, die auf der räumlichen Ebene einen präventiven Effekt entfalten. Für die Skizzierung einer räumlichen Radikalisierungsprävention folgen daraus zwei Anforderungen: Erstens ist eine konzeptionelle Grundausrichtung

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Siehe beispielsweise www.hag-gesundheit.de/wir-ueber-uns/ziele-und-schwerpunkte, 6.9.2021.

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notwendig, welche sich der dreigeteilten Logik der Individualebene zu Gunsten einer zweigeteilten Einteilung auf der Raumebene entzieht. Zweitens bedarf es der Berücksichtigung verschiedener Angebotstypen vor Ort und damit der gesamten lokalen Angebotslandschaft. Eine raumbezogene Radikalisierungsprävention ist demzufolge eine Ausrichtung der lokalen Angebotsstruktur hinsichtlich spezifischer Wirkungsabsichten. Der entscheidende Faktor für die Ausrichtung ist demnach, ob eine extremistische Gruppe vor Ort dauerhaft aktiv und expansiv ist oder nicht. Dieser Logik entsprechend, sind zwei grundsätzliche Präventionsstrategien zu unterscheiden: eine fallunspezifische und eine fallspezifische Prävention. Die fallunspezifische Prävention ist dann sinnvoll, wenn noch keine extremistischen Gruppierungen in einem Raum, wie einem Stadtteil oder einer Kommune, vorhanden sind. Sie folgt dem Paradigma einer Stärkung der Gemeinschaft und hat zum Ziel, die Resilienz des Raums zu fördern. Dabei stehen die Förderung des nachbarschaftlichen Vertrauens (Sampson et al. 1997) sowie toleranzfördernde Maßnahmen (Skiple 2020) im Mittelpunkt. Beides führt dazu, dass extremistische Gruppierungen keine förderlichen kontextuellen Gegebenheiten für eine Etablierung vorfinden können. Die operative Arbeit der lokalen Angebotslandschaft besteht damit in einer themenübergreifenden Vernetzung und einer möglichst effizienten und breiten Koordination der Angebote, damit extremistische Gruppierungen nicht als »Lückenfüller«, beispielsweise für fehlende Treffpunkte für Jugendliche, auftreten können. Orientiert an den individualbezogenen Präventionsebenen lassen sich an die fallunspezifische Prävention die primäre und sekundäre Ebene anschließen. Die fallunspezifische Prävention richtet sich an die gesamte Bevölkerung eines Raums mit dem Vorhaben, dort Resilienzfaktoren, wie gegenseitiges Vertrauen, zu stärken. Die fallunspezifische Prävention beinhaltet dabei eine detaillierte Analyse der vorherrschenden Bedingungen, um eine an die lokalen Gegebenheiten angepasste Präventionsstrategie für das lokale Gemeinwesen zu entwickeln, und geht damit über die universelle Ausrichtung der primären Prävention hinaus. Im Gegensatz zur sekundären Präventionsebene von Caplan werden in der fallunspezifischen Prävention keine Risikogruppen für extremistische Tendenzen herausgefiltert und so eine Stigmatisierung einzelner Personengruppen sowie des Raums, zum Beispiel eines Stadtteils, verhindert. Die fallspezifische Prävention ist dann tragend, wenn bereits extremistische Gruppierungen im Raum etabliert sind. Sie orientiert sich am Paradigma »Heal the Community« und konzentriert sich auf die Aufarbeitung der Vorgänge, die zur Etablierung extremistischer Bestrebungen im Raum geführt haben, um die Ursachen vor Ort zu bekämpfen. Operativ werden themenspezifische Kooperationen etabliert, welche die Ausbreitung extremistischer Gruppierungen und ihres Gedankenguts eindämmen sollen und so lokal der Radikalisierungsanfälligkeit den »Nährboden« entziehen.

Raumbezogene Radikalisierungsprävention

Die Differenzierung dieser beiden Ansätze hat Implikationen. Wird in einer Kommune oder einem Stadtteil eine fallunspezifische Präventionsstrategie verfolgt, ist davon auszugehen, dass die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass eine fallspezifische Prävention zu einem späteren Zeitpunkt etabliert werden muss. Zudem kann die fallspezifische Prävention im Bedarfsfall auf den Arbeiten einer fallunspezifischen Prävention aufbauen und die Angebotslandschaft vor Ort temporär verändern. Weiterhin besteht der Vorteil einer solchen raumbezogenen Präventionsstrategie darin, dass sie mit Strategien der individualbezogenen Prävention logisch zu verknüpfen ist. Die fallunspezifische Prävention, welche die Resilienz eines Stadtteils fördert, kann mit bisherigen primärpräventiven sowie sekundärpräventiven Maßnahmen verbunden werden. Dahingegen wäre eine fallspezifische Prävention dort angemessen, wo bislang tertiärpräventive Angebote angesiedelt waren. Ein weiterer Vorteil dieser binären Logik einer raumbezogenen Radikalisierungsprävention besteht darin, dass die Stigmatisierung eines Stadtteils durch Präventionsbemühungen umgangen wird. Fallunspezifische Prävention richtet sich dann im Allgemeinen an Stadtteile, in denen keine Radikalisierungsprozesse stattfinden. Würde man bislang ein Präventionsangebot in sozial belasteten Stadtteilen ohne zu beobachtende Radikalisierungsprozesse etablieren, könnte angebracht werden, dass man sich hier bereits im sekundärpräventiven Bereich befindet, aufgrund der Sozialstruktur der Stadtteile. Diese Tatsache führt zu einer Stigmatisierung des Raums. Nach der hier skizzierten binären Logik befinden sich solche Stadtteile nun allgemein in der fallunspezifischen Prävention. Fallspezifische Maßnahmen werden erst nach einem sichtbaren und greifbaren Ereignis eingesetzt.

Fazit und Ausblick Dieser Beitrag hat zum Ziel, sich einem raumbezogenen Verständnis von Radikalisierung und im Besonderen von Radikalisierungsprävention zu nähern. Dazu haben wir auf zentrale Erkenntnisse der Radikalisierungsforschung und der Prävention insbesondere im Phänomenbereich der islamistischen Radikalisierung zurückgegriffen. Der räumliche Ansatz einer Präventionsstrategie, welcher in den Gesundheitswissenschaften bereits bekannt ist, wurde in der Radikalisierungsprävention bislang noch nicht systematisch aufgegriffen. Grundlegendes Strukturelement der skizzierten raumbezogenen Radikalisierungsprävention ist die Frage, ob es bereits zur Etablierung extremistischer Gruppierungen in einem Stadtteil gekommen ist. Daran orientiert sich die Entscheidung über die Vorgehensweise (fallunspezifisch oder fallspezifisch). Für eine mögliche Implementierung einer solchen raumbezogenen Radikalisierungsprävention bedarf es aber der strategischen Steuerung einerseits und der Evaluation andererseits. Unter der strategischen Steuerung ist vor allem die Ko-

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ordination der lokalen Angebotslandschaft zu verstehen, sie kann beispielsweise durch Konzepte kommunaler Radikalisierungsprävention gerahmt werden (z.B. Bothe 2020). Eine Evaluation ist vor allem dafür dienlich, zu entscheiden, wann der Übergang von einer fallspezifischen zur fallunspezifischen Prävention möglich und sinnvoll ist, aber auch, um die Angebotslandschaft vor Ort in ihrer Struktur und Abdeckung zu untersuchen. Vor allem die organisatorische Rahmung ist für die Implementierung einer raumbezogenen Radikalisierungsprävention hilfreich. Denn eine solche definiert das zu bearbeitende Problem sowie die Rollen innerhalb der Angebotslandschaft und organisiert die Zusammenarbeit. Ein solcher Rahmen bildet zugleich die Grundlage für eine Prozessevaluation und ist anschlussfähig an die kommunale Sozialplanung. Beispielsweise kann die lokale Angebotslandschaft, welche teils bereits erhoben wird, auch für die Organisation der Radikalisierungsprävention genutzt werden. Zugleich muss aber unterschieden werden zwischen kommunalen, also gesamtstädtischen, und lokalen, also stadtteilbezogenen Handlungskonzepten. Lokale Handlungskonzepte sind dabei konkreter als strategische Ziele und beschreiben eher die Maßnahmenebene und ihre Bündelung. Allerdings brauchen lokale Handlungskonzepte zumeist einen übergeordneten Rahmen, wie ihn ein kommunales Handlungskonzept bietet. Die hier skizzierte Strategie einer raumbezogenen Radikalisierungsprävention kann als Ansatz verstanden werden, um diese Lücke in der Präventionslandschaft zu schließen, was aber einer Weiterentwicklung, beispielsweise durch die Berücksichtigung digitaler Praktiken, bedarf sowie einer praktischen Erprobung. Weiterhin braucht eine raumbezogene Radikalisierungsprävention geeignete Rahmenbedingungen, welche insbesonders durch kommunale sowie lokale Handlungskonzepte zur Radikalisierungsprävention gebildet werden.5

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Dazu werden wir im Projekt Radikalisierende Räume auch kommunale Handlungskonzepte zur Radikalisierungsprävention auswerten, mit dem Ziel, herauszuarbeiten, wie ein hochwertiges kommunales Handlungskonzept strukturiert sein sollte. Die Ergebnisse werden auf der Projektwebsite (www.radikalisierende-raeume.de) veröffentlicht.

Raumbezogene Radikalisierungsprävention

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»Winning Hearts and Minds?« Eine intersektionale Perspektive auf Präventionsarbeit im städtischen Raum am Beispiel der britischen Prevent-Strategie Catharina Peeck-Ho

Abstract Als Teil der britischen Antiterrorstrategie soll die Prevent-Strategie Terrorismus verhindern, indem sie frühzeitige Interventionen in Radikalisierungsprozesse ermöglicht. Dabei stehen spätestens seit den sogenannten »London bombings« am 7. Juli 2005 Muslim*innen im Fokus von Antiterrormaßnahmen. Besonders in den Anfangsjahren von Prevent wurden unterschiedliche Zielgruppen identifiziert und adressiert, darunter auch muslimische Frauen, die hier im Zentrum stehen. Der Beitrag schlägt eine postmigrantische und intersektionale Perspektive auf das Feld Prävention vor und plädiert dafür, eine enge Verbindung von sozialer Arbeit und Sicherheitspolitik zu Gunsten einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive auf Inklusion aufzugeben.

Ausgangspunkte Der Anschlag auf das World Trade Center am 11.9.2001 sowie die zahlreichen Anschläge, die seither in unterschiedlichen europäischen Ländern stattfanden, rückten das Thema islamistische Radikalisierung in den Fokus gesellschaftspolitischer Diskurse in Europa. In der Folge wurden in unterschiedlichen Ländern Antiterrorstrategien entwickelt, die – neben einer Stärkung von Sicherheitsorganen und Polizeiarbeit – in einem mehr oder weniger ausgeprägten Maß auch die Prävention von Radikalisierung über soziale Arbeit fokussieren. Als besonders herausragendes Beispiel kann die britische Prevent-Strategie betrachtet werden, nicht nur, weil mit ihrer Einführung vergleichsweise hohe Summen in den Bereich Prävention geflossen sind (Peeck-Ho 2017, 12), sondern auch, weil diese Strategie seit 2003 kontinuierlich weiterentwickelt wurde, wobei insbesondere die Anschläge von London im Juli 2005 einen wesentlichen Schub gegeben haben. Gerade weil die PreventStrategie der damaligen Zeit sich von heutigen Maßnahmen in vielerlei Hinsicht

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unterscheidet, bietet sie eine Reihe von Ansatzpunkten zur Reflexion von Präventionsmaßnahmen im städtischen Raum. Mit diesem Beitrag1 spreche ich mich für eine intersektionale Perspektive in der Auseinandersetzung mit Prävention aus und begründe das anhand meiner Forschungsarbeit zur Einbindung muslimischer Frauenorganisationen in die PreventStrategie. Ich beziehe mich auf Intersektionalität als einen Zugang zum Feld, der es ermöglicht, die Art und Weise, wie Ungleichheitsverhältnisse und Diskriminierung jeweils spezifisch und situativ ausgeprägt sind, zu thematisieren (u.a. Lutz/ Herrera Vivar et al. 2013). Dabei wird für den Kontext des vorliegenden Bands auf den städtischen Raum fokussiert. Städtische Räume spielen eine besondere Rolle, wenn es darum geht, Entwicklungen innerhalb postmigrantischer Gesellschaften in den Blick zu nehmen. So kann einerseits eine Ethnisierung bestimmter räumlicher Strukturen in der Stadt beobachtet werden, beispielsweise dann, wenn bestimmte Viertel stadtpolitisch als migrantische »Parallelgesellschaften« adressiert (und oftmals problematisiert und stigmatisiert) werden (Römhild 2007, 160). Andererseits sind Städte Orte, die in besonderer Weise durch Diversität geprägt sind und Heterogenität begünstigen (Pilch Ortega 2015, 166). Dies wirft Fragen nach legitimer Repräsentation auf, und zwar sowohl auf symbolischer Ebene als auch für konkrete Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe in der Gestaltung dieser diversen Räume. Diese Räume sind auch für die Auseinandersetzung mit Sicherheitspolitik von Bedeutung, da hier ein großes Potenzial der Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheiten und damit verbundener Diskriminierung besteht. Im nächsten Abschnitt werden die theoretischen Grundlagen meines Beitrags im Detail diskutiert. Dabei geht es darum, zunächst die intersektionale Perspektive auf die postmigrantische Gesellschaft generell zu begründen und im zweiten Schritt zu argumentieren, warum es gerade in der Auseinandersetzung mit Präventionsmaßnahmen in diesem Kontext wichtig ist, a) gesellschaftliche Diversität in den Mittelpunkt zu rücken, b) damit verbundene Ungleichheitsverhältnisse zu thematisieren und c) auf dieser Basis Alternativen zu ethnisierenden und kulturalisierenden Diskursen zu entwickeln. Danach wird diese Perspektive anhand des Beispiels der britischen Prevent-Strategie illustriert, um auf dieser Basis die Vorund Nachteile von Maßnahmen und ihre Alternativen zu diskutieren. Hier wird knapp auf die Entwicklung der Prevent-Strategie eingegangen, wobei ein Schwerpunkt auf Maßnahmen gelegt wird, die muslimische Frauen als Zielgruppe haben. Am Ende werden zentrale Ergebnisse zusammengefasst und auf dieser Basis Herausforderungen von Präventionsarbeit genannt.

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Teile dieses Texts, insbesondere der Abschnitt zur Prevent-Strategie, wurden in leicht veränderter Form bereits veröffentlicht (Peeck-Ho 2020).

»Winning Hearts and Minds?«

Eine intersektionale Perspektive auf Präventionsarbeit in der Stadt Der Ursprung der Metapher der Intersektionalität für die Auseinandersetzung mit sozialen Ungleichheiten findet sich in den US-amerikanischen Debatten um Antidiskriminierungspolitik der 1980er Jahre. In Anschluss an Debatten afroamerikanischer Feministinnen (u.a. Hull et al. 1993 [1982]) führte Kimberlé Crenshaw den Begriff in einem Aufsatz ein, um auf die Verschränkungen von Kategorien wie Rasse/Ethnizität, Klasse und Geschlecht und daraus folgende situativ spezifische Wirkungen aufmerksam zu machen (Crenshaw 1989). Als Juristin ging es ihr einerseits darum, eindimensionale juristische Auslegungen von Diskriminierung aufzubrechen und zu zeigen, wie unterschiedliche Kategorien in Verbindung miteinander wirken. Ferner verortet die Autorin das Konzept innerhalb feministischer Theorien und antirassistischer Politik (Crenshaw 1989, 139). Seither ist Intersektionalität breit diskutiert worden und findet seit den 1990er Jahren zunehmend Eingang in europäische Debatten. Während es hier lange Zeit darum ging, die Bedeutung, das Verhältnis und auch die Anzahl von Kategorien zu diskutieren (Klinger/Knapp et al. 2007), drehte sich ein Teil der Debatte in den vergangenen Jahren darum, inwieweit die breite Rezeption innerhalb feministischer Debatten Intersektionalität entpolitisiert hat, unter anderem indem die Kategorie race zu Gunsten anderer Kategorien ausgeblendet wird (Bilge 2014, 2015).2 Diese Gefahr ist für den hier untersuchten Kontext muslimischer Frauenorganisationen in Großbritannien nicht ganz von der Hand zu weisen, weil die Kategorien Geschlecht, Religion und citizenship3 im Vordergrund stehen, Muslim*innen in Großbritannien aber in unterschiedlicher Weise rassifiziert werden und von antimuslimischem Rassismus betroffen sind. Gleichzeitig ist eine Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie Muslim*innen im Rahmen von Präventionsstrategien adressiert werden, mit besonderen Herausforderungen konfrontiert, weil ihre Wirkungen vieldimensional und situativ unterschiedlich sind: Ein Anliegen, wie das weiter unten diskutierte Empowerment muslimischer Frauen, kann von muslimischen Frauen selbst initiiert sein, eine positive Erfahrung für viele der Adressatinnen darstellen und dennoch diskriminierende Tendenzen transportieren. Daher ist es sinnvoll, sich dem Phänomen einerseits mit Blick auf unterschiedliche Ebenen der Gesellschaft

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Mir ist bewusst, dass diese Debatten hier nur knapp und dementsprechend unzureichend diskutiert werden. Da es hier vor allem darum geht, die Entwicklung zu skizzieren, verweise ich für eine vertiefte Auseinandersetzung mit den jeweiligen Argumentationen auf die genannte Literatur. Ich nutze hier bewusst den englischen Begriff, der in seiner Breite unterschiedliche Konnotationen von Staatsangehörigkeit, Staatsbürgerschaft und Bürgerschaft vereint (vgl. Bös/ Schmid 2012) und Fragen sozialer Ungleichheit und der Konstruktion von Zugehörigkeit einbezieht (vgl. Lutz/Amelina 2017; Yuval-Davis 2011).

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und andererseits auf die spezifischen Verschränkungen von Diskriminierungsformen zu nähern. In Bezug auf die Stadt ergeben sich besondere An- und Herausforderungen für Präventionsarbeit, die nicht zuletzt mit Diversität im urbanen Raum zu tun haben. Im Gegensatz zu ländlichen Regionen ist die Erfahrung von Differenz hier im Alltag oft stärker präsent. Dies betrifft nicht nur das Themenfeld Migration, sondern bezieht sich genereller auf unterschiedliche Selbst- und Fremdzuschreibungen und damit verbundene Zugehörigkeiten. Für das vorliegende Beispiel kann festgestellt werden, dass der Großteil der Muslim*innen in Großbritannien geboren ist und es sich insofern um eine postmigrantische Gesellschaftskonstellation handelt, die diskursiv zugleich häufig als »Migrationsproblem« gerahmt wird. Die Zielgruppen von Prevent werden dementsprechend von einigen Stimmen als Teil der britischen Gesellschaft und von anderen als Fremde behandelt, die es zu integrieren gelte. Diesen »Integrationismus« betrachtet der Politikwissenschaftler Arun Kundnani (2007) als Zeichen eines antimuslimischen Rassismus, der das Othering von Muslim*innen beinhaltet und durch gesellschaftliche Diskurse verstärkt wurde, innerhalb derer »Britishness« auch im Anschluss an die Auseinandersetzung mit den Anschlägen vom 7.7.2005 neu verhandelt wurde. In diesem Beitrag steht daher Diversität in der Stadtgesellschaft und nicht Migration im Vordergrund. Dies entspricht Argumentationen, die den Fokus der Analyse nicht auf Migrationsprozesse selbst, sondern auf die gesellschaftlichen Prozesse und Diskurse innerhalb eines Einwanderungslands legen. Die Dichotomie zwischen Einheimischen und Zugewanderten soll auf diese Weise aufgelöst werden, um den Blick auf gesellschaftspolitische Aushandlungsprozesse um die Gestaltung einer Gesellschaft zu richten, die durch Einwanderung geprägt ist (Foroutan 2019, 19). Aushandlungsprozesse um Zugehörigkeit und Repräsentation werden in der Stadtgesellschaft besonders deutlich, denn hier leben Menschen mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen auf vergleichsweise engem Raum zusammen und begegnen sich im Alltag. So stellt Schulze fest, dass Differenz hier in struktureller Hinsicht und mit Blick auf den lebensweltlichen Kontext zum Tragen kommt. Sie schreibt: »Die Städte waren immer ein Ort der Heterogenität; Differenz und Fremdheit bilden eine alltägliche Erfahrung der Individuen. Damit sind vor allem Städte als Orte zu beschreiben, an denen ein Zusammenleben zwischen sich fremden und unvertrauten, sich in ihren Orientierungen widersprechenden Menschen möglich war und ist, dies vor allem auch aus dem Grund, weil Zugehörigkeit zur städtischen Gesellschaft eben nicht auf einem gemeinsamen Wertehorizont, geteilten Normen und Orientierungen basiert, sondern systemisch organisiert ist.« (Schulze 2003, 125)

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Damit weist die Autorin auf eine Besonderheit des städtischen Kontexts hin, in dem Diversität und damit verbundene Differenzerfahrungen in besonderer Weise eine Rolle spielen. Für das Themenfeld Prävention von islamistischem Terrorismus und Extremismus ist der Fokus auf städtische Räume insbesondere vor dem Hintergrund der oben genannten Prozesse der Ethnisierung von Raum und damit verbundener kulturalisierender Zuschreibungen interessant, da die Diversität der Stadtgesellschaft innerhalb bestimmter Zuschreibungsmuster zu Gunsten eindimensionaler und homogenisierender Narrative über Kultur ausgeblendet wird. Die Gefahr besteht darin, dass Präventionsmaßnahmen sich derartige Auslegungen zu eigen machen und auf diese Weise Diskriminierung reproduzieren können, beispielsweise wenn – wie es in den ersten Jahren der Prevent-Strategie der Fall war – sich die Vergabe der Gelder nach der Anzahl der Muslim*innen in einem Bereich richtet (Kundnani 2009, 13). Dies ist nicht nur ein Problem für die Adressat*innen, sondern wirft auch die Frage auf, ob Prävention, die als stigmatisierend wahrgenommen wird, überhaupt erfolgreich sein kann oder ob es Bedingung erfolgreicher Präventionsarbeit ist, dass gesellschaftliche Diversität zu ihrer Grundlage gemacht wird.

Die Prevent-Strategie als Beispiel Die Prevent-Strategie wurde bereits im Jahr 2003 eingeführt (Qurashi 2018), in den Blickpunkt des öffentlichen Interesses rückte sie allerdings besonders in der Aufarbeitung der sogenannten »London bombings«, der Anschläge auf den öffentlichen Nahverkehr in London im Juli 2005. Der Report »Preventing Extremism Together – Working Groups« (Home Office 2005) legte die Grundlagen für die Strategie der nächsten Jahre und identifizierte eine Reihe von Zielgruppen, darunter muslimische Frauen, die in die Präventionsarbeit eingebunden werden sollten. 2007 veröffentlichte das Department for Communities and Local Government ein Strategiepapier mit dem Titel »Preventing violent extremism – Winning hearts and minds« (Department for Comunities and Local Government 2007b), in dem das Ziel formuliert wurde, Individuen davon abzuhalten, sich extremistischen Ideen zuzuwenden. Um dies zu erreichen, wurden vier unterschiedliche Ansätze entwickelt: die Verbreitung gemeinsamer Wertvorstellungen4 (promoting shared values), die Unterstützung der lokalen Ebene (supporting local solutions) unter anderem in

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Dabei ist bemerkenswert, dass die Debatte darum, worin diese überhaupt bestehen, zu dieser Zeit sehr breit und kontrovers geführt wurde. Die Idee »britischer« Werte wurde dabei auch teils sehr kritisch gesehen. Zu unterschiedlichen Positionen im Rahmen dieser Debatten siehe u.a. die Aufsätze von Arun Kundnani (Kundnani 2007) und Tariq Modood (Modood 2010).

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den Bereichen Kultur und religionsübergreifende Zusammenarbeit, die Stärkung der Zivilgesellschaft (building civic capacity and leadership) und die Stärkung der Rolle muslimischer Organisationen (strengthening the role of faith institutions and leaders; Department for Comunities and Local Government 2007b, 5-12). Bei Prevent handelt es sich um einen Teil der nationalen Antiterrorstrategie CONTEST, der seither breit diskutiert und in regelmäßigen Abständen aktualisiert wurde. CONTEST umfasst vier Teilbereiche, von denen drei – Pursue, Protect und Prepare – auf den konkreten Umgang mit Anschlägen abzielen. Demgegenüber sollen im Rahmen von Prevent Radikalisierungsprozesse verhindert oder frühzeitig erkannt werden, um Interventionen zu ermöglichen und die Gefahr von Anschlägen im Vorfeld zu reduzieren. In den ersten Prevent-Strategien richtete sich das Programm in besonderer Weise an Muslim*innen, 2011 wurden nach der Evaluation durch Lord Carlile (Carlile 2011) die Zielgruppen des Programms erweitert. So werden insbesondere rechtsextreme Aktivitäten verstärkt einbezogen, wenngleich islamistischer Terrorismus weiterhin einen Schwerpunkt bildet. Prevent soll also Radikalisierungsprozesse stoppen und auf diese Weise Terrorismus verhindern (Home Office 2011a). Mit der aktuellen CONTEST-Strategie ist weiterhin die Wiedereingliederung von Menschen hinzugekommen, die bereits in Tätigkeiten involviert waren, die als terroristisch eingestuft werden (HM Government 2018, 31). Ein wesentlicher Aspekt, der Prevent auszeichnet und für den vorliegenden Zusammenhang besonders von Interesse ist, ist die Zusammenarbeit von Behörden und Regierungsorganen mit Minderheitenorganisationen, Bildungseinrichtungen und Sozialarbeit. In der Art und Weise, wie Organisationen adressiert werden, und in den Materialen, die zur Auseinandersetzung mit dem Phänomen Terrorismus dienen sollen, finden sich Zuschreibungen u.a. von Geschlecht und Alter, die darauf hinweisen können, unter welchen Bedingungen Präventionsarbeit aus Sicht der Prevent-Strategie stattfindet und inwieweit hier die Gefahr besteht, einzelne Gruppen zu homogenisieren. So wurden muslimischen Frauen als möglicher positiver Einfluss auf lokaler Ebene adressiert (Department for Comunities and Local Government 2007b, 9), während Jugendlichen eine besondere Anfälligkeit für Extremismus attestiert wird (Department for Comunities and Local Government 2007b, 8). Für die Arbeit von Prevent wurden große Summen zur Verfügung gestellt, sodass dieses Programm einen Einfluss auf die Finanzierungsstrukturen von sozialer Arbeit besonders in Städten hatte. Die Budgets lagen bis 2015 jährlich zwischen 35 und 40 Millionen Pfund5 , wovon nach Aussage des britischen Innenministeriums ca. fünf Millionen für die Arbeit auf lokaler Ebene in den mehrheitlich urbanen Schwerpunktgebieten (priority areas) vorgesehen waren. Damit verschob sich der Umgang mit Minderheiten in Großbritannien, denn im Gegensatz zu den vorherigen multikulturellen Politiken, 5

Die Angaben stammen aus einem Antwortschreiben des britischen Innenministeriums vom Frühjahr 2015.

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die Gruppen in erster Linie über ethnische und nationale Kategorien adressierten, rückte Religion stärker ins Zentrum und wurde eine Grundlage, über die Gelder für Kampagnen und Projekte zur Verfügung gestellt wurden. Weiterhin hat die Strategie sicherheitspolitische Maßnahmen in unterschiedlichen Ländern beeinflusst und war damit auch über den britischen Kontext hinaus wirksam (Thomas 2012). Im Rahmen der Prevent-Strategie wurde gerade in den Anfangsjahren ein Zusammenhang zwischen »fehlender Integration« und Radikalisierung gezogen, der kulturalisierende und ethnisierende Tendenzen im Umgang mit bestimmten Stadtvierteln stützte. Dies zeigt sich zum einen in der institutionellen Verankerung der Strategie, die bis 2011 nicht nur durch das Innenministerium, sondern auch über das Department für Communities and Local Government koordiniert wurde, und dem Ansatz, Gelder für Communities zur Verfügung zu stellen, um bestimmte Repräsentationsstrukturen zu unterstützen (Department for Comunities and Local Government 2007b). Zum anderen zeigt sich dies auch in Debatten um die Möglichkeiten und Grenzen einer Verbindung von Prevent mit der Arbeit der Commission on Integration and Cohesion. So gab es bereits früh eine Kritik an diesen Tendenzen, die jedoch nur eingeschränkt wirksam war: Während die Commission on Integration and Cohesion in ihrem Bericht von 2007 erklärt, dass die Arbeit zur Stärkung von Communities von Antiterrormaßnahmen getrennt werden müsse, zeigt die Verzahnung der Zuständigkeiten sowie die Durchführung von Maßnahmen sozialer Arbeit zur Stärkung von Jugendlichen oder muslimischen Frauen als Teil der Prevent-Strategie, dass dies zumindest in den ersten Jahren des Programms nicht der Fall war (Commision on Integration and Cohesion 2007, 48; HM Government 2007, 7). Prevent entfachte daher eine breite Debatte über die Möglichkeiten und Grenzen einer Verbindung von sozialer Arbeit und Prävention. In den frühen Jahren wurde insbesondere der Fokus auf Muslim*innen und Stadtviertel, deren Bevölkerung mehrheitlich muslimisch war, als stigmatisierend kritisiert. Konkrete Maßnahmen waren bereits früh auf lokaler Ebene angesiedelt und betrafen unter anderem die Bereiche Kultur, Politik oder Sport (Department for Comunities and Local Government 2008). Nach 2011 verstärkte sich diese Tendenz in der Bildung von priority areas, die vom Innenministerium bestimmt und in denen Prevent-Aktivitäten besonders gefördert werden (Home Office 2011, 2021). Durch die Strategie sahen sich Muslim*innen in Großbritannien als Gemeinschaft unter Generalverdacht gestellt (Kundnani 2007), sodass die Strategie als ein Teil der politischen Maßnahmen betrachtet werden kann, die die Politikwissenschaftlerin Haleh Afshar als Politik der Angst (politics of fear) bezeichnet hat. Aus ihrer Sicht transportieren diese Maßnahmen rassifizierende und antimuslimische Zuschreibungen und tragen auf diese Weise zu Prozessen des Otherings, also der Konstruktion von Muslim*innen als Fremde, bei (Afshar 2013).

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Prevent verstärkt diese Tendenzen, beispielsweise indem bis heute ein Dualismus von »moderaten Muslim*innen« und »Extremist*innen« angenommen wird, der die Grundlage dafür bildet, ob Einzelpersonen und Gruppen als Sicherheitsrisiko wahrgenommen werden. Eine Kritik an der Konstruktion eines solchen Dualismus ebenso wie die Frage, inwieweit die in das Programm eingebundenen Vertreter*innen muslimischer Communities Legitimität für sich beanspruchen können, werden auf diese Weise unterbunden (Kundnani 2009, 35ff.). Auch wenn die Formulierung »moderat« nicht mehr ausdrücklich in den aktuelleren Veröffentlichungen verwendet wird, bleibt diese Unterscheidung mit dem Fokus auf Extremismus bestehen (HM Government 2018). Sie blendet die Vielfalt von Menschen, die sich als Muslim*innen verstehen und dabei auf eine Vielzahl von Definitionen und Zuschreibungen zurückgreifen, aus und stellt nicht nur ein strukturelles Problem dar. Vor dem Hintergrund dessen, dass Prevent in den vergangenen Jahren zunehmend Bildungsinstitutionen in die Präventionsarbeit eingebunden hat, besteht die Tendenz der Stigmatisierung nach wie vor: Kindergärten, Schulen und Betreuungseinrichtungen sind seit 2015 gesetzlich verpflichtet, individuelle Verdachtsfälle an die Behörden zu melden, damit Maßnahmen zur Prävention eingeleitet werden können. Prevent-Maßnahmen wurden damit auf ein sehr junges Alter ausgeweitet (Department of Education 2015, 5). So kann zwar festgestellt werden, dass die Debatten, die das Programm mit sich gebracht hat, Wirkungen hatten, grundlegende Tendenzen der Stigmatisierung dadurch aber keinesfalls verschwunden sind. Um das mit Präventionsmaßnahmen einhergehende Diskriminierungspotenzial – nicht zuletzt auch im Sinn erfolgreicher Prävention – zu kritisieren, stellt Prevent vor diesem Hintergrund ein geeignetes Beispiel dar: Erstens ist der Versuch, soziale Arbeit und Prävention zu verbinden, nicht einfach als Top-DownMaßnahme zu verstehen, sondern auch in Zusammenarbeit mit Vertreter*innen muslimischer Organisationen und Einzelpersonen aus der Zivilgesellschaft erarbeitet worden (Home Office 2005). Daran zeigt sich, dass eine Einbindung von Zielgruppen dazu führen kann, dass sie diskursiv homogenisiert werden und Diversität zu wenig berücksichtigt wird. Sie kann eine Präventionsstrategie darstellen, ist aber nicht per se dazu geeignet, Diskriminierung zu verhindern. Zweitens kann das Programm in seinem Verlauf betrachtet werden und somit können auch die Anpassungen, die u.a. in Reaktion auf die Kritik an diskriminierenden Tendenzen vorgenommen wurden, in den Blick genommen werden. Im folgenden Abschnitt wird der Schwerpunkt auf die Teile der PreventStrategie gelegt, bei denen muslimische Frauen als Zielgruppe von Maßnahmen fungierten. Ein Teil dieser Maßnahmen, die zunächst recht breit implementiert wurden, wurde 2011 beendet. Doch auch danach blieben einzelne Projekte bestehen, die in Kooperation mit der Polizei durchgeführt wurden und PreventArbeit mit muslimischen Frauen durchführten. Besonders sichtbar war hier unter anderem die Londoner Organisation Inspire, die von muslimischen Frauen

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gegründet wurde und mindestens bis 2017 in diesem Feld aktiv war. Auch wenn die Projekte, die im Folgenden vorgestellt werden, in dieser Form nicht mehr existieren, bietet gerade dieses Beispiel einen guten Ansatzpunkt, um sich mit Maßnahmen sozialer Arbeit und kulturellen Aktivitäten als Teil einer Antiterrorstrategie auseinanderzusetzen. Hier werden soziale Differenzen deutlich, die darauf hinweisen, dass eine intersektionale Perspektive auf das Feld der Präventionsarbeit hilfreich sein kann, um deren Auswirkungen zu evaluieren und ggf. auch Alternativen zu entwickeln. In den ersten Jahren standen muslimische Frauen als eine der Kernzielgruppen im Zentrum von Prevent. Ihr Empowerment sollte dabei behilflich sein, Radikalisierungsprozesse zu stoppen oder frühzeitige Interventionsmöglichkeiten für die Behörden zu schaffen. Damit einher ging eine Rhetorik, die einerseits eine gesellschaftlich marginalisierte Position muslimischer Frauen annahm und sie andererseits für Antiterrormaßnahmen mobilisieren sollte. Konkret wurden zu diesem Zweck erstens Empowerment-Trainings auf lokaler Ebene angeboten und zweitens Kampagnen muslimischer Frauenorganisationen unterstützt, die die gesellschaftliche Rolle muslimischer Frauen thematisierten und für »moderate«6 Auslegungen des Islam warben. Drittens wurden Vernetzungsprozesse muslimischer Frauenorganisationen initiiert und unterstützt. Eine Kooperation zwischen Bildungseinrichtungen, Wohlfahrtsorganisationen, sozialer Arbeit und lokalen Verwaltungen mit den Polizeibehörden wurde bereits in den ersten Jahren angestrebt und ist bis heute ein wesentlicher Aspekt der Strategie (Peeck-Ho 2017).

Muslimische Frauenorganisationen und Prevent Muslimische Frauenorganisationen, die als Empfänger von Prevent-Geldern fungierten und damit die wesentlichen Ansprechpartner des britischen Staats waren, positionieren sich meist als British Muslim Women und grenzen sich damit zumindest zum Teil auch von den klassischen multikulturellen Diskursen ab. So erläutert eine Interviewpartnerin über die Gründung ihrer Organisation in den 1980er Jahren: »We were seeing ourselves as British Muslims way back then. When people weren’t even thinking about it. Because we were being put into these silos, like for example Afro-Caribbean. First of all, it was Black – White in antiracism. It was Black and White, these two monoliths, when they started to implement policies 6

Die Frage, was als »moderat« und was als »extremistisch« gilt, ist nicht trennscharf bestimmt und selbst Gegenstand der Kritik am Programm geworden. Unter anderem verwechsle man die Zustimmung zu politischen Programmen der britischen Regierung mit »moderaten« Auslegungen des Islam (Kundnani 2009, 35ff.).

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that people have different needs. So okay, we have Black needs and Asian needs, you know. You could be an ethnic or racial group. You couldn’t be Muslim, you couldn’t be a faith group. And that was a problem for us, because we were multiethnic, and as British citizens, we saw ourselves being from here. … Asian needs or Black need, what does that mean? You know you’ve got a whole continent and you’re not even thinking about the whole continent of Asia. You’re thinking of India, Pakistan and Bangladesh. And then, it depends on where you live. If you are in Tower Hamlets, that means (unv.) Hindus, if you are in Brent or Leicester, that means Gujarati Hindus. Or if you’re in Bradford, it meant Pakistanis. So, it was different and, you know, they were confusing all these needs.« (Interview mit Djamila, November 2013) Die Interviewpartnerin betont die Vielfalt von Menschen, die im Zuge von Antidiskriminierungspolitiken zusammengefasst wurden, und erklärt wiederholt, dass muslimische Frauen aus ihrer Sicht stärker in politische Prozesse eingebunden sein sollten. Damit artikuliert sie einerseits eine grundlegende Konfliktlinie in den Auseinandersetzungen um Multikulturalismus in Großbritannien, die im Zuge von Prevent zum Teil aufgegriffen wurde. Muslimische Frauen können ihre religiös begründeten Bedarfe nur sehr eingeschränkt im Rahmen multikultureller Politiken, die ethnische Kategorien zu Grunde legen, verwirklichen. Darüber hinaus waren auch die Repräsentationsorgane von Muslim*innen lange Zeit wesentlich durch Männer geprägt, sodass einige Aktivist*innen in den Interviews ausdrücklich betonten, dass sie eigene Organisationen gegründet haben, weil Frauen in den bestehenden Organen (insbesondere dem Muslim Council of Britain (MCB)) nur in kleiner Zahl und nicht in entscheidenden Positionen vertreten waren. Dieser Konflikt um die Repräsentation der Communities war bereits in den 1990er Jahren ein Thema wissenschaftlicher Studien (Burlet/Reid 1998) und setzt sich in den Diskursen um Prevent teils fort. Auf einer generalisierten Ebene zeigt sich hier, dass Diversität im Rahmen von Politiken, die Minderheiten adressieren, oft zu wenig berücksichtigt wird, dies aber notwendig ist, um über einfache Forderungen nach Integration hinauszuweisen. Repräsentation im symbolischen wie politischen Sinn spielt auch für Präventionsarbeit eine Rolle: Wer wird als potenzielle*r Terrorist*in adressiert, wer als potenzielle Unterstützergruppe? Welche Stereotype sind damit verbunden? Wer spricht zudem für eine Community innerhalb eines Stadtviertels? All diese Fragen spielen im Kontext von Minderheitenpolitik eine Rolle und bekommen im Fall des Themenfelds Prävention eine besondere Bedeutung, da die enge Verbindung zu Sicherheit neue Legitimationen für Exklusion schafft. Dies zeigt sich auch in der Ansprache muslimischer Frauen im Rahmen der Prevent-Strategie. Diskurse, die eine fehlende Integration muslimischer Bevölkerungsgruppen in die britische Gesellschaft annehmen, werden hier mit

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sicherheitspolitischen Fragen verknüpft. Der Community Leadership Fund des Programms richtete sich insbesondere an Muslim*innen. Zielgruppen waren neben Frauen beispielsweise Jugendliche und faith leaders, insbesondere Imam*innen (Department for Comunities and Local Government 2007a). Die Mittel, die zur Verfügung gestellt wurden, dienten auch der Finanzierung von EmpowermentProgrammen für muslimische Frauen, sodass sicherheitspolitische Erwägungen mit Gleichstellungsmaßnahmen verbunden wurden. Dabei spielte die Vorstellung resilienter Communities als Zielsetzung eine wichtige Rolle: »Projects should enable women to take action to tackle violent extremism, for example by supporting women to challenge violent extremist ideologies, engage with and support vulnerable individuals and build community resilience to violent extremist ideas and influences. In order to support women to take a proactive leadership role on preventing extremism, we will consider funding projects which: enable women to acquire the skills and confidence to seek positions of leadership; empower Muslim women to play a full and active role within their communities and wider society; address the barriers to full and equal participation of women within communities and wider society. All empowerment work should show how the women who benefit from the project will use this to take forward work related to preventing extremism.« (Government 2007a, 6) Führungsstrukturen in den Communities wurden demzufolge eng mit Aktivitäten gegen Extremismus verbunden. Neben den Empowerment-Trainings, die weiter unten diskutiert werden, bestand eine der wesentlichen Maßnahmen zur Stärkung muslimischer Frauen im Rahmen des Programms in der Unterstützung von Vernetzungsprozessen und der Bildung von Repräsentationsorganen. Das zentrale Beispiel aus den ersten Jahren der Prevent-Strategie war die Muslim Women’s Advisory Group, eine Gruppe aus zunächst 19, später 26 muslimischen Frauen, die von der Regierung von Gordon Brown einberufen wurden, um politische Entscheidungsträger*innen zu beraten (Allen/Guru 2012). Damit wurden ihnen quasi repräsentative Aufgaben zugesprochen, wobei vor diesem Hintergrund kritisch nachzufragen ist, wie diese Funktion vonseiten der Communities legitimiert wurde. Die damalige Ministerin im Department for Comunities and Local Government, Hazel Blears, beschreibt sie als »Vorbilder« und »Botschafterinnen« (Department for Comunities and Local Government 2008, 3) und betont die Verzahnung von lokaler und nationaler Ebene, zu der die Muslim Women’s Advisory Group beitragen sollte. Ein Topos, der sich hier sowie in vielen der Veröffentlichungen zu Prevent zeigt, besteht in einer angenommenen Notwendigkeit von Vorbildern für muslimische Frauen. Die Mitglieder der Muslim Women’s Advisory Group wurden nicht zuletzt aufgrund der Überlegung gewählt, dass sie eben diesen Vorbildcharakter erfüllen könnten. So zeigt sich in der Analyse eine Verknüpfung von Gleichstellungspolitik, sozialer Arbeit und Präventionsmaßnahmen, die nicht ohne Weiteres trenn-

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bar sind. Dies brachte eine Reihe von Problemen und internen Konflikten mit sich (s.u.), die besonders deutlich wurden, als Shaista Gohir, ein führendes Mitglied, öffentlich die Legitimität der Gruppe in Frage stellte und das Scheitern der Gruppe damit öffentlich machte (Allen/Guru 2012). An die Stelle der Muslim Women’s Advisory Group traten andere Repräsentationsorgane, wobei insbesondere der Dachverband muslimischer Frauenorganisationen Muslim Women’s Network UK herausragend ist, in dem auch Gohir eine tragende Rolle spielt. Indem Muslim Women’s Network UK regelmäßig seine Mitglieder befragt, ist das Problem der fehlenden Repräsentativität zumindest teilweise gelöst. Gleichzeitig war gerade der Umgang mit Geldern für Präventionsmaßnahmen lange Zeit sehr umstritten, sodass die Nutzung von Prevent-Geldern heute (zumindest offen) vermieden wird.

Positionierungen zur Prevent-Strategie Bereits oben wurde deutlich gemacht, dass das Empowerment von Frauen im Kontext von Prevent nicht als Selbstzweck diente, sondern als Mittel im Kampf gegen Terrorismus. Dies führte einerseits zu Konflikten innerhalb des Felds muslimischer Frauenorganisationen u.a. darum, ob es legitim sei, Prevent-Gelder anzunehmen. Die Positionen zum Programm selbst sind nicht einheitlich und hängen u.a. damit zusammen, welche Gründe Organisationen für Radikalisierung identifizieren und welche Rolle sie im Rahmen von Prevent spielen. Man kann in den Erklärungsansätzen, die Aktivist*innen für Radikalisierungsprozesse geben, zwischen der Betonung sozialer Faktoren (u.a gesellschaftlicher Marginalisierung, Diskriminierung und Ungleichheit oder dem Einfluss des sozialen Felds), dem Verhältnis zum Islam als soziokulturellem Raum (u.a. außenpolitischer Entwicklungen) und Konstruktionen von Islamismus (u.a. der Popularität einzelner Personen, der Attraktivität antiwestlicher Narrative für Jugendliche) unterscheiden. Vor diesem Hintergrund betonen Organisationen, dass sie einen Bedarf für soziale Arbeit und andere Maßnahmen für muslimische Jugendliche identifizieren, dieser aber nicht in Verbindung mit der Antiterrorstrategie stehen solle, da dies marginalisierende Tendenzen eher verstärke (Peeck-Ho 2017, 156ff.). Gerade die Position von Kindern und Jugendlichen, die früher über soziale Arbeit und heute über die Integration von Prevent in den Bildungssektor eine der wesentlichen Zielgruppen bleiben und dabei gleichzeitig als potenzielles Risiko gefasst werden, das es einzuschätzen und zu bekämpfen gilt, steht dabei oft im Zentrum, beispielsweise in folgendem Zitat: »We agree that socio-economic deprivation, and barriers to full and equal participation in society (i.e. discrimination) can lead to alienation, and that this may be a pre-condition that makes people more open to the message of extremist recruiters. We feel that this should be the primary focus for development, but not

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branded as PVE … We feel the Government does not place sufficient emphasis on the impact of islamophobia – both direct and institutional – particularly on young people’s sense of belonging and identity.« (Organisation 6, 2009) Die Tatsache, dass einzelne Initiativen und Organisationen Prevent-Gelder erhalten und sogar Empowerment-Workshops durchgeführt haben, hat Konflikte innerhalb des Felds muslimischer Frauenorganisationen ausgelöst, da diskriminierende Tendenzen aus Sicht vieler Aktivist*innen nicht bekämpft, sondern vielmehr reproduziert wurden. Diese Konflikte hängen auch damit zusammen, dass viele Aktivist*innen in Prevent eine Überwachungsmaßnahme sahen, die Frauen dazu bringen sollte, ihre eigenen Kinder auszuspionieren. Auf die Frage, was sie von der Idee eines Empowerments muslimischer Frauen im Rahmen von Prevent hält, antwortet Djamila: »What rubbish that was. … I went to a police meeting and they said ›You know, as mothers you should go and inspect your children’s pockets and see what they’re up to, see if they’re into terrorism‹. … But anyway, the point is that they wanted to use women or mothers or whatever as a way to spy on their children. So basically, they wanted to work with women’s groups.« (Interview mit Djamila, November 2013) Andere betonen, dass sie die Abhängigkeit von Prevent-Geldern vermeiden wollen und es daher bevorzugen, mit kleinen Budgets zu arbeiten. Eine Aktivistin antwortet dementsprechend auf die Frage nach der Position zur Strategie: »Is criminalizes the community. … it’s not good to take any money that makes you not be able to do any activity. So that I wouldn’t want to limit us. If we get funding to get a coach, to take families to a farm, we use that money for a coach, we can’t use it for something else, that’s fine. But if we’re getting money for a Muslim women’s group for the social education activities we run, then we’re limited to what we can use it for. Or we have to, you know, somebody is watching. That’s not healthy. That’s not a healthy attitude, [an] environment for us to function in. So, we don’t need that sort of money.« (Interview mit Ayasha und Yamina, November 2013) Der Hinweis auf die Kriminalisierung der Community, der eingangs kommt, wird hier zwar nicht ausgeführt, trifft aber einen Kern der Kritik, die Aktivist*innen formuliert haben. Interessanterweise wurden in den ersten Jahren von Prevent immer wieder Organisationen und Vereine gegründet, die mit den Geldern aus der Strategie arbeiteten, sich im Laufe der Zeit aber entweder auflösten oder sich öffentlich gegen das Programm wandten. Für die große Mehrzahl der muslimischen Frauenorganisationen überwogen die Nachteile von Maßnahmen sozialer Arbeit, die gleichzeitig der Prävention gegen Terrorismus dienen sollten. Einzelne Organi-

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sationen haben demgegenüber Prevent-Maßnahmen maßgeblich mitgestaltet und umgesetzt. Eine Aktivistin, die 2013 innerhalb des Project Shanaz aktiv war, einem Versuch seitens der Polizei, die Kooperation mit muslimischen Frauenorganisationen zu stärken, erklärt das über den Wandel innerhalb der Strategie selbst: »I think from the Prevent strategy, we’ve come a long way. When it first came to form, it was very Islam-focused, it was very Muslim-focused. As time’s gone on, islamophobia has slowly, slowly gone into the background. And now, you know, we need to look at what’s within Asian communities. However, I disagree, Prevent is in any form, it’s not just the Muslim communities. So, yes, they’re saying that we need to focus on this, this, this. No, we need to focus on all communities, not just one faith-based community. Because if you look at Prevent’s lines of defining extremism and we go back to the IRA days. There was the Irish group and they were classified as a far-right group. We go to the EDL, they are a White fascist group, they are classified as an extremist group. So why aren’t we focussing on all communities? Why are we specifically focussing on the Muslim communities? That’s where I disagree with it.« (Interview mit Chalisa, November 2013) Im Rahmen von Project Shanaz wurde versucht, Prevent-Maßnahmen im Rahmen der Prevent-Strategie von 2011 fortzuführen, und die Aktivistin betont dementsprechend die Unterschiede zum vorherigen Ansatz. In anderen Interviews wird die Arbeit mit Prevent-Mitteln darüber begründet, dass entweder die Ziele der Strategie geteilt werden oder dass das Programm Repräsentationsorgane muslimischer Frauen unterstützt und neue Möglichkeiten politischer Teilhabe geschaffen hat. In den letzten Jahren ist es – nicht zuletzt auch mit den neuen Maßnahmen im Rahmen von Prevent – ruhiger um diese Projekte und Organisationen geworden. Prevent taucht in der Regel nur noch am Rande in Veröffentlichungen auf und wird dann meist kritisch thematisiert. Eine Folge der Kritik an Prevent, die auch von der oben zitierten Aktivistin betont wird, war zudem die Umwidmung von PreventGeldern auf lokaler Ebene, die in einigen Fällen für soziale Arbeit mit Jugendlichen genutzt wurden, ohne dabei besonders auf muslimische Jugendliche zu fokussieren. In anderen Fällen haben Frauenorganisationen die Gelder genutzt, um damit Kampagnen zu finanzieren, die generell die Vielfalt muslimischer Frauen in Großbritannien zeigen sollten und deren Ziel es war, positive Vorbilder für junge Mädchen zu schaffen.

Schlussfolgerungen Vor dem Hintergrund der hier skizzierten Debatten kritisieren Organisationen, aber auch Wissenschaftler*innen Prevent als Programm, das Exklusion eher verstärkt als bekämpft. Die diskursiven Verbindungen zwischen Forderungen nach

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Integration, die sowohl gesamtgesellschaftlich als auch in der Präventionsarbeit eine Rolle spielten, weisen auf einige Problemstellungen hin, die es gilt, im Kontext der Entwicklung von Präventionsmaßnahmen zu berücksichtigen. Erstens betreffen sie das Themenfeld Kulturalisierung und Homogenisierung städtischer Räume: Präventionsmaßnahmen, die ethnisch-religiös definierte Communities als Adressanten von Präventionsmaßnahmen definieren, laufen Gefahr, rassistische und integrationistische Diskurse zu stärken, die letztendlich gesellschaftliche Inklusion eher verhindern, als dass sie sie fördern. Dies ist nicht nur ein grundlegendes Problem innerhalb pluraler postmigrantischer Gesellschaften, in denen Fragen der Repräsentation und Zugehörigkeit neu verhandelt werden, sondern steht dem Erfolg einer Prävention von Extremismus entgegen. Dies gilt zweitens auch für eine Verknüpfung von Gleichstellungsmaßnahmen und Präventionsarbeit. Auch wenn es im Zuge der Prevent-Strategie durchaus Teilerfolge insofern gab, als dass sich neue Organisationen gründen und Projekte finanzieren konnten, führte die Tatsache, dass dies unter dem Vorzeichen des Kampfs gegen Terrorismus geschah, zu Konflikten zwischen den muslimischen Frauenorganisationen, die eigentlich durch das Programm gefördert werden sollten. Viele Aktivist*innen nahmen das Programm eher als Überwachungsmaßnahme, nicht als Empowerment wahr. In der Prevent-Strategie finden sich unterschiedliche Diskurse und damit verbundene politische Forderungen wieder. Zum einen werden Konflikte um Repräsentation innerhalb der Communities aufgegriffen, wodurch bis zu einem gewissen Grad erklärt werden kann, dass die Strategie zunächst von einigen Vereinen und Organisationen begrüßt wurde. Bezieht man die gesellschaftspolitischen Diskurse ein, die die Strategie begleiteten, kann sie ferner als Teil eines Narrativs identifiziert werden, in dem Muslim*innen nur eingeschränkt als Teil der britischen Gesellschaft begriffen wurden. Im Jahr 2006 veröffentlichte Muslim Women’s Network UK, der Dachverband muslimischer Frauenorganisationen in Großbritannien, die Ergebnisse einer Bedarfsstudie, die ermitteln sollte, an welchen Themen muslimische Frauen in Großbritannien interessiert sind und wie sie sich innerhalb der britischen Gesellschaft positionieren. Ein wichtiges Ergebnis betraf die Diskurse um Integration, die wir auch aus dem bundesdeutschen Kontext kennen. So stellt die Studie fest: »Two thirds of Muslims identify as British. Many women felt that the so-called ›Muslim identity crisis‹ is a media myth, but others reported feeling excluded and alienated by other people’s attitudes. There was a sense of irritation and confusion about the constant demands on Muslims to ›integrate‹. Women felt that they are British and proud to be. Many felt that calls for them to be ›integrated‹ into a country they already feel part of have racist and xenophobic overtones, which make them feel rejected by the majority community. There was strong support for multi-cultural and multi-faith communication. Women felt there was a lack of

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communication amongst all faiths and that this was something all communities should tackle together.« (Muslim Women’s Network UK 2006, 38) An anderer Stelle wird darauf verwiesen, dass der Eindruck besteht, sich zwischen der Identifikation mit Großbritannien als Nation und der Religion entscheiden zu müssen (Network 2006, 12). Die oben genannte Verknüpfung von race, citizenship und religion wird unter anderem in diesen Aussagen deutlich. Es ist wichtig zu betonen, dass im Zitat ein grundlegender Widerspruch »integrationistischer« Diskurse (Kundnani 2007) deutlich wird, denn es handelt sich um Frauen, die in der Mehrzahl im Land geboren und aufgewachsen sind und die vor diesem Hintergrund den Eindruck haben, dass die Forderungen nach Integration, wie sie in gesellschaftspolitischen Diskursen in dieser Zeit sehr häufig formuliert wurden, wenig Bezug zu ihren Lebensrealitäten haben. Geht man davon aus, dass gesellschaftliche Exklusion bei Individuen einen Risikofaktor für Radikalisierung darstellen kann, zeigt sich hier, wie gesellschaftliche Diskurse um Integration exkludierende Wirkungen besitzen und insofern den Zielen von Präventionsarbeit entgegenstehen können. Eine postmigrantische und intersektionale Perspektive auf Gesellschaft versucht demgegenüber den Lebensrealitäten unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, in diesem Fall muslimischer Frauen, die im Rahmen von Prevent adressiert werden sollten, zumindest ansatzweise gerecht zu werden, ohne ihnen vorschnell bestimmte Rollen zuzuweisen. Für Präventionsarbeit bedeutet dies beispielsweise, dass Bezüge zu Terrorismus in der sozialen Arbeit mit bestimmten Zielgruppen, die bisher nicht durch dementsprechende Aktivitäten aufgefallen sind,7 vermieden werden sollten. Es ist wichtig, Menschen, die wie im vorliegenden Beispiel einen bestimmten Glauben haben, nicht als potenzielle Terrorist*innen, Unterstützer*innen von Terrorismus oder Verwandte von Terrorist*innen zu adressieren, da damit suggeriert wird, dass sie für Terrorismus verantwortlich seien. Vor diesem Hintergrund ist eine deutliche Trennung zwischen den Zielsetzungen der sozialen Arbeit und der Prävention inklusive der jeweiligen Finanzierungstöpfe sinnvoll. Präventionsarbeit, die die gesamte Gesellschaft adressiert, kann Partizipation innerhalb einer von Diversität geprägten Gesellschaft thematisieren. Anders als das in der aktuellen Prevent-Strategie der Fall ist, geht es dann aber nicht um Maßnahmen, die Gefahr laufen, Stereotypisierungen über »Risikoeinschätzungen« zu reproduzieren, sondern um einen Austausch über die grundlegenden Werte einer Gesellschaft, beispielsweise im Sinn von »Inclusive Citizenship Education« (Lange/Kleinschmidt 2016).

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Diese Schlussfolgerungen beziehen sich ausdrücklich nicht auf die Frage, wie beispielsweise mit Rückkehrer*innen aus den Gebieten des sogenannten Islamischen Staats und vergleichbaren Fällen umgegangen werden sollte, da die Sachlage hier anders zu sein scheint.

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Resiliente Räume und Zusammenhalt

Teilhabe, Zusammenhalt und Vernetzung als  stadtteilorientierte Ansätze der Resilienzstärkung Britta Hecking, Victoria Schwenzer

Abstract Basierend auf Forschungserbnissen aus dem Projekt Resiliente Sozialräume und Radikalisierungsprävention befasst sich der vorliegende Beitrag mit den resilienten Potenzialen städtischer Quartiere gegenüber religiös begründeter Radikalisierung am Beispiel eines Stadtteils und seiner Einbettung in ein kommunales Netzwerk gegen religiös begründete Radikalisierung. Mit Bezug auf Ansätze aus der community- und quartiersbezogenen Resilienzforschung wird argumentiert, dass eine dichte soziale Infrastruktur und eine gewachsene Kultur des bürgerschaftlichen Engagements dazu beitragen, Teilhabe und Zusammenhalt im Stadtteil zu stärken. Dies wiederum unterstützt die Resilienzbildung gegenüber Polarisierung und religiös begründeter Radikalisierung.

Einleitung Während es in der Gewalt-, Kriminalitäts- und Rechtsextremismusprävention in Deutschland bereits viel Erfahrung mit kommunalen oder sozialraumorientierten Ansätzen der Prävention gibt, sind diese im Themenfeld der religiös begründeten Radikalisierung eher neu. Im Fokus stehen meist Förderquartiere sozialer Stadtentwicklungspolitiken, da es hier bereits sozialraumorientierte Ansätze gibt, an die Akteure der Präventionsarbeit anknüpfen können. Gleichzeitig birgt die Implementierung raumbezogener Präventionskonzepte ein Stigmatisierungspotenzial, insbesondere wenn diese top-down entwickelt und umgesetzt werden. Als negatives Beispiel hierfür gilt z.B. das britische Prevent-Programm (vgl. Peek-Ho in diesem Band). In einigen aktuellen Studien (Ellis/Abdi 2017; Grossman et al. 2017; Weine 2012), die sich mit religiös begründeter Radikalisierung und Extremismus befassen, rückt darum die Idee der Resilienzstärkung aus der Community-Forschung in den Fokus, die auf Potenziale statt Risiken und auf partizipative Ansätze statt Topdown-Strategien setzt.

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Britta Hecking, Victoria Schwenzer

Auch in unserem qualitativen Forschungsprojekt Resiliente Räume und Radikalisierungsprävention1 nehmen wir eine raumbezogene Perspektive auf Resilienz gegenüber religiös begründeter Radikalisierung2 ein. Im Zentrum steht dabei die Frage, welche Rahmenbedingungen, Ressourcen, Akteure, Netzwerke, Beziehungen und Angebote im Sozialraum einzeln, vor allem aber in ihrem Zusammenwirken zur Resilienzbildung dieses Raums3 beitragen. Als Sozialräume bezeichnen wir territorial definierte Stadtteile, die wir in unserem Forschungsprojekt in ihrer Bedeutung als soziale Räume untersuchen, welche entsprechend der jeweiligen Aktivitäts- und Alltagsräume der Bewohner*innen auch über die Grenzen des Stadtteils hinausgehen können. Sie sind sowohl mit translokalen als auch mit digitalen Räumen verknüpft. Diese Forschungsperspektive beruht auf der Annahme, dass in resilienten Räumen, auch wenn es dort bestimmte Risikofaktoren gibt, Schutzfaktoren vorhanden sind, die Radikalisierung vorbeugen, Verläufe stoppen oder Verankerungen extremistischer Akteure in einem Stadtraum verhindern können. Im vorliegenden Beitrag wollen wir am Beispiel des Stadtteils »Bebenhausen«4 und mit Blick auf den Forschungsstand zur raumbezogenen Resilienzforschung die Schutzfaktoren sozialer Zusammenhalt, Beteiligung und Vernetzung in Bezug auf ihre Wirkung gegenüber religiös begründeter Radikalisierung diskutieren. Dabei sollen sowohl die Potenziale als auch einige Herausforderungen der sozialraumorientierten Resilienzstärkung und Radikalisierungsprävention aufgezeigt werden. Ausgehend von der Annahme, dass Resilienzen lokalspezifisch wirken (dazu Einleitung dieses Sammelbands), haben wir die Ergebnisse aus den beiden im Projekt untersuchten Sozialräumen getrennt analysiert5 . Eine Zusammenführung der Ergebnisse und eine Anregung zu deren Übertragung und Nutzung zur Resilienzstärkung in anderen Sozialräumen oder Stadtteilen werden wir in Form eines Leitfadens aufarbeiten.

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Das qualitative Praxisforschungsprojekt wurde von 2019 bis 2022 durch das Bundesprogramm Demokratie leben! des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert. Zur Definition des Begriffs der religiös begründeten Radikalisierung siehe Einleitung in diesem Sammelband. Der Resilienzbegriff wird unter Bezugnahme auf den Raumbegriff in der Einleitung dieses Sammelbands ausführlich erläutert. Wir fassen »Resilienz« hier als Widerstandsfähigkeit gegenüber Krisen und Bedrohungen. Es handelt sich um ein Pseudonym. Unsere Forschungsergebnisse in Bezug auf den zweiten untersuchten Stadtteil sind im Beitrag von Schwenzer/Hecking in diesem Sammelband zusammengefasst.

Teilhabe, Zusammenhalt und Vernetzung als stadtteilorientierte Ansätze der Resilienzstärkung

Community-Resilienz und Radikalisierungsprävention In der Stadt des 21. Jahrhunderts wird die Bedeutung von Gemeinschaften und Nachbarschaften im Alltag von Menschen kontrovers diskutiert. Auf der einen Seite werden Mobilitäten, räumliche Entankerungen und Digitalisierung als Faktoren genannt, die zum Bedeutungsverlust der nahräumlichen Umgebung und somit auch von territorial definierten Gemeinschaften6 beitragen. Viele Autor*innen verweisen darauf, dass Stadtbewohner*innen heute zunehmend mobil und ihre Aktivitätsräume dadurch komplexer sind (Massey 1995, 63) und digitale Räume an Bedeutung für soziale Beziehungen gewinnen. Räumliche Entankerung und die wachsende Bedeutung digitaler Sozialräume verändern das Miteinander im urbanen Alltag. Die nahräumliche Umgebung bleibt jedoch in den Aktivitätsräumen vieler Stadtbewohner*innen nach wie vor ein wichtiger Knotenpunkt sozialer Kontakte, Beziehungen und Netzwerke und somit eine wichtige Ressource zur Stärkung von Resilienz, Ermächtigung und Widerstand (Bayat 2010). Insbesondere im Kontext städtischer Armut und Krisen spielen städtische Räume als Ressource im Alltag vieler Menschen eine wichtige Rolle. In seiner Studie über die politische Bedeutung alltäglicher Praktiken im städtischen Raum spricht Asef Bayat von der spatial solidarity von Stadtbewohner*innen, welche sich beispielsweise im Fall von Konflikten im Stadtteil zusammenschließen, um Rechte oder Ressourcen gegenüber städtischen Autoritäten kollektiv einzufordern (ebd., 50). Neben der Nutzung öffentlicher Räume spielen im urbanen Alltag auch gemeinnützige Räume eine wichtige Rolle. Der sozialen Infrastruktur eines Quartiers wird eine zentrale Bedeutung in der Alltagsbewältigung seiner Bewohner*innen zugeschrieben. Ob Begegnungsräume, Bildungs- oder Freizeitangebote – wer zu Hause weniger Platz hat und sich private Beratungs-, Bildungs- oder Freizeitangebote nicht leisten kann, nutzt eher die öffentlichen und gemeinnützigen Infrastrukturen des Quartiers oder der Stadt, gemäß dem Motto der Künstlerin Gretta Louw: »The less private space you own, … [the] more public space you need.«7 Gleichzeitig sind die öffentlichen Räume und gemeinnützigen Einrichtungen auch Begegnungsorte für unterschiedliche Menschen und können dazu beitragen, »allgemeines Vertrauen« (Blokland 2021) und somit das Sicherheitsgefühl zu stärken sowie Gemeinschaft und eine Kultur der Teilhabe zu fördern.

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Im Folgenden verwenden wir den Begriff der »Community« im Zusammenhang mit unserem Fokus auf Sozialräume für Gemeinschaften von Menschen, die an einem Ort, z.B. in einem Stadtteil, zusammenleben und sich somit in ihren Alltagsräumen mehr oder weniger häufig begegnen und miteinander interagieren. www.grettalouw.com/files/TheCommons_en.pdf.

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Sampson sieht das Vorhandensein zivilgesellschaftlicher Organisationen in einem Stadtteil als ausschlaggebend für die Förderung bürgerschaftlichen Engagements (Sampson 2012, 209). Insbesondere tragen die von den Organisationen unterstützten kollektiven Protestaktionen und Projekte zur Förderung von Teilhabe dazu bei, Solidarität und Zusammenhalt städtischer Gemeinschaften zu stärken. Dies wirkt sich wiederum positiv auf die Resilienz einer Gemeinschaft aus, wie wir im Folgenden erläutern. In der Resilienzforschung haben städtische Communities in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit erhalten. Eine der wichtigsten Voraussetzungen zur Resilienzstärkung von Communities ist die Diversität von Ressourcen. Communities brauchen nicht nur eine Fülle zur Verfügung stehender Ressourcen, sondern auch die Fähigkeit, diese zu nutzen, um ihre Resilienz während oder nach einer Krise oder Bedrohung zu stärken. Dazu bedarf es der Anpassungsfähigkeit (Longstaff et al. 2010, 5). Dies wird auch in der Forschung, die sich spezifisch mit Resilienz gegenüber Radikalisierung befasst, aufgegriffen. Ellis und Abdi sehen sowohl den Zusammenhalt in der Community als auch positive Beziehungen zu anderen Communities sowie vertrauensvolle Beziehungen zwischen Communities und staatlichen Institutionen als ausschlaggebend an (Ellis/Abdi 2017, 293f.). Es wird davon ausgegangen, dass auf der Ebene der Gemeinschaft Potenziale vorhanden sind, um junge Menschen vor Radikalisierung zu schützen und bei der Bewältigung sozialer Missstände, die zu Radikalisierung bis hin zu gewaltbereitem Extremismus führen können, zu unterstützen (Stephens et al. 2021, 352). Grossman et al. weisen darauf hin, dass eine eingeschränkte Handlungsfähigkeit und das Gefühl von Machtlosigkeit die Attraktivität extremistischer Gruppen erhöhen können, um sich Handlungsfähigkeit zurückzuholen: »This highlights the role that emotions and feelings can play in either promoting or weakening resilience, and it is important that strategies designed to build resilience find ways of addressing perceptions and experiences around power and powerlessness.« (Grossman et al. 2017, 17) Für die Entwicklung von Community-Ansätzen zur Resilienzstärkung gegenüber religiös begründeter Radikalisierung sollten weiterhin die lessons learned der Gewalt- oder Rechtsextremismusforschung berücksichtigt werden. Hierzu zählt z.B. der Verweis auf translokale und digitale Strategien extremistischer Akteure und ihre gesamtgesellschaftliche Reichweite, um eine Territorialisierung der Phänomene durch den räumlichen Blick und die daraus folgende Stigmatisierung von Stadtteilen oder Sozialräumen zu vermeiden (Rolfes 2011). Umgekehrt sollte der Fokus auf die Potenziale von Communities nicht dazu dienen, diese zu idealisieren und somit ungleiche Machtbeziehungen innerhalb von Communities zu übersehen oder Gefahren und Bedrohungen als ausschließlich von außen kommende

Teilhabe, Zusammenhalt und Vernetzung als stadtteilorientierte Ansätze der Resilienzstärkung

Phänomene zu verorten (Crawford 1998) und somit Gewalt als »the acts of others« (Blokland 2017, 167) wahrzunehmen. Potenziale des raumbezogenen Blicks auf Resilienz sehen wir insbesondere darin, dass dadurch die Eigenschaften und Ressourcen eines Raums und die Handlungsfähigkeit (agency) der Bewohner*innen in den Vordergrund rücken. Dazu zählen, wie wir im Rahmen des Forschungsüberblicks gezeigt haben u.a. der Zusammenhalt der Community, eine Teilhabekultur, funktionierende Unterstützungsnetzwerke, die Vernetzung von Institutionen und Anpassungsfähigkeit angesichts sich verändernder Bedingungen. Diese können – bei Bedarf – durch spezifische Präventions- oder Beratungsangebote ergänzt werden. Wichtig ist, dass Strategien zur Resilienzstärkung und Prävention nicht gegen, sondern mit Communities entwickelt werden (Ellis/Abdi 2017). Wie sich diese Resilienzfaktoren in unserem empirischen Material darstellen, möchten wir im Folgenden aufzeigen.

Methodisches Vorgehen und Vorstellung von »Bebenhausen« Ausschlaggebend für die Auswahl der beiden Sozialräume in unserem Forschungsprojekt war, dass es dort Anhaltspunkte für religiös begründete Radikalisierung gibt. In den Interviews, die wir mit Expert*innen aus »Bebenhausen« geführt haben, ging es zum einen um die Präsenz von und den Umgang mit Phänomenen religiös begründeter Radikalisierung. Zum anderen thematisierten die Interviews die Wahrnehmung des Quartiers in Bezug auf die vorhandenen Ressourcen zur allgemeinen Resilienzstärkung und spezifischen Radikalisierungsprävention. Ergänzend zu den qualitativen Experten-Interviews haben wir Gruppendiskussionen mit Eltern und Kindern, narrative Interviews mit Jugendlichen aus dem Stadtteil sowie Mapping-Methoden mit Eltern, Kindern und Jugendlichen durchgeführt. Ziel unserer Erhebungen war es, die Bedeutung des Stadtteils und der dort vorhandenen sozialen Einrichtungen aus der Perspektive der Bewohner*innen zu analysieren und Einblicke in ihre Begegnungs- und Aktivitätsräume zu erhalten. Im folgenden Abschnitt beschreiben wir das Viertel basierend auf unserer Dokumentenanalyse und aus Sicht unserer Interview-Partner*innen. »Bebenhausen« ist ein zentral gelegener Stadtteil einer westdeutschen Großstadt und hat rund 9400 Einwohner*innen. Es ist ein historisches Arbeiter- und Einwandererviertel und hat den Ruf eines ehemaligen sozialen »Problemviertels«. Als Zentrum der linken Szene ist es auch über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt als »Protestviertel« (I_B_3). Auch heute noch hat es aufgrund statistischer Indikatoren und aufgrund der Bedarfsformulierung eine Stadtteilkoordination, welche es auf kommunaler Ebene in allen sozial benachteiligten Stadtteilen gibt (I_B_3). Das Altbauviertel ist teilweise hochverdichtet und zeichnet sich heute im

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gesamtstädtischen Vergleich durch Strukturwandel, eine hohe Bevölkerungsbewegung und eine junge und diverse Bevölkerung aus. Die Bewohner*innen schätzen das vielfältige soziale, kulturelle und gastronomische Angebot im Stadtteil. Während es auf der einen Seite noch als innerstädtisches Refugium für Menschen mit geringerem Einkommen und besonders auch für Familien mit Einwanderungsgeschichte oder kürzlich Zugewanderte bezeichnet werden kann, machen sich auf der anderen Seite zunehmend die Folgen eines angespannten Wohnungsmarkts und damit einhergehender Gentrifizierungsprozesse und gestiegener Mietpreise deutlich bemerkbar. Diese führen mitunter dazu, dass Menschen aus dem Viertel wegziehen oder trotz Familienzuwachs nicht in eine größere Wohnung umziehen können. Auch führen diese Prozesse zu einer zunehmenden Spaltung innerhalb des Quartiers, die sich sowohl kleinräumlich (in der Teilung des Viertels in eine Ostund eine Westhälfte) als auch sozial (dazu unten ausführlich) bemerkbar macht. Die Beschreibung und positive Bewertung des Viertels als sozial und kulturell »durchmischt« zieht sich jedoch durch alle geführten Interviews, Gespräche und Stadteilbegehungen. Betont wird auch eine gruppenübergreifende Stadtteilidentität, die nicht von nationalen Zugehörigkeiten oder Ausgrenzungen geprägt ist und somit ein inklusives Potenzial aus diskriminierungskritischer Perspektive bietet (GD_5_1, 1). Basierend auf der Auswertung unserer empirischen Ergebnisse nehmen wir an, dass der Stadtteil – trotz bestimmter vorhandener Risikofaktoren – eine gewisse Resilienz gegenüber religiös begründeter Radikalisierung aufweist. Zu diesen Risikofaktoren zählen z.B. die Präsenz islamistischer, insbesondere salafistischer8 Akteure in der Stadt, weshalb diese in der Vergangenheit als regionales Zentrum der salafistischen Szene bezeichnet wurde. Diese Akteure sind jedoch an keine spezifische Moschee im Stadtgebiet gebunden; sie sind vielmehr überregional aktiv und translokal gut vernetzt (GD_B_5, 2). Ein Risikofaktor für die Radikalisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen liegt nach Aussagen von Expert*innen vor allem aber in der Existenz und Zugänglichkeit digitaler Propaganda über Soziale Medien, wie Facebook, Instagram und TikTok (GD_B_4, 1). Der Verfassungsschutzbericht des Bundeslandes weist darauf hin, dass die Bedeutung digitaler Propaganda auch durch die Covid-19-Pandemie weiter zugenommen hat. Umstritten ist die Bedeutung einer Moschee im Stadtteil, die unter Beobachtung durch den Verfassungsschutz steht. Während sich einige Akteure aus dem Stadtteil bewusst von der Moschee distanzieren, betonen andere die Kooperations-

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Zur Bedeutung des Begriffs »Salafismus« im Kontext von Islamismus z.B. Pfahl-Traughber 2015.

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und interreligiöse Dialogbereitschaft der Einrichtung (I_B_3; I_B_7; I_B_11).9 Letztere kritisieren darüber hinaus eine Stigmatisierung und Kriminalisierung von Moscheevereinen durch Vorgaben auf Landesebene, die nach Auffassung der Befragten die Dialogarbeit vor Ort erschwerten und zur Frustration muslimischer Akteure aus den Gemeinden sowie zum Rückzug von Moscheevereinen aus der Vernetzungsarbeit führten. Zu den Risikofaktoren zählen wir auch Ausgrenzungsprozesse, Diskriminierung und Rassismus. Diese können möglicherweise die Hinwendung zu extremistischen Angeboten begünstigen, insbesondere wenn extremistische Akteure vor Ort sie in ihrer Ansprache aufgreifen. Besonders zu betonen sind in diesem Zusammenhang der antimuslimische Rassismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen und der verdachtsgeleitete Blick auf Muslim*innen und als muslimisch gelesene Menschen im städtischen Raum durch Medien und Sicherheitspolitik (Attia et al. 2021), der Rassismus und Rechtsextremismus fördert. Er rückt bestimmte als »muslimisch« und/oder »links« gelesene Stadtteile ins Visier rechter Angriffe. So wurde 2018 auch in »Bebenhausen« eine rechte Bürgerwehr beobachtet, die provokativ im Sinn einer symbolischen Raumbesetzung durch den Stadtteil spazierte (I_B_8), sich aber nicht in diesem verankert hat.

Soziale Infrastruktur Der Stadtteil ist gekennzeichnet durch eine gewachsene soziale Infrastruktur mit engen Bindungen zwischen Bewohner*innen, lokalen Einrichtungen und Fachkräften. Es gibt eine Fülle sozialer Einrichtungen mit unterstützenden und beratenden Angeboten für Kinder und Jugendliche, Mädchen und Frauen, Migrant*innen, Eltern und Familien sowie Menschen ohne Obdach. Zentraler Knotenpunkt der sozialen Infrastruktur und Impulsgeber der Vernetzung ist das Nachbarschaftshaus, das bereits seit den frühen 1980er Jahren im Bezirk aktiv ist. Neben hauseigenen Kursen und Angeboten sind dort nach eigenen Angaben über 100 Gruppen, Vereine und Initiativen vertreten. Besonders deutlich wird die gewachsene Infrastruktur des Stadtteils auch am Beispiel des Bauspielplatzes im Quartier, der auf einer verwahrlosten Grünfläche ebenfalls schon in den 1970er Jahren errichtet wurde und bis heute weiterbesteht. Die Leitung des Spielplatzes, die selbst im Quartier lebt, hat 40 Jahre dort gearbeitet und viele Kinder heranwachsen sehen. Der Bauspielplatz kann als betreuter

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Die Kontroverse um die Moschee ist hochkomplex und kann im Rahmen dieses Beitrags nicht ausführlich dargestellt werden. Zur Rolle von Moscheen und islamischen Vereinen in der Extremismusprävention siehe Ostwaldt 2020.

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Freiraum bezeichnet werden, in dem Kinder und Jugendliche zugleich die Möglichkeit haben, sich Raum anzueignen und Freunde zu treffen. Auf Wunsch erhalten sie auch weitere Unterstützung, etwa bei Hausaufgaben. Auch Elterngespräche können dort eher informell »zwischen Tür und Angel« stattfinden, was den Zugang besonders niedrigschwellig macht. Demgegenüber wird der öffentliche Raum im Quartier allerdings von Expert*innen als weniger attraktiv für Kinder und Jugendliche eingeschätzt, da er aufgrund der hohen Verdichtung nur wenig Rückzugs- und Begegnungsmöglichkeiten bietet und es an »sanktionsfreien« Freiräumen fehlt (GD_B_5, 2). Die Kinder- und Jugendeinrichtung, die als Praxispartner in unser Projekt eingebunden ist, wurde von den interviewten Kindern und Eltern als bedeutender Alltagsort hervorgehoben, insbesondere weil die Kinder dort zugleich schulische Unterstützung erhielten und an attraktiven Freizeitangeboten teilnehmen können. Dies führt ein Vater wie folgt aus: »Ich bin zufrieden mit den Angeboten für Kinder, meine Wohnung ist klein und ich habe Probleme, eine größere zu finden, da ist es gut, wenn die Kinder im Hort betreut sind.« (GD_B_1) Die Einrichtung wurde bereits in den 1970er Jahren als bikulturelle Initiative gegründet. Sie setzt sich heute für Bildung und Begegnung ein, betreibt einen Schülerhort und ein Frauencafé, bietet Sprachkurse für Erwachsene und macht auch generationsübergreifende Angebote zur Förderung des Zusammenhalts im Quartier. Im Zentrum der Arbeit des Trägers steht Stadtteil- und Jugendarbeit mit dem Ziel der Integrationsförderung. Neben der sozialen Infrastruktur gibt es auch zahlreiche kulturelle, religiöse und interreligiöse Angebote im Stadtviertel. Interreligiöse Bildung und interreligiöser Dialog werden gezielt gefördert und es gibt dazu zahlreiche Angebote und Begegnungsmöglichkeiten, z.B. in der Zusammenarbeit von migrantischen Vereinen, Moscheegemeinden und Fachstellen beim Fastenbrechen. Aus Sicht eines Interview-Partners trägt die multikulturelle und multireligiöse Infrastruktur des Viertels dazu bei, »anderen« im Alltag zu begegnen und somit auch informellen Austausch zu fördern: »Die Begegnung findet vor Ort statt. Das ist schon mal mein erster Eindruck, gleich wenn man dort durch die Straßen läuft, dann sieht man dort auch Moscheen. Da gibt’s in der Nähe auch eine Kirche, eine Synagoge, also man sieht auch dieses Religiöse, interreligiöse Begegnungen finden dort auch statt. Oder im Sommer findet dort so ein Sommerfest statt … Da wird die Straße gesperrt und da kommt türkische Musik, Tanz und Musiker kommen da her.« (I_B_15) Zusammenfassend kann gesagt werden, dass »Bebenhausen« über eine dichte und vielfältige Infrastruktur mit sozialen, kulturellen und (inter-)religiösen Angeboten

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verfügt, die in den Gesprächen zum Mapping der Aktivitätsräume der interviewten Kinder und Eltern mehrfach erwähnt wurden. Teil dieser Infrastruktur sind auch migrantische Initiativen und Migrantenorganisationen, die ebenfalls eine längere Geschichte aufweisen. Die historisch gewachsene soziale Infrastruktur des Viertels wurde sowohl durch Initiativen von Aktivist*innen als auch durch eine partizipativ orientierte Stadtplanung aufgebaut. Es ist anzunehmen, dass sie heute ein wichtiger Antrieb für Bürgerbeteiligung und sozialen Zusammenhalt ist, denn wie eine Interview-Partnerin sagt: »Dass Menschen sich in einem Stadtteil, egal welcher Herkunft, welcher Sprache oder sowas, wohlfühlen, liegt auch daran, was ihnen der Stadtteil bieten kann und wo es Überschneidungen mit anderen gibt.« (I_B_5, 6) Die oftmals langjährigen Bindungen zwischen Bewohner*innen und Einrichtungen sind jedoch teilweise durch die bereits erwähnten Gentrifizierungsprozesse gefährdet und langjährig aufgebaute vertrauensvolle Beziehungen zu Familien brechen weg (I_B_5). Gerade Kinder sind in ihrer Alltagsmobilität eingeschränkt und werden im Fall eines Wegzugs aus dem Viertel möglicherweise Bildungs- und Freizeiteinrichtungen wechseln oder in ihrem neuen Viertel keine solche Infrastruktur vorfinden. So bedauert eine interviewte Mutter sehr, dass sie aus dem Viertel wegziehen musste, insbesondere weil in ihrem neuen Viertel keine vergleichbare Infrastruktur vorhanden ist und sich auch das soziale Zusammenleben viel anonymer gestaltet: »In ›Bebenhausen‹ kennen die Menschen einander, weil sie sich im Hof begegnen, man stellt einen Tisch und Stühle auf. Hier gibt es Nachbarschaftsfeste. In meinem neuen Stadtviertel ist das leider anders. Da gibt es keine Höfe und nur Müll.« (GD_B_1, 2)

Bürgerbeteiligung, Vernetzung und sozialer Zusammenhalt Kennzeichnend für das Viertel ist dessen historisch gewachsene Beteiligungskultur. Selbstorganisationen von Migrant*innen sowie Bürgerinitiativen sind schon lange in der Struktur des Viertels verankert und bieten dadurch sowohl eine Vielzahl an Beteiligungsmöglichkeiten als auch die Grundlage für den sozialen Zusammenhalt vor Ort. »Also [dass] … schon auch so ein Kämpferherz da ist, ist historisch wohl begründet, ›Bebenhausen‹ war schon immer so. Das klingt jetzt sehr abgedroschen, aber es ist so, dass diese Tendenz schon ewig da ist, weil, es gab hier Anfang der Siebziger Jahre so die ersten Stadtteilentwicklungsprozesse dieses Programms über das Bundesministerium. Und auch dort sozusagen wurden die ersten Weichen, was so

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Bürgerbeteiligung ist, … hier vollzogen. Also es wird hier auch davon gesprochen: ›Bebenhausen‹ ist die Wiege der Bürgerbeteiligung. … Also, dass schon sozusagen da sehr viel Aktivität und Motivation zu spüren ist.« (I_B_3, 2) Die Beteiligungskultur wird von mehreren Interview-Partner*innen als prägend für den Stadtteil hervorgehoben. In Bezug auf ihren solidarischen Charakter wird hier auch das Miteinander linker und migrantischer Akteure erwähnt: »Ja, also ›Bebenhausen‹ ist in der ganzen Stadt und eigentlich, glaube ich, auch in der ganzen Region bekannt für das Erste-Mai-Straßenfest. Jedes Jahr, wo wirklich so von der linken Szene als auch aus der migrantischen Subkultur wirklich alles zusammenkommt, gemeinsam feiert und das wirklich eines der großen Ereignisse ist.« (I_B_2, 4) Die interviewten Expert*innen betonen, dass Fachkräfte und Bewohner*innen im Stadtteil das Gefühl haben, dass sie Probleme anpacken und gemeinsam lösen können (I_B_3, 2). Ein Interesse am Miteinander und an der Teilhabe vor Ort sind aus Perspektive der Resilienzforschung eine Vorrausetzung für die Ausbildung kollektiver Wirksamkeit (Sampson 2012), also der Fähigkeit, gemeinsam etwas verändern oder bewirken zu können. Eine Interview-Partnerin berichtet beispielsweise auf die Frage nach einem möglichen Zusammenhalt im Stadtteil von einer solidarischen Aktion gegen die Abschiebung eines jungen Manns aus der Nachbarschaft: »Und ich glaube, da hat sich auch binnen weniger Minuten, glaube ich, so eine recht große Gruppe zusammengefunden von Aktivist*innen, aber eben auch Nachbar*innen, die da unterstützen wollten und quasi diese Abschiebung verhindern ….« (I_B_10, 2) Die Beteiligungskultur trägt dazu bei, dass das Zusammenleben im Stadtteil auch jenseits organisierter Bürgerbeteiligungen und Protestaktionen als lebendig und positiv bewertet wird. Ein Vater berichtet in der Gruppendiskussion über das jährliche Hoffest, das zwei befreundete Hausbesitzer für die Bewohner*innen der beiden angrenzenden Häuser initiierten. Eine Mutter erzählt, dass man sich unter Nachbar*innen bei der Kinderbetreuung unterstützt und sich im Hof trifft. Auch im öffentlichen Raum wird das Zusammenleben eher positiv bewertet, auch wenn die durch die Gentrifizierung entstandene zunehmende soziale Spaltung öffentlich sichtbar wird, z.B. durch Protest-Graffitis an den Scheiben der Cafés, die sich am Stil und an den Bedürfnissen der jungen urbanen Mittelschicht orientieren. In einer Gruppendiskussion mit Kindern im Anschluss an ein Mapping ihrer Alltagsorte zeigt sich, dass auch sie den Stadtteil positiv bewerten. Sie geben auch Beispiele für Situationen, in denen ihnen unbekannte Erwachsene sich hilfsbereit und freundlich gezeigt haben (GD_B_2; GD_D_3). Das funktionierende Zusammenleben führen einige der Interview-Partner*innen auch auf die ausgeprägte Iden-

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tifikation der Bewohner*innen mit ihrem Stadtteil zurück. Gleichzeitig hat auch der ehemals negative Ruf des Stadtviertels, der u.a. mit einem geringen Wohnstandard, Armut und Drogenbelastung verknüpft wurde, nach Aussagen von Bewohner*innen möglicherweise gerade deswegen zu einem erhöhten internen Zugehörigkeitsgefühl geführt (I_B_5, 2). Es scheint also Beziehungen zwischen der Ausgrenzungsgeschichte des Stadtviertels, den Bedarfen an sozialen und solidarischen Angeboten, der sozialen Infrastruktur und der gewachsenen Teilhabekultur zu geben. Diese Teilhabekultur der Bewohner*innen und Fachkräfte wird u.a. auf die gute Zusammenarbeit und Vernetzung der verschiedenen Akteure im Quartier zurückgeführt. Die gute Vernetzung und Zusammenarbeit im Stadtteil, die u.a. in Stadtteilarbeitskreisen institutionalisiert ist und u.a. von einer Stadtteilkoordination begleitet wird, wird von mehreren Interview-Partner*innen betont. Sie drückt sich z.B. in der Organisation gemeinsamer Feste im öffentlichen Raum aus, die in »Bebenhausen« eine lange Tradition haben: »Und dieses sehr frühe Engagement, finde ich, in den siebziger und achtziger Jahren hat doch viel vorangetrieben … [es] gab zum Beispiel [ein] Stadtteilfest und sowas wurde damals initiiert, wo dann eben die verschiedensten Gruppierungen, verschiedensten Nationalitäten sich ein halbes Jahr lang getroffen haben und das Fest vorbereitet haben, … alles so Einrichtungen, die miteinander gearbeitet haben und damit letztendlich für so eine Vernetzung auch gesorgt haben. Und das ist schon immer mein Plädoyer, dass ich sage, … wenn solche Einrichtungen in einem Stadtteil sind, dann ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass das Mit- oder Nebeneinander friedlicher ist als da, wo das nicht entsteht.« (I_B_5, 6) Dennoch ist es wichtig, zu betonen, dass es auch innerhalb dieses Quartiers Konflikte und ungleiche Machtbeziehungen gibt. So schilderte die Mitarbeiterin einer Kinder- und Familieneinrichtung, dass sich die Gentrifizierungseinflüsse zunehmend auch auf das Zusammenleben im Quartier auswirken: »Und jetzt kam ein bisschen so eine Veränderung im Stadt[teil]. Und ganz viele Menschen mit Bildung sind hergezogen, deren Bildungsgrad ein bisschen höher ist. Und die haben ein bisschen andere Erwartungen, andere Vorstellungen, zum Beispiel von so einem Stadtteilfest, und haben das selbst organisiert. Und viele Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund haben nicht teilgenommen. Genau, … also es läuft schon, aber viele Familien positionieren sich einfach. Die ziehen sich zurück, genau. So kann ich das beschreiben.« (I_B_1) Der Rückzug der statusniedrigeren alteingesessenen Bewohnerschaft macht sich z.B. auch im Elternbeirat der Kinder- und Jugendeinrichtung bemerkbar und wirkt sich auf die sozialen Verhältnisse im Quartier aus, was zum Entstehen von Barrieren für Engagement und Partizipation führen kann. Die Mitarbeiterin der Einrich-

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tung beschreibt den nachbarschaftlichen Zusammenhalt nicht als Beziehungen auf Augenhöhe, sondern als wohlwollende, aber hierarchisch von oben herab wahrgenommene »helfende Hand« (I_B_1). Diese Aussage passt zur Erzählung einiger Interview-Partner*innen, die das Zusammenleben der unterschiedlichen Gruppen in »Bebenhausen« eher als ein Nebeneinander denn als ein Miteinander beschreiben – im Sinn einer »friedlichen Koexistenz«, was angesichts der sozialen, kulturellen und religiösen Heterogenität durchaus als Erfolg gewertet wird (I_B_5). Das Bild der »helfenden Hand« verweist jedoch auf eine Hierarchie im Nebeneinander der unterschiedlichen sozialen Gruppen. Inwiefern dies nur eine – mehr oder weniger subtile – neuere Entwicklung ist, die von einigen Gesprächspartner*innen wahrgenommen wird, oder inwieweit die Beschreibung des Miteinanders unterschiedlicher Gruppen zum Teil retrospektiv idealisiert wird, lässt sich hier nicht feststellen. Das Reden über den guten Zusammenhalt hat aber in jedem Fall auch die Funktion, diesen narrativ zu festigen und stärkt die diskursive Identifikation mit dem Stadtteil. Wir gehen zusammenfassend davon aus, dass es im Quartier auf der einen Seite eine gewachsene soziale Infrastruktur und damit einhergehend auch eine Tradition des zivilgesellschaftlichen Engagements und der Bürgerbeteiligung gibt, die sich positiv auf den Zusammenhalt auswirken. Gleichzeitig wird dieser Zusammenhalt durch die gemeinsame Erzählung darüber narrativ gefestigt. Auf der anderen Seite gibt es auch innerhalb des Quartiers Ungleichheiten, die sich insbesondere im Zusammenhang mit den Gentrifizierungsprozessen hemmend auf Teilhabe und Zusammenhalt auswirken können.

Resilienzen gegen religiös begründete Radikalisierung Wie bereits im Abschnitt zur Gefahrenaussetzung beschrieben, gibt es auch in »Bebenhausen« soziale Konflikte und Risikofaktoren für Radikalisierungen. Dennoch tragen die gewachsene soziale Infrastruktur, das bürgerschaftliche Engagement und die gut vernetzten Akteure im Stadtteil zu seiner Resilienz bei. Diese Resilienz im Sinn einer Widerstandsfähigkeit ist nicht auf Resilienz gegenüber Radikalisierung beschränkt, sondern geht weit darüber hinaus, da es um die grundsätzliche Stärkung des Stadtteils angesichts unterschiedlicher Bedrohungen geht. Im Folgenden soll es um Faktoren gehen, die spezifisch zur Resilienz gegenüber religiös begründeter Radikalisierung beitragen.

Digitale Teilhabe: aktiv gegen Fake News Aus der Radikalisierungsforschung ist bekannt, dass Teilhabe und Erfahrungen von Wirksamkeit wichtige Schutzfaktoren sind. Gerade für junge Leute ist es wichtig,

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dass sie vor Ort teilhaben können. Wie digitale Teilhabe und Beteiligung vor Ort verknüpft werden können, zeigt ein Präventionsprojekt gegen religiös begründete Radikalisierung aus dem Nachbarviertel, das auch von vielen Kindern aus »Bebenhausen« besucht wird. Der Trägerverein des Projekts, der von Eltern aus dem Viertel gegründet wurde, arbeitet vorrangig zum Thema Bildungsförderung und nutzt bei seinen Angeboten (wie Hausaufgabenbetreuung, Sprachkursen, Computerkursen usw.) den Vorbildcharakter von Peers, die als Mentor*innen eingesetzt werden, wie einer der Mitarbeiter ausführt: »Und das überzeugt die Kinder dann etwas stärker, sage ich jetzt mal, wenn sie dann plötzlich jemanden sehen, der nur ein paar Jahre älter ist, aus demselben Viertel kommt am besten noch, und plötzlich sehen sie, okay, er hilft bei der Prävention. Und dementsprechend überzeugt es dann die Teilnehmer umso mehr.« (I_B_12, 4) Der Verein wurde von Menschen aus Einwanderungsfamilien gegründet, deren eigene Bildungsbiografien ebenfalls als Vorbilder dienen. Die aktiven Mitglieder speisen sich inzwischen auch aus ehemaligen Teilnehmer*innen der Angebote. Innerhalb des Bildungssystems erfahrenen Benachteiligungen und Erfahrungen von strukturellem Rassismus aufseiten der Teilnehmer*innen setzt der Verein einen Empowerment-Ansatz entgegen. Dieser wirkt auf die Vereinsstruktur selbst zurück und führt zu Engagement und Verantwortungsübernahme durch die (ehemaligen) Schüler*innen. Das Präventionsprojekt des Vereins wurde aufgrund eines konkreten Falls beginnender Radikalisierung entwickelt, der im Rahmen des Bildungsangebots sichtbar wurde. Der Verein reagierte sofort, setzte ein Elterngespräch an und sprach ebenfalls mit dem Schüler, der – wie sich herausstellte – über Soziale Medien Angebote radikaler Akteure konsumierte. Diese Erfahrung war der Ausgangspunkt für ein digitales Präventionsprojekt, das Bildungsaspekte (z.B. Computerkenntnisse, Programmieren) mit allgemeinen Präventionsaspekten (z.B. Daten- und Jugendschutz im Netz, Medienkonsum, Medienkompetenzen) sowie spezifischer Radikalisierungsprävention kombiniert. Zur spezifischen Prävention gegen religiös begründete Radikalisierung gehören in diesem Projekt u.a. die Förderung und Akzeptanz von Vielfalt, die Dekonstruktion von Opfernarrativen radikaler Akteure und die Entlarvung von Fake News. Im Ergebnis sind die Schüler*innen nicht nur in der Lage u.a. Fake News zu erkennen, sondern sie werden auch selbst in ihren digitalen Netzwerken aktiv und entlarven entsprechende Falschnachrichten und Narrative. Die proaktive Beteiligung der Schüler*innen im digitalen Raum spricht für den Erfolg des Projekts: »Und das läuft inzwischen sogar so ab, dass die Kinder und Jugendlichen sogar von Freunden, Klassenkameraden oder eben Freunden aus dem Viertel solche Nach-

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richten, solche Fake News zugeschickt bekommen und dann selbständig … prüfen und dann mir schreiben: ›Mustafa, schau mal, ich hab’ das und das zugeschickt bekommen, das ist die Fake-Nachricht. Ich hab’s ihnen bewiesen, ich hab’s ihnen gezeigt.‹« (I_B_12, 10)

Peer Education für Gleichstellung Das digitale Präventionsprojekt zeigt, dass digitale Partizipation eine Wirkung im digitalen Raum entfalten kann, die über den Stadtraum hinausgeht. Trotzdem kann der territoriale Stadtteil oder die Stadt zu einem wichtigen Erfahrungsraum für Partizipation werden, der dazu beiträgt, Demokratie als Gesellschaftsform und die Idee eines politischen Gemeinwesens zu vermitteln. In einem narrativen Interview mit einem peer educator aus einem Gleichstellungsprojekt, der Workshops für Jugendliche zum Thema Gleichberechtigung, Frauenrechte, gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen, Rassismus und Stigmatisierung mit Schüler*innen umsetzt, spricht dieser auch über die Bedeutung von Beteiligung für seine persönliche Entwicklung und für die individuelle Resilienzstärkung: »Ich glaube, ich würde weniger durch Rattenfänger beeinflusst werden, weil ich überzeugt bin, dass es [das] wert ist, sich für dieses politische System und dieses politische Gemeinwesen einzusetzen und nicht mit einem Streich alles vom Tisch zu wischen, sondern zu schauen, wo man sich einbringen kann und wo nicht.« (BI_B_1, 7) Auch wenn es sich bei dem Projekt nicht um ein Projekt der Radikalisierungsprävention handelt, sondern um ein Gleichstellungs- und Empowerment-Projekt, sind Verbindungslinien zur Radikalisierungsprävention vorhanden. Diese liegen zum einen im Empowerment- und Partizipationsansatz des Projekts, zum anderen in der Thematisierung und Reflexion patriarchaler Geschlechterverhältnisse und Rollenzuschreibungen, welche als Brückennarrative (Meiering et al. 2018) zu radikalen Ideologien gelten können. Der interviewte Jugendliche kam sehr früh mit sozialen Angeboten in »Bebenhausen« in Berührung, da sich auch seine Mutter und seine Schwester im Stadtteil in einer Kinder- und Bildungseinrichtung engagierten. Dort ist er auf das Angebot zu einer Peer-Ausbildung im Bereich der Gleichstellungsarbeit aufmerksam geworden. Im Interview wird deutlich, dass die Wertschätzung und Anerkennung, die er für sein Engagement (insbesondere durch politische Akteure und die Presse) erfahren hat, ein wichtiger Motor waren, sich in das Gemeinwesen einzubringen. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass eine solche Wertschätzung auf kommunaler Ebene, z.B. wie in diesem Fall in Form einer öffentlichen und medienwirksamen Anerkennungsfeier, bei der die Zertifikate der Peer-Ausbildung übergeben

Teilhabe, Zusammenhalt und Vernetzung als stadtteilorientierte Ansätze der Resilienzstärkung

wurden, ein wichtiger Faktor ist, um Engagement und Beteiligung zu stärken, insbesondere wenn es um durchaus kontroverse Themen geht, wie z.B. die Frage von Männlichkeitsnormen. Denn zur Arbeit der Peer Education gehört es auch, sich kritischen Fragen aus dem eigenen jugendkulturellen Umfeld zu stellen, Überzeugungen zu verteidigen, Position zu beziehen und dadurch auch jenseits der Workshops in das eigene sozialräumliche Umfeld zu wirken. Diese unterschiedlichen »Anerkennungsräume« – Anerkennung durch Lokalpolitik und im lokalen öffentlichen Diskurs auf der einen Seite, negierte Anerkennung in der Peergroup auf der anderen Seite – werden hier kontrastreich geschildert: »Das war sehr schön, weil ich auch nicht erwartet hatte, dass so viel Anerkennung uns zugetragen wird. Also wir hatten dann den zweiten Bürgermeister da. Der hat uns das Zertifikat dann übergeben. Und es war in einem schönen Raum und Musik. … Wir hatten dann Presse … da … Und dann sein Gesicht in der Lokalzeitung zu sehen und auf der Bühne zu stehen, Leute klatschen, weil man sich einsetzt für etwas, was gut ist, wofür es wertvoll ist, zu kämpfen, das war in dem Moment wirklich schon sehr beeindruckend. … Und das stand wirklich … in einem ganz starken Kontrast zu dem, wie ganz viele andere junge Männer das gesehen haben, was ich da gemacht habe. Also zum Beispiel habe ich da, wenn ich das mal erzählt hab’, bei manchen Freunden oder Kumpels oder in der Schule, waren zum Beispiel Sachen wie: ›Was interessieren dich denn Frauenrechte? Warum interessiert es dich? Bist doch ein junger Mann, bist doch ein Junge? Komisch.‹ Oder auch, dass das mit einer Art Verweichlichung assoziiert wird oder mit, ja, irgendwie: ›Dann bist du doch nicht so ein richtiger Mann.‹« (BI_B_1, 4)

Vielfalt als urbane Tatsache und Reflexionsraum Neben der Förderung von Teilhabe, der Reflexion von Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen und dem Einsatz für Gleichberechtigung spielt die Anerkennung von Vielfalt als Schutzfaktor gegen Radikalisierung eine große Rolle. Dafür gibt es, wie bereits beschrieben, in »Bebenhausen« gute Voraussetzungen. Die kulturellen, sozialen und religiösen Einrichtungen im Stadtteil tragen dazu bei, Vielfalt und Migration als »urbane Tatsache« (Rodatz 2014) erfahrbar zu machen und somit auch zu normalisieren. Dies kann deswegen ein Schutzfaktor gegen Radikalisierungen sein, weil in radikalen Ideologien, die auf Ungleichwertigkeit beruhen, exklusive Identitäten eine zentrale Rolle spielen. Dies gilt nicht nur für religiös begründete Radikalisierung, sondern auch für die Gefahr durch rechtsextreme Radikalisierung. Diese Perspektive wird z.B. von Eltern in einer Gruppendiskussion eingenommen, deren Kinder die bereits geschilderte Kinder- und Jugendeinrichtung besuchen, die als Praxispartner eng in unser Forschungsprojekt einbezogen ist und in diesem Zusammenhang auch Angebote für Kinder und Jugendliche

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im Bereich der primären Radikalisierungsprävention macht. So argumentiert eine Mutter mit dem Schutzfaktor Vielfalt: »Meine größte Angst wäre Rechtsradikalismus, aber ich hoffe sehr, dass, wenn wir hier in ›Bebenhausen‹ wohnen, dass das davor schützt, dass meine Tochter in solche Kreise geraten könnte. Durch so eine Arbeit wie hier in der Einrichtung, dass man das gleich von klein auf mitbekommt, hier gibt es andere Menschen aus anderen Ländern und anderen Kulturen, und das ist alles völlig normal und in Ordnung und man hat ein gutes Miteinander. Wenn ein Kind das hier mitbekommt, dann ist das ein guter Weg.« (GD_B_1) Die soziale und kulturelle Diversität im Quartier bietet aus Perspektive einer Pädagogin aus einer Jugendeinrichtung auch Möglichkeiten zum Perspektivwechsel durch Begegnungen mit Menschen mit unterschiedlicher Sozialisation (I_B_6, 11). Die soziale, kulturelle und religiöse Infrastruktur des Quartiers wird in der Bildungs- und primären Präventionsarbeit vor Ort genutzt, z.B. mit Ansätzen der interreligiösen Begegnungspädagogik. Als vorteilhaft erweist sich hier das breite Angebot sowie die gute Vernetzung zwischen den Akteuren. So fand z.B. in der bereits beschriebenen Kinder- und Jugendeinrichtung in Zusammenarbeit mit unserem Forschungsprojekt ein Kunst-Wettbewerb rund um das Thema »Vorurteile und Zusammenleben in Vielfalt« statt. An der Aktion haben sich unterschiedliche Menschen beteiligt: Kinder und Jugendliche, junge und ältere Erwachsene bis hin zu Senior*innen. Auch ganze Einrichtungen reichten Beiträge ein, z.B. eine Kindertagesstätte und eine Wohngruppe für Kinder. Die Preisverleihung und Vernissage der Ausstellung fand im Rahmen von Kunst- und Kulturtagen im Stadtteil statt und hatte so eine Strahlkraft in diesen hinein.

Netzwerkarbeit gegen Radikalisierung Neben der Fülle und Diversität an Ressourcen wird in der Community- und Quartiersforschung die Vernetzung sowohl innerhalb des Quartiers als auch außerhalb als wichtiger Resilienzfaktor benannt. »Bebenhausen« ist hier gut aufgestellt. Zum einen gibt es eine gute Vernetzung innerhalb des Stadtteils, wie bereits in den vorherigen Abschnitten ausführlich beschrieben wurde. Im Themenfeld der religiös begründeten Radikalisierung ist außerdem ein Netzwerk, das sich speziell mit religiös begründeter Radikalisierung beschäftigt, besonders relevant. Dieses Netzwerk geht über das Stadtviertel hinaus und ist auf kommunaler Ebene angesiedelt, wird also kommunal koordiniert. Dem Netzwerk gehören auch einige der interviewten Akteure aus dem Stadtteil an, die in der Kinder- und Jugendarbeit oder der universellen Präventionsarbeit tätig sind.

Teilhabe, Zusammenhalt und Vernetzung als stadtteilorientierte Ansätze der Resilienzstärkung

Zu den Aufgaben des Netzwerks gehören die Qualifizierung, Sensibilisierung und Vernetzung der sehr unterschiedlichen Akteursgruppen sowie die Koordination von Workshops mit Schüler*innen in Zusammenarbeit mit einem externen Träger. Zu den Akteursgruppen, die im Netzwerk vertreten sind, zählen u.a. Fachkräfte aus der Kommunalverwaltung, aus Schulen, aus der Jugendarbeit, von freien Trägern, aus Moscheegemeinden, von kirchlichen Trägern, aus der Flüchtlingsarbeit, der Präventions- und Deradikalisierungsarbeit sowie von Polizei und Verfassungsschutz. Insbesondere die bessere Einbindung der Moscheegemeinden in die Präventionsarbeit ist dem Netzwerk ein wichtiges Anliegen; dazu gehört auch die Professionalisierung der Jugendarbeit in den Gemeinden, z.B. durch Fortbildungsangebote. Zu den Stärken der Netzwerkarbeit zählen u.a. die Schaffung von Vertrauen zwischen sehr unterschiedlichen Institutionen und Trägern, die erleichterte Kommunikation über persönlich bekannte Ansprechpartner*innen und der fachliche Austausch aus unterschiedlichen Perspektiven (I_B_7). Die Netzwerktreffen, die dreimal im Jahr stattfinden, behandeln beispielsweise Themen wie muslimische Selbstorganisation, Umgang mit antimuslimischem Rassismus im Kontext von Prävention, gendersensible Präventionsarbeit, Antisemitismus und den Umgang mit IS-Rückkehrer*innen. Weitere kommunale Strukturen unterstützen diese Arbeit. So gibt es ein ressortübergreifendes kommunales Bedrohungsmanagement, das eingreift, wenn eine akute Bedrohungslage vorliegt. Der jeweilige Fall wird nach einem Clearing in einem multiprofessionellen Team bearbeitet bzw. weitervermittelt. Damit wird auf eine ganze Bandbreite von Bedrohungen schnell und professionell reagiert, z.B. Stalking, häusliche Gewalt und unterschiedliche Formen von Extremismus. Weiterhin ist beim Jugendamt auch eine Fachstelle angesiedelt, die zum Thema Radikalisierungsprävention vorrangig primärpräventiv arbeitet. Sie bearbeitet phänomenübergreifend unterschiedliche Formen von Radikalisierung, z.B. Rechtsextremismus, Islamismus, Verschwörungstheorien. Sie bietet Fortbildungen für Akteure aus Kinder- und Jugendeinrichtungen an, berät Fachkräfte bei wahrgenommenen Anzeichen von Radikalisierung, bearbeitet Einzelfälle und/oder vermittelt an überregionale Träger aus dem Bereich der Distanzierungsarbeit (I_B_8). Die Fachstelle hat nicht nur die Aufgabe, Radikalisierungsfälle zu bearbeiten (und gegebenenfalls an Träger der Distanzierungsarbeit zu vermitteln usw.), sondern auch, Fehleinschätzungen von Fachkräften aufzuarbeiten und letztere somit auch zu sensibilisieren (I_B_8). In der Stadtteilarbeit ist religiös begründete Radikalisierung kein ständig präsentes Thema, die Akteure wissen aber, an wen sie sich wenden können, wenn es doch aufkommen sollte. Das kommunale Netzwerk ist also im Stadtteil bekannt. Gleichzeitig bekommt der Mitarbeiter des Netzwerks gegen religiös begründete

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Radikalisierung durch seine Teilnahme an Treffen des Stadtteilarbeitskreises Einblicke in die Situation im Stadtteil (I_B_6). Neben der guten Vernetzung und Zusammenarbeit der Vielzahl zivilgesellschaftlicher Akteure innerhalb des Stadtteils gibt es also auch Brücken zu kommunalen und regionalen Akteuren der Präventions- und Deradikalisierungsarbeit. Auf diese kommunale Präventionsstruktur können die Akteure aus dem Stadtteil bei Bedarf zurückgreifen.

Schlussfolgerungen Zu den Herausforderungen der sozialraumorientierten Resilienzstärkung gehören vor allem ihre Verflechtungen mit den Strukturen ungleicher Stadtentwicklung. Die soziale Stadtentwicklung ist darauf ausgerichtet, Folgen sozialer Ungleichheit abzumildern, nicht aber die Ursachen zu bekämpfen. Wenn strukturelle Ungleichheiten und damit einhergehende Ausgrenzungs- und Diskriminierungsmechanismen als Risikofaktor für Radikalisierung eingeschätzt werden, dann können sozialraumorientierte Ansätze einen Beitrag zur Resilienzstärkung leisten. Diese sollte allerdings nicht den Endpunkt, sondern den Anfang transformativer Prozesse sozialer Stadtentwicklung darstellen und darf nicht zur einer Versicherheitlichung sozialer Stadtentwicklung führen – in dem Sinn, dass Maßnahmen zur Stärkung und zum Wohlergehen von Bewohner*innen marginalisierter Stadträume ausschließlich mit ihrer präventiven Logik begründet werden. Umso wichtiger ist es darum, Rassismus und sozialräumliche Polarisierung als Mechanismen der Ausgrenzung zu problematisieren. Der dem Resilienz-Ansatz inhärente Blick auf die vorhandenen Potenziale eines Sozialraums scheint hier vielversprechend, darf jedoch »Nachbarschaften« und »Gemeinschaft(en)« nicht idealisieren und sollte Ausgrenzungsmechanismen auch innerhalb von Stadtteilen oder Gemeinschaften mitdenken und Strategien entwickeln, ihnen entgegenzuwirken. In »Bebenhausen« sehen wir hier Potenziale. Durch das historisch gewachsene bürgerschaftliche Engagement und die partizipative Stadtteilkultur gibt es eine Vielzahl zivilgesellschaftlicher Akteure im sozialen Bereich, die zum Wohlergehen der Bewohner*innen beitragen. Die daraus resultierende Stärkung individueller Resilienzen ist wiederum eine Voraussetzung für Ermächtigung, Teilhabe und Widerstand. Die Vielzahl zivilgesellschaftlicher Einrichtungen fördert bürgerschaftliches Engagement im Quartier und somit auch sozialen Zusammenhalt, der wiederum zur Resilienz des Stadtteils beiträgt. Während die Einrichtungen im Quartier also vordergründig vorrangig im Bereich sozialer Unterstützung, Bildung, Teilhabe und (interreligiöser) Begegnungsarbeit aktiv sind, ist der Stadtteil durch die Anbindung an das kommunale Präventionsnetzwerk und an weitere kommunale Präventionsstrukturen auch im Fall möglicher Radikalisierungsfälle oder Rekru-

Teilhabe, Zusammenhalt und Vernetzung als stadtteilorientierte Ansätze der Resilienzstärkung

tierungsversuche gut aufgestellt, um reagieren zu können. Die Ausrichtung der Radikalisierungsprävention auf die gesamtstädtische Ebene trägt dazu bei, Radikalisierung nicht ausschließlich mit bestimmten Stadtteilen oder Communities zu assoziieren. Umgekehrt trägt auch die enge Zusammenarbeit des kommunalen Netzwerks mit Akteuren vor Ort dazu bei, lokalspezifische Risikofaktoren und Lagen multiperspektivisch analysieren und gemeinsame Handlungsstrategien entwickeln und umsetzen zu können. Unterstützend wirkt hier das bürgerschaftliche Engagement im Stadtteil, das wiederum eine Kultur der Teilhabe und des solidarischen Miteinanders fördert und somit auch das Gefühl von Handlungsfähigkeit. Ansätze aus der Community-Resilienzforschung im Themenfeld der Radikalisierung konzentrieren sich weniger auf spezifische präventive Interventionen als vielmehr auf vorhandene Merkmale und Eigenschaften von Gemeinschaften, die ihre Mitglieder vor der Hinwendung zu extremistischen Angeboten schützen. Die Qualität der Beziehungen und sozialen Bindungen in Gemeinschaften steht dabei im Mittelpunkt (Stephens et al. 2021, 353). Die Resilienzperspektive ermöglicht einen Fokus auf vorhandene Potenziale von Communities oder Nachbarschaften. Mit Blick auf unsere eigenen Forschungsergebnisse gehen wir außerdem davon aus, dass eine allgemeine Resilienzstärkung, die das Wohlergehen der Bewohner*innen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen im Blick hat, eine wichtige Voraussetzung für gelingende Radikalisierungsprävention und Deradikalisierung ist.

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Die Prävention demokratiegefährdender Polarisierung Erfahrungen aus einem europäischen Projekt Julia Rettig

Abstract Polarisierung kann verstanden werden als zunehmende Fragmentierung der Gesellschaft in antagonistische Gruppen, die sich schädlich auf den sozialen Zusammenhalt und das friedliche demokratische Zusammenleben in Städten und Regionen auswirken kann. Das von Efus von 2019 bis 2021 geleitete Projekt BRIDGE zielte darauf ab, lokale und regionale Behörden bei der Analyse von Polarisierung in ihren jeweiligen Kontexten zu unterstützen, die Entwicklung von Strategien und Maßnahmen zur Prävention zu begleiten und sozialen Zusammenhalt, Inklusion und Bürgerbeteiligung zu fördern.

Das Phänomen gesellschaftlicher Polarisierung hat in den letzten Jahren zunehmend Eingang in politische Debatten gefunden und erfährt verstärkt Aufmerksamkeit im Feld der Radikalisierungsprävention auf europäischer Ebene. Polarisierung, verstanden als Fragmentierung von Gesellschaft in antagonistische Gruppen, die sich hinsichtlich der Fragen einer gemeinsamen Zukunft unversöhnlich gegenüberstehen, kann den sozialen Zusammenhalt und das demokratische Zusammenleben einer Gesellschaft gefährden und einen Nährboden für Radikalisierung in Richtung eines gewaltbereiten Extremismus darstellen. Wenngleich polarisierende Narrative, Akteure und Einflussfaktoren sich in unserer medial eng vernetzten Welt auf internationaler, europäischer oder landesweiter Ebene verorten lassen, so manifestieren sich die Auswirkungen von Polarisierung auf das friedliche demokratische Zusammenleben doch stets direkt vor Ort, in den Städten und Regionen Europas. Städte und Regionen haben insofern eine zentrale strategische Rolle bei der Prävention bzw. Überwindung demokratiegefährdender Polarisierung und der Stärkung von sozialem Zusammenhalt. Im Rahmen ihrer bestehenden Strukturen und Strategien zur Prävention von Kriminalität, Gewalt und Extremismus verfügen Kommunen über ausgewiesene Kompetenzen und Kapazitäten, eskalierenden Konflikten zwischen Gruppen zu begegnen und Polarisierungstendenzen vorzubeugen, die das demokratische und pluralistische Zusammenleben unserer vielfältigen Gesellschaft infrage stellen. Die Beschäftigung

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Julia Rettig

mit Formen und Dynamiken demokratiegefährdender Polarisierung ist jedoch bis heute sowohl ein Desiderat der Forschung1 als auch der Präventionspraxis, insbesondere auf regionaler und kommunaler Ebene. Mit dem durch die Europäische Union geförderten Projekt BRIDGE – Building Resilience to Reduce Polarisation and Growing Extremism2 hat das Europäische Forum für Urbane Sicherheit (Efus) gemeinsam mit 13 europäischen Städten und Regionen sowie einem interdisziplinären Expertenpanel erste Schritte dazu unternommen, sich dem Phänomen demokratiegefährdender Polarisierung auf lokaler Ebene zu nähern. Das von Efus koordinierte Projekt zielte darauf ab, Kommunen und Regionen sowie Akteure vor Ort für die Problematik der Polarisierung zu sensibilisieren, diese bei der Analyse von Polarisierung in den jeweiligen Kontexten zu unterstützen sowie die Entwicklung zielgerichteter Pilotprojekte zur Prävention oder Überwindung verschärfter Konfliktlagen vor Ort zu begleiten. Zudem förderte das Projekt die Zusammenarbeit von Kommunen mit diversen Akteuren und Institutionen vor Ort und stärkte die Partizipation von Bürger*innen. Einige der im Rahmen von BRIDGE entwickelten und erprobten Methoden und Instrumente zur lokalen Analyse von Polarisierung sowie eine Auswahl an Pilotprojekten zur Prävention oder Überwindung von Polarisierung und verschärften Konfliktlagen vor Ort werden im Folgenden vorgestellt.3 Zunächst gilt es jedoch, die begriffliche Eingrenzung und konzeptionelle Verortung des Phänomens der gesellschaftlichen Polarisierung zu skizzieren, die zu Beginn des Projekts erarbeitet wurde und als Bezugs- und Orientierungsrahmen aller nachfolgenden Projektaktivitäten diente.

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Für die Sozialwissenschaft etwa konstatieren die Autoren des Artikels »Understanding Polarization: Meanings, Measures, and Model Evaluation«: »Polarization is a topic of intense interest among social scientists, but there is significant disagreement regarding the character of the phenomenon and little understanding of underlying mechanics« (Bramson et al. 2017, 115). Das Projekt BRIDGE wurde von 2019 bis 2021 im Rahmen des Internen Sicherheitsfonds – Polizei (ISF-P) der Europäischen Union gefördert. Projektpartner: European Forum for Urban Security, Stadt Brüssel (Belgien), Rat des Departements Val d’Oise (Frankreich), Stadt Düsseldorf (Deutschland), Regierung von Katalonien (Spanien), Stadt Genk (Belgien), Stadt Igoumenitsa (Griechenland), Stadt Leuven (Belgien), Stadt Reggio Emilia (Italien), Region Umbrien (Italien), Stadt Rotterdam (Niederlande), Stadt Stuttgart (Deutschland), Stadt Terrassa (Spanien), Stadt Vaulx-en-Velin (Frankreich) sowie ufuq.de (Deutschland) und Real Instituto Elcano (Spanien). Die Projektergebnisse und Empfehlungen wurden im Handbuch von Efus zusammengefasst (Efus 2021).

Die Prävention demokratiegefährdender Polarisierung

Annäherung an das Phänomen der Polarisierung Die Annäherung an das komplexe und vielschichtige Phänomen der gesellschaftlichen Polarisierung erfordert einen interdisziplinären, ganzheitlichen und multisektoriellen Ansatz. Im Rahmen des BRIDGE-Projekts erarbeiteten Expert*innen aus verschiedenen Forschungsdisziplinen, etwa den Sozialwissenschaften, der Psychologie, den Kognitionswissenschaften und der Restorative Justice gemeinsam mit den Projektpartnern eine Arbeitsdefinition des Begriffs der »Polarisierung« sowie einen methodischen Leitfaden mit Indikatoren für Polarisierung, der als Grundlage der lokalen Analysen in den Partnerstädten und -regionen diente. Ziel war es, eine praxisrelevante Eingrenzung des Phänomens vorzunehmen, die für Kommunen und lokale Akteure aus dem Bereich der Präventionsarbeit anwendbar ist. Zunächst gilt es zu betonen, dass Polarisierung weder ein neues Phänomen darstellt noch generell ein für die Demokratie und das Zusammenleben schädlicher Faktor ist. Insbesondere die Polarisierung der politischen Landschaft kann die demokratische Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Interessen und politischen Konzepten fördern, die Debattenkultur bereichern sowie die politische Beteiligung und Aktivität von Bürger*innen bzw. Interessensgruppen und zivilgesellschaftlichen Akteuren begünstigen. Solche Formen von Polarisierung sind also abzugrenzen von Formen der Polarisierung, die das friedliche Zusammenleben einer pluralistischen und vielfältigen Gesellschaft sowie demokratische Verfahren zur Konfliktlösung und zum Interessensausgleich von Gruppen gefährden bzw. verunmöglichen (Pausch 2020). Den Wesenskern demokratischer und pluralistischer Gesellschaften bildet die Übereinkunft auf einen Bezugsrahmen gemeinsamer Werte und Prinzipien sowie idealerweise ein gewisser Grad an sozialem Zusammenhalt. Demokratiegefährdende Polarisierung hingegen zielt auf die Unterminierung dieser Übereinkünfte ab.4 »Polarisierung« wurde im BRIDGE-Projekt verstanden als wachsende Fragmentierung der Gesellschaft in antagonistische Kollektive, die sich als Opponenten in Bezug auf wesentliche Fragen der gemeinsamen Zukunft verstehen. Ihr Kernmerkmal ist die Präsenz eines starren »Wir-und-die«-Denkschemas, einhergehend mit Abwertung und Feindseligkeit seitens einer Gruppe gegenüber der jeweils »anderen« (Othering), und die Abwesenheit oder Ablehnung von Dialog. Diese Form der Polarisierung entfaltet eine Dynamik der verhärteten Fronten und

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In den letzten Jahren ist jedoch überall in Europa ein rasanter Aufstieg populistischer Kräfte in Regierungsverantwortung zu beobachten, auf Ebene der EU-Mitgliedsstaaten, aber auch auf kommunaler und regionaler Ebene. Diese politischen Akteure, auch als »Extremisten der Mitte« bezeichnet, nutzen ihre Ämter bzw. Mandate mitunter gezielt, um die Gesellschaft mittels spalterischer Rhetorik zu polarisieren und so die Grundpfeiler liberaler pluralistischer Demokratie in Europa zu schwächen.

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eskalierenden Konflikte und kann das Abgleiten von Gruppen oder Individuen in Richtung Gewaltbereitschaft, Kriminalität oder Extremismus begünstigen. Konkrete Maßnahmen zur Überwindung polarisierender Dynamiken vor Ort hingegen können den sozialen Ausgleich sowie eine Kultur friedlicher Konfliktlösung zwischen Gruppen stärken und somit urbane Resilienz und demokratischen Fortschritt fördern. Sozialer Zusammenhalt, verstanden als soziale Beziehungsgeflechte zwischen Individuen bzw. Kollektiven, ist für das Vertrauen, die Reziprozität und die Solidarität einer Gesellschaft unabdingbar. Wenngleich eine trennscharfe Abgrenzung und die Bestimmung der Wechselwirkungen von sozialem Zusammenhalt und Polarisierung aufgrund der Komplexität und Fluidität der Phänomene schwierig sind, gibt es doch messbare Indikatoren, die eine Analyse lokaler Polarisierungsdynamiken bzw. des Grads an sozialer Kohäsion5 vor Ort ermöglichen. In seiner Publikation »Polarisation – Understanding the dynamics of us versus them« kennzeichnet Bart Brandsma »Polarisierung« als Gedankenkonstrukt, das die soziale Welt in starre »Wir-und-die«-Schemata kategorisiert, von Identitätsdiskursen befeuert wird und innerhalb dessen sich Gruppenanimositäten und Antagonismen wechselseitig verstärken. Polarisierung entfaltet ihre Dynamik demnach durch den Appell an Emotionen wie Verunsicherung, Angst und Wut und durch das gezielte Ausnutzen tatsächlicher oder wahrgenommener Konflikte oder Vorfälle (Brandsma 2017).6 Um diesen Prozess der Polarisierung in Gang zu halten, bedarf es der kontinuierlichen Erzeugung von Aufmerksamkeit und Kommunikationsanlässen. Brandsma differenziert verschiedene Akteure bzw. Rollen des Prozesses von Polarisierung. Die »Aufwiegler*innen« oder Treiber*innen von Polarisierung (pushers) agitieren mithilfe abwertender Rhetorik gegen die (vermeintlich) verfeindete Gruppe, um das Narrativ des unversöhnbaren Konflikts der eigenen mit der Fremdgruppe zu propagieren. Gelingt dies, werden erfolgreich Anhänger*innen (joiners) für die eine oder andere Seite rekrutiert, die sich das zugrundeliegende Identitätskonstrukt zu eigen machen. Sogenannte »Brückenbauer*innen« hingegen, die zwischen den Antagonisten zu vermitteln suchen, tragen dabei entgegen ihrer Intention zur Verfestigung bzw. Legitimierung des polarisierenden Narrativs bei. Brandsma empfiehlt, in solcherart eskalierenden Situationen mit Interventionen zunächst auf diejenigen zu fokussieren, die nicht am Konfliktgeschehen beteiligt sind und sich nicht einer der Parteien zuordnen (die »schweigende Mehrheit«), um dem entzweienden Narrativ die Legitimität zu entziehen und somit die Dynamik der Polarisierung zu brechen.

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Zu Indikatoren des sozialen Zusammenhalts vgl. Council of Europe (2005) bzw. UNODC (2010). Siehe auch Radicalisation Awareness Network (2017).

Die Prävention demokratiegefährdender Polarisierung

Aus der Perspektive der Psychologie lassen sich individuelle und kollektive Einstellungen sowie Denk- und Verhaltensmuster beleuchten, die Polarisierung begünstigen können.7 So können Denkmuster geringer kognitiver Komplexität, das sogenannte »Schwarz-Weiß-Denken« und die Zuschreibung rigider, feststehender Gruppenidentitäten im Sinn eines »Wir-und-die«-Schemas (us-and-them thinking) als Indikatoren für Polarisierung gelten. Solche rigiden Denk- und Einstellungsmuster können dazu führen, dass Einzelpersonen oder Kollektive größere Schwierigkeiten haben, Interessenskonflikte und Differenzen mit anderen auf eine friedliche und konstruktive Art zu lösen bzw. zu tolerieren und auszuhalten. Die Zugehörigkeit zu Gruppen bzw. die Abgrenzung zu anderen ebenso wie Konflikte und Meinungsverschiedenheiten charakterisieren das normale alltägliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft. Individuen verfügen dabei zeitgleich über Zugehörigkeiten zu diversen Gruppen oder Kollektiven, personelle Identitäten und Gruppenidentitäten sind in der Regel bis zu einem gewissen Grad vielschichtig und flexibel. Problematisch und für Polarisierung indikativ ist jedoch die Fixierung auf einseitige starre Gruppenidentitäten bzw. die Selbstverortung innerhalb eines antagonistischen »Wir-und-die«-Schemas, das die eigene Zugehörigkeit zu (ausschließlich) einer Gruppe postuliert und zugleich der anderen Gruppe negative, abwertende oder gar entmenschlichende Merkmale und Charakteristika zuschreibt. Studien zeigen, dass solcherart starre Gruppenidentitäten mit strengen Inklusions- bzw. Ausschlusskriterien Individuen und Kollektiven insbesondere in Zeiten von Verunsicherung oder Instabilität das Gefühl von Zugehörigkeit und Sicherheit vermitteln (vgl. Schmid et al. 2009). Solchen festgefahrenen Denkmustern geringer Komplexität in Bezug auf Gruppenidentitäten und -konflikte kann jedoch entgegengewirkt werden, indem in professionell begleiteten Formaten Gruppeninteraktionen initiiert werden, die Verständigung und Dialog ermöglichen und somit zum Abbau gegenseitiger Vorurteile beitragen (vgl. Pettigrew/Tropp 2006). Festzuhalten bleibt, dass die Simplifizierung von Identitätskonzeptionen sowie der Realität insgesamt ein wesentliches Merkmal demokratiegefährdender Polarisierung ist. Diese hat insbesondere durch die Verbreitung von Verschwörungslegenden, Fake News und Hassbotschaften in Sozialen Medien in den letzten Jahren enorm an Reichweite und Wirkmacht hinzugewonnen. Wesentlicher Auslöser ist dabei der als »Echokammer« oder »Filterblase« (vgl. Pariser 2011) bezeichnete Effekt, der durch eine von Algorithmen gesteuerte Personalisierung von Informationen dazu führt, dass Nutzer*innen der entsprechenden Plattformen vornehmlich mit Meinungen und Inhalten konfrontiert werden, die dem eigenen Weltbild bzw. 7

Expert*innen der anwendungsorientierten Forschungsgruppe IC Thinking der psychologischen Fakultät der Universität Cambridge haben das BRIDGE-Projekt wissenschaftlich begleitet; Informationen unter https://icthinking.org.

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dem eigenen ideologischen Spektrum nahestehen. Dieser Echokammereffekt verstärkt simplifizierte Denkschemata, verhindert er doch die Konfrontation bzw. den Austausch mit anders gearteten Weltbildern und Meinungen. Die durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie bedingte soziale Isolation vieler Menschen hat diese Tendenz vielfach noch einmal verstärkt. Soziale und ökonomische Ungleichheit, die Marginalisierung oder Diskriminierung gesellschaftlicher Gruppen sowie mangelnde politische und gesellschaftliche Repräsentation bzw. Partizipationsmöglichkeiten aller Bürger*innen in demokratischen Prozessen sind Faktoren, die Polarisierung auslösen oder verschärfen können. Die Prävention bzw. Überwindung von Polarisierung in unseren Städten und Regionen ist also wesentlich mit der Bekämpfung struktureller Ungleichheit bzw. der Schaffung gleichwertiger Lebensgrundlagen, auch etwa in Bezug auf den Zugang zu Unterstützungsangeboten und sozialer Infrastruktur, verknüpft. Die Minderung von Diskriminierung, die Stärkung sozialer und politischer Teilhabe sowie die Schaffung verbesserter Partizipationsmöglichkeiten in Bezug auf politische Entscheidungsprozesse vor Ort sind wesentliche Faktoren, die urbane Resilienz fördern.

Lokale Polarisierungsanalysen Die Umsetzung lokaler Aktivitäten zur Minderung oder Prävention von Polarisierung erfordert zunächst eine umfassende Analyse potenzieller Risikofaktoren sowie existierender gesellschaftlicher Spannungen und Konflikte im Stadtkontext. Diese Analyse sollte im Sinn eines strategischen Ansatzes zur urbanen Sicherheit (vgl. Efus 2016) gemeinsam mit diversen lokalen Akteuren und Behörden sowie unter Einbindung der Zivilgesellschaft erstellt werden. Die 13 Partnerstädte und Regionen des BRIDGE-Projekts erfassten zunächst durch eine Kombination quantitativer und qualitativer Analysemethoden sowohl Risikofaktoren als auch bestehende (Präventions-)Strukturen und Initiativen, die als stärkende Faktoren das friedliche demokratische Zusammenleben vor Ort festigen. Die verwendeten Methoden reichten dabei von der Analyse von Daten zu demographischen und sozioökonomischen Charakteristika der Stadtgesellschaft und Erhebungen zu Perspektiven auf Konfliktlagen und Risikofaktoren durch Fokusgruppen und Interviews mit diversen lokalen Akteursgruppen bis hin zur Entwicklung und Erprobung spezifischer Fragebögen, mittels derer der Grad und die Verbreitung von starren »Wirund-die«-Denkschemata in der lokalen bzw. regionalen Bevölkerung erfasst werden konnten. Eine solche Polarisierungsanalyse gibt dabei jedoch stets nur einen zeitlich begrenzten Ausschnitt wieder und sollte deswegen regelmäßig durchgeführt werden.

Die Prävention demokratiegefährdender Polarisierung

Die Einbeziehung von Daten zur Demographie sowie die Erfassung von Defiziten und strukturellen Ungleichheiten sind ebenso wesentlich für die Identifizierung lokaler Risikofaktoren wie die gezielte Erhebung sozialer und politischer Konflikte oder Ereignisse, die für Gruppen oder Segmente der lokalen Bevölkerung relevant sind. Hierzu können etwa Kontroversen über steigende Kriminalitätsraten bzw. Unsicherheitsgefühle in bestimmten Stadtvierteln gehören, Vorbehalte von Anwohner*innen bezüglich der Ansiedlung einer Unterkunft für Geflüchtete in der Nachbarschaft oder auch die starke Resonanz internationaler politischer Konflikte bei bestimmten Teilen der Bevölkerung. Lokale Kontroversen und Konflikte werden häufig von polarisierenden Akteuren ausgenutzt bzw. verstärkt, um ein toxisches »Wir-und-die«-Narrativ und somit eine feindselige Gegenüberstellung zwischen bestimmten Bevölkerungsgruppen zu propagieren. Neben der Analyse von Daten zu Einkommensverteilung, Erwerbstätigen- bzw. Arbeitslosenquoten und demographischer Merkmale (Alter, Geschlecht, religiöser und ethnischer Zugehörigkeiten) der Einwohner*innen gehört es zur Erfassung der stadtspezifischen Charakteristika, zu ermitteln, ob in allen Teilen der Stadt bzw. der Bevölkerung der Zugang zur öffentlichen Infrastruktur, etwa Bildung, Gesundheitsfürsorge und Kinderbetreuung, sowie zu Freizeit- und Kultureinrichtungen ebenso wie zum öffentlichen Nahverkehr besteht. Partizipation und Dialog sind die Grundpfeiler von Demokratie und sozialem Zusammenhalt, insbesondere im urbanen Kontext, indem die direkteste und unmittelbarste Form von Teilhabe und politischer Partizipation von Bürger*innen gelebt und erfahren wird. Ungleichheit in Bezug auf politische Repräsentation und mangelnde Mitbestimmungsmöglichkeiten bestimmter Bevölkerungsgruppen hingegen verschärfen bereits vorhandene alltägliche Erfahrungen der Marginalisierung und Ausgrenzung von Teilen der Stadtgesellschaft. Eine Marginalisierung bestimmter Gruppen manifestiert sich auch in einem Mangel an geeigneten Beratungs- und Unterstützungsstrukturen bzw. Angeboten, die Bürger*innen bei der Wahrnehmung ihrer Rechte unterstützen, etwa im Bereich der Antidiskriminierung oder bei Fragen des Aufenthaltsrechts, sozialer Leistungen oder der Gesundheitsfürsorge. Auf Stadt- wie auf Stadtteilebene spielt die Analyse des Zugangs zu Unterstützungsstrukturen ebenso wie die Erfassung der bestehenden Formen und Formate politischer Mitbestimmung und Teilhabe eine wesentliche Rolle, um zielgenau Initiativen zur Prävention von Polarisierung im urbanen Kontext entwickeln zu können. Die Wahrnehmung und Bewertung von Polarisierungsdynamiken bzw. sozialen oder politischen Konfliktlagen vor Ort wird je nach Perspektive des Betrachters oder der Betrachterin unterschiedlich ausfallen. Die Einschätzung einer Polizistin mag sich von der eines Sozialarbeiters unterscheiden, Senior*innen haben vermutlich eine andere Perspektive auf die Geschehnisse in der Stadt als Jugendliche oder Alleinerziehende. Um ein möglichst umfassendes Bild der Situation vor Ort

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zu erhalten, ist die Einbeziehung einer Vielfalt von Akteuren sowie von Bürger*innen unterschiedlichster Lebenshintergründe in den Analyseprozess unabdingbar. Polarisierung und die ihr zugrundeliegenden Faktoren sind mitunter hochsensible, heikle Themen. Die Mitwirkung verschiedener Akteure und von Bürger*innen bei der Erstellung einer Polarisierungsanalyse bedarf deswegen einer sorgfältigen Vorbereitung sowie einer entsprechenden Sensibilität in der Kommunikation. Polarisierungsdynamiken vor Ort zu verstehen, beginnt mit der Identifizierung der Anführer*innen der beiden antagonistischen Lager und ihrer Interessen und Anliegen sowie dem Erkennen der am Polarisierungsgeschehen beteiligten Organisationen, Institutionen und Akteure. Besonderes Augenmerk gilt dabei lokalen Medienunternehmen und ihrer Rolle im polarisierenden Diskurs. Um Gegenmaßnahmen entwickeln zu können, sollten Organisationen, Repräsentant*innen und Personen eingebunden werden, die bislang nicht aktiv am polarisierenden Konfliktgeschehen beteiligt waren, die aber über allgemeine öffentliche Glaubwürdigkeit und breites Vertrauen verfügen und in der Lage sind, mit verschiedenen Interessengruppen und Communities zusammenzuarbeiten. Einen weiteren Aspekt der lokalen Polarisierungsanalyse bildet die Erfassung der vorhandenen zivilgesellschaftlichen Initiativen, Vereine und Netzwerke. Mittels nachbarschaftlicher, sportlicher, kultureller und sozialer Angebote tragen sie zur Minderung von sozialer Spaltung und Polarisierung sowie zur Stärkung des sozialen Zusammenhalts bei. Sie bringen Menschen miteinander in Dialog, unterstützen faire und gerechte soziale Beziehungen und helfen Menschen, gegenseitig Vertrauen aufzubauen. Die beiden folgenden Instrumente erlauben es, spezifische Indikatoren für Spannungen und Polarisierungsdynamiken im urbanen bzw. regionalen Kontext festzustellen.

Rotterdams »Quick-Scan-Methode« Im Rahmen ihrer Strategie zur Prävention von Radikalisierung, Extremismus und Polarisierung führt die Stadt Rotterdam mit der »Quick-Scan-Methode« regelmäßig eine Analyse sozialer Spannungen und polarisierender Ereignisse und Themen durch. Dieses Instrument erlaubt es der Stadt, Indikatoren und Warnsignale zu potenziell eskalierenden Konfliktlagen und polarisierenden Diskursen zu erfassen. Die Quick-Scan-Methode beruht auf der Durchführung von Einzel- und Gruppengesprächen mit sogenannten Schlüsselfiguren, d.h. Personen, die die Vielfalt aller Gruppen der Stadtgesellschaft repräsentieren. Die so gesammelten Informationen erlauben es, Spannungen und Beunruhigungen in der Bevölkerung zu iden-

Die Prävention demokratiegefährdender Polarisierung

tifizieren und rechtzeitig darauf reagieren zu können.8 Andere Informationsquellen des Quick Scan sind neben dem Austausch mit Jugendamt, Polizei und anderen Behörden das Monitoring lokaler Medien und insbesondere Sozialer Netzwerke. Die Stadt Rotterdam erhält mit den Schlüsselpersonen ein Netzwerk, das aus Menschen verschiedener Stadtviertel, Communities, Berufs- und Altersgruppen besteht. Diese Personen genießen großes Vertrauen in der Bevölkerung und engagieren sich für das friedliche demokratische Zusammenleben. Die Stadt veranstaltet für dieses Netzwerk an Freiwilligen regelmäßige Trainings und Thementage. Die langfristige und vertrauensvolle Zusammenarbeit der Stadt mit diesen Vertreter*innen der Stadtgesellschaft bildet das Fundament des Quick Scan. Die Schlüsselpersonen sind durch ihre Vernetzung in ihrem Stadtviertel oder Umfeld in der Lage, frühzeitig Anzeichen von Sorge oder Spannung aufseiten bestimmter Gruppen wahrzunehmen. Die Informationen werden kategorisiert in »weiche« und »harte« Anzeichen. Erstere bezeichnen Stimmungen oder Befürchtungen, während »harte« Anzeichen sich auf konkrete Vorfälle oder Ereignisse beziehen. Die Ergebnisse des Quick Scan werden mit anderen Analysemethoden, etwa einem Monitoring zur Radikalisierung, abgeglichen und bilden die Basis für die Präventionsstrategie der Stadt.

Erhebung zum »Nullsummendenken« Ein Indikator, der Aufschluss über die Präsenz von Spannungen und Polarisierung geben kann, ist die Verbreitung spezifischer Denkschemata in Bezug auf Gruppenidentitäten und -beziehungen. Im Rahmen von BRIDGE wurde die Befragung zum »Nullsummendenken« gemeinsam mit Expert*innen in den Partnerstädten und regionen unter Berücksichtigung des jeweiligen spezifischen Kontexts angepasst und erprobt. »Nullsummendenken« ist ein Denkschema, das das Leben im Sinn eines »Nullsummenspiels« begreift, nach dem es nur »Gewinner« und »Verlierer« gibt. Die Erhebung zur Verbreitung dieses Denkschemas erlaubt es Kommunen, zu identifizieren, inwieweit die befragten Individuen die Beziehungen zwischen Gruppen als starr und antagonistisch begreifen bzw. inwieweit Ausgleich und Dialog möglich sind. Die Befragung konfrontiert Teilnehmer*innen mit Aussagen wie

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Der Quick Scan wird auch anlässlich besonderer Ereignisse durchgeführt. So führte der Terroranschlag auf Moscheen in Christchurch, Neuseeland, im Jahr 2019 bei vielen Bevölkerungsgruppen Rotterdams zu Beunruhigung. Die Stadt organisierte daraufhin gemeinsam mit verschiedenen lokalen Initiativen und Vertreter*innen von Religionsgruppen in mehreren Stadtteilen Dialogformate, um sowohl dem Austausch über Ängste und Besorgnisse Raum zu geben als auch die Verständigung über das friedliche Zusammenleben aller Menschen in Rotterdam zu stärken.

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»Der Erfolg eines Menschen ist der Misserfolg eines anderen«, »Leben bedeutet, wenn eine*r gewinnt, verliert ein*e andere*r«, »In den meisten Situationen sind die Interessen der Leute unvereinbar«. Die Befragten schätzen auf einer mehrstufigen Skala ein, inwieweit sie mit diesen Aussagen übereinstimmen. Ergänzend werden Angaben erbeten, mit welcher Gruppe sich die teilnehmenden Personen identifizieren oder am wenigsten identifizieren können. Bei der Umsetzung dieser Befragung gilt es, eine repräsentative Anzahl an Teilnehmer*innen einzubeziehen, die die Vielfalt der lokalen Bevölkerung widerspiegeln. Zudem erfordert diese Erhebung die Kooperation mit Expert*innen, die die Vorbereitung und die Einhaltung der hohen ethischen und datenschutzrechtlichen Anforderungen unterstützen.

Pilotprojekte zur Prävention und Minderung von Polarisierung Auf der Grundlage der lokalen Analysen entwickelten die Projektpartner passgenaue Maßnahmen zur Minderung oder Prävention von Polarisierung vor Ort. Im Folgenden werden drei Beispiele vorgestellt.

Begleitung der Stadtentwicklung Reggio Emilias durch Stärkung des sozialen Zusammenhalts Die lokale Analyse der Stadt Reggio Emilia fokussierte sich auf das den Bahnhof umgebende Stadtviertel, in dem Spannungen und Konflikte zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen festgestellt wurden. Die Gegend war geprägt von sozialer und ökonomischer Ungleichheit und einem Mangel an öffentlichen Räumen, die Begegnung und Austausch der Anwohner*innen ermöglicht hätten. Das multikulturelle Stadtviertel litt zudem unter einem negativen Image, das insbesondere durch lokale Medien verbreitet wurde. Die Stadt entschied sich gemeinsam mit lokalen Partnern dazu, durch Aktivitäten zur Förderung des sozialen Zusammenhalts die geplanten Stadtentwicklungsprozesse in diesem Gebiet zu begleiten. Die stadtplanerischen Maßnahmen sahen die Umwandlung eines ehemaligen Gewerbegrundstücks vor, auf dem unter anderem die Ansiedlung des neuen Hauptgebäudes der lokalen Polizei vorgesehen war. Aufbauend auf bereits bestehenden Netzwerken organisierte die Stadt zusammen mit der Organisation Mondinsieme eine Reihe von Treffen mit Bürger*innen, Vereinen, Vertreter*innen der Stadt und der lokalen Polizei, um gemeinsam konkrete Aktivitäten zu entwickeln. Zu diesen gehörte die Veranstaltung eines Straßenfestivals, das die Anwohner*innen aktiv mitgestalteten. Zudem wurde eine Workshop-Reihe für Polizist*innen durchgeführt, mit dem Ziel, interkulturelle Kommunikation zu vermitteln, gegenseitige

Die Prävention demokratiegefährdender Polarisierung

Vorurteile zwischen Anwohnerschaft und Polizei abzubauen sowie Dialogfähigkeit und Vertrauensaufbau zwischen diesen Gruppen zu stärken. Diese und weitere geplante Aktivitäten ermöglichen es den Menschen, die Geschichte ihres Stadtviertels gemeinsam neu zu schreiben.

Respektlotsen unterwegs in Stuttgart In Stuttgart führte eine Reihe von Gewaltvorfällen und eskalierenden Konflikten im öffentlichen Raum, etwa tätlichen Angriffen auf Mitarbeiter in Schwimmbädern, zu einer auch durch die Medien befeuerten Polarisierung. Im Rahmen dieser kam es zu einer Pauschalverurteilung bestimmter Bevölkerungsgruppen; insbesondere Jugendliche und junge Männer mit Migrationshintergrund wurden dabei stigmatisiert. Um den gegenseitigen Respekt und das friedliche Miteinander im öffentlichen Raum zu stärken, entwickelte die Stadt Stuttgart gemeinsam mit lokalen Akteuren das Projekt Respektlotsen. Vornehmlich junge Menschen wurden dabei als Freiwillige angeworben und zu Themen wie Kommunikation und Konfliktmanagement geschult, um Gleichaltrige ebenso wie andere Bevölkerungsgruppen auf Plätzen oder in Parks und Schwimmbädern der Stadt für respektvolles Verhalten und sozialen Zusammenhalt zu sensibilisieren. Die Missionen wurden stets gemeinsam mit Mitarbeiter*innen der Stadt und teilweise mit der Polizei durchgeführt. Die Aktion zeigte, dass viele Menschen und insbesondere Jugendliche für diese niedrigschwellige Form der Ansprache und des Dialogs offen sind. Die Respektlotsen repräsentierten die Vielfalt Stuttgarts und wirkten zudem als Vermittler*innen zwischen Stadtverwaltung und Bevölkerung. Stuttgart wird das Projekt weiterführen.

Dialogrunden zur Pandemie in Genk Die Stadt Genk stellte im Rahmen ihrer lokalen Analyse fest, dass die COVID-19Pandemie und die zu ihrer Eindämmung beschlossenen Maßnahmen nicht nur zu großer Verunsicherung aufseiten der Genker Bürger*innen führten, sondern auch negative Auswirkungen auf bereits bestehende soziale Spannungen und Konflikte zwischen Bevölkerungsgruppen hatten. Soziale Isolation, der Wegfall von Begegnungs- und Austauschmöglichkeiten und die Verbreitung von Falschinformationen und Hassrede in Sozialen Netzwerken wurden als Faktoren identifiziert, die vorhandene Polarisierungsdynamiken verschärften. Um verschiedene Bevölkerungsgruppen miteinander ins Gespräch zu bringen und den sozialen Zusammenhalt zu stärken, organisierte die Stadt online und (wenn es die Pandemielage erlaubte) in Präsenz Dialogrunden, zu denen Menschen verschiedener Altersund Bevölkerungsgruppen eingeladen waren, um sich über ihre Erlebnisse und Erfahrungen während der Pandemie auszutauschen. Diese von einem speziell ge-

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schulten Sozialarbeiter begleiteten Gesprächsrunden, die unter anderem mit der Methode des Storytellings gestaltet wurden, dienten dem Ziel, persönlichen Erfahrungen Raum zu geben und Kontakte zwischen diversen Gruppen zu ermöglichen bzw. zu erleichtern.

Empfehlungen für kommunale Akteure Demokratiegefährdende Polarisierung ist ein vielschichtiges und komplexes Phänomen, das eine Herausforderung für die Gesellschaft insgesamt darstellt und sich auf eine Vielzahl an Sphären und Lebensräumen der Stadt auswirkt. In die Entwicklung einer städtischen Präventionsstrategie bzw. konkreter Aktivitäten zur Überwindung von Polarisierung sollte eine Vielfalt an lokalen Akteuren, Institutionen und Vertreter*innen der Zivilgesellschaft eingebunden werden. Ihre Perspektiven bzw. ihre Wahrnehmung der Geschehnisse, Dynamiken und möglichen Ursachen von Polarisierung können sich dabei stark unterscheiden. Die Analyse, ob in Teilen der Bevölkerung Formen demokratiegefährdender Polarisierung vorliegen bzw. welche Verhaltensweisen, Ereignisse und Situationen als polarisierend gekennzeichnet werden können, kann nur unter der Voraussetzung erfolgen, dass sich die beteiligten Akteure im Vorfeld gemeinsam auf eine genaue Definition und Eingrenzung der verwendeten Begriffe und Konzepte geeinigt haben. Diese Erarbeitung eines allen gemeinsamen Verständnisses von »Polarisierung« und die Entwicklung gemeinsamer Ziele sind von herausragender Bedeutung für den Erfolg der multisektoriellen bzw. institutionenübergreifenden Zusammenarbeit. Interessenkonflikte oder Spannungen zwischen Gruppen sind legitim und konstituieren die Norm in demokratischen Gesellschaften. Die missbräuchliche oder leichtfertige Verwendung des Begriffs »Polarisierung« im pejorativen Sinn kann zur Diskreditierung legitimer Interessen einer bestimmten Gruppe führen und dabei Spannungen und polarisierende Dynamiken erst auslösen. Im Fall verschärfter Spannungen zwischen Gruppen bzw. Teilen der Bevölkerung sollten Verantwortliche in den Kommunen sich im Klaren darüber sein, dass weder Vertreter*innen der Politik noch der Stadtverwaltung oder Polizei in der Lage sind, als Brückenbauer*innen zwischen den polarisierten Gruppen zu fungieren, da diese vermutlich von den am Geschehen Beteiligten nicht als Repräsentant*innen unparteiischer bzw. vertrauenswürdiger Institutionen wahrgenommen würden. Es gilt in diesen Fällen, Personen bzw. Organisationen einzubeziehen, die über breites Vertrauen und Glaubwürdigkeit auf allen Seiten verfügen. Bei der Kommunikation der vorgesehenen Maßnahmen zur Minderung der Polarisierung vor Ort sollte das Wiederholen der Narrative des polarisierenden Diskurses ebenso vermieden werden wie das unbeabsichtigte Evozieren bestehender

Die Prävention demokratiegefährdender Polarisierung

Vorurteile und Stigmatisierungen gegenüber den beteiligten Gruppen (vgl. Efus 2017). Da Polarisierung durch die Verhärtung der Fronten und die Abwesenheit oder sogar Ablehnung konstruktiven Dialogs gekennzeichnet ist, sollten Formen und Formate zum Austausch unter den beteiligten Gruppen und zum gegenseitigen Vertrauensaufbau initiiert werden. Die Schaffung solcher Dialogräume bedarf professioneller Begleitung und sorgfältiger Vorbereitung, um eine Verstärkung bzw. Perpetuierung der bestehenden Konflikte und Spannungen zu vermeiden. Mit Blick auf die sich insbesondere in den Sozialen Medien dramatisch ausbreitenden polarisierenden Dynamiken und Narrative ist es Kommunen zu empfehlen, ihre Kapazitäten im Bereich des Monitorings von ortsbezogener Polarisierung in Sozialen Medien auszubauen. Zudem sollten Kommunikationsstrategien entwickelt werden, um Gegennarrative zu polarisierender Hassrede, Verschwörungstheorien und Fake News zu platzieren. Dabei sollte der Schulterschluss mit lokalen Akteuren und insbesondere lokalen Medien gesucht werden. Um Polarisierung auf kommunaler Ebene wirksam begegnen zu können, bedarf es umfangreicherer Forschungsmittel, einer stärkeren Förderung konkreter Präventionsprojekte sowie eines europaweiten Austauschs über erfolgreiche Ansätze und Maßnahmen, die urbane Resilienz und das friedliche Zusammenleben vor Ort stärken. Ereignisse der letzten beiden Jahre, etwa der Anschlag auf das Kapitol in Washington im Januar 2021 oder die Ausbreitung von Verschwörungstheorien, die die Proteste gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie in ganz Europa prägen, zeigen, dass sich eine Polarisierung und Radikalisierung in Richtung eines gewaltbereiten Extremismus zunehmend bei Erwachsenen findet. Kommunale Präventionsprojekte sollten sich dementsprechend verstärkt darum bemühen, auch Ansprachen und Angebote für diese Zielgruppe zu entwickeln.

Literatur Bramson, A./Grim, P./Singer, D.J./Berger, W.J./Sack, G./Fisher, S./Flocken, C./ Holman, B. (2017): Understanding Polarization: Meanings, Measures, and Model Evaluation. In: Philosophy of Science, 84, S. 115-159 Brandsma, B. (2017): Polarisation. Understanding the Dynamics of Us versus Them. BB in Media Council of Europe (2005): Concerted development of social cohesion indicators. Methodological guide. Straßburg Efus (Europäisches Forum für Urbane Sicherheit) (2016): Methoden und Instrumente für einen strategischen Ansatz zur urbanen Sicherheit. Paris Efus (2017): Prävention von diskriminierender Gewalt auf lokaler Ebene: Praxisbeispiele und Empfehlungen. Paris

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Efus (2021): BRIDGE – Understanding and addressing polarisation at the local level. https://issuu.com/efus/docs/publication_bridge_en_pages, 24.2.2022 Pariser, E. (2011): The Filter Bubble: What the Internet is Hiding from You. London Pausch, M. (2020): Polarisation of pluralist democracies: Considerations about a complex phenomenon. https://efus.eu/wp-content/uploads/2021/04/Contribut ion-Markus-Pausch-EN_georgia.pdf, 24.2.2022 Pettigrew, T.F./Tropp, L.R. (2006): A meta-analytic test of intergroup contact theory. In: Journal of Personality and Social Psychology, 90 (5), S. 751-783 Radicalisation Awareness Network (2017): RAN-Handbuch zum Polarisierungsmanagement. Amsterdam Schmid, K./Hewstone, M./Tausch, N./Cairns, E./Hughes, J. (2009): Antecedents and Consequences of Social Identity Complexity: Intergroup Contact, Distinctiveness Threat, and Outgroup Attitudes. In: Personality and Social Psychology Bulletin, 35, S. 1085-1098 UNODC (2010): Manual on Victimization Surveys. Genf

Lokalexpertise und Narrative des gesellschaftlichen Zusammenhalts Aushandlungen in einem partizipativen Forschungsprojekt Tatiana Zimenkova, Verena Molitor

Abstract Wie entstehen resiliente Räume? Was hat lokale Expertise von Bürger*innen mit diesen Prozessen zu tun? Wie kann die Lokalexpertise verwendet werden, um Radikalisierung entgegenzuwirken? Diesen Fragen geht der vorliegende Beitrag nach, in dem Ergebnisse des Forschungsprojekts »ZusammenhaltsNarrative Miteinander erarbeiten (ZuNaMi)«, welches eine gemeinschaftliche Aushandlung des Zusammenhaltsbegriffs und der Zusammenhaltsnarrative im Fokus hatte, betrachtet werden. Ferner soll in diesen Beitrag die Expertise der beiden Autorinnen aus dem Bereich der Organisationsberatung mit einfließen.

Einleitung Geht man davon aus, dass jede*r letzten Endes in einer sicheren Nachbarschaft leben möchte, in der sie*/er* sich wohlfühlt, und dass jede*r weiß, wie solch eine Nachbarschaft – aus der jeweils eigenen individuellen Perspektive – aussehen sollte, d.h. dass jede*r eine Lebensexpertise zur Gestaltung einer guten, wünschenswerten Nachbarschaft hat (auch wenn die Ressourcen zur Umsetzung, von finanziellen über Wissensressourcen, fehlen mögen), kann man sich die Frage stellen, ob man im Sinn der Governance nicht an diese Lebensexpertise appellieren oder daran anschließen kann, um Radikalisierung entgegenzuwirken (für eine Diskussion des Radikalisierungsbegriffs Abay Gaspar et al. 2018). In diesem Beitrag wird Radikalisierung im Kontext der Polarisierung gedacht und somit eine mögliche Spannung zwischen Zusammenhalt (basierend auf dialogischen Strukturen und Aushandlungen) und Radikalisierung (basierend auf Diskursverweigerung bzw. (Selbst-)Exklusion aus dem Diskurs und Unerreichbarkeit für alternative Argumente) in den Fokus der Überlegungen gestellt. Auch wenn der Weg über die Lebensexpertise der Bürger*innen und eine Ermächtigung der Lokalexpertise ein weiter zu sein

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Tatiana Zimenkova, Verena Molitor

scheint: Wenn es Ziel ist, der Radikalisierung entgegenzuwirken, sind sich die Autorinnen dieses Beitrags sicher, dass er einen nachhaltigen Weg der Radikalisierungsbekämpfung darstellen kann bzw. sollte. Ein Teilprojekt von ZuNaMi1 (unter Leitung von Tatiana Zimenkova) befasste sich vor allem mit methodischen Zugängen zu lokalen Aushandlungen von Zusammenhalt. In diesem Beitrag gehen wir auf einige methodische Erkenntnisse aus dem Projekt ein, sowie auf die Idee der lokalen Expertise als theoretischem Konstrukt und als anwendungsrelevantem Konzept mit Blick auf Identitäts- und Kohäsionstheorien, um eine nachhaltige Perspektive zu resilienten Räumen aufzubauen. Zentral im Rahmen dieses Beitrags ist – und hier gehen wir über die Erkenntnisse des Projekts hinaus – die räumlich-geografische Komponente des Zusammenhalts, welche wir als unser Konzept der anwendungsorientierten Resilienz darstellen möchten.

Kohäsion als Gegenentwurf zur Radikalisierung? Resilienz, Kohäsion, Radikalisierung – theoretische Zugänge Ausgehend von einer stadtsoziologischen Perspektive (Löw 2008), nimmt das ZuNaMi-Projekt eine Eigenlogik jedes städtischen Raums an, somit ist die Idee der Radikalisierung und der Deradikalisierung mithilfe des vorliegenden ZuNaMi-Ansatzes (Zimenkova 2021a) lokalspezifisch/stadtspezifisch und universell zugleich. Dementsprechend muss bei Betrachtung des vorliegenden Ansatzes zum Zusammenhalt als eines Ansatzes der Antiradikalisierung deutlich sein, dass individuelle, spezifische Formen der Radikalisierung stets mitgedacht werden sollten. So sind diese in Dortmund nicht nur in der Bevölkerungsstruktur, sondern auch geografisch sichtbar – es mag also sein, dass der räumliche Bezug der Resilienz, des Zusammenhalts aufseiten von Dortmunder Bürger*innen in einer besonderen Weise auf die räumlich geprägte Radikalisierung in dieser Stadt reagiert. So werden z.B. bestimmte Stadtteile, wie Dortmund-Dorstfeld, als rechtsextremistische Hochburgen beschrieben (Kubiak 2020; Luzar 2013, 2016), andere wiederum, wie die Dortmunder Nordstadt, als sogenannte No-go-Areas, die Nährboden für verschiedene Radikalisierungstendenzen bieten (Brandt et al. 2020, 228ff.). Dies soll jedoch nicht bedeuten, dass der ZuNaMi-Ansatz kein generalisierbarer wäre, vielmehr deutet dies auf die durch das Projekt unterstrichene zentrale

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Das Projekt ZuNaMi wurde im Rahmen der Förderlinie »Zusammenhalt stärken in Zeiten von Krisen und Umbrüchen« des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und in einer intensiven Zusammenarbeit zweier Hochschulen (Westfälische WilhelmsUniversität Münster, Hochschule Rhein-Waal) und eines Praxispartners (Auslandsgesellschaft.de) durchgeführt, Laufzeit: 2018 – 2021 (https://zusammenhalt-dortmund.de/).

Lokalexpertise und Narrative des gesellschaftlichen Zusammenhalts

Notwendigkeit hin, Lokalexpertise stets ernst zu nehmen und ins Zentrum der Radikalisierungsprävention zu stellen. Sieht man die räumliche Komponente der Radikalisierung (in Dortmund) und bedenkt man, dass die Teilnehmer*innen der ZuNaMi-Werkstätten in ihrer Auseinandersetzung mit dem Zusammenhaltsbegriff zwischen andauerndem, auf Diskurs und Aushandlung basiertem Zusammenhalt einerseits und zweckgebundenem Zusammenhalt andererseits unterschieden haben (ZuNaMi-Dataset, Brandt 2021) und dass sie den letzteren – z.B. in der rechten Szene – durchaus auch räumlich beschrieben haben, so kann eine Verbindung zwischen den Begriffen Radikalisierung/Resilienz/Zusammenhalt etabliert werden. Nun muss man zunächst die Begrifflichkeiten des »Zusammenhalts« und der »Resilienz« zueinander in Beziehung setzen. Durch den Bezug zu den Themen des Risikos und der Ungleichheit (Bürkner 2010, 23; Imbusch 2015, 247) verweist der sozialwissenschaftliche Resilienzbegriff auf Faktoren, die gesellschaftliche oder Gruppenstabilität garantieren bzw. für Flexibilität und Anpassungsfähigkeit sorgen. »Resilienz« bezieht sich auf ein Handeln, welches die Vulnerabilität (in unserem Sinn einer Stadtgemeinschaft) verringert oder ggf. auch auflöst (Christmann et al. 2011, 25). Wenn »Zusammenhalt« als eine barrierefreie diskursive Aushandlung über Werte und Pläne des Zusammenlebens, einer guten Nachbarschaft verstanden wird, so wird »Resilienz« zu einer essentiellen Komponente des so verstandenen Zusammenhalts. Die Resilienz einer Gruppe/Kommune/Gesellschaft, die zusammenhalten will, wird so entweder zur Voraussetzung der Zusammenhaltsaushandlungen oder entsteht bzw. wird verstärkt als ständige Begleiterin des nicht abbrechenden Dialogs, der dynamisch bleibenden Zusammenhaltsaushandlung. Denn solche dynamischen Aushandlungen sind ressourcenintensiv, müssen Konflikte aushalten und funktionieren insofern nur unter der Voraussetzung der Resilienz bzw. kreieren diese im Aushandlungsprozess, welcher stets sich selbst justiert. Die Justierung der Zielsetzungen findet statt im Sinn eines Teilhabekorrektivs (Auenkofer et al. 2022), also eines »Instruments zum Überprüfen, wie eine Gesellschaft zur Gleichberechtigung ihrer Mitglieder steht und welche Gruppen … [von] Menschen sie exkludiert, für nicht zugehörig erachtet oder … [für] unsichtbar …« (Zimenkova 2021b). Diese stete Justierung der eigenen Zielsetzungen im Sinn der Sicherung eines von allen akzeptierten Zusammenlebens ist somit als resilient zu betrachten – durch die zentrale Stellung der Anpassungsfähigkeit, der Flexibilität und dem Entgegenwirken gegen die Vulnerabilität des etablierten Systems. Diese Justierung ist nur möglich, wenn sie auf der lokalen Expertise, lokalen Komponente, lokalem Wissen über die Notwendigkeiten und Bedarfe des Zusammenlebens basiert. Diese Expertise des Zusammenhalts stünde somit Radikalisierungsprozessen entgegen, weil diese eben auf Exklusionen basieren und Exklusionen das System des Zusammenhalts wieder vulnerabel machen würden

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(Christmann et al. 2011), da Stimmen (Spivak 1988) aus den Aushandlungen der Zielsetzungen ausgeschlossen würden. Radikalisierung, wie sie in diesem Betrag gerahmt wird, setzt voraus, dass Gruppen aus dem Dialog herausfallen bzw. herausgehalten werden oder die Wahrnehmung haben, nicht gehört zu werden, d.h. (Selbst-)Exklusion aus dem Dialog ist eine Voraussetzung für Radikalisierung. Das Ausgeschlossensein aus dem Dialog geht mit einer abnehmenden Reflexion darüber einher, inwiefern man sich vom Mainstream/der Mehrheit abwendet – oder mit einer fehlenden Problematisierung solch einer Abwendung. Darüber hinaus kann ein Wunsch nach solch einer Abwendung als Voraussetzung der Gruppenzugehörigkeiten dienen. Dies geht nur, wenn man entweder die anderen, Mehrheitsdiskurse und -argumente, nicht mehr wahrnehmen kann oder aber genügend Gleichdenkende hat, um auf diese Argumente und diese Logik nicht mehr angewiesen zu sein, um einer sozialen Gruppe anzugehören und in einem Kollektiv aufgehoben zu sein. Insofern wollen wir hier – obwohl auch als normativ kritisiert2 – den Begriff des Zusammenhalts ins Zentrum der Resilienz(-herstellung) setzen. In der theoretischen Rahmung des Zusammenhalts, also der Kohäsion (Zimenkova/Fröhlich 2022), folgen wir der roten Linie diverser theoretischer Ansätze, die den Abbau von Ungleichheiten und somit die Ermöglichung von Teilhabe als Inhalt und Zweck der Kohäsion im Blick haben (Durczak 20193 ; Jeannotte 2003). Die Ermöglichung von Teilhabe, der Abbau von Ungleichheiten und letzten Endes das Teilhabekorrektiv (Auenkofer et al. 2022; Zimenkova 2021b) bilden die normative Basis des Zusammenhalts, wenn dieser auf einem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess basiert. Diese normative Basis (im Sinn des kleinsten gemeinsamen Nenners) bedeutet lediglich, dass der Aushandlungsprozess nicht exkludierend sein darf, dass alle Stimmen gehört werden sollen. Diese Inklusivität ist an das Teilhabekorrektiv gekoppelt, denn die Aushandelnden sollen selbst bereit sein, sich in ihrem möglichen exkludierenden Verhalten zu reflektieren. Diese durchaus herausfordernde Bedingung ist insofern als minimal core des Normativen zu sehen, als dass nicht das Zusammenhalten an sich bereits gerahmt wird und auch

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Die eindeutig positiv-normative Konzeption sowie die intensive Nutzung dieses Begriffs in Kontexten der Politik und der Forschungsförderung wirft die Frage auf, inwiefern eine wertneutrale forscherische Aktivität, welche dennoch den Begriff auch in empirischen Kontexten nutzt, wertneutral bleiben kann bzw. welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen, damit dieser Begriff in seiner Normativität reflektiert werden kann (ausführlicher Zimenkova/ Fröhlich 2022). Zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit den theoretischen Rahmungen des Zusammenhalts verweisen wir auf die exzellente Masterarbeit von Milena Durczak, die im Rahmen des ZuNaMi-Projekts verfasst wurde und eine Systematisierung der Zusammenhaltsbegriffe beinhaltet (Durczak 2019).

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nicht die Elemente des »gelungenen« Zusammenhalts definiert werden, sondern lediglich der Prozess hinter den Aushandlungen gerahmt wird. Das folgende Schaubild stellt dar, welche Ebenen der Zusammenhaltsaushandlungen bzw. welche Bedarfe oder Erwartungen an Zusammenhalt in den ZuNaMiWorkshops sichtbar wurden: Zusammenhaltsebenen Meta-Ebene: • •

Zusammenhalt, egal wie dieser ausgestaltet ist, kann nicht für sich allein gelebt und erfahren werden. Zusammenhalt ist zunächst ein neutraler Begriff, dessen qualitative Bewertung in Abhängigkeit zu seiner Ausgestaltung steht.

Ummsetzungsebene: •

• • • •

Es besteht ein Wechselverhältnis von Zusammenhalt und Bedürfnissen: Eine wünschenswerte Form von Zusammenhalt befriedigt menschliche Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Sicherheit, Geborgenheit usw., die wiederum als Grundlage für Zusammenhalt verstanden werden können. Damit ein wünschenswerter Zusammenhalt auf der kommunikativen sowie der BedürfnisEbene gestaltet werden kann, bedarf es: einer Grundbereitschaft zur Kommunikation, Reziprozität (Wechselseitigkeit), Toleranz, Respekt, Offenheit.

Bedarf: Es bedarf inklusiver und offener Kommunikationsräume, in denen • • •

alle Akteur*innen gleichberechtigt partizipieren können, gehört werden und Resonanz erfahren und Aushandlungsprozesse stattfinden, welche durch die Akteur*innen jenseits von KostenNutzen-Abwägungen und Zwängen gestaltet werden können.

Zusammenhaltsebenen in Anlehnung an Brandt/Tiefenthal/Zimenkova (2021, 32)

Nun, da die Normativität des Zusammenhaltsbegriffs besprochen wurde und eine mögliche Reduktion dieser Normativität erreicht werden kann, indem nicht der Zusammenhalt selbst, sondern nur der Aushandlungsprozess dahinter im Sinn der Teilhabe normativ gerahmt wird, gilt es, die Verbindung zwischen Zusammenhalt und Resilienz in antidiskriminierenden deradikalisierten demokratischen

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Räumen zu prüfen. Es gilt also zu überprüfen, wie Zusammenhaltsräume resilient genug gemacht werden können, an welchen Prozessen Akteur*innen also beteiligt werden sollten, welche Bedarfe sichtbar und welche Expertisen genutzt werden sollten und welche Ressourcen notwendig sind, um Zusammenhaltsräume als stabilen, resilienten Gegenentwurf zu den Prozessen der Radikalisierung zu etablieren.

Lokalexpertise – Bürgerschaft, Zugehörigkeit und Verantwortung Wie bereits erwähnt, hat sich das ZuNaMi-Projekt mit dem Konzept des Zusammenhalts, also der Kohäsion, bewusst für ein normatives Konzept entschieden, welches aber in der Sozialgeografie Verwendung findet (Christmann et al. 2011; zur theoretischen Begründung des ZuNaMi-Projekts im Kontext der Stadtsoziologie Brandt et al. 2020). Die Normativität dieses Begriffs sowie die Normativität der Zielsetzungen der BMBF-Förderlinie waren – und das ist an dieser Stelle essentiell – nicht nur den Forscher*innen, sondern auch den Teilnehmer*innen des Projekts von vornherein klar und wurden von Beginn an zusammen mit den Teilnehmer*innen kritisch betrachtet (Zimenkova/Fröhlich 2022) bzw. wurde letzteren durch die ProjektKonzeption (Brandt/Tiefenthal/Zimenkova 2021; Zimenkova et al. 2018) eine gemeinsame kritische Bearbeitung des Begriffs ermöglicht. Vor allem die starke Position der Auslandsgesellschaft.de als Praxispartner war für die Etablierung des Zugangs zu unterschiedlichen Bürger*innen Dortmunds als Projektteilnehmer*innen zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Zusammenhaltsbegriff von essentieller Bedeutung (Zimenkova et al. 2018; Zimenkova/Fröhlich 2022). Die Rekrutierung interessierter Bürger*innen verfolgte das Ziel, möglichst heterogene Gruppen aktiver Bürger*innen zusammenzubringen, die sich aufgrund der gesellschaftlichen Diversität oder der (soziogeografischen) Spaltung im urbanen Raum sonst nicht begegnet wären. Einkommen, Bildung, Alter, Gender, Migrationshintergrund und -erfahrungen waren einige der Faktoren, die berücksichtigt wurden, ohne jedoch die Dortmunder Bevölkerung repräsentativ abbilden zu wollen. Die Bereitschaft und das Interesse, am Projekt mitzuarbeiten, standen im Fokus der Rekrutierung (Brandt/Tiefenthal/Zimenkova 2021; Zimenkova et al. 2018). Folgende Fragen standen im Zentrum der empirischen Phase (Brandt/Tiefenthal/Zimenkova 2021, 8): • • •

Was ist überhaupt unter dem Begriff »Zusammenhalt« zu verstehen? Wo wird Zusammenhalt sichtbar? Welche gesellschaftlichen Akteur*innen stellen ihn eigentlich her?

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Was braucht es, um eine wünschenswerte Form des Zusammenhalts zu fördern?

Auf die Dekonstruktion des Zusammenhalts als normativem Begriff wurde forschungsmethodisch im Voraus reagiert, indem für die Datenerhebung bzw. -generierung eine Gruppen-Methode gewählt wurde, welche Manipulationsmöglichkeiten seitens der Forscher*innen bewusst niedrig hält und die Eigendynamiken der Gruppe – also der Gruppe, welche sich durch ihre lokale Expertise identifiziert und durchaus von den Forscher*innen abhebt – ins Zentrum der Forschung stellt (Vogl 2014; Zimenkova et al. 2018). Nur so wurde die Dekonstruktion des Zusammenhaltsbegriffs und seine Neukonstruktion ermöglicht (Brandt/Tiefenthal/ Zimenkova 2021; Zimenkova/Fröhlich 2022). Will man auf der Ebene der Theorie betrachten, was durch die Dekonstruktion des Zusammenhaltsbegriffs in den Workshops passiert ist, muss man auf das Selbstkonzept der Bürger*innen Dortmunds schauen. Deren Selbst-Positionierung als Bürger*innen (Bora/Hausendorf 2006), die in diesen Aushandlungen stattfand, verlief nach folgendem Schema: Das Selbstverständnis als Bürger*in basiert auf lokaler Expertise. Dieses Selbstverständnis führt zur aktiven Auseinandersetzung mit und schließlich zur Ablehnung des »extern aufgetragenen« Zusammenhaltsnarrativs. Diese Auseinandersetzung führt zur Kritik an gesellschaftlichen Prozessen, die zur Spaltung führen können. Um diese Kritik zu formulieren, wird die Rekonstruktion eines exkludierenden Zusammenhalts vorgenommen und erst dann findet die Konzipierung eines Zusammenhaltsnarrativs statt, welches aus der Zusammenarbeit der aktiven Bürger*innen (ganz im Sinn Barbers: Barber 1984) resultiert. Dies wird begleitet durch die Anerkennung der Notwendigkeit der Governance-Strukturen (Bürkner 2010), die diskursive Ausdifferenzierung der Probleme, die auf unterschiedlichen Ebenen behandelt werden können und sollen, und letztlich durch die Überzeugung, dass durch aktives Handeln und die Ermöglichung dieses Handelns resiliente Räume, also Räume des Zusammenhalts entstehen können und werden (Imbusch 2015). In den Aushandlungen der Zusammenhaltsexpertise und der Rekonstruktion der Verantwortungsstrukturen bezüglich der Zusammenhaltsherstellung seitens der beteiligten Bürger*innen kann das republikanische Konzept der Bürgerschaft erkannt werden (Barber 1984; Macket/Müller 2000; Norris 2011), einer Bürgerschaft, die sich durch aktive Mitgestaltung auszeichnet und durch die Fähigkeit, die Strukturen der Governance zu akzeptieren, sie aber auch in Frage zu stellen4 . 4

Hier ergeben sich interessante Parallelen zum »Einsatz für die Allgemeinheit« als zentralem Aspekt gelungener Integration in der Migrationsgesellschaft seitens der deutschen Bevölkerung (Zick/Preis 2021, 19).

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Zentral für diese aktive Position ist die Reflexion der eigenen Expertise und die Erwartung, dass diese gesehen und anerkannt wird. Dies sind zwei Voraussetzungen, die für das Kreieren resilienter Räume von essentieller Bedeutung sind: Diese Räume können nur im Dialog entstehen, die Zurverfügungstellung von Ressourcen erfordert Vertrauen in die Expertise von Bürger*innen (also die Übernahme des Konzepts der republikanischen Bürgerschaft durch die Machthaber*innen, ein sehr schwieriges Thema) und die Entwicklung von Bildungskonzepten, die das Erkennen der eigenen Expertise und das eigene Handeln von Bürger*innen ermöglichen. Diese letzten Aspekte, die eher im Bereich der politischen Bildung zu verorten sind, wurden von Forscher*innen des ZuNaMi-Projekts bzw. von Teilprojekten an anderer Stelle intensiv bearbeitet und beschrieben (z.B. Marej 2020; Szukala 2020; Zimenkova/Fröhlich 2022). Hier konzentrieren wir uns auf den Begriff der Lokalexpertise und die räumlichen Aspekte der Resilienz.

Räumliche Dimension und lokale Expertise als Grundlagen resilienter Antiradikalisierungsräume Die Bedeutung der Lokalexpertise für den methodologischen Zugang im Rahmen des ZuNaMi-Projekts wurde bereits in der Pilotphase deutlich bzw. wurde klar, dass die Teilnehmer*innen nur dann bereit wären, das Projekt mitzutragen, wenn diese Expertise eine Stimme fände und ernstgenommen würde. Wie bereits erwähnt, wurde die normative Bedeutung des Zusammenhaltsbegriffs auch von den Teilnehmer*innen kritisch gerahmt, jedoch waren sie bereit, mit diesem Begriff zu arbeiten. Diese Bereitschaft resultierte aus dem methodischen Zugang der picture-facilitated method (Zimenkova et al. 2018; zur Methode Clark-Ibáñez 2004; Richard/Lahman 2015). Hierbei werden Bilder eingesetzt, um eine Gruppenkommunikation zu initiieren und als Aufhänger für eine Diskussion zu nutzen. Es wird davon ausgegangen, dass Bilder umfassend die individuell wahrgenommene Wirklichkeit repräsentieren und konstituieren (Bohnsack 2004, 3). Die Idee, Bilder zu verwenden, wurde aus ethnografischen Ansätzen der photo elicitation (vgl. Schwartz 1989) adaptiert, in den ersten Workshops bewusst (und kontinuierlich) weiterentwickelt und mit den Teilnehmer*innen und der Forschergruppe kritisch diskutiert. Mithilfe dieser Methode konnte nicht nur die Diskussion eröffnet werden, sondern die Teilnehmer*innen haben direkt die Möglichkeit aufgegriffen, mit ihnen vertrauten Orten des Zusammenhalts (oder der Spaltung) in Dortmund zu arbeiten oder auch weitere Orte zu benennen, die ihnen außerdem noch einfielen. Dies war durch die Pilotphase des Projekts möglich, während derer Student*innen der TU Dortmund darum gebeten wurden, Bilder, die für sie mit den Begriffen »Zusammenhalt« und »Dortmund« verbunden waren, auszusuchen, mitzubringen und in Gruppen zu analysieren. Nicht alle Bilder, die den

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Teilnehmer*innen zur Verfügung gestellt wurden, hatten mit Ortschaften zu tun, aber die Bilder, die von ihnen bevorzugt ausgesucht wurden, hatten entweder einen räumlichen Aspekt oder Zugang oder wurden räumlich interpretiert, indem stadtgeografische Konstanten, wie z.B. die Nordstadt, bestimmte Straßen, Parkanlagen, Sportstätten oder auch sakrale Bauten erwähnt wurden. So wurden lokales Wissen und lokale, räumliche Dimension des Zusammenhalts deutlich, eine Dimension, die nur für die vor Ort lebenden Stadtbürger*innen, für diejenigen Menschen, die konkrete Straßen durch- und überqueren, die sich fragen, wo sie ihre Nachbar*innen treffen können oder wollen, wo sie sich sicher oder unsicher fühlen, erlebbar ist. Diese Expertise erstreckt sich jedoch nicht nur z.B. auf die Sicherheitsaspekte des Ist-Zustands und auf das Wissen über die Radikalisierung bestimmter Räume, also über die zunehmende Exklusivität oder freiwillige Segregation (Dangschat 2014, 64) bestimmter physischer Spaces, sondern auch auf eine positive Wunschvorstellung dessen, wie man leben möchte, wie der Raum, in dem man gerne leben will, aussehen sollte. Nicht nur, aber mitunter auch mit geografischem Bezug wurde angesprochen, was sich im Sinn der Zusammenhaltsstärkung und somit auch im Sinn der Resilienz der Inklusivität – also Antiradikalisierung – ändern sollte. Es wurden Beispiele5 dafür genannt, wie mehr soziale Durchmischung im Wohnraum, gezielte Kommunalpolitik für eine solche Durchmischung und gezielte bildungspolitische Maßnahmen (s.u., auch Zimenkova 2021a) erreicht werden könnten. Wir folgen hier der Idee von Iris Marion Young (Brandt/Tiefenthal/Zimenkova 2021, 49; Young 2000), indem wir Segregation, auch städtisch-räumliche Segregation, vor allem als ein Problem der Reproduktion von Privilegien und Ungleichheiten und der Exklusion nicht-privilegierter Stimmen aus dem Diskurs sehen. Die Etablierung der diskursiven Räume, in denen über Segregation, Exklusivität und Inklusion diskutiert werden kann, rahmen wir somit als eine demokratische Notwendigkeit und Radikalisierungsprävention. Ein wichtiger Projekt-Turn wurde deutlich, als die Werkstätte selbst zu einem physischen Raum der Herstellung von Zusammenhalt wurde und die Teilnehmer*innen den Wunsch äußerten, diesen Dialograum als Instrument des städtischen Zusammenhalts zu etablieren. Dieser starke Wunsch wurde in die Empfehlungen aus dem Projekt aufgenommen (Zimenkova 2021a), die der Stadt Dortmund vorgelegt wurden.

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Originalzitat aus den Gruppenwerkstätten: »Ich wüsste jetzt nicht, was ich da für einen Tipp an die Stadt geben sollte, wie sie jetzt irgendwie den Zusammenhalt in Dortmund [fördern kann] – außer eben diese[n], was wir jetzt gerade gesagt haben, einfach Bildung, Einkommen, Arbeit, dass sich das vielleicht gleichmäßiger verteilen muss« (GW5 #02:33:56#).

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Konkurrenz der Expertisen? Die räumliche Dimension des Zusammenhalts wurde an die Lokalexpertise gekoppelt, eine besondere Expertise, die den meisten Entscheidungsträger*innen abgesprochen wurde – und das Absprechen dieser Expertise als solche wurde gleichzeitig zu einem identitätsstiftenden Merkmal für die Workshop-Teilnehmer*innen als lokale Expert*innen (zu In-and-out-group-Konstruktionen Tajfel/Turner 1986). Der (Kommunal-)Politik wird somit seitens der Teilnehmer*innen nicht die Motivation abgesprochen, gegen Segregation und Radikalisierung agieren zu wollen6 , sondern es wird vielmehr ihre Unfähigkeit kritisiert, die Bedeutung der physischen Räume und der lokalen Expertise zu beachten. Die lokalen Expert*innen sind also bereit zur Kooperation, sie unterscheiden durchaus zwischen Möglichkeiten, Prioritäten, Reichweite der Handlungsoptionen und Ressourcen der Bürger*innen einerseits und der Stadtstrukturen andererseits – aber sie sind bereit zur Kooperation auf Augenhöhe der Expertisen. Dabei spielt – und hier wird das Antiradikalisierungspotenzial oder Potenzial zur Resilienz der inklusiven Räume besonders deutlich – die Zugehörigkeit zur heterogenen Stadtgesellschaft, das Schätzen und Respektieren dieser Heterogenität als Wunschzustand eine zentrale Rolle. Das Wissen um Segregationsprozesse, eine bewusste Ablehnung freiwilliger Segregation (Dangschat 2014, 64) und eine Konzeption des Zusammenhaltsbegriffs als Gegenentwurf zur auf Kosten-NutzenRechnung oder Gruppenzwang basierten Kohäsion (Brandt 2021) bringen die Teilnehmer*innen zur Überzeugung, dass ein Zusammenhalt der inklusiv gestalteten Plätze, Räume und Orte einer erfolgreichen Aushandlung der Werte und Zielsetzungen der Gemeinschaft bedarf. Diese Plätze, diese Räume müssen physisch sein, müssen barrierefreie Orte der Zusammenkunft werden (»barrierefrei« im sprachlichen, physischen, finanziellen und bildungsbasierten Sinn). Dies erfordert Strukturen – Strukturen, in denen Expertiseträger*innen miteinander kooperieren und die jeweiligen Ressourcen zur Verfügung stellen. Dabei wird die lokale Expertise zur Schlüsselkompetenz, die Sprechfähigkeit zum Thema »Zusammenhalt« im städtischen Raum überhaupt gewährleistet. Diese lokale Expertise muss innerhalb der Konstruktion inklusiver resilienter Antiradikalisierungsräume Resonanz erfahren (Zimenkova/Brandt 2019). Resilienz wird hier im Licht der multidimensionalen Faktoren, die gesellschaftliche oder Gruppenstabilität garantieren bzw. für Flexibilität und Anpassungsfähigkeit sorgen (Imbusch 2015, 247) betrachtet. Es muss ferner angenommen wer-

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Die Workshop-Teilnehmer*innen artikulierten sich bewusst gegen jegliche Form von Segregation als Gegenentwurf zum Zusammenhalt, auch wenn es um die Segregation eher wohlhabender safe spaces geht, denn diese führten automatisch zur Distanzierung unter verschiedenen Gruppen von Bürger*innen (Zimenkova/Brandt 2019).

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den, dass die Gesellschaft, also ihre Bürger*innen an sich, größtenteils Interesse daran haben, in einer sicheren, auf gelingender Kommunikation und Aushandlung basierenden Gesellschaft zu leben, und über lokales Wissen darüber verfügen, wie dies funktionieren kann. Treffen diese Voraussetzungen zu, muss man nun anwendungsbezogen fragen, wie und von wem diese Aushandlungs- und Diskursräume organisiert werden sollten, die zur Resilienz und Antiradikalisierung beitragen können. Mit Jeannotte gesprochen (Jeannotte 2003), stehen hier der politische Wille und gelungene Sozialpolitik im Sinn des gesellschaftlichen Zusammenhalts – auch auf kommunaler Ebene – in einer permanenten Wechselwirkung: Denn je mehr und je effektivere sozialpolitische Maßnahmen existieren, desto höher der gesellschaftliche Zusammenhalt (u.a. Durczak 2019). So gesehen macht es (kommunalpolitisch) durchaus Sinn, resiliente deliberative7 Räume, die auf lokaler Expertise basieren, zu fördern. Resiliente deliberative Räume, die die lokale Expertise ernst nehmen und barrierefrei sind, müssen einigen Kriterien entsprechen (Zimenkova 2021a): • • • •

radikale (absolute unmittelbare unbegrenzte) Erreichbarkeit jenseits von Alter, Behinderung, Gender, Sprache, sozialer Gruppe, wirtschaftlicher Lage, kulturelle, sprachliche, physische, finanzielle Barrierefreiheit bezüglich der Teilhabe, Einbeziehung der Bürger*innen in die Planung ihrer Lebensräume (Budgets für Büger*innen), Vernetzung der Koordinierungsstellen der Expertisen von Bürger*innen, was die Pluralität fördert.

Mögliche Beispiele für solche Räume wären Ehrenamtlichentreffs, Parks mit Vernetzungsmöglichkeiten, Räumlichkeiten zum Diskutieren der Stadteilentwicklung (physische Räume, die mietfrei nutzbar und barrierefrei erreichbar sind, Versorgungsanschlüsse haben usw.) … Wichtig wäre dabei die Frage der Erreichbarkeit der Räume für Bürger*innen. Diese erfordern zwar (relativ niedrige) Ressourcen, müssten aber auch genutzt werden bzw. das Wissen, dass es sie überhaupt gibt, müsste vorhanden sein. Es müsste auch klar sein, dass die Räume barrierefrei erreichbar sind, und die Erfahrung gemacht werden, dass in diesen Räumen keine Exklusion stattfindet. Die Bürger*innen sind – ganz im Barber’schen Sinn der kommunitaristischen Bürgerschaft (Barber 1984) – bereit, bürgerliche Verantwortung zu übernehmen

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Im Sinn der starken Demokratie nach Barber (1984), die auf einer direkten aktiven Partizipation der Bürger*innen in ihrem Selbstverständnis als solche in einem demokratischen Gefüge und in gewissem Sinn auch vor Ort, als Nachbar*innen, basiert und Governance-Prozesse nicht lediglich der Repräsentation überlässt.

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und ihre Kommune, ihre Gesellschaft zu entwickeln, um im Sinn der Demokratie (und somit der Inklusivität, Young 2000) Verantwortung zu tragen. Sie – und zwar die Bürgerschaft in ihrer ganzen Heterogenität – müssen nur wissen, dass es diese Räume gibt und dass sie offen sind. Die Vermittlung dieses Wissens bzw. die Rekrutierung von Lokalexpert*innen ist nicht trivial, weil Barrieren nur für diejenigen sichtbar sind, für die diese Barrieren existieren, d.h. es gilt zu reflektieren, wer keine Stimme in den Aushandlungen hat und warum und wie diese Personengruppen erreicht werden können. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass die Bürger*innen in ihrer jeweiligen lokalen Identität angesprochen werden sollten. So müssten für Prozesse der Nachbarschaftsdialoge, sofern diese erwünscht sind, und diese sind für die Zusammenhaltsdiskussion von zentraler Bedeutung, unterschiedliche Rekrutierungsformate benutzt werden, von der Plakatierung über Soziale Medien bis hin zur Ansprache der Vereine und Schulen sowie Tür-zu-Tür-Ansprache (zur Rekrutierung durch persönliche Ansprache im Rahmen des ZuNaMi-Projekts Zimenkova et al. 2018). Damit alle Stimmen gehört werden können, müssen die lokalen Expert*innen, also Bürger*innen, »ggf. durch direkte Tür-zu-Tür-Ansprache in unterschiedlichen Sprachen erreicht werden« (Zimenkova 2021a)8 .

Fazit Deliberative Räume zum barrierefreien Aushandeln der Werte, Zielsetzungen und Entwicklungen einer Gesellschaft können einer (Stadt-)Gesellschaft, einer Kommune Resilienz im Sinn von Anpassungsfähigkeit und Stabilität einer inklusionsbasierten Gesellschaft ermöglichen. Solche Räume sollten auch sozialgeografisch im jeweiligen Lebensraum platziert sein und können auch zusammen mit Bürger*innen als Expert*innen entwickelt werden. Diese Entwicklung kann auch strukturell, institutionengebunden und sogar politisch initiiert stattfinden. Zentral ist dabei jedoch, dass im Prozess der Etablierung solcher Räume die lokale, raumbezogene Expertise der Bürger*innen ernst genommen wird, dass die Gleichwertigkeit der politischen, der stadtplanerischen und der lokalen bürgerlichen Expertise sichtbar wird und faktisch allen Akteur*innen deutlich gemacht wird, dass ohne die lokale Expertise solch eine Raumetablierung nicht gelingen kann. Nur wer also davon ausgeht, dass jede*r letzten Endes in einer guten Nachbarschaft leben und sich sicher fühlen möchte9 und dass diejenigen,

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Dies wäre ggf. in Form von Studierendenprojekten in Kooperation mit ortsansässigen Hochschulen denkbar Die Frage ist, was solch eine Nachbarschaft ausmacht und wie sichergestellt werden kann, dass sie nicht mit einem Segregationswunsch einhergeht (Zick/Preuß 2021); die Hoffnung ist

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die in einer Nachbarschaft/Kommune/Stadt leben, auch am besten wissen, wie einer unerwünschten Segregation und Radikalisierung entgegengewirkt werden kann – nur der kann resiliente Räume planen und entstehen lassen. Wenn der Zusammenhalt also eine barrierefreie diskursive Aushandlung der Werte und Pläne des Zusammenlebens zur Voraussetzung hat, verfügt er auch über alle Voraussetzungen, die Resilienz einer Gruppe/Kommune/Gesellschaft zu stärken oder zu entwickeln, denn die Dynamik der barrierefreien Aushandlung der gemeinsamen Zukunftskonzepte stärkt die Anpassungsfähigkeit eines auf einem Teilhabekorrektiv (Aunkofer et al. 2022; Zimenkova 2021b) basierten Systems der Inklusion. Die Justierung der Zielsetzungen beinhaltet die Orientierung an Teilhabe als einem Wert und eine permanente Reflexion über die Stimmen/Gruppen/ Sichtweisen, die exkludiert werden. Solch eine Justierung wirkt – sofern sie etabliert wird – automatisch deradikalisierend, denn sie lässt nicht zu, dass separierte Diskurse entstehen, weil einzelne Gruppen sich unsichtbar fühlen oder sich überhört vorkommen. Ein Teilhabekorrektiv birgt jedoch natürlich auch ein großes Konfliktpotenzial, denn die Aushandlung der Zukunftspläne und Werte ist weder leicht noch selbstverständlich. Die Barrierefreiheit der Räume, in denen die Aushandlungen stattfinden, und die Orientierung an der lokalen Expertise, die auch Aspekte der Bildung, der Sicherheit und des Zusammenlebens beinhaltet, können und sollen jedoch in den vorprogrammierten Konfliktsituationen einen gemeinsamen Nenner bieten, damit der Dialog weitergehen kann. Die radikale Barrierefreiheit der deliberativen Räume ist keine Garantie, dass dies funktionieren kann, jedoch eine absolut notwendige Voraussetzung. Die resilienten deliberativen Räume müssen inklusiv sein, barrierefrei erreichbar, selbsterklärend, wie ein Spielplatz, und niederschwellig, wie eine Bushaltestelle, und genauso selbstverständlich und unumgänglich in ihrer Nutzung. Dann können sie – und das zeigt das ZuNaMi-Projekt – etabliert werden und dauerhaft gelingen.

Literatur Abay Gaspar, H./Daase, C./Deitelhoff, N./Junk, J./Sold, M. (2018): Was ist Radikalisierung? Präzisierungen eines umstrittenen Begriffs. In: PRIF Reports, 5. Frankfurt a.M. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-59474-6, 13.4.2022

jedoch, dass der Wunsch, dass keine Radikalisierung stattfindet, einen gemeinsamen Nenner des erwünschen Zusammenlebens der Bürger*innen mit einer demokratischen Grundeinstellung darstellt, dass wir also von dem Wunsch nach einer demokratischen, auf Aushandlung und Dialogmöglichkeiten basierten Nachbarschaft ausgehen können.

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Lokalexpertise und Narrative des gesellschaftlichen Zusammenhalts

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Tatiana Zimenkova, Verena Molitor

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Community-Kompetenz durch Empowerment  und kollektive Wirksamkeit Eine Analyse sozialräumlicher Resilienz Victoria Schwenzer, Britta Hecking

Abstract Um Resilienzen gegenüber Krisen und Bedrohungslagen auszubilden, müssen Communities Kompetenzen ausbilden, die ihre Widerstandsfähigkeit stärken. Ausgehend vom Konzept der Community-Kompetenz möchte der folgende Text aufzeigen, inwiefern Empowerment und kollektive Wirksamkeit zur Resilienzstärkung eines Quartiers beitragen. Am Beispiel eines Sozialraums werden Effekte von Empowerment-Ansätzen analysiert, die von verschiedenen Einrichtungen vor Ort, insbesondere einer Mädcheneinrichtung, umgesetzt werden. Darüber hinaus wird beschrieben, wie die Community kollektive Wirksamkeit erfolgreich gegen Bestrebungen religiös begründeter Radikalisierung einsetzt. Abschließend werden auf Basis unserer empirischen Ergebnisse Schlussfolgerungen für die Förderung von Community-Kompetenz gezogen.

Einleitung Der vorliegende Beitrag basiert auf den Ergebnissen des praxisorientierten Forschungsprojekts Resiliente Sozialräume und Radikalisierungsprävention1 . In dessen Rahmen haben wir Faktoren zur Stärkung der Resilienz eines Quartiers – verstanden als Widerstandsfähigkeit gegenüber möglichen Krisen und Bedrohungen – in Bezug auf Gefährdungen durch religiös begründete Radikalisierung2 in zwei ausgewählten Sozialräumen untersucht (Hecking/Schwenzer 2022a, 2022b). Die

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Das Praxisforschungsprojekt wurde von 2019 bis 2022 durch das Bundesprogramm Demokratie leben! des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert. Mit den Ergebnissen des Projekts beschäftigt sich auch der weitere Artikel von Hecking/Schwenzer in diesem Band, in dem der andere von uns untersuchte Sozialraum im Zentrum steht. Zur Definition »religiös begründeter Radikalisierung«, die dieser Forschung zugrunde liegt, vgl. die Einleitung in diesem Sammelband.

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zur Erforschung der Risikofaktoren und der Faktoren zur Resilienzstärkung angewandten Methoden umfassten u.a. qualitative Experten-Interviews mit professionellen und semiprofessionellen Akteuren im Sozialraum, Gruppendiskussionen und narrative biografische Interviews mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie teilnehmende Beobachtung im Sozialraum, z.B. Quartiersbegehungen und Mapping-Methoden. Mit der Bezeichnung »resiliente Sozialräume« ist in Bezug auf die Gefährdung durch Radikalisierung allerdings nicht gesagt, dass in diesen resilienten Sozialräumen keine Fälle von Radikalisierung auftreten können. Vielmehr wird der Blick darauf gelenkt, dass der Sozialraum Ressourcen und Kompetenzen hat, mit diesen Fällen angemessen umzugehen und eine Verankerung radikaler Akteure im Quartier zu verhindern – durch Vorbeugung oder Widerstand. Nach Longstaff et al. gehören zur Resilienz einer Community zum einen eine Fülle und Diversität zur Verfügung stehender Ressourcen, zum anderen aber auch die Fähigkeit der Community, diese anzuwenden oder zu reorganisieren, um ihre Resilienz während oder nach einer Krise zu stärken (Longstaff et al. 2010; vgl. dazu auch den anderen Beitrag von Hecking/Schwenzer in diesem Band). »Community« wird dabei als Gemeinschaft von Menschen verstanden, die das Leben an einem Ort miteinander teilen, indem sie sich – mehr oder weniger häufig – begegnen.3 Der folgende Beitrag möchte ausgehend vom Konzept der CommunityKompetenz aufzeigen, welche Aspekte zur Resilienzstärkung eines Quartiers oder Sozialraums beitragen können. Dabei werden zwei Aspekte von CommunityKompetenz herausgearbeitet: Das Empowerment von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, insbesondere Mädchen und jungen Frauen, sowie das Vorhandensein kollektiver Wirksamkeit im Sozialraum. In einem Modell, das Norris et al. auf Basis einer umfangreichen Auswertung vorhandener Studien vorlegen (Norris et al. 2008)4 , tritt die Resilienz einer Community aufgrund der Anpassungsfähigkeit der Community bzw. ihrer Mitglieder hervor: »Community resilience [emerges] from a set of networked adaptive capacities« (ebd., 135), wobei im Unterschied zur individuellen Resilienz die Betonung auf der vernetzten Anpassung der Community an Bedrohungslagen liegt. Dabei geht es sowohl um das Vorhandensein der Ressourcen selbst als auch um deren Eigenschaften – sie müssen robust, leicht zugänglich und reichlich zur Verfügung stehen. Das Modell von Norris et al. definiert vier Bereiche, die zur Resilienz einer Community beitragen: die ökonomische Entwicklung, Information und Kommuni-

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Zu unterschiedlichen Definitionen von »Community« Smith (o.J.). Dieses Modell der Resilienz bezieht sich auf Krisen und Bedrohungen, die ein umfassenderes Ausmaß haben, wie z.B. Naturkatastrophen oder Terroranschläge. Wir gehen jedoch davon aus, dass sich Aspekte davon auf unsere Problemlage übertragen lassen.

Community-Kompetenz durch Empowerment und kollektive Wirksamkeit

kation, das soziale Kapital der Bewohner*innen und die Community-Kompetenz, die für unsere Forschung besonders interessant ist. Denn »Community-Kompetenz« beschreibt die Fähigkeit einer Community, etwas über Risiken und (Handlungs-)Möglichkeiten zu lernen sowie flexibel und kreativ zusammenzuarbeiten, um Probleme zu lösen (ebd., 141). Bei der Unterstützung gemeinsamer Problemlösungsstrategien können sowohl Empowerment-Ansätze eine wichtige Rolle spielen als auch das Vorhandensein und die Förderung von kollektiver Wirksamkeit. Im Folgenden wird zunächst ausgehend von einem machtkritischen und intersektionalen Empowerment-Begriff aufgezeigt, inwiefern Empowerment als Ansatz der sozialraumorientierten Kinder- und Jugendarbeit zur Resilienzstärkung eines Quartiers beiträgt. Der Fokus liegt dabei auf dem Empowerment von Mädchen und jungen Frauen. Weiter wird nach einer kurzen Einführung zum Begriff der »kollektiven Wirksamkeit« beschrieben, wie die untersuchte Community kollektive Wirksamkeit erfolgreich gegenüber Gefährdungen durch religiös begründete Radikalisierung eingesetzt hat. Abschließend werden auf Basis unserer empirischen Ergebnisse Schlussfolgerungen für die Förderung von Community-Kompetenz gezogen.

Das Empowerment-Konzept aus machtkritischer Perspektive Der Begriff des »Empowerments« ist eng mit der Analyse gesellschaftlicher Machtverhältnisse verbunden, denn das Empowerment-Konzept hat seinen Ursprung in gesellschaftlichen Emanzipationsbewegungen. Es entstand im Zug der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA der 1950er Jahre und fand seit den 1960er Jahren zunehmend in unterschiedlichen sozialen Bewegungen Eingang, auch wenn sich der Begriff erst in den 1980er Jahren etablierte. In diesem politischen Sinn kann Empowerment als »ein Prozess verstanden werden, in dem Menschen mehr Macht erlangen, ihre Perspektiven und Interessen, ihre Belange selbstbestimmt zu formulieren, zu vertreten und zu gestalten« (Rosenstrauch 2020, 228f.). Dabei bezieht sich »Empowerment« immer auf eine Erweiterung des Handlungsspielraums marginalisierter oder minorisierter Gruppen durch eben diese Gruppen selbst. Aktuelle Debatten um den Begriff verstehen das Konzept im Unterschied zu früheren Konzeptionalisierungen aus der Sozialen Arbeit nicht ausschließlich als individuelle Ressource, die zu gesellschaftlichen Veränderungen beiträgt, sondern vielmehr als »politische Kategorie des Widerstands, die sowohl die individuelle als auch die strukturelle Ebene von Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen und ihre Verwobenheit umfasst« (Jagusch/Chehata 2020, 15). Nun zielt (sozial-)pädagogische Praxis zuallererst auf das Individuum und seine Entwicklung, nicht auf die politische Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse durch die Selbstermächtigung marginalisierter Gruppen ab. Gleichwohl kann ein päd-

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agogischer Empowerment-Ansatz, der diesen machtkritischen Aspekt einbezieht und intersektional konzipiert ist, also Diskriminierungen aufgrund unterschiedlicher Merkmale (wie z.B. Rassismus und Sexismus) sowie ihre Verschränkung mitdenkt, zu gesellschaftlichen Emanzipationsprozessen marginalisierter Gruppen beitragen. Empowerment kann im (sozial-)pädagogischen Sinn als eine soziale Praxis verstanden werden, die Menschen »Möglichkeitsräume« aufschließt (Herriger 2010, 19) und Ressourcen zur Verfügung stellt, um Prozesse der Selbstermächtigung zu fördern (Abushi/Asisi 2020, 220). Allerdings muss hier immer die Limitiertheit einer solchen Praxis, die durch die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmt ist, mitgedacht werden (Enggruber 2020). Empowerment findet also nicht in einem machtfreien Raum statt – das gilt auch für die Praxis der sozialen Arbeit. Sozialarbeiter*innen sollten sich ihrer professionellen Rolle bewusst sein und Machtdifferenzen zwischen pädagogischen Fachkräften und Klient*innen aus intersektionaler Perspektive reflektieren. Dies schließt die Reflexion und Überwindung paternalistischer Haltungen gegenüber den Klient*innen explizit ein.

Empowerment und Resilienzstärkung Wie lässt sich der Bezug zwischen dem (pädagogischen) Empowerment-Ansatz auf der einen Seite und der Radikalisierungsprävention sowie Resilienzstärkung von Individuen und/oder Sozialräumen auf der anderen Seite genauer beschreiben? Das psychologische Resilienzkonzept – im Sinn der Fähigkeit, sich Störungen anzupassen – umfasst bestimmte Fertigkeiten, die keine Charaktereigenschaften sind, sondern erlernt werden können. Dazu gehören u.a. Lösungs- und Netzwerkorientierung, Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung (Kleefeldt 2020). Insbesondere die letzteren beiden sind anschlussfähig an den pädagogischen Empowerment-Ansatz, da sie wichtige Elemente von Selbstermächtigungsprozessen darstellen. Bezogen auf unsere Sozialraumuntersuchungen möchten wir zeigen, inwiefern sozialraumbezogene Empowerment-Ansätze in der Kinder- und Jugendarbeit sowie der Elternarbeit zur Resilienzstärkung nicht nur der Individuen selbst, sondern auch des Sozialraums beitragen. Dabei soll der Blick darauf gelenkt werden, dass die individuelle und die sozialräumliche Ebene in Wechselwirkung miteinander stehen, also Wirkungen individueller Selbstermächtigungsprozesse, die von Einrichtungen oder Projekten aus dem Sozialraum gefördert werden, auch in den Sozialraum zurückwirken. Empowerment-Ansätze sind – zumal aus machtkritischer und intersektionaler Perspektive – zuallererst jenseits von Prävention für die (sozial-)pädagogische Praxis bedeutsam. Deshalb sollen sie hier nicht für die Prävention »vereinnahmt« werden. Jedoch wollen wir aufzeigen, dass sie sowohl aus universalpräventiver Per-

Community-Kompetenz durch Empowerment und kollektive Wirksamkeit

spektive als auch aus der Perspektive der Prävention gegenüber religiös begründeter Radikalisierung Ansätze sind, die Resilienzen stärken können, auch wenn ihre Wirkung darüber hinausgeht. Solche Ansätze sind zum einen Voraussetzung der Prävention, um sensibel gegenüber Stigmatisierungen zu sein und Diskriminierungen zu vermeiden, denn zum Auftrag (sozial-)pädagogischer Arbeit gehört der Schutz vor und die Auseinandersetzung mit Diskriminierung. Intersektionale Empowerment-Ansätze sind aber auch Strategie der Prävention, da extremistische Akteure Rassismuserfahrungen und patriarchale Gender-Rollen nutzen, um mit ihren ideologisch geprägten Opferdiskursen und Geschlechterbildern daran anzuknüpfen. Die (Re-)Konstruktion dichotomer patriarchaler Geschlechterrollen spielt eine wichtige Rolle für die identitätsstiftende Funktion von Radikalisierung5 und in der Anwerbung bzw. Mobilisierung (zu genderspezifischen Aspekten von Radikalisierung z.B. Baer 2017, 287f.; Umut et al. 2020, 150). Männlichkeit wird hier vor allem über die Rolle des Manns als »Krieger« oder »Beschützer« und in Abgrenzung vom »verweichlichten« Mann konstruiert. Weiblichkeit wird über die Rolle als Mutter, Schwester, Ehefrau und »Unterstützerin« (des Manns und des Anliegens) oder als »Opfer« und »Hilfsbedürftige« konstruiert. Die in digitalen extremistischen Räumen verbreiteten Repräsentationen muslimischer Frauen als Opfer von Diskriminierung, Gewalt und vor allem sexualisierter Gewalt in Kriegen werden wiederum zur Mobilisierung von Männern genutzt, um diese davon zu überzeugen, sich in der Rolle des »Beschützers« und »Kriegers« dem Dschihad anzuschließen.

Beschreibung des »Sonnenburg-Viertels« Im Folgenden wird nun zunächst einer der Sozialräume vorgestellt, die wir untersucht haben. Darauf aufbauend werden Empowerment-Ansätze aus dem Sozialraum beschrieben, die auf einer intersektionalen Perspektive beruhen und resilienzstärkend auf den Sozialraum wirken. Bei dem untersuchten Sozialraum »Sonnenburg-Viertel«6 , das im Zentrum dieses Beitrags steht, handelt es sich um eine innerstädtische Siedlung des sozialen Wohnungsbaus aus den 1970er und 1980er Jahren mit etwa 7.500 Einwohner*innen. Die Mehrzahl der Einwohner*innen stammt aus Familien mit Migrationsgeschichte. Viele sind aus der Türkei und aus unterschiedlichen arabischen Län-

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Die Ausführungen beziehen sich auf religiös begründete Radikalisierung, aber auch der Rechtsextremismus ist durch ähnliche dichotome Geschlechterbilder charakterisiert. Bei der Bezeichnung des Viertels handelt es sich um ein Pseudonym.

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dern zugewandert und leben zum Teil in der zweiten oder dritten Generation im »Sonnenburg-Viertel«. Das Viertel ist seit Ende der 1990er Jahre als Programmgebiet des Städtebauförderungsprogramms Soziale Stadt ausgewiesen und wird durch eine Stadtteilkoordination unterstützt. Neben einer Grundschule und einer weiterführenden Schule gibt es eine Reihe von Beratungs- und Begegnungsangeboten sowie Angebote der offenen Jugendarbeit u.a. durch zwei Jugendeinrichtungen. Weiterhin existieren ein überregional tätiger migrantischer Kulturverein mit arabischsprachigem Angebot und Deutschkursen, ein selbstorganisierter migrantischer Elternverein, ein interreligiöses Projekt mit Begegnungs- und Freizeitangeboten sowie ein Nachhilfeangebot und Patenschaftsprojekt für Kinder und Jugendliche.

Exposure Die Anfälligkeit für Radikalisierung ergibt sich nach Bouhana nicht nur aus individuellen Faktoren (z.B. geringer Selbstkontrolle, Kriminalitätserfahrungen, moralischen und kognitiven Verunsicherungen oder Lebenskrisen) und kontextuellen Faktoren (z.B. mangelndem Vertrauen in staatliche Institutionen, Ausgrenzungserfahrungen), sondern aufgrund einer spezifischen exposure, also einem Ausgesetztsein gegenüber Gefährdungen (siehe dazu auch die Einleitung in diesem Band). Vulnerabilität – als Gegensatz zu Resilienz – kann erst dann entstehen, wenn anfällige Individuen bestimmten Risiken ausgesetzt sind, die sie vulnerabel machen. Bouhana spricht hier von Radikalisierung fördernden »Settings«, die sich als Aktivitätsräume fassen lassen, in denen es bestimmte Risikofaktoren gibt, die die Anfälligkeit für Radikalisierung erhöhen, und in denen es zugleich auch Ereignisse oder »Gelegenheiten« gibt, die einen Einfluss auf die Neigung und Radikalisierungsverläufe haben können (Bouhana 2019, 15 – 17). Im Folgenden wird beschrieben, wie und warum solche Settings im »Sonnenburg-Viertel« entstanden sind. Das Stadtviertel galt lange als stark kriminalitätsbelastet; insbesondere Drogenkriminalität und Gewalt spielten dabei eine große Rolle. Im »SonnenburgViertel« sind zudem auch Personen ansässig, die der mafiösen organisierten Kriminalität zugerechnet werden. Kriminelle Karrieren waren dort lange Zeit auch mangels Bildungschancen und beruflicher Perspektiven eine attraktive Option für Jugendliche, berichten unterschiedliche Fachkräfte aus dem Viertel. Eine interviewte Sozialarbeiterin bringt dies folgendermaßen auf den Punkt: »Im ›Sonnenburg-Viertel‹ aufzuwachsen ist extrem anstrengend, weil … du bist eigentlich niemand, also du musst erst etwas werden. Entweder bist du auf der kriminellen Seite und bist … jemand, [oder] du bist wirklich schulisch gut, was

Community-Kompetenz durch Empowerment und kollektive Wirksamkeit

meistens nicht der Fall ist, weil sie eben gar keine Chance haben, egal ob vom Familienhaus oder [weil sie] auch so nicht die Chance haben, wirklich in Sachen Schule … weit zu kommen.« (I_A_1, 9) Kriminalitäts- und Gewalterfahrungen sowie deren Legitimation werden mit Bezug auf die Biografien dschihadistischer Kämpfer*innen in der Radikalisierungsforschung häufig als Risikofaktor genannt (Neumann 2020) und unter dem Schlagwort des crime-terror nexus (Basra/Neumann 2016; Ilan/Sandberg 2019) in Bezug auf ihre Bedeutung für Radikalisierungsprozesse untersucht. Als weitere Risikofaktoren, die die exposure im »Sonnenburg-Viertel« erhöhen, können neben sozioökonomischer Marginalisierung und mangelnden Bildungschancen auch alltägliche Rassismuserfahrungen und struktureller Rassismus genannt werden. Forschungen zeigen, dass gesellschaftliche Ausgrenzung und rassistische Abwertung Radikalisierungsprozesse begünstigen können, auch wenn hier – wie bei anderen Risikofaktoren auch – kein zwangsläufiger und monokausaler Zusammenhang besteht (Nordbruch 2016). Die Abwertungs- und Ausgrenzungserfahrungen, insbesondere Erfahrungen von antimuslimischem Rassismus, sind ein zentrales Element islamistischer Narrative; Rassismuserfahrungen von Muslim*innen werden von radikalen Akteuren als Opfer-Narrative genutzt, um ihr duales Weltbild zu untermauern, und mit einem Selbstermächtigungsangebot verbunden (z.B. Schmidt/Martiensen 2020). Rassismus ist für nicht-weiße Menschen durch die Markierung als »andere/Fremde« im Alltag allgegenwärtig und betrifft nicht nur die Alltagserfahrungen von Kindern, Jugendlichen, Eltern und Fachkräften im »Sonnenburg-Viertel«, sondern ist als gesamtgesellschaftliches Phänomen eine Erfahrung aller als migrantisch gelesenen Menschen in Deutschland. Auf diese gesellschaftliche Erfahrung bezieht sich die im Folgenden zitierte Sozialarbeiterin, die im »Sonnenburg-Viertel« aufgewachsen ist und dort arbeitet: »Weißt du, du hast diese Diskriminierung, diesen Rassismus eigentlich immer, ja, du hast ihn immer. Es kommt immer darauf an, wie du damit umgehst. Ich finde, es spielt eine sehr große Rolle, weil du bist eigentlich die ganze Zeit dabei, dich beweisen zu müssen, ja. Und es ist nur, weil du einen anderen Namen hast. Du hast ja nicht mal eine andere Herkunft. … Genau, und dass du jedes Mal, du musst wirklich immer kämpfen, du musst halt dein Leben lang, dein Leben lang kämpfen, ja, warum du nicht Barbara, sondern Basak heißt.« (I_A_1b, 23f) Die exposure wird schließlich dadurch erhöht, dass es sowohl im digitalen Raum Propaganda gibt, die von Jugendlichen aus dem Viertel konsumiert wurde, als auch dadurch, dass es im Viertel selbst Anwerbeversuche gab. In den vergangenen Jahren sind dort einige Fälle der Radikalisierung Jugendlicher aufgetreten, die bis hin zur versuchten Ausreise eines Jugendlichen zum sogenannten »Islamischen Staat« nach Syrien reichten. Auch kontaktierten extremistische Akteure im öffentlichen

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Raum Jugendliche, um sie in islamistische Gruppen oder Moscheen einzuladen. Die Gruppierungen boten Orientierung und Gemeinschaftsgefühl, Anerkennung sowie die Umdeutung von Rassismus- und Ausgrenzungserfahrungen, wie Sozialarbeiter*innen berichteten. Vor Ort aktive islamistische Gruppierungen warben insbesondere junge Frauen mit der Behauptung, eine »gerechtere« Alternative zur Unterdrückung und Objektifizierung der Frau darzustellen, indem sie Frauen sowie Männern eine klare Rollenverteilung in einer religiösen Wertegemeinschaft boten (Nilan 2017, 12 – 18). Zur Attraktivität dieser Angebote hat nach Aussagen von Fachkräften aus dem Quartier auch beigetragen, dass diese Gruppen über Freizeitangebote und eine gute Ausstattung ihrer Treffpunkte verfügten. Islamistische Akteure fuhren mit »fetten Autos« vor (GD_A_5, 49) und schlugen Jugendlichen vor, »eine Runde mitzufahren«, verteilten pinke Korane vor der Schule und lockten mit einem Taschengeld für unterstützende Arbeiten. Weiterhin hatte sich für einige Zeit ein missionierender islamistischer Frauenverein im Quartier angesiedelt, dem sich Mädchen aus dem Viertel anschlossen. Aus den oben genannten Punkten lässt sich schließen, dass es im »SonnenburgViertel« sowohl Risikofaktoren als auch die Gelegenheit für potenzielle Radikalisierungen gab (oder gibt).

Die Empowerment-Arbeit der Mädcheneinrichtung Zentrales Element der Arbeit der Mädcheneinrichtung, die von Kindern und Jugendlichen zwischen sieben und 18 Jahren besucht wird, ist eine rassismuskritische und frauenrechtsbasierte Empowerment-Arbeit. Es geht darum, Mädchen so zu stärken, dass sie selbstbewusst und selbstbestimmt ihre eigenen Interessen, Perspektiven und Wünsche vertreten. Die Einrichtung kommt aus der Tradition der Mädchenarbeit und bezieht sich damit auf gesellschaftliche Zuschreibungen und Benachteiligungen anhand der Kategorie Geschlecht. Ausgangspunkt dieser Arbeit ist die Grundüberzeugung, dass »Geschlecht nach wie vor ein wesentlicher Platzanweiser ist, der unter der Decke der angeblichen Gleichberechtigung wirkungsvoll als Strukturgeber arbeitet«7 . Es lässt sich argumentieren, dass die Einrichtung das Ziel verfolgt, einen safer space8 für Mädchen zu schaffen – im Sinn eines Rückzugs-, Schutz- und Vernetzungsraums, in dem die Mädchen aus dem Viertel 7 8

www.maedchenarbeit.de/ Der Begriff der »safer spaces« basiert auf feministischen, dekolonialen und antirassistischen Theorien und beruht auf der Annahme, dass sexistische, homophobe und rassistische Diskriminierungen eine konkrete Gefahrenlage darstellen, da Frauen, queere Personen und rassifizierte Gruppen in ihren Möglichkeiten zur Meinungsäußerung, Selbstdarstellung und in der Freiheit ihres Selbstseins eingeschränkt oder sanktioniert werden. In diesem Sinn sind safer

Community-Kompetenz durch Empowerment und kollektive Wirksamkeit

sich kennenlernen und sich ausprobieren können, ohne dass sie Diskriminierungen ausgesetzt sind oder patriarchalen Beschränkungen unterliegen. Dabei spielen Bildungsförderung und peer education eine zentrale Rolle, denn es geht darum, Bildungschancen zu verbessern und aufzuzeigen, dass es vielfältige Möglichkeiten für Mädchen und Frauen gibt, ihr Leben zu gestalten. Es geht also um die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten von Mädchen und jungen Frauen, die von Rassismus und Sexismus betroffen sind, sowie um ihre Befähigung, diese Möglichkeiten auch einzufordern – gegenüber ihren Brüdern, ihren Eltern und gegenüber gesellschaftlichen Institutionen. Der Empowerment-Ansatz der Mädcheneinrichtung lässt sich als intersektional beschreiben, weil hier die Verschränkung unterschiedlicher Ungleichheiten, insbesondere aufgrund von Geschlecht, Herkunft und Klasse, in der Arbeit Berücksichtigung finden. Gleichzeitig ist der Ansatz auch machtkritisch, weil die Einrichtung mit einer Perspektive arbeitet, die Rassismus und Sexismus als Machtstrukturen begreift, die durch Empowerment herausgefordert und infrage gestellt werden können. In diesem Sinn sind Rassismus und Sexismus mehr als diskriminierende Verhaltensweisen oder Einstellungsmuster einzelner Personen, sondern vielmehr gesellschaftliche Strukturen, die Handlungsspielräume von Menschen einschränken oder erweitern – je nachdem, mit welchen Privilegien ein Individuum ausgestattet ist. Die Mädcheneinrichtung blickt dabei sowohl machtkritisch auf die Mehrheitsgesellschaft und ihre Ausgrenzungsstrukturen als auch auf die Ausschluss- und Beschränkungsstrukturen (insbesondere für Mädchen) innerhalb der von gesellschaftlicher Marginalisierung betroffenen Community vor Ort. Die Ansätze und Inhalte politischer Bildungsarbeit werden an diesem machtkritischen, empowerment-orientierten Blick ausgerichtet. Der machtkritische Ansatz der Mädcheneinrichtung wird auch dadurch begünstigt, dass die Mitarbeiterinnen zum Teil selbst im Sozialraum aufgewachsen oder ansässig sind und selbst sozialen Aufstieg erfahren haben. Sie reflektieren ihre Rolle und Positionierung als Fachkräfte vor diesem Hintergrund. Die persönliche Kenntnis des Sozialraums und der Alltagswelten der Jugendlichen bestärkt eine Mädchenarbeit, die an den lokalspezifischen Bedürfnissen der Jugendlichen ausgerichtet ist, und trägt gleichzeitig zu einer antisexistischen Arbeitsweise bei. Der Empowerment-Ansatz ist Grundlage und Voraussetzung für die Radikalisierungsprävention der Einrichtung. Gleichzeitig stellt er auch eine Strategie der Radikalisierungsprävention dar, weil dadurch patriarchale Geschlechterrollen infrage gestellt werden, die in islamistischen Ideologien eine zentrale Rolle spielen. Durch den Peer-Ansatz werden Mädchen und junge Frauen ermutigt und befähigt, Verantwortung zu übernehmen. Damit stellen sie alternative Rollenvorbilder dar, die nicht nur in der Einrichtung selbst eine Rolle spielen und sich innerhalb des spaces auch Räume der Kritik und des Widerstands, in denen sanktionierte Stimmen in den Vordergrund gerückt werden (Browne 2009).

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safer space entfalten, sondern auch in das Stadtviertel hineinwirken, weil sie dort präsent sind. Eine wichtige Strategie ist dabei die »Besetzung« des öffentlichen Raums durch Frauen und Mädchen, z.B. in Form von Festen und Aktivitäten. Solche Raumbesetzungen markieren den Anspruch und das Recht von Mädchen und Frauen auf den öffentlichen Raum und haben einen grundlegenden Einfluss auf die Atmosphäre eines Viertels. Dass die Empowerment-Arbeit der Mädcheneinrichtung im Viertel Wirkung zeigt, wird auch von anderen Akteuren außerhalb der Einrichtung so wahrgenommen. Ein Erzieher, der in einer anderen Einrichtung beschäftigt und selbst im »Sonnenburg-Viertel« aufgewachsen ist, kommt im Interview auf die Präsenz »starker Frauen« im Viertel zu sprechen, die er auf die Empowerment-Arbeit der Mädcheneinrichtung zurückführt: »Aber das muss ich sagen, speziell auch hier oben9 , also im ›Sonnenburg-Viertel‹, da sind sehr viele starke Frauen. … Da oben ist Power, sehr viel Power. … Dass Frauen ihr Recht haben auf das oder das … Alle studieren, alle, die ich da oben kenne, auch Erwachsene, die studieren alle. Finde ich sehr, sehr, sehr stark, wirklich. Ist seit Jahren für mich eine Vorbildeinrichtung.« (I_A_4, 2). Auch andere Interviewte betonen, dass sich die Bildungssituation im Viertel in den vergangenen Jahren deutlich verbessert hat, was nicht allein auf die Arbeit der Mädcheneinrichtung zurückgeführt wird, sondern auch auf das Engagement weiterer Akteure, z.B. eines lokalen Nachhilfe- und Patenschaftsprojekts. Der Anstieg der Bildungsabschlüsse wird von den Jugendlichen, die wir interviewt haben, selbst mit dem Rückgang der Kriminalität in Verbindung gebracht, weil den Jugendlichen und jungen Erwachsenen nun andere Chancen zur Teilhabe am Arbeitsmarkt offen stehen und damit kriminelle Karrieren für Jugendliche weniger attraktiv erscheinen (GD_A_5, 29). Teil der Empowerment-Arbeit der Einrichtung ist auch die Arbeit mit den Eltern. Dabei geht es u.a. darum, die Kommunikation zwischen Eltern und Kindern zu stärken und Konflikte zu moderieren – immer im Sinn einer »Anwaltschaft« für die Mädchen. Eine 24-jährige Mitarbeiterin der Einrichtung, die diese als Kind selbst besucht hat, sich später als Peer-Helferin eingebracht hat und heute in der Mädcheneinrichtung arbeitet, deren eigene Biografie also eng mit der Einrichtung und ihrem Empowerment-Ansatz verknüpft ist, berichtet im Interview davon, dass die Freiheit10 der Töchter ein Thema von Meinungsverschiedenheiten unter Eltern

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»Oben« bezeichnet einen räumlichen Bereich des »Sonnenburg-Viertels«, in dem die Mädcheneinrichtung angesiedelt ist. »Freiheit« bezieht die Sprecherin hier explizit auf Normen, die mit der Kleiderwahl der Mädchen verbunden sind. Im weiteren Sinn geht es um Normen, die mit ihrem Körper und ihrer Sexualität sowie mit geschlechtsspezifischen Rollenzuschreibungen verknüpft sind.

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darstellt. Sie erzählt, dass Eltern, die ihren Töchtern Freiheiten gewähren, die andere Mädchen nicht haben, negativ auffallen und Gegenstand von »Lästereien« im Viertel sind. Sie geht aber davon aus, dass sich hier die Maßstäbe schon verschoben haben, dass sich also ihre eigene Generation Freiheiten erkämpft hat, die für die Mädchen heute selbstverständlich sind, z.B. hinsichtlich bestimmter Bekleidungsvorschriften: »Wenn ich mir jetzt die Jugendlichen heute angucke, die sind relativ stärker als wir damals, sehr viel selbstbewusster, und können sich sehr viel besser behaupten als wir. Also die Kämpfe, die wir austragen mussten, um da zu sein, wo wir jetzt sind, müssen die Jugendlichen oder die Jüngeren heute gar nicht so stark [bestreiten], weil wir sehr viel Vorarbeit geleistet haben.« (I_A_2, 4) Die Interviewte geht davon aus, dass sich das Viertel durch die widerständigen Praktiken der Mädchen verändert hat, denn nicht sie haben sich dem Viertel angepasst, sondern »die haben sich uns angepasst« (ebda). Das zeigt, dass die Empowerment-Arbeit der Mädcheneinrichtung Wirkung zeigt und einen Effekt hat, der sich in den Individuen selbst zeigt, wie im folgenden Kapitel noch ausführlicher beschrieben wird. Die Empowerment-Arbeit hat aber auch Einfluss auf den Sozialraum, denn den Mädchen ist es – folgt man den Aussagen der Interviewten – gelungen, proaktiv die Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens vor Ort zu verändern.

Empowerment auf individueller Ebene: ein Fallbeispiel Im Rahmen des Forschungsprojekts haben wir narrative biografische Interviews mit Jugendlichen geführt, die einen engen Bezug zu den Einrichtungen im Quartier aufweisen. Damit wollten wir untersuchen, welchen Einfluss die in den Einrichtungen bzw. im Quartier gemachten Erfahrungen auf die biografische Selbstdarstellung und Selbsterzählung der Jugendlichen hatten bzw. haben. Dem narrativen Interview als Erzählform (Schütze 1981) liegt die erzähltheoretische und empirisch fundierte Annahme zugrunde, dass durch eine solche unvorbereitete »Stegreiferzählung« ein Zugang zu (auch weit zurückliegenden) Alltagserfahrungen hergestellt werden kann, die für die erzählende Person identitäts- und handlungsrelevant sind und trotz möglicher argumentativer Überformungen erkennbar bleiben (Koch 2017, 88ff.). Damit entwickelt die »Stegreiferzählung« eine »Eigendynamik …, die relativ unabhängig von der situativen Selbstdarstellung ist« (Koch 2017, 90) und legt Orientierungen und subjektive Sinnzusammenhänge frei.

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Im Interview berichtet die 17-jährige Amina11 darüber, welche Institutionen sie entscheidend geprägt haben (BI_A_1). Sie berichtet zum einen über ihre Erfahrungen in der Mädcheneinrichtung, die sie seit ihrem sechsten Lebensjahr besucht, und zum anderen über ihre Schulzeit am Gymnasium. Amina argumentiert explizit und bilanzierend, dass – neben ihrem Klassenlehrer in der Oberschule und ihrer Klasse – die Mädcheneinrichtung eine entscheidende Rolle in ihrer Entwicklung gespielt hat. Sie entwirft sich im narrativen Interview als Lernende, die insbesondere durch die Erfahrungen in der Mädcheneinrichtung einen Entwicklungsschub erfahren hat. Dabei beschreibt sie eine Vielzahl von Situationen, die sie aus ihrer Zeit in der Mädcheneinrichtung in Erinnerung hat und die sich als Selbstwirksamkeitserfahrungen zusammenfassen lassen. »Vertrauen« und »Verantwortung« sind dabei zentrale Kategorien. Sie betont immer wieder das Vertrauen, dass ihr entgegengebracht wurde, und die Verantwortung, die sie nach und nach in der Einrichtung übernommen hat: als Peer-Helferin, als Begleiterin bei externen Präsentationen, als Unterstützerin bei Quartiersfesten, als Ansprechpartnerin für jüngere Mädchen, als Zuständige für den Wochenenddienst und als Moderatorin des offenen Plenums der Einrichtung. »Ich hab’s richtig geliebt, das Plenum zu leiten. … dann war es wieder so eine Verantwortung. Dann mussten wir alle immer ruhig kriegen. Dann haben wir auch gelernt, eine Person ausreden zu lassen, einer Person zuzuhören, was ich auch immer wichtig fand oder [wovon ich] später gemerkt hab’, … dass [das] richtig wichtig war.« (BI_A_1, 5) Diese Entwicklung geht mit einem wachsenden Selbstbewusstsein, dem Erlernen von Kommunikationskompetenzen, einer größeren Selbstständigkeit und Unabhängigkeit von den Eltern sowie der Entwicklung eigener Meinungen und Positionen einher, die in Aminas Erzählung anhand von Beispielsituationen illustriert werden. Als besonders relevant für die Lernprozesse werden die Ausflüge und Reisen, die Amina mit der Mädcheneinrichtung unternommen hat, hervorgehoben. Bei diesen und bei anderen Aktivitäten der Einrichtung geht es um die Eröffnung von Möglichkeiten. »Es hat sich so vieles [für] mich geändert, weil, wie gesagt, vielleicht würde ich jetzt zuhause sitzen, gar nichts machen. Ich meine, jetzt haben wir wieder diese Möglichkeit, nach Krakau zu gehen, die Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz. … Das ist eine super Möglichkeit, einfach auch über die Geschichte zu lernen.« (ebd., 10)

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Es handelt sich um ein Pseudonym.

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Amina beschreibt, dass sie diese Möglichkeiten für sich nutzt und dass sich dadurch Lernprozesse ergeben haben, z.B. durch die Auseinandersetzung mit Themen wie Sexismus, Homophobie und Antisemitismus. Erworbene Kompetenzen aus der Mädcheneinrichtung bringt sie in der Schule ein, z.B. indem sie als Klassensprecherin ein Diskussionsplenum einrichtet, um mit den Mädchen und Jungen aus der Klasse über Sexismus und konkrete Belästigungen zu diskutieren. Sie wirkt aber auch ins Quartier zurück, wenn sie als Ansprechpartnerin für jüngere Mädchen fungiert oder hilft, die Sommer-Uni zu organisieren. Die Bindung und vertrauensvolle Beziehung zu den Mitarbeiterinnen der Einrichtung wird von Amina immer wieder betont; die Mitarbeiterinnen stellen eine wichtige Unterstützung im Coming-of-Age-Prozess dar, der hier als Prozess des »Hineingeworfen-Werdens« beschrieben wird: »Ich hatte immer das Gefühl, ich wurde so ›reingeworfen, so: ›Okay, auf einmal muss ich jetzt erwachsen werden‹. Und dabei hat mir [Name der Mädcheneinrichtung] voll geholfen, weil, ich meine, hier waren immer … Leute, mit denen ich reden konnte.« (ebd., 12) Die Bildungsreisen stellen einen Höhepunkt in Aminas biografischer Erzählung dar. Sie führen sie über die Grenzen des »Sonnenburg-Viertels« hinaus – sie betont mehrfach das besondere Gefühl, das Viertel verlassen zu können, da in ihrer Familien Reisen sonst nur zu Verwandten stattfinden. Die Bildungsreisen ermöglichen das Lernen an Alltagssituationen. Dazu erzählt Amina folgende Episode: Auf der Bildungsreise nach Antalya wollte sie am Strand gerne einen Bikini tragen, denn in Deutschland kann sie das aufgrund entsprechender Bekleidungsvorschriften ihres Vaters nicht. Der Bruder, der bei der Bildungsreise dabei war, dachte, er müsste die väterliche Autorität vertreten, und versuchte, das Tragen des Bikinis zu unterbinden. Die ganze Gruppe diskutierte daraufhin die Frage, ob ein Bruder seiner kleineren Schwester das Tragen eines Bikinis verbieten darf. »Ich meine …, ich wollte einfach, keine Ahnung, ich hab’ mich voll selbstbewusst gefühlt. Ich dachte so: ›Boah, ich will unbedingt einen Bikini tragen, so das ist voll cool. Und ich hab’ jetzt die Möglichkeit und ich hab’ einen dabei‹ … Aber wir saßen dann und haben darüber geredet. … Aber wie gesagt, für mich war das auch so: ›Ja, warum muss ich dich überreden? Ich meine, es ist doch eigentlich meine Entscheidung‹. Aber es sind halt manchmal Sachen, wo man darüber reden muss. Ich meine, sowas ist auch … zum Beispiel … was Neues für meinen Bruder. … ich hätte nicht einfach so mit dem Bikini auf den Strand gehen können oder so. Man muss erstmal darüber reden. Und da haben die [Jugendarbeiterinnen] mich auf jeden Fall auch sehr unterstützt.« (ebd., 16 –17)

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Das Tragen des Bikinis kann in Aminas Fall als Strategie zur weiblichen Selbstermächtigung verstanden werden, denn es ging für sie darum, sich auszuprobieren und eigene Entscheidungen zu treffen, die sie ihrem Bruder gegenüber durchzusetzen versuchte. Dass sie dabei von den Jugendarbeiterinnen und von der Gruppe Unterstützung erhielt, erlebte Amina als sehr stärkend. Gleichzeitig konnte sie in diesem Diskussionsprozess erlernte Kommunikationskompetenzen anwenden. An der Erzählung von Amina zeigt sich ein grundlegender Arbeitsansatz der Einrichtung, der auch Richtschnur für ihre Präventionsarbeit ist: EmpowermentArbeit für Mädchen hat eine gesellschaftspolitische Dimension und wirkt in das Quartier zurück, weil – wie bereits zuvor dargestellt – Mädchen im Quartier dadurch präsenter werden, den öffentlichen Raum besetzen und in ihren PeerGruppen, Familien und Schulklassen selbstbewusst eigene Positionen vertreten: »[Name der Mädcheneinrichtung] hat mich zu dem Punkt gebracht und auch allgemein die Menschen, also nicht nur [Name der Mädcheneinrichtung], sondern so die Menschen, die hier sind, haben … meinen Verstand [bis zu dem Punkt] geformt, wo ich irgendwann meinen eigenen Kopf hatte. … Und irgendwann war’s einfach so, okay, jetzt kann ich selber denken und ich kann mir meine eigenen Meinungen [bilden].« (ebd., 10)

Die Präventionsarbeit der Mädcheneinrichtung Neben dieser universellen Empowerment-Arbeit, die speziell Mädchen und junge Frauen grundsätzlich stärkt, ohne dabei direkt oder ausschließlich die Gefährdung durch Radikalisierung zu adressieren, setzt die Einrichtung auch spezifische Radikalisierungsprävention um, die sich sowohl an Mädchen als auch an Jungen richtet. Diese umfasst zum einen die Begleitung von Einzelfällen, um eine beginnende Radikalisierung zu stoppen bzw. Deradikalisierungsarbeit zu leisten. Letztere beinhaltete bei den bereits erwähnten Radikalisierungsfällen im Viertel eine langjährige pädagogische Begleitung, bei der im Vordergrund stand, herauszuarbeiten, welche Probleme, Wünsche und Bedürfnisse hinter der beginnenden oder bereits erfolgten Radikalisierung standen, damit diese vorrangig bearbeitet werden konnten. Zum anderen setzt die Mädcheneinrichtung Projekte der Radikalisierungsprävention um, die sich ebenfalls am Empowerment-Ansatz orientieren. Dies erfolgt nicht aufgrund förderbedingter Logiken und entsprechender Finanzierungszwänge, sondern aufgrund einer konkret wahrgenommenen Gefährdung, die im Rahmen eines Projekts der aufsuchenden Gewalt- und Kriminalitätsprävention sichtbar wurde. Bei der Umsetzung dieses Ansatzes der aufsuchenden Sozialarbeit wurde schnell deutlich, dass nicht nur Sozialarbeiter*innen, sondern auch extremisti-

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sche Akteure auf den Straßen unterwegs waren und Jugendliche ansprachen. Das Thema Radikalisierungsprävention wurde deswegen in die aufsuchende Arbeit integriert. Ein aktuelles Projekt zur Radikalisierungsprävention wurde in Zusammenarbeit mit unserem Forschungsprojekt umgesetzt. Die Workshops und Bildungsreisen im Rahmen dieses Projekts beschäftigten sich u.a. mit Religionen und Fundamentalismus, politischem Islam, Frauen- und Menschenrechten, Homophobie, Antisemitismus, Gewalt im Namen der Ehre, Umgang mit dem Druck aus Familie und Mehrheitsgesellschaft, Rassismus und Rechtsextremismus sowie Verschwörungstheorien und Macht. Das Projekt war von Beginn an als ein Vorhaben gedacht, das über die Gruppe hinaus in das »Sonnenburg-Viertel« hinein reichen sollte. Die Jugendlichen wurden als Multiplikator*innen gesehen, die Themen und Diskussionen auch in ihre PeerGruppen und Familien tragen. Unsere empirischen Daten, die wir in Gruppendiskussionen mit den Jugendlichen erhoben haben, zeigen deutlich, dass es im Rahmen des Präventionsprojekts gelungen ist, einen Diskussions- und Erfahrungsraum zu schaffen, der die Jugendlichen ermutigte, sich über ihre Meinungen, Einstellungen, Wertorientierungen und Erfahrungen auszutauschen, und zwar – trotz oftmals kontroverser Positionen – auf eine respektvolle Art und Weise. Es entstand also durch die am Empowerment-Ansatz orientierte Präventionsarbeit im Projekt ein safer space, der einen geschützten Austausch ermöglichte. Im Lauf der Gruppen-Interviews während des zweijährigen Projektzeitraums war zu merken, dass die Gruppe zunehmend vertrauensvoller miteinander umging und auch »heiklere« bzw. intimere Themen aus eigenem Impuls intensiv und oftmals kontrovers diskutiert wurden, z.B. Fragen von Sexualität und Religion. Dabei gestalteten sich die Gruppen-Interviews weitgehend selbstläufig, sodass die Teilnehmer*innen selbst ihre Relevanzen setzten und das diskutierten, was ihnen bedeutungsvoll erschien. Zu diesen Themen gehörten u.a. die Bedeutung von Religion und religiösen Vorschriften im Alltag, Geschlechterrollen und Stereotype, Sexismus und Gewalt gegen Frauen, Homosexualität und Homophobie, Antisemitismus, Stigmatisierungs- und Rassismuserfahrungen von Muslim*innen sowie Radikalisierungsfälle im Quartier. Dass es im Lauf des Projekts zunehmend gelungen ist, einen safer space zu schaffen, in dem unterschiedliche Positionen angesprochen werden konnten, ohne dass die jeweiligen Diskussionsteilnehmer*innen dafür verurteilt zu werden, thematisierten die Jugendlichen auch in der abschließenden Gruppendiskussion: »[I]ch hatte auch das Gefühl, dass jeder sich wohlgefühlt hat dabei, seine Meinung zu nennen, … dass wir so mehr zusammengewachsen sind und uns auch trauen, über jedes Thema miteinander zu reden, und das auch wichtig geworden ist, und

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dass, wenn wir über ein Thema reden, auch dem anderen zugehört wird und wir auch versuchen, zu verstehen, warum genau das gesagt wird, ja.« (GD_A_6, 16)

Community-Kompetenz durch Empowerment und kollektive Wirksamkeit In den vorherigen Kapiteln haben wir dargelegt, inwiefern rassismuskritische und frauenrechtsbasierte Empowerment-Ansätze der Mädcheneinrichtung zur Stärkung jugendlicher Bewohner*innen des Sozialraums führen. Dies trägt nicht nur zur persönlichen Weiterentwicklung und individuellen Resilienzstärkung bei, sondern führt auch dazu, dass diese Bewohner*innen sich aktiv an der Gestaltung des Sozialraums beteiligen und somit auch die Resilienzstärkung des Quartiers unterstützen. Dabei haben wir die Resilienz eines Quartiers als Widerstandsfähigkeit gegenüber Krisen und Bedrohungen definiert. Wir gehen davon aus, dass Empowerment insbesondere dann zur Resilienzstärkung eines Sozialraums oder Quartiers führt, wenn Empowerment-Strategien von unterschiedlichen Einrichtungen im Sozialraum verfolgt werden und dadurch für die Bewohner*innen leicht zugänglich, ausreichend vorhanden und »robust« im Sinn von dauerhaft und nachhaltig sind. Diese Eigenschaften sind – wie bereits dargelegt – eine Voraussetzung dafür, dass Empowerment zur CommunityKompetenz des Sozialraums beitragen kann. Im »Sonnenburg-Viertel« arbeiten nicht nur die Mädcheneinrichtung, sondern auch andere Akteure sehr intensiv mit dem Empowerment-Ansatz. So stärkt beispielsweise ein migrantischer Elternverein, der von Bewohner*innen des Quartiers gegründet wurde und damit bereits eine Organisationsform der Selbstermächtigung darstellt, durch seine Bildungs-, Beratungs- und Netzwerkarbeit die Kommunikationskultur in den Familien. Er bestärkt Eltern darin, mit ihren Kindern in einem guten Kontakt zu stehen, um Gefahren rechtzeitig wahrnehmen zu können: »Und da hilft es, dass man die Eltern dazu immer ermutigt und sagt, wie wichtig das ist, [den Kontakt zu den Kindern zu halten,] weil die Eltern früher immer glücklich waren, wenn die Kinder [in ihrem] Zimmer waren: ›Ach, mein Kind ist ganz lieb, der macht ja nichts. Was will die Lehrerin mir da erzählen über mein Kind! Der ist doch die ganze Zeit in seinem Zimmer.‹ Aber was in dem Zimmer läuft, mit dem Handy läuft oder mit der Playstation läuft, wissen die gar nicht, welche Freunde sie haben, wissen die gar nicht. Und die gehen nur davon aus: ›Mein Kind ist ganz lieb und zuhause und ganz ruhig …‹. Und das ist ja mit der Radikalisierung auch so. Wenn das Kind ganz ruhig zuhause ist und immer im Zimmer ist, dann denken die Eltern, da läuft alles gut. Und diese [Ansicht] zu än-

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dern, dass die Eltern sich doch mehr einbringen sollen, ist sehr wichtig.« (I_A_9, 17) Auch ein Nachbarschaftsverein, der Patenschaften und Nachhilfe anbietet, verfolgt Empowerment-Ansätze, die mit Bildungsförderung verknüpft sind. Damit sollen die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen, die von struktureller Benachteiligung und Rassismus betroffen sind, erhöht werden. Gleichzeitig geht es durch das Patenschaftsmodell darum, Kindern und Jugendlichen vielfältige Möglichkeiten der Lebensgestaltung aufzuzeigen und die Akzeptanz für unterschiedliche Lebensmodelle zu erhöhen: »Was wir immer wieder feststellen, ist, dass die Kinder und Jugendlichen das eigentlich total spannend finden, so ein bisschen was aus dem Leben der Mentoren zu erfahren, also was sie beruflich machen. Also was wir immer wieder hören, ist, wenn Leute erzählen, dass sie in einer WG wohnen, das finden die Kinder total spannend. … Einfach so bestimmte Modelle, die sie einfach schlichtweg nicht kennen, wo sie erst mal ins Überlegen kommen, dass es auch noch andere Lebensmodelle gibt irgendwie und dass die Leute auch eigentlich ganz in Ordnung sind.« (I_A_13, 7) Empowerment im Kontext der Resilienzstärkung einer Community steht dabei in einem engen Zusammenhang mit dem Begriff der »kollektiven Wirksamkeit« – beide tragen, wie bereits ausgeführt, zur Community-Kompetenz und damit zur Resilienz einer Community bei (Norris et al. 2008, 141ff). Das aus der Stadtsoziologie und Kriminalitätsforschung stammende Konzept der kollektiven Wirksamkeit (Sampson 2012) knüpft an die Idee gemeinsamer Problemlösung innerhalb einer Community an. Kollektive Wirksamkeit entsteht demnach vor allem in Communities, in denen der Zusammenhalt ausgeprägt ist, basierend auf gemeinsamen Interessen und Werten, und in denen eine vertrauensbasierte Beziehung zu staatlichen Institutionen sowie zu sozialen und zivilgesellschaftlichen Akteuren besteht (siehe dazu auch die Einleitung in diesem Sammelband). Auch wenn diese Beschreibung sicher nicht voll umfassend auf das »Sonnenburg-Viertel« zutrifft und wir den Grad der kollektiven Wirksamkeit in diesem Sinn nicht quantitativ gemessen haben, so haben wir dennoch Anhaltspunkte für kollektive Wirksamkeit gefunden. Diese beziehen sich zum einen auf die bereits erwähnten Rekrutierungsversuche seitens islamistischer Akteure im Sozialraum. Die Mädcheneinrichtung hatte diese Rekrutierungsversuche im Rahmen eines Elternabends thematisiert und mit den Eltern überlegt, was getan werden könne. Darauf beschlossen die Eltern, gemeinsam zu handeln. Väter sprachen die Rekrutierer im öffentlichen Raum an und forderten sie auf, ihre Kinder »in Ruhe zu lassen« (I_A_1b, 26). Diese gemeinsame

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Aktion war erfolgreich und führte dazu, dass die Rekrutierer aus dem öffentlichen Raum verdrängt wurden. Zum anderen argumentieren wir hier mit Rückgriff auf Longstaff et al., dass es – um die Ressourcen einer Community in ihrer Fülle und Diversität nutzen zu können und Community-Kompetenz auszubilden – einer Anpassungsfähigkeit von Individuen und Gruppen bedarf, die unter anderem dadurch gekennzeichnet ist, dass die Community Erfahrungen bewahrt und erinnert, um aus ihnen zu lernen (Longstaff et al. 2010, 7). Auch diese kollektive Erinnerung kann als Teil kollektiver Wirksamkeit verstanden werden. Das »Sonnenburg-Viertel« hat aufgrund langjähriger Gewalt- und Kriminalitätsbelastung das Image eines »Problemviertels«. Die Gefährdung durch Gewalt und Kriminalität wurde von unterschiedlichen Akteuren aus der Community – Einrichtungen und Bewohner*innen – gemeinsam bearbeitet, indem unterschiedliche Ressourcen aus dem Sozialraum mobilisiert und erfolgreich angewendet wurden. In den letzten fünf bis zehn Jahren ist nach Aussagen unserer InterviewPartner*innen die Gewalt und Kriminalität im Viertel deutlich zurückgegangen. Dies ist u.a. auf die erfolgreiche Präventionsarbeit verschiedener Akteure vor Ort, insbesondere der ansässigen Mädcheneinrichtung, zurückzuführen, die vielfältige Maßnahmen der aufsuchenden Sozialarbeit und Peer-Ausbildung umgesetzt haben, sowie auf Interventionen durch Polizei und Wohnungsbaugesellschaft (GD_A_5, 15). An diese erfolgreiche Arbeit erinnern sich sowohl Fachkräfte als auch junge Erwachsene, da sie gemeinsam gelungen ist, denn die Jugendlichen wurden als Peers in die aufsuchende gewaltpräventive Straßensozialarbeit einbezogen. Neben der kollektiven Erinnerung an die gewalt- und kriminalitätsbelastete Vergangenheit des Viertels und seine erfolgreiche Transformation gibt es dort eine kollektive Erinnerung an mehrere Fälle der Radikalisierung von Jugendlichen. Radikalisierung wurde so von einer eher abstrakten, medial vermittelten Bedrohung zu einer konkreten Erfahrung in der eigenen Lebenswelt. Ein junger Mann, der sich – lange unbemerkt von seinem Umfeld – radikalisiert hatte und aus dem »Sonnenburg-Viertel« in die Türkei gereist war, konnte von Verwandten dort an der Weiterreise nach Syrien gehindert werden. Der Fall wurde zum Gesprächsthema im Viertel, wie Eltern berichten, auch wenn nicht unbedingt direkt mit der betroffenen Familie, sondern unter den Familien darüber gesprochen wurde: »Wir haben so ein paar Sätze gehört. Wir haben nicht mit der Familie direkt gesprochen. Aber weil wir Nachbarn sind, haben wir von dieser ein Wort gehört, von dieser etwas. Aber das Thema ist das Thema. Das Kind will nach Syrien fahren wegen dem Dschihad. Er will das Paradies und so.« (I_A_10, 13)

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Dieser Fall wurde von Eltern zum Anlass genommen, um mit den eigenen Kindern über die konkrete Bedrohung durch Radikalisierung zu reden. Die Jugendlichen berichteten uns davon, dass diese Gespräche sie für das Thema sensibilisiert haben (Forschungstagebuch, 1.10.2021). Deutlich wird die resilienzstärkende Wirkung der kollektiven Erinnerung und des anlassbezogenen, konkreten Sprechens über Radikalisierung auch im folgenden Ausschnitt aus einer Gruppendiskussion. Die Eltern argumentieren, dass die Gefährdung nachgelassen hat, weil es zum einen mehr präventive (Bildungs-)Angebote der Jugendeinrichtungen im Viertel gibt, die zumindest zum Teil spezifisch aufgrund der Gefährdungslage entwickelt wurden. Zum anderen aber sind ihrer Auffassung nach auch die Familien »stärker« geworden, weil mehr über das Thema Radikalisierung geredet wird: »Da gibt es ganz viele Möglichkeiten für die Jungs jetzt hier nach fünf Jahren, Beispiel: [In den beiden Jugendeinrichtungen], da gibt es ganz viele Gruppen für die Leute. Und bestimmte Leute, die reden immer mit den Jungs und machen mit ihnen Ausflüge und Projekte und alles … Ich denke, viele Familien oder, [das] kann man sagen: alle Familien, reden mehr, sprechen mehr öffentlich mit ihren Kindern über diese Themen.« (I_A_10, 17) Das Thema Radikalisierung wurde nicht nur von den Eltern, sondern auch von der Mädcheneinrichtung aufgegriffen und mit den Jugendlichen besprochen. Im Interview schildert eine Mutter, deren Kinder die Mädcheneinrichtung besuchen, dass diese selbstbewusst auf einen islamistischen Anwerbeversuch reagiert haben, auch weil sie sich bereits zuvor mit dem Thema auseinandergesetzt hatten (I_A_10, 7 – 9). Weiterhin spielt nach der Argumentation von Longstaff et al. auch die Verbindung mit anderen Individuen, Gruppen oder Organisationen innerhalb und außerhalb des Quartiers eine große Rolle bei der Resilienzstärkung, um das Gelernte weiterzugeben (Longstaff et al. 2010). Anhand unserer empirischen Daten können wir zeigen, dass die ansässige Mädcheneinrichtung eine zentrale Rolle in der Weitergabe dieser Erfahrungen spielte und immer noch spielt. Sie ist im Viertel gut vernetzt und wird angefragt, wenn es dort zu Problemen kommt, z.B. hinsichtlich Gewaltvorfällen, aber auch hinsichtlich Radikalisierung. Der Träger hat einen Expertenstatus für das Thema erworben und leistet innerhalb des Viertels zum einen Präventionsarbeit, zum anderen haben Jugendsozialarbeiter*innen, wie bereits erwähnt, auch einzelne Fälle beginnender Radikalisierung begleitet und abgewendet bzw. zur Deradikalisierung der Jugendlichen beigetragen. Die Mädcheneinrichtung hat über das »Sonnenburg-Viertel« hinaus einen Expertenstatus erworben und wird von anderen Einrichtungen zur Beratung angefragt. Eine wichtige Grundlage für die Präventions- und Deradikalisierungsarbeit des Trägers ist der starke Bezug zu Alltagserfahrungen und Lebenswelten im Viertel bzw. deren

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genaue Kenntnis sowie entsprechende vertrauensvolle Bindungen zu den Jugendlichen, aber auch zu den Eltern. Ein Teil der haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen der Jugendeinrichtung ist selbst im Quartier aufgewachsen.

Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Es kann festgehalten werden, dass im »Sonnenburg-Viertel« einige Faktoren identifiziert werden konnten, die zur Resilienzbildung auf Ebene des Viertels beitragen. Dazu zählt insbesondere der Empowerment-Ansatz, der von der ansässigen Mädcheneinrichtung, aber auch von anderen Akteuren vor Ort umgesetzt wird, um Kinder, Jugendliche und Eltern zu stärken. Anhand eines biografischen Beispiels wurde deutlich, welche Effekte diese Arbeit auf einzelne Biografien haben kann und wie diese auch auf das Quartier zurückwirken. Im Weiteren wurden Phänomene kollektiver Wirksamkeit durch gemeinsames Handeln und das Bewahren und die Weitergabe kollektiver Erinnerung beschrieben, die zur Resilienz des Viertels beitragen. Sowohl das Empowerment als auch die kollektive Wirksamkeit können als Formen der Community-Kompetenz gewertet werden, die eine wichtige Rolle bezüglich der Widerstandsfähigkeit von Quartieren spielt. Die Empowerment-Arbeit von Einrichtungen kann die Grundlage dafür schaffen, dass Bewohner*innen Erfahrungen von kollektiver Wirksamkeit machen, und umgekehrt wirken Erfahrungen kollektiver Wirksamkeit auf die Arbeit der Einrichtungen zurück, denn sie stärken den Zusammenhalt im Quartier und können von den Einrichtungen aufgegriffen werden, um partizipative lokale Strategien zur Resilienzstärkung »von unten« zu entwickeln und umzusetzen. Wir gehen davon aus, dass Community-Kompetenz keine statische Eigenschaft eines Quartiers darstellt, die entweder vorhanden oder nicht vorhanden ist, sondern dass sie gezielt gefördert und ausgebildet werden kann. Hier sind sowohl kommunalpolitische Akteure der Stadtentwicklung als auch die Einrichtungen selbst auf der Quartiersebene gefragt. Denn für eine Förderung von CommunityKompetenz ist das ausreichende Vorhandensein finanziell gut ausgestatteter Einrichtungen im Sozialraum mit qualifizierten Mitarbeiter*innen, die eine enge Bindung zu den Bewohner*innen aufgebaut haben, von großer Bedeutung. Die Einrichtungen sollten sich an unterschiedliche Zielgruppen richten und diesen schützende Räume bieten. Insbesondere Mädchenarbeit, aber auch Elternarbeit sowie die Förderung der Selbstorganisation von Eltern sind dabei bedeutsame Ansätze. Auch im Sinn der Community-Strategien ist es zentral, dass die vorhandenen Einrichtungen vor Ort die Selbstermächtigung der jugendlichen und erwachsenen Bewohner*innen stärken, indem sie ihnen Handlungs- und Möglichkeitsräume eröffnen und sie gleichzeitig vor Diskriminierung schützen. Das

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Empowerment jugendlicher und erwachsener Bewohner*innen kann dann wieder in das Quartier zurückwirken und eine Eigendynamik in Gang setzen, die zu gesellschaftlichen Veränderungen beiträgt, indem sie kollektives Handeln fördert und Resilienzen stärkt.

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Community-Kompetenz durch Empowerment und kollektive Wirksamkeit

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Raumbezogene Präventionspraxis: Einblicke und Reflexionen

Mehr als präventiv: Jugendliche als Expert*innen ihrer eigenen Geschichte im Modellprojekt kiez:story Pierre Asisi, Claudio Caffo, Ph ươ ng Thúy Nguy ễn

Abstract Der folgende Text macht sich für eine multiperspektivische, intersektionale Pädagogik stark, in der Jugendliche selbst zu Expert*innen ihrer eigenen Geschichte werden. Anhand der Erfahrungen aus dem Projekt kiez:story soll umrissen werden, wie eine solche Pädagogik in der Praxis aussehen kann. Mit einem Exkurs, der die Familienbiografien der drei Autor*innen skizziert, soll die Relevanz des Ansatzes verdeutlicht werden. Der Artikel endet mit einem konkreten Vorschlag dazu, wie das Thema Gastarbeit in Schulklassen thematisiert werden kann, um Jugendliche zu ermuntern, sich selbst auf Spurensuche zu begeben. Das Projekt stärkt damit die Zugehörigkeitsbezüge der Jugendlichen und beugt somit – quasi ganz nebenbei – auch Abwertungsideologien vor.

Berlin, 5. Oktober 2021: Anlässlich des 60. Jahrestags des »Anwerbeabkommens mit der Türkei« hält der amtierende Bundespräsident eine Festrede.1 Dass dieses Abkommen irgendwann durch die ranghöchste Repräsentanz des deutschen Staats »gefeiert« werden würde, ist bemerkenswert. Ebenso bemerkenswert sind die Worte, mit denen der Bundespräsident die Rede beschließt: »Ich ermuntere Sie, ich ermuntere alle, die hier zu Hause sind, und ich ermuntere insbesondere die Jugendlichen, die jungen Frauen und Männer hier heute und in ganz Deutschland: Nehmen Sie sich den Platz, der Ihnen zusteht! Nehmen Sie sich den Platz in der Mitte unserer Gesellschaft und füllen Sie ihn aus! Gestalten Sie diese Gesellschaft, denn es ist Ihre Gesellschaft!« (Der Bundespräsident 2021) Mit diesen Worten adressiert Frank-Walter Steinmeier die Menschen, die im Rahmen dieses Abkommens nach Deutschland gekommen sind, und ihre Nachkommen als gleichberechtigte Bürger*innen, die ein Recht auf vollumfassende Partizipation und Teilhabe an der deutschen Gesellschaft haben sollten. Dies war nicht

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Der vorliegende Beitrag ist in veränderter Fassung im Onlineportal RISE erschienen (Asisi et al. 2021).

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immer so, was sich besonders am Begriff der sogenannten »Gastarbeiter«2 , mit dem Arbeitsmigrant*innen in der BRD bezeichnet wurden, zeigt. Dass das Wort »Gastarbeiter« aus der Mode gekommen ist, ist unter anderem dem historischen Faktum geschuldet, dass sich im Laufe der Zeit drei der 14 Millionen Arbeitsmigrant*innen in der Bundesrepublik aktiv gegen die »BRD-Politik der »Rückkehrförderung« (Yildiz 2019) der 1970er und 1980er Jahre entschieden. Sie haben sich nicht nur entschlossen, in Deutschland zu bleiben, ihre Familien zusammenzuführen und neue zu gründen, sondern auch auf vielfältige Art und Weise die Gegenwart dieses Landes mitgeprägt. Der Begriff und das Konzept wurden gerade aus den Communities ehemaliger »Gastarbeiter« vielfach kritisch beleuchtet (Izgin et al. 2019; Kizilay 2020; Yildiz 2019). Steinmeiers Feststellung wäre also schon 1980 richtig gewesen, jedoch herrschte damals noch ein ganz anderer Ton vor. In diesem Sinne fühlen sich die deutlichen Worte des Bundespräsidenten wie eine symbolische Zäsur an – der jedoch viele gesellschaftliche Auseinandersetzungen und migrantische Kämpfe vorausgehen mussten.3 Rückblickend waren die Auseinandersetzungen um das Thema Migration von einer abwehrenden Rhetorik gekennzeichnet. In Medien und Politik wurde Einwanderung – oftmals als »Zuwanderung« bezeichnet, um den dauerhaften Charakter der Migration in Frage zu stellen – zumeist als Fehlentwicklung dargestellt (Alexopoulou 2020, 7f.). Das heute gefeierte Anwerbeabkommen etwa wurde schon kurz nach seinem Inkrafttreten als zu korrigierender Fehler angesehen. Helmut Kohls migrationsfeindliche Position ist hinlänglich bekannt, aber auch sozialdemokratische Kanzler wie Willy Brandt oder Helmut Schmidt haben sich ablehnend über die Arbeitsmigration, insbesondere aus der Türkei, geäußert. Letzterem wird 1982, während seiner zweiten Amtsperiode, das Zitat zugeschrieben, dass ihm »kein Türke mehr über die Grenze« komme (Hecking 2013). Noch 2004 sah Schmidt das Abkommen als historischen Fehler und konstatierte, die daraus resultierte Einwanderung sei in einem »Integrationsversagen« gemündet (FAZ.net 2004). Besonders die Debatten der 1990er Jahre waren von den Kampfbegriffen »deutsche Leitkultur« und »Multikulti« geprägt – letzteres Konzept sah noch Angela Merkel nach der Jahrtausendwende als gescheitert an (Schrader 2010).

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Da es hier um den historischen Begriff »Gastarbeiter« geht, wurde von der Genderschreibweise abgesehen. Tatsächlich befanden sich auch sehr viele Frauen unter den Gastarbeitern, für deren Arbeitskraft es eine hohe Nachfrage in Deutschland gab, deren Geschichte aber zumeist vernachlässigt wird (Mattes 2019). Dies soll keineswegs implizieren, dass diese Kämpfe vorüber sind und migrantische Menschen in Deutschland nun endlich Gleichberechtigung durch den deutschen Staat erfahren. Nach wie vor dürfen über elf Millionen Menschen, die in Deutschland leben, aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft nicht auf Bundesebene wählen (Destatis 2021) – darunter auch viele ehemalige »Gastarbeiter«.

Jugendliche als Expert*innen ihrer eigenen Geschichte im Modellprojekt kiez:story

Auch bei progressiven Kräften, etwa dem Zusammenschluss Kanak Attak, stieß das liberale »Multikulti«-Konzept von Anfang an auf Ablehnung– wenn auch aus anderen Gründen. Sie sahen darin eine Reproduktion rassistischer Zuschreibungen und eine Kulturalisierung sozialer und politischer Zustände (Karakayali 2001). Kanak Attak war Teil eines kritischen Diskurses, der diese Debatten seither begleitet und sich im akademischen und zivilgesellschaftlichen Milieu in Form von Forschungsprojekten, Initiativen und wissenschaftlichen sowie medialen Beiträgen etabliert hat. Zuletzt drehte sich die Diskussion auch im Kontext des kolonialen Erbes Deutschlands zunehmend um eine multidirektionale bzw. multiperspektivische Erinnerungskultur (Rothberg 2021), die den »Migrationshintergrund Deutschlands« in die Geschichtserzählungen inkludieren möchte. Dabei geht es um eine Revision der offiziellen Erzählungen, die vor allem aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft dargestellt werden und dabei viele andere Erfahrungen ausblenden. Auch Steinmeier greift diesen Ansatz in seiner Rede auf, wenn er sagt: »Die Geschichten der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter verdienen einen angemessenen Raum in unseren Schulbüchern und in unserer Erinnerungskultur; eine Randnotiz wird ihrem Beitrag für unser Land nicht gerecht« (Der Bundespräsident 2021). Zeitgleich findet auch eine Aufarbeitung des »Mauerfalls« statt, der gerade aus migrantischer, jüdischer und linker Perspektive häufig kritischer gesehen wird, als es das bundesrepublikanische Narrativ der »Wiedervereinigung« tut. Damit einher gehen auch die Auseinandersetzung mit den Themen der Migration in die DDR und der Binnenmigration sowie die Berücksichtigung migrantischer Erinnerungen und Perspektiven auf die Vereinigung der beiden deutschen Staaten in einer kapitalistischen Ordnung und ihre Folgen.4

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Exemplarisch unter vielen Beiträgen können die interessanten Sammelbände »Labor 89« (Piesche 2020), »Erinnern stören« (Lierke/Perinelli 2020), »Als ich nach Deutschland kam« (International Women* Space 2019) und die Tagungsdokumentation »Im Osten was Neues?! Intersektionale – Migrantische – BIPoC-Perspektiven auf 30 Jahre (Wieder-)Vereinigungsprozess in Ostdeutschland« (Kaya et al. 2022) genannt werden. Im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Kunst und Kultur sind die Beiträge der letzten Jahre ebenso vielfältig. Spannende Beispiele sind das Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (DOMiD) in Köln oder die Installation »Archiv der Flucht« (2021) im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Erwähnenswert sind auch die Webdokus »Eigensinn im Bruderland« (Enzenbach/Oelkers 2020), »Sorge 87« (Nguyễn, P. T. 2018), »Hanoi x Halle« (Nguyễn, N. 2019), »Zeitzeug*innen« (Schein 2020) oder »Gegen uns« (Oelkers 2020).

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kiez:story: Jugendliche machen sich auf Spurensuche im Kiez Diese vor allem durch marginalisierte Positionen neu belebte Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte mündete auch beim Verein ufuq.de5 in dem Wunsch, ein Projekt in eben diesem Themenfeld anzusiedeln. Bis dahin widmete sich dieser zivilgesellschaftliche Träger vor allem der universellen Prävention, mit Fokus auf dem Themenfeld Islam, Islamismus und antimuslimischem Rassismus. Der Fundamentalkritik, dass in der Präventionslogik eine problemorientierte Sicht auf muslimisch gelesene Jugendliche vorherrschen müsse (Qasem 2020, 6f.), wurde mit empowerment-orientierten Ansätzen und dem Credo »Wer über Islamismus reden will, darf über Islamfeindlichkeit nicht schweigen« begegnet (Müller 2020, 373). In der Praxis des Trägers bestimmen die Jugendlichen im Sinne einer phänomenübergreifenden politischen Bildung die Schwerpunktsetzung mit, sodass in vielen Workshops mit Jugendlichen das Thema antimuslimischer Rassismus einen größeren Raum einnimmt als das Thema Islamismus. Dies mag im Bereich der Islamismusprävention zunächst widersprüchlich wirken, doch gerade hier zeigt sich, dass die Gesprächsräume im Rahmen der Workshops eine Alternative zu islamistischen und anderen menschenfeindlichen Ideologien bieten können, bei deren Etablierung Rassismuserfahrungen sehr häufig eine Rolle spielen (Abushi/Asisi 2020). Trotzdem erschien auch dieser relativ offene Rahmen, den die universelle Islamismusprävention bieten kann, nicht ausreichend, um sich völlig frei mit der eigenen Geschichte beschäftigen zu können. Der Anspruch war ein offeneres Projekt, innerhalb dessen die Perspektiven der Jugendlichen ohne jeden »präventiven Hintergedanken« Raum finden sollten, ohne an ein bestimmtes Thema, etwa Religion, gebunden zu sein. Es lässt sich natürlich trotzdem argumentieren, dass ein solches Projekt, das die Geschichten der Jugendlichen in ein größeres Geschichtsverständnis inkludieren möchte, auch präventive und resilienzsteigernde Wirkung gegenüber Abwertungsideologien entfaltet. Mit der Förderperiode 2020 von Demokratie leben! war nun auch eine passende Finanzierungsmöglichkeit im Programmbereich »Vielfaltgestaltung« auf den Plan getreten und das Projekt kiez:story konnte am 1. Januar 2020 gemeinsam mit dem Kooperationspartner mediale pfade6 die Arbeit aufnehmen. Im Hinblick auf eine jugendliche Zielgruppe stellte sich von Anfang an die Frage, inwiefern die teilweise eher akademischen und bildungsbürgerlich anmutenden Auseinandersetzungen in ein niedrigschwelliges Format für Jugendliche übersetzt werden könnten. Damit ist gemeint, aktuelle Debatten, etwa um eine kolonialismuskritische Aufarbeitung der deutschen Erinnerungskultur bei gleichzeitiger Sichtbarmachung minoritärer Perspektiven, mit den Jugendlichen erfahrbar und nachvollziehbar zu behandeln und dabei die Relevanz für das 5 6

www.ufuq.de mediale pfade – politische Bildung für die digitale Gesellschaft: www.medialepfade.org

Jugendliche als Expert*innen ihrer eigenen Geschichte im Modellprojekt kiez:story

Hier und Jetzt zu unterstreichen: Wieso sind manche Straßenbenennungen in unseren Kiezen ein Problem und was können wir dagegen tun? Einen guten Bezugspunkt für die Jugendlichen bietet dabei das Querschnittsthema Migration. Gerade der städtische Raum ist ohne Migration nicht denkbar. Heiko Berner und Erol Yildiz sehen kosmopolitische Metropolen wie Berlin als zentrale Räume »postmigrantischer Aushandlungsprozesse« (Berner/Yildiz 2021). Auch wenn beim Gedanken an Migration vor allem bestimmte Bilder internationaler Flucht- und Arbeitsmigration vor unserem geistigen Auge erscheinen, möchte das Projekt gerade vor dem Hintergrund der Berliner Teilungsgeschichte auch die innerdeutsche Binnenmigration miteinbeziehen. Denn die über Generationen sesshafte Familie scheint angesichts der historischen Dynamiken, die sich allein in Berlin vollzogen, eine »exotische« Ausnahme zu sein. Oder wie Alexopoulou schreibt: »Migration ist eine ›Grundbedingung der Menschheitsgeschichte‹« (Alexopoulou 2020, 8). Das Projekt wendet sich also nicht nur an Jugendliche mit sogenanntem »Migrationshintergrund«, sondern möchte allen Jugendlichen die Möglichkeit einer selbstermächtigenden Auseinandersetzung mit ihrer jeweiligen Geschichte bieten: »Im Modellprojekt kiez:story machen sich Jugendliche auf die Suche nach spannenden Geschichten aus ihrem Kiez. Die Stories werden in verschiedenen Formaten wie Texten, Bildern, Podcasts und Videos aller Art erstellt und am Ende in einer eigenen Ausstellung gezeigt.« (ufuq.de 2020) Das Projekt wird vor allem im Rahmen von Schul-AGs durchgeführt, die sich über ein ganzes Schuljahr erstrecken und so die intensive Auseinandersetzung und Beziehungsarbeit zwischen Teamer*innen und Jugendlichen ermöglichen, die für die teilweise sensiblen Themen notwendig sind. Besonderer Fokus liegt dabei auf dem Thema Gastarbeit – zumindest an Westberliner Schulen.7 Denn hier haben viele Jugendliche entsprechende biografische Bezüge. Im ehemaligen Westberlin befinden sich drei der vier Kooperationsschulen des Projekts, nämlich die WalterGropius-Schule in der Gropiusstadt, der Campus Rütli nahe der Sonnenallee in Nord-Neukölln und die Lina-Morgenstern-Schule im Bergmannkiez in Kreuzberg. Im Osten der Stadt ist hingegen das Thema Vertragsarbeit, also die Anwerbung von Menschen aus den ehemaligen »sozialistischen Bruderstaaten« eher von Relevanz. Hier wird das Projekt an der Schule am Rathaus in Lichtenberg umgesetzt. Bei der Auswahl der Schulen wurde darauf geachtet, dass sie sich in unterschiedlichen Sozialräumen befinden, die in einigen Aspekten die dichotome Ost-West-

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Bezogen auf die politische Teilung Berlins; alle vier Schulen liegen geografisch im Süden bzw. Osten der Stadt.

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Unterscheidung aufbrechen.8 Die AG-Inhalte sind an den spezifischen Kontext der jeweiligen Schule angepasst, um einen Kiezbezug herzustellen, die Themen so nah wie möglich an den Lebens- und Schulalltag der Schüler*innen anzupassen und für sie zugänglicher zu gestalten. Vor diesem Hintergrund wurde auch der Pool an kiez:story-Teamer*innen mit Menschen gebildet, die solch unterschiedliche Bezüge zur deutschen Geschichte und zu den Berliner Kiezen mitbringen und so mit eigenem Wissen und eigenen Erfahrungen die Themen anschaulicher vermitteln können. Dies geschah auch unter Einbezug des Instagram-Kanals9 , auf dem in Zusammenarbeit mit den Teamer*innen etwa eigene Informationskampagnen kreiert wurden, die auch in den AGs an den Schulen für die Übungen zu Gastarbeit und Vertragsarbeit aufgegriffen wurden. An dieser Stelle lohnt es sich, auch persönlich auszuholen. Dies möchten wir anhand der Biografien der drei Autor*innen tun, die verdeutlichen, wie unterschiedlich die Bezüge zur deutschen Geschichte ausfallen können und wie selbstermächtigend autobiografische Dokumentation und Aufarbeitung sein kann.

Von Italien über die Schweiz nach Deutschland: Die Geschichte eines italienischen »Gastarbeiters« Die Geschichte des Autors und kiez:story-Projektmitarbeiters Claudio Caffo öffnet die Perspektive auf den europäischen Raum. Sie beginnt auf Sizilien in den 1950er Jahren mit dem Umzug seiner italienischen Großeltern in die Schweiz, die dort im Zuge eines Anwerbeabkommens Arbeit fanden. Bei der Einreise in die Schweiz mussten zunächst die Kinder zurückgelassen werden, denn die Mitnahme von Kindern war nicht vorgesehen. Die fünf Kinder der Familie wuchsen also bei verschiedenen Verwandten auf, bis zunächst die drei Töchter heimlich ins Land gebracht wurden, da deren Aufenthalt erst im Nachhinein durch den Staat genehmigt wurde. Die zwei Söhne, darunter der Vater von Claudio Caffo, wurden auf ein staatliches Internat im Norden Italiens geschickt, bis auch sie ein paar Jahre später nachziehen durften. Als die Familie endlich wiedervereint war, sprachen die jüngsten Töchter und die Söhne keine gemeinsame Sprache mehr. Sie mussten sich neu kennen und verständigen lernen. In der Schweiz galten gerade Italiener*innen damals als Unerwünschte, vor deren Männern* – oftmals als »kriminelle Südländer« bezeichnet – die heimischen

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So gibt es beispielsweise viele Überschneidungen zwischen der Walter-Gropius-Schule und der Schule am Rathaus, die sich beide eher in peripherer Lage befinden, im Vergleich zur Lina-Morgenstern-Schule und dem Campus Rütli, deren Sozialraum in den letzten Jahren auch für viele Jugendliche spürbar gentrifiziert wurde. www.instagram.com/kiez.story/

Jugendliche als Expert*innen ihrer eigenen Geschichte im Modellprojekt kiez:story

Frauen geschützt werden müssten10 . Die Geringschätzung und Abwertung trug seltsame Blüten: Der Hausarzt der Familie bot bei einer Untersuchung an, eine der kleinen »süßen« Töchter abzukaufen und zu adoptieren, die Familie hätte ja bereits genug Kinder. Nachdem sie jahrzehntelang im Ausland gearbeitet hatten, gingen die Großeltern mit Renteneintritt zurück nach Italien und bis auf einen Sohn folgten alle Kinder, trotz schlechterer Arbeitsperspektiven, diesem Weg. Den Vater von Claudio Caffo verschlug es ebenso für einige Jahre nach Rom, bevor er in den 1980er Jahren – auch weil er sich in eine deutsche Frau verliebte – erneut auswanderte, diesmal nach Westberlin. Dort wurde diese Liebe nur mit Widerstand und Skepsis angenommen: Die rassistischen Ressentiments gegenüber »Südländer*innen« waren auch in Deutschland sehr lebendig. Seine Frau musste aufgrund ihrer Beziehung zu einem italienischen Mann wüste Beschimpfungen erdulden. Der Vater arbeitete hart und schaffte es, nach einem Umzug nach Hessen vom Lagerarbeiter in einen Bürojob »aufzusteigen« – aber schon ein Jahrzehnt später, nachdem er für die Betreuung der Kinder eine Job-Auszeit genommen hatte, schien diese Arbeit umsonst gewesen zu sein: Keiner wollte einen alleinerziehenden mittelalten »Ausländer« mit Realschulabschluss einstellen. Der Vater rutschte somit zurück in die prekäre Beschäftigung, in welcher er wohl nicht zufällig vor allem mit Kolleg*innen mit Migrationsgeschichte arbeitet.

Die Erfahrungen eines jungen Paars aus Vietnam, das entgegen allen staatlichen Vorkehrungen eine Familie in Deutschland gründete Die Migrationsgeschichte der Autorin und kiez:story-Teamerin Phương Thúy Nguyễn beginnt im Jahr 1980 mit dem bilateralen »Abkommen über die zeitweilige Beschäftigung und Qualifizierung vietnamesischer Werktätiger« (Bundesarchiv, DL2 17368) zwischen der DDR und ihrem »sozialistischen Bruderland« Vietnam. Im Zuge dessen landeten ihre Eltern mit Hunderten anderer sogenannter »Vertragsarbeiter*innen« 1987 in der sächsischen Provinzstadt Werdau, in der auch die Autorin geboren und aufgewachsen ist. Die damals ledigen Eltern und ihre Kolleg*innen wurden in einem Wohnheim eigens für vietnamesische Vertragsarbeiter*innen segregiert von DDR-Bürger*innen am Stadtrand untergebracht. Hier teilten sie in nach Geschlecht getrennten Zwei- bis Dreizimmerwohnungen mit fünf bis sechs

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Erinnert sei an die »Schwarzenbach-Initiative« des rechtsextremen James Schwarzenbach aus dem Jahr 1968, der »gegen die Überfremdung von Volk und Heimat« eine polarisierende, hetzerische Volksabstimmung in Gang brachte, um den Anteil von Migrant*innen auf 10 % zu begrenzen. Letztendlich wurde diese abgelehnt. Dieser Rassismus äußerte sich auch in Schildern mit der Aufschrift »Für Hunde und Italiener verboten«, die an den Eingängen vieler Gastronomiestätten angebracht waren (Maiolino 2020).

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anderen Kolleg*innen, meist aus derselben Heimatprovinz, ihren Alltag außerhalb der Arbeit. Jedem/jeder standen circa fünf Quadratmeter sowie eine gemeinsame Küche und Toilette zur Verfügung. Das Leben der damals 22-jährigen Mutter war vorrangig bestimmt von der Schichtarbeit als Näherin in einer Textilfabrik in der Region. Der Vater wurde einem Elektronikbetrieb in Leipzig zugeteilt. 12 % ihres Bruttolohns mussten sie als Transferleistung an die vietnamesische Regierung zum Wiederaufbau des damals kriegszerstörten Landes abgeben (Bundesarchiv, Aktenband 2143). Neben der Arbeit war auch ihr Alltag in der DDR streng reglementiert. Es gab ständiges Wachpersonal, welches die Ein- und Ausgänge im Wohnheim kontrollierte und den Zutritt Fremder unterband. Die Kontrolle ihres Alltags reichte bis ins Privatleben, so wurden Liebesbeziehungen untereinander nicht gern gesehen und noch kritischer sah der Staat den Kontakt zu DDR-Bürger*innen: Die ausländischen Werktätigen sollten kein Teil der DDR-Gesellschaft werden, sondern nur für sie arbeiten. So war auch der angebotene Sprachunterricht lediglich auf die Arbeit im Betrieb ausgerichtet. Die Mutter und der Vater berichten im Kurzfilm »Sorge 87«, den die Schwester der kiez:story-Teamerin, Phương Thanh Nguyễn, produzierte: »Morgens fuhr uns ein Bus in die Sprachschule, zwei Stunden Fahrtzeit. Im Kurs bin ich dann oft eingeschlafen, weil der Weg bis Auerbach so weit war. 60 km von Werdau nach Auerbach. Morgens sind wir um 4 Uhr aufgestanden, kämpften um die Sitzplätze im Bus … Es ist wichtig, zu erwähnen, dass wir gekommen sind, um zu arbeiten. Wir lernten die Sprache neben der Arbeit. Deswegen beherrschen so viele die Sprache nicht.« Der meist auf vier Jahre befristete Arbeitsvertrag sah auch vor, dass Frauen* bei einer Schwangerschaft abgeschoben werden konnten oder abtreiben mussten. Diese staatliche Biopolitik hat noch bis heute psychische und physische Konsequenzen für viele ehemalige Vertragsarbeiterinnen (Kurt 2018). Doch der Kontrolle und Überwachung zum Trotz schufen sich ihre Eltern und deren Kolleg*innen Freiräume und gestalteten die Blütezeit ihres Lebens in ihrem Sinne. Sie feierten Partys im Wohnheim, gingen in die Diskothek, machten Wochenendausflüge in verschiedene Städte der DDR und nutzten auch ihre freie Zeit, um sich durch zusätzliche Schneiderarbeiten etwas dazuzuverdienen. Sie versorgten Vertragsarbeiter*innen aus anderen Ländern, aber auch DDR-Bürger*innen mit Jeans und anderer moderner Kleidung, an der es in den Läden der realsozialistischen Republik mangelte. Natürlich entstanden trotz des offiziellen Verbots auch Liebesbeziehungen, aus denen sich nach der Wende Familien gründeten, die heute die Vertragsarbeiter*innen-Communities in Ostdeutschland ausmachen. Die Wende 1989/90 bedeutete für viele Vertragsarbeiter*innen das Ende ihres Aufenthalts, die meis-

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ten von ihnen wurden mit einer Entschädigung von 3.000 DM abgeschoben.11 Die Zurückgebliebenen wurden mit dem Ende bzw. der Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses aus den Wohnheimen geworfen und mussten sich von nun an selbst, ohne staatliche Unterstützung, über Wasser halten. Die damals mit der Autorin schwangere Mutter entschied sich, trotz der rechtlichen Ungewissheit und der prekären Lebensverhältnisse nach der Wende in Deutschland zu bleiben. Auch nach dem Beitritt der DDR zur BRD war der Staat nur an ihrer Arbeitskraft interessiert und koppelte den Aufenthaltsstatus an den Nachweis eines Lebensunterhalts. Diesen aufzubringen war aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit im Osten zu der Zeit schwierig. Es blieb nur eine Möglichkeit: die Selbstständigkeit. Zunächst allein begann die Mutter als illegalisierte schwangere Frau12 mit dem Verkauf von Textilien auf der Straße und auf Märkten, später eröffneten die Eltern gemeinsam ein Bekleidungsgeschäft und waren seitdem in verschiedensten Branchen als Gastronomiebetreiber*in, Blumenverkäufer*in, Kellner*in, Fabrikarbeiter*in und Leiharbeiter*in tätig. Heute arbeiten sie als Bistrobesitzer und Putzkraft in der Stadt, in der sie vor 34 Jahren ankamen.

Die Geschichte der iranischen Witwen, die in der DDR Asyl fanden Ebenso einen Bezug zur DDR hat die Geschichte des dritten Autors und Projektmitarbeiters, Pierre Asisi. Seine Familie mütterlicherseits gelangte über Umwege bereits Ende der 1950er Jahre in die DDR. Sein Großvater Nematollah Asisi wurde als Kommunist zusammen mit anderen Genossen 1954 in einem Schauprozess durch das Shah-Regime hingerichtet. Die Witwen der ermordeten Männer erhielten mit ihren Kindern Asyl und wurden gemeinsam in einem großen Haus in Halle an der Saale untergebracht. Sogar eine Köchin wurde zur Verfügung gestellt, was seitens der Familien, in Anbetracht von fünf iranischen Müttern im Haushalt, zwar als etwas Überflüssiges, so doch als wertschätzende Geste gesehen wurde.

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Insgesamt waren zwischen 1967 und 1989 ungefähr 210.000 Vertragsarbeiter*innen in DDRBetrieben angestellt. Ende 1989 waren es nur noch 90.000, wovon fast 60 % aus Vietnam stammten. Im gleichen Jahr lebten insgesamt ca. 600.000 Migrant*innen in der DDR, wovon den größten Anteil 400.000 in der DDR stationierte sowjetische Soldaten ausmachten, ein Teil waren die ausländischen Werktätigen und eine Minderheit stellten politische Exilant*innen und ausländische Student*innen dar (Mac Con Uladh 2005; Rabenschlag 2016). Ihr wurde als Schwangere gekündigt, sie wehrte sich jedoch im Nachhinein in einem jahrelangen Rechtsstreit gegen diese unrechtmäßige Kündigung und bekam im Zug des allgemeinen Kampfs ums Bleiberecht von Vertragsarbeiter*innen 1997 nicht nur eine Entschädigung, sondern auch einen unbefristeten Aufenthaltsstatus. Bis dahin musste der befristete Aufenthaltstitel alle ein bis zwei Jahre verlängert werden. Diesen Kampf führte sie nicht allein, sondern er war Teil der Bleiberechtskämpfe von Vertragsarbeiter*innen (Hopfmann 2020).

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Die Mutter des Autors, die als neunjähriges Kind ankam, erzählt gern die Anekdote, dass sich die Mitschüler*innen darum stritten, neben ihr zu sitzen. In der Erzählung tauchen auch darüber hinaus keine rassistischen Erfahrungen aus dieser Zeit auf. Als ein Cousin des Autors die Großmutter 1994 interviewte, sagte sie über das Ankommen in der DDR: »Die Deutschen empfingen uns gut. Sehr gut. Allerdings im Rahmen ihrer Möglichkeiten« (Asisi 2011). Auch wenn rassistische Erfahrungen häufig aus »Dankbarkeit« und wegen anderer Hemmnisse in der ersten Generation ungern zur Sprache gebracht werden, spricht einiges dafür, dass die Situation der Familien mit ihrem Status als politisch Asylsuchende privilegiert war – nicht nur gegenüber Vertragsarbeiter*innen, sondern sogar gegenüber Teilen der autochthonen Bevölkerung. Die Kinder hatten freundschaftlichen Umgang mit den Einheimischen, lernten die (sächsische) Sprache, wurden gefördert und konnten eine höhere Ausbildung beginnen. Trotzdem nutzten sie ohne Ausnahme ihr »Privileg« als iranische Staatsbürger*innen, um noch vor der Wende in den Westen auszuwandern oder, wie die Großmutter, nach der Iranischen Revolution in ihr Heimatland zu reimmigrieren.

»Sorge 87« – Selbstermächtigung durch Dokumentation Über das Aufwachsen als älteste Tochter vietnamesischer Arbeitsmigrant*innen und das Leben in einer »diasporischen Parallelwelt« inmitten einer sächsischen Plattenbausiedlung schreibt die Autorin Phương Thúy Nguyễn in ihrem Gedicht »Sorge« (Nguyễn, P. T. 2020). Neben dem feindseligen, rassistischen Klima der Nachwendezeit hinterlässt das Leben und die Migrationsgeschichte der ersten Generation auch tiefe Spuren im Leben der Nachfolgegenerationen. Trotzdem machte die Autorin die Erfahrung, dass es für ihre Schwester und sie selbst bestärkend war, die Geschichte ihrer Familie in dem selbst produzierten Dokumentarfilm »Sorge 87« verarbeiten zu können. Auch die Eltern erfuhren Wertschätzung und waren stolz, als der Film 2018 auf dem renommierten Dokumentarfilmfestival Dok Leipzig präsentiert wurde. Endlich wurden sie gewürdigt, gehört und gesehen, nicht nur von ihren Töchtern, sondern auch von der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Das Medium Film hat den Nguyễn-Schwestern somit einen Dialograum eröffnet, der über eine künstlerische Distanz auch neue Nähe geschaffen hat – einen Raum, in dem alle ihre gefestigten Rollen als Mutter, Vater oder Töchter abstreifen konnten und die Kamera als Mittel zum Zweck diente, um zwischenmenschliche Interaktionen zu re-kreieren, in dem Familienmitglieder sich als Menschen abseits der festgefahrenen Rollen begegnen und neu kennenlernen durften. Medien wie dieser Film ermöglichen nicht nur persönliche autobiografische Verarbeitungsprozesse, sondern haben auch das Potenzial, als Identifikations- und Inspirationsquelle für andere zu dienen. Sie bewegen auch Menschen außerhalb

Jugendliche als Expert*innen ihrer eigenen Geschichte im Modellprojekt kiez:story

des persönlichen Kreises dazu, sich als Protagonist*innen und Expert*innen ihrer eigenen Geschichte zu verstehen und diese zunächst für sich und andere sichtbar zu machen. Lebensgeschichtliches Dokumentieren und Erzählen können selbstermächtigende, emanzipative Prozesse sein, innerhalb derer man sich als kreativ Schaffende*r wahrnehmen, sich selbst vertrauen und wertschätzen lernen kann. Auch die Dokumentationsarbeit des Cousins des Autors Pierre Asisi, des Schriftstellers Alexander Asisi, schaffte eine solche Basis, um sich mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen zu können. Er führte das Gespräch mit der gemeinsamen Großmutter, die ansonsten ungern über die schmerzlichen Aspekte ihres Lebens sprach, und hielt dieses Interview per Video fest. Später transkribierte er das Gespräch und brachte es in eigener Regie als Buch für die Familie heraus. Zugleich trug er den Fundus an Fotografien zusammen, die sich im Besitz vieler Familienmitglieder befanden, digitalisierte diese und stellte sie der Familie zur Verfügung. Er schaffte mit dieser Arbeit für die gesamte Familie eine Basis für die wertvolle Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Audiovisuelle Medien wie Filme, Podcasts, Fotos usw. sind demzufolge auch Mittel, um Erfahrungen migrantischer Communities und marginalisiertes Wissen zu dokumentieren und immaterielle, verkörperte Archive (embodied archives) zu materialisieren13 . Eine Funktion ist dabei nicht nur die gegenwärtige Selbstverortung, sondern auch die zukünftige Teilhabe der Nachfolgegenerationen an diesen Geschichten – die ansonsten leicht in Vergessenheit geraten oder im Verborgenen bleiben. Sie ermöglichen es nicht nur, Menschen und Themen sichtbar zu machen, sondern machen auch besprechbar, was vorher nicht besprechbar war.

Methoden dokumentarischen Erzählens beim kiez:story-Format »Meine Story« Dementsprechend ist es ein wesentliches Ziel des Projekts kiez:story, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern die Jugendlichen auch zu ermutigen, die eigene Familienbiografie selbst genauer zu untersuchen – und zu dokumentieren. Ein innovativer Aspekt des Projekts liegt in der Adaptierung partizipativ-ethnografischer Erhebungsmethoden, etwa des Photovoicing (Clements 2012; Wang/Burris 1997). Hierbei werden die Schüler*innen dabei unterstützt, in ihrem familiären und sozialen Umfeld mithilfe persönlicher Fotoalben ins Gespräch mit Familienmitgliedern oder -freund*innen zu kommen und so mehr über ihre eigene Geschichte zu erfahren.

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Mehr zu »immateriellen Archiven« und eine Erweiterung dieses Konzepts bei Lauré alSamarai (2022) und Sharpe (2020). Diese Methode ist inspiriert von Anne Chahines Dissertationsprojekt »Future memory making: Co-creating (post-)colonial imaginations with Greenlandic youth in Greenland and Denmark« (2019).

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Inspiriert von Methoden der partizipativen Erinnerungsforschung (FVB Diktaturerfahrung und Transformation o.J.; Newman 2012) und der kollektiv-partizipativen Aktionsforschung (Community Engagement for Social Inclusion 2018; Højholt/ Kousholt 2019) eignen sich auch bedeutungsgeladene Gegenstände, die sich im Familienbesitz befinden, um das Sprechen über die Vergangenheit in Gang zu setzen und Erinnerungen zu wecken, was gerade bei älteren Menschen oftmals eine Herausforderung darstellt.14 Angelehnt an die Go-Along-Methode aus der verorteten Ethnografie (Kusenbach 2003; Pink 2015; v. Poser/Willamowski 2020) wurde für das Projekt die Cook-Along-Methode entwickelt. Bei den sogenannten Cook-Alongs wird gemeinsam gekocht, um über das Essen einen gemeinsamen Bezugspunkt zu schaffen, welcher ein Schlüssel zu ungeahnten Geschichten über Identität und Zugehörigkeit sein kann. Spannend an der Methode, über Essen ins Gespräch zu kommen, ist, dass der Gegenstand selbst in aller Regel eine Migrationsgeschichte hat.15 All diese Methoden sind alternative Interview- bzw. Gesprächsformate, die näher an der Lebenswelt der Jugendlichen und ihrer Familien sind und somit einen niedrigschwelligen Zugang ermöglichen, um autobiografische Auseinandersetzungen bei den Jugendlichen anzuregen. Im Rahmen des bereits umgesetzten Videoprojekts »Meine Story«, das durch die Nguyễn-Schwestern begleitet wurde, konnten erfolgreich erste Erfahrungen mit fünf Berliner Jugendlichen gemacht werden. Durch einen Workshop zu Interview-Techniken und Hintergrundinformationen zu biografischen Narrativen wurden sie mit den nötigen Kompetenzen ausgestattet. Mit diesem Wissen haben die Jugendlichen dann selbstständig im familiären Umfeld Interviews mit Eltern, Onkeln oder Großeltern durchgeführt. Diese wurden fotografisch, filmisch und mit Audioaufnahmen dokumentiert und in einer anschließenden Kurzvideoproduktion sichtbar gemacht. Zwei Ebenen konnten dadurch besondere Wertschätzung erfahren: das Mitteilungsbedürfnis der älteren Generationen auf der einen Seite und die bei den Jugendlichen angestoßenen Lernprozesse und Reflexionen auf der anderen Seite. Dabei können solche Projekte auch ohne teure technische Ausstattung umgesetzt werden. Heutzutage besitzt praktisch jedes Smartphone eine Kamera und ein Aufnahmegerät, die eine solide Dokumentation ermöglichen. Im Vordergrund steht aber ohnehin das Anstoßen eines autobiografischen Reflexionsprozesses.

14 15

Auch diese Methode ist inspiriert von Anne Chahines o.g. Dissertationsprojekt. Wie auch das wohl deutscheste Grundnahrungsmittel, die Kartoffel; dass diese aus Südamerika eingeführt wurde, ist vielen Erwachsenen bekannt, verblüfft aber ziemlich sicher jeden/jede Jugendliche*n, der*die dies zum ersten Mal hört.

Jugendliche als Expert*innen ihrer eigenen Geschichte im Modellprojekt kiez:story

Selbstreflexionen in der rassismuskritischen und intersektionalen Pädagogik Die drei Geschichten verdeutlichen, dass eine allzu starre dichotome Einteilung in »Black and People of Colour (BPoC)« und »Weiße« zwar rassismustheoretisch und politisch relevant bleibt, allein jedoch den komplexen Lebensrealitäten nicht gerecht werden kann: Auch wenn wir es mit drei migrantischen Familiengeschichten zu tun haben, sind die Privilegien ungleich verteilt – auch innerhalb der verschiedenen Communities. In einer machtkritischen intersektionalen Pädagogik sollten demnach weitere Machtverhältnisse und ihre Diskriminierungsformen, z.B. entlang von Sexualität, Religion, Aufenthaltsstatus oder Klasse in Betracht gezogen werden. Der Autor İmran Ayata – Gründungsmitglied von Kanak Attak – veranschaulicht diesen Punkt anlässlich des 60-jährigen Bestehens des Anwerbeabkommens zwischen der BRD und der Türkei ebenfalls mit Hinblick auf die eigene Biografie: »Wenn das Anwerbeabkommen gefeiert wird, dann als eine Party des gesellschaftlichen und politischen Establishments, zu der inzwischen konformistische Institutionen der Migrantencommunities und Erfolgsmigranten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gehören. Vielleicht klingt das zu abstrakt und zu wenig greifbar, weswegen ich ein konkretes Beispiel bemühen möchte. Ich schreibe über dieses Jubiläum in diesem Dossier, meine Mutter aber, die 1968 nach Deutschland kam, hat diese Möglichkeit nicht. Ich bin im Oktober zu zahlreichen Veranstaltungen anlässlich der Feierlichkeiten des Anwerbeabkommens eingeladen, meine Mutter ist es nicht.« (Ayata 2021) Und auch der Ausklang des Texts von Ayata verdeutlicht die Relevanz des Projektvorhabens von kiez:story: »Auch deswegen sollte ich die Geschichte der Rentnerin aufschreiben, die in den 1960er Jahren in dieses Land kam und noch immer am Fenster steht. Es gibt unzählige Geschichten wie die ihre. Und diese Geschichten verdienen es, erzählt, geschrieben und gehört zu werden.« (Ayata 2021) Ein realistisches Bild über die Lebensrealitäten von Migrant*innen in Deutschland lässt sich also erst zeichnen, wenn die verschiedensten Perspektiven dokumentiert und sichtbar gemacht werden. Diese Arbeit ist in erster Linie für die Nachkommen selbstermächtigend: Mit diesem Wissen lässt sich die eigene Geschichte besser einordnen und verarbeiten – so zumindest die Erfahrung der drei Autor*innen. Die Einordnung der eigenen Positionierung und Geschichte in unserer Gesellschaft ist einer von vielen Schritten dahin, unseren Platz in dieser Gesellschaft einzufordern und eine inklusive multiperspektivische Geschichtsschreibung zu ermöglichen. In einem Verein, der die pädagogische Auseinandersetzung mit Rassismus im schulischen Rahmen sucht, muss diese Arbeit immer wieder reflektiert werden. In-

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wiefern ermöglichen wir wirklich einen offenen selbstermächtigenden Raum und wo fördern oder drängen wir Jugendliche gar – bewusst oder unbewusst – in bestimmte Narrative? Wo blenden wir Erzählungen aus, die weniger gut mit unserem Selbstverständnis im Einklang stehen? Wie können wir tatsächlich im Sinne Spivaks die »Minderprivilegierten sprechen lassen« (Spivak 1988)? Diese Fragen versuchen wir in unserer täglichen Arbeit zu reflektieren, jedoch kann der Beitrag über diese Aufforderung zur Selbstreflexion hinaus kein einfaches Rezept anbieten. Diese dokumentarische Arbeit hat auch eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung und ist als ein Teil deutscher Geschichte zu verstehen. Iman Attia (2020, 33f.) regt hier eine zeitgleiche »Provinzialisierung und Globalisierung« der Erinnerungsgeschichte an, was gerade durch biografische Migrationsgeschichten veranschaulicht werden kann. Bei kiez:story sind die Bezugspunkte je nach Themengebiet der eigene Kiez, Berlin, Deutschland und die Welt, etwa wenn es um die Aufarbeitung deutscher Kolonialgeschichte geht. Diese historisch-dokumentarische Aufarbeitung ist nur ansatzweise getan und kann nur unter Einbezug der ersten Generation und ihrer Nachkommen erreicht werden. kiez:story möchte dafür ganz unmittelbar einen kleinen Beitrag leisten, vor allem aber als Modellprojekt diesen Ansatz in die Breite tragen.

Eine Übung aus dem Projekt »Die Gastarbeiter« An dieser Stelle soll nun das Konzept einer Beispielübung vorgestellt werden. Insgesamt sind bisher fünfzehn Übungen entstanden, die in ihrer Abfolge einen AGAblauf über ein halbes Schuljahr ergeben. In einigen Übungen unterscheidet sich der Fokus bzw. die Themensetzung, da sie an den Sozialraum, in dem sich die Schule befindet, angepasst wurden. Im Folgenden geben wir ein Beispiel dafür, wie das Thema Gastarbeit im schulischen Kontext aufgegriffen werden kann. Dieses hat den ersten Erfahrungen nach in der Vermittlung einen Vorteil gegenüber dem Thema Vertragsarbeit: Während die Migrationsgeschichte der ehemaligen DDR insgesamt weniger aufgearbeitet und sichtbar ist, findet sich ein nahezu unüberschaubarer jugendkultureller Fundus zum Thema Gastarbeit in der BRD. Gerade im Deutsch-Rap finden sich viele Zeugnisse dieser Auseinandersetzung. Ein jüngstes Beispiel ist der Rap-Song »60 Gastarbeiter-Bars« des Musikers Eko Fresh, der sich nicht zum ersten Mal mit diesem Aspekt seiner Biografie auseinandersetzt. Diesmal hat er – ebenfalls anlässlich des 60. Jahrestags des Anwerbeabkommens – 60 Takte eingerappt. Eine Liedzeile (bzw. punch line) liest sich wie folgt: »Sie riefen: ›Arbeitskraft!‹ Aber es kam İnsan hierher«. In der Analyse dieser Zeile kann mithilfe des Wissens der Jugendlichen eine Verknüpfung zu Max Frischs bekanntem Zitat »Sie riefen Arbeitskräfte, aber es kamen Menschen her« hergestellt werden, schließlich ist İnsan nicht nur ein türkischer Männername, sondern lässt sich auch

Jugendliche als Expert*innen ihrer eigenen Geschichte im Modellprojekt kiez:story

mit »Mensch« übersetzen. Dieses Zitat wiederum hat auch den türkischen Rockmusiker Cem Karaca zu dem Liedtitel »Es kamen Menschen« inspiriert. In einem anderen Song (»Mein deutscher Freund«) spricht er über seine Hoffnung, dass die Folgegenerationen die gesellschaftliche Kluft überwinden. Die Gesamtschau dieser historischen »Gastarbeiterfolklore« der ersten Generation und Eko Freshs Song aus der Perspektive ihrer kulturellen Erb*innen schaffen eine sehr gute Diskussionsgrundlage, die in der politischen Bildung aufgegriffen werden kann. Hier exemplarisch drei Diskussionsfragen aus dieser Einheit: 1. Aus welcher Rolle rappt Eko Fresh? 2. Welchen Wunsch teilen Cem Karaca und Eko Fresh für die »dritte Generation gurbetçi16 «? 3. Wie würdet ihr die Situation in Bezug auf Chancengleichheit und Diskriminierung heute bewerten?

Anschließend an diese Diskussion machen sich die Jugendlichen selbst auf Spurensuche, um mehr über das Vermächtnis der ersten Generation herauszufinden. Die Ergebnisse können Interviews im eigenen Familien- und Bekanntenkreis sein oder eigene lyrische Abhandlungen über dieses Thema. Hier wird auch der intergenerationale Charakter des Projekts deutlich: Die Zielgruppe der Jugendlichen wird dazu ermutigt, den Austausch mit der Eltern- und Großelterngeneration zu suchen. In diesem Prozess erhalten sie die Möglichkeit, sich selbst zu Expert*innen ihrer eigenen Geschichte zu ermächtigen. Zeitgleich lernen sie andere Perspektiven auf die deutsche Geschichte kennen, die sie oftmals weder in ihren Schulbüchern finden, noch im Unterricht vermittelt bekommen. Damit wird ihnen auch die Perspektive eröffnet, ihre Familiengeschichten als Teil der gesamtgesellschaftlichen Geschichte zu verstehen und diese mit der Gegenwart zu verknüpfen.

Ausblick Die Geschichten, die durch die dokumentarische Arbeit mit der eigenen Geschichte zutage gebracht werden, sind ein kleiner Beitrag zu einem multiperspektivischen Geschichtsverständnis und einer multiperspektivischen Erinnerungskultur. Natürlich wirkt diese Arbeit auch präventiv und steigert die Resilienz der Jugendlichen gegenüber islamistischen und anderen menschenfeindlichen Ideologien – dies sollte jedoch nicht der Hauptfokus in einem solchen Projekt sein, sondern die Selbstermächtigung der Jugendlichen. Wir hoffen, dass solche Ansätze über einzelne Modellprojekte hinaus einen flächendeckenden Einzug in Bildung und Schu16

Türkisch: im Ausland Lebende.

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le erhalten, um den gesellschaftlichen Realitäten, in denen Jugendliche heutzutage aufwachsen, gerecht zu werden. Dabei geht es nicht nur um die Jugendlichen selbst. Diese Arbeit hat auch eine gesellschaftspolitische Dimension: die Sichtbarmachung marginalisierter Stimmen in der Geschichtsschreibung.

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Lokale Identitätskonstruktionen als Resilienzfaktoren  gegen religiös begründete Radikalisierung Ein Essay Nabil Hourani

Abstract In diesem Essay werden lokale Zugehörigkeiten als Schutzfaktor in der Resilienz-Arbeit gegen religiös begründete Radikalisierung diskutiert. Dazu werden Gedanken zu postmigrantischen Identitäten den gängigen exklusiven nationalen Identitäten gegenübergestellt. Am Beispiel der Hip-Hop-Kultur wird versucht, neue Identitätskonstruktionen anzudenken, die unserer Identität als postmigrantische Deutsche entsprechen. Ausgehend von der Erkenntnis, dass Ausgrenzungserfahrungen und Identitätskrisen häufig Wege in die Radikalisierung begleiten, können nicht ausgrenzende Identitätsangebote einen wichtigen Baustein der Prävention darstellen.

Andere Identitäten und eindeutige Zugehörigkeiten Menschen, die heute in Deutschland aufwachsen – vor allem in Großstädten, zunehmend aber auch in kleineren Städten und auf dem Land –, finden sich häufig nicht in linearen Identitätskonstruktionen wieder. Ich bin zum Beispiel in einem Dorf mit etwas über 1.000 Einwohner*innen aufgewachsen. Hier war ich Ausländer (trotz herkunftsdeutscher Mutter), Zugezogener, Punk oder all dies zusammen – Zuschreibungen, mit denen ich selbst wenig anfangen konnte und kann. Immer wieder erfuhr und erfahre ich Nicht-Zugehörigkeit als entscheidendes Merkmal meiner Identität. Abgeleitet aus meinem Namen oder der Tatsache, dass mein Vater nicht in Deutschland geboren ist, werde ich von anderen nicht als Teil meiner deutschen Heimat wahrgenommen und teilweise herabgewürdigt. Die Bezeichnung »Ausländer« wird durch »Deutscher mit Migrationshintergrund« ersetzt, aber die dahinterliegende Behauptung, nicht ganz oder wirklich Teil der Gemeinschaft zu sein, scheint in meine Identität eingeschrieben. Dass ich in der Schule Goethe und Schiller gelesen habe, mich mit deutscher Geschichte besser auskenne als ein Großteil der Bevölkerung, Spätzle mit Brett und Hobel herstellen

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kann und in deutscher Sprache denke und träume, ist hierbei ebenso zweitrangig wie die Tatsache, dass ich auf zwei deutsche Landesverfassungen vereidigt wurde oder beruflich und ehrenamtlich mehr für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft leiste als viele andere, deren deutsche Identität nicht in Frage gestellt wird. Für viele Menschen in diesem Land ist man entweder als Deutsche*r geboren oder nicht, bestenfalls kann man »Deutsche*r mit Migrationshintergrund« werden, also eine Art eingeschränkte Mitgliedschaft erreichen. Demgegenüber steht meine Selbstwahrnehmung als Mensch, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, dessen persönliche Kultur hier geprägt wurde und wird und der nicht zuletzt die deutsche Sprache von seiner Mutter gelernt hat. Wenn ich aber auf die Frage nach meiner Herkunft lakonisch mit »hier« oder ausführlich mit »ein kleines Dorf nahe einer kleinen Stadt bei Stuttgart« antworte, weiß ich schon, was als nächste Frage fast unweigerlich kommt. Für mich selbst bedeutet diese deutsche und schwäbische Herkunft jedoch nicht, dass ich kein Araber oder Palästinenser sein kann oder möchte. Ebenso wie ein Mensch gleichzeitig Schwed*in, Handwerker*in und Real-Madrid-Fan sein kann, ist auch meine Identität aus verschiedenen Teilaspekten zusammengesetzt. In unterschiedlichen Situationen überwiegen einzelne Aspekte und andere treten in den Hintergrund, bleiben jedoch stets Teil meiner Persönlichkeit. Auf der Suche nach einer eigenen, nicht fremdbestimmten Identität bin ich ein »Und-Mensch« geworden: Ich bin Deutscher und Schwabe und Araber und Palästinenser und es ist mir egal, was andere dazu sagen. Anderen Menschen fällt ein solcher Umgang mit hybriden Identitätskonstruktionen schwerer. Ihnen fehlen vielleicht Ressourcen und Privilegien, über die ich verfüge (zum Beispiel akzeptierende Freundschaften und Bildung), oder sie benötigen in einer bestimmten Phase ihres Lebens den festen Halt, den eine eindeutige Identität bieten kann. Hier kommen wir zum entscheidenden Punkt: Was die deutsche Gesellschaft diesen Menschen nicht bieten kann, ist für eine salafistisch geprägte Gruppe leicht zu füllen, Konversion ist hier die Regel. Es gibt zwar Menschen, die bereits seit Generationen beispielsweise salafistisch geprägt sind, die meisten Vertreter*innen dieser und ähnlicher Strömungen sind jedoch im Lauf ihres Lebens erst dazu geworden. Mitgliedschaft ist also ein Entschluss und kein Schicksal. Es gibt durchaus einige Parallelen zwischen Gruppen, die sich selbst als salafistisch bezeichnen und so wahrgenommen werden, und faschistischen Gruppen und Ideologien. Beide haben ähnliche Vorstellungen von einem Zusammenleben, das von der Dominanz der eigenen Gruppe über alle anderen geprägt ist. Sie haben klare Rollenverteilungen zwischen Männern und Frauen, sind antifeministisch und queerfeindlich. Manche (bei weitem nicht alle) sehen zum Erreichen dieser Ziele alle Mittel, auch den massiven Einsatz von Gewalt, als legitim an. Sie sind häufig, aber nicht ausschließlich, sehr hierarchisch organisiert und fordern von ihren Anhänger*innen bedingungslosen Gehorsam bis in den Tod. In vielen Fällen

Lokale Identitätskonstruktionen als Resilienzfaktoren gegen religiös begründete Radikalisierung

spielt Antisemitismus eine wichtige Rolle und bietet teilweise sogar gegenseitige Anknüpfungspunkte. Parallelen zu faschistischen Ideologien sind also vorhanden und es ließen sich sicherlich auch noch weitere finden. Im Unterschied zu salafistischen basieren faschistische und rechtsextreme Ideologien auf der Annahme von »Schicksalsgemeinschaften«, die qua Geburt feststehen und kaum transzendiert werden können. Ein Mensch ist entweder als »Arier*in«, Deutsche*r, Weiße*r, Europäer*in usw. geboren oder eben nicht; eine Konversion eines »Semiten« zum »Arier« ist genau so unmöglich wie die einer »Schwarzen« zur »Weißen«. Ausnahmen von diesen starren Identitäten sind so selten, dass sie für unsere Zwecke vernachlässigbar sind. Die Bedeutung dieser unterschiedlichen Konstruktionen von Identität, Schicksals- vs. Glaubensgemeinschaft, kann kaum genug betont werden. Das Angebot lautet: »Bekenne Dich zu uns, sei loyal und sage dich los, erkenne unsere Aqida1 als die einzig richtige an und Du gehörst dazu«. Es gibt hier keine »Muslime mit Konversionshintergrund«, kein »Aber zu welcher Gruppe gehörst du eigentlich?«, nur völlige gegenseitige Loyalität und damit eventuell genau jenen Halt, der anderswo nicht gefunden werden konnte. Hier liegt eine der größten Attraktionen dieser Gruppierungen: die Möglichkeit uneingeschränkter Zugehörigkeit. Das hierin bestehende Angebot, aus eigener Entscheidung Teil einer Gruppe zu werden, ist sicherlich nicht der einzige Grund für ihre Attraktivität; andere Mechanismen, wie die Abwertung der anderen und die damit einhergehende Selbstaufwertung, der bereits angesprochene Halt und die Geborgenheit und gegenseitige Unterstützung und Selbstversicherung spielen ebenfalls eine wichtige Rolle. Aber die Offenheit für Konversion – sei es aus christlichen, atheistischen oder anderen muslimischen Richtungen – sollte in ihrer Wichtigkeit nicht unterschätzt werden.

Lokale Identitäten als mögliches Gegenangebot Wenn wir uns bewusst machen, wie zentral dieses Angebot uneingeschränkter Zugehörigkeit für manche Radikalisierungsverläufe ist, eröffnen sich entsprechende Möglichkeiten für die resilienzstärkende Arbeit und Radikalisierungsprävention. Diese Strategie möchte ich hier als Stärkung lokaler Identitätskonstruktionen bezeichnen. Anstatt von Jugendlichen zu fordern, sich an eine imaginierte nationale Gemeinschaft anzupassen, die ihnen unter Umständen gleichgültig oder sogar ablehnend gegenübersteht, könnten Fachkräfte der Jugendarbeit versuchen, erfahrbare Zugehörigkeiten zu stärken. Es scheint sehr viel einfacher zu sein, als Gostenhofer*in oder Kreuzberger*in akzeptiert zu werden, denn als Deutsche*r. Das 1

Arabisch aqīda: Glaubenslehre; im engeren Sinn bezeichnet der Begriff die spezifischen Glaubenssätze einer bestimmten Person oder Gruppierung.

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Wissen um die Multikulturalität zumindest bestimmter Stadtteile und Quartiere unserer Städte scheint in der Mehrheitsbevölkerung, aber auch in (post-)migrantischen Communities klar vorhanden zu sein. Im Gegensatz zu den nach wie vor als exklusiv imaginierten Gemeinschaften der meisten Nationalstaaten werden die Stadtteile als so divers erfahren, wie sie tatsächlich sind. Dieser Gegensatz aus nationalem Vorstellungsraum und lokalem Erfahrungsraum ist unter Umständen verantwortlich für diese unterschiedlichen Konstruktionen von Gemeinschaft, in denen Nabil zwar nie ein »richtiger« Deutscher sein kann, seine Zugehörigkeit zur Nürnberger Südstadt mit ihren Schawarma-Imbissen und syrischen Läden aber kaum bestreitbar zu sein scheint. Interessanterweise geht diese Akzeptanz sogar soweit, dass auch in jüngerer Vergangenheit zugezogene Menschen darin inkludiert sein können. Durch Mitgliedschaften im richtigen Verein oder bei der freiwilligen Feuerwehr können ähnliche Zugehörigkeitsprozesse auch auf dem Land gelingen. Während wir noch darauf warten, dass Deutschland endlich akzeptiert, ein Einwanderungsland zu sein, haben viele Städte, Quartiere, Stadtteile und andere Orte dies schon längst getan, sind häufig sogar stolz darauf und entwickeln Identitäten, bei denen es keine Rolle spielt, vor wie vielen Generationen Menschen eingewandert sind. Natürlich sind städtische Räume dabei immer auch Austragungsort von Aushandlungsprozessen und Konflikten. Menschen, deren deutsche Identität von der Mehrheitsgesellschaft nicht anerkannt wird, treffen wesentlich seltener auf Widerspruch, wenn sie sich als Berliner*in oder Neuköllner*in bezeichnen. Häufig ist kulturelle Diversität dabei eine Quelle von Stolz und stadtteilverorteter Selbstidentifikation. Genau diese Identitäten zu stärken, mit ihnen zu spielen und sie jungen Menschen zu vermitteln, könnte zu einem wichtigen Element der Prävention von Radikalisierung werden. Wenn ein Mensch sich in erster Linie als »deutsch« oder »muslimisch« wahrnimmt und das in Abgrenzung zu und unter Abwertung von anderen Gruppen geschieht, ist es wahrscheinlicher, dass es zu einer rassistisch oder religiös begründeten Radikalisierung kommt. Radikalisierungsprozesse lassen sich nie ausschließen, unwahrscheinlicher machen lassen sie sich aber allemal. Wer direkt »vor der Haustür« inklusive Zugehörigkeiten erleben und ausleben kann, muss nicht so lange weiter suchen, bis er/sie eventuell bei den Falschen landet. Hier ist es selbstverständlich wichtig, das Lokale nicht als in sich geschlossenen unveränderlichen Raum zu begreifen und lokale Identität humanistisch zu unterfüttern, um einen Rückfall in »Kleinstaaterei« und andere ausschließende lokale Identitäten zu vermeiden. Die im Folgenden diskutierte Hip-HopKultur bietet hierfür Potenziale, aber auch inklusive religiöse oder interreligiöse Gemeindearbeit und manche Kulturzentren greifen in der Präventionsarbeit auf lokale und/oder hybride Identitätsangebote zurück.

Lokale Identitätskonstruktionen als Resilienzfaktoren gegen religiös begründete Radikalisierung

Anknüpfungspunkte Wer heute durch eine beliebige deutsche Großstadt geht, dem werden Graffiti mit Zahlenfolgen auffallen. Wer sich etwas besser in dieser Stadt auskennt, wird diese Zahlenfolgen häufig auch wiedererkennen: Es handelt sich um (oft die letzten drei) Ziffern der Postleitzahl, mit der sich Sprayer*innen identifizieren. Hier wird deutlich sichtbar, dass lokale Identitätskonstruktionen zumindest in manchen Szenen bereits eine wichtige Funktion erfüllen. Menschen identifizieren sich mit ihrem Viertel, sind stolz auf diese Herkunft und zeigen das auch nach außen – oftmals auch in Form einer Aneignung und Umdeutung des negativen Rufs des Viertels. Präventions- und Resilienz-Arbeit, die lokale Identitäten als inklusives Zugehörigkeitsangebot stärken möchte, kann hier ansetzen. Dazu muss unser gesellschaftliches Verhältnis zu Subkulturen, z.B. zur Sprayer-Szene vielleicht überdacht werden: Anstatt hier nur Sachbeschädigung und jugendliche Renitenz zu erkennen, gilt es vielmehr, den Fokus auf die Kreativität, Inklusivität und eben auch die identitätsstärkenden Aspekte dieser Subkultur zu richten. Damit wäre es möglich, eine schon bestehende Jugend-(Sub-)Kultur als Anknüpfungspunkt wahrzunehmen und zu nutzen. Da bereits seit Jahren Schritte in diese Richtung gegangen werden und es neben Repression auch Akzeptanz für die Szene gibt, erscheint eine solche Option auch nicht mehr so utopisch wie etwa in den 1990er Jahren. Ein näherer Blick auf die Szene zeigt, dass es häufig gerade postmigrantische Jugendliche sind, die hier aktiv sind und deren Identifikation mit den konkreten Orten, an denen sie aufgewachsen sind, so stark ist, dass sie ihre Postleitzahl als »Unterschrift« nutzen. Die Graffiti-Subkultur ist nur ein Teilaspekt eines wesentlich größeren Phänomens. In der Hip-Hop-Kultur, wie sie in Deutschland bereits seit über drei Jahrzehnten besteht, sind lokale Bezüge extrem wichtig. Der Stolz auf die Herkunft spiegelt sich schon lange sowohl in Namen als auch in Texten wider: Ob der »0711Club« in Stuttgart, die »Söhne Mannheims«, das »Rödelheim-Hartreim-Projekt« oder die »Hamburger Schule« – schon sehr früh orientierte sich die Hip-HopSzene unter anderem an lokalen Identitäten. Hieran knüpfen einige Projekte an, die meistens einen Partizipation fördernden Empowerment-Ansatz verfolgen (z.B. die StreetUniverCity Berlin e.V.), aber zunehmend auch in der Gewalt- und Radikalisierungsprävention genutzt werden (z.B. von Culture Interactives). Ohne Mühe finden sich also sowohl in der Hip-Hop-Kultur als auch in der Graffiti-Subkultur genug Anknüpfungspunkte für eine Resilienz-Arbeit, die lokale Identitätskonstruktionen und Teilhabe2 in den Mittelpunkt stellt. Die Tatsache,

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Dass Hip-Hop-Kultur nicht nur eine identitätsstiftende, sondern auch eine Partizipation fördernde Funktion hat, zeigt z.B. die sich auf die Werte der Hip-Hop-Kultur berufende Partei

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dass in beiden bereits heute postmigrantische Menschen eine wichtige, sogar dominante Rolle spielen, lässt erahnen, dass ihr integratives und ermächtigendes Potenzial bedeutend ist. Bezüge zu den Herkunftskulturen werden zwar häufig hergestellt, auch einzelne Wörter fließen ein, aber die gemeinsame Sprache ist fast immer Deutsch, der Wohnort und die soziale Situation der Künstler*innen spielen häufig eine größere Rolle als die Herkunft der Eltern aus diesem oder jenem Land. Der Bezugsrahmen ist letztlich die deutsche Einwanderungsgesellschaft mit all ihren Licht- und Schattenseiten. Ich möchte hier nicht unter den Tisch fallen lassen, dass insbesondere der stark männlich geprägte und oft frauenfeindlich und homophob auftretende und somit auch exklusive Mainstream-Hip-Hop selbst mehr als genug Kritikpotenzial bietet. Trotzdem sind hier Chancen zu erkennen und Lektionen darüber zu lernen, wie wir als Gesellschaft Diskriminierung und Privilegien abbauen können. Die Hip-Hop-Kultur ist einer der wenigen Bereiche in Deutschland, die der Kreativität der Einwanderungsgesellschaft freien Lauf lassen. Während in Zeitungsverlagen, Banken oder im Bundestag nach wie vor Menschen ohne jüngere Einwanderungsgeschichte dominieren, sind es im Hip-Hop Menschen (leider viel zu häufig Männer), deren Biografien in zwei oder mehr lokalen Kontexten verwurzelt sind und die als Peers oder Vorbilder eine wichtige Funktion in der Resilienz stärkenden Jugendarbeit übernehmen können.

Konfliktfelder Zum Schluss möchte ich noch den Blick auf zwei Konfliktfelder lokaler Identifikation richten. Das erste ist die sogenannte und medial viel thematisierte Ghettoisierung3 : Wenn auch weniger ausgeprägt als in anderen europäischen Ländern, gibt es in Deutschland eine Tendenz zur Entstehung von Quartieren, in denen fast ausschließlich Menschen leben, die nicht der Mehrheitsgesellschaft zugeordnet werden, und/oder eine überdurchschnittliche Anzahl an Haushalten mit niedrigem Einkommen vorhanden ist. Häufig werden diese Orte als »soziale Brennpunkte« wahrgenommen, es fehlt an (sozialer) Infrastruktur, die Schulen haben einen schlechten Ruf und das Quartier wird zu einem zusätzlichen Stigma für seine Bewohner*innen. Damit verbunden sind schlechtere soziale Aufstiegschancen und mangelnde Kontakte zur Mehrheitsbevölkerung, die – wenn überhaupt – nur in

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»die Urbane«: www.die-urbane.de/programm/rooted-in-hip-hop-verankert-in-der-hip-hopkultur.html. »Ghettoisierung« bezeichnet hier einen doppelten Prozess: die Entstehung von Stadtteilen, in denen nur oder fast nur Menschen, die nicht als Teil der Mehrheitsbevölkerung wahrgenommen werden, leben, bei gleichzeitiger Abwertung und Marginalisierung der betreffenden Orte. Problematisch ist hierbei nicht die Konzentration dieser Menschen, sondern ihre Marginalisierung, Ausgrenzung und Stigmatisierung.

Lokale Identitätskonstruktionen als Resilienzfaktoren gegen religiös begründete Radikalisierung

Form von als repressiv erlebten Maßnahmen der staatlichen Exekutive existieren. Hier besteht die Gefahr, dass lokale Identität nur als weiterer Diskriminierungsmarker funktioniert: Man ist nicht nur »Ausländer*in«, sondern kommt auch noch aus einem »Problemviertel«. Wenn dann noch eine aktive salafistische Szene genau diese Themen anspricht und zum Teil ihres Narrativs werden lässt, können Orte entstehen, die trotz eventuell starker lokaler Identifikation eine besondere Vulnerabilität für Radikalisierungsprozesse aufweisen (s. Einleitung in diesem Band). Das zweite große Konfliktfeld wird häufig mit dem Schlagwort der Gentrifizierung zusammengefasst. In einem Stadtteil wie Nürnberg-Gostenhof ist über Generationen eine gewisse Infrastruktur aus migrantischen Vereinen, Geschäften und sonstigen Einrichtungen entstanden, die eine lokale Identifikation mit Leben füllen und eine schnelle Integration erlauben bei gleichzeitiger Möglichkeit, Aspekte der eigenen Kultur weiter leben zu können. Tatsächlich haben sich diese Orte auf eine Weise verändert, die der Definition von Integration4 oft wesentlich besser entspricht als die Assimilationsfantasien mancher Mitglieder der Mehrheitsbevölkerung. Für viele andere Mitglieder dieser Mehrheit wiederum haben gerade solche Orte eine besondere Attraktivität entwickelt. Hier sind die Mieten relativ niedrig, die gastronomische und kulturelle Vielfalt dagegen besonders hoch. Häufig kommt es dann zu einem Prozess, in dem gerade Orte mit einer starken und integrativen lokalen Identität durch den Zuzug von finanziell besser gestellten Mitgliedern der Mehrheitsbevölkerung peu à peu genau diesen inklusiven Charakter verlieren können. Der deutlichste Maßstab einer solchen Veränderung sind steigende Mieten, die insbesondere neu hinzugekommene, aber auch alteingesessene Menschen aus diesen Vierteln in andere Wohngegenden zwingen. Dort fehlt es dann an der oben beschriebenen gewachsenen Infrastruktur. Daneben gibt es aber auch subtilere Prozesse: Elternbeiräte werden zum Beispiel Schritt für Schritt von neu zugezogenen finanziell besser gestellten Eltern dominiert, deren häufig höherer Bildungsgrad sie sehr selbstbewusst und dominant auftreten lassen kann. Häufig ohne es zu wollen, verändern sie damit die Zusammensetzung und integrative Funktion solcher Institutionen.

Fazit In Zeiten, in denen moderne Nationalstaaten und die zugehörigen imaginären Gemeinschaften zur Norm geworden sind, hat die Bedeutung des Lokalen zunehmend abgenommen. Der exkludierende Charakter dieser nationalen Gemeinschaften lässt nun lokale Identitätsbezüge wieder attraktiver erscheinen. Diese können, 4

Integration wird hier in einem technischen Sinn als die Inklusion neuer Elemente zur Verbesserung eines Systems verstanden.

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z.B. in ihrer Bedeutung für kulturelle Phänomene wie die Hip-Hop-Kultur, die in marginalisierten Communities entstanden ist, dazu beitragen, neue, potenziell inklusivere Gemeinschaften zu konstruieren. Im Lokalen verortete Gemeinschaften bilden die Alltagserfahrungen und Identitätskonstruktionen junger Menschen wesentlich besser ab als die Vorstellung einer homogenen nationalen Kultur. Sie stärken die Identität junger Menschen, die zwischen bzw. in mehreren Kulturen aufwachsen, anstatt sie auszugrenzen. Damit stärken sie zugleich die Resilienz junger Menschen in ihrer Identitätssuche, um nicht auf Abwege religiös oder rassistisch begründeter Radikalisierung zu geraten.

Moscheegemeinden als gesellschaftliche Akteure Ansätze und Erfahrungen aus dem Projekt kiez-einander Lydia Nofal

Abstract Demokratieförderung im Kontext von Radikalisierung muss lebensweltorientiert sein, Raum für Empowerment schaffen und Ermöglichungsstrukturen gestalten. Sie muss Teilhabeoptionen und Raum für Selbstwirksamkeitserfahrungen bieten und ressourcenorientiert sein. Demokratieförderung braucht als Partner Moscheen als Räume der Selbstorganisation von Muslim*innen. Allerdings können Moscheen aus vielfältigen Gründen den Erwartungen, die an sie gestellt werden, nur unzureichend gerecht werden. Hier setzt das Projekt kiez-einander an und bietet vielfältige Angebote der Demokratieförderung in Kooperation mit Moscheegemeinden und muslimischen Organisationen. Das Projekt entwickelt Angebote, um die Voraussetzungen für kooperatives Handeln im Bereich der Demokratieförderung, der Arbeit gegen antimuslimischen Rassismus und der Prävention von religiös begründetem Extremismus zu stärken. Im Folgenden werden mit Blick auf den Forschungsstand und basierend auf Erfahrungen der Autorin im Projekt kiez-einander Einblicke in das Moscheeleben in Berlin sowie Herausforderungen und Chancen der Kooperation mit Moscheegemeinden dargestellt. Darauf aufbauend werden die Ansätze und Angebote des Projekts vorgestellt und Erfolgsfaktoren für die Arbeit mit Moscheegemeinden benannt.

Moscheeleben in Berlin In Berlin gibt es rund 100 Moscheen und Gebetsräume, allerdings handelt es sich nur bei sieben von ihnen um Moscheebauten (Spielhaus/Mühe 2018b, 13). »Normale« Berliner Moscheen befinden sich in alten Fabrikgebäuden, ehemaligen Läden, Wohnungen oder Kellern. In der Mehrzahl sind die Räumlichkeiten nur angemietet, obwohl insbesondere die von türkeistämmigen Muslim*innen geprägten Verbände schon lange große Anstrengungen unternommen haben, um Räumlichkeiten zu kaufen. Viele – insbesondere kleine – Gemeinden stellt dies jedoch vor unüberwindbare Herausforderungen. Zudem sind Moscheegemeinden ganz besonders von Gentrifizierung betroffen. Sie stellen nun einmal mit ihren zahlreichen Besucher*innen – insbesondere an Freitagen und Wochenenden – keine attrak-

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tiven Mieter dar. Es ist immer wieder zu beobachten, dass insbesondere kleinere Moscheegemeinden ihre Räumlichkeiten verlieren. Mietverträge werden nicht verlängert oder die Miete erhöht sich so sehr, dass sie von der Gemeinde nicht mehr getragen werden kann. Mehr und mehr der knappen Ressourcen fließen in den Unterhalt der Räumlichkeiten. Geld für qualifiziertes Personal fehlt dann erst recht. Die Abhängigkeit von Spenden wächst. Es sind jedoch nicht die jungen, hier sozialisierten Besucher*innen, die mit ihren Spenden den Weiterbestand der Gemeinden sichern, sondern insbesondere die ältere Generation, für die die Gemeinde oft ein Stück Heimat darstellt, in der möglichst Traditionen bewahrt werden sollen und sich möglichst wenig ändern soll. Der Moscheevorstand und der Imam sind also angehalten, die Interessen und Bedürfnisse der älteren Generation ganz besonders im Blick zu behalten – dies vor dem Hintergrund, dass Moscheegemeinden durchaus in Konkurrenz zueinander stehen und eine Fluktuation von Besucher*innen zu beobachten ist. Wenn es Gläubigen in der einen Gemeinde nicht mehr gefällt, gehen sie einfach in eine andere. Angesichts knapper Ressourcen und ständiger Überforderung aufgrund der vielfältigen Erwartungen, die von unterschiedlichen Seiten an sie gestellt werden, müssen die Verantwortlichen in den Moscheegemeinden beständig abwägen, welchen Aufgaben sie Priorität einräumen. Dabei ist zu beobachten, dass die Gemeinden neben der Umsetzung ihrer Hauptaufgabe, nämlich der Bereitstellung eines umfangreichen religiösen Angebots, auch sehr bemüht sind, den Bedürfnissen junger Menschen Rechnung zu tragen, und vielfältige Angebote nicht nur der religiösen Bildung, sondern auch der klassischen Jugendarbeit machen. Hier sind allerdings große Unterschiede hinsichtlich der Professionalität, Strukturiertheit und Qualität zu beobachten. Aber auch der Öffentlichkeits- und Dialogarbeit sowie der sozialräumlichen Vernetzung wird eine immer größere Bedeutung beigemessen. Allerdings stoßen die Gemeinden hierbei auch an ihre Grenzen. Wie überaus vielfältig dieses Angebot inzwischen ist, wurde erstmals in der im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz veröffentlichten Studie »Islamisches Gemeindeleben in Deutschland« (BAMF 2012) ausführlich dargestellt. Dieses Angebot wurde in den vergangenen Jahren von den Moscheegemeinden sichtbar weiter ausgebaut. So heißt es in der genannten Studie: »Die Bemühungen der Gemeinden um Kontakte und Zusammenarbeit mit Politik, Verwaltung, Medien, zivilgesellschaftlichen Vereinen und anderen Religionsgemeinschaften haben – … eines der zentralen Ergebnisse unserer Studie – stark zugenommen« (Spielhaus/Mühe 2018a, 7). Dieser Trend, sich gesellschaftlich zu engagieren, Verantwortung zu übernehmen und sich aktiv für einen Abbau gesellschaftlicher Spannungen einzusetzen, ist ungebrochen. Allerdings ist er mit einer erheblichen Überforderung der Gemeinden verbunden.

Moscheegemeinden als gesellschaftliche Akteure

Herausforderungen der Moscheegemeinden Die Moscheegemeinden und muslimischen Organisationen können aufgrund vielfältiger struktureller Defizite ihren eigenen Erwartungen und denen, die von außen an sie herangetragen werden, noch immer nur unzureichend gerecht werden. Der Wunsch, sich vielfältig gesellschaftlich zu engagieren, Verantwortung zu übernehmen und einen aktiven Beitrag zur Demokratiestärkung und Extremismusprävention zu leisten, ist ungebrochen. In den Moscheen besteht jedoch oft ein großer Mangel an Ressourcen, an professioneller Arbeitsweise und Kompetenzen und teilweise auch an einer klaren Aufteilung von Verantwortlichkeiten. Kernproblem ist und bleibt, dass häufig nur der Imam/Hojdscha angestellt ist, oftmals auch nur in Teilzeit. Seine primäre Aufgabe ist es, die religiösen Angebote für die Gemeinde bereitzustellen, von den täglichen Gebeten über die Freitagspredigt, religiöse Unterweisung, Beantwortung schwieriger religiöser Fragen bis hin zu Beschneidungsfeiern, Eheschließungen, Scheidungen und Beerdigungen. Gleichzeitig muss er Gemeindemitgliedern in Not beistehen und sie beraten. Imame und Hodschas sind neben ihren religiösen Aufgaben quasi auch als »Sozialarbeiter« tätig. So gehören Eheberatungen für manche von ihnen zu den täglichen Aufgaben, ohne dass sie hierfür speziell ausgebildet wurden. »Ganz nebenbei« sind sie auch noch dafür verantwortlich, dass regelmäßig genug gespendet wird, um die laufenden Ausgaben der Gemeinde zu decken. Die Anforderungen sind hoch, die Bezahlung ist meist schlecht – für qualifizierte junge Menschen eine ziemlich unattraktive berufliche Perspektive. Neben diesen Verpflichtungen, die zumeist von den Imamen/Hodschas übernommen werden, fallen in einer Gemeinde viele weitere Aufgaben an: von der regelmäßigen Reinigung und Hausmeisteraufgaben über Religions- und Sprachunterricht für Kinder, Jugend- und Öffentlichkeitsarbeit bis hin zur Leitung des Vereins (Moscheen sind als Vereine strukturiert), Buchhaltung und Finanzverwaltung, dem Umgang mit Behörden, Dialog-, Vernetzungs- und Gremienarbeit usw. Die Liste ließe sich fortsetzen. All dies wird normalerweise von Ehrenamtlichen geleistet. Die Überforderung ist leicht erkennbar. Dies fängt bei den Vorstandsmitgliedern an und setzt sich bei den weiteren Ehrenamtlichen fort. Das Funktionieren der Moschee liegt auf den Schultern Ehrenamtlicher, die mit der Vielzahl der Aufgaben und Erwartungen überfordert sind. Ehrenamtliches Engagement setzt voraus, dass die persönlichen Bedingungen gegeben sind. Dies ist aber in den allerseltensten Fällen der Fall. Die Akteur*innen in den Moscheen und muslimischen Vereinen sind mit Mehrfachbelastungen zwischen Beruf, Familie, (Aus-)Bildung und vielfältigem Ehrenamt hin- und hergerissen und nur selten für ihre Aufgaben ausgebildet. Trotz großem Engagement

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können sie ihren eigenen Ansprüchen und Zielen und den Erwartungen ihrer Umwelt überhaupt nicht gerecht werden.1 Auch wenn kiez-einander in Berlin umgesetzt wird, gibt es auch Anfragen von und Austausch mit Gemeinden aus den neuen Bundesländern. Hier ist die Überforderung der Vorstände besonders ausgeprägt. Es gibt einen großen Bedarf an religiösen Angeboten bei den Menschen vor Ort, die oft erst wenige Jahre dort leben. Sie erwarten von denjenigen, die schon länger in Deutschland leben, oft auch hier studiert haben, die Sprache sprechen und mit dem Alltag gut vertraut sind, dass sie Verantwortung übernehmen und beim Aufbau einer religiösen Infrastruktur vorangehen. Diese Menschen verfügen aber oft nicht über die zeitlichen Ressourcen und auch nicht über das notwendige Know-how, um die vielfältigen Herausforderungen, die der Aufbau einer Moscheegemeinde mit sich bringt, zu meistern. In Berlin können Gemeinden bei grundsätzlichen Fragen häufig auf die Kompetenzen und die Unterstützung durch die Verbände zurückgreifen, in den neuen Bundesländern ist dies meist nicht der Fall. Hinzu kommt, dass ein solches Engagement für die Menschen bedeutet, dass sie noch einmal in ganz anderem Maße mit antimuslimischem Rassismus konfrontiert werden, was als eine enorme Belastung empfunden wird. Es ist ein häufig zu beobachtendes Phänomen, dass die in den Moscheen aktiven Menschen sich Gedanken darüber machen, ihr Engagement zu beenden, weil sie das ihnen entgegenschlagende Misstrauen und den Rassismus in Politik und Gesellschaft als extrem belastend empfinden. Es sind die gleichen Probleme wie in Berlin zu beobachten, allerdings oft in verschärfter Form. Es gibt inzwischen bei zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteuren eine gewisse Einsicht, dass hier Handlungsbedarf besteht, und es werden beispielsweise Qualifikationen in den Bereichen Vereinsführung, Projektentwicklung oder Öffentlichkeitsarbeit angeboten. Dabei wird übersehen, dass auch hierfür nicht selten die zeitlichen Ressourcen fehlen. Die Engagierten sind so mit den täglichen Aufgaben und Herausforderungen beschäftigt, dass für Schulungen selten Zeit bleibt. Zudem werden viele Moscheen – gerade solche, die die zeitlichen Ressourcen aufbringen könnten, weil sie strukturell schon besser aufgestellt sind – von solchen Angeboten häufig ausgeschlossen. Hintergrund ist die Verdachtskultur, zu der der Verfassungsschutz einen wesentlichen Beitrag leistet, und die Angst mancher Innenpolitiker*innen, die sich nicht angreifbar machen wollen, schlechte Presse fürchten und daher jegliche Unterstützung und Zusammenarbeit mit den Moscheen ablehnen, anstatt Probleme und Vorbehalte offen zu diskutieren und Lösungswege zu entwickeln. Die Bereitschaft zu einer offenen kritischen – auch selbstkritischen – Auseinandersetzung mit diesem Problem fehlt noch immer.

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Vgl. https://fem4dem.de/ergebnisse.html

Moscheegemeinden als gesellschaftliche Akteure

Doch die Probleme in den Moscheegemeinden gehen über das Ressourcenproblem, die mangelnde Professionalisierung und die Probleme aufgrund des weit verbreiteten Misstrauens und der Verdachtskultur hinaus und haben weitere strukturelle Ursachen. Manchmal liegt alle Entscheidungsbefugnis und Verantwortlichkeit in der Hand einer einzelnen Person, was zu einer »Flaschenhalssituation« führt. Selbst wenn Aufgaben delegiert werden, kann nicht selten bei unliebsamen Entscheidungen von oben »durchregiert« werden. Stimmen in den Gemeinden für eine demokratischere Arbeitsweise gibt es durchaus, gerade unter den jungen Aktiven. Doch ihnen wird intern wenig und extern überhaupt kein Gehör geschenkt. Aufgrund von Überlastung durch die vielfältigen Erwartungen der Gemeinde, Überforderung, mangelndes Problembewusstsein, mangelnde Ressourcen, einen Fokus nach innen, unprofessionelle Arbeitsweise usw. können teils keine Entscheidungen herbeigeführt oder keine Ressourcen bereitgestellt werden, um ein Engagement nach außen umzusetzen. Manchmal kann auch ein Mangel an klaren Zieldefinitionen, Planungen und systematischer, zielgerichteter Arbeitsweise beobachtet werden. Zudem klafft häufig eine große Lücke zwischen dem eigenen Anspruch und den eigenen Möglichkeiten. Engagement in diesem Bereich ist oft personengebunden und nicht selten von Unzuverlässigkeit und einem Mangel an Nachhaltigkeit, Effektivität und Effizienz geprägt. Hin und wieder kann ein schlechtes Matching zwischen Aufgaben und Fähigkeiten beobachtet werden. Oft klagen die Moscheen auch über eine mangelnde Bereitschaft bei jungen Menschen, sich zu engagieren. Teilweise ist ein Brain-Drain gebildeter junger Menschen zu beobachten, die sich aus der Moschee als Organisationsstruktur (nicht unbedingt jedoch aus der Moschee als religiös-spiritueller Heimat) zurückziehen. Nicht selten fühlen sich gebildete junge Menschen, die in den Moscheen sozialisiert wurden, von der dortigen Arbeitsweise und Struktur nicht mehr angesprochen. Während manche von ihnen sich innerhalb der Strukturen gewisse Freiräume aufgebaut haben und in diesem Rahmen erfolgreich Angebote umsetzen, haben andere ein eher distanziertes Verhältnis. Aber trotz allem: Auch für diese kritischen, distanzierten jungen Menschen bildet die Moschee weiterhin das Herz muslimischen Lebens und es bleibt eine emotionale Verbundenheit. Selbst wenn sie die Moschee kaum oder gar nicht besuchen, bleibt sie für viele junge Muslim*innen ein Ort der Spiritualität und Begegnung. Es wäre spannend, zu untersuchen, inwieweit sich die veränderten Formen des gesellschaftlichen Engagements junger Menschen in Deutschland auf die Situation von Moscheen und das islamische Leben auswirken. Aufgrund dieser Ausgangslage bleiben Initiativen oder Maßnahmen stecken oder können erst gar nicht begonnen werden – selbst wenn sie bei der Zielgruppe auf sehr positives Feedback stoßen. Bestehende Angebote der Vernetzung, Qualifikation und Förderung können nur in geringem Umfang genutzt werden.

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Das Problembewusstsein und der Wille, Abhilfe zu schaffen, sind in unterschiedlichem Maße, aber in der Gesamtschau bei den Entscheidungsträger*innen noch immer in zu geringem Maße vorhanden. Gleichzeit lässt sich aber beobachten, dass das Problembewusstsein wächst, und es gibt ermutigende Schritte von Akteur*innen aus den Gemeinden, um die Probleme anzugehen. Trotz aller Herausforderungen gibt es engagierte kompetente, auch junge Menschen, die unter den gegebenen Rahmenbedingungen versuchen, die eigene Arbeit weiterzuentwickeln und sich den Herausforderungen zu stellen.

Chancen der Zusammenarbeit mit Moscheen Moscheen sind zentrale Orte der Selbstorganisation und trotz der Schwierigkeiten, Herausforderungen und Defizite wichtige Partner, wenn es um die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, Demokratieförderung, die Bekämpfung von antimuslimischem Rassismus oder die Prävention von religiös begründetem Extremismus geht. Eine Kooperation mit Moscheegemeinden bietet die Möglichkeit, sozialraumorientierte Demokratieförderung und Extremismusprävention umzusetzen. Das Fachkonzept der Sozialraumorientierung bietet einen »Orientierungsrahmen für Demokratieförderung im Kontext von Radikalisierung« (Häseler-Bestmann 2000, 13). Demnach müssen Demokratieförderung und die Prävention von religiös begründetem Extremismus lebensweltorientiert sein, Raum für ein Empowerment der Betroffenen schaffen und Ermöglichungsstrukturen gestalten. Sie müssen Teilhabeoptionen und Raum für Selbstwirksamkeitserfahrungen bieten und ressourcenorientiert sein (vgl. ebd. 2020). Räumen der Selbstorganisation kommt hierbei eine zentrale Rolle zu. Angebote der Demokratieförderung und Extremismusprävention, die sich spezifisch an Muslim*innen richten, benötigen daher als Partner die Moscheegemeinden als Räume der Selbstorganisation. Es gibt inzwischen eine Reihe von Studien, die sich mit Radikalisierungsverläufen junger Muslim*innen befassen. Diese Studien machen deutlich, dass zwar bestimmte Faktoren identifiziert werden können, die eine Rolle im Radikalisierungsprozess spielen (können), aber die Faktoren sind vielfältig, in einzelnen Fällen sehr unterschiedlich und erst recht gibt es keine Zwangsläufigkeit. Einen guten Überblick über die verschiedenen Bausteine der Radikalisierung bietet Peter Neumann in seinem Beitrag »Arm, frustriert, extrem? Soziale Ungleichheit als Baustein von Radikalisierungsprozessen« (Neumann 2020). Wie andere Autor*innen auch, zeigt er eine Reihe von unterschiedlichen Faktoren auf, die unmöglich auf einen allgemeingültigen gemeinsamen Nenner gebracht werden können – zu unterschiedlich sind die Lebenswege der Menschen.

Moscheegemeinden als gesellschaftliche Akteure

Spielhaus und Mühe (2018c, 162) weisen z.B. darauf hin, dass ein erheblicher Anteil radikalisierter Jugendlicher eine eher religionsferne Erziehung hatte. Dennoch braucht es auch eine Auseinandersetzung mit den theologischen Argumenten. Schmidt und Martiensen betonen in ihrer Analyse am Fallbeispiel der Hisb ut-Tahrir die Bedeutung theologischer Diskurse: »In der Ansprache islamistischer Akteur*innen spielen genuin theologische Diskurse eine in der Präventionsarbeit häufig unterschätze Rolle« (Schmidt/Martiensen 2020, 14). Der frühere Berliner Innensenator Ehrhart Körting, der nicht gerade für eine weiche Linie gegenüber muslimischen Strukturen bekannt war, weist auf diese Zusammenhänge hin: »Es mag paradox klingen, aber die rudimentäre Kenntnis des Islam bei den Radikalisierten scheint ein Grund zu sein, weshalb die Radikalisierung erfolgreich ist. Vielleicht muss man deshalb einmal neu nachdenken, wenn man über Prävention spricht« (Körting 2015, 9). Dies steht nicht im Widerspruch zur Erkenntnis, dass viele Probleme, bei denen es sich um pädagogische Herausforderungen handelt, »islamisiert« werden (Roy 2017). Denn auch der Ideologie und damit einhergehend der theologischen Argumentation kommt eine Rolle in den Anwerbestrategien und Diskursen extremistischer Akteure zu. Neben der religiösen Bildung kann auch die interreligiöse Bildung einen wichtigen Beitrag zur Präventionsarbeit leisten. Die folgenden Annahmen dazu beruhen auf Erfahrungen und bedürfen weiterer Forschung. Interreligiöse Bildung und gemeinsames Lernen über Religion fördern Toleranz, gegenseitige Wertschätzung und Offenheit. Interreligiöse Bildung hätte demnach nicht nur einen Wert an sich, sie wäre auch ein Resilienzfaktor gegen religiös begründeten Extremismus – und dies nicht nur bei Muslim*innen. Wenn dem so ist, besteht hier ein großes Potenzial, das bisher nicht genutzt wird. Interreligiöse Bildung hat zudem den Vorteil, dass sie nicht erst durch breit angelegte Projektförderung aufgebaut werden muss, vielmehr können die vorhandenen Angebote der religiösen Bildung gemeinsam weiterentwickelt werden. Nicht zuletzt nutzen extremistische Bewegungen die Schwäche der muslimischen Strukturen, ihre begrenzte Handlungsfähigkeit, ihre kaum zu hörende Stimme im gesellschaftlichen Diskurs und ihre mangelnde Anerkennung und Wertschätzung in Politik und Gesellschaft aus, um mit deren Schwäche für ihre extremistische Ideologie zu werben. In unterschiedlichen Social-Media-Kanälen wird die eigene »Unbeugsamkeit« und »Entschlossenheit« der angeblichen »Ohnmacht« und »Wirkungslosigkeit« der bestehenden muslimischen Strukturen sowie ihrer angeblichen Unfähigkeit, sich für die Belange der Muslim*innen und gegen antimuslimischen Rassismus und Diskriminierung einzusetzen, gegenübergestellt. Damit Moscheegemeinden Partner zur Förderung der Demokratie im Kontext von Radikalisierung sein können, brauchen sie Unterstützung, vor allem bei der inhaltlichen Weiterentwicklung ihrer Arbeit und deren strukturellem Aufbau. Dies beinhaltet den Aufbau von Ressourcen und Professionalität, die Ermöglichung

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von Selbstwirksamkeitserfahrungen, Transparenz – insbesondere nach innen, aber auch nach außen –, verbesserte Teilhabemöglichkeiten für junge Menschen und eine stärkere Beachtung ihrer Bedarfe, klar definierte Entscheidungs- und Machtstrukturen und nicht zuletzt eine demokratische Arbeitsweise und Strukturiertheit. Möchte man Moscheen dabei unterstützen, ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden, um mit ihnen gemeinsam Demokratieförderung und Extremismusprävention zu ermöglichen, kommt man nicht umhin, sie bei der Umsetzung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben und der entsprechenden Strukturentwicklung zu unterstützen. Hier setzt das Projekt kiez-einander an, das im Folgenden vorgestellt wird.

Grundlagen des Projekts kiez-einander Im Projekt kiez-einander fördern wir das Empowerment und die politische Bildung muslimischer Menschen – insbesondere Jugendlicher – und unterstützen die Professionalisierung und Stärkung der Ressourcen von Moscheegemeinden und muslimischen Organisationen, um so die Voraussetzungen für gesellschaftliches Engagement, Vernetzungen und kooperatives Handeln zu stärken. kiez-einander strebt den Aufbau konstruktiver tragfähiger dauerhafter Beziehungen der Moscheen und muslimischen Vereine mit weiteren gesellschaftlichen Akteuren an, um so gemeinsames Handeln zur Stärkung von Demokratiekompetenz und Partizipation zu ermöglichen. Weitere Ziele gemeinsamen Handelns sind das Empowerment insbesondere junger Menschen, die von antimuslimischem Rassismus betroffen sind, sowie die Stärkung der Resilienz gegen religiös begründeten Extremismus.

Ressourcenorientiert und bedarfsorientiert arbeiten kiez-einander arbeitet ressourcenorientiert, das bedeutet, wir stellen fest, welche Ansätze und Bemühungen es bereits gibt, was bereits gut funktioniert, und setzen dort an. Vor allem arbeitet kiez-einander bedarfsorientiert. Es geht also nicht darum, für die Gemeinden und die in ihnen aktiven Menschen irgendwelche Bedarfe und Ziele zu formulieren. Wir nehmen das Bedürfnis der Menschen ernst, für diese Gesellschaft einen Beitrag zu leisten, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, gegenseitige Wertschätzung zu fördern und Radikalisierung entgegenzuwirken. Dafür werden im Rahmen unterschiedlicher Formate Bedarfe, Interessen und Ressourcen abgefragt und Maßnahmen gemeinsam entwickelt.

Moscheegemeinden als gesellschaftliche Akteure

Transparenz und Standards Um eine gute Zusammenarbeit zu ermöglichen, ist Transparenz zentral, auch im Hinblick auf die Grundwerte und Überzeugungen, die der eigenen Arbeit zu Grunde liegen. Dazu gehören das Recht auf eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe, das Diskriminierungsverbot, die Wertschätzung gesellschaftlicher Diversität, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Eine Teilnahme am Projekt bedeutet auch, dass die Standards, die bei kiez-einander zum Tragen kommen, anerkannt und umgesetzt werden. Es kommt immer wieder vor, dass dies gerade bei Jugendlichen auf Widerspruch stößt, aber dann muss es auch den Raum geben, sich damit auseinanderzusetzen. Es hat sich gezeigt, dass das Thema von anderen Teilnehmer*innen selbst aufgegriffen wird, weil sie eine Ablehnung dieser der Arbeit von kiez-einander zugrundeliegenden Werte und Standards kritisch sehen. Dies führt zu teils lebhaften Diskussionen unter den Teilnehmer*innen und ermöglicht es, kritische Jugendliche abzuholen, wo sie gerade stehen, und eine Diskussion darüber zu führen, wieso diese Grundsätze wichtig und richtig sind.

Subjektorientierte politische Bildung In der außerschulischen politischen Bildung gelten die im Beutelsbacher Konsens formulierten Grundprinzipien als wichtiger Referenzrahmen. Diese Prinzipien sind – stichwortartig zusammengefasst – das Indoktrinationsverbot, das Kontroversitätsgebot und die Befähigung, politische Situationen vor dem Hintergrund eigener Interessen analysieren zu können. Allerdings greifen diese Prinzipien zu kurz. Es bedarf zusätzlich einer Fokussierung auf Subjektorientierung. Außerdem darf politische Bildung nicht aufhören bei der Vermittlung und der Befähigung zur kritischen Analyse. Zentrale Aufgabe politischer Bildung ist die Befähigung, sich in gesellschaftspolitische Diskurse einzubringen, gesellschaftspolitische Partizipation zu ermöglichen und die Gesellschaft nach den eigenen Bedürfnissen mitzugestalten. Im Zentrum stehen das Recht und die Möglichkeit zur Partizipation. Dies setzt eine klare Orientierung an der Lebenssituation der Zielgruppe voraus. Politische Bildung muss gesellschaftspolitische Partizipation ermöglichen, das dafür benötigte Wissen und die dafür benötigten Analysefähigkeiten sind Mittel zum Zweck (vgl. Wohnig 2020). Subjekt- und Lebensweltorientierung bedeuten nicht nur, dass die Teilnehmer*innen Methoden und Themen definieren, sondern auch, dass festgestellt werden muss, was den Teilnehmer*innen fehlt, um gesellschaftlich partizipieren zu können. Das Projekt kiez-einander bietet subjektorientierte politische Bildung an, wobei mehr und mehr passende Angebote, die es in Berlin ja bereits in großer Zahl gibt, vermittelt anstatt selbst umgesetzt werden. Diese Angebote der subjektorien-

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tierten politischen Bildung richten sich insbesondere an Jugendliche. Wir nehmen die Jugendlichen ernst und orientieren uns an dem, was ihnen wichtig ist.

Selbstwirksamkeit erfahren Politische Bildung muss Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichen. »Um den Jugendlichen und jungen Erwachsenen demokratische Werte erfahrbar zu machen, sind Methoden zum Erleben von Selbstwirksamkeit zentral. Im Rahmen politischer Bildung können sie erkennen, dass sie als aktiver Bestandteil der Gesellschaft diese auch mitgestalten können und nicht etwa Spielball oder Objekt äußerer Mächte sind« (Schmid/Martiensen 2020, 43). Die Ermöglichung von Selbstwirksamkeitserfahrungen durch politische Bildung bildet einen wichtigen Baustein von kiez-einander, wobei Inhalte und Themen von den Teilnehmer*innen selbst gewählt werden.

Aktivitäten des Projekts kiez-einander Vernetzungen Vernetzungen mit anderen Gemeinden, mit relevanten Akteuren der Zivilgesellschaft und staatlichen Stellen sind für ein erfolgreiches gesellschaftliches Engagement zentral. kiez-einander hat zunächst einen Schwerpunkt auf die Vernetzung von Moscheegemeinden untereinander gelegt. Es wurde ein Raum geschaffen, um sich über die eigenen Bedarfe, Zielsetzungen und (gemeinsamen) Wege auszutauschen und gemeinsam erste Schritte zu entwickeln. Hierbei hat sich gezeigt, dass es bei den Moscheen ein großes Ressourcenproblem gibt und sie daher Angebote der Vernetzung nicht so annehmen können, wie sie gerne möchten. Daher wurde im Projekt zunächst ein Schwerpunkt auf den Ressourcenaufbau gelegt. Vernetzungen finden dort statt, wo ein konkreter Bedarf angemeldet wird. So wurden beispielsweise Jugendgruppen in den Moscheen mit der Landeszentrale für politische Bildung vernetzt, die dann Angebote vor Ort umgesetzt hat. Denn in Gesprächen mit Jugendgruppen vor Ort hat sich gezeigt, dass es durchaus ein Interesse an Angeboten der politischen Bildung gibt. Insbesondere das Thema Gerechtigkeit wurde immer wieder genannt. Aber auch der Wunsch, ein besseres Verständnis davon zu bekommen, wie politische Teilhabe funktioniert und wie die Jugendlichen sich selbst stärker gesellschaftlich engagieren können, wurde wiederholt geäußert. Auch das Thema Wohlfahrt und Gesundheitsförderung kommt immer wieder auf. kiez-einander unterstützt den Aufbau einer Kooperation zwischen dem Behinderten- und Rehabilitationssportverband Berlin und Berliner Moscheen, damit Menschen ihren Bedarfen entsprechende inklusive Sportangebote in Berliner Moscheen und muslimischen Vereinen aufbauen können. Sie werden so dabei un-

Moscheegemeinden als gesellschaftliche Akteure

terstützt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und ihre Teilhabechancen zu erhöhen. Teilnehmer*innen sollen Angebote nicht nur nutzen, sondern selbst aktiv mit aufbauen. Die Selbstermächtigungserfahrungen, die hierbei gemacht werden, sollen zukünftig fruchtbar gemacht werden für ein weiteres Engagement. Der Aufbau von Vernetzungen ergibt sich aus der Arbeit an einem bestimmten Thema. So ist beispielsweise aus dem Ressourcenaufbau im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit die Zusammenarbeit mit den »Azubi-Projekten« entstanden, die für gemeinnützige Vereine und soziale Einrichtungen Webseiten erstellen. Aus der Zielsetzung heraus, Frauen, die von häuslicher Gewalt betroffenen sind, zu unterstützen, entstand eine Vernetzung des Begegnungs- und Bildungszentrums für Frauen und Familien mit dem Frauenverein Mina e. V. in Duisburg und der Berliner Landeskommission gegen Gewalt. Der Aufbau von Vernetzungen wird durch das Projekt eng begleitet, um Nachhaltigkeit sicherzustellen. Während zunächst aufgrund der begrenzten Ressourcen der Projektteilnehmer*innen die Vernetzung und Kooperation nach außen hinter ihrem Empowerment und ihrer Stärkung zurückstand, wird zukünftig die Vernetzung und der Aufbau von Kooperationen viel stärker als bisher in den Fokus des Projekts rücken, da nur durch gemeinsames Handeln gesellschaftlichen Herausforderungen begegnet werden kann. Zukünftig wird ein stärkerer Fokus auf die passgenaue Vermittlung von Angeboten (insbesondere der politischen Bildung) und die Vermittlung und den Aufbau passgenauer Kooperationen gelegt sowie der Aufbau der Kooperationen durch das Projekt eng begleitet. Gleichzeitig bedarf es aber auch weiterhin einer Vernetzung untereinander und einer Reflexion über gesellschaftliche Herausforderungen, Potenziale, Ziele, aber auch interne Handlungsbedarfe und Entwicklungsmöglichkeiten. Dieser Diskurs soll zukünftig schwerpunktmäßig in einem Netzwerk junger Stakeholder*innen und »future leaders« der muslimischen Community geführt werden.

Empowerment-Angebote Zunächst einmal geht es im Projekt jedoch um das Empowerment der Zielgruppe und darum, deren eigene Ressourcen zu stärken, um Angebote besser wahrnehmen und Kooperationen aufbauen zu können. kiez-einander führt regelmäßig Empowerment-Workshops durch, in denen junge Muslim*innen sich mit Diskriminierungserfahrungen und Rassismus auseinandersetzen und eigene Handlungsstrategien entwickeln können. In den Workshops wird den Teilnehmer*innen ein Safe Space geboten, um sich gegenseitig von Diskriminierungserfahrungen zu berichten und darauffolgend Handlungsstrategien für solche Situationen zu erproben. Auch die strukturelle Ebene wird dabei in den Blick genommen.

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Die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie haben für die Projektarbeit auch neue Möglichkeiten eröffnet. Im Bereich Empowerment konnten Workshop-Reihen über einen längeren Zeitraum online durchgeführt werden und Teilnehmer*innen erreicht werden, denen eine Teilnahme an ganztägigen Präsenz-Workshops nicht möglich gewesen wäre. Selbst die Methode des Forum Theater konnte online erfolgreich umgesetzt werden. Der virtuelle Raum hat sich trotz aller Nachteile, die er mit sich bringt, als eine wertvolle Ergänzung für die Projektarbeit erwiesen. Ein Schwerpunkt im Bereich Empowerment wird auf die Schaffung eines Safe Space für junge muslimische Frauen gelegt, in dem sie sich vernetzen, über die Dynamiken von Rassismus und Sexismus sowie deren Auswirkungen auf das persönliche Leben austauschen und Handlungsstrategien im Umgang damit entwickeln können. Hierbei werden nicht nur die Erfahrungen von antimuslimischem Rassismus an Schule, Universität, Arbeitsplatz usw. thematisiert, sondern auch die Erfahrungen in der muslimischen Community und in Moscheegemeinden werden in den Blick genommen, gemeinsam reflektiert und entsprechende Handlungsmöglichkeiten entwickelt.

Bildungs- und Qualifizierungsangebote In der Zusammenarbeit mit jungen Menschen, die sich in Moscheegemeinden engagieren, fällt immer wieder auf, wie wenig sie ihre eigenen Interessen, Fähigkeiten und Ziele reflektieren. Welche Aufgabe passt zu mir, was möchte ich gerne erreichen, was macht mir Spaß? Diese Fragen werden kaum gestellt, sind aber (nicht nur) im Bereich des Ehrenamts zentral. Daher haben sich junge Ehrenamtliche aus den Moscheegemeinden in mehreren Workshops zu »Life/Work Planning« mit diesen Fragen befasst. Die systematische Auseinandersetzung mit diesen Fragen schafft nicht nur mehr Zufriedenheit mit dem eigenen Engagement bei den Teilnehmer*innen, sondern fördert auch die Nachhaltigkeit des ehrenamtlichen Engagements in den Moscheen und muslimischen Organisationen. kiez-einander bietet Workshops und Fortbildungen zu weiteren Themen, die für die Teilnehmer*innen relevant sind. Mittelakquise ist ein zentrales Thema, zu dem kiez-einander aufgrund der großen Nachfrage eine Workshop-Reihe mit anschließendem Coaching angeboten hat. Außerdem werden Rhetorik-Workshops angeboten oder auch Fortbildungen im Bereich Methodik, z.B. zu Themen wie effektive Veranstaltungsorganisation und Tools für ein modernes Teilnehmer- und Veranstaltungsmanagement. Doch der Qualifikationsbedarf beschränkt sich keineswegs auf methodische Fragen. Im Fokus stehen vielmehr inhaltliche Themen. So wurden in Kooperation mit dem Projekt »WiR – Wir im Rechtsstaat« die Online-Seminare »Der Rechtstaat für uns!« umgesetzt, in denen sich die Teilnehmer*innen im Austausch mit einem

Moscheegemeinden als gesellschaftliche Akteure

Richter mit den Grundlagen und der Funktionsweise des Rechtsstaats befasst haben. Weiter oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Bedeutung der theologischen Argumentation in der Präventionsarbeit unterschätzt wird. Wie schwierig es sein kann, solchen Argumenten erfolgreich etwas entgegenzusetzen, das konnten die jungen Teilnehmer*innen in verschiedenen Workshops erleben, in denen sie sich anhand verschiedener Übungen mit den Argumenten und Strategien religiöser Extremisten auseinandergesetzt haben. Für die Teilnehmer*innen hat sich gezeigt, dass es weit schwieriger ist, religiösen Extremisten argumentativ entgegenzutreten, als sie gedacht hatten. Sie haben gelernt, dass eine Reflexion über Argumentationsstrategien für eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit religiösem Extremismus sehr wichtig ist. Aber auch Themen jenseits der Diskurse in den Moscheen stoßen bei den jungen Teilnehmer*innen auf Interesse. So wurde mehrfach bemängelt, dass die Themen Geschlechterrollen und Gender in den eigenen Reihen weitgehend ignoriert würden und den Jugendlichen ein geschützter Raum fehle, in dem sie sich frei und ohne äußere Erwartungen, aber auch ohne Tabus von innen zu diesen Themen austauschen zu könnten. Ein Workshop-Angebot hierzu wird vorbereitet.

Öffentlichkeitsarbeit Ein zentrales Anliegen der Moscheen ist es, die eigene Öffentlichkeitsarbeit zu stärken. Eine gute Öffentlichkeitsarbeit ist ein erster Schritt, wenn die Gemeinde sich in der Gesellschaft besser vernetzen und gemeinsam mit anderen aktiv werden möchte. Webseiten sind Visitenkarten für Moscheen und ihre Bedeutung wird nicht selten unterschätzt. Ihre Pflege geht im Alltag häufig unter und die Webseiten sind oft nicht auf die Zielgruppe der deutschsprachigen Öffentlichkeit ausgerichtet. kiezeinander hat insgesamt 15 Moscheegemeinden und muslimische Vereine mit den »Azubi-Projekten« des Fördervereins für regionale Entwicklung vernetzt. Daraus sind bereits mehrere gemeinsame Projekte entstanden. Durch eine Online-Workshop-Reihe »Öffentlichkeitsarbeit für Muslim*innen: Professionelle Pressearbeit in Theorie und Praxis« und ein anschließendes Coaching konnte ein weiteres Angebot zur Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit umgesetzt werden. Zudem wurden Workshops umgesetzt, in denen es um die Grundlagen der Gestaltung – Flyer, Plakate und Content Creation – ging.

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Qualifikation von Dialogbeauftragten und Moscheeführer*innen sowie »Tag der offenen Moschee« kiez-einander hat in mehreren Qualifizierungsreihen Dialogbeauftragte und Moscheeführer*innen ausgebildet. Hierfür gab es zwei Gründe: Zum einen ist ein Kernproblem bei der Zusammenarbeit mit Moscheegemeinden, dass die Ansprechpartner*innen in den Gemeinden häufig mit der Vielzahl ihrer Aufgaben überlastet sind, selbst ohne ihr Engagement nach außen. Es braucht daher mehr Menschen in den Gemeinden, die »sprechfähig« sind, die Aufgaben übernehmen und ihre Gemeinde auch nach außen vertreten können. Mit den Qualifizierungsreihen konnten junge Menschen grundlegende Fähigkeiten zur Übernahme dieser Aufgaben erwerben. Zum zweiten sind Moscheeführungen und der »Tag der offenen Moschee« zentrale Elemente der Öffentlichkeitsarbeit vieler Moscheegemeinden. Sie schaffen Möglichkeiten, sich in der Nachbarschaft bekannter zu machen, sichtbarer zu werden, Kontakte zu knüpfen und darauf aufbauend möglicherweise sogar gemeinsames Handeln zu entwickeln. Mit den Qualifizierungsreihen unterstützt kiez-einander die Moscheegemeinden dabei, Ehrenamtliche aus den eigenen Strukturen als Dialogbeauftragte auszubilden und qualifizierte Moscheeführungen und »Tage der offenen Moschee« durchzuführen. In Spandau haben im Anschluss an die Qualifizierung die beteiligten Gemeinden einen koordinierten »Tag der offenen Moschee« mit einer gemeinsamen Abschlussveranstaltung durchgeführt, zu der Besucher*innen, zivilgesellschaftliche Einrichtungen und bezirkliche Vertreter*innen eingeladen wurden, die dann miteinander diskutiert haben. kiez-einander hat auch die Landingpage2 aufgebaut, über die interessierte Berliner*innen Moscheegemeinden in ihrem Kiez finden können, die Moscheeführungen anbieten.

Organisationsentwicklung Neben all diesen Aktivitäten, die die Sichtbarkeit der Moscheen erhöhen, eine Grundlage schaffen für eine bessere Vernetzung und damit auch kooperatives Handeln und gesellschaftliches Engagement fördern, müssen interne Herausforderungen der Moscheen im Blick behalten werden. Hierfür stellt kiez-einander ausgewählten Gemeinden Organisationsentwicklungs-Formate zur Verfügung. Dabei geht es an erster Stelle um Begleitung, Aufbau und Förderung demokratischer Prozesse und Angebote von »Hilfe zur Selbsthilfe«.

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www.kiez-einander.de/moscheefuehrung

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Erfolgsfaktoren für die Arbeit mit Moscheegemeinden Im Rahmen der kontinuierlichen internen Evaluation wurden eine Reihe von Faktoren zusammengetragen, die für eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit Moscheegemeinden wichtig sind. Da diese für andere Akteure der sozialraumorientierten Prävention auch von Interesse sein können, werden hier die Wichtigsten aufgeführt: •





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Verdachtskultur und Misstrauen sind ein Hauptfaktor, der die Moscheen und muslimischen Organisationen immer wieder ausbremst und zu Enttäuschung und Fokussierung nach innen führt. Durch die Wirkungsmacht der Sicherheitsdiskurse und der Verdachtskultur werden die Möglichkeiten der Zusammenarbeit stark eingeschränkt. Hier braucht es sowohl auf Seiten der Innenpolitik als auch auf Seiten der muslimischen Akteure eine Bereitschaft zu einem offenen, ehrlichen und konstruktiven Austausch und vor allem auch Handlungsbereitschaft. Denn letztlich liegt es im Interesse beider Seiten, dieses Problem zu lösen. Die Entscheidungsträger*innen in den Gemeinden werden als Unterstützer*innen eines stärkeren gesellschaftlichen Engagements und einer strukturellen Weiterentwicklung benötigt, damit motivierte Menschen aus den Gemeinden gesellschaftlich aktiv werden und gesellschaftliches Engagement und Strukturentwicklung vorantreiben können. Eine Stärkung der Frauen und Mütter durch die Unterstützung und Förderung muslimischer Frauenselbstorganisationen ist ein bisher unterschätzter Faktor in der Präventionsarbeit, da nach unseren Erfahrungen den Müttern eine zentrale Rolle bei der Stärkung von Resilienz zukommt. Das Ermöglichen von Selbstwirksamkeitserfahrungen steigert das Aktivierungspotenzial3 . Um eine nachhaltige gesellschaftliche Wirkung zu erzielen, braucht es eine Wirkung auf die Struktur der Moscheegemeinden. Eine Konzentration auf und engere Zusammenarbeit mit bestimmten einzelnen Partnern/»Leuchttürmen« – statt einer Streuung der Aktivitäten – verspricht eine höhere Effektivität und Nachahmungseffekte. Es braucht junge optimistische engagierte Menschen aus den Gemeinden, aber auch gemeindeungebundene Personen, um Veränderungen anzustoßen. Face-to-Face-Arbeit ist unabdingbar, wenn auch sehr zeitaufwändig. Es braucht eine Hands-on-Mentalität: Es geht darum, eine Sache anzupacken und umzusetzen und Hindernisse manchmal auch einfach zu ignorieren oder zu umgehen. Vgl. https://fem4dem.de/ergebnisse.html

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Es braucht die Bereitschaft, Ansätze auszuprobieren und Erfolglosigkeit nicht als Scheitern, sondern als Lernprozess zu verstehen. Es braucht Akteur*innen, die Engagement und positive Ansätze unterstützen, indem sie bereit sind, Neues zu ermöglichen und auszuprobieren. Die Zusammenarbeit mit Moscheen muss flexibel gestaltet werden, um auf Bedarfe schnell reagieren zu können. »Windows of opportunity« müssen genutzt werden. Das Zurückspiegeln von Feedback in die Gemeinden und Organisationen und eine gemeinsame Reflexion der Erfahrungen sind wichtig, damit das Problembewusstsein wächst. Es braucht einen geschützten Raum für die Menschen aus den Moscheegemeinden, um Herausforderungen, Erfahrungen und das eigene gesellschaftliche Engagement gemeinsam zu reflektieren. Es braucht (finanzierte) Akteure, die als Brücke zwischen Gemeinden einerseits und Zivilgesellschaft und Politik andererseits fungieren – wie am Beispiel des Projekts kiez-einander sehr deutlich wird. Die Zusammenarbeit mit Moscheen muss langfristig angelegt sein und auf einem beständig wachsenden gegenseitigen Vertrauen beruhen.

Fazit Moscheen und muslimische Organisationen als zentrale Orte der Selbstorganisation haben auch eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Dieser Verantwortung werden sie aber nur unzureichend gerecht. Dafür sind sowohl innere als auch äußere Faktoren verantwortlich. Die notwendigen Ressourcen fehlen häufig und die strukturellen Voraussetzungen sind unzureichend. Zudem lässt sich beobachten, dass immer wieder positive Ansätze und Bemühungen aufgrund des gesellschaftlichen Misstrauensdiskurses gegenüber Muslim*innen ins Leere laufen. Das Projekt kiez-einander setzt hier an und entwickelt Ansätze, um Moscheen und muslimische Organisationen als Partner zur Demokratieförderung und zur Stärkung des gesellschaftlichen Miteinanders zu gewinnen.

Literatur Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (2012): Islamisches Gemeindeleben in Deutschland. Nürnberg. https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlag en/DE/Forschung/Forschungsberichte/fb13-islamisches-gemeindeleben.pdf, 14.4.2022

Moscheegemeinden als gesellschaftliche Akteure

FEM4DEM (2021): Koordinaten der Heterogenität im Kontext von Sozialer Arbeit, Bildung und Gender. Ergebnisse. https://fem4dem.de/ergebnisse.html, 7.10.2021 Friedrich-Ebert-Stiftung – Forum Berlin (2015): Handlungsempfehlungen zur Auseinandersetzung mit islamistischem Extremismus und Islamfeindlichkeit. Berlin Häseler-Bestmann, S. (2020): Sozialraumorientierung und Demokratieförderung. In: Landeskommission Berlin gegen Gewalt: Berliner Forum Gewaltprävention, 69. Interdisziplinäre Beiträge zu Radikalisierung. Berlin Körting, E. (2015): Djihadistische Radikalisierung und staatliche Gegenstrategien. In: Friedrich-Ebert-Stiftung – Forum Berlin (Hg.): Arbeitspapier Religion und Politik, 2. Berlin Neumann, P. (2020): Arm, frustriert, extrem? Soziale Ungleichheit als Baustein von Radikalisierungsprävention. In: Ligante #3: Radikalisierungsfaktor soziale Ungleichheit? Berlin, S. 15-19 Bernhard Schmidt, M./Martiensen, S.-J. (2020): Soziale Ungleichheit in Ansprache und Ideologie islamistischer Gruppen. In: Ligante #3: Radikalisierungsfaktor soziale Ungleichheit? Berlin, S. 40-43 Spielhaus, R./Mühe, N. (2018a): Einleitung. In: Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa EZIRE/Spielhaus R./Mühe N. (Hg.): Islamisches Gemeindeleben in Berlin. Berlin, S. 6-8 Spielhaus, R./Mühe, N. (2018b): Anzahl und Verteilung der Moscheen in Berlin. In: Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa EZIRE/Spielhaus R./Mühe N. (Hg.): Islamisches Gemeindeleben in Berlin. Berlin, S. 13-19 Spielhaus, R./Mühe, N. (2018c): Extremismus als Herausforderung für islamische Gemeinden. In: Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa EZIRE/Spielhaus R./Mühe N. (Hg.): Islamisches Gemeindeleben in Berlin. Berlin, S. 162-165 Wohnig, A. (2020): Subjektorientierung und Lebensweltbezug als Kern Politischer Bildung. https://profession-politischebildung.de/grundlagen/subjektorientier ung, 15.1.2021

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Verzeichnis der Autor*innen

Pierre Asisi (M.A.), geb. 1986, hat Politikwissenschaften mit Schwerpunkt auf »EUGrenzregime« und »Politisches System im Iran« in Wien studiert. Seit 2017 arbeitet er bei ufuq.de, einem Träger der freien Jugendhilfe in Berlin. Für kiez:story ist er als Projektleiter tätig. Sabine Behn (M.A.), geb. 1960, studierte an der Freien Universität Berlin Geschichte, Spanisch und Soziologie und ist seit 2001 Geschäftsführende Gesellschafterin von Camino gGmbH. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Gewaltprävention, Radikalisierungsprävention sowie Jugendarbeit und -forschung. Claudio Caffo (M.A.), geb. 1993, studierte Politikwissenschaften an der Freien Universität Berlin und der Universidad Complutense de Madrid. Er ist derzeit als Medienpädagoge und politischer Bildner bei medialepfade.org – Verein für Medienbildung e.V. tätig. Dort ist er in den Projekten kiez:story und AntiAnti beschäftigt. Michael Gerland (M.A.), geb. 1955, Kriminologe, Dipl.-Sozialpädagoge, systemischer Berater und Therapeuth (DGSF), ist Mitbegründer der Fach- und Beratungsstelle »Legato« in Hamburg. Er ist freiberuflich tätig als Berater, Therapeut, Teamcoach und Dozent mit den Schwerpunkten Gewaltprävention und Radikalisierung. Britta Elena Hecking (Dr. phil.), geb. 1978, promovierte am Orientalischen Institut der Universität Leipzig im Lehrbereich Human-und Wirtschaftsgeografie. Sie arbeitet seit 2021 als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Camino und forscht an den Schnittstellen der Stadt- und Jugendforschung. Kayra Hohmann (M.A.), geb. 1997, studierte Politikwissenschaften an der FU Berlin und absolvierte ihr Masterstudium der Sozialwissenschaften an der Humboldt Universität zu Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Migrations- und Geschlechterstudien. Sie ist studentische Mitarbeiterin bei Camino gGmbH.

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Raum, Resilienz und religiös begründete Radikalisierung

Nabil Hourani (M.A.), geb. 1982, studierte an der FAU-Erlangen Politikwissenschaften, Altorientalisik und Neuere und Neueste Geschichte. Er ist derzeit Gruppenleiter bei den Heroes-Nürnberg. In der Vergangenheit war er im Bereich politische Jugendbildung mit Schwerpunkt Rechtsextremismusprävention tätig und hat das Nürnberger Präventionsnetzwerk gegen religiös begründete Radikalisierung mit aufgebaut. Armin Küchler (M.A.) studierte Soziologie und Politikwissenschaften an der Universität Bielefeld. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fachhochschule Münster und dort u.a. im Projekt »Radikalisierende Räume« tätig sowie Doktorand an der Bielefeld Graduate School in History and Sociology (BGHS). Seine Forschungsschwerpunkte liegen u.a. im Bereich der Radikalisierungsund Populismusforschung. Im o.g. Projekt liegt sein Fokus in der quantitativen Datenerhebung und -auswertung. Sebastian Kurtenbach (Prof. Dr.), geb. 1987, ist Professor für Sozialpolitik an der FH Münster, Leiter des Instituts für Gesellschaft und Digitales (GUD) und Privatdozent an der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Untersuchung von Kontexteffekten und Folgen von Digitalisierung auf das lokale Zusammenleben sowie von Mustern kleinräumiger Migration. Janine Linßer (Prof. Dr.), geb. 1985, ist Professorin an der Hochschule Augsburg. Sie hat als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Vorgängerprojekt von »Radikalisierende Räume« Anfälligkeitsmerkmale für eine mögliche salafistische Radikalisierung untersucht. Als assoziiertes Mitglied im Projekt »Radikalisierende Räume« liegt ihr Schwerpunkt auf der Auswertung kommunaler Handlungskonzepte zur Radikalisierungsprävention. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Jugendforschung, der quantitativen Methoden der empirischen Sozialforschung und der Radikalisierungsforschung. Verena Molitor (Dr. phil.), geb. 1981, promovierte an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Sie ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld und Projektmanagerin am Zentrum für Deutschland-und Europastudien (ZDES Bielefeld/St. Petersburg). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind NGOs und Aktivismus, LSBTIQ*, regionale Identiäten, sexual citizenship sowie Wissenschaft-Praxis-Projekte im Bereich Diversität und Polizei/ Öffentliche Verwaltung. Sie ist ferner als Beraterin im Kontext der Diversität öffentlicher Verwaltung und Behörden tätig.

Verzeichnis der Autor*innen

Phương Thúy Nguyễn (M.A.), geb. 1991, studierte in Frankfurt (Oder), Melbourne, Istanbul und Havanna Sozial- und Kulturwissenschaften. Bis vor kurzem war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt »30 Jahre Deutsche Einheit: Migrantische Perspektiven auf den (Wieder-)Vereinigungsprozess in Ostdeutschland« an der Hochschule Mittweida tätig. Freiberuflich arbeitet sie als politische Bildnerin und Bildungsreferentin. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Gesellschafts- und Herrschaftskritik, Migration, Diaspora, Erinnerungskultur und Ostdeutschland. Lydia Nofal (Dipl.-Pol.), geb. 1967, schloss ihr Politologiestudium am Otto-SuhrInstitut der Freien Universität Berlin mit Schwerpunkt Islamistischer Extremismus ab. Sie ist derzeit bei den Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA Berlin) e.V. als Projektleiterin tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen sozialräumliche Vernetzung von Moscheegemeinden, Empowerment, Antidiskriminierung, Prävention sowie strukturelle Weiterentwicklung muslimischer Jugendverbandsarbeit. Catharina Peeck-Ho (Dr. phil.), geb. 1983, hat ihre Promotion an der GoetheUniversität in Frankfurt a.M. 2017 abgeschlossen. Derzeit arbeitet sie als Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Sozialwissenschaften der Carlvon-Ossietzky-Universität, Oldenburg. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Migration, Citizenship, soziologische Theorien sowie qualitative Methoden. Julia Rettig (M.A.), geb. 1979, studierte an der Ludwigs-Maximilians-Universität München Neuere deutsche Literatur, Politikwissenschaften und Philosophie. Sie ist derzeit als Programmmanagerin beim European Forum for Urban Security (Efus) tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Prävention von Radikalisierung und Polarisierung. Linda Schumilas (B.A.) studierte Soziale Arbeit an der Fachhochschule Münster und arbeitet dort seit 2020 als wissenschaftliche Mitarbeiterin. An der TU Chemnitz absolviert sie derzeit ein Masterstudium in Präventionsmanagement. Im Projekt »Radikalisierende Räume« liegt ihr Schwerpunkt auf der qualitativen Erhebung mit Praktiker*innen der Sozialen Arbeit und der Entwicklung des Praxisinstruments. Victoria Schwenzer (M.A.), geb. 1968, studierte Europäische Ethnologie und Germanistik in Tübingen, Barcelona und Berlin. Sie ist seit 2004 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Camino gGmbH und setzt Evaluations- und Praxisforschungs-

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Raum, Resilienz und religiös begründete Radikalisierung

projekte in den Themenfeldern Demokratieförderung und Radikalisierungsprävention, Sport, Migration sowie soziale Teilhabe um. Gerrit Weitzel (M.A.) studierte Sozial- und Erziehungswissenschaft. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich gesellschaftlicher Konflikte, rekonstruktiver Forschungsmethoden und der Jugendforschung. Andreas Zick (Prof. Dr.), geb. 1962, ist Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) und Professor für Sozialisation und Konfliktforschung an der Universität Bielefeld. Außerdem ist er Sprecher des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt am Standort Bielefeld sowie Mitglied der Forschungsgemeinschaft des Deutschen Zentrums für Integration und Migration (DeZIM) und des Leibniz-WissenschaftsCampus SOEP RegioHub. Seit den 1980er Jahren forscht er national und international zu Themen in Bezug auf u.a. Radikalisierung, Extremismus und Akkulturation. Er ist der Ko-Koordinator des Verbundprojektes »Radikalisierende Räume«. Tatiana Zimenkova (Prof. Dr.), geb. 1977, promovierte und habilitierte an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Sie ist Professorin für Soziologie an der Hochschule Rhein-Waal und hat dort auch das Amt der Vizepräsidentin für Internationalisierung und Diversität inne. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind politische Partizipation, sexual citizenship, Diversität und Teilhabe, Normierungen sowie urbaner Zusammenhalt. Sie ist ferner in vielen Transferprojekten im Bereich LSBTQI*/Schule/Polizei sowie NGOs und Exekutive aktiv sowie als Beraterin tätig.

Soziologie Michael Volkmer, Karin Werner (Hg.)

Die Corona-Gesellschaft Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft 2020, 432 S., kart., 2 SW-Abbildungen 24,50 € (DE), 978-3-8376-5432-5 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5432-9 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5432-5

Kerstin Jürgens

Mit Soziologie in den Beruf Eine Handreichung September 2021, 160 S., kart. 18,00 € (DE), 978-3-8376-5934-4 E-Book: PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5934-8

Gabriele Winker

Solidarische Care-Ökonomie Revolutionäre Realpolitik für Care und Klima März 2021, 216 S., kart. 15,00 € (DE), 978-3-8376-5463-9 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5463-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Soziologie Wolfgang Bonß, Oliver Dimbath, Andrea Maurer, Helga Pelizäus, Michael Schmid

Gesellschaftstheorie Eine Einführung Januar 2021, 344 S., kart. 25,00 € (DE), 978-3-8376-4028-1 E-Book: PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4028-5

Bernd Kortmann, Günther G. Schulze (Hg.)

Jenseits von Corona Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft 2020, 320 S., Klappbroschur, 1 SW-Abbildung 22,50 € (DE), 978-3-8376-5517-9 E-Book: PDF: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5517-3 EPUB: 19,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5517-9

Detlef Pollack

Das unzufriedene Volk Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute 2020, 232 S., Klappbroschur, 6 SW-Abbildungen 20,00 € (DE), 978-3-8376-5238-3 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5238-7 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5238-3

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