Syntax des Bairischen: Studien zur Grammatik einer natürlichen Sprache [Reprint 2014 ed.] 9783110912487, 9783484303911

This is the first systematic study of the syntax of a German dialect to combine the findings of modern syntactic theory

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German Pages 298 [304] Year 1998

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Table of contents :
Vorwort und Danksagung
I. Der Begriff ‘natürliche Sprache’ als generativer Grundbegriff
1. Klärung der Begriffe
1.1. Dialekt vs. Hochsprache: Differenzen
1.1.1. N1-vs.N2-Sprachen
1.1.2. Natürlicher vs. seminatürlicher Sprachwandel
1.2. Dialekt vs. Hochsprache: Interferenzen
1.3. Exemplifizierung der Begriffe: Hochdeutsch vs. Dialekte
2. Gegenstand und Methode
II. Eine kurze Satz- und Phrasensyntax des Bairischen
1. Einleitung
2. Satzsyntax
2.1. Der CP-Komplex
2.1.1. Das Reis’sche Dilemma
2.1.2. Von unechten und echten Doppel-COMPs
2.1.3. Fokuskonstruktionen
2.2. Der Restsatz
2.2.1. Zur Abfolge nominaler Satzglieder
2.2.2. Verbalkomplex
2.2.3. Das Nachfeld
2.3. Von V/1-Sätzen, subjektlosen Sätzen etc
2.4. Aktivsätze ohne Agens
2.5. Lack of Agreement (Diskordanz)
2.6. PPs als Subjekte
3. Phrasensyntax
3.1. Die Determiner Phrase (DP)
3.2. Einige weitere Phänomene
III. Die Pronominalsyntax des Bairischen
1. Exposition
2. Datenlage
2.1. Serialisierung
2.2. Bewertung der Daten
3. Daten aus anderen deutschen Dialekten
4. Syntaktische Analyse
4.1. Die Wackernagel-Position und die Struktur des Mittelfeldes
4.2. Einzelne Besonderheiten
4.2.1. es
4.2.2. man
4.2.3. Die Höflichkeitspronomina
4.2.4. Clitic-climbing (Fernklise)
4.2.5. Clitic-doubling
4.2.6. COMP-Flexion und Pro-drop
4.2.7. Einige weitere Erscheinungen
5. Erklärungen für die Klitisierung
5.1. Allgemein
5.2. Für das Bairische
5.3. Schwachtonige Pronomina als Klitika
5.4. Eine minimalistische Analyse
IV. Negationssyntax: Die Doppelnegation im Bairischen
1. Exposition
2. Diachronie und Jespersens Zyklus
3. Typologie
4. Die Negation im Bairischen
4.1. Negationsausdrücke
4.2. Funktion der doppelten Negation
4.2.1. DN als Skopus- und Fokusmarkierung
4.2.2. Quantifikation und Negation
Exkurs: Referenz, Denotation (etc.) und INQs
4.3. Syntax der doppelten Negation
4.3.1. NC als NEG-Absorption
4.3.2. Das Neg-Kriterium
4.4. Die doppelte Negation im Bairischen
4.4.1. Struktur der NegP
4.4.2. Mehrfachnegationen
4.4.3. Zur Adjazenz zwischen Negator und Verb
4.4.4. Die Funktion der doppelten Negation
4.4.5. Das Lexem koa im Bairischen
4.4.6. Die Syntax der einfachen Negation
5. Resumee
IV. Der bairische Infinitiv
1. Einleitung
1.1. Forschungssituation und Untersuchungsaufbau
1.2. Über das Verhältnis von zum und z’
2. Das ältere System
2.1. Typ I
2.2. Typ II und III
2.3. Typ VI: Argumentinkorporation
2.4. Typ V
2.5. Typ IV
2.6. Zwischenresumee
3. Das neue System
4. Zusammenfassung
Literatur
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Syntax des Bairischen: Studien zur Grammatik einer natürlichen Sprache [Reprint 2014 ed.]
 9783110912487, 9783484303911

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Linguistische Arbeiten

391

Herausgegeben von Hans Altmann, Peter Blumenthal, Herbert E. Brekle, Gerhard Heibig, Hans Jürgen Heringer, Heinz Vater und Richard Wiese

Helmut Weiß

Syntax des Bairischen Studien zur Grammatik einer natürlichen Sprache

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Weiß, Helmut: Syntax des Bairischen : Studien zur Grammatik einer natürlichen Sprache / Helmut Weiß. Tübingen : Niemeyer, 1998 (Linguistische Arbeiten ; 391) ISBN 3-484-30391-3

ISSN 0344-6727

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Buchbinder: Nädele Verlags- und Industriebuchbinderei, Nehren

Inhaltsverzeichnis

Vorwort und Danksagung

IX

I. 1. 1.1. 1.1.1. 1.1.2. 1.2. 1.3. 2.

Der Begriff 'natürliche Sprache' als generativer Grundbegriff. Klärung der Begriffe Dialekt vs. Hochsprache: Differenzen Nl-vs. N2-Sprachen Natürlicher vs. seminatürlicher Sprachwandel Dialekt vs. Hochsprache: Interferenzen Exemplifizierung der Begriffe: Hochdeutsch vs. Dialekte Gegenstand und Methode

1 1 1 1 4 10 12 15

Π. 1. 2. 2.1. 2.1.1. 2.1.2. 2.1.3. 2.2. 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 3. 3.1. 3.2.

Eine kurze Satz- und Phrasensyntax des Bairischen Einleitung Satzsyntax Der CP-Komplex Das Reis'sche Dilemma Von unechten und echten Doppel-COMPs Fokuskonstmktionen Der Restsatz Zur Abfolge nominaler Satzglieder Verbalkomplex Das Nachfeld Von V/l-Sätzen, subjektlosen Sätzen etc Aktivsätze ohne Agens Lack of Agreement (Diskordanz) PPs als Subjekte Phrasensyntax Die Determiner Phrase (DP) Einige weitere Phänomene

25 25 26 27 27 33 36 41 41 50 55 58 61 64 68 69 69 84

ΙΠ. 1. 2. 2.1. 2.2. 3. 4. 4.1. 4.2.

Die Pronominalsyntax des Bairischen Exposition Datenlage Serialisierung Bewertung der Daten Daten aus anderen deutschen Dialekten Syntaktische Analyse Die Wackemagel-Position und die Struktur des Mittelfeldes Einzelne Besonderheiten

85 85 87 88 90 91 95 95 101

VI 4.2.1. 4.2.2. 4.2.3. 4.2.4. 4.2.5. 4.2.6. 4.2.7. 5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4.

es man Die Höflichkeitspronomina Clitic-climbing (Fernklise) Clitic-doubling COMP-Flexion und Pro-drop Einige weitere Erscheinungen Erklärungen für die Klitisierung Allgemein Für das Bairische Schwachtonige Pronomina als Klitika Eine minimalistische Analyse

101 106 107 108 113 116 133 137 137 138 147 153

IV. Negationssyntax: Die Doppelnegation im Bairischen 1. Exposition 2. Diachronie und Jespersens Zyklus 3. Typologie 4. Die Negation im Bairischen 4.1. Negationsausdrücke 4.2. Funktion der doppelten Negation 4.2.1. DN als Skopus- und Fokusmaikierung 4.2.2. Quantiiikation und Negation Exkurs: Referenz, Denotation (etc.) und INQs 4.3. Syntax der doppelten Negation 4.3.1. NC als NEG-Absorption 4.3.2. Das Neg-Kriterium 4.4. Die doppelte Negation im Bairischen 4.4.1. Struktur der NegP 4.4.2. Mehrfachnegationen 4.4.3. Zur Adjazenz zwischen Negator und Verb 4.4.4. Die Funktion der doppelten Negation 4.4.5. Das Lexem koa im Bairischen 4.4.6. Die Syntax der einfachen Negation 5. Resümee

167 167 169 180 182 182 185 186 188 196 197 197 198 200 200 204 207 213 221 226 228

IV. 1. 1.1. 1.2. 2. 2.1. 2.2. 2.3.

231 231 231 235 239 241 247 252

Der bairische Infinitiv Einleitung Forschungssituation und Untersuchungsaufbau Über das Verhältnis von zum und z' Das ältere System Typ 1 Typ Π und ΙΠ Typ VI: Argumentinkorporation

VII

2.4. 2.5. 2.6. 3. 4. Literatur

Typ V Typ IV Zwischenresumee Das neue System Zusammenfassung

255 262 263 265 274 277

Vorwort und Danksagung

Like a bird on the wire Like a drunk in a midnight choir I have tried in my way to be free L. Cohen, Bird on the wire

Ich möchte an dieser Stelle die Gelegenheit nutzen, um all jenen Menschen Dank auszusprechen, die es mir in der einen oder anderen Weise ermöglicht haben, diese Arbeit zu einem glücklichen Ende zu bringen. An erster Stelle sind meine Mutter, mein allzu früh verstorbener Vater, meine Geschwister und ihre Familien zu nennen, ohne die ich nicht geworden und geblieben wäre, was ich bin. Dafür recht herzlichen Dank! Ohne meine Freunde, allen voran die Dobnigs (Edeltraud & Peter, Hanna & Lena, inkl. Poldi), Lyih-Peir, Mike & Evi, Paul & Almut, Gerald, Bernhard & Susi, Andreas, Johannes, Nicole und viele andere, hätte ich diese mühsame Arbeit mit Sicherheit nie durchgestanden und vollenden können. Ihre Freundschaft hat mich davor bewahrt, das schöne Leben jenseits der Wissenschaft zu vergessen. Ich hoffe, ich kann mit ihnen und auf sie noch viele gute Gläser Wein trinken! Sie alle haben, jeder auf seine Weise, besonderen Dank verdient. Den Kollegen vom Regensburger Lehrstuhl für Allgemeine Sprachwissenschaft (Herbert Ε. Βrekle und seinen jetzigen sowie ehemaligen Mitarbeitern) möchte ich dafür danken, daß sie ein angenehmes und anregendes Arbeitsklima geschaffen haben, das mir und meiner Arbeit immer förderlich war. Prof. Brekle sei für sein Verständnis und vielerlei Anregungen gedankt Großer Dank gebührt schließlich meinen Korrekturlesern, Jürgen Reischer und Bernhard Staudinger, für die Mühe, der sie sich bereitwillig und verläßlich unterzogen haben.

Regensburg, im April 1998

I. Der Begriff'natürliche Sprache1

1. Klärung der Begriffe

1.1. Dialekt vs. Hochsprache: Differenzen 1.1.1. Nl- vs. N2-Sprachen In der generativen Grammatikschreibung dürfte Einigkeit bestehen, daß ihr Objektbereich mit dem etwas vagen Begriff 'natürliche Sprache" annäherungsweise bestimmt werden kann. Dies zu leugnen, liefe auf die absurde, d.h. faktisch nicht zutreffende Behauptung hinaus, die generative Grammatik befasse sich mit künstlichen Sprachen. Da der Sachverhalt damit derart offensichtlich ist, erübrige sich eine weitere Auseinandersetzung mit dem Begriff 'natürliche Sprache'. Dabei ließe sich der Begriff durch geeignete Restriktionen durchaus so definieren, daß man zu den üblichen, m.E. noch wenig präzisen Sprachbegriffen einen zur Hand hätte, der in der praktischen Arbeit der generativen Grammatik - z.B. in Arbeiten über das Deutsche, Englische, Italienische etc. - nutzbringend angewandt werden könnte. Die zugrundeliegende Logik meines Vorschlags ist einfach und stützt sich nur auf bekannte und unkontroverse Annahmen: Gegenstand der generativen Grammatik ist die sog. I-Sprache bzw. I-Grammatik (für interne Sprache/Grammatik), die sich aus der Kompetenz eines native speaker ergibt und idealiter das Regeln-und-Prinzipien-System darstellt, das als im Gehirn dieses Sprechers repräsentiert vorgestellt wird (Chomsky 1986b: 21-46). Nach Chomsky (1986b: 22) ist die Grammatik eine "theoiy of the I-language, which is the object under investigation". Notwendige und hinreichende Bedingung einer I-Sprache, so läßt sich extrapolieren, ist somit, daß sie eine Sprache ist, die unter den gegebenen und empirisch feststellbaren Bedingungen des Primärsprachenerwerbs2 von (einer signifikant großen Anzahl von) Kindern erworben wird (Chomsky 1986b: 23). Daß dies tatsächlich eine notwendige Bedingung ist, ergibt sich aus dem Lernbarkeitskriterium, das ansonsten ohne Relevanz fur die Theorie wäre. Sie ist auch hinreichend, da sich die generative Grammatik mit I-Sprachen/Grammatiken befaßt, die per definitionem Sprachen/Grammatiken von native speakers sind. Alle übrigen, insbesondere formalen Eigenschaften sind, sofern nicht kontingent, Konsequenzen daraus. Das in der Definition verwendete 1

2

Wenn im folgenden einfachheitshalber von natürlichen Sprachen die Rede ist, sind selbstverständlich immer natürliche menschliche Sprachen gemeint. Tierische Sprachen bzw. Kommunikationssysteme sind ebenfalls natürlich lind, wie neuere Forschungen (cf. Cheney/Seyfarth 1994) zeigen, in ihren entwickeltsten Formen (etwa bei den Primaten) nur graduell, aber nicht kategoriell von der menschlichen Sprache zu unterscheiden, wobei das entscheidende Kriterium nicht das Vorhandensein bzw. Fehlen von Syntax sein kann. Zum Spracherwerb vgl. Fanselow/Felix 1,101-141.

2 Lernbarkeitskriterium ist außerdem empirisch überprüfbar und damit von theoretischen Vorannahmen unabhängig. Die das Objekt einer Untersuchung ausmachende I-Sprache/Grammatik ist nicht identisch mit der Universalgrammatik (UG): diese spezifiziert die Prinzipien, welche sich nach Chomsky (1986b: 23) aus der biologischen Ausstattung des Menschen ableiten lassen und sich - von der Linguistik als abstrakte Theorie rekonstruiert - als Theorie sämtlicher ISprachen und als Ausgangszustand (initial state) des Spracherwerbs interpretieren lassen (cf. Chomsky 1986b: 23, 26). Dagegen ist die I-Sprache eine konkrete, parametrisierte Version der UG, enthält also bereits durch Setzung der Parameter entstandene einzelsprachspezifische Komponenten (Chomsky 1986b: 26, 46). Dieser Bereich ist die Kerngrammatik, das "sprachliche Wissenssystem, wie es durch die UG festgelegt wird" (Haider 1993b: 635). Da die I-Sprache als internalisiertes, im Gehirn repräsentiertes Wissen der gesamten Sprachverwendung zugrunde liegt, kann sie nicht auf die Kerngrammatik beschränkt sein, sondern muß auch die Peripherie umfassen. So jedenfalls interpretiere ich Chomskys (1986b: 46) Bemerkung, daß die I-Sprache als ein Regelsystem jedem wohlgeformten Ausdruck eine Struktur zuweisen können muß. In der Peripherie befinden sich die Phänomene, die nicht durch die UG-Prinzipien gesteuert werden, etwa "durch Normierung konservierte historische Relikte, nicht systemkonforme Entlehnungen und Erfindungen, z.B. aus der poetischen Verfremdung sprachlicher Mittel" (Haider 1993b: 635). Haider (1993b: 636) nennt als Beispiele für die deutsche Peripherie: subjektslose Verben mit Akkusativobjekten (gelüsten, schaudern) oder Verben mit doppelten Akkusativobjekten (lehren, abfragen). Vorausgesetzt, daß die Kompetenz eines native speakers auch periphere Formen wie die genannten einschließt, folgt, daß die I-Sprache aus Kerngrammatik und Peripherie besteht. Da der Begriff von I-Sprachen/Grammatiken durch das involvierte Epitheton 'intern' auf Individuen eingeschränkt ist, eignet er sich m.E. dann nicht, wenn es um konkrete Sprachen geht, die ja im Normalfall mehreren Sprechern gemeinsam sind.3 Genau genommen gibt es so viele I-Sprachen wie tatsächliche Sprecher auf der Welt - nach Chomsky/Lasnik (1993: 507) steht "I" fur intern, individuell (und intensional) - und die ideale Forschungssituation ist bei enger Auslegung der generativen Begrifflichkeit und ihrer Implikationen eigentlich die, bei der ein Sprachwissenschaftler genau einen Sprecher - ob letzterer mit ersterem identisch ist, steht dabei nicht zur Debatte - als Forschungsgegenstand hat. Dies ist natürlich eine reichlich absurde Vorstellung. Auch eine Formulierung wie 'Deutsch, Englisch etc. sind I-Sprachen' scheint mir eine contradictio in adjecto zu sein, obwohl selbstverständlich nicht zu leugnen ist, daß in den Köpfen von Deutsch-, Englisch-Sprechern usw. ausschließlich und notwendigerweise I-Grammatiken vorhanden sind. Der Begriff I-Sprache ist also ebenso problematisch wie der Begriff Ε-Sprache, gegen den Chomsky (1986b: 19ff.) zurecht argumentiert. Aus diesem Grund plädiere ich für den traditionelleren Begriff 'natürliche Sprache', der notwendig und hinreichend durch das oben genannte Kriterium des Primärspracherwerbs (erworben als Erstsprache mit allen 3

Daher es auch sowas wie konsensuelle Normierung von individuellen I-Sprachen geben wird.

3 Implikationen daraus) expliziert ist (hinfort Ll-Kriterium genannt). Man kann es auch so sagen: Natürliche Sprachen sind Ε-Sprachen (externe Sprachen), da spatio-temporal lokalisierbar, die aber "extensional identisch mit einer I-Sprache sind, und zwar in dem Sinne, daß die Ε-Sprache ein Derivat der I-Sprache ist" (Fanselow/Felix 1,46). Ε-Sprachen sind im Grunde der Output von I-Sprachen. 4 Nicht-natürliche Sprachen sind Sprachen, die das Ll-Kriterium nicht erfüllen, obwohl sie sonst alle Eigenschaften, die jemals mit natürlichen Sprachen in Verbindung gebracht wurden, aufweisen können (ansonsten handelte es sich um unnatürliche, künstliche Sprachen, und zu diesen gehören z.B. sämtliche formalen Sprachen der Logik, Computersprachen, Welthilfssprachen etc., cf. Lyons 1991: 50f.). Der Unterschied von natürlichen und nicht-natürlichen Sprachen besteht also allein darin, daß erstere natürlich erworben werden und letztere nicht (sondern z.B. auf Schulen, also instruktivistisch, und dann auch häufig noch im Zusammenhang mit Schreiben- und Lesenlernen). Es liegt auf der Hand, daß Grammatiken natürlicher Sprachen ganz anderen Bedingungen unterliegen als diejenigen nicht-natürlicher Sprachen. Da natürliche und nicht-natürliche Sprachen zunächst nur anhand des LI-Kriteriums divergieren, ist zu erwarten, daß letztere ebenfalls Derivate von I-Sprachen sind, wenn auch nicht unmittelbare wie natürliche Sprachen. Aus diesem Grund (und um den in diesem Kontext reichlich irreführenden Begriff 'nicht-natürlich' zu vermeiden) werde ich fortan folgende Terminologie verwenden: (A) (B)

Nl-Sprachen (sprich: natürliche Sprachen erster Ordnung) sind unmittelbare Derivate von I-Sprachen, die das Ll-Kriterium erfüllen. N2-Sprachen (sprich: natürliche. Sprachen zweiter Ordnung) sind mittelbare Derivate von I-Sprachen, die das Ll-Kriterium nicht erfüllen.

Nl-Sprachen im definierten Sinne entsprechen partiell dem Natürlichkeitsbegriff 3 bei Lyons (1991: 60f.), worunter er natürliche Sprachen "acquired [or acquirable] by [their] users as a normal part of the process of maturation and socialization" subsumiert. Das entscheidende Kriterium ist allerdings nicht, ob sie potentiell erwerbbar sind, sondern ob sie tatsächlich erworben werden. Denn das ist j a gerade die differentia specifica zu ^ - S p r a chen, die per definitionem so organisiert sind, daß sie auch als Primärsprachen erwerbbar sein können müssen. Daher ist nicht auf Lernbarkeit einer Sprache Nachdruck zu legen, sondern auf den Punkt, ob sie tatsächlich von einer signifikant großen Anzahl von Sprechern als Muttersprache erworben wird. Und dies ist, wie oben betont, empirisch wohl überprüfbar. N2-Sprachen sind klassischerweise Standardsprachen wie z.B. das Hochdeutsche, für die gesellschaftlich anerkannte Normen existieren, an denen man sich in bestimmten Kontexten orientieren muß. Am Beispiel des Hochdeutschen wird der genauere Status von N2-Sprachen noch zu diskutieren sein.

4

Vgl. auch Stechow/Stemefeld (1988: 29): "Bei näherer Betrachtungsweise verflüchtigt sich nämlich der Gegensatz von E- und I-Sprache weitgehend."

4 Es dürfte aber an dieser Stelle schon klar sein, daß Nl- und N2-Sprachen aufgrund der benannten Differenz unterschiedlichen Restriktionen unterliegen. N2-Sprachen sind, nebenbei gesagt, nicht identisch mit sog. toten Sprachen wie das Lateinische, Altgriechische oder Althebräische, fur die zwar derzeit kein native speaker und daher auch kein möglicher Bezug zu I-Grammatiken mehr existiert, unfraglich aber in vergangener Zeit existiert hat. Man könnte Sprachen dieser Art auch N3-Sprachen nennen. Wie das Beispiel des Hebräischen eindrücklich zeigt, können aus N3-Sprachen ohne weiteres wieder Nl- (oder N2)-Sprachen werden, wenn sie erneut dem Spracherwerb unterworfen werden.5 Allgemeinstes Kennzeichen von N3-Sprachen ist das Fehlen von Sprachwandel, sie sind absolut statisch und entwickeln sich nicht mehr. Hierin verhalten sich N2-Sprachen anders, die durchaus und - wie im nächsten Abschnitt gezeigt werden soll - z.T. sogar in größerem Ausmaße als Ν1-Sprachen wandlungsfähig sind (in anderen Bereichen aber sind sie weit konservativer als diese).6 Die bisher explizierten Annahmen über verschiedene Natürlichkeitsgrade von Sprachen implizieren, daß Ν1-Sprachen den vorzüglichen Gegenstand einer generativen Syntax darstellen. Weitere Argumente dazu finden sich im folgenden sowie im Abschnitt 2. Gegenstand und Methode. Ansonsten ist festzustellen, daß innerhalb der generativen Grammatik kaum Sensibilität für dieses fundamentale Problem besteht. Daher will ich sozusagen als raren Fund - eine Stelle aus Abraham (1995: 391, Anm. 5) zitieren, die mit meinem Plädoyer für "ersterlernte Sprechsprachen" partiell übereinkommt, auch wenn ihr Anspruch weniger weit reicht: Die gewachsene, ersterlemte Sprechsprache mit ihren Substandardztlgen ist aus methodischen Gründen als linguistisches Analyseobjekt zumindest neben, wenn nicht über die Schriftsprache zu stellen. Letztere ist besonders im Deutschen nicht nur präskriptiv normiert und sprachwandelhemmend. Vielmehr ist nur die Sprechsprache das Eingangsmaterial für Sprachwandel, Gegenstand soziolektischer Varianz - bei dem vor allem (nach Labov) Sprachwandel einsetzt - sowie Gegenstand von Pidginisierung, Kreolisierung und Sprachbundverallgemeinerung. Letztlich und deswegen erlaubt alleine die erstsprachlich erworbene Sprechsprache saubere Akzeptanz- und Grammatikalitätsurteile der Sprecher, ohne daß inkonsequente normgrammatische Züge unverstanden, d.h. konzeptuell unintegriert übernommen werden.

1.1.2. Natürlicher vs. seminatürlicher Sprachwandel Mit der Differenzierung von Nl- und N2-Sprachen ließe sich eine weitere begriffliche Unterscheidung etablieren, die mir für eine Theorie des Sprachwandels nicht ohne Belang zu sein scheint. Ich meine den Unterschied zwischen Prozessen, die im Sinne der GB-Theorie als 'natürlich' bezeichnet werden können, und solchen, die eine 'außersprachliche' Ursache (z.B. eine bewußte Normsetzung) haben. Mit anderen Worten, mit dem Begriff der N25

6

Comrie (1990: 968): "Hebrew, a rare example of a dead language revived as a community's normal means of communication, has about 3 million native speakers in Israel." So existiert im Standardneuhochdeutschen, wie in vielen anderen Standardsprachen, in denen sich die Lautung nach der Schreibung richtet, faktisch kein Lautwandel mehr.

5 Sprache ließe sich endlich auch der Begriff der Normierung in einer vernünftigen Weise in die Theorie integrieren. Derzeit gilt noch Albrechts (1994: 213) Feststellung: "Daß Eingriffe dieser Art überhaupt auf längere Zeit erfolgreich sein können, stellt für 'Systemlinguisten' älterer und neuerer Prägung ein Skandalon dar." Die generative Grammatik befaßt sich - so eine Standardauffassung (cf. Stechow/Sternefeld 1988) - in erster Linie mit den tieferliegenden Prinzipien der Grammatik, die als zur biologischen Ausstattung des Menschen gehörend gedacht werden. Bei dieser Betrachtungsweise sind sprachliche Fakten tatsächlich weniger relevant, interessant sind sie "nur insofern, als sie wichtige grammatische Prinzipien illustrieren" (Stechow/Sternefeld 1988: 4). Salopp formuliert: Es geht v.a. darum, was in unseren Köpfen ist, und nicht darum, was aus dem Mund kommt. Diese Beschränkung ist an und für sich gerechtfertigt. Es sollte aber nicht vergessen werden, daß auch die nur auf Prinzipien erpichten Linguisten derzeit noch keinen direkten Zugang zu ihnen haben und daher auf das angewiesen sind, was aus dem Mund kommt (Stichwort: "the judgments of native speakers", Chomsky 1986b: 36). Oder etwas seriöser formuliert: Eine Theorie natürlicher Sprachen, die nicht auf einer breiten empirischen Basis beruht, ist notgedrungen spekulativ (Haider 1995: 121), und das ist die generative Grammatik selbstverständlich nicht. Daneben existiert aber auch ein Teil der generativen Grammatik, der sich mit den konkreten Sprachen zugrunde liegenden Prinzipien befaßt. Eine generative Syntax des Deutschen wie die von Grewendorf (1988), Haider (1993) und Abraham (1995) oder meine eigene Arbeit zum Bairischen muß natürlich in einem viel stärkeren Maße auf sprachliche Daten zurückgreifen. Von daher sind folgende Überlegungen vielleicht doch nicht ganz irrelevant für eine generative Grammatik. In der Prinzipien&Parameter-Theorie wird Syntaxwandel "im allgemeinen verstanden als Reinterpretation von Daten beim Spracherwerb, i.e. das sprachlernende Kind abduziert aus einem sprachlichen Input X eine Grammatik, die sich von derjenigen des erwachsenen Sprechers unterscheidet" (Demske-Neumann 1994: 21f.).7 Diese u.a. von Anderson (1973) und Lightfoot (1991) vertretene Auffassimg ist verschiedentlich und m.E. zurecht kritisiert worden (cf. Weerman 1993: 904f.), worauf aber noch nicht weiter eingegangen werden soll, weil die Frage des starting point von Syntaxwandel in unserem Zusammenhang zunächst keine Rolle spielt.8 Unkontrovers ist dagegen, daß es zwei Typen syntaktischen Wandels gibt: (1) Neusetzung eines Parameterwertes und (2) Reanalyse, d.h. "eine syntaktische Umdeutung, bei der ein- und derselben linearen Abfolge von Morphemen eine andere Struktur zugeordnet wird" (Demske-Neumann 1994: 23f.). Als Beispiel einer Reanalyse wird bei Demske-Neumann (1994: 24f.) der Abbau unpersönlicher Konstruktionen im Deutschen angeführt. (la) 7

8

m i c h ^ hungarit

Vgl. auch Leneiz (1995a). Eine Theorie des Sprachwandels wie die von Harris/Campbell (1995) ist umfassender und daher der Sprachenrealität angemessener, weil sie auch gängige Prozesse wie Entlehnung (borrowing) etc. berücksichtigt. Wäre der Primärspracherwerb die einzige Quelle syntaktischen Wandels, hätte es im (Früh)Nhd. keinen geben dürfen, da es nicht als Primärsprache erworben wurde (s.u.).

6 (lb)

daz k i n t ^ hungarit

Der Abbau der Kasusmorphologie im Deutschen - in ihrem Modell ist dies eine Antezedenzbedingung - führt dazu, daß Nominativ und Akkusativ in den meisten Deklinationsklassen morphologisch nicht mehr zu unterscheiden sind, so daß in (lb) die NP daz kint auch als Nom interpretiert werden kann, aus der unpersönlichen wird also eine persönliche Konstruktion. In einem weiteren Schritt wird dann auch das Pronomen nominativisch realisiert: (2a) (2b)

daz kint Nom hungarit ich Nom hungere

Diese Erklärung, die den Prozeß auf der strukturellen Ebene, wie wir annehmen wollen, korrekt erfaßt, kann allerdings nicht vollständig sein. Zum einen kann mit ihr nichts darüber ausgesagt werden, warum der Abbau unpersönlicher Strukturen auf das Hochdeutsche beschränkt ist. In einem deutschen Dialekt wie dem Bairischen sind - in diesem speziellen Fall - die morphologischen Verhältnisse identisch mit denen des Hochdeutschen (cf. 3a, b) und trotzdem ist die (2b) analoge persönliche Konstruktion auch heute immer noch ungrammatisch, sofern der Satz die Bedeutung Ich habe Hunger / Ich bin hungrig haben soll (cf. 3 c): (3a) (3b) (3c)

mi hungard s1dndNom/Akk hungard *i hungar

Wenn der Abbau der Kasusmorphologie und der daraus resultierende Kasussynkretismus eine hinreichende Bedingung sein soll, so ist völlig unerklärlich, warum derselbe Prozeß im Bairischen nicht eintritt, wo die Antezedenzbedingung identisch ist. Sie ist also nur eine notwendige Bedingung, wie die unpersönlichen Konstruktionen mit Dativobjekt zeigen, bei denen die geschilderte Entwicklung nicht zu beobachten ist. 9 Um den Akk-NomWechsel in unserem Fall kausal erklären zu können, müßte mindestens ein weiterer Auslösefaktor gefunden werden. Z.B. könnte man durchaus wieder auf die alte Erklärung (cf. Heyse 1849,11: 17; 112) zurückkommen, daß der Änderung der Konstruktion zeitlich ein Bedeutungswandel des Verbs voran- oder doch zumindest einhergeht (und bei dem Beispiel mit hungern scheint mir das auch offensichtlich). Ist dem aber so, dann sind die morphologischen Bedingungen völlig unerheblich. Um nun auch den Begriff der Normierung in die Theorie zu integrieren und damit den Begriff 'Syntaxwandel' weiter zu fassen, möchte ich Syntaxwandel, der allein auf innersprachlichen Prozessen beruht, schlicht als natürlichen Wandel kategorisieren, während bei Veränderungen, bei denen auch außersprachliche Bedingungen (und zwar in der Art von Normierungen) beteiligt sind, von seminatürlichem Sprachwandel die Rede sein soll.

9

Allerdings gilt dies entgegen Demske-Neumann, die sich auf ein unveröffentlichtes Manuskript von Reis bezieht, m.E. nicht uneingeschränkt: cf. mir träumte vs. ich träumte.

7

Natürlicher Sprachwandel im Bereich der Satz- und Phrasensyntax resultiert aus Veränderungen in einzelnen Parametern oder in der Subkategorisierung einzelner Lexeme, durch den Ausfall bzw. die Neubildung bestimmter Lexeme bzw. Lexemklassen oder Morphemklassen.10 Wichtig ist dabei, daß der Wandel als solcher kognitiv nicht zugänglich für die involvierten Sprecher ist, da die zugrunde liegenden Prozesse für sie nicht transparent sind (und sich im Normalfall auch über Generationen erstrecken). Im Unterschied dazu muß qua Normsetzimg entstehender Wandel für die Beteiligten erkennbar sein, da sonst eine Normierung nicht möglich wäre. Darüber hinaus ist sprachlicher Wandel qua Normierung bestimmten und sehr engen Restriktionen unterworfen, es gilt: seminatürlicher Sprachwandel ist (i) (ii) (iii)

UG-konform, und betrifft nur periphere Bereiche und nur N2-Sprachen.

Aus Restriktion (i) erklärt sich die Bezeichnung 'seminatürlich': Normativen Eingriffe dürfen den Vorgaben der UG nicht widersprechen und sind daher 'natürlich'; da der auslösende Faktor für den Wandel aber 'außersprachlich' ist, nämlich eine bewußte Setzung eines oder mehrerer Sprachbenutzer, habe ich die Bezeichnung 'seminatürlich' gewählt. Man könnte auch mit Begriffen wie Konvention arbeiten. Restriktion (ii) ist heuristisch zu verstehen, solange es an Untersuchungen mangelt, die den Einfluß der Sprachnormierung auf die Entwicklung von Standardsprachen systematisch unter der hier vorgeschlagenen Perspektivierung erforschen (cf. auch Lenerz 1985). Vermutlich werden Normierungen im wesentlichen in peripheren Bereichen der Syntax vorgenommen, betreffen also die Parameterwerte nicht, da erstere dem bewußten Zugriff zugänglicher sind als die grammatischen Kernbereiche (Stichwort: kognitiv transparent). Für das Deutsche gibt es zahlreiche Beispiele dafür, daß Normsetzungen die Sprachentwicklung determiniert haben. Aus der Phonologie ist zu nennen, daß die "Aussprache nach der Büchersprache" (Zöllner 1791 zit. nach Polenz 1994: 144), die "geredete Graphie" (Moser 1987), seit mehr als 200 Jahren keinen nennenswerten Lautwandel mehr zuläßt." In der Morphologie ist die Restitution der Flexionsendung -e ein augenfälliges Beispiel (cf. Polenz 1994: 254ff.). In der Satz- und Phrasensyntax sind mögliche Kandidaten: der artikellose Gebrauch von Eigennamen, der Erhalt des Genitivs, Wegfall der Mehrfachnegation (s.u.) oder von VI(Aussage-)Sätzen, das Verbot der Doppelbesetzimg der COMP-Position (sog. DFCF)12 10

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Im Grunde sind unter natürlichen Syntaxwandel all die strukturell relevanten Prozesse zu subsumieren, die z.B. in der Theorie von Harris/Cambpell (1995) erfaßt werden. Polenz (1992: 153): "Die starke Schriftabhängigkeit hat bis heute zur Folge, daß nach der frühnhd. Umstrukturierung und der zunehmend rigoros betriebenen Standardisierung des Graphem-, Phonem- und des Flexionssystems kaum wirkliche Systemveränderungen [...] zu erwarten sind". Vielleicht ließe sich hier auch das Reis'sche Dilemma lösen. Im Bairischen z.B. verhindert ein optional tilgbares daß in eingebetteten wh-Fragesätzen Verbbewegung nach C" (cf. i), während sie in Matrixsätzen möglich ist, weil C e nicht mit daß besetzt ist (cf. ii): (i) i woas aa ned, wea (daß) iatz keema is (ii) Wea is iatz keema? Für einen Versuch in dieser Richtung vgl. Kapitel Π, Abschnitt 2.1.1.

8 usw. (Stilistische) Normierung auf syntaktischer Ebene läßt sich z.B. bei der Ausklammerung (Plazierung von Satzgliedern im Nachfeld) belegen: In einer Untersuchung zu den Verhältnissen in Nürnberg (cf. Ebert/Reichmann/Solms/Wegera 1993: 43 5f.) zeigt sich, daß - in Neben- und Hauptsätzen - sie im 16. Jh. "in Kanzleischriften nur sehr selten" vorkommt, während in den "Zeugnissen der Individuen [...] im allgemeinen die Häufigkeit der Ausklammerung" zunimmt. Im Kontrast zur normativen 'Ausdünnung' der Ausklammerung im Standarddeutschen zeigt sich z.B. im Jiddischen eine Zunahme derselben, die im Ostjiddischen offenbar sogar zu einem "Verzicht auf die Satzklammer" (Polenz 1992: 298) geführt hat. Im Ostjiddischen - der Grundlage der heutigen jiddischen Literatursprache - sind Sätze wie (4a-c) üblich: (4a) (4b) (4c)

er sucht ois a buch er hot oisgsucht a buch wen er hot oisgsucht a buch (zit. nach Polenz 1992: 202)

Diese Entwicklung ist so weit gegangen, daß im modernen Jiddischen zwei Grundstrukturen existieren: eine verbinitiale (VO) und eine verbfinale (OV) (Santorini 1993). Die Normierung ist aber nicht der Grund, warum im Neuhochdeutschen diese Entwicklung ausgeblieben ist: Das Bairische, das keiner Normierung unterlag, weist zwar gegenüber dem Standarddeutschen häufiger Ausklammerungen auf, hat aber trotzdem nicht wie das Jiddische eine VO-Struktur ausgebildet. 13 Restriktion (iii) leitet sich aus dem LI-Kriterium her: Normierung als Sprachmanipulation funktioniert nur (oder zumindest besser) bei Sprachen, die nicht als Erstsprachen erworben werden, weil die Durchsetzung der Norm der (bewußten wie unbewußten) Instruktion (z.B. in Lehrbüchern, Schulen, Medien etc.) bedarf. Daher ist sie bei ^ - S p r a chen zumindest wahrscheinlicher. Ν1-Sprachen wie die deutschen Dialekte, die ja nicht in der Schule vermittelt werden und in den Medien in der Regel ein Randdasein fristen, können aus diesem Grund nicht erfolgreich normiert werden (und wurden es auch nie). Ihrer Tendenz nach sind normative Eingriffe entweder konservatorisch oder innovatorisch. An der Entwicklung der Negation im Deutschen (vgl. Kapitel IV) soll die vorgestellte Begrifflichkeit illustriert werden. Im Mhd. gab es zwei Negationstypen: (5a) (5b)

ich entuons nieht Daz es kein edele herze enbirt (Tristan, 117)

Aus Typ 1, der diskontinuierlichen Negation en- ... nieht, die seit dem 12. Jh. die reguläre Verneinung darstellt (Paul/Moser/Schröbler/Grosse 1982: 413), hat sich im (Früh-)Neuhochdeutschen (cf. Ebert/Reichmann/Solms/Wegera 1993: 426f.) (und in den rezenten deutschen Dialekten) die einfache Satznegation mit nicht entwickelt (cf. Grewendorf 1990), aus Typ 2 ist die nur in deutschen Dialekten noch vorfindliche doppelte Negation mit kein+NP... nicht entstanden. Beide Entwicklungen sind natürlich, sie resultierten aus

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In einer isolierten bairischen Varietät, dem Mochenischen, das im trentinischen Val Fersina gesprochen wird, zeigt sich aber die gleiche VO-Tendenz, vgl. Kapitel Π Abschnitt 2.2.1.

9 dem Wegfall des Morphems en/n-. Nicht natürlich, sondern bedingt durch explizite Normierung ist dagegen, daß es im Neuhochdeutschen die Möglichkeit der doppelten Negation nicht mehr gibt. Es war der 'Einfluß der Grammatiker' insbesondere des 18. Jhs., die aus logischen oder stilistischen Gründen die doppelte Negation verworfen haben, Μ Als Beispiele seien die entsprechenden, recht kategorischen Bestimmungen Gottscheds und Adelungs zitiert: Die verdoppelte Verneinung, die noch im vorigen Jahrhundert bey guten Schriftstellern gewöhnlich war, um desto stärker zu verneinen; muß itzo in der guten Schreibart ganz abgeschaflet werden (Gottsched 1762: 500) Im Hochdeutschen ist diese Verdoppelung der Verneinung fehlerhaft (Adelung 1782: 468)

Sprachmanipulation dieser Art funktioniert, wie wir wissen, bestens, umso mehr, wenn sie eine N2-Sprache wie das Hochdeutsche betrifft, die nicht dem LI-Kriterium unterworfen ist (ausführlicher dazu unten). Gottsched und seine Zeitgenossen waren sich der Tatsache durchaus bewußt, daß ihre Bestimmungen nur für die "Schreibart" Geltung hatten. Der Wegfall der doppelten Negation ist ein Beispiel für seminatürlichen Sprachwandel, da er einerseits nicht gegen Prinzipien der UG verstößt, andererseits aber auch nicht durch sprachinterne Faktoren motiviert ist. Normierung ist, wie das Beispiel des Verbots der doppelten Negation zeigt, ein Spezialfall der bewußten Selektion: Aus einem gegebenen Reservoir mehrerer Varianten wird eine oder mehrere ausgewählt und zur Norm erhoben, während der verbleibende Rest als Regelverstoß ausgesondert wird. Neben bewußter Selektion gibt es natürlich auch Fälle unbewußter (und vielleicht auch halbbewußter) Selektion. Unbewußt ist nicht unbedingt identisch mit nicht-intentional, es meint aber soviel wie das Zustandekommen einer 'Norm' oder 'Regel' (also die Auswahl einer Variante), ohne daß die Sprachbenutzer die Norm- oder Regelsetzung explizit intendieren (also etwa im Sinne einer Invisible-handTheorie, vgl. Keller 1994: insbes. 95-109). Bei N2-Sprachen halte ich es durchaus für sinnvoll, den Begriff Konvention, wie Lewis (1969) ihn definiert hat, selbst auf der syntaktischen Ebene zu verwenden. Nach Lewis (1969: 42) ist - vereinfacht wiedergegeben eine Regel R genau dann eine Konvention, wenn jeder R befolgt und von allen andern dasselbe Verhalten auch erwartet, ohne daß explizite Absprachen und in einem strikten Sinne intentionales Verhalten vorlägen. Nach dieser Handlungslogik sind m.E. zumindest einige syntaktische Phänomene des Hochdeutschen entstanden. Insbesondere fur das Verschwinden der doppelten Negation scheint mir eine Konventionsbildung verantwortlich zu sein. Die Negation ist vielleicht nur ein marginales Beispiel, es verdeutlicht aber die differierenden Mechanismen der beiden Typen des Sprachwandels. Interessant für unseren Zusammenhang ist die Unterscheidung, weil sie die theoretische Erfassung der unterschiedlichen Entwicklungsmöglichkeiten von Dialekten (Nl-Sprachen) und Standardsprachen 14

Nach Polenz (1994: 267) wurde die doppelte Negation "seit dem Humanismus nach lat. Vorbild zurückgedrängt mit der logischen Auffassung, daß zwei Verneinungen nicht verstärken, sondern aufheben".

10 (N2-Sprachen) erlaubt. Die historische Entwicklung eines Dialektes ist Produkt eines Prozesses natürlichen Sprachwandels, in dem sprachexterne Norm- und Idealvorstellungen, die bei der Herausbildung von Standard- und Schriftsprachen wie dem Hochdeutschen immer wieder herangezogen wurden, keine Rolle spielten. Diese Feststellung gilt unbeschadet der nun zu besprechenden Interferenzerscheinungen.

1.2. Dialekt vs. Hochsprache: Interferenzen15 Ν1-Sprachen werden als Erstsprachen erworben, weswegen sie für ihre Sprecher im kerngrammatischen Bereich nicht veränderbar sind. Sind die Parameter - so die derzeitige Standardaufifassung - im Verlauf des Spracherwerbs einmal festgelegt, können sie im späteren Leben nicht bzw. kaum mehr verändert werden.16 Das Modell geht mit seiner Homogenitätsannahme (vgl. dazu Lenerz 1995a) etwas an der Realität vorbei, weil nicht berücksichtigt ist, daß jeder Sprecher im Normalfall gleichzeitig über mehrere Register verfugt, zwischen denen zumeist ohne größere Probleme geswitcht wird. Die Kompetenz kann somit in Einzelfällen durchaus sehr heterogen sein: Nimmt man - um ein beliebiges, aber nicht abwegiges Beispiel zu konstruieren - jemanden, der um 1960 irgendwo in Bayern auf dem Lande geboren wurde, so ist vorstellbar, daß seine Primärsprache eine Varietät des Bairischen ist, die eben in der betreffenden Region gesprochen wird, er aber - und zwar noch innerhalb der kritischen Phase des Spracherwerbs - über Schule (und Fernsehen, Bücher etc.) auch eine (beliebige) Standardvarietät des Hochdeutschen erwirbt.17 Man wird, glaube ich, so jemanden kaum als zweisprachig bezeichnen, da mundartliche und Standard-Grundlage der Kompetenz aufgrund ihrer nahen historisch-genetischen Verwandtschaft keinen echten Bilingualismus darstellen (Felix/Kühl 1982).18 Seine Kompetenz ist aber auch nicht einfach oder präziser: nicht allein die eines Nur-Bairisch- oder Nur-Hochdeutsch-native-speakers, man muß eher davon ausgehen, daß sie beides (mit zahlreichen Zwischenstufen) umfaßt. Dieser "ominöse mittlere Bereich (...) zwischen Dialekt und Standardsprache" (Mattheier 1990: 2) ist es vorzüglich, in dem es zu Interferenzerscheinungen kommt, die dann Sprachwandel in den beiden Polen bewirken können (Abraham/Bayer 1993). Einerseits 15

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In dieser Arbeit wird darauf verzichtet, definitorisch zwischen Dialekt/Mundart und Sprache zu unterscheiden, weil dies mit linguistischen BegrifQichkeiten nicht zu leisten und in unserem Zusammenhang allein die Nl-/N2-Scheidung ausschlaggebend ist. Ansonsten gelte die Definition Uriel Weinreichs: "Eine Sprache ist ein Dialekt mit einer Armee und einer Flotte" (nach Pinker 1996: 33). Cf. Chomsky/Lasnik (1993: 506f.): "in the normal course of development it [the language faculty] passes through a series of states in early childhood, reaching a relatively stable state that undergoes little subsequent change, apart from the lexicon." Zur Sprachsituation in Bayern vgl. König et al. (1991), Zehetner (1985). Soweit ich die Literatur überblicke, ist dies die Standardmeinung. Allerdings sollte man bedenken, daß einerseits der Abstand zwischen Bairisch, Alemannisch etc. und Hochdeutsch nicht weniger gering ist als z.B. zwischen Deutsch und Niederländisch und daß andererseits die beiden letzteren Sprachen ebenfalls historisch nahe verwandt sind (daraufhat mich Prof. Brekle (p.c.) aufmerksam gemacht).

11 existieren nämlich Einflüsse vom Dialekt auf die gesprochene Standardsprache: Daraus erklärt sich z.B. das bekannte Phänomen, daß Nord- und Süddeutsche ein teilweise unterschiedliches Hochdeutsch als Standardsprache reden.19 In der Soziolinguistik ist für dieses Phänomen der Terminus Standardsprechsprache gebräuchlich, zu der auch der sog. 'Regionalakzent* gerechnet wird, also die dialektgesteuerte Ausprägung derselben (Mattheier 1990). Als Interferenzerscheinung aus Dialekten bzw. dialektnahen Umgangssprachen ist m.E. auch zu verstehen, daß im modernen (gesprochenen) Hochdeutschen neben we//-Sätzen mit V/E(nd)-Stellung auch solche mit V/2-Stellung existieren. Diese Konstruktionen sind im Bairischen weit veibreitet (6a), finden sich aber auch in den anderen deutschen Dialekten, z.B. im Sächsischen (6b):20 (6a) (6b)

wa des hod bloadan gwoafa (Kollmer ΠΙ, 72) Saue nich ales ain, wail ich mus'es wider reene machen (Leipzig 1959)

Auf der anderen Seite fuhrt der Einfluß der Standardsprache dazu, daß Dialekte sich verändern. Im Extremfall kann es zum Dialektabbau kommen (Mattheier 1990), muß es aber nicht. In Kapitel V Abschnitt 2.2. wird der Ausbau der bairischen Infinitivsyntax in diesem Sinne analysiert, d.h. daß ein Satz wie (7b) unter Einfluß des Hochdeutschen (cf. 7c) die ältere Konstruktion (7a) verdrängt. (7a) (7b) (7c)

fang s'spein an fang zum spein an fang zu spielen an

Dies ist aber kein Dialektverfall, sondern ein natürlicher Sprachwandel, der m.E. auch nicht mit dem höheren Prestige des Standards erklärt werden kann, weil er den Sprechern kognitiv gar nicht zugänglich ist. Im vorliegenden Fall bleibt zudem das dialektspezifische zum erhalten. Worauf es in unserem Zusammenhang in erster Linie ankommt, ist, daß Dialekte aus den bereits genannten Gründen die prototypischen Nl-Sprachen sind. Sie werden als Primärsprachen erworben und nicht - wie in hohem Maße die Standardsprachen - durch Schule, Medien oder ähnliches vermittelt. Präskriptive Eingriffe gibt es ebenfalls nicht (s.o. Ausbau der Infinitivsyntax). Die Erkenntnis, daß Dialekte die 'regelmäßigeren' bzw. 'natürlicheren' Sprachen sind, hatten schon die Junggrammatiker: An dem Mangel ausnahmslos durchgreifender Lautgesetze bemerkt man recht klar, daß unsere Schriftsprache keine im Munde des Volkes lebendige Mundart, keine ungestörte Weiterentwicklung der älteren Sprachform ist. Unsere Volksmundarten pflegen sich als sprachlich höher ste-

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Eine bekannte syntaktische Eigenheit norddeutscher Sprecher ist das sog. Preposition-Stranding wie in (i). Dieses Phänomen fehlt bei süddeutschen Sprechern. (i) da kann ich nichts mit anfangen Zu w//-Sätzen mit V/2-Stellung vgl. Günthner (1993), Keller (1993) und Wegener (1993), der Beispiel (6b) entnommen wurde. Bei Kollmer m ist das Verhältnis von V/E- und V/2-Stellung 77zu41.

12 hende, regelfestere Organismen der wissenschaftlichen Betrachtung darzustellen als die Schriftsprache. (Schleicher 1860: 170)

1.3. Exemplifizierung der Begriffe: Hochdeutsch vs. Dialekte Bevor es zu terminologisch-trocken oder zu unübersichtlich wird, will ich ein konkretes Beispiel nennen, aus dem der tatsächlich nicht triviale Unterschied zwischen Nl- und N2Sprachen und deren Verhältnis zueinander erhellt. Die Ausbildung der Grammatik des Neuhochdeutschen vollzog sich in den hierfür entscheidenden Jahrhunderten, nämlich ca. 15.-18. Jahrhundert, als Schreibsprache und - wenn man von den Benutzern her argumentiert - als sekundär erworbene Gebrauchssprache. Das Nhd. war also über Jahrhunderte hinweg keinesfalls eine Ν1-Sprache, die von einer signifikant großen Zahl von Menschen im damaligen deutschsprachigen Gebiet als Erstsprache erworben worden wäre, es war eine Sprache ohne Sprecher. Peter v. Polenz (1991: 153) spricht - die neuere Forschung zusammenfassend - sogar von einem "teilweise künstliche[s](n) nhd. Sprachsystem". Selbst um 1800 wurde das Nhd. "wahrscheinlich nur von einer kleinen, vorrangig dem Bildungsbürgertum und dem Adel entstammenden Gesellschaftsgruppe aktiv gebraucht, darüber hinaus jedoch in weiten Kreisen nur passiv beherrscht" (Schmidt 1993: 134). Es ist zu vermuten, daß auch jene, die sich als Erwachsene aktiv des Hochdeutschen (schriftlich oder mündlich) bedienten, diese nicht als Muttersprache (d.i. Nl-Sprache) erworben haben. Denn im 18. Jahrhundert haben z.B. selbst die gebildeten Eliten - die Träger der deutschen Schriftsprachen-Entwicklung - das Hochdeutsche noch "mit regionaler Lautung gesprochen" (v. Polenz 1994: 202): Schiller hatte in Mannheim beim Vorlesen eines seiner Dramen Mißerfolg wegen seiner schwäbischen Aussprache. Ein Vortrag des Schweizers Lavater ist 1774 in Bad Ems kaum verstanden worden. Landschaftliche Aussprache nach der Herkunft ist auch von dem Schwaben Wieland, dem Ostpreußen Herder, dem Frankfurter Goethe bezeugt. Bei Goethe und Schiller finden sich regionalsprachlich bedingte unreine Reime wie Philosophie : Müh, Götter : Blätter, Sträuche : Teiche, genug : Geruch, Ach neige, du Schmerzensreiche [...] (v. Polenz 1994: 203)

Diese anekdotischen Berichte sind eine klare Evidenz dafür, daß die Sprech- und Schreibkompetenzen bei ein und denselben Leuten offenbar noch weitgehend getrennt waren. Zudem ist "gehobenes, überregionales Sprechen noch bis ins 19. Jh. nur von einer dünnen gebildeten Oberschicht, und auch nur in bestimmten ständisch, professionell und öffentlich relevanten Kommunikationssituationen beherrscht worden" (v. Polenz 1994: 225, Hervorh. von mir). Die dreifache Beschränkung des Nhd. auf eine (kleine, aber wichtige) soziale Gruppe und v.a. auf spezielle Kontexte mit irgendwie öffentlicher Relevanz sowie vorwiegend auf das schriftliche Medium zeigt eindrucksvoll, daß das Standardhochdeutsche um 1800 noch keine Nl-Sprache war. Wiesinger (1985) zufolge wurde im 17. und 18. Jahrhundert in Deutschland in allen Schichten Dialekt oder eine Umgangssprache gesprochen, die als Dialektvarietät zu gelten hat. Er verweist auf eine aufschlußreiche Notiz aus der Jenaer Allgemeinen Litteratur Zeitung von 1796, in der berichtet wird, daß in Hamburg selbst "die Kinder der Vornehmen

13 früher Plattdeutsch als Hochdeutsch lernen" (Wiesinger 1985: 1640). Hochdeutsch war also lange Zeit eindeutig keine Nl-Sprache, die dem Ll-Kriterium zu gehorchen gehabt hätte, sondern lediglich eine sekundär erworbene N2-Sprache.21 Um 1500 waren es gerade 1-4% der Gesamtbevölkerung (in Städten mehr als 5%), die lesen konnten (v. Polenz 1991: 131), so daß die Verbreitung des Nhd. anfanglich kaum ins Gewicht fiel. Zu Ende des Spätmittelalters verfügten "weit über 90 Prozent" der Bevölkerung nur über eine "Grundschicht regionaler gesprochener Sprache", die sie "im natürlichen' (primären) Spracherwerb in Familie und alltäglicher lokaler/kleinregionaler Umgebung" (v. Polenz 1994: 200) erworben hatten. Die Tatsache, daß das Neuhochdeutsche als Schriftsprache entstand, die keine immittelbare gesprochene Grundlage hatte, haben Sprachhistoriker immer wieder betont: Wir haben früher dargestellt, wie sich ein neues Schriftdeutsch ausgebildet hatte, das mit keiner deutschen Mundart übereinstimmte. Niemand hatte anfangs dieses Deutsch gesprochen, und auch an seinen schriftlichen Gebrauch mußten sich die Zeitgenossen im Wechsel mehrerer Generationen erst allmählich gewöhnen (Eggers 1977: 56)

Obwohl fast nur Schreibsprache, war das Nhd. dennoch eine N2-Sprache, da es von denjenigen, die - bewußt und unbewußt22 - an der Ausgestaltung des Nhd. beteiligt waren, aufgrund ihrer primär erworbenen Nl-Grammatik geschaffen wurde. In der Forschung, die wie v. Polenz (1991: 116) neuerdings zunehmend die "Inkongruenz zwischen gesprochener und geschriebener Sprache" in der Geschichte des Nhd. betont, werden mehrere Wirkungsfaktoren (zum folgenden vgl. v. Polenz 1991: 180f.) für die Entwicklung des Nhd. angenommen, da die sog. "Aussonderungsentscheidungen" (Selektionen) der Beteiligten "weder willkürlich noch zufällig" waren. Faktoren sind sozio- bzw. geolinguistische Kategorien wie Geltungsareal, Geltungsgrad oder Geltungshöhe einer zur Frage stehenden Komponente, aber auch die "strukturelle Disposition (Festigkeit und Funktionalität innerhalb des betreffenden sprachlichen Teilsystems)" (v. Polenz 1991: 180). So richtig diese Annahmen auch bei den bewußten Aussonderungsentscheidungen sein mögen, berücksichtigen sie doch die unbewußten Interferenzerscheinungen nicht, die in Bereichen des sprachlichen Systems wie der Syntax, die dem bewußten Zugriff weniger bis kaum zugänglich sind, m.E. eine zentrale Rolle in der Konstituierung des Neuhochdeutschen gespielt haben. Das Neuhochdeutsche ist ungeachtet der Tatsache, daß es anfangs zunächst nur eine Schreibsprache gewesen ist, die anderen Entwicklungsbedingungen wie eine Sprechsprache gehorcht hat,23 selbstverständlich auf der Grundlage der deutschen Dialekte 21 22

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Im 18. Jahrhundert gab es noch mehrere Schreibdialekte, cf. Wiesinger (1993). Dies waren zunächst v.a. Kanzleischreiber, nach 1500 zunehmend Drucker, Akademiker, Schriftsteller, Lehrer und Verfasser von Orthographien (cf. v. Polenz 1991: 181). Das 17. und 18. Jh. ist die Zeit der Grammatiker, die wie Johann Christoph Gottsched und Johann Christoph Adelung die Normierung der nhd. Grammatik vollenden und zusammen mit den Schriftstellern dem Nhd. eine wesentlich größere Verbreitung als in früheren Jahrhunderten verschaffen. So ist z.B. eine wichtige Funktion der Schrift, die Komplexitätsschwelle anzuheben, wodurch ungleich komplexere Konstruktionen als in der gesprochenen Sprache möglich werden. Zu diesen und anderen Aspekten des Mediums Schrift vgl. Eichinger (1995a, b, 1996). Zu bedenken ist auch, daß Schreiben und Lesen gegenüber dem Sprechen sekundäre Fähigkeiten sind, die sich anderer motorischer Kanäle (Schreiben) und Sinnesmodalitäten (Lesen) bedienen.

14 konstruiert worden. Die 'Gestalter' des Neuhochdeutschen waren Dialektsprecher, deren primär erworbene Grammatiken ihren Ausgestaltungsprozeß entscheidend und im Bereich der Syntax zumeist unbewußt beeinflußt haben. Interferenzen mundartlicher Gegebenheiten in der schriftsprachlichen Praxis gab es im Frnhd. zahlreich und interessanterweise gerade auch bei Phänomenbereichen, die für eine Verschriftlichung nie in Frage kamen und somit als Garant für die Unbewußtheit der Vorgänge gelten können.24 In Dialekten ist die Klitisierung pronominaler Elemente eine weitverbreitete Erscheinung (cf. Kapitel III), die zudem strengen syntaktischen Restriktionen unterliegt. Die Landestelle für die (schwachtonigen) Klitika ist die sog. WackernackelPosition, die unmittelbar auf C° (d.i. V2- bzw. Komplementiererposition) folgt. Im Frnhd. zeigen sich bei den Schreibern Reflexe dieser Erscheinung, die sich zwar nicht durch verschriftete Klitisierung äußern, aber (1.) in Schreibvarianten, die sich aus den dialektalen Syntaxen erklären. So gibt es z.B. eine charakteristische Varianz zwischen wir und wer, mir und mer bzw. dir und der, die von der Art ist, daß die 'schwachtonigeren' Formen wer, mer bzw. der in der Regel nur in satzunbetonter Stellung auftauchen (vgl. Grammatik des Frnhd. VII: 36, 39, 56) und somit die enklitische Wackernagel-Position der Sprechsprachen widerspiegeln. (2.) ist im Frnhd. auffällig, daß die Ersparung des Subjektspronomens überhaupt möglich ist sowie signifikanterweise vorrangig bei der 2.Ps.Sg., und zwar "besonders häufig in Fällen, wo das Pronomen gewöhnlich [unmittelbar] nach dem Veib steht" (Ebert/Reichmann/Solms/Wegera 1993: 345). Die Verfasser vermuten schon richtig einen "lautlichen Schwund des enklitisch angelehnten du" (ebd.), doch ist dieser wohl eher im gesprochenen dialektalen Substrat zu lokalisieren als im 'Schriftdeutschen'. Dazu paßt auch, daß "häufiges enklitisches -tu [...] erst im 17. Jh. deutlich seltener" (Ebert/Reichmann/Solms/Wegera 1993: 212) in der Schrift verwendet wird. Erscheinungen wie die genannten legen den zwingenden Schluß nahe, daß bei der Ausgestaltung des Nhd. ebenso viele unbewußte Prozesse wie bewußte mit im Spiele waren (daß sie sich in diesen speziellen Fällen nicht durchgesetzt haben, demonstriert andererseits, daß bewußte Reflexion durchaus eine Rolle gespielt hat). Der Einfluß der dialektalen Basis war vermutlich - um ein weiteres Beispiel anzuführen - auch ausschlaggebend für die Abfolgemöglichkeiten in dreigliedrigen Veibalkomplexen (cf. Fritz 1992). Während im modernen Standarddeutschen bei Aufeinandertreffen dreier Verben das Finitum die Endstellung einnehmen muß (cf. 8a), kann es in Dialekten - hier dem Schwäbischen - den Infinitiven auch vorangehen (cf. 8b, c): (8a) (8b) (8c)

daß er ihn nicht kommen lassen will daß er den net will komme lasse daß er den net komme lasse will

Untersuchungen zur Zeitungssprache im 17. Jh. haben gezeigt, daß im frühen Nhd. noch beide Abfolgen vorzufinden sind und daß es im Fall einer in Straßburg wöchentlich

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Für Dialektreflexe im Bereich der Schreibung zeigt dies deutlich Tauber (1993: 17ff.).

15 erscheinenden Zeitung wahrscheinlich ist, daß das Vorherrschen der Abfolge Finitum vor den beiden Infinitiven auf die elsässische Dialektgrundlage zurückgeht (cf. Fritz 1992). Im Bereich der Syntax einer Sprache sind bewußt vorgenommene Normsetzungen, die es in der Geschichte des Nhd. häufig gab, sowieso etwas anders zu bewerten als in den Bereichen Wortschatz oder Phonologie, da hier intentionale Handlungen zumeist unbewußten Vorgaben des mundartlichen Substrats folgten, die Wahlfreiheit somit eingeschränkter war. Bewußte Aussonderungsentscheidungen im strikten Sinn waren - läßt man einmal soziolinguistische oder sonstige pragmatische Bedingungen außer acht - einerseits eine Konsequenz des schriftlichen Mediums: so dürfte die Tatsache, daß die in den Dialekten eminent wichtige Erscheinung der Klitisierung nicht übernommen wurde, dadurch erklärbar sein. Andererseits spielten aber auch logisch-stilistische Argumente eine Rolle (Stichworte: rhetorische Tradition, Humanismus etc.): Die Aussonderung der doppelten Negation aus dem Standarddeutschen, die es in allen deutschen Dialekten gibt und die in der Schriftsprache bis ins 18. Jh. zu finden ist, dürfte z.B. diesem Faktor geschuldet sein (vgl. Kapitel IV). Mit der Nl-N2-Sprachen-Distinktion ließen sich einige, bislang noch unzureichend verstandene Phänomene der Grammatik des Standarddeutschen erklären, wenn man die hier vorgetragenen Annahmen über die Entstehung des Nhd. akzeptiert, was improblematisch sein dürfte, da sie den Konsens der germanistischen Forschungen zur deutschen Sprachgeschichte wiedergeben, und den fundamentalen Unterschied nachvollzieht, der zwischen gesprochenen (dialektalen oder zumindest dialektnahen) Varietäten des Deutschen (N1-Sprachen) und dem Schriftdeutschen (lange Zeit eine N2-Sprache) gemacht wird. Das bereits erwähnte Reis'sche Dilemma oder auch Aspekte der Pronominalsyntax wären u.a. geeignete Kandidaten.

2. Gegenstand und Methode

Die Dialektsyntaxen sind für die generative Grammatik das Untersuchungsgebiet par excellence, weil Mundarten per se Nl-Sprachen sind und daher unmittelbare Derivate einer I-Sprache, "the object under investigation" (Chomsky 1986b: 22). Dialekte sind, wie Benincä (1989: 1) betont, einzigartige 'natürliche' Objekte, die sich völlig unberührt von teilweise extern motivierten Standardisierungs- und Normierungsprozessen entwickelt haben. Bei ihnen fehlt der semi-natürliche Sprachwandel vollkommen, sofern sie nicht wie einst der Londoner Stadtdialekt zufällig zu einer Standardsprache aufsteigen (Pinker 1996: 287). Sie können als Experimente 'in natura' betrachtet werden, an denen sich die Validität einer linguistischen Theorie, zumal der Syntax, zu beweisen hat. Folglich ist auch eine Syntax des Bairischen, wie hier versucht, für die generative Grammatik und nicht nur für die Dialektologie ein interessanter Gegenstand. Es sind also insbesondere zwei Aspekte, die Dialektsyntaxen und -grammatiken auszeichnen: (1) sie sind das Produkt einer rein sprachinternen Entwicklung, und (2) sie wer-

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den unter den natürlichen Bedingungen des Sprachenverbs erworben. Zu diesen Bedingungen gehören als fundamentale Gegebenheiten ein unvollständiges und partiell auch fehlerhaftes Sprachangebot und das Fehlen systematischer Instruktionen und Korrekturen von seiten der Erwachsenen (Bierwisch 1992: 11). Dialekte müssen daher so beschaffen sein, daß sie unter diesen ungünstigen Umständen erworben werden können.25 Und da sie, wie empirisch leicht feststellbar ist, für Kinder eben erwerbbar sind, müssen sie regelmäßige und konsistente Systeme darstellen, die der Lernbarkeitserfordernis Genüge leisten (so neuerdings auch Werlen 1994: 54). So ist z.B. in einem Dialekt wie dem Bairischen die Kasusmarkierung in einem höheren Maße regelmäßig als im Hochdeutschen: in letzterem sind als Ausnahmen im Genitiv Sg. und im Dativ PI. noch echte substantivische Kasusflexionen erhalten geblieben (Wurzel 1996: 507) (cf. 9a), während im Bairischen die isolierende Kasusmarkierung am Artikel nahezu vollständig durchgeführt ist (vgl. Kapitel II Abschnitt 2.2.1.). So existiert der Genitiv als Kasus nicht mehr, und auch die Markierung des Dativ PI. erfolgt, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, am Artikel (cf. 9b). (9a) (9b)

Ich gebe es den Kindern des Lehrers I gib's de Kinda vom Lehra

Ein Kind, das Bairisch als Erstsprache erwirbt, muß folglich in diesem Grammatikausschnitt weniger Ausnahmen lernen als eines, das Hochdeutsch erwirbt. Dialekte sind sowohl im Hinblick auf ihre historische Entwicklung als auch im Hinblick auf ihre Erwerbbarkeit natürliche Objekte. Diese zweifache Natürlichkeit macht die Dialekte zu so interessanten Untersuchungsgegenständen für die Linguistik und insbesondere auch für die Syntaxforschung. Die Reduzierung der Dialektsyntax auf die Syntax gesprochener Sprache und deren Erfordernisse (Löffler 1990: 124ff.), die in der Dialektologie lange Zeit eine ernsthafte Beschäftigung mit ihr verhindert hat, verkennt die Eigenständigkeit und Systematizität mundartlicher Grammatiksysteme. Neben den vielen syntaktischen Phänomenen, die nicht mit Erfordernissen einer Sprechsprache erklärt werden können (so auch A. Weiss 1984: 117) und die - beschränkt auf das Bairische - Gegenstand der folgenden Kapitel sind, spricht der N1-Charakter, also die Tatsache, daß sie Generation um Generation als Primärsprachen erworben wurden und werden, für die Selbst- und Vollständigkeit dialektaler Grammatiksysteme. Wie nämlich das Beispiel der Kreolsprachen besonders eindrücklich belegt, garantiert allein die Tatsache des Spracherwerbs, daß sprachlicher Input - selbst der defektesten Art wie bei Pidginsprachen - in eine vollständige Sprache verwandelt wird, deren Funktionalität in jeder Hinsicht optimal ist (Pinker 1996: 38-42).26 Allein schon aus diesem Grund müssen also Dialekte vollständige und regelmäßige Sprachen sein.

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26

Diese Feststellung gilt nicht nur für Dialekte, sondern für alle Ν1-Sprachen. Die genannten Spracherwerbsbedingungen sind als empirische an sich theorieneutral, d.h. jede Theorie des Spracherwerbs muß sie als Fakten berücksichtigen. Ganz analoge Beobachtungen lassen sich an Gebärdensprachengemeinschaften machen (Pinker 1996: 42-46).

17

Daß Dialekte gesprochene Sprachen sind, ist in einem trivialen Sinne eine korrekte Feststellung, ebenso wie die Folgerung, daß sich aus dieser Tatsache verschiedene Eigenschaften ihrer Syntax ableiten lassen (vgl. zur Syntax gesprochener Sprachen z.B. Haiford 1990). Die meisten Eigenschaften bedürfen aber einer Erklärung, die auf tiefere Ebenen der Grammatik und Syntax zurückgreift: so etwa die schon angesprochene Pronominalklise (s. Kapitel III), für deren Erklärung man ohne Rückgriff auf performanztheoretische, syntaktische und semantisch-pragmatische Aspekte nicht auskommt. Ein so fundamentales Phänomen wie die Stellung nominaler Verbkomplemente korreliert im Bairischen u.a. mit dem Kasussystem, es besteht m.a.W. sozusagen eine innige Verzahnung von Morphologie und Syntax. Die wirklich interessanten Phänomene lassen sich nicht mit dem Verweis auf die Sprechsprachlichkeit einer Sprache erläutern. Und das ist auch nicht verwunderlich, denn das Grammatiksystem einer Sprache hat letztlich nur einen einzigen Zweck, nämlich 'syntaktisch instrumentalisiert' zu werden. Das gesamte morphologische Inventar einer Sprache ist ja nicht Selbstzweck, sondern dient allein der Produktion von Sätzen. Wie Henn (1983: 1276) bereits bemerkte, ist Morphologieforschung ohne den syntaktischen Hintergrund nur sehr eingeschränkt möglich, weil sich z.B. Veränderungen oder intradialektale Varianz nicht immer phonologisch, sondern nur syntaktisch erklären lassen. Schon aufgrund des LI-Kriteriums können Dialekte und ihre Sätze in keiner Weise defekt oder unsystematisch sein: Selbst auf den ersten Blick merkwürdige Erscheinungen wie die angeblich unlogische doppelte Negation haben eine wichtige Funktion im Gesamtsystem und sind keineswegs idiosynkratisch oder gar Indiz fehlender Intelligenz der sich ihr bedienenden Populationen. Wie in Kapitel IV dieser Arbeit dargelegt werden wird, ist gerade die doppelte Negation ein sehr subtiles, höchst komplexes und äußerst faszinierendes Instrumentarium, das bei der Abbildung der semantischen Struktur auf die syntaktische eine eminent wichtige Funktion inne hat, die - ohne vorab zuviel zu verraten - keine verstärkende ist. Die doppelte Negation ist ein so feinsinniges syntaktisches Mittel, daß man fast spekulieren möchte, sie sei von Logikern erfunden worden, setzt ihre Analyse doch Logikkenntnisse unabdingbar voraus. Dialekte sind in jeder Hinsicht genauso leistungsfähig wie Standardsprachen und ihre Syntax als integraler und zentraler Bestandteil - jede Sprache äußert sich in Sätzen! - kann nicht nur auf den Aspekt reduziert werden, daß Dialekte gesprochene Sprachen sind, in deren Satzbau eine 'depravierte' Variante einer 'elaborierten'27 Vorlage zu finden ist. Abgesehen davon, daß man in dieser Auffassung, salopp gesprochen, das Ei mit der Henne verwechselt (siehe Ausführungen in 1.3.), kann sie auch aus den eben genannten Gründen nicht zutreffend sein. Wenn Dialekte über eigenständige Grammatiken verfügen, was wohl keiner leugnen kann, dann haben sie auch eine Syntax, die dieser und nur dieser entspricht. Dialektsyntaktische Phänomene, die von der Standardsprache abweichen, sind systematische Abweichungen, d.h. durch ein unterschiedliches Grammatiksystem bewirkt und in diesem Sinne funktional. Sie sind damit in einem strikten Sinne auch gar keine Abweichungen, sondern schlicht Unterschiede.

27

Man vergleiche zu dieser Problematik Labovs brillante Analyse des Black American English (Labov 1973, 1975).

18

Neben Regelmäßigkeit und Konsistenz zeichnen sich Dialekte durch Ökonomie aus. Diese Eigenschaft ergibt sich zum einen zwingend aus den Erfordernissen des Spracherwerbs: Da ein Kind seine Muttersprache unter extrem ungünstigen Bedingungen (s.o.) erlernt, muß der Lernaufwand minimal gehalten werden. Unabhängig vom Problem, ob eine angeborene UG oder ein Sprachinstinkt, wie ihn neuerdings Pinker (1996) postuliert, existiert oder nicht, wird der Lernaufwand zu einem beträchtlichen Teil dadurch verkleinert, daß die Ausnahmen nicht zu zahlreich sind, weil Ausnahmen immer separat gelernt werden müssen. Wenn wir das Beispiel der Artikelverwendung bei Eigennamen betrachten, das in Kapitel II Abschnitt 3.1. dargestellt ist, wird der avisierte Punkt deutlich: Im Bairischen wird jeder persönliche Eigenname, gleich welcher Klasse, mit dem definiten Artikel konstruiert. Ein Kind braucht also nichts Eigennamen-spezifisches zu lernen, da Eigennamen genauso wie alle übrigen Nomina grammatikalisiert sind (sie verhalten sich in vielem ebenso wie Massennomen). Wie sieht nun der Lernaufwand bei einem Kind aus, das Hochdeutsch als Erstsprache erwirbt: Es muß von selbst merken, ohne daß es wie in der Schule instruiert werden würde, daß Eigennamen manchmal ohne, manchmal auch mit Artikel verwendet werden (z.B. Peter, aber die Donau), daß bei Präsenz eines Attributs der Artikel obligatorisch ist {der kluge Hans) ebenso wie dann, wenn der Eigenname in der Position eines postnominalen Genitivs steht (der Tod des Sokrates). Das Kind muß also m.a.W. herausbekommen, daß Eigennamen eine nominale Sonderklasse darstellen und welches System ihrer Verwendung zugrundeliegt. Letzteres ist angesichts der skizzierten Datenlage vermutlich nicht möglich, so daß anzunehmen ist, daß die vier Verwendungsbedingungen schlicht als Sonderregeln gelernt und gespeichert werden müssen. Selbst wenn ein einzelnes Prinzip hinter der Eigennamenverwendung stünde, wäre der Lernaufwand größer als im Bairischen, weil es dann auf jeden Fall ein Eigennamen-spezifisches wäre. So zeigt sich unter der Perspektive des Spracherwerbs das Bairische in diesem Grammatikausschnitt weit ökonomischer als das Hochdeutsche. Wie schon bei der Kasusmarkierung haben wir auch hier ein Segment, indem es leichter ist, Bairisch zu lernen als Deutsch. Doch auch noch in anderer Hinsicht muß ein Dialekt ökonomisch sein. Er ist als eine gesprochene Sprache ein Kompromiß zwischen Sprechern und Hörern (Pinker 1996: 207ff.).28 Sprecher tendieren z.B. auf der phonologischen Ebene zur Sparsamkeit, um den artikulatorischen Bewegungsaufwand einzugrenzen.29 Doch darf dabei eine bestimmte Schwelle nicht überschritten werden, weil sonst die Äußerung unverständlich würde. Den Erfordernissen des Hörers entspricht daher ein gewisses Maß an Explizitheit und sogar Redundanz, um die Verstehbarkeit zu ermöglichen und zu erleichtern. Man darf annehmen, daß jeder Dialekt ein Kompromiß der ökonomischen Art ist, der den Bedürfnissen des Sprechers und des Hörers angemessen Rechnung trägt. Am offensichtlichsten sind 28

29

Man sollte die Trennung von Sprecher und Hörer nicht zu wörtlich nehmen, da jeder sich selbst beim Reden hört und sich, so ist anzunehmen, auch selbst verstehen will. Außerdem gibt es eine über den Gehörsinn vermittelte, interne Artikulationskontrolle (Pompino-Marschall 1995: 73). Viele lautliche Reduktionen sind jedoch keine artikulatorischen Vereinfachungen: so sind die artikulatorischen Anforderungen etwa bei miasad'e'da wesentlich komplexer als bei müßte ich dir. Jede lautliche Reduktion muß also nicht aus einer "Mundfaulheit' resultieren!

19 solche Kompromisse auf der phonologischen Ebene, doch sie lassen sich auch im syntaktischen Bereich beobachten. So ist z.B. im Baltischen eine recht extreme Formenreduktion bei den Artikeln im Sg.mask. gegeben (cf. Kapitel II Abschnitt 2.1.1.), die zumindest partiell auf die angesprochene Tendenz zur Sprecherleichterung zurückzufuhren ist. Im Extremfall kann eine NP vier verschiedene Bedeutungen haben, wie in (10) dargestellt, weil die Formen des definiten und indefiniten Artikels im Dativ und Akkusativ gleich lauten: (10)

(a)n Hund 1. dem Hund 2. den Hund 3. einem Hund 4. einen Hund

Dies stellte den Hörer vor eine schwierige Verständnishürde, gäbe es nicht einen Ausgleich in einem anderen Bereich. Im konkreten Fall ist es so, daß die Wortstellung auf der Folie der Thema-Rhema-Gliederung die Interpretation eines Satzes wie (IIa) eindeutig festlegt, d.h. garantiert, daß der Satz als (IIb) und nicht als (11c) verstanden wird. Eine Inversion der Objekte wie in (12a) hat demgemäß zur Folge, daß der Satz eine andere Bedeutung hat, obwohl außer der Umstellung nichts verändert wurde (cf. 12b vs. c). (IIa) (IIb) (11c)

I hob an Hund an Knochn geem Ich habe dem Hund einen Knochen gegeben *Ich habe dem Hund den Knochen gegeben

(12a) (12b) (12c)

I hob an Knochn an Hund geem Ich habe den Knochen dem Hund gegeben *Ich habe den Knochen einem Hund gegeben

Da ein Disambiguierungsmittel existiert, ist die Reduktion der Artikelformen bis zur Nichtunterscheidbarkeit erlaubt, obwohl sie die alleinigen Kasusmarker sind. Auf Seiten des Hörers sind damit keine zusätzlichen Verständnisschwierigkeiten und auch kein Mehraufwand verbunden, da Wortstellung und Thema-Rhema-Gliederung unabhängig davon zur Kompetenz gehören müssen. Ökonomie und Komplexitätsbeschränkungen sind ebenso auch durch die eingeschränkte Kapazität unserer Sprachveraibeitungsprozesse geboten. Da unser Aibeitsgedächtnis auf die magische Sieben festgelegt ist, die in der Regel nur um zwei Einheiten überschritten werden kann (Pinker 1996: 233), ergeben sich einige Mechanismen zur Entlastung des Gedächtnisses. Das von Behagel her bekannte 'Gesetz der schweren Glieder' z.B. ist hier zu nennen: daß Präpositionalphrasen, Relativ- und Komplementsätze etc. gerne ins Nachfeld verschoben werden, ist performanztechnisch gesehen die beste Lösung, die an Hörer und Sprecher die geringsten Anforderungen stellt (siehe Kapitel II Abschnitt 2.2.3.). Was auf den ersten Blick als willkürlich oder als Regellosigkeit bzw. -verstoß erscheinen mag, kann im konkreten Beispiel durchaus mit guten psycholinguistischen Argumenten erklärt werden.

20 Dialekte sind also aufgrund ihres Ν1-Charakters vollständige, regelmäßige, konsistente und ökonomische Sprachsysteme und nicht defekte, irreguläre, widersprüchliche Systeme voller Redundanzen. Wären sie letzteres tatsächlich, wären sie nicht unter den gegebenen Bedindungen des Primärspracherwerbs erlernbar. Aber sie sind, wie die Realität beweist, erlernbar. Der Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Syntax des Bairischen, die unter den eben explizierten Prämissen und Vorgaben untersucht wird. Als theoretisches Paradigma dient die Prinzipien- und Parameter-Theorie, die von Chomsky (1981; 1986a; vgl. auch Chomsky/Lasnik 1993) u.a. entwickelt wurde. Auf eine einführende Skizze der Theorie wurde aus Platzgründen verzichtet.30 Ähnlich wie die Studie von Haegeman (1992) zum Westflämischen verfolgt meine Arbeit vorrangig zwei Ziele: (1) als Voraussetzung und Basis theoretischer Überlegungen mußte eine breite, einigermaßen systematisch erarbeitete empirische Grundlage geschaffen werden, die (2) dazu genutzt werden soll, die Tragfähigkeit der Theorie zu erproben, auszuloten, ihre Grenzen aufzuzeigen und zu erweitern. Ich hoffe, mit meiner Arbeit zeigen zu können, daß nur die Beschäftigung mit natürlichen Sprachen wie eben einem Dialekt Resultate erbringt, welche die Theorie der natürlichen Sprache voranbringen. "I hope that this book will convince the reader that the dialect is of importance for the linguist and that GB Theory provides us with interesting means of looking at the data at hand" (Haegeman 1992: xiii). Der Nutzen einer Dialektsyntax fur eine Grammatiktheorie, die sich wie die generative als Theorie der natürlichen Sprachen versteht, liegt auf der Hand und muß nach dem im vorhergehenden Erörterten wohl nicht extra begründet werden. Viele der interessantesten Erscheinungen sind eben nur in Dialekten anzutreffen: Ich darf an dieser Stelle nur an die doppelte Negation erinnern, die für jede Grammatiktheorie eine ernste Herausforderung darstellen muß und einen der faszinierendsten Untersuchungsgegenstände bildet. Würde man sich nur mit dem Hochdeutschen befassen, käme sie nie in den Blick. In der generativen Grammatik ist die Intuition eines kompetenten Sprechers, zumeist des betreffenden Linguisten selbst, immer noch das hauptsächliche Arbeitsinstrument zur Datengewinnung (Chomsky 1986b: 36ff ; Fanselow/Felix 1987 1,101; Haegeman 1992: xiii). Von seiten der Dialektologie hat erst kürzlich (Werlen 1994), der sich selbst als nicht generativer Grammatiker versteht, darauf hingewiesen, daß Grammatikalitätsurteile kompetenter Sprecher in der Erforschung der Dialektsyntax die einzig sinnvolle Methode darstellen und daß Feldforscher, die Informanten konstruierte Sätze vorlegen und sie fragen, ob man die Sätze so verwenden könne, im Grunde nichts anderes tun, weil sie damit ebenso an die Kompetenz von Muttersprachlern appellieren. Im Grunde ist der Unterschied zwischen generativer und traditioneller Methode geringer als man meinen könnte. Dieses Verfahren wurde auch in dieser Arbeit eingesetzt, da der Verfasser Muttersprachler des Bairischen ist (geboren in Kaußing, Gde. Lalling, Lkr. Deggendorf; Nieder-

30

Oberblicksdarstellungen sind Fanselow/Felix (1987), Haegeman (1991; 1994) oder Stechow/ Stemefeld (1988); ausführlichere Ausarbeitungen für das Deutsche sind Grewendorf (1988) und Haider (1993), wobei insbesondere Haider eine individuell-selbständige Theorie vorgelegt hat.

21 bayern). Da aber Intuitionen, wie Nagata (1988) in einem Wiederholungs-Experiment nachweisen konnte, sehr stark von den jeweiligen Kontextbedingungen abhängen, sind Eigenintuitionen keine absolut zuverlässigen Meßinstrumente. Daher ist es nötig, diese durch die Intuitionen von Gewährsleuten zu ergänzen, um mögliche Fehler aufgrund eigener theoretischer Vorerwartungen aufzufangen. Aus diesem Grunde sind die in dieser Arbeit als grammatisch präsentierten Daten in der Regel durch etwa 10 Gewährsleute abgesichert. Es versteht sich von selbst, daß bei einfacheren, unkontroversen Sätzen auf dieses Verfahren verzichtet wurde. Zudem wurden natürlich einschlägige Quellen (z.B. umfangreiche Textsammlungen wie Kollmer III und Haller I-IV) und linguistische Arbeiten systematisch ausgewertet: dies war z.B. für die Bearbeitung der Infinitivsyntax (Kapitel V) unerläßlich, weil sich hier derzeit ein Sprachwandel vollzieht, so daß eigene Intuitionen nicht in allen Bereichen, aber in diesem speziellen Fall - erst auf der Basis sprachhistorischer Befunde linguistisch richtig gedeutet werden können. Das Datenmaterial wurde also mit drei Methoden erarbeitet: mit Eigen- und Fremdintuitionen sowie einem Textkorpus.31 Die starke empirische Ausrichtung ist nicht zuletzt der eher dürftigen Forschungssituation (s.u.) geschuldet: Es konnte deswegen nicht aufbereite Erarbeitetes zurückgegriffen werden. Die nicht unwillkommene Folge davon ist nun, daß sich in der vorliegenden Arbeit zahlreiches neues Material findet, das auch nicht generativ arbeitende Dialektologen bzw. Syntaxforscher interessieren müßte. Die in dieser Arbeit primär erfaßte Varietät des Bairischen ist eine mittelbairische, die im Bayerischen Wald und angrenzenden Gebieten gesprochen wird und die die Muttersprache des Verfassers ist. Zur dialektgeographischen Einordnung sehe man Zehetner (1985), eine Grammatik bietet Kollmer I, den ich gerne und mit Gewinn benutzt habe. Da aber auch Monographien zu anderen Varietäten oder zum Gesamtbairischen (z.B. Eckner 1973; Merkle 1990; Schiepek 1899, 1908; Schmeller 1821; Ströbel 1970; Zehetner 1985) sowie Spezialliteratur berücksichtigt wurde, können die Ergebnisse durchaus generellere Gültigkeit beanspruchen. Und für viele Phänomene wie z.B. die doppelte Negation, für die hier erstmals eine Erklärung vorgelegt wird, die diesen Namen auch verdient, gilt ein gesamtbairischer Status sowieso nicht als zweifelhaft. Allgemein gilt wohl auch, daß im Bereich der Syntax weniger diatopische Varianz feststellbar ist als beim Wortschatz oder bei der Lautgestalt (A. Weiß 1984). Natürlich gibt es auch areal eingrenzbare, für die Syntaxgeographie dann nutzbare Unterschiede, doch sind diese häufig derart, daß ein Lexem wie das Phasenverb anfangen in manchen Gegenden als Modalverb grammatikalisiert ist, also einen reinen Infinitiv selegiert (schneien anfangen), in anderen Gegenden aber als Kontrollverb, das einen zw/n-Infinitiv erfordert {zum schneien anfangen) (Beispiel aus Tatzreiter 1989). Diese intradialektalen Differenzen betreffen somit nur die Peripherie der Grammatik, der Kern selbst dürfte gesamtbairisch zum überwiegenden Teil invariant sein.

31

Werlen (1994: 52) merkt zurecht an, daß sich die Korpusanalyse eher für Bereiche mit kleinen und geschlossenen Inventaren eignet, also für Phonologie, Morphologie oder Wortschatz. Für die kreativen Bereiche wie Syntax und (partiell) Wortbildung erlaubt sie dagegen nur einen eingeschränkten Zugriff.

22 Wenn man allerdings, was ich nur an wenigen Stellen machen konnte, auch die baltischen Sprachinseln miteinbeziehen würde, die aufgrund ihrer geographischen Isolierung oft eine separate Entwicklung durchgemacht haben, ergäbe sich vermutlich ein nicht so homogenes Bild der bairischen Kern-Syntax. So ist z.B. im Mochenischen, das im Trentino gesprochen wird, die Entwicklung von einer SOV- zu einer SVO-Wortstellung beobachtbar, die für das Gesamtbairische trotz erhöhter Extrapositionsfrequenz eben nicht gilt (s. Kapitel II Abschnitt 2.2.3.). Diese Einwände berücksichtigt, handelt es sich bei der Behauptung, vorliegende Untersuchung sei eine Syntax des Bairischen, nicht nur um eine methodisch erzwungene Idealisierung. Die bisher erbrachte Forschungsleistung zur Syntax der deutschen Dialekte ist, wie allseits bekannt und beklagt, äußerst dürftig (Henn 1983, Tatzreiter 1989, Werten 1994 u.v.a.). Wie Werlen (1994) betont, ist diese Tatsache umso erstaunlicher, als einerseits gerade die Syntax in den letzten Jahrzehnten ins Zentrum der Linguistik gerückt ist und andererseits die Dialektologie in den Bereichen Phonologie und Morphologie sich durchaus moderner Methoden mit Erfolg bedient.32 Die bei Werlen (1994) genannten Gründe für das Desinteresse der Dialektologie an der Syntax sollen an dieser Stelle nicht wiederholt werden, sie sind m.E. aber allesamt zutreffend. Erstaunlich finde ich allerdings, daß ein Dialektologe heutzutage noch konstatieren muß, die "Ansicht, Dialekte seien eigentlich 'regellose' Sprachformen, aber keine Sprachen, gehört zu den veibreitetsten Stereotypen über Dialekte, die sich leider auch bei Sprachwissenschaftlern nicht ausrotten lassen" (Werlen 1994: 51, Anm. 9). Dabei sind doch gerade Dialekte so außerordentlich regelmäßige, ökonomische Systeme, und das wohl nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, daß sich sog. Sprachgelehrte nicht an ihnen versucht haben. Die an sich desolate Situation hat sich innerhalb der Dialektologie in den letzten Jahren nur punktuell gebessert, wobei die deutsche Schweiz wohl seit langem schon eine große Ausnahme bildet (Werlen 1994). Fürs Bairische sieht die Situation deutlich schlechter aus: Neben älteren Arbeiten wie Schiepek (1899, 1908) und einzelnen Dissertationen (Eckner 1974, Ströbel 1970) sind an syntaktischer Literatur der letzten Jahre im Grunde nur die Spezialuntersuchungen von Donhauser (1989a, b) zum Infinitiv, von Eroms (1984) zur ft/H-Periphrase, (1989) zur Artikelverwendung und von Lühr (1989) zu den bairischen Konjunktionen zu nennen, sowie einige Arbeiten zur Pronominalklise (Altmann 1984, Harnisch 1989, Koerner 1984, Lessen-Kloecke 1985, Werner 1988). Umfassendere, systematische Studien, die sich eines moderneren Syntaxverständnisses bedienen, fehlen zur Syntax des Bairischen allerdings zur Gänze, sieht man einmal von Mayerthaler/Mayerthaler (1990) ab, die jedoch einen sehr subjektiven Zugriff bieten, den ich insgesamt für überzogen und mißlungen halte. In der generativen Grammatik sieht die Situation im großen und ganzen auch nicht viel besser aus. Hervorhebenswert ist die immer noch grundlegende Studie von Bayer (1983; 1983-84), in der die sog. Doppel-COMP-Phänomene des Bairischen einer Analyse unterzogen wurden, die sich mit der späteren Ausweitung der X-bar-Theorie auf die funktionale

32

Zur generativen Dialektologie vgl. allgemein Veith (1983) und als spezielles Beispiel Hämisch (1987).

23 Satzkategone CP bei Chomsky (1986a) kompatibel zeigt. Diese Studie ist auch heute noch nicht überholt. Neben einigen marginaleren Bereichen wie parasitic gaps (Felix 1985) oder Dativ-ECMs (Haider 1990) ist allen voran die Syntax der klitischen Personalpronomen bearbeitet worden. Die als pro-drop deutbaren Fälle der 2. Person Sg. und PI. sind bereits von Bayer (1983; 1983-84) mitbehandelt, unter einem systematischeren Ansatz (nämlich Einbeziehung der Objektspronomen) haben sich Abraham/Wiegel (1993), Abraham (1995) und (1996) damit befaßt. Daneben gibt es noch Versuche über die doppelte Negation (Bayer 1990d) und die z«w-Infinitive (Bayer 1993) sowie - als Abschnitte innerhalb größerer Arbeiten zu anderen Themen - Analysen der sog. Fokus-Konstruktionen im Bairischen (Stechow/Sternefeld 1988; Lutz 1993). Eine Würdigung und Auseinandersetzung mit diesen Arbeiten erfolgt an den entsprechenden, thematisch passenden Stellen der Kapitel II bis V. Insgesamt bleibt festzustellen, daß keine umfassende Untersuchung zur Syntax des Bairischen existiert, die z.B. der Studie von Haegeman (1992) zum Westflämischen vergleichbar wäre. So gesehen schließt die vorliegende Arbeit eine echte Forschungslücke: Sie ist der erste Versuch, die Syntax des Bairischen anhand einer modernen Grammatiktheorie systematisch und nicht nur ausschnittsweise zu bearbeiten. Sie ist darüber hinaus thematisch auch wesentlich umfassender als Haegemans Arbeit, die sich auf Komplementierer, Subjektspronomen und Verb- bzw. VP-Anhebung im Westflämischen beschränkt. In der vorliegenden Arbeit werden neben vielem anderen auch Kasus-, Negations- und Infinitivsyntax in die Untersuchung mit einbezogen, so daß ein relativ komplettes Bild der bairischen Syntax entsteht. In gewisser Weise betritt die Arbeit damit völliges Neuland. Obwohl es in dieser Arbeit oberflächlich nur um syntaktische Erscheinungen geht, versteht sie sich als eine Theorie der bairischen Grammatik. Es ist nämlich unabhängig von der vertretenen Syntaxkonzeption, ob man mm Syntax wie die generative Grammatik als autonomes Modul auffaßt oder in ihr nur eine "Strategie zur Linearisierung der Semantik" (Werlen 1990a: 165) sieht, in jedem Fall so, daß sie das Zentrum der Grammatik (in der mentalen ebenso wie in der vom Linguisten rekonstruierten) bildet. So ist, wie oben schon bemerkt, das morphologische Inventar einer Sprache nur im Hinblick auf die Syntax 'sinnvoll', d.h. bekommt erst in der Syntax eine Funktion zugewiesen. Ob nun Verbaloder Nominalmorphologie oder die sog. freien grammatischen Morpheme (Auxiliare, Artikel, Konjunktionen, Infinitiveinleiter etc.), das gesamte Inventar der Morphologie einer Sprache ist für die Syntax relevant und muß daher in einer syntaktischen Untersuchimg berücksichtigt werden. Ein ganz deutliches Indiz für diesen Zusammenhang sind die Befunde aus der Aphasiologie (cf. Weiß 1995): Bei der klassischen syntaktischen Störung, dem Agrammatisms der Broca-Aphasie, sind nämlich in erster Linie die Elemente der geschlossenen Klasse, also die gebundenen und freien grammatischen Morpheme, betroffen. Diese Verarbeitungsstörung tritt nicht nur in der Sprachproduktion zutage, sondern selbst im Sprachverständnis: So haben Agrammatiker bei sog. reversiblen Passivsätzen wie (13a) erhebliche Probleme zu verstehen, wer wen füttert, da diese Information nicht aus dem Weltwissen abgeleitet werden kann, sondern allein aus den grammatischen Morphemen. Im Endeffekt interpretieren sie (13a) dann häufig als (13b). Nicht reversible Passivsätze wie (13c) bieten ihnen dagegen keine Schwierigkeiten, weil man unabhängig

24 von seiner Grammatik im allgemeinen weiß, daß es wahrscheinlicher ist, da£ ein Hund einen Mann beißt als umgekehrt (obwohl auch letzteres schon vorgekommen sein soll). (13a) (13b) (13c)

Helen wird von Gretchen gefüttert Helen füttert Gretchen Der Mann wird vom Hund gebissen

Die hier vertretene Syntaxkonzeption entspricht voll und ganz der Sichtweise der generativen Grammatik (man vergleiche z.B. Abrahams (1995) Behandlung der deutschen Syntax). In diesem Sinne versteht sich die vorliegende Arbeit als Grammatik einer natürlichen gesprochenen Sprache am Beispiel des Bairischen, auch wenn oberflächlich besehen nur syntaktische Phänomene behandelt werden. Zum Abschluß der Einleitung noch ein paar Worte zum verwendeten Transkriptionsverfahren bei den Beispielsätzen, das angesichts der Tatsache, daß es keine Schreibkonvention für das Bairische gibt, ein recht heikles Problem darstellt. In der Dialektsyntax hat sich inzwischen die Einsicht durchgesetzt, daß eine "skrupulöse Transkription [...] wenig zum Nutzen des Unternehmens bei[trägt]; sie wäre sogar eher störend als nützlich" (Patocka 1989: 252). Dem ist nur zuzustimmen. In diesem Sinne wurden die bairischen Beispiele in einer möglichst einfachen Weise transkribiert, da es hier ja um Syntax und nicht um Phonologie geht (wo dieses Verfahren natürlich nicht zulässig wäre).

II. Eine kurze Satz- und Phrasensyntax des Bairischen

1. Einleitung

In der folgenden kursorischen, nicht immer systematischen Skizze einer Satz- und Phrasensyntax des Bairischen lege ich als Satzstruktur (1) zugrunde: (1)

CP

DO

V7Ie

Mit einem Großteil der Forscher nehme ich an, daß im Deutschen und seinen Varietäten anders als im Englischen keine separate IP nötig ist, weswegen auch die Split-INFL-Hypothese (vgl. dazu Chomsky/Lasnik 1993: 530f.) fürs Deutsche keine Gültigkeit hat. Man vergleiche hierzu die Arbeiten u.a. von Abraham (1995: 601), Bayer/Kornfilt (1991), Brekle et al. (1994), Haider (1993), Staudinger (1997) und die dort angeführten Argumente für diese Entscheidung. VP und IP projizieren gemeinsam (Staudinger 1997: 107ff.), die Argumente des Verbs werden sämtlich, also inklusive Subjekt, innerhalb der VP/IP basisgeneriert, wobei die Basisposition des Subjekts gemäß der Intemen-SubjektHypothese (vgl. Staudinger 1997: 133ff. und die dort angegebene Literatur) als eine Adjunktionsposition zu VP/IP spezifiziert wird. Auf die VP/IP folgt die Partikelposition Ρ sowie die Landeposition für gescrambelte NPs (vgl. Haider 1993: 176ff.), die ich der Be-

26

quemlichkeit halber mit dem Kürzel ScP bezeichne. Ein ausfuhrlichere Begründung der Struktur (1) sowie weitere Details (z.B. die Wackernagel-Position) sollen vorerst unerörtert bleiben, ihre Spezifikation erfolgt später bei den entsprechenden Anlässen.

2. Satzsyntax

Die Satzsyntax des Bairischen ist in ihren Grundzügen vollständig identisch mit der des Hochdeutschen, d.h. es existieren keine Satzkonstruktionen, die in der einen Sprache grammatisch und in der anderen ungrammatisch wären. So sind z.B. auch für das Bairische alle die Satztypen anzusetzen, die Grewendorf (1988: 20) für das Deutsche annimmt. Dennoch gibt es zahlreiche Differenzen im Detail, auf die wir uns vorrangig konzentrieren werden. Die fundamentale Gemeinsamkeit ist, daß beide sog. V/2-Sprachen sind,1 d.h. daß im Nebensatz Verbendstellung (2a,b) vorliegt und im Hauptsatz V/2-Stellung (2c, d). Aus dem Verhalten der Partikelveiben, deren abtrennbare Partikeln im Hauptsatz in Endstellung 'verbleiben', kann gefolgert werden, daß in der Veibendstellung des Nebensatzes die Basisposition finiter Verben zu sehen ist, während die V/2-Position eine abgeleitete sein muß (vgl. dazu Staudinger 1990: 8). Dies entspricht auch den Erkenntnissen der Sprachhistoriker, die davon ausgehen, daß im Indogermanischen ursprünglich bei Aussagesätzen ebenfalls Verbendstellung galt und sich die V/2-Stellung erst später herausbildete (Harris/Campbell 1995: 22ff.). (2a) (2b) (2c) (2d)

daß heute Otto kommt daß haind da Otto kimd Otto kommt heute an Da Otto kimd haind an

Im X-bar-Schema (1) ist C° die Position, in welcher der Komplementierer basisgeneriert und in die hinein das finite Verb im selbständigen Deklarativsatz bewegt wird. Der Auslöser der obligatorischen V/2-Bewegung ist allerdings bisher völlig unklar (zu den verschiedenen Erklärungsversuchen der generativen Grammatik vgl. Staudinger 1990; Kosmeijer 1991; Haider 1993: 67fl). Ich möchte die V/2-Problematik an dieser Stelle auch nicht weiter thematisieren, sondern nur darauf hinweisen, daß im Kapitel zur Pronominalsyntax eine Hypothese bezüglich der Entstehung des V/2-Phänomens skizziert wird, die eine Modifikation der von Anderson (1993) vorgeschlagenen Klitisierungsthese darstellt. Stattdessen möchte ich nun zunächst auf den CP-Komplex (z.B. das sog. Reis'sche Dilemma, s.u.) eingehen.

1

Man mag diese Parallelität aufgrund der genetischen Beziehimg beider Sprachen fllr trivial halten. Wie später im Zusammenhang der Deflexion und im Vergleich zum Jiddischen deutlich wird, ist dies nicht zwangsläufig so.

27 2.1. Der CP-Komplex 2.1.1. Das Reis'sche Dilemma Reis (1985: 293ff.) hat darauf aufmerksam gemacht, daß in eingebetteten w-Fragesätzen wie (3a) C°, obwohl lexikalisch leer, nicht für das finite Verb zugänglich ist (cf. 3b), während V/2-Bewegung in direkten w-Fragesätzen (3c) obligatorisch ist (cf. 3d). (3a) (3b) (3c) (3d)

Weiß der Himmel, wie man diese Fakten erklären kann 'Weiß der Himmel, wie kann man diese Fakten erklären Wie kann man diese Fakten erklären? *Wie man diese Fakten erklären kann?

Reis (1985: 294f.) leitet aus diesen Fakten u.a. folgende Generalisierungen ab: Generalisierung I Im Hauptsatz können w-Phrasen in Initialposition nicht mit Complementizern äquivalent sein, im Nebensatz müssen sie es. Generalisierung II Interrogativ interpretierte w-Phrasen sind (zusammen mit Relativ-Ausdrücken) die einzigen X m a x -Phrasen, die V/E-Strukturen einleiten können. Insbesondere aus der ersten Generalisierung, deren Korrektheit vorausgesetzt, folgert Reis (1985), daß Haupt- und Nebensätze im Deutschen nicht dieselbe Struktur haben können, da die entsprechenden w-Wörter in beiden Satztypen unterschiedliche Positionen einnehmen (ähnlich auch Bayer 1990c: 21).2 Als zusätzliche Evidenz werden u.a. Klitisierungsdaten (Reis 1985: 301f.) angeführt (cf. 4a,b), die belegen sollen, daß sich die w-Wörter in den Nebensätzen tatsächlich in derselben Position befinden wie Komplementierer, weil sie ebenso 'flektierbar' sind. Dadurch sei Generalisierung I bestätigt. (4a) (4b)

weilste/obste/daßte endlich kommst warumste/wannste kommst

Dies ist aber eine sehr 'obenflächennahe' Analyse. Die von Reis (1985: 299f.) u.a. mit Verweis auf die Klitisierungsdaten explizit verworfene Tilgungsanalyse ist m.E. attraktiver, v.a. auch deswegen, weil sie eine elegante Erklärung für das allgemein konstatierte Phänomen bietet, daß es im Deutschen keine φ/3-trace-Effekte gibt (Sternefeld 1991: 105;

2

Bayer (1990c: 18f.) nennt als Stütze Koordinationsdaten, deren Akzeptabilitätsbewertung ich allerdings nicht teilen kann, so daß ich dazu nichts zu sagen habe. Zur Problematik der Uniformities- vs. Differenzhypothese vgl. Stechow/Stemefeld (1988: 388-402) und Brandt/Reis/Rosengren/Zimmermann (1992).

28

Bayer 1990c: 5). Im Deutschen zeigen sich bekanntlich keine Beschränkungen3 bei langen Extraktionen von w-Phrasen aus eingebetteten daß-Sätzen, obwohl dies bei der für das Deutsche angenommenen Gültigkeit des sog. Doppelt-gefüllten-COMP-Filters (DFCF)4 unerwartet bzw. erkläningsbedürftig ist. Einen Ausweg bietet die Annahme, daß im Deutschen der DFCF trotz unbestreitbarer Daten wie (5a) nicht gültig ist. Ich möchte im Widerspruch zu Stechow/Sternefeld (1988: 382) Daten wie (5a) als "Oberflächenphänomene" behandeln, die über eine durchaus unabhängig plausibilisierbare PF-Tilgungsregel abgeleitet werden können. Zunächst zur angeblichen generellen Gültigkeit des DFCF im Standarddeutschen: Bei langer Extraktion aus einem daß-Satz - cf. (5b) - muß sowieso angenommen werden, daß SpecCP als Landeposition für die Zwischenspur t'j zugänglich ist, da ansonsten eine Subjazenzverletzung vorläge. (Sa) (5b)

*Ich weiß nicht, wer daß es getan hat Wer; glaubst du, [tv daß] heute t; kommen wird5

Bei Aufrechterhaltung des DFCF müßte man stipulieren, daß zwar eine Spur, nicht aber lexikalisches Material mit einem overten Komplementierer kompatibel sei. Diese Stipulation ist jedoch unabhängig nicht motivierbar, so daß ich sie für wenig wahrscheinlich halte. Aber einmal davon abgesehen sind Daten wie (5b) ein starkes Indiz für die Uniformitätshypothese, da sie die Existenz eines Vorfeldes, sprich eines SpecCP, auch für Nebensätze belegen. Da w-Wörter sowohl im Vorfeld eines V/2-Satzes als auch eines Komplementierers erlaubt sind, läßt sich indirekt folgern, daß - wie von der Uniformitätshypothese vorausgesagt - die Position des finiten Verbs in Hauptsätzen kategorial identisch mit der des Komplementierers in Nebensätzen ist. Insofern geht hier das Standarddeutsche strukturell konform mit dem Bairischen, für das bekanntlich kein Filter existiert, der eine Besetzung der SpecCP-Position bei daß-Sätzea verbietet (vgl. die immer noch grundlegende Untersuchung Bayer 1983-84, der im folgenden einiges verdankt ist, ohne daß im einzelnen darauf verwiesen würde). Im Bairischen ist overte Füllung beider Positionen vollkommen akzeptabel: (6)

3

4 5

I woaß aa ned, wea daß kema soid

Da es im folgenden nur um die Struktur des C-Komplexes geht, spielt es keine Rolle, daß lange Extraktion auf sog. Brückenverben (die auch V/2-Komplemente selegieren) beschränkt ist (cf. Müller 1991: 182f.). DFCF: Die beiden COMP-Positionen (also SpecCP und C") können nicht gleichzeitig besetzt sein (cf. Stechow/Sternefeld 1988: 381-388). Sätze dieser Art werden gerne mit dem Argument, daß sie "nicht für alle Sprecher des Deutschen gleich akzeptabel" (Stechow/Sternefeld 1988: 371) seien, beiseite geschoben. Auch bei Bayer (1983-84) gelten sie als ungrammatisch. Sie sind aber, wenn überhaupt, Verstöße gegen eine hochsprachliche Norm, wie Müller (1991: 158) betont, der auch daraufhinweist, daß DoppelCOMP kein bairisches Spezifikum ist, "sondern auch in manchen norddeutschen Dialekten eher den Normalfall als die Ausnahme darstellt". Auch Brandt/Reis/Rosengren/Zimmermann (1992: 30) führen in einem anderen Zusammenhang ein entsprechendes Datum mit langer Extraktion als grammatisch an (im Original Nr. 120). Ähnliche Daten auch bei Andersson (1993).

29 Stechow/Sternefeld (1988: 382) plädieren dafür, eine Regel anzusetzen, nach der im Bairischen auf der phonologischen Form - deswegen sprechen sie auch von einem "Oberflächenphänomen" - der Komplementierer daß "im Kontext eines ffT/-Operators" eingesetzt werden kann. Dadurch würde selbst im Bairischen der DFCF Gültigkeit haben, weil es sich dabei um "eine Bedingung an die S-Struktur (oder an LF)" handelt. Da aber daß erst auf PF inseriert wird, liegt keine DFCF-Verletzung vor. Die Korrektheit dieser Analyse einmal vorausgesetzt, ergibt sich das Problem für die Reis'sche Auffassung, daß selbst dann w-Wörter im Nebensatz die SpecCP-Position einnehmen müssen, weil die PF-Einsetzung von daß ja voraussetzt, daß C° leer ist, wie Stechow/Sternefeld auch annehmen. Die Annahme von Reis (1985: 304), daß w-Phrase+da/? eine einzige komplexe Konjunktion bildet, scheint mir nicht besonders plausibel zu sein. Sowohl die Extraktions- als auch die bairischen Daten sprechen für eine uniforme Behandlung von Haupt- und Nebensätzen im Deutschen. Statt einer Einsetzungs- möchte ich aber lieber einer Tilgungs-Theorie das Wort reden, die schon mal in Grewendorf (1988: 250f.) als eine von drei möglichen entworfen wurde. 6 Für das Deutsche (und das Bairische) ist davon auszugehen, daß bei eingebetteten w-Fragesätzen auf der s-Struktur SpecCP und C° simultan besetzt sind. (7a) hat auf der s-Struktur die Form (7b). Damit ist auch klar, warum die V/2-Bewegung ausgeschlossen ist: C° enthält einen Komplementierer. (7a) (7b)

Ich weiß nicht, wer heute gekommen ist Ich weiß nicht, wer daß heute gekommen ist

Das Reis'sche Dilemma ist mit Annahme eines obligatorisch doppelt gefüllten COMPs umgangen. Für das Deutsche benötigt man nun nur eine Regel, die die Tilgung des Komplementierers auf PF festschreibt. Denkbar ist etwa eine Formulierung wie bei Grewendorf (1988: 250) - hier als (8) wiedergegeben - oder ein Format wie (9), das sozusagen eine Umkehrung der obigen Einsetzungsregel darstellt: (8) (9)

Merkmalslose Komplementierer werden in PF obligatorisch getilgt. Komplementierer im Kontext von w-Wörtem werden obligatorisch getilgt.

Für das Bairische muß nur obligatorisch durch optional ersetzt werden, um die Daten korrekt vorauszusagen, da ja auch overte Doppelbesetzung erlaubt ist. Natürlich bedarf es noch gewisser Spezifikationen. So muß festgehalten werden, daß nur der Komplementierer daß simultan mit w-Wörtern auftreten kann, nicht aber wie etwa im Holländischen möglich (Staudinger 1990: 72; Brandt/Reis/Rosengren/Zimmermann 1992: 31) ob. Dies erklärt man m.E. am besten mit der semantischen Merkmalslosigkeit von daß, dessen offenbar einzige Funktion darin besteht, den Komplementcharakter - bzw. wenn man so will, das Eingebettetsein - des von ihm eingeleiteten Satzes anzuzeigen. 7 Auch die übrigen 6 7

Soweit ich sehe, wurde die Tilgungs-Theorie seither nicht mehr vertreten. Auch Grewendorf erwägte sie offenbar doch nicht ernstlich. Ich halte es nicht für gerechtfertigt, daß mit dem Merkmal [-wh] zu belegen, wie dies z.B. bei Brand/Reis/Rosengren/Zimmermann (1992: 48) geschieht. Eine analoge Analyse ist für den Relativsatzeinleiter wo möglich.

30 'echten' Komplementierer, also diejenigen Subjunktionen, die in C° basisgeneriert werden, wie konzessives wenn oder kausales weil, vertragen sich wie ob, die alle im Unterschied zu daß als merkmalshaltig zu charakterisieren sind, nicht mit lexikalischem Material in SpecCP. Da sich nun merkmalshaltige Komplementierer sowieso nicht mit w-Phrasen in SpecCP vertragen, ist die Filteibedingung (9) die angemessene. Regel (8) ist in der Hinsicht nicht korrekt, daß die Merkmalslosigkeit des Komplementierers die Voraussetzung für eine mögliche Doppelbelegung von COMP ist (s.u.) und nicht, wie in (8) impliziert, für seine mögliche bzw. obligatorische Tilgung. Daher gilt fürs Bairische der PF-Filter (9'): (9')

Komplementierer im Kontext von w-Wörtern sind optional tilgbar.

Hinzu kommt als weitere Restriktion, daß im Kontext von daß nur Operatoren erlaubt sind. W-Wörter sind nun - so die Auffassung in der generativen Grammatik (vgl. Haegeman 1994: 494f.) - Operatoren, die eine Variable binden und in einer Skopusposition stehen (eine analoge Analyse gilt für Relativpronomen). Es gilt also folgende Bedingung: (10)

Nur Operatoren (w-/d-Phrasen) sind mit merkmalslosen Komplementierern

(daß/wci) verträglich. Nur solche Operatorenphrasen (w-Phrasen) sind mit daß kompatibel. Da sie als Operatoren per definitionem und im Deutschen bereits auf der s-Struktur8 in einer Skopusposition stehen, ist die kategorielle Identität ihrer Position in Haupt- und Nebensatz die logische Folge. Im Sinne der Reis'schen Asymmetrie-Hypothese wäre im Hauptsatz (wohl) SpecIP und im Nebensatz C° die entsprechende Skopusposition, was aber sehr unwahrscheinlich zu sein scheint. Von der Natur der w-Wörter wird eine uniforme Behandlung zwingend nahe gelegt, die sich mit der Reis'schen Generalisierung I nicht verträgt. Auch Haider (1993: 93f.) sieht für w-Phrasen in Haupt- und Nebensätzen eine einheitliche Position vor, nämlich die Specifier-Position der von ihm postulierten einzigen funktionalen Projektion FP. In der inzwischen von Brandt/Reis/Rosengren/Zimmermann (1992) vertretenen hybriden Differenzhypothese ist die Position der w-Phrase in V/2- und V/End-Sätzen zwar immer noch nicht dieselbe (nämlich SpecIP bzw. SpecCP/IP), nun aber doch einheitlich eine Spec-Position. Eine Lokalisierung der w-Phrasen von V/End-Sätzen in C° widerspricht außerdem dem Struktur-Erhaltungs-Prinzip, das maximale Projektionen in Kopfpositionen verbietet (cf. Haegeman 1994: 337ff ). Die Lizensierung der Doppelbesetzung von COMP wird (vermutlich) über Spec-HeadAgreement gesteuert. Grewendorf (1988: 251f.) hat im Anschluß an das bei Chomsky (1986a: 26f.) entwickelte CP-Kongruenz-Konzept vorgeschlagen, "daß ein W-Element in der CP-Spec-Position aufgrund der Kongruenz zwischen CP-Spec- und C-Position Selektionserfordernisse erfüllen kann, ohne daß man die generelle Hypothese aufgeben muß, daß Selektion die Kopf-Position von CP betrifft" (Grewendorf 1988: 252). Dahinter steht fol8

Im Unterschied etwa zu Japanisch oder Chinesisch, in denen das wh-Element auf der S-Struktur in situ verbleibt und erst auf LF angehoben wird (vgl. u.a. Haegeman 1994:494ff.).

31 gende Idee: Das wh-Merkmal des w-Elements im Specifier wird über Merkmal-sharing an C° weitergereicht, wodurch die Selektionserfordernis des für einen Fragesatz subkategorisierten Matrixverbs erfüllt ist. Für unsere Analyse müßten wir - die Korrektheit von Grewendorfs Erklärung vorausgesetzt - nur annehmen, daß die Merkmalsübertragung auch an ein mit daß besetztes C° möglich ist, was angesichts der konstatierten Merkmalslosigkeit von daß nicht unplausibel erscheinen würde.9 Gegen Grewendorfs Analyse sprechen vorderhand allerdings zwei Argumente. Zum einen wäre Spec-Head-Agreement auf eingebettete Fragesätze zu beschränken, da in direkten W-Fragesätzen die Kopfposition mit dem fiiiiten Verb besetzt ist, das wohl kaum mit dem Merkmal [+wh] verträglich ist. Da selbständige w-Fragesätze nicht der Selektionserfordernis unterliegen, besteht auch keine Notwendigkeit, daß das Merkmal [+wh] an C° weitergereicht wird. Desweiteren sind finite Verben merkmalshaltig, so daß eine Weitergabe des wh-Merkmals ausgeschlossen ist. Insofern sind direkte w-Fragen keine echte Gegenevidenz. Dafür liefert auch der mögliche zweite Einwand gegen die Kongruenzanalyse Anhaltspunkte. Es ist beobachtet worden (Staudinger 1990: 72), daß ob im Bairischen, obwohl es einen abhängigen Fragesatz einleitet, nicht mit w-Elementen kompatibel ist (cf. 1 la). Es hat also den Anschein, als ob Merkmalskongruenz, die ja in (IIa) vorliegt, da sowohl das w-Pronomen wie auch der Komplementierer Frage-Elemente sind, die Doppelbesetzung geradezu verhindere. Doch ist dies nur oberflächlich besehen so, weil für die Ungrammatikalität von (1 la) umgekehrt ein Merkmalskonflikt verantwortlich gemacht werden kann. Οό-Sätze sind nämlich Entscheidungsfragen (Ε-Fragen) und haben einen ganz anderen Status als w-Interrogativsätze (cf. Rehbock 1992: 192-195). Beide kommen zwar semantisch darin überein, daß sie eine Variable aufweisen, die vom sog. OFFEN-Operator gebunden wird, doch ist der Operator unterschiedlicher Qualität: in Ε-Fragen geht es um die Faktizität bzw. Nicht-Faktizität eines Sachverhalts (Proposition der Ε-Frage), in w-Fragen bezieht sich der Operator auf einen nominalen Referenten (wer/wen/wem etc.), dessen Identität erfragt wird, oder auf andere Teile des Sachverhalts (wie/warum etc.). Es ist nicht möglich, einen Sachverhalt als Ganzes in Frage zu stellen und zugleich einen Teil davon zu erfragen, weil letzteres die Faktizität des Sachverhalts voraussetzt. Syntaktisch ist es auch so, daß sogar selbständige Entscheidungsfragen nicht kompatibel mit w-Elementen (cf. 1 lb) sind. Letztlich sind die beiden Fragesatztypen logisch-semantisch so unterschiedlicher Kategorialität, daß sie sich gegenseitig ausschließen und z.B. selbst in Koordinationsstrukturen nur partiell kompatibel sind (cf. 11c vs. d).'° Ein schönes Beispiel ist das Verb zweifeln, das seiher Semantik nach die Präferenz der Nicht-Faktizität eines Sachverhaltes denotiert: Es kann οό-Fragen einbetten, aber keine wh-Fragen ( l i e vs. f). Damit ist aber auch kein Einwand gegen das Kongruenzkonzept, daß sich ob nicht mit einem w-

9

10

Zu erwägen wäre in Zukunft auch einmal die Annahme, daß wh-Fragen nicht von den entsprechenden Matrixverben selegiert sind (mit Ausnahme womöglich des Verbs fragen). Dann bestünde die Notwendigkeit des hier diskutierten Merkmal-sharing nicht mehr. Nicht zutreffend ist m.E. die Konvention, beide Satztypen mit dem Merkmal [+wh] zu notieren (Stechow/Stemefeld 1988: 385; Brandt/Reis/Rosengren/Zimmermann 1992: 31), weil dadurch die semantische Differenz verwischt wird.

32

Element in SpecCP verträgt, weil dafür unabhängige Faktoren bemüht werden können und müssen. Nach unserer Erklärung ist es im Gegenteil das erwartete Ergebnis. (IIa) (1 lb) (11c) (11 d) (lie) (11 f)

*I woaß ned, wer ob des gmocht hod »Hat Peter wem geholfen?11 Ich weiß nicht, ob und warum/Twem Peter hilft »Ich weiß auch nicht, ob und wer dem Peter hilft Ich zweifle, ob er heute noch kommt *Ich zweifle, wer heute noch kommt

Ich halte es daher für unwahrscheinlich, daß zwischen der Selektion von οό-Sätzen und eingebetteten w-Fragesätzen irgendein kausaler Zusammenhang besteht, wie überwiegend in der generativen Grammatik angenommen wird (cf. Rothweiler 1993: 64). Für ein differenzierteres Bild der Grammatik deutscher Fragesätze sehe man Eisenberg (1995). Fassen wir kurz zusammen. Für das Bairische gelten folgende Generalisierungen bezüglich eingebetteter w-Fragesätze (wobei ich die ganz analog zu handhabende Analyse bairischer Relativsätze wiederum beiseite lasse): G1 G2 G3

Beide COMP-Positionen (SpecCP und C°) sind simultan besetzt. Die wh-Phrase befindet sich in SpecCP. In Ce befindet sich daß.

Die Generalisierungen 1-3 zusammen mit den Filteibedingungen (9') und (10) machen neben anderem - nun die richtige Voraussage, daß sich das finite Verb in den eingebetteten w-Fragesätzen nicht nach C° bewegen kann, weil diese Position lexikalisch bereits mit einem Komplementierer besetzt ist. Damit ist auch bewiesen, daß die Stechow/Sternefeld'sche Annahme, daß es sich bei den bairischen Konstruktionen um Oberflächenphänomene handelt, nicht haltbar ist. Denn dann stünde man immer noch vor dem Reis'schen Dilemma: Da daß erst auf PF eingesetzt wird, könnte es die V/2-Bewegung auf der sStruktur kaum verhindern. Umgekehrt ist es wohl eher so, daß die obligatorische daß-PFTilgung im Standarddeutschen ein Oberflächenphänomen ist, die sehr wohl die s-strukturelle V/2-Bewegung zu verhindern vermag. Dafür spricht am deutlichsten die Möglichkeit langer Extraktion im Deutschen (vgl. 5b), die beweist, daß bei Besetzung von C° mit daß zumindest eine Zwischenspur in SpecCP erlaubt ist. Dieser Befund läßt angesichts von Daten wie (5a), die das Verbot overter Belegung beider COMP-Positionen im Deutschen illustrieren, zwei mögliche Erklärungen zu. Man kann es Uber eine Speziairegel der oben angedeuteten Art ableiten oder eine Filterbedingung wie (9) ansetzen, die die obligatorische PF-Tilgung von daß regelt. Es dürfte klar sein, daß die zweite Möglichkeit theoretisch weitaus attraktiver ist, da der Status der Speziairegel im unklaren bleiben muß. Für die Filterbedingung sprechen auch die Daten aus den Dialekten, wenn man deren strukturelle Identität mit der Hochsprache in diesem Bereich voraussetzt, was angesichts der in der Einleitung (Kapitel I) geschil11

Die Ungrammatikalität gilt nur mit wem als Interrogativpronomen; wird es dagegen als Indefinitpronomen interpretiert, ist (IIb) korrekt.

33 derten Genese des Standarddeutschen unzweifelhaft sein dürfte. Im Vorhergehenden wurde bereits erwähnt, daß das Doppel-COMP-Phänomen nicht nur auf das Bairische beschränkt ist, sondern offenbar in allen deutschen Dialekten nachweisbar ist. Schiepek (1899: 47) zufolge ist dialektal bei indirekten wh-Fragen daß der "häufigste Zusatz". Entsprechende Daten finden sich fürs Badische (Südrheinfränkische) (12a,b nach Fritzenschaft et al. 1990: 64) und in norddt. Dialekten (12c,d nach Müller 1991: 158). Neben den Dialektdaten gibt es als Stütze unserer Hypothese auch vereinzelte sprachhistorische Belege für das Hochdeutsche: so ist z.B. bei Opitz mehrfach wo daß und wann daß (12e,f nach Paul IV, 250), wie auch warumb daß (12g) bezeugt. (12a) (12b) (12c) (12d) (12e) (12f) (12g)

Weesch du, wen deß er gsehe hot Isch weeß net, wer deß des gsagt hot hei het vergeten, wurüme dat sei den Pannekerken upegeten het hei het vergeten, wer dat den Pannekerken upegeten het wo das er ligt und geht wann daß wir aber dann auff uns selber kommen warumb daß ich mich dann beklage

Daß im heutigen Standarddeutschen ein PF-Filter wie der DFCF existiert, beruht vermutlich auf einer letztlich wohl stilistisch motivierten Konventionsbildung, wie sie in Kapitel I Abschnitt 1.1.1. am Beispiel der doppelten Negation beschrieben wurde. Die Möglichkeit der optionalen bzw. obligatorischen Tilgung von daß ergibt sich aus der von Haider (1993: 95) erarbeiteten Auffindbarkeitsbedingung für stumme Kopfpositionen (13): (13)

Ein stummes Kopfelement muß lizensiert und identifiziert werden.

Im Unterschied zu Haider nehme ich aber an, daß C° erst auf PF 'geleert' wird und nicht schon von 'Projektionsbeginn' an leer ist. Daraus folgt dann, daß die Lizensierung nicht primär relevant ist, da diese bei Haider die Projektion echter leerer Köpfe steuert.12 Hier liegt aber ein nachträglich geleerter Kopf vor, so daß dessen Merkmalsgehalt nur der Identifikationsbedingung unterliegt. M.a. W. die Tilgung von daß auf PF ist möglich, weil qua Merkmal-sharing (s.o.) die Identifikation und damit Aufiindbarkeit des geleerten Kopfes gewährleistet ist. Eine wiederum analoge Analyse gilt für die Relativsätze.

2.1.2. Von unechten und echten Doppel-COMPs Die immense Vorkommenshäufigkeit der Konjunktion daß schlägt sich auch in anderen Bereichen nieder. Da diese in der Literatur meistens kommentarlos, aber durchaus irrigerweise den wh+tfq/3-Phrasen an die Seite gestellt werden (z.B. Zehetner 1985: 147; Lühr 1989; Kollmer I, 450f.), soll kurz die strukturelle Differenz aufgezeigt werden. 12

Köpfe als solche müssen natürlich lizensiert sein, um projizieren zu können. Hier ist nur gemeint, daß Lizensierung keine hinreichende Bedingung für das 'Stummsein' (= Tilgung) ist.

34 Es ist allgemein bekannt, daß im Bairischen komplexe Konjunktionen, deren zweiter Bestandteil daß ist, sehr produktiv sind (cf. Lühr 1989). Dies zeigt sich daran, daß es durchaus neue Elemente wie obwohl daß (cf. Lühr 1989: 267f.) gibt, das neben älteres trotzdem daß bzw. zamtden daß (Zehetner 1985: 147) tritt. Daher ist eine lexikalistische Analyse der komplexen Konjunktionen nicht plausibel, d.h. sie bilden keine lexikalische Einheit. Die Lexem-Hypothese ist auch v.a. für die nicht wenigen Fälle, in denen der erste Bestandteil aus einer Präpositionalphrase besteht (z.B. fia/duach des daß) und die in diese Klasse gehören, schwer motivierbar. Strukturell lassen sich diese Art von 'unechten* Doppel-COMPs in drei Klassen einteilen. Die erste Klasse umfaßt Kombinationen mit Adverbien als Erstbestandteilen, einige Beispiele finden sich in (14a-c). Die zweite Klasse bilden die Konstruktionen, in denen Präpositionen (cf. 15a-b), und die dritte die, in denen Präpositionalphrasen an erster Stelle erscheinen (cf. 16a-c). (14a) (14b) (14c)

trotzdem/zamdem daß'a so fleiße war, ham's'n nausgschmißn dadurch daß'a des scho keent hod, is's eam laichda gfoin (neubair.) seitdem daß'a koa Bier mehr dringd, gehd's eam wiada bessa

(15a) (1 Sb) (15c)

ea is ganga, ohne daß'a zoid hed seit daß'e denga kann, is des so bis daß dea kimd, vagehd vej Zeid

(16a) (16b) (16c)

durch des daß'a des scho keent hod, is's eam laichda gfoin fia des daß'a des scho keent hod, is's eam gor ned laichd gfoin no dem daß'a des keent hod, is's eam laichda gfoin

Die Klassen I und III sind ursprünglich identisch gewesen, weil die meisten der involvierten Adverbien auf Präpositionalphrasen zurückgehen (trotz dem, seit dem etc.). In allen drei Klassen liegt aber im Unterschied zu den zuvor behandelten Konstruktionen kein Doppel-COMP-Phänomen vor, weil der daß-Saiz als Komplement bzw. Adjunkt des Erstbestandteils zu analysieren ist und damit keine Spec-Head-Beziehung besteht. Der Unterschied zu den wh+ifa/?-Komplexen ist also, daß diese Strukturen nicht auf Extraktion aus dem daß-Satz zurückzuführen sind und daß das Verhältnis der beiden Elemente ein grundsätzlich anderes ist. Bei der Klasse II ist der daß-Sa.tz von der Präposition selegiert, er steht in einer Komplementposition und somit hierarchisch in einer von der Präposition regierten Position. Die hier anzunehmende Struktur ist (17), in der die Differenz zu den echten Doppel-COMP-Konstruktionen augenscheinlich wird, denn es handelt sich bei dem gesamten Komplex kategoriell um eine Präpositionalphrase, die im Satz als Adverbiale eine Adjunktposition einnimmt. (17)

[pp [p. ohne] [cp daß...]]

Bei den beiden übrigen Klassen besteht zwar kein Selektionsverhältnis zwischen dem Einleitungselement und dem daß-Satz, dennoch liegt eine Präpositionalphrase vor und wiederum kein Doppel-COMP. In Anlehnung an Schiepek (1899: 47), der in diesen Fällen die Bezeichnung erläuterndes dass benutzt, kann man bei dieser Gruppe von explikativen

35 ifaß-Sätzen sprechen. Semantisch haben diese daß-S&tze die Funktion, den 'Gehalt' des Demonstrativpronomens zu erläutern. Sie sind fakultativ und daher weglaßbar, wenn der entsprechende Sachverhalt vorerwähnt oder als bekannt vorauszusetzen ist. Als Explikandum des daß-Satzes sind nur Demonstrativpronomen möglich, alle sonstigen nominalen Elemente sind nicht erlaubt. Strukturell gesehen handelt es sich bei den daß-Sätzen um Adjunkte, die ich in Anlehnimg an die strukturelle Verortung von Relativsätzen bei Grewendorf (1988: 91) in der Schwesterposition zu N' lokalisieren will (cf. 18).

Klasse I müßte synchron anders analysiert werden, da die Adverbien wohl kaum mehr als ursprüngliche Präpositionalphrasen durchsichtig sind. In diesen Fällen sind die daß-Sätze Adjunkte zu Adverbialphrasen. Außerdem finden sich in dieser Klasse als Erstbestandteile auch Konjunktionen wie bevor und obwohl, beides "keine von Haus aus bairischen Wörter" (Lühr 1989: 271). Offenbar handelt es sich dabei um ein Mittel, standardsprachliche Konjunktionen dem bairischen System formal anzugleichen (cf. Lühr 1989: 271). Für diese letzteren Konstruktionen sind nun zwei mögliche Strukturen denkbar. Zum einen ist eine lexikalische Lösung in Betracht zu ziehen, d.h. man könnte sie als komplexe Konjunktionen analysieren, die lexikalisch eine Einheit bilden, die in C° als Ganzes basisgeneriert wird (cf. 19a). Es ist aber auch eine Doppel-COMP-Struktur wie (19b) nicht auszuschließen, in der der Erstbestandteil in SpecCP steht. (19a) (19b)

[ c p [ obwohl dafl]... V f J [ CP obwohl daß]... V f J

Für (19a) spricht der standardsprachliche Befund: Sie sind nebensatzeinleitende Konjunktionen, die daher in C° zu lokalisieren sind (cf. Reis 1985: 303), von wo aus sie die V/2Bewegung blockieren (cf. 20). Ansonsten stünde man hier wieder vor dem Reis'schen Dilemma und hätte Erklärungsnöte, das Ausbleiben von V/2 zu motivieren. (20)

[Q,

obwohl ] [ich ihn gesehen habe]]

36

Dennoch scheint mir die Strukturannahme (19b) von vornherein nicht gänzlich abwegig zu sein, wenn man von dem sicher nicht typischen Fall obwohl vorerst einmal absieht.13 Die meisten der hier relevanten Lexeme haben im Standarddeutschen eine zweifache Verwendung als Konjunktionen und als Adverbien (bzw. gehen auf solche zurück). Nehmen wir das Beispiel trotzdem, das als nebensatzeinleitende Konjunktion (21a) und als Adverb (21b) üblich ist. In adveibieller Verwendung kann es im Vorfeld V/2-Sätze einleiten (21c) (Reis (1985: 303) spricht in diesem Zusammenhang von Konjunktionaladverbien). (21a) (21b) (21c)

Ich mag Hans, trotzdem er mich beleidigt hat Ich mag ihn trotzdem Trotzdem mag ich ihn

Aufgrund dieser Datenlage ist die Struktur (19b) selbst synchron nicht völlig unplausibel. Bei der ersten Möglichkeit muß man von homonymen Formen ausgehen (also zwei bzw. drei distinkte Lexikoneinträge für trotzdem ansetzen), während dies bei (19b) nicht nötig ist. Es ist im Nebensatz dasselbe Lexem wie im Hauptsatz und hat auch bei Erststellung dieselbe Position inne: SpecCP. Auch aus sprachgeschichtlicher Perspektive wäre die Deutung (19b) naheliegend, da in frnhd. Zeit viele der heutigen Subjunktionen (z.B. bis, damit, indem, nachdem, wiewohl u.v.a.) mit daß kombinierbar waren,14 so daß man für diese Zeit die Struktur (19b) auch für das Hochdeutsche annehmen muß. Während wohl im Deutschen diese 'Konjunktionen' als echte reanalysiert wurden, weist das Bairische offenbar noch den frnhd. Zustand auf. Dies führt dann im Falle von obwohl dazu, daß bei Einverleibung einer im Deutschen in C° generierten Konjunktion diese in SpecCP verwiesen wird, da C° ja von daß besetzt ist. Wir hätten damit bei obwohl/trotzdem/zamdem daß usw. eine zweite Klasse echter Doppel-COMP-Fälle im Bairischen. Die übrigen der analysierten Konstruktionen sind dagegen unechte Doppel-COMPs, die strukturell ganz anders aufzufassen sind.

2.1.3. Fokuskonstruktionen Im folgenden sollen Konstruktionen wie in (22a-d) untersucht werden, die von Stechow/ Sternefeld (1988: 387f) als Fokuskonstruktionen (FKs) mit der Struktur (23) analysiert wurden. (22a) (22b) (22c) (22d)

13

14

Da Hans ob kimd, woaß'e ned Da Hans wann kimd, woaß'e ned Glochd daß'ma hom, kaand'e ned song Der Hans hot gsogt, den Peter daß er do trift, hätt er ned denkt

Obwohl daß scheint im Vergleich zum ebenfalls nicht urbairischen trotzdem daß (cf. Ltlhr 1989: 271) relativ jung zu sein. Es ist zwar bei Ltlhr (1989) nachgewiesen, fehlt jedoch zumeist (vgl. z.B. Zehetner 1985: 147). Vgl. die Angaben bei Ebert/Reichmann/Solms/Wegera (1993: 455-482).

37 (23) S"

S'

FOKUS

da Hans

CP

S

wennkimd

woaß'e ned

Bei Stechow/Sternefeld (1988) ist die Fokusposition eine ausgezeichnete, zusätzliche Position, die strikten Beschränkungen gehorcht und nicht identisch ist mit dem SpecCP des Nebensatzes, aus dem die fokussierte Konstituente herausgezogen wurde. Grewendorf (1988: 254f.) plädiert allerdings dafür, die extrahierte Phrase in SpecCP anzusiedeln. Doch scheint mir dies angesichts der bestehenden Restriktionen15 nicht plausibel, diese müßten sonst zusätzlich motiviert werden. Auch sprechen Daten wie (22b) eindeutig gegen diese Analyse, da hier die Specifier-Position von einem w-Element bereits besetzt ist. Fanselow (1991: 221), der die Grewendorfsche Lösung präferiert, weicht angesichts dieser Daten auf (die oben bereits erwähnte) Annahme Bayers (1990c) aus, daß wh-Wörter optional auch in C° stehen können. Ein Indiz dafür glaubt er in der geringeren Akzeptabilität von Sätzen wie (24a) gegenüber (24b) zu sehen (die Fanselowsche Bewertung wurde übernommen): (24a) (24b)

Tt den Peter wer daß liebt weiß ich nicht den Peter wer liebt weiß ich nicht

Mit diesen Daten geht es mir allerdings so wie mit den Koordinationsdaten, die Bayer (1990c: 18f.) anführt: Ich kann hier beim besten Willen keine unterschiedlichen Grammatikalitätsgrade entdecken. Daß FKs im Kontext von wh-Interrogativsätzen zwar generell möglich sind, soll nicht bestritten werden (s.u.), doch scheint es hier subtile Einschränkungen zu geben, die mit der Syntax oder Semantik beider Konstruktionen zusammenhängen. Eine denkbare syntaktische Erklärung wäre: In wh-Interrogativsätzen hat das whElement Skopus über den Restsatz, während in den FKs die fokussierte Konstituente aus dem Skopusbereich entfernt wird, was offenbar dann ohne Konflikt zulässig ist, wenn nach 'Umständen' (wie/wann/wo) gefragt wird, ansonsten aber nur sehr eingeschränkt. Die richtige Grammatikalitätsverteilung ist daher (25a-c): (25a) (25b) (25c)

15

Da Hans wann (daß) kimd, woaß'e ned ??/**Da Hans wen daß mog, woaß'e ned 7?/**An Hans wer (daß) mog, woaß'e ned

Einen guten Überblick über die Eigenschaften von FKs bietet Lutz (1993: 172-178).

38 Semantisch geht es in wh-Fragen um die Identifikation eines Teiles der Proposition, z.B. eines Referenten. Diese Frageposition definiert den Fokusbereich der jeweiligen Antwort (cf. Rooth 1996: 271). Dies vorausgesetzt, dürfte klar sein, warum in einer wh-Frage die syntaktische Fokussierung einer Konstituente qua FK, die nicht mit der Frageposition identisch ist, automatisch zu einem Konflikt führen muß.16 Was immer nun der genaue Grund für den Kontrast ist, es kann auf keinen Fall ein struktureller sein. Die Stechow/Sternefeld'sche Vor-Vorfeld-Position ist daher der Grewendorf-Fanselowschen Analyse vorzuziehen. FKs sind also keine echten Doppel-COMPPhänomene. Im Unterschied zu diesen können bei FKs erstens selbst [-wh]-Elemente zweitens auch aus Nicht-ifa/f-Sätzen extrahiert werden. Man sehe oben die Beispiele (22a, b) sowie für weitere Konjunktionen (26a, b): (26a) (26b)

D'muadda wie des gherd hod, is's ganz naaresch worn Da Hans fois ned kimd

Nicht problematisch finde ich die Sätze, die bei Lutz (1993: 175f., Anm. 64) als mögliche Gegenevidenz für die Struktur (23) angeführt werden (cf. 27a,b). Es ist m.E am einfachsten, wenn man ihnen eine Doppelpunktlesart unterlegt, d.h. nach der Einleitungssentenz ist ein Doppelpunkt anzunehmen, so daß danach ein neuer Satz beginnt. Diese Strukturierung ist nun für die FKs kein Problem mehr. (27a) (27b)

Da Hans glaubt, an Bedda wann'a dawischd, daschlogd'a'n Da Hans hod gsogd, an Bedda daß'a do trifd, hed'a ned dengd

Sätze wie (27a,b) sind aus einem unabhängigen Grund mit Vorbehalt zu verwenden: Die Veiben glauben und sagen sind Brückenveiben, die V/2-Komplemente zu sich nehmen können. Der Status dieser Komplemente scheint mir alles andere als geklärt: So hat Reis (1994) nachgewiesen, daß in Sätzen wie (28a) der angebliche Matrixsatz glaubt er nichts weiter als eine Parenthese und damit umgekehrt der vermeintlich eingebettete Satz ein selbständiger ist. Man sieht das u.a. an Satz (28b), da fragen für kein V/2-Komplement subkategorisiert ist (28c). (28a) (28b) (28c)

16

Wo glaubt er, wohnt sie seit der Trennung? Wen fragt Hans, wird der Chef entlassen? •Hans fragt Otto, wen wird der Chef entlassen

Daß eine wh-Frage selbst so etwas ähnliches wie Fokussierung ist, zeigt sich in manchen Sprachen daran, daß sie syntakisch parallel konstruiert werden. In Gun (Benin) z.B. werden sowohl vorangestellte Fokuskonstituenten (i) als auch wh-Elemente (ii) von einem Fokusmarker (M-έ) begleitet (cf. Haegeman 1995: 109f.): (i) wema lo w6 S£na ho Buch das wd Sena kaufen 'das BUCH kauft Sena' (ii) έίέ we Djan ζέ? was \νέ Djan nehmen "was nimmt Djan?"

39 Es spricht daher nichts gegen die Annahme, daß auch in Sätzen wie (27a, b) der scheinbar eingebettete V/2-Satz in Wirklichkeit ein selbständiger ist. Die (intuitive prätheoretische) Doppelpunktlesart bringt diesen Sachverhalt zum Ausdruck. Schon die Tatsache, daß aus Adjunktsätzen extrahiert werden kann, zeigt den exzeptionellen Charakter der FKs, da finite Adjunktsätze ansonsten Bewegungs-Inseln sind, d.h. nicht durchlässig (opak) für Bewegung (cf. Lutz 1993). Topologisch findet der Ausnahmecharakter der FKs darin seinen Niederschlag, daß die Topikalisierung des Nebensatzes die notwendige Voraussetzung ist. Der Nebensatz muß selbst im SpecCP des Matrixsatzes sein, damit eine Konstituente daraus extrahiert werden kann (29a vs. b): (29a) (29b)

Des Bier wenn'e no dring, bin'e bsuifa *I bi bsuffa, des Bier wenn'e no dring

FKs sind nicht allein auf finite Adjunktsätze beschränkt. Sie finden sich bei allen Nebensatztypen: eingebettete w- und Entscheidungsinterrogativsätze (30a,b), Objekts- und Subjektssätze (30c, d) sowie auch selbständige V/End-Sätze (30e,f) erlauben FKs. (30a) (30b) (30c) (30d) (30e) (30f)

Da Hans wann (daß) kimd, woaß'e ned Da Hans ob heid no kimd, woaß'e ned An Fimfa daß'e krieg, hed'e ned glaubt Da Hans daß kimd, gfreid'me Da Adenauer wann des no dalebd hed DMuadda daß des no daleem muaß

Extrahierbare Konstituenten sind neben Subjekts- und Objekts-NPs (s. bisherige Beispiele) PPs (3 la), VPs (3 lb), APs (3 lc) sowie AdvPs (3 ld): (31a) (31b) (31c) (31 d)

An dWand wennsd'n wirfsd, hefd's gor nix Dawischn wenn'e'n dua, gejd's earn schlechd Zornig wenn'a wird, wird's grausam Gesdan daß'a scho kema waar, daad'me wundan

Neben dem Typ von FK, der die Struktur (23) aufweist, scheint es einen weiteren Typus zu geben, der sich topologisch von ersterem eindeutig unterscheidet (Lutz 1993: 176). Bei diesem zweiten Typus befindet sich der Nebensatz nämlich nicht in der SpecCP-Position des Matrixsatzes, da diese - siehe (32a,b) - mit lexikalischem Material gefüllt ist. Der Nebensatz kann also nicht in der 'normalen' Art topikalisiert sein. Hier ist davon auszugehen, daß der Nebensatz selbst in einer Adjunktionsposition steht, also in etwa die Struktur (33) hat, wobei die interne Strukturierung von Fokuskonstituente und Nebensatz identisch mit Typ I ist. (32a) (32b)

Da Vadda wenn no lebad, do gabad's des ned An Gurknsalad wenn's harn, den kinnan's'ma geem

40 (33) CP CP

CP

FOKUS

da Vadda

CP

wenn no lebad



Spec

do gabad's

Die beiden Typen zeigen eine weitere bemerkenswerte grammatische Differenz: so lizensieren nur FKs mit der Struktur (23) parasitäre Lücken (cf. 34a vs. b). Somit ist klar, daß beide Typen strukturell unterschiedlich sein müssen. (34a) (34b)

An Hansi wenn'e tj dawisch, daschlog'e t; *An HanSj wenn'e ti dawisch, dann daschlog'e t[

In der Forschung geht man davon aus, daß Fokus ein Merkmal der relevanten Phrasen ist, das semantisch/pragmatisch und phonologisch/phonetisch interpretiert sein muß (cf. Rooth 1996). Letzteres bedeutet in der Regel, daß das Fokuselement intonatorisch gekennzeichnet ist.17 Bei den diskutierten bairischen FKs ist Fokussierung darüber hinaus zusätzlich syntaktisch-strukturell markiert. In der generativen Grammatik findet sich nun die Vorstellung, daß das Fokus-Merkmal [+F] in einer eigenen Fokusprojektion (FoP) überprüft bzw. zugewiesen wird (cf. Haegeman 1995: 107-111). Wie (35) illustriert, steht die fokussierte Konstituente im Specifier von FoP, um das im Kopf Fo° befindliche Fokusmerkmal zu identifizieren.

17

Zum Verhältnis von Intonation und Fokus (sowie Satzmodus) vgl. auch den Sammelband von Altmannetal. (1989)

41 (35) FoP

Spec

CP an Hans [+F]

C'

Spec

/ wenn'e dawisch daschlog'e

Die Stechow/Sternefeldsche Struktur-Analyse (23) ist problemlos in das neuere Format konvertierbar (nicht jedoch die Grewendorf-Fanselow-Alternative), da die FOKUS-Position lediglich als maximale Projektion reanalysiert werden muß, die den Restsatz dominiert. Bei dem zweiten Typus (31) hat man zwei Möglichkeiten, ihn in das neue Schema (35) zu integrieren. Entweder man behält die Adjunktionsstruktur (31) bei, dann ist der 'Gehalt' der FoP identisch mit (35), oder man geht davon aus, daß bei diesem zweiten Typus der Nebensatz, aus dem das fokussierte Element stammt, in den lexikalisch leeren Kopf der FoP bewegt wird. Gegen die zweite Möglichkeit spricht jedoch das Strukturerhaltungsprinzip, das verbietet, daß maximale Projektionen in Kopfpositionen bewegt werden. Somit ist beim zweiten Typus die CP-Adjunktion des Nebensatzes die korrekte Annahme. Zusammenfassend ist zu sagen, daß die FKs, auch unter der neueren FoP-Analyse, keine Doppel-COMP-Phänomene sind, sondern sich strukturell ganz anders darstellen.

2.2. Der Restsatz Nach der Analyse des CP-KompIexes und zugehöriger Phänomene wollen wir uns dem Rest des Satzes zuwenden. Auch hier gilt es zunächst festzuhalten, daß es bei den zahlreichen Differenzen im Detail keine wirklich substantiellen Unterschiede zum Hochdeutschen gibt. 2.2.1. Zur Abfolge nominaler Satzglieder Nominale Satzglieder, d.h. Subjekt (S), indirektes Objekt (IO) und direktes Objekt (DO), unterliegen in ihrem Vorkommen bestimmten Abfolgebeschränkungen, die nicht zuletzt

42 von den involvierten Veiben abhängen. So scheint es im Deutschen bei den sog. ditransitiven (dreiwertigen) Verben zumindest drei Klassen zu geben, die danach diskriminiert werden können, welche Objektabfolge sie erfordern (cf. Haider 1993: 197f.; Mergel 1994). Während ein Veib wie aussetzen als Grundabfolge AKK > DAT hat (cf. 36a vs. b), ist sie bei einem Verb wie trocknen umgekehrt DAT > AKK (cf. 36c vs. d). (36a) (36b) (36c) (36d)

wenn man die Kinder der Gefahr aussetzt ?wenn man der Gefahr die Kinder aussetzt wenn man dem Kind die Tränen trocknet ?wenn man die Tränen dem Kind trocknet

Bei vielen dreistelligen Veiben zeigt sich allerdings keine eindeutige Präferenz für eine der beiden Wortstellungsmöglichkeiten. Bei geben z.B. ist der durch Alternation zu erzielende Kontrast (cf. 37a vs. b) im Vergleich zu beiden vorhergehenden Verben geradezu minimal. Hier spielen dann andere Faktoren, etwa die Abfolge definit > indefinit (cf. Büring 1993), die entscheidende Rolle (cf. 37c vs. d). (37a) (37b) (37c) (37d)

wenn man dem Kind das Buch gibt wenn man das Buch dem Kind gibt wenn man das Buch einem Kind gibt wenn man einem Kind das Buch gibt (markiert)

Anders als Mergel (1994: 4) gehe ich bei dieser Verbklasse dennoch, wie in Struktur (1) als (38) wiederholt - eingezeichnet, davon aus, daß die Basisabfolge DAT > AKK ist: (38)

CP

C

Spec Ce

ScP

Ρ

ScP

Ρ

VP/IP

Subj.

VP/IP

ΙΟ

V/Γ

DO

V7P

43

Die Motivation, warum ich DAT > AKK als Grundabfolge ansehe, ist für mich das Verhalten klitischer Objektspronomen (s. Kapitel III). Sind beide Objekte pronominalisiert und klitisieren in die Wackernagel-Position, so ist DAT > AKK nicht nur die unmarkierte, sondern die einzig mögliche Abfolge (cf. 39a vs. b). Dies gilt übrigens uneingeschränkt auch für Verben der Klasse I, die nominal die Abfolge AKK > DAT haben (cf. 39c vs. d): (39a) (39b) (39c) (39d)

i hob'da'n geem *i hob'n'da geem i hob'da'n überloßn »i hob'n'da überloßn

Da bei der Pronomonalklise Faktoren wie Definitheit vs. Indefinitheit, die die Wortfolge determinieren können, keine Rolle spielen, weil Personalpronomen per se definit sind, ist die Abfolge DAT > AKK eindeutig grammatisch-strukturell geregelt. Wenn man nun außerdem davon ausgeht, daß das Klitikcluster eine Abbildung der VP-internen Basispositionen darstellt, ergibt sich obige Ansetzung in Struktur (l)/(38), in der das indirekte dem direkten Objekt vorangeht. Anders als bei Abraham/Wiegel (1993) ist die DAT-Stelle keine Adjunktionsposition, weil dies im Zusammenhang mit der Internen-Subjekts-Hypothese (s.o.) keinen Sinn machen würde. Bei der Serialisierung nominaler Objekte sind im konkreten Fall immer zusätzliche, zumeist diskursiunktionale Faktoren von Belang. So gilt z.B. die wichtige Regel, daß definite NPs, da thematisch, indefiniten vorangehen, weil letztere zum rhematischen Teil des Satzes gehören (s.o. 37c, d).18 Diese relative 'Freiheit' der Wortstellung - in der Literatur unter dem Stichwort Scrambling kontrovers diskutiert - wird mit dem Vorhandensein eines morphologischen Kasussystems in Zusammenhang gebracht, das eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung zu sein scheint (cf. Fanselow 1992b). Bei Scrambling sind also morphologische und pragmatische bzw. satzsemantische Aspekte involviert, wobei sprachspezifisch unterschiedlich geregelt sein kann, welcher der beiden Faktoren ausschlaggebend ist. Im Niederländischen z.B. - einer SOV-Sprache ohne Kasusmorphologie - ist die relative Abfolge nominaler Objekte strikt geregelt: 10 > DO (cf. 40a vs b) (Beispiele aus Weerman 1994): (40a) (40b)

dat Johan Marie het boek geeft daß Johann Maria das Buch gibt •dat Johan het boek Marie geeft

Nach Weerman (1994: 7) u.a. ist der Grund für die Beschränkung die fehlende Kasusmorphologie: Wenn es kein morphologisches Kasussystem gibt, müsse die Anordnung von IO und DO konstant bleiben, lautet seine Generalisierung. Fanselow (1992b: 4f.) nimmt an, daß morphologisch nicht sichtbarer Kasus - wie im Englischen und Niederländischen 18

Für eine Ableitung dieser Regel aus der Diskursrepräsentationstheorie s. Btlring (1993) und Kapitel IV dieser Arbeit. Auf der Folie der Thema-Rhema-Struktur versucht dies Abraham (1995:605-649).

44 erst auf der s-Struktur als Merkmal der entsprechenden NPs erzeugt wird, so daß die strukturell vorgegebenen Kasuspositionen einzuhalten sind, an denen allein Kasus zugewiesen werden kann. Bei morphologischen Kasussprachen wie dem Deutschen kommen dagegen die NPs voll spezifiziert aus dem Lexikon und sind daher nicht so rigide stellungsgebunden. Da es aber auch im Niederländischen eingeschränkt Scrambling gibt (cf. Haider 1993: 232f.), regelt sich über die fehlende Kasusmorphologie wohl nur die relative Abfolge der Objekte im Sinne von Weerman (1994): Die sprachhistorisch rekonstraierbare Deflexion hat zur Grammatikalisierung der Abfolge IO > DO geführt. Kasusmorphologie und Wortstellung sind alternative Möglichkeiten, syntaktische bzw. thematische Funktionen zu markieren. Unter Ökonomiegesichtspunkten wäre zu erwarten, daß sich beide Möglichkeiten gegenseitig ausschließen, um unnötige Redundanz zu vermeiden. Weerman (1994: 8) zufolge könne man als Ökonomieregel ansetzen: "Do not use flexion unless you are forced to do so". Doch dem scheint empirisch nicht so zu sein, da es Sprachen wie Isländisch gibt, die trotz reicher Kasusmorphologie keine freie Konstituentenstellung erlauben (cf. Fanselow 1992b). Daß auch der (nahezu) umgekehrte Fall - nämlich 'freie' Wortstellung der beiden Objekte bei einer minimalen Kasusmorphologie - existiert, dafür ist das Bairische ein Beleg: es gibt sowohl IO > DO als auch DO > IO. In der Empirie ist es allerdings etwas komplizierter, weil morphologische und pragmatisch-semantische Aspekte ein subtiles, schwer durchschaubares Zusammenspiel eingehen und es letztlich wohl keine wirklich freie Wortstellung gibt, deren Alternationen "für die Diskursbedeutung konsequenzlos" (Abraham 1995: 599, Anm. 13) wären. Das Bairische hat zweifelsohne ein morphologisches Kasussystem, das aber sehr eingeschränkt ist, wobei man jedoch hinzufügen muß, daß die Tendenz zu Reduktion und Vereinfachimg für alle deutsche Dialekte gilt. Werlen (1994: 61) meint Parallelen zum Englischen und Französischen zu erkennen, also zu Sprachen, die nur noch pronominale Kasusformen haben. Diese Einschätzung ist für das Bairische jedoch nur partiell angemessen, auch sind die bestehenden Differenzen weitaus relevanter und interessanter. Das Kasussystem ist in ein morphologisches System (Deklination) eingebunden, das im Bairschen wie in anderen deutschen Sprachen auch die Kategorien Genus und Numerus umfaßt. Da hier aber noch mehr wie im Standarddeutschen (cf. Bittner 1994: 68) die Tendenz besteht, Kasusflexion am Nomen abzubauen, liegt eine weitgehende Dissoziierung vor. Nach Wurzel (1996: 495) zeigt sich in der Geschichte des Deutschen im Bereich der Deklination eine Entwicklung vom fusionierenden zum agglutinierenden Typ, weil Kasusmarkierung immer mehr eine Funktion der Artikel geworden ist. Das Bairische hat, wie zu zeigen sein wird, diese Entwicklung nahezu vollständig durchgeführt. Wenn man die Kategorie Genus beiseite läßt, da sie am Substantiv flexivisch nicht repräsentiert wird,19 bleiben Numerus und Kasus als relevante Größen. Im Bairischen wird

19

Im Standarddeutschen ist dies anders: so ist es nicht unplausibel, das Endungs-e femininer Substantive im Singular {Hose, Rose, Katze etc.) als Morphem mit der Bedeutung [+fem] zu analysieren (cf. Bittner 1994). Im Bairischen enden sie dagegen konsonantisch (Hosn, Rosn, Katz), so daß die Korrespondenz nicht besteht.

45 am Substantiv praktisch nur mehr der Plural morphologisch markiert, Singular und Kasus dagegen überhaupt nicht (s. 41 und die entsprechenden Beispielwörter in 42): (41)

PI

Sg Nom Dat Akk

(42)

-

-

-

-

+ + +

Num

Kas

Num

-

Mask.: Vom (Sg.Nom/Dat/Akk) Fem.: Schissl (Sg.Nom/Dat/Akk) Neutr.. Haus (Sg.Nom/Dat/Akk)

-

-

Kas

Vam (Pl.Nom/Dat/Akk) Taden' Schissln (Pl.Nom/Dat/Akk) Haisa (Pl.Nom/Dat/Akk)

Die nominale Morphologie ist also noch nach [+/-P1.] spezifiziert,20 Kasus wird jedoch nicht mehr ausbuchstabiert. Die nominale 'Kasusnullflexion' wird nur an drei Stellen unterbrochen. So gibt es erstens zwei Klassen von Substantiven, die im Dat und Akk Sg. das Flexiv 'n' bzw. Alloformen davon aufweisen. Es handelt sich dabei zum einen um mask. Substantive mit dem semantischen Merkmal [+belebt]: Hos - Hosn (Hase), Imp - Impm (Biene), Ochs - Ochsn, Mensch -Menschn etc. (cf. Kollmer I, 286). Das Belebtheits-Merkmal ist allerdings nicht hinreichend, da viele Tieibezeichnungen {Hund, Katz, Kua, Sau) nicht in diese Klasse fallen. Bei den meisten ist der Grund, daß es fem. Substantive sind. Bei Hund träfen dagegen alle klassenbildenden Merkmale zu: maskulin, monosyllabisch, [+belebt], es verhält sich aber trotzdem anders. Verwandtschaftsbezeichnungen, die auch als eine Subklasse aufgefaßt werden können (Steininger 1994: 122), bilden die zweite Klasse (cf. Kollmer I, 289): voda (Nom Sg.) - vodan (Dat/Akk Sg.). Diese Klasse ist wohl im Verschwinden begriffen: im Akk und teilweise auch im Dat ist flexionslose Verwendung heute üblicher (43a, b), bei letzterem ist die Flexion aber immerhin noch möglich (43c). (43a) (43b) (43c)

i han dein Vadda drofa i han deim Vadda ghoifa i han deim Vaddan ghoifa

Man könnte die Verwandtschaftsbezeichnungen daher der zweiten Gruppe von Ausnahmen zuschlagen, die nur im Dat Sg. ein Kasusmorphem 'n' haben. Zu dieser Gruppe gehört gesamtbairisch vermutlich nur Herz - Herzn sowie einige regional beschränkte Substantive wie das neutrale Masch - Mäschn 'Mädchen' (cf. Steininger 1994: 121). 20

Die Pluralbildung ist im Bairischen eine äußerst 'vielgestaltige' Angelegenheit: Kollmer I, 290 listet 50 verschiedene Typen auf. Die Möglichkeiten reichen von Formengleichheit (oa/zwoa Schaf) bis zum potenzierten 'doppelten' Plural (oa wocha - zwoa wochan, cf. Zehetner 1985: 117f.) und zur Abwandlung des Silbenschnitts (cf. Zehetner 1983). Letzteres zeigt, daß das introflexivische Potential eindeutig höher ist als im Hochdeutschen, das nur den Umlaut als intramorphemischen Pluralmarker kennt: Vater - Väter (vgl. dazu Wurzel 1996: 500f.).

46 Eine dritte Ausnahme ist der Dat PL, der zumindest im Bayerischen Wald ursprünglich als Flexiv 'an' hatte, was aber heute z.T. bereits als archaisch gilt (cf. Kollmer I, 280). So ist (44b) jetzt gegenüber (44a) präferiert. Eine Tendenz zur distinkten Markierung des Dat PL ist aber immer noch erhalten, da das endungslose Substantiv nur mit der markierten betonten Artikelform de kombinierbar ist, nicht jedoch mit der unbetonten Form (a)n (cf. 43c, diese Beobachtung findet sich bei Kollmer I, 280), so daß das Dat-vs.-Nom/AkkSystem weiterbesteht. (44a) (44b) (44c)

Gib's (a)n Herman 'Gib es den Hühnern' Gib's de Henna *Gib's an Henna

Diese drei Ausnahmefälle sind insgesamt entweder quantitativ begrenzt oder bereits im Abbau befindlich, so daß man zusammenfassend sagen kann, daß es im Bairischen faktisch keine Kasusmarkierung am Nomen mehr gibt. Diese Erscheinung zeigt sich auch in den ansonsten konservativeren Dialektvarianten des Bairischen wie z.B. im Mochenischen, das im trentinischen Val Fersina gesprochen wird (cf. Rowley 1977: 150). In diesem Punkt hat Werlens (1994: 61) Parallelisierung mit dem Englischen und Französischen seine Berechtigung. Es bestehen aber dennoch gravierende Unterschiede. So ist die Kasusmarkierung im Bairischen - dem agglutinierenden Typus entsprechend (s.o.) - eindeutig eine Funktion der Artikelform, wie bei (44b) oben bereits ersichtlich wurde. Dies ist auch einer der tieferen Gründe dafür, daß selbst Eigennamen mit Artikel verwendet werden müssen. Doch auch beim Artikel zeigt sich die Tendenz zur Reduktion der Morphologie: Von den drei erhaltenen Kasus Nom, Dat und Akk21 werden zumeist Nom und Akk formal gleich behandelt, in einem Fall (Sg.mask.) jedoch Dat und Akk. Letzteres scheint eine bislang in der Literatur noch nicht bemerkte bzw. gewürdigte baltische Besonderheit zu sein, die sich z.B. im Alemannischen - man vergleiche die Angaben bei (Nübling 1992: 201) - nicht findet. (45) bis (48) geben in Form von Tabellen Aufschluß über Systematik und Formenbestand der beiden Artikel (definit und indefinit), wobei beim definiten nur die unbetonten Formen gewählt wurden, weil diese die unmarkierten darstellen, während die betonten - bis auf die Ausnahme, die oben bei (44b) geschildert wurde, und einige weitere - als Demonstrativpronomen (deiktisch) bzw. als anaphorisch (Carlson 1991: 371) zu analysieren sind (cf. Eroms 1989 fur eine präzisere Funktionsbestimmung des betonten Artikels, sowie v.a. Abschnitt 3.1.). (45)

Sg. Nom 21

definiter Artikel: Systematik

mask A

fem A

neutr A

PL

M/F/N A

Der Genitiv existiert gesamtbairisch (wie auch - bis auf Reste - gesamtdeutsch, cf. Pfaff 1990) nicht mehr, ein Genitivus possessivus - pränominal und nur bei Eigennamen (des Hansn Haus) kann nur für den Ortsdialekt von Oberneureutherwaid nachgewiesen werden (cf. Steininger 1994: 119f.). Dagegen gibt es - bei Eigennamen - einen morphologischen Vokativ, der sich durch Artikellosigkeit von den übrigen Kasus unterscheidet (cf. Steininger 1994: 120). Da der Vokativ ein satzexterner Kasus ist, bleibt er im folgenden unberücksichtigt.

47 Dat Akk 46) Sg. Nom Dat Akk (47)

(48)

Β Β

Β A

Β A

Β A

definiter Artikel: unbetonte Formen (nach Kollmer I, 272Ϋ2 mask fem neutr PI. da(r) d s da(r) (a)n (Φ (a)n s d indefiniter Artikel Sg. Nom Dat Akk

mask A Β Β

fem A Β A

indefiniter Artikel (nach Kollmer 1,273)23 mask fem Sg. Nom a a Dat an ana Akk an a

M/F/N d (a)n/de d

neutr A Β A

neutr a an a

Schon ein kurzer Blick auf die Paradigmen (46) und (48) zeigt die morphologische Armut des Kasussystems: Für die 21 Funktionen stehen gerade sechs verschiedene Formen zur Verfügung. Die einzelnen Formen sind polyfunktional: so kann an als extremstes Beispiel allein sieben unterschiedliche Bedeutungen haben, nämlich als definiter Artikel bei Sg. mask. Dat und Akk sowie im Sg. neutr. und im PI. jeweils Dat, als indefiniter Artikel kann es im Sg. mask. Dat und Akk sowie im Sg. neutr. Dat sein. In der Form an fallen also sogar definiter und indefiniter Artikel zusammen. Es war somit nicht ungerechtfertigt, wenn oben davon gesprochen wurde, daß das Bairische eine minimale Kasusmorphologie aufweist. Die Folge der Polyfunktionalität der Artikelformen ist auf der anderen Seite, daß auf der morphologischen Ebene bestimmte DPs/NPs ambig sein können. Die NP an Hund in (49) ist mit ihren vier Bedeutungen sicherlich ein - wenn auch nicht unbedeutender Sonderfall, die Regel stellt die NP d'Frau in (50) dar, die wie im Hochdeutschen Nom und Akk sein kann.

22

23

d (Nom/Akk Sg.fem. und PI.) ist eine Abstraktion, da Assimilation an den konsonantischen Anlaut des Nomens häufig auftritt:fcTrau,fcTCindausw. Auch die übrigen sind in gewisser Weise abstrakte Formen, doch tritt bei ihnen Assimilation wesentlich eingeschränkter auf. In dem von Steininger (1994: 98) untersuchten Ortsdialekt lautenftlrdas Feminin alle drei Kasusformen gleich: ά. Hier liegt also sogar eine A-A-A-Systematik vor. Auch Eroms (1989: 232) gibt drei identische Formen (α) fürs Feminin.

48 (49)

an Hund

(50)

d'Frau

1. 2. 3. 4.

dem Hund den Hund einem Hund einen Hund

l.Nom 2. Akk

Das Kasussystem des Bairischen ist, von seiner Systematik - man vergleiche (45) und (47) - her betrachtet, zweigeteilt. Zum einen im Sg. fem. und neutr. sowie im PI. eine NomAkk-vs.-Dat-Dichotomie, zum anderen im Sg. mask, eine Nom-vs.-Akk-Dat-Dichotomie (dies gilt für den definiten wie den indefiniten Artikel).24 Das erste System hat den Unterschied von Nom und Akk aufgegeben und erinnert darin an Sprachen wie Englisch, Französisch oder Niederländisch. Die Differenz liegt allerdings in der Dat-Markierung, die im Bairischen weder über die Wortstellung geschieht noch präpositional, sondern morphologisch qua Artikelform ist.25 Nom und Akk, die ja formengleich sind, werden durch ihre relative Stellung zueinander unterschieden: Nom > Akk (cf. 51a vs. b). (51a) (51b)

wie bTrau Nom sTCind^ sehgt wie s"KindNom b T r a u ^ sehgt

Da beim ersten System Akk und Dat formal distinkt sind, ist die Wortstellung nicht grammatisch, sondern pragmatisch geregelt, d.h. (52a und b) sind beide korrekt, unterscheiden sich aber in ihrem 'diskursfunktionalen Wert'. Da beide Objekt-NPs definit sind, also thematisch und strukturell nicht in ihrer VP-internen Basis-, sondern in der Scrambling-Position anzusiedeln sind, ist die jeweilige letzte NP die diskursfunktional prominente, die im Fokus steht. Sie hat im Sinne von Abraham (1995: Kap. 14) und anderen den grammatikalischen Akzent (normaler Satzakzent), der ihr allein aufgrund ihrer Position als NP unmittelbar vor dem Verb zukommt. Ist eine der beiden Objekts-NPs indefinit, muß sie, da sie rhematisch ist, diese Position einnehmen, unabhängig davon, ob nun IO oder DO die indefinite NP ist (cf. 52c-f). (52a) (52b) (52c) (52d) (52e) (52f)

24

25

wai'e da Mare sBiachl geem muaß wai'e sBiachl da Mare geem muaß wai'e da Mare a Biachl geem hob *wai'e a Biachl da Mare geem hob wai'e sBiachl an Kind geem hob * wai'e an Kind sBiachl geem hob

Denselben Systemsplit haben auch Adjektive und Pronomen (man vergleiche z.B. die Form earn, die ja Dat und Akk sein kann). Bei Pfaff (1990: 554) ist dieselbe Systematik auch für das "Upper Austrian" dokumentiert. In vielen ndt. Dialekten ist der Zusammenfall von Dativ und Akkusativ zu einem gemeinsamen Objectivus in allen Genera durchgeführt (Pfaff 1990). Im Schweizerdeutschen gibt es präpositionale Dat-Markierung (cf. Ntlbling 1992: 206-210; Werlen 1994: 61), die auch - regional offenbar sehr beschränkt - im Bairischen zu finden ist, cf. Mayerthaler/Mayerthaler (1990: 419f.), deren Deutung als "basilectal Bavarian" mit Sicherheit überzogen ist.

49 Dies zeigt, daß fur die Zuweisung des grammatikalischen Akzents die Basisposition der Objekts-NP nicht relevant sein kann, sondern die Oberflächenposition (PF-Position). Ob man DO > 10 (z.B. in 52b) bei einem Verb wie geben, das keine eindeutige Präferenz aufweist (s.o.), wie Fanselow (1992b) als basisgeneriert oder - wie die Tradition - als Inversion (Scrambling) auffaßt, ist letztlich nur ein technisches Problem, beide Möglichkeiten sind jedoch GB-technisch motivierbar. Festzuhalten bleibt, daß das Bairische hierin völlig analog mit dem Hochdeutschen geht (bzw. umgekehrt): Die konkrete Wortstellung regelt sich pragmatisch. Wie ist es nun aber beim Sg. mask., wo es ja keine Unterscheidung zwischen Dat- und Akk-Formen26 sowie zwischen definitem und indefinitem Artikel gibt. Aufgrund dieser formalen Indifferenz wäre zu erwarten, daß die Abfolge strenger geregelt ist, um Eindeutigkeit zu gewährleisten. Vorstellbar ist z.B., daß - ähnlich wie im Niederländischen, das ebenfalls die morphologische Unterscheidung von Dat und Akk verloren hat (s.o.) - nur die Abfolge IO > DO erlaubt ist. Doch dem ist nicht so. Betrachten wir dazu Satz (53a), in dem die beiden Objekt-NPs formal gleich und in der Reihenfolge 10 > DO angeordnet sind. Insofern entspräche er durchaus dem 'niederländischen Modell'. Auffällig ist jedoch, daß er nur die Bedeutung von (53b) haben kann, während (53c) als hd. Übersetzung völlig ausgeschlossen ist. Bei einer strikt syntaktisch-strukturellen Regelung der Wortfolge ist dieses Ergebnis ohne Zusatzannahmen nicht erklärbar. (53a) (53b) (53c)

I hob an Hund an Knochn geem Ich habe dem Hund einen Knochen gegeben Ich habe dem Hund den Knochen gegeben

Was letztlich zählt, sind somit pragmatische Faktoren (definit > indefinit) und nicht syntaktische Basisstrukturen. Dies zeigt sich auch daran, daß die inverse Abfolge DO > 10 syntaktisch ohne weiteres möglich ist (cf. 54a). Allerdings geht auch diese Reihung mit einer eindeutigen NP-Interpretation einher: Beide Objekt-NPs sind definit, daher ist die korrekte Übersetzung (54b) und nicht (54c). Obwohl nur die NPs umgestellt wurden, ergibt sich eine völlig andere Lesart. (54a) (54b) (54c)

I hob an Knochn an Hund geem Ich habe den Knochen dem Hund gegeben Ich habe den Knochen einem Hund gegeben

Da unter den angegebenen Bedingungen beide Abfolgen grammatisch sind, wird deutlich, daß weder eine strukturelle Regelung ä la Niederländisch oder Englisch vorliegt noch die Abfolge über eine thematische Hierarchie (z.B. Rezipient > Thema) determiniert sein kann.27 Wenn man wie im vorliegenden Abschnitt Definitheit und Indefinitheit mit Thema und Rhema in Verbindung bringt (vgl. auch Büring 1993), ist der einzig mögliche Schluß, daß die Normalwortstellung, die dadurch definiert sei, daß der grammatikalische 26

27

Die A-B-B-Systematik wird von Weerman (1994: 9) - aus theorieinternen Gründen, die für uns nicht relevant sind - mit dem Label "is not economic" versehen! Zur Beziehung zwischen Wortfolge und thematischen Rollen vgl. Primus (1993: 690f.).

50 Akzent auf die am weitesten rechts stehende NP fällt, von der Thema-Rhema-Gliederung festgelegt wird. Für die Normalwortstellung lassen sich im Bairischen zwei Abfolgeparameter Α und Β angeben, die beim Sg.mask. gelten: A Β

Dat < Akk Akk < Dat

+def -def +def +def

Beide Abfolgen sind im oben definierten Sinne Normalwortstellungen. Ersichtlich wird dies auch daran, daß jeweils die unbetonte Artikelform verwendet wird. Da aber die Interpretation der NPs, die ja kasusmorphologisch nicht distinkt sind, streng geregelt ist - es gibt keine Bedeutungsambiguitäten kann man in einem strikten Sinn nicht von freier Wortstellung sprechen. Sie ist eindeutig festgelegt, um die oben bei (49) und (50) dargestellten morphologischen Ambiguitäten syntaktisch zu disambiguieren. Auf der Ebene der Syntax existiert keine Ambiguität mehr. Die Varianz der beiden Abfolgen geht ja mit Bedeutungsunterschieden einher und ist daher bedeutungskonstitutiv. In diesem Bereich macht es also überhaupt keinen Sinn, eine der beiden Abfolgen als unmarkiert und die andere als markiert zu bezeichnen, da beide unter den angegebenen Bedingungen unmarkiert und nur unter diesen grammatisch sind. Strukturell gesehen, sind beide sowieso abgeleitete Strukturen, da auch bei der Dat-Akk-Abfolge davon auszugehen ist, daß das definite 10 nicht mehr in seiner VP-internen Basisposition ist, sondern in der ScramblingPosition. Für eine Ableitung dieser Fakten aus der Diskurs-Repräsentations-Theorie (DRT) sei auf das Kapitel IV über die doppelte Negation verwiesen. Markierte Konstruktionen zeichnen sich dadurch aus, daß bei ihnen die betonten Artikelformen Verwendung finden, die deiktischen Gebrauch anzeigen. Die einzelnen Möglichkeiten werden durch die Beispielsätze (55a-c) illustriert: (55a) (55b) (55c)

I hob den Knochn an Hund geem Ich habe diesen Knochen dem Hund gegeben I hob an Knochn dem Hund geem Ich habe den Knochen diesem Hund gegeben I hob dem Hund an Knochn geem Ich habe diesem Hund einen Knochen gegeben

2.2.2. Der Veibalkomplex Im folgenden geht es um die Syntax des Veibalkomplexes im Bairischen. Ähnlich wie Lötscher (1978: 10) für das Zürichdeutsche kann auch für das Bairische konstatiert werden, daß es "offenbar kein einfaches einheitliches Prinzip für die Stellung der Elemente einer komplexen Verbalgruppe [gibt], so wie man etwa für das Standarddeutsche generell formulieren könnte, daß alle Verbalteile den von ihnen determinierten Elementen

51 (Verbalelemente eingeschlossen) folgen."28 Die Varianz ist wesentlich größer als in der Standardsprache. Wir wollen uns daher - mit einer Ausnahme - auf den Verbalkomplex des Nebensatzes (V/End-Sätze) und die Abfolgemöglichkeiten der veibalen Elemente beschränken und werden dabei weitgehend deskriptiv verfahren. Bei den einfachsten Komplexen, bestehend aus dem Auxiliar (AUX) und einer partizipialen Verbform (V), sind beide logisch möglichen Abfolgen - man sehe (Ia) und (Ib) - auch grammatisch möglich, wie die Beispielsätze in (56) illustrieren. (Ia) ist dabei die unmarkierte Serialisierung, (Ib) ist eine marginale Konstruktion, deren Auftreten vielleicht dadurch gesteuert wird, daß wie in (56b) ein eng zum Prädikatsverb gehöriges Element ins Nachfeld bewegt wurde. Nach Lötscher (1978: 10) ist (Ib) im Zttrichdeutschen "inakzeptabel". Abraham (1995: 305) zufolge sind bei Aaiew-Anhebung semantische Aspekte ausschlaggebend: Die Inversionsvariante (56c) erlaube nur eine Vorgangslesart des Prädikats, bei der nicht invertierten Abfolge (56d) ist zugleich auch eine Zustandslesart möglich. (Ia) (Ib)

V AUX AUX V

(56a) (56b) (56c) (56d)

daß'a'da des gschengd hod Und wia's a soo hand furtganga midanand (Haller 1,59) daß wir Flüchtlinge ham versteckt (Abraham 1995: 305) daß wir Flüchtlinge versteckt harn (Abraham 1995: 305)

Fast parallel sind die Verhältnisse, wenn die Auxiliare sein, werden und haben in ihrer Vollverbvariante verwendet werden: auch hier sind beide Abfolgen grammatisch (IIa und IIb). Allerdings ist (IIb) bei allen drei Auxiliaren möglich (cf. 57b, d), aber nicht besonders häufig, so daß auch hier die Anhebungsvariante eine marginale Konstruktion ist. Was die Inversion regelt, ist unklar. (Ha) (üb)

AUX2AUX1 AUX1 AUX2

(57a) (57b) (57c) (57d) (57e)

wai des domois na schena gwen is bis dTCiacha aus is gwen (Haller 1,25) wia sWedda schlechda woam is daß da Sepp gesdan s'Audo ghod hod wenn's koa rechd a narresche Kejdn hod ghod (Kerscher, 72)

Beim sog. doppelten Perfekt, das im Baltischen als Plusquamperfektersatz sehr häufig ist, kann das finite AUX1 prinzipiell in End-, Zweit- und Erststellung auftreten (cf. IIIa-c). Doch existieren eindeutige Distributionsunterschiede bei den einzelnen Auxiliaren: so ist (lila) bei -werden stark präferiert (cf. 58a), während bei haben die Variante mit Auxiliarinversion (Illb) die unmarkierte Konstruktion darstellt (cf. 58b), obwohl (lila) auch 28

Dies ist nicht ganz korrekt, man denke etwa an den Ersatzinfinitiv. Zum Verbalkomplex im Standarddeutschen cf. Meier (1994).

52 möglich ist.29 Auch bei sein sind beide Möglichkeiten grammatisch, (Illb) ist aber ebenfalls stark präferiert (58c). Die Voranstellung des Auxiliars (Illb) ist auf sein beschränkt (cf. 58d), wobei auch hier wieder unklar ist, welche Faktoren die AUX-Anhebung steuern. (ma) (mb) (nie)

VAUX2AUX1 VAUX1 AUX2 AUX1 VAUX2

(58a) (58b) (58c) (58d)

wia Bayern zum Königreich gmocht woam is (Haller IV, 57) wia'ra des gheerd hod ghod wia'ra gstoarm is gwen wia de Doudn e da Schdum am Bred hand afbohrd woan (Kerscher, 96)

Bei Konstruktionen mit zwei Verben geht im Perfekt (nicht nur dort) das regierte Verb dem regierenden voran (cf. IV). Wenn z.B. Verben wie gehen,*0 helfen, sehen wie in den Sätzen (59) einen reinen Infinitiv einbetten, ist nur die Abfolge (IV) erlaubt. Dies zeigt u.a., daß die genannten Veiben - anders als etwa im Schweizerdeutschen (cf. Lötscher 1978) - im Bairischen keine Modalverben sind, da für letztere ganz andere Serialisierungsmöglichkeiten bestehen (s.u.). Nach diesem Kriterium ist auch tun - zu den tunPeriphrasen cf. Eroms (1984) - kein Modalverb (cf. 59d).31 (IV)

V2 VI AUX

(59a) (59b) (59c) (59d)

wa'ma domois effda beichdn ganga is wa'ma da Sepp grosmah ghoifa hod wa'e'n scho kema seng hob wa'a grosmah doa hod

Modalverben (MV) können den von ihnen selegierten reinen Infinitiven sowohl vorangehen als auch nachfolgen (cf. Va, b), wobei (Va) - entgegen Mayerthaler/Mayerthaler (1990: 418) - die unmarkierte Konstruktion darstellt. Auf keinen Fall gibt es im Bairischen eine Regel, die wie im Schweizerdeutschen die Inversionsvariante fast obligatorisch erzwingt (cf. Lötscher 1978: 3). Werden MVs im Perfekt ohne Infinitiv verwendet, ist die Inversion sogar ungrammatisch (cf. Via, b).

29 30

31

(Va) (Vb)

V MV MV V

(Via) (VIb)

MV AUX »AUX MV

Belege für die nicht invertierte Abfolge in den Texten bei Steininger (1994: 36, 56). Zum sog. GEHEN-Futur, in dem das Verb gehen offenbar auxiliaren Charakter hat, cf. Schmeller (1821: 379ff.) und Mayerthaler/Mayerthaler (1990: 389ff.). Nach meiner eigenen Kompetenz möchte ich die Abfolge AUX-V2-V1 nicht ausschließen, doch habe ich dafür keine Belege gefunden. Unmöglich ist aber auf jeden Fall die Abfolge AUX-VlV2, so daß immer noch eine klare syntaktische Differenz zu Modalverben besteht.

53 Interessanter und komplizierter sind die Verhältnisse aber mit selegiertem Infinitiv. Hier ist die Konstruktion mit dem Auxiliar in Mittelstellung und dem MV am Ende die reguläre und verbreitetste (cf. Vila). Dabei ist dann in der Regel der Ersatzinfinitiv32 obligatorisch, bei können (Zehetner 1985: 100) z.B. ist aber auch das Partizip möglich (cf. 60a). Die zweite Möglichkeit - laut Werten (1994: 58) im Schweizerdeutschen die "beste Form" (vgl. auch Lötscher (1978: 8) - besteht darin, daß AUX die Erstposition und MV die Zweitstellung einnimmt (cf. Vllb und 60b). Diese Anordnung ist im Bairischen eher markiert und gegenüber (Vila) nicht präferent. Die dritte grammatisch mögliche Serialisierung unterscheidet sich von der zweiten nur dadurch, daß nicht das Prädikatsverb, sondern das MV in Endposition steht (cf. VIIc und 60c). Die übrigen theoretisch möglichen Abfolgen - cf. VIId-e - sind im Bairischen nicht möglich. Dagegen kommen (Vlle) (cf. Werten 1994: 57) und (Vlld) (cf. Lötscher 1978: 10) im Schweizerdeutschen durchaus vor, nur (Vllf) - die grammatisch eigentlich erwartbare Abfolge - ist auch dort ungrammatisch (Lötscher 1978: 10). (Vlld) ist die normale Wortstellung bei den sog. MV "im weiteren Sinne" (Lötscher 1978: 8), also Verben wie gehen, helfen, sehen (s.o.) oder auch anfangen, aufliören (cf. 60d), die ja im Bairischen anders grammatikalisiert sind. Das Bairische ist in diesem Punkt weit restringierter. (Vna) (Vllb) (VHc) (Vlld) (VUe) (VHi)

V AUX MV AUX MV V AUX V MV *MV AUX V *MV V AUX »V MV AUX

(60a) (60b) (60c) (60d)

wa'a nimmer reen hod kina/kind woa's heijd sooln hairaddn (Haller I, 58) daß ned a jeda Firmdöd (Firmpate) extra hod einspanna brauha (Kerscher, 111) Wo s aagfange hät regne (Lötscher 1978: 8)

Weitere Details aus der Syntax des Veibalkomplexes im Bairischen kann man Mayerthaler/Mayerthaler (1990: 415-418) entnehmen. Für einige Möglichkeiten einer formal-technischen Ableitung der Verbstellungsmuster im Rahmen der generativen Grammatik vgl. man u.a. Meier (1994) und Stechow/Sternefeld (1988: 406-421, 475ff.). Den Verbalkomplex in der kontinentalen Westgermania behandeln den Besten/Emondson (1983), Abraham (1994) u.a. Zum Abschluß dieser knappen deskriptiven Übersicht wollen wir noch auf ein spezielles Hauptsatzphänomen eingehen, das als Überleitung zum Abschnitt 'Nachfeld' dienen kann. Bei Modalverbkonstruktionen in den periphrastischen Tempora gibt es die Möglichkeiten (Villa) und (Vlllb): (Villa) (Vmb)

32

AUX V MV AUX MV VP

Eine Erklärung des Ersatzinfinitivs in den westgermanischen Sprachen gibt Abraham (1994).

54

Im Hauptsatz, in dem das finite AUX den satzfinalen Verbalkomplex verlassen hat und nach C° bewegt wurde, gibt es die Möglichkeit, die vom MV selegierte komplexe VP zu extraponieren, d.h. ins Nachfeld zu verschieben. In der Forschung spricht man hier von VP-Raising (VPR), cf. den Dikken (1994) u.a. Man vergleiche (61b) in Kontrast zu (61a). Extraposition ist nicht nur bei transitiven Verben möglich, sondern prinzipiell auch bei intransitiven (cf. 61c, nach Mayerthaler/Mayerthaler 1990: 418).33 Daß in diesen Konstruktionen tatsächlich eine VP- bzw. V-Extraposition vorliegt und nicht etwa eine Mittelfeldverschiebung (Scrambling) des MV, zeigt sich klar an der Stellung der Satznegation: Da (61d) die unmarkierte Basisabfolge ist, müßte unter der Scrambling-Annahme (61f) und nicht (61e) grammatisch sein. Dagegen steht die empirisch beobachtbare Grammatikalitätsverteilung in (61e,f) nicht in Konflikt mit der Extrapositions-Analyse. Aus der Negationsstellung wird auch deutlich, daß (61b) nicht dadurch zustande kam, daß AUX und MV - man vergleiche oben Vila - ein komplexes Verb bilden, das gemeinsam nach C° bewegt worden ist. Das läßt sich auch an der Syntax der Klitika ablesen, da z.B. Subjektsklitika nur an das finite AUX klitisieren, was bei Annahme eines komplexen Verbs bestehend aus AUX+MV nicht möglich wäre, das ja als X°-Kategorie nicht aufspaltbar wäre (Cf. 61g). (61a) (61b) (61c) (61d) (öle) (610 (61g)

dö hed öffdas hairaddn soin (Haller I, 31) der hod wolln sei Sau abstecha (Biberger, 53) Noa habnt die Göst alle gmiet Kirchn geahn der hod sei Sau ned abstecha wolln der hod ned wolln sei Sau abstecha *der hod wolln sei Sau ned abstecha na han'e miassn de Duam-uar av-zoing

An diesen Daten zeigt sich, daß die Veibklammer im Bairischen weniger ausgeprägt ist als im Hochdeutschen (Mayerthaler/Mayerthaler 1990: 416), weil weit häufiger vom Mechanismus der Nachfeldverschiebung Gebrauch gemacht wird. Dies ist aber - wohl gemerkt - kein Indiz dafür, daß im Bairischen die OV-Charakteristik im Verschwinden begriffen bzw. weniger ausgeprägt sei, wie Mayerthaler/Mayerthaler (1990: 418) meinen. Vor allem die OV-Anordnung bei erweiterten Infinitiven - man sehe (61b) - macht den OV-Charakter deutlich. Die Extraposition, der wir uns nun zuwenden werden, hat damit nichts zu tun. Auch eine Analyse der VPR wie die von den Dikken (1994) im Rahmen von Kaynes (1993) Asymmetrie-Hypothese, die eine SVO-Grundordnung als universell postuliert, halte ich für verfehlt, da Kaynes Theorie für SOV-Sprachen wenig plausibel ist (man vergleiche u.a. Abraham 1994 oder Büring/Hartmann 1994). VPR ist, wie Haegeman (1992: 181-191) gezeigt hat, eine Rechts-Adjunktion.

33

Kiachn geahn ist ein komplexes Verb, also eine X°-Kategorie, wie das Fehlen von Präposition und Artikel anzeigt.

55 2.2.3. Das Nachfeld Das Nachfeld gehört zu den am besten unverstandenen Phänomenen der deutschen Syntax. Dies hat mit Sicherheit seinen Grund darin, daß in dem schriftsprachlich orientierten Satzbau des Standarddeutschen das Nachfeld eine untergeordnete Rolle spielt: Die Rigidität der Satzklammer hat es fast zur Unkenntlichkeit verkümmern lassen. Es gibt allerdings eine recht bedeutsame Ausnahme: In der Diskussion der generativen Grammatik ist das Nachfeld ins Blickfeld geraten, weil es die unmarkierte Position von Komplementsätzen ist. Die Erfordernis der Extraposition für sententiale Argumente steht empirisch gesehen - in offensichtlichem Kontrast zum Extrapositionsveibot nominaler Argumente - man vergleiche (62a,b vs. c,d) - und ist theoretisch u.a. deswegen ein schwieriges Problem, weil die Verben im Deutschen bekanntlich nach links regieren. Wenn man davon ausgeht, daß auch satzartige Komplemente eine Θ-Rolle erhalten, wäre es aufgmnd der Rektionsrichtung deutscher Veiben nicht unproblematisch, sollte das Nachfeld ihre Basisposition sein, wie u.a. Bayer (1994a; 1994b) annimmt. (62a) (62b) (62c) (62d)

weil ich will, daß er heute kommt *weil ich, daß er heute kommt, will daß ich das Buch will «daß ich will das Buch

Aus diesem Grund plädiert Bayer dafür, bei denjenigen Argumenten, die außerhalb der VP generiert werden, das Direktionalitätsprinzip aufzuheben. Der genaue Status der Nachfeldposition ist allerdings weitgehend unklar. Insbesondere entsprechende Bindungsdaten legen nahe (vgl. auch Haider 1993: 73), daß es sich nicht um eine Adjunktion an VP/IP handeln kann, weil ansonsten in (63) der Quantor die Variable nicht c-kommandieren könnte. Deswegen optiert Bayer (1994a: 45) für eine Lösung, in der - etwas vereinfacht dargestellt - an V adjungiert werden kann, also an eine tiefere Strukturebene, so daß CKommando wieder möglich ist. (63)

daß Max jedem; erzählte, daß er, unglücklich sei

Haider (1994b) verwirft die Adjunktionslösung gänzlich und nimmt dagegen eine Basisposition an, die zwar auch satzfinal ist, aber keine Adjunktionsposition. Sie ist strukturell vorgesehen und entsteht nicht erst durch den Adjunktionsmechanismus. Er postuliert also für das Deutsche eine SOVO-Satzstruktur: Die erste Objektsposition ist für nominale und die zweite für sententiale Argumente u.ä. vorbestimmt. Extraposition ist nach Haiders Auffassung keine Bewegung ins, sondern Basisgeneriening im Nachfeld, das er sich VPintern denkt (was auch bei der VP-Adjunktions-Analyse gilt). Einen Grund, warum Nebensätze ins Nachfeld tendieren, nennt er nicht. Er definiert das Nachfeld nur als strukturell lizensierten Bereich "for elements that are not in the need of [morphological] checking" (Haider 1994b: 12). Dies kann allerdings keine hinreichende Bedingung fur die Generierung eines Nebensatzes im Nachfeld sein, weil es - wie man sehen wird - durchaus sententiale Komplemente und Relativsätze gibt, die nicht im Nachfeld erscheinen.

56 Büring/Hartmann (1994: 38f), die fur die traditionelle Adjunktions-Analyse argumentieren, geben als Ursache daitir an, daß sich finite Sätze nicht in der Rektionsdomäne von V° oder Γ befinden dürfen. Eine strukturelle Regelung wie diese ist aber, wie Stechow/Sternefeld (1988: 400) in einem anderen Zusammenhang ausführen, nicht improblematisch, da sie eine 'harte' Bedingung ist, die generell keine Ausnahmen zuläßt. Wenn gilt, daß finite Sätze der Rektion von V° oder 1° entgehen müssen, dann betrifft dies alle finiten Sätze. Doch dem widerspricht eindeutig die Empirie (vgl. auch Stechow/Sternefeld 1988: 398). Es ist nämlich nicht so, daß Argument-CPs grundsätzlich im Mittelfeld veiboten wären (cf. 64a,b). Daß alle diese Sätze - vorsichtig formuliert - zumeist etwas holprig klingen (sie sind in Anlehnung an Haider (1993: 73) mit einem einfachen Fragezeichen gekennzeichnet), ist dabei nicht der springende Punkt. Wichtig ist ein anderer Punkt: V°/I°-regierte finite Sätze sind - Büring/Hartmanns Bedingung vorausgesetzt - ein Verstoß gegen ein strukturell definiertes Prinzip und müßten daher in allen Fällen denselben 'hohen' Grad an Unakzeptabilität (= Ungrammatikalität) aufweisen, wie er z.B. bei einem Verstoß gegen das Bindungsprinzip Β (vgl. dazu z.B. Grewendorf 1988: 127-141) zu beobachten ist (cf. 64c). Doch dem ist eindeutig nicht so. (64a) (64b) (64c)

?weil man sich erst einmal, daß die Erde flach sei, vorstellen können muß ?weil er immer wieder, daß die Erde rund sei, behauptet hat »Peter, hält ihn; für ein Genie (Grewendorf 1988: 132)

Die Datenlage spricht also dafür, daß für die Extrapositionserfordernis sententialer Komplemente keine harten strukturellen Bedingungen ä la Büring/Hartmann (1994) verantwortlich sein können.34 Man wird daher nach einer eher 'weichen' Erklärung suchen müßen, die das Überschreiben der Regel nicht generell ausschließt, also Ausnahmen prinzipiell zuläßt. In unserem konkreten Punkt sind mehrere Erklärungen in Erwägung zu ziehen, von denen ich aber nur eine ausführlicher vorstellen will. In der Parsing-Theorie von Hawkins (1990; 1991-92) wäre - etwas überspitzt formuliert - Extraposition das Gegenstück zur Klitisierung: wie 'leichte' Konstituenten nach links tendieren, zieht es 'schwere' nach rechts. Der Grund dafür ist, wie in Kapitel III im Kontext der Klitisierung ausführlicher dargestellt wird, daß bei der Anordnung der Satzkonstituenten die Erleichterung ihrer Erkennbarkeit im Vordergrund steht, d.h. jede einzelne Konstituente sollte so schnell wie möglich vom menschlichen Parser abgearbeitet werden können.35 Da beim Parsen einer VP mehr Wörter abgearbeitet werden müßen, wenn der Komplementsatz vor dem finiten Verb steht (cf. 64a,b), resultiert die Extrapositionserfordernis aus Gründen der Sprachverarbeitung. So wie ich Hawkins Theorie verstehe, handelt es sich dabei tun ein 'weiches' Prinzip, das nur dann appliziert, wenn keine

34

35

In der Forschung wird auch diskutiert, daß CPs N-Projektionen sind (Stechow/Sternefeld 1988: 398; Müller 1991: 183). Sollte dies zutreffen, wäre die Rektionsflucht noch unverständlicher. Hawkins (1991-92: 197): "words occur in the orders they do so that speakers can enable hearers to recognize syntactic groupings and their immediate constituents (IC) as rapidly and efficiently as possible".

57 'harten' syntaktischen Gründe dagegen stehen. So existiert z.B. bei Subjekten sog. Individual-Level-Prädikate, wie Kratzer (1991: 14) beobachtet hat, ein Verbot für Relativsatzextraposition, was bei entsprechenden Stage-Level-Prädikaten nicht der Fall ist (cf. 65a vs. b). Der Kontrast läßt sich dadurch erklären, daß Subjekte von Individuen-Prädikaten - vereinfacht ausgedrückt - in einer strukturell höheren Position angesiedelt sind, von der aus sie den Relativsatz nicht c-kommandieren können. (65a) (65b)

*weil zwei Bücher teuer waren, die niemand lesen wollte weil zwei Kinder hier waren, mit denen niemand spielen wollte

Die performanztheoretische Erklärung der Extraposition ä la Hawkins nennt den Grund, warum Komplement- und Relativsätze sowie andere 'schwere' Satzglieder36 vorzugsweise extraponiert werden, während sie keine Entscheidung über die genaue Natur der Nachfeldposition erlaubt und dies auch nicht intendiert. Dies bedeutet aber, daß sie durchaus mit Haiders oder Bayers Struktur-Analysen verträglich ist. Wie auch immer das Nachfeld kategoriell zu spezifizieren ist, es steht fest, daß es unter sehr speziellen Bedingungen als Landeplatz für verschiedene Konstituenten dient. Im Standarddeutschen sind dies außer den schon erwähnten Nebensätzen in der Regel Präpositionalphrasen, selbst mit Argumentstatus (66a), und Adverbiale diversester Art (66b). Im allgemeinen nimmt man an, daß NPs im Nachfeld nicht erlaubt sind (66c) (Haider 1994b: 5f.; Abraham 1995: 579 u.v.a.). Doch auch hier gibt es m.E. gemäß dem Gesetz der Schwere - allerdings sehr beschränkt - Ausnahmen, etwa bei Aufzählungen (66d). Diese sind zwar stark markiert, jedoch keineswegs ungrammatisch, so daß NP-Extraposition nicht prinzipiell auszuschließen ist. (66a) (66b) (66c) (66d)

weil ich gesprochen habe mit ihm weil ich ihn getroffen habe gestern abend/danach/im Lokal... "er hat nicht gesagt die Wahrheit (Haider 1994b: 6) ?er hat gestern getrunken zwei Bier, eine Flasche Wein lind danach noch

Im Bairischen liegen - strukturell gesehen - im allgemeinen identische Verhältnisse vor. Sieht man einmal von den bereits erwähnten VP-Extrapositionen ab, die im Deutschen nicht möglich sind, bestehen wohl lediglich in der Häufigkeit von Extrapositionen deutliche Unterschiede: im Bairischen sind sie daher in der Regel auch weniger markierte Konstruktionen. Dies gilt insbesondere für NP-Extraposition, wobei Objekt-NPs im Bairischen - man sehe (67a) (nach Mayerthaler/Mayerthaler 1990: 416) - leichter extraponier-

36

Hawkins (1991-92: 203f.) untersucht explizit Extrapositionen von Infinitivkomplementen, cf. (i) vs. (ii), mit dem Ergebnis, daß die Häufigkeit der Extraposition in eindeutiger Korrelation zur Länge des Komplements (Anzahl der Wörter) steht: (i) Sie hat zu lesen angefangen (ii) Sie hat angefangen zu lesen Hawkins Performanztheorie läßt sich neuropsychologisch deuten: Die Extrapositionserfordernis resultiert aus der Begrenztheit des Kurzzeitgedächtnisses (vgl. dazu auch Pinker 1996:234ff).

58 bar sind als Subjekt-NPs, deren Rechtsverschiebung zu hochgradig markierten, wenn auch nicht eindeutig ungrammatischen Sätzen führt (67b). (67a) (67b)

noacha hat ar wouhl gatrunken an Schnaps ?(?)naddirlö hod angfangd khod da Sepp

Insgesamt gesehen ist das Bairische unstrittig immer noch eine SOV-Sprache, auch wenn es regionale Varietäten gibt, die via Objekt-Extraposition37 eine SVO-Struktur zu entwickeln im Begriff sind. Das bereits erwähnte Mochenische, das im trentini sehen Fersental gesprochen wird, ist eine solche Varietät, die neben OV-Eigenschaften auch bereits eindeutige VO-Züge aufweist. Bei erweiterten Infinitiven z.B. folgt das Objekt dem Infinitiv nach (68a), anstatt ihm wie im Hochdeutschen voranzugehen (68b). Hinzu kommt, daß in Nebensätzen die Zweitstellung des finiten Verbs möglich und bei vielen Konjunktionen sogar präferiert ist (Rowley 1977: 204, 235). Das mochenische Lexem as ist zum einen die Konjunktion daß und zum andern das nicht flektierbare Relativpronomen: Bei konjunktionaler Verwendung sind Zweit- und End- bzw. Spätstellung des finiten Verbs etwa gleich häufig anzutreffen (68c), in Relativsätzen ist Veibzweitstellung sogar häufiger. (68a) (68b) (68c)

... en Stoll gongen za fiatem 's Vieh (Rowley 1977: 377) ... um die Kühe zu füttern daß die hat das Messerlein in der Tasche (Rowley 1977: 299a f*

Beide Phänomene und ihre Häufigkeiten - es handelt sich ja nicht um marginale Erscheinungen - deuten darauf hin, daß die Verben im Mochenischen auch nach rechts regieren können. Die theoretisch naheliegende Erklärung, daß in allen Fällen Verschiebung ins Nachfeld vorliegt (wie dies Geilfuß 1991 für das Jiddische vorschlägt), scheint mir aus lerntheoretischen Gründen unplausibel. Es hat also den Anschein, daß das Mochenische seit längerem schon auf dem Wege ist, zusätzlich zur ursprünglichen SOVeine SVO-Struktur auszubilden. Es zeigt darin Parallelen zum Jiddischen, das ebenfalls eine "synchrone Variation zwischen veib-initialer und verb-finaler Grundstruktur aufweist" (Santorini 1993: 242). Im Bairischen insgesamt dürfte diese Entwicklung wegen des standardsprachlichen Einflusses aber kaum mehr eintreten.

2.3. Von V/1-Sätzen, subjektlosen Sätze etc. Nach Lenerz (1985: 124) gab es in früheren Sprachstufen des Deutschen die Möglichkeit, "Sätze mit Verb-Erst-Stellung als 'themalose' Aussagesätze mit bestimmter kontextueller 37

38

Etwa im Sinne der Afterthought-Theorie (vgl. Lenerz 1995: 1271) oder bedingt durch Einfluß des Italienischen/Trentinischen (zur Sprachensituation vgl. Rowley 1977: 31-38). Lenerz (1984a) Theorie im Rahmen der generativen Grammatik erklärt m.E. überzeugend die Entstehung von V/2-Hauptsatzstnikturen im Deutschen, ist aber nicht übertragbar auf das vorliegende Problem, die Entstehung von V/2-Strukturen in Nebensätzen. Der Satz ist in der hochdeutschen Transkription zitiert, die Wortstellung entspricht dem Original.

59 und stilistischer Bewertung zu verwenden. Die zunehmende funktionale Festlegung der Verbstellung als Ausdruck der illokutionären Rolle von Sätzen führte dazu, daß die X"Position [=SpecCP] auch bei 'themalosen' Sätzen lexikalisch besetzt sein mußte, so daß Verb-Zweitstellung vorlag und der betreffende Satz demgemäß als 'Aussagesatz' interpretiert werden konnte." Das "Ergebnis [...] ist eine Vereinheitlichung der syntaktischen Struktur: Auf diese Weise werden sämtliche Prädikate syntaktisch mit einem Subjekt konstruiert - und zwar unabhängig davon, ob sie semantisch ein Subjekt verlangen" (Lenerz 1985: 126). Im Neuhochdeutschen ist diese Veibstellungsregelung insofern stringent, als V/l-Sätze zumindest im Standarddeutschen des schrift- und nicht umgangssprachlichen Kanons nicht mehr als Aussagesätze vorkommen.39 Lenerz (1985) erklärt damit das Zunehmen des explitiven es. Im Bairischen sind etwas andere Verhältnisse gegeben.40 Sieht man einmal von den häufig vorkommenden nur scheinbaren 'subjektlosen' Sätzen ab, die am einfachsten als Koordinationstrukturen zu deuten sind, cf. (69)

De muaß jetzt noch Minga nei, muafl Pforrakechin mocha

bzw. von V/1-Sätzen mit nachfolgendem klitischen Subjekt, cf. (70)

Han ma Hendl schiaßn ganga,

nach dessen Muster vor allem in erzählenden Passagen/Kontexten umfangreiche Satzreihen gebildet werden können, bleiben als syntaktisch interessantere Fälle die von Lenerz sog. 'themalosen' Sätze (cf. 71; nach Patocka 1989: 255; cf. auch Mayerthaler/Mayerthaler 1990: 450) sowie echte 'subjektlose' Sätze mit Veib-Erst-Stellung (cf. 72a, b und 73) (71)

San amoi sechse kema

(72a) (72b)

Is gwen voa sechzg Johm (Haller ΙΠ, 21) Hod owa aa long ghoidn

(73)

hod amoij a recht a schlechte Wöda ghod (Haller ΙΠ, 25)

Im Unterschied zum Neuhochdeutschen können also V/l-Sätze durchaus noch als Aussagesätze fungieren und tun dies auch in der Regel in vielen Kontexten, ohne als markiert zu gelten. Bei den 'themalosen' Sätzen (cf. 70) hat das Bairische somit den Zustand des Ahd. bewahrt, in dem "das expletive iz meist" (Lenerz 1985: 105) ebenfalls fehlte. Im Mhd. und im Nhd. werden diese obligatorisch mit expletiven ez bzw. es konstruiert. Die Korrelation von Verbstellung und illokutionärer Rolle ist also im Bairischen und Neuhochdeutschen 39

40

Im mehr sprechsprachlichen Hochdeutschen gibt es diese Möglichkeit natürlich sehr wohl, man sehe (i) (vgl. auch Grewendorf 1988:20f.; Brandner 1994): (i) Habe ich schon gemacht Zu V/l-Sätzen im Bairischen vgl. auch Patocka (1989), von dem einige Beispielsatze übernommen wurden.

60 nicht identisch (bzw. umfangsgleich, da im Bairischen eine Möglichkeit erhalten blieb, die im Nhd. nicht mehr verfugbar ist). V/l-Stellung impliziert im Bairischen nicht zwangsläufig einen Fragesatz. Dieses Ergebnis bestätigt sich auch durch die Häufigkeit von Sätzen wie (69,70), die keineswegs als marginal angesehen werden können. Bei Sätzen wie (72a, b) bleibt das syntaktisch und/oder semantisch eigentlich erforderliche Subjekt unausgedrückt. In (72a) fehlt - im Vergleich zum Hochdeutschen - ein Expletivum, in (72b) das echte Subjekt. Bei (73) handelt es sich um ein unpersönliches Prädikat, das semantisch kein Subjekt erfordert. Das Hochdeutsche gebraucht auch hier das Expletivum. Um das erweiterte Projektionsprinzip (EPP), nach dem jeder Satz über ein Subjekt verfugt (cf. Stechow/Sternefeld 1988: 78), für diese Sätze aufrecht zu erhalten, könnte man pro - wie es etwa Hartmann (1994) für Koordinationsstrukturen macht - annehmen, das semantisch/pragmatisch identifizierbar ist. Da das fehlende Subjekt im Kobzw. Kontext vorhanden zu denken ist, kann pro identifiziert werden und ist somit inhaltlich lizensiert, da die Referenz gesichert ist. Wie Patocka (1989: 262f.) bereits betonte, ist die "sehr hohe Thematizität" notwendige und - wie ich annehme - offenbar auch hinreichende Voraussetzung für Subject-drop der beschriebenen Art. In Wirklichkeit handelt es sich daher eher um Topik-drop bzw. -Wegfall (cf. Klein 1993: 781), zumal ja auch Objekte ausgelassen werden können, wenn sie hochgradig thematisch sind (cf. 74). (74)

Ham'ma sejba

In der generativen Forschung (cf. Brandner 1994; Haider 1993: 94) wird davon ausgegangen, daß die satzinitiale Spec-Position in diesen Fällen nicht leer ist, sondern von einem sog. Leeroperator (OP) besetzt ist, der die Variable bindet, die die Stelle des weggelassenen Topik-Elements einnimmt. Topik-drop ist also strikt von pro-drop zu trennen. Ein Satz wie (72b) hat demnach in sehr vereinfachter Darstellung die Struktur (75a) und Satz (74) wie (75b): (75a) (75b)

[OPj [hod] owa aa long ghoidn] [OP; [ham'ma] e, sejba]

Problematisch für die Ansetzung des Leeroperators in SpecCP ist allerdings, daß diese Position auch lexikalisch etwa durch ein Temporaladverb besetzbar ist (76): (76)

nochad is a son schpina gwen

Diese Möglichkeit ist jedoch auf Sätze beschränkt, in denen das Expletivum ausgefallen ist. Da diese ohnehin von 'echten' Topik-drop-Fällen zu unterscheiden sind, weil das Expletivum kein Argument des Verbs und nur in der funktionalen Vorfeld-Position lizensiert ist (Haider 1993: 134ff.), spricht nichts gegen die Ansetzimg des leeren Operators bei den Topik-drop-Fällen. Auf subjektlose Sätze wie (77), in denen SpecCP mit einem whWort besetzt ist, soll zum Abschluß nur hingewiesen werden. Falls hier nicht, wie ich

61 vermute, ein Transkriptionsfehler vorliegt (also statt wos enk eigentlich wos'e enk), verbietet es sich natürlich, in SpecCP einen Leeroperator anzusetzen. (77)

i muaß enks do na song, wos enk afdisch zum essn (Kollmer ΙΠ, 263)

2.4. Aktivsätze ohne Agens

Im Bairischen existieren, wie Mayerthaler/Mayerthaler (1990: 405) festhalten, den unpersönlichen Konstruktionen (cf. 78) analoge Bildungen auch bei anderen Verben (79a,b) (marginal auch im Hochdeutschen möglich, cf. 79c): (78)

es freut/ärgert/schmerzt mich

(79a) (79b) (79c)

Mi hod's higschmissn/gschdrad/highaud/gworfa Den hod's abilassn Es hat mich mit dem Fahrrad geworfen/geschmissen

Die Syntax dieser Verben entspricht auf den ersten Blick formal derjenigen der Verben der Gruppe II bei Fanselow (1992a), also jener unpersönlicher Verben, die haben als Auxiliar selegieren und bei denen der Experiencer (Patiens) im AKK und das Thema im NOM erscheint (Bsp.: freuen, ärgern, schmerzen, interessieren). Sieht man die angeführten bairischen Bildungen als einheitliches Paradigma an, bleibt festzustellen, daß sie im Unterschied zu den hd. Pendants obligatorisch mit einem expletiven Subjekt konstruiert werden und auf transitive Verben zurückgehen (80). (80)

I han earn (hi )gschmi ssn/gworfa

Synchron handelt es sich hier aber um zwei verschiedene Subgnippen. Die eine, wohl sehr kleine Gruppe umfaßt Verben wie schdraan, hihaun, die tätsächlich obligatorisch mit expletivem Subjekt konstruiert werden müssen (81a), da die entsprechenden transitiven Basisverben (mit belebten Objekten!) nicht mehr existieren. Bei den übrigen stehen sich transitive (81b) und agenslose Bildungen gegenüber, das expletive Subjekt ist also (in diesem Sinne) nur fakultativ. Den Bildungen mit expletivem Subjekt bei beiden Subgnippen ist aber gemeinsam, daß sie kein Agens aufweisen. Man könnte sie daher als agenslose Konstruktionen charakterisieren, bei denen nur die Objekts-©-Rolle (Thema oder Patiens) zu vergeben ist. Bildungen dieses Typs unterscheiden sich auf der syntaktischen Ebene von den ebenfalls agenslosen Passivsätzen, bei denen das Objekt zum Subjekt angehoben wird. Auch semantisch ist das Verhältnis zwischen (81c) und (81b) nicht analog dem zwischen einem Passivsatz wie (81d) und dem zugrundeliegenden Aktivsatz in (81e), da keine Implikationsrelation besteht. M.a.W. daß es mich hingeschmissen hat, setzt nicht voraus, daß mich jemand hingeschmissen hat, während die Tatsache, daß ich hingeschmissen wurde, impliziert, daß mich jemand hingeschmissen hat. In einem bestimmten Kontext

62

(z.B. eisglatte Straße im Winter, nicht fremdverschuldetes Ausrutschen mit Sturzfolge) ist nur (81c) äußerbar, nicht aber der Passivsatz (81d). (81a) (81b) (81c) (81 d) (81 e)

*Ea hocTme gschdraad Ea hod'me higschmissn Mi hod's higschmissn Ich wurde niedergeworfen Er hat mich niedergeworfen

Etwas technischer formuliert wird man davon ausgehen können, daß in Sätzen wie (81c) im Sinne von Abraham (1995: 546) eine Dethematisierung vorliegt, daß also "die Nominativstelle ihre Agens-Rolle verliert". Soweit liegt eine Parallele zur Passivierung vor. An die Stelle eines Agens-Subjektes tritt jedoch ein Expletivum. Im Unterschied zum Passiv wird anschließend morphologisch keine Deakkusativierung erzwungen, so daß das direkte Objekt weiterhin Akkusativ erhalten kann, da das Verb Aktivmorphologie aufweist. Das Expletivum ist aufgrund des erweiterten Projektionsprinzips obligatorisch. Unklar ist hierbei aber der Auslöser des Agens-Schwundes, da nach der generativen Theorie die Θ-Rollen im Lexikoneintrag eines jeden Veibs festgeschrieben sind (Θ-Raster) und Prozesse wie die Absorption der Subjekt-©-Rolle morphologisch gesteuert sind (nämlich durch die Passivmorphologie, cf. Stechow/Steraefeld 1988: 189f.). Auch sonst werden Änderungen der Valenz bzw. des syntaktischen Projektionspotentials häufig durch eine morphologische Modifikation des Verbs veranlaßt (cf. Wunderlich 1993: 731). Da aber in den behandelten Sätzen keine passivierten Verben vorliegen, muß der Schwund der Agens-Rolle anderweitig motiviert sein (wenn man nicht zwei verschiedene Verben hischmeissn annehmen will, was kaum plausibel gemacht werden kann). Offensichtlich handelt es sich um einen analogen Prozeß der Valenzreduktion wie bei der intransitiven Verwendung transitiver Verben {ich esse, lese, schreibe etc.), bei der das direkte Objekt Verschwindet', was ja auch nicht morphologisch, sondern eher 'pragmatisch' (vom Kontext) getriggert ist. Nur daß im Unterschied dazu hier das Subjekt unterdrückt wird (von sonstigen Differenzen abgesehen). Am ehesten vergleichbar ist es dem sog. agenslosen Passiv in (82) (nach Wunderlich 1993: 733): (82)

Man hilft den Verschütteten

Auch in (82) liegt eine Valenzreduktion bei unveränderter Prädikat-Argument-Struktur vor (Wunderlich 1993: 733). Im Unterschied zum agenslosen Aktiv gibt es allerdings informell gesprochen - entgegen seiner Benennung weiterhin ein Agens, das lediglich nicht spezifiziert ist. Bei der hier diskutierten Diatheseform, die in der Literatur bislang offenbar übersehen wurde,41 existiert dagegen kein Agens (s.o.). Von theoretischem Interesse sind die agenslosen Aktive, weil die Eliminierung des externen Arguments nicht

41

Im Oberblicksartikel von Wunderlich (1993) wird sie nicht erwähnt, ebenso wenig bei Baker (1988: 9ff.).

63

wie sonst üblich (cf. Wunderlich 1993: 745) durch morphologische Prozesse erzwungen wird (siehe aber unten). Das agenslose Aktiv erinnert an unpersönliche Konstruktionen bei Verben der sinnlichen Wahrnehmung, in denen "das Vorliegen der jeweiligen Perzeptionsqualität" "assertiert" wird (Haider 1993: 135; Bspe. (83a-d) daraus): (83a) (83b) (83c) (83d)

Es duftet überall Es knistert im Gebälk Es glflht in der Tiefe Es juckt am Ohr

Haider (1993: 134f.) spricht in diesen Fällen von Quasi-Argumenten. Tritt an einer Argumentstelle - vereinfacht ausgedrückt - ein Element auf, das wie in den Sätzen unter (83) semantisch unspezifiziert ist, kann es sich nur um ein Expletivum handeln. Es erhält demgemäß auch keine Θ-Rolle. Ähnlich muß man sich m.E. auch die agenslosen Aktivsätze erklären: In der Argumentstruktur eines transitiven Verbs wie hischmeissn sind zwei Argumentpositionen vorgesehen, die auch auf der syntaktischen Ebene projiziert werden. Das obligatorische expletive Subjekt ergibt sich aus der Tatsache, daß die projizierte Subjekts-Argumentstelle aus den oben geschilderten semantischen Gründen - und hierin unterscheidet sich das agenslose Aktiv tatsächlich von anderen Diatheseformen - nicht mit einem referentiellen Ausdruck besetzt werden kann, und daher lexikalisch "durch den formalen Aktanten es" (Haider 1993: 135) gefüllt werden muß, um einen wohlgeformten Satz zu ergeben. Dieses formale Subjekt verhält sich dann syntaktisch wie jedes andere: es nimmt z.B. auch an der Klitisierung teil (cf. 81c). Agenslose Aktivsätze sind im Grunde keine Evidenz gegen Wunderlichs (1993: 745) Generalisierung, daß externe Argumente nur durch morphologische Operationen 'eliminiert' werden können (wie z.B. bei Passiv oder auch pro-drop). Denn strukturell gesehen, ist die Subjekts-Argumentstelle vorhanden und mit einem Quasi-Argument besetzt. Im Unterschied schließlich zu den sog. Mittelkonstruktionen (cf. Abraham 1995: 545563), die im Deutschen aufgrund ihrer Pseudoreflexivierung zumeist eine genetische Lesart aufweisen, kann in agenslosen Aktivsätzen das Objekt nicht angehoben werden (cf. 84a,b). (84a) (84b)

es bestechen sich solche Beamte doch so leicht Beamte bestechen sich so leicht

Agenslose Aktive sind eine Diatheseform bei transitiven Verben, bei der gegenüber der Ausgangsstruktur (normales Aktiv) das externe Argument eliminiert ist. Dieser Prozeß ist weder syntaktisch noch morphologisch getriggert. Im Unterschied zum Passiv ist das externe Argument auch nicht existentiell gebunden (zu letzterem cf. Wunderlich 1993: 739).

64 2.5. Lack of Agreement (Diskordanz) Nicht spezifisch fur das Bairische (cf. 85), jedoch mit größerer Häufigkeit finden sich Inkongruenzphänomene. (85)

In der Geschichte der Menschheit sind eine große Anzahl von Theorien des Geistes entwickelt worden (Metzinger 1993: 14)

Numerusdiskordanz tritt in den Fällen 42 auf, in denen das finite Verb nicht mit dem grammatischen Subjekt - in (85) das singularische Anzahl - kongruiert, sondern sozusagen mit dem logischen Subjekt - in (85) Theorien. Involviert sind hier komplexe Subjekts-Phrasen, deren Kopf ein quantifizierendes Nomen im Singular ist, das x-bar-theoretisch gesehen eigentlich in Kongruenz zum Prädikat treten müßte. Doch statt dessen kongruiert bezüglich Numerus das quantifizierte Nomen, das in (85) als PP nur in der Komplement-Position des Kopf-Nomens steht. Dadurch wird die syntaktisch-strukturell vorgegebene Kongruenz-Routine durch die 'semantisch plausiblere' Interpretation überschrieben. Lehmann (1993: 727) differenziert daher zwischen grammatischer und semantischer Kongruenz, die traditionell als constructio ad sensum bezeichnet wird. GB-technisch gesehen, entsteht in den hier diskutierten Fällen wie (85) eine gespaltene Kongruenz. Der Nominativ gilt in der Forschung weithin (z.B. Schmidt 1995: 73) als Kongruenzkasus, der von INFL (Fanselow/Felix 1987,11: 74) bzw. neuerdings von AGRgP in einer Spec-Head-Relation zugewiesen oder überprüft wird (Chomsky 1995: 59ff., 173ff.). Im Unterschied zu den übrigen Kongruenzmerkmalen (Numerus, Genus und Person, cf. Chomsky 1995: 174) ist der Kasus nur an der Subjekts-NP sichtbar (Chomsky 1995: 175). Da der Nominativ aber von derselben funktionalen Projektion wie die 'echten' AGR-Merkmale kommt, ist er per definitionem Kongruenzkasus. Bei dieser Konzeption liegt in (85) eine gespaltene Kongruenz vor, da Kasus- und Numeruskongruenz nicht dieselbe NP betreffen. Im vorliegenden Falle ist - in einer sehr vereinfachten Darstellung die gesamte Subjekts-NP (eine große Anzahl von Theorien) als in SpecAGRgP befindlich zu denken: Das Kasusmerkmal NOM wird an den Kopf der NP weitergeleitet, das Numerusmerkmal jedoch an den Kopf deijenigen NP, die innerhalb der Subjekts-NP nur eine Komplement-Position einnimmt. Um diese theoretisch äußerst unbefriedigende Situation abzuschwächen, muß man zumindest die Vorstellung aufgeben, daß der Nominativ im Deutschen ein Kongruenzkasus ist, der von derselben funktionalen Projektion wie die AGR-Merkmale zugewiesen wird. Anhand anderer Daten haben dafür schon Brandt et al. (1992: 18f.) argumentiert: In (86a,b) treten Nominative in infiniten Konstruktionen auf, denen die Kongruenzmerkmale im engeren Sinne fehlen, während umgekehrt in (86c) am Verb 'Kongruenzmerkmale' auftauchen, obwohl es "keine kongruierende Größe im Nominativ gibt".

42

Davon zu unterscheiden sind die inkongruenten Sätze des Englischen wie (i), die bei van Gelderen diskutiert werden. Sie stehen hier nicht zur Debatte, (i) Is there not Charms (Shakespeare, Othello)

65 (86a) (86b) (86c)

Man schlug ihnen vor, einer nach dem anderen zurückzutreten Keiner aufstehen Ihm/Ihnen liegt sehr an dir

Da Kasus nur am Argument - hier Subjekt - sichtbar ist, Numeruskongruenz (im Deutschen und anderen Sprachen) aber am Verb und am Argument, sollte man die beiden strikter trennen. Kasus ist allein ein "NP-feature", Numerus zugleich auch ein "V-feature" (Chomsky 1995: 197). Deswegen kann es auch keine 'Kasusdiskordanz' geben. Nach Aufgabe der 'Nominativkongruenz1 liegt zumindest keine gespaltene Kongruenz mehr vor, wenn auch das Problem der Numerusinkongruenz dadurch nicht gelöst ist. Ich habe dazu sonst nichts weiter zu sagen, sondern wende mich nun dem Bairischen zu und beschränke mich auf Konstruktionen mit einem spezifischen Typ von (Subjekts-) Phrasen, die strukturell anders zu analysieren sind als diejenige in (85). Im Bairischen sind Inkongruenzphänomene43 nicht auf expletive Sätze wie (87a) beschränkt, sondern sie treten auch in nicht expletiven Bildungen auf (87b). Inkongruenz ist allerdings nicht obligatorisch (87c, d). Auffällig ist jedoch, daß bei nachfolgendem Subjekt die Varianten mit strukturell korrekter Kongruenz deutlich schlechter sind. Obwohl auch bei Subject-first-Sätzen die inkongruenten Varianten besser sind, ist der Akzeptabilitätskontrast deutlich weniger ausgeprägt. Die relative Stellung des Subjekts zum finiten Verb scheint also eine gewisse Rolle zu spielen. (87a) (87b) (87c) (87d) (87e) (87f)

Do sand a Haifa Leid dogwen/kema Des hamd a Haffa Leid gseng ??Do is a Haifa Leid dogwen/kema 7?Des hod a HafTa Leid gseng Α Haffa Leid sand/is dogwen A Haifa Leid hamd/hod des glesn

Außerdem ist die Art der quantifizierenden Ausdrücke entscheidend: Sind diese nämlich nicht reine Mengenangaben, sondern haben wie z.B. Herde eine zusätzliche spezifische Semantik (cf. Duden 1983: § 318), ist unabhängig von der Position des Subjekts Numeruskongruenz obligatorisch (cf. eea-d). 44 (88a) (88b) (88c) (88d)

Aaf da Strass *sand/is a Heerd Kia Aaf da Strass sand/is a Haffa Kia Α Heerd Kia * sand/is aaf da Strass Α Haffa Kia sand/is aaf da Strass

Dieser letzte Punkt ist ein Indiz dafür, daß die Subjekts-NP in (87) von besonderer Art sein muß. Die hier diskutierten Phrasen werden in der Forschung (cf. Bhatt 1990: 54fF.) 43 44

Vgl. auch Schiepek (1908:488), fürs Deutsche Duden (1983: § 1428). Es gibt noch weitere Unterschiede: Wenn das quantifizierte Nomen ein Massennomen ist, kann bei reinen Mengenangaben nur auf dieses anaphorisch Bezug genommen werden (cf. i), bei den übrigen jedoch auf beide Nomen (cf. ii): (i) an Haffa Bier hob'e dahoam, mogsd *oan/oans (ii) zwoa Kasdn Bier hob'e dahoam, mogsd oan/oans

66 als pseudopartitive Quantorenphrasen (QP) bezeichnet, die sich von partitiven QPs wie (89a) dadurch unterscheiden, daß sie nur eine bestimmte Menge denotieren, während letztere aus einer präsupponierten Menge einen Teil 'herausgreifen'. Daher erlauben nur partitive QPs restriktive Relativsätze (89b vs. c). Auch bei partitiven QPs tritt aber Numerusdiskordanz auf (89d), so daß in diesem Punkt eine Parallelität mit pseudopartitiven Phrasen besteht. (89a) (89b) (89c) (89d)

a Haffa vo de Leid a Haffa vo de Leid, de gesdan do gwen hand, hob'e ned kend *a Haifa Leid, de gesdan do gwen hand, hob'e ned kend a Haffa vo de Leid sand hoamganga

Es ist unstrittig, daß das quantifizierende Nomen Q° der Kopf der pseudopartitiven QP ist, da es mit dem unbestimmten Artikel kongruiert, während das quantifizierte Nomen an der internen Kongruenz nicht beteiligt ist.43 Dennoch ist die Gestalt der komplexen NP auffallig, da das zweite Nomen in Form einer Apposition angefügt ist, das offenbar nicht kasusmarkiert ist. Nominale Komplemente von Nomen haben im Deutschen sonst den Genitiv (z.B. der Besuch der Kinder) oder - wie auch im 'genitivlosen' Baltischen - sie sind Teil einer von-PP (z.B. das Füttern von Affen), innerhalb derer sie Kasus zugewiesen bekommen. Als Komplemente von Mengenangaben haben sie im Bairischen dagegen keinen sichtbaren Kasus, da die morphologische Kasusmarkierung auf die Artikel beschränkt ist (cf. II.2.1.). Man könnte deswegen davon ausgehen, daß es sich um X°-Kategorien handelt und daß bei diesem Phrasentyp Quantifikans und Quantifikandum ein komplexes Nomen bilden, das durch syntaktische Komposition (also qua Inkorporation ä la Baker 1988)46 entstanden ist. Wenn das Quantifikandum nämlich ein N° ist, kann es aufgrund des Strukturerhaltungsprinzips nicht in einer Komplement- (oder Adjunkt-) Position stehen. Man könnte also annäherungsweise eine Struktur wie (90) ansetzen, in der Bakers (1988: insb. 60f.) strukturelle Erfordernisse für Inkorporation erfüllt sind (Selektion, HMC etc.).

NP N°

I Haifa

45

46

I

Ne

Ne

I

I

Kinda.

ι

t.

Diese Redeweise ist unter der neueren und zu favorisierenden DP-Analyse nicht korrekt (s. dazu Abschnitt 3.1.), wird aber der Einfachheit halber vorerst beibehalten. Für appositive Strukturen der Form der Sohn Jens (sog. enge Appositionen) wird das bei Bhatt (1990: 164 ff.) angenommen.

67 Wenn nun ein komplexes N° gegeben ist, das aus zwei Köpfen besteht, wäre es denkbar, daß je nach syntaktischem und/oder semantischem Kontext der eine oder der andere Kopf dominant ist. Dies ist natürlich nur zulässig, wenn beide Köpfe von der gleichen Kategorie sind und potentiell über dieselben morphologischen Merkmale verlugen. Im vorliegenden Falle wäre also fur die Numeruskongruenz das zweite Kopfnomen zuständig. Mit dieser Analyse kompatibel ist ein Phänomen aus dem Hochdeutschen (cf. Duden 1983: § 484): pseudopartitive QPs, denen z.B. in Gänze Genitiv zugewiesen wird, können den Kasus entweder am ersten (91a) oder aber am zweiten Nomen (91b) realisieren. Befände sich das quantifizierte Nomen noch in der Komplement-Position, wäre dieses Verhalten unerwartet. Nicht jedoch so bei der Struktur (90): Hier ist es durchaus konsistent. (91a) (91b)

der Genuß eines Glases Wasser/der Preis eines Pfundes Fleisch der Genuß eines Glas Wassers/der Preis eines Pfund Fleisches

Ein Problem für die vorgeschlagene Analyse ist allerdings, daß sich dasselbe Phänomen auch dann zeigt, wenn das quantifizierte Nomen wie in (92a) ein Attribut bei sich hat: Auch dann erhält es - sichtbar am Adjektiv - den von der Präposition zugewiesenen Kasus (hier Dativ). Diese erweiterten Pseudopartitiva weisen im Deutschen (92b) wie im Bairischen (92c) außerdem ebenfalls Numerusdiskordanz auf. Der Genitiv in der Apposition in (92b) belegt zudem eindeutig, daß sich der quantifizierte Ausdruck in einer 'normalen' Komplement-Position befindet, da im Deutschen Genitiv ein struktureller Kasus ist (Grewendorf 1988: 152). (92a) (92b) (92c)

mit einem Tropfen warmem ö l eine Menge kleiner Kinder sind hier gewesen an Haffa kloane Kinda hand do gwen

Damit ist die Inkorporationsanalyse, die eine elegante Lösung der Inkongruenz erlaubt hätte, wohl insgesamt nicht zutreffend. Numerusdiskordanz tritt ja auch bei partitiven QPs auf (vgl. 89d), bei denen eine PP-Inkorporiening kaum plausibel zu machen ist, obwohl Bayer (1993) diese Möglichkeit aus Anlaß der zM/w-Infinitive erwogen hat und obwohl im Minimalismuskonzept, wie Chomsky (1994: 16) mit bezug auf Klitika bemerkt, durchaus vorgesehen ist, daß Elemente je nach syntaktischer Umgebung sowohl Köpfe als auch maximale Projektionen sein können. Aufjeden Fall besteht wohl kein ursächlicher Zusammenhang zwischen Inkorporation und Inkongruenz. Die Phänomene sprechen auch gegen Krifkas (1989: 15) Vermutung, daß sich an diesen Meßkonstruktionen (Bsp.: ein Pfund Käse) die "Entstehung eines neuen Konstruktionstyps" zeige, "in dem das Numerativ weniger nominalen und mehr determinator-haften Charakter besitzt." Für die in die Numerusdiskordanz involvierten partitiven und pseudopartitiven QPs ist daher eine Struktur anzusetzen, wie sie bei Löbel (1990: 151) im Rahmen des DP-Konzepts ausgearbeitet wurde. Sie ist für Pseudopartitiva unter Weglassung der darüber gestülpten DP-Haube etwas vereinfacht in (93) wiedergegeben.

68 (93) QP

NP aHaffa AP

N1

kloane

Ne Kinda

Der Kopf der QP, die selbst Komplement eines (in 93 nicht eingezeichneten) D° ist, ist die Mengenangabe, die das quantifizierte Element als Komplement zu sich nimmt. Warum es allerdings möglich ist, daß die am tiefsten eingebettete NP mit einem finiten Verb bezüglich des Merkmals Numerus kongruieren kann, ist weiterhin ein strukturelles Unding', d.h. es dürfte das eigentlich nicht geben.47 In der generativen Grammatik und anderswo gibt es m. W. keine Lösungsvorschläge für dieses Phänomen.

2.6. PPs als Subjekte In klein- bis kleinstregionalen Varietäten des Bairischen existieren vermutlich einige spezifische Satz- und Phrasenkonstruktionen, die sich außerhalb derselben nicht nachweisen lassen. Im Vorhergehenden wurde bereits erwähnt, daß sich für das Dorf Oberneureutherwaid (Unterer Bayerischer Wald) und nur dort ein pränominaler Genitiv (dis Hansn Haus) belegen läßt (Steininger 1994: 119f.). Ich möchte ein weiteres Beispiel mit den Sätzen in (94a-d) anführen, die in der Dorfmundart von Kaußing (Gemeinde Lalling, Lkr. Deggendorf) - meinem Geburtsort - anzutreffen sind.48 (94a) (94b) (94c) (94d)

47

48

Do vom wohnan von K. Von K. wohnan do vorn Do draußd gengan von A. Von A. hams aa ned leichd ghod

Eine ähnliche Problematik zeigen QP-Objekte wie in (i), bei denen das quantifizierte Nomen die (semantischen) Selektionserfordemisse des Prädikats erfüllt und daher scheinbar als PhrasenKopf auftritt (cf. Krifka 1991:402): (i) Hans hat drei Gläser Wein getrunken Diese Konstruktionen sind offenbar im Bayerischen Wald doch weiter verbreitet als ich ursprünglich annahm, da sie, wie mir einer meiner Informanten (M. Wimschneider, m.M.) bestätigte, auch im Ortsdialekt von Untermitterdorf anzutreffen sind.

69 Die Eigenart der Sätze dieser Art besteht darin, daß eine präpositionale vow-Phrase das Subjekt bildet. PPs als 'Quasi-Subjekte' in passivischen Sätzen (cf. 95) sind zwar auch in der Standardsprache nichts Ungewöhnliches, doch handelt es sich dabei nicht um 'richtige' Subjekte (d.h. in der geeigneten strukturellen Position), wie Haider (1993: 133ff.) überzeugend dargelegt hat. (95)

Ober den Vorgang wurde viel spekuliert

Außerdem sind (95) und (94a-d) insofern nicht vergleichbar, als letztere Aktivsätze mit einem intransitiven Prädikat sind, das normalerweise ein nominativisches Subjekt erfordert. Statt dessen erscheint eine Präpositionalphrase als 'Subjekt', d.h. umgekehrt es fehlt eine Konstituente, mit der das Prädikat kongruieren könnte. Dies ist sonst bei Aktivsätzen im Deutschen völlig ausgeschlossen und führt z.B. bei Witterungsveiben, denen es an Argumenten mangelt, zum formalen Aktanten es. Mir ist überhaupt nicht klar, wie man diese Sätze im Rahmen der generativen Grammatik oder anderer Syntaxtheorien erklären kann. Auf jeden Fall handelt es sich nicht um partitive Subjekte (einige von ...), die formal identisch - z.B. in südwestdeutschen Dialekten anzutreffen sind (cf. Glaser 1993: 105f.), und Subjekt-Letzt-Stellung scheint keine Bedingung für ihre Akzeptabilität zu sein (cf. 94b, d). Möglich sind solche Konstruktionen aber nur bei Familiennamen (deswegen ist eine partitive Lesart ausgeschlossen); Personennamen oder sonstige Nomen sind nicht zugelassen.

3. Phrasensyntax

Nach einer zum Schluß hin mehr kursorischen als systematischen Satzsyntax des Bayrischen sollen abschließend kurz einige Spezifika der dialektalen Phrasensyntax beleuchtet werden. Wie bei der Satzsyntax gilt auch in diesem Bereich die Generalisierung, daß im Vergleich mit dem Hochdeutschen die Gemeinsamkeiten die Unterschiede im großen und ganzen überwiegen. Trotzdem bilden auch hier die Differenzen in der Hauptsache wieder die interessanteren Fälle, weswegen sie im Zentrum der folgenden Ausführungen stehen werden. Ich bediene mich dabei des in der generativen Grammatik üblichen X-bar-Schemas, das für Satz- wie Phrasenstrukturen gleichermaßen zuständig ist (Chomsky 1986a: 46).

3 .1. Die Determiner Phrase (DP) Das Bairische ist eine "radikale Artikelsprache" (Eroms 1989: 307), die sich sogar die Redundanz leistet, Eigennamen mit dem definiten Artikel zu versehen, obwohl diese "als in-

70 härent definit anzusehen sind" (Vater 1991: 24). Soweit zu den Oberflächlichkeiten (die sich, um Mißverständlichkeiten vorzubeugen, nicht bei Eroms 1989 finden). In der Verwendung des Artikels unterscheiden sich Dialekt und Hochsprache in zentralen Punkten (Eroms 1989). Davon ist der definite Artikel vor Eigennamen zwar nur einer, aber dafür einer der augenfälligsten und vielleicht auch der theoretisch interessantesten, obwohl dies zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwer zu sagen ist, weil das Phänomen "bisher überhaupt nicht in theoretischem Rahmen thematisiert worden zu sein" (Heim 1991: 511) scheint. Es kann in dieser Arbeit auch nicht Sinn und Zweck sein, dieses Versäumnis nachzuholen. Dazu bedürfte es einer eigenen Arbeit. Ein paar Anmerkungen müssen daher genügen. Im Bairischen sind Eigennamen in derselben Art und Weise wie die übrigen Nomen grammatikalisiert, d.h. sie verhalten sich - vom speziellen Problem der Semantik einmal abgesehen49 - nicht generell anders als andere nominale Klassen. Sie sind also, in Anspielung auf Lerner/Zimmermann (1991: 349), durchaus nicht "gar keine richtigen Wörter". Zwar sind sie Singularia tantum, können somit nicht das Merkmal t+Plural] tragen, doch trifft dies z.B. auch auf Massennomen zu. Die Identität mit 'normalen' Nomina zeigt sich v.a. in der Phrasensyntax, da Eigennamen aufgrund ihres 'Artikelbegleiters' formal eindeutig als DPs ausgewiesen sind.50 Auf der phrasenstrukturellen Ebene ist im Hochdeutschen empirisch nicht leicht zu entscheiden, ob bei Eigennamen eine NP oder eine DP anzusetzen ist. Eine NP-Analyse favorisiert Olsen (1991) für die grammatisch partiell ähnlichen Massennomina (Artikellosigkeit, Singularia tantum), während Bhatt (1990: 191ff.) - m.E. überzeugend - bei diesen wie auch bei Eigennamen für eine DP-Struktur mit einem leeren funktionalen Kopf D° argumentiert.51 Im Bairischen liegt bei Eigennamen eindeutig eine DP-Struktur vor. In diesem Punkt ist der Dialekt transparenter und systematischer als das Hochdeutsche, das nur bei Vorliegen eines Adjektivattributs (der schöne Hans vs. *schöner Hans, cf. Bhatt 1991: 192), bei bestimmten Eigennamen-Klassen (z.B. Hydronyme: die Donau) und - was zumeist übersehen wird - als postnominale Genitive (der Tod des Sokrates, cf. Heyse I: 426) den Artikel erfordert. Für (96) ist die Struktur (97) anzusetzen (zur DP im Deutschen vgl. neben den schon genannten Bhatt, Olsen und Vater auch Haider 1988, 1992):52 (96)

49

50

51 52

da Sepp

Zur reichhaltigen philosophischen Diskussion vgl. als Überblick Lerner/Zimmermann (1991), zur Pragmatik vgl. Dobnig-Jülch (1977). Ich befasse mich nur mit Personennamen. Unberücksichtigt bleiben Namen von Ortschaften, die generell ohne Artikel verwendet werden (sofern kein Attribut vorhanden), sowie diejenigen Ländernamen (Daidschland vs. d'Schwaiz) u.ä., die ebenfalls artikellos gebraucht werden, zudem der pluralische und indefinite Gebrauch (cf. Leys 1989). Bei Massennomen plädiert auch Vater (1991: 26f.) für eine DP-Analyse. Inzwischen gibt es Verfeinerungen der Struktur wie DP-inteme AGR-Phrasen, die die Kongruenz zwischen Determinans und Komplement-NP steuern (cf. Penner/Schönenberger 1993; Lenerz 1993a). Dies wird hier nicht berücksichtigt.

71

Sepp

Der Unterschied zwischen Bairisch und Hochdeutsch besteht nur darin, daß bei letzterem D° phonologisch leer ist, sofern der Eigenname nicht einer besonderen Klasse angehört oder durch ein Adjektiv modifiziert ist. Im Bairischen, das hierin konsistenter ist, muß dagegen D° bei jedem Eigennamen generell mit einem overten Determinans realisiert sein (mit Ausnahme des Vokativs!). Ansonsten sind aber die Phrasenstrukturen identisch: Es handelt sich jeweils um eine DP. Ohne an dieser Stelle detaillierter auf die bairischen Eigennamen53 eingehen zu können, soll en passant nur eine scheinbare Eigenheit aufgehellt werden: Im Bairischen ist es üblich, den Familiennamen (FN) dem Vornamen (VN) voranzustellen (97a), während im Hochdeutschen die umgekehrte Abfolge VN > FN vorliegt (97b). (97a) (97b)

Des is dTischer Anna Das ist Anna Fischer

Im Bairischen sind diese Eigennamengruppen konstruiert wie Namensappositionen (vgl. dazu GDG, 290f.), bei denen das zweite Nomen den Kopf der Phrase bildet. Dies läßt sich ganz einfach zeigen: Es ist bekannt, daß bei Diminuierung ein Genuswechsel auftritt (hier: fem. neutr); wird nun der VN diminuiert, erhält die Gesamtphrase das Merkmal [+neutr.] (cf. 98a vs. b), auch wenn die Apposition (hier: die Tante) inhärent fiir ein anderes Genusmerkmal spezifiziert ist; ebenso ist es nun auch bei den Eigennamenphrasen (98c). (98a) (98b) (98c)

dTante Maria sTante Maral sTischer Annal

Daher ist eine X-bar-Struktur wie in (99) anzusetzen, in der FN und VN ein komplexes Nomen N* bilden, das entweder durch lexikalische Wortbildung oder durch syntaktische Komposition qua Inkorporation έ la Baker (1988) erzeugt wurde. Wenn eine lexikalische Komposition vorliegt, folgt die 'Rechtsköpfigkeit' des komplexen Nomens aus den allgemeinen Kompositionsregeln des Deutschen: Die am weitesten rechts stehende Konsti-

53

Vgl. dazu z.B. Steininger (1982).

72 tuente legt die Merkmale des Kompositums fest (cf. Olsen 1988). Die Abfolge FN > VN erklärt sich somit aus der allgemeinen Struktur solcher Appositionen. (99)

DP



NP

s'



Νβ

Fischer

Ne

Annal

Soweit zur Phrasensyntax der Eigennamen. Ein weiterer Unterschied zum Hochdeutschen besteht darin, daß das Bairische beim definiten Artikel über zwei Paradigmen verfügt: eine unbetonte und eine betonte Formenreihe. Die betonten Formen bezeichnet Eroms (1989) als "Artikel 2", da die Verwendungsbedingungen nicht deckungsgleich mit denen des formengleichen Demonstrativpronomens (cf. Kollmer I, 273) seien. Dem ist generell zuzustimmen. Es bietet sich m.E. trotzdem eine über Eroms (1989) Generalisierung hinausgehende Analyse an. Im Bairischen gibt es das - vom Hochdeutschen her gesehen - prototypische Demonstrativpronomen vom Typ dieser nicht. An seine Stelle tritt der betonte Artikel, der dann seiner Funktion nach deiktisch ist. Hierzu zählt auch die anaphorische Verwendung mit und ohne Begleitnomen (100a,b) sowie das 'Relativpronomen', das m.E. nichts anderes ist als der anaphorisch gebrauchte betonte Artikel (100c).54 Als Demonstrativa mit der abgeschwächten 'identifizierenden' Funktion (Duden 1983: § 676) sind betonte Artikel auch in den Fällen zu analysieren, in denen sie NPs mit restriktiven Relativsätzen einleiten - hier sind sie obligatorisch (cf. lOOd vs. e) oder in denen sie sonst 'determinierende' Funktion haben (Eroms 1989: 321) (cf. lOOf). Der betonte Artikel ist in allen diesen Verwendungen demonstrativ (deiktisch bis identifizierend), d.h. seine Funktion geht über die reine Definitheitsmarkiening hinaus. (100a) (100b) (100c) (1 OOd) (100e) 54

Hamd aa an Buam ghobd, oba dea Bua hod nix daugd Hamd aa an Buam ghobd, oba dea hod nix daugd an Sepp, dea wo grod hoam kema is, hed boid da Schlog troffa dea Baua, dea wo gesdan s"Hai nimma hoam brood hod,... *da Baua, dea wo gesdan sHai nimma hoam brood hod,...

Im Bairischen existiert mit der Partikel wo ein Marker für Relativsätze, so daß der betonte Artikel nur eine anaphorische Funktion übernehmen muß. Relativpronomen im Sinne des Hochdeutschen gibt es dagegen im Bairischen nicht.

73 (1 OOf)

Kennsd de Straß vo Bomoas nach Regn? (Eroms 1989: 321)

Dies ist im wesentlichen der Verwendungsbereich der betonten Artikelformen als Demonstrativa in einem weiteren Sinn. Daneben existiert aber noch ein zweiter Bereich, in dem betonte Artikel - allerdings ohne ihre demonstrative Funktion - ebenfalls obligatorisch sind. Es ist mehrfach betont worden (Eroms 1989: 320; Kollmer I, 273f.; Merkle 1977: 88), daß bei Distanzstellung, also wenn zwischen Artikel und Nomen ein Attribut tritt, der betonte Artikel erforderlich wird. Doch ist diese Generalisierung nicht korrekt, da dies nur im Fem.Sg. (Ausnahme: Dativ) und im PI. (alle drei Genera) obligatorisch ist, nicht unbedingt jedoch im Mask, und Neutr.Sg., d.h. bei letzteren können fakultativ auch die unbetonten Formen stehen.55 Die Verteilung ist in (101) wiedergegeben (Artl = unbetonter Artikel; Art2 = betonter Artikel), entsprechende Beispiele finden sich (102a-d): (101)

Sg. Nom Dat Akk (102a) (102b) (102c) (102d)

mask Artl Artl Artl

fem Art2 Artl Art2

neutr Artl Artl Artl

PI.

M/F/N Art2 Art2 Art2

da kloane Beda hod ri naia Lehra tri naigirign Sepp voargschdejd de kloane Frau hod da oidn Baiaren de waiss Kua gstoin j' kloane Kind hod ri kloana Deandl s' roude Gwand gstoin de frechn Kinda ham den oidn Bauan de guatn Epfe gstoin

Die Distribution ist einigermaßen klar, schleierhaft ist jedoch die zugrundeliegende Systematik. Feststeht, daß die unbetonten Formen alle durch betonte ersetzt werden können, aber nicht müssen. Die betonten Artikel können in den in (101) und (102) angegebenen Fällen umgekehrt nie durch unbetonte Formen substituiert werden. Setzt man für die schwachtonigen Artikel die betonten ein, haben sie 'demonstrative' Funktion im oben geschilderten Sinne (also von deiktisch bis identifizierend), nicht jedoch in den Fällen, in denen sie obligatorisch sind. Hier sind sie ihrer Bedeutung nach nicht von den unbetonten Formen, die bei Fehlen eines Attributs erscheinen würden, zu unterscheiden. Es gibt also einen klaren Kontrast. Der Grund für die Verteilung betonter und unbetonter Formen ist allerdings unklar. Es kann aber kein (phrasen-)syntaktischer sein (Stichwort: Distanzstellung), weil sonst die Zweiteilung völlig unerwartet wäre. Vermutlich sind hier Faktoren relevant, die im Bereich der Phonotaktik, Morphonologie bzw. Phonologie liegen. Wenn man sich nämlich die Ausnahme im Paradigma des Fem.Sg. (Dativ) anschaut, ist auffällig, daß die unbetonte Form da verwendet wird, also eine silbische Form. Man kann also die Generalisierung für alle ^-anlautenden Artikelformen aufstellen, daß die nicht55

Eroms (1989: 320) teilt auch die Auffassung, daß Distanzstellung den betonten Artikel nach sich zieht und gibt als Beispiel u.a. da lang Gang, wobei es sich aber, auch nach Ausweis seiner eigenen Formen-Paradigmen (1989: 316), um den unbetonten Artikel handelt, die betonte Form lautet dea. Umgekehrt soll in de Reichn/Meine/Schenste der unbetonte Artikel vorliegen (Eroms 1989: 318), auch dies steht im Widerspruch zu seinen eigenen Paradigmen.

74 silbischen unbetonten Artikel bei Distanzstellung durch die silbischen betonten Formen ersetzt werden, die silbischen Kurzformen (Nom Mask.Sg., Dat Fem.Sg.) jedoch nicht. Das Kriterium fur die Substitution ist somit die Silbigkeit, nicht jedoch die Distanzstellung an sich, wie bisher angenommen wurde. Neben den i/-Formen gibt es noch s- und «-haltige Formen, bei denen keine Ersetzung durch die betonten Formen erforderlich ist. Dies muß irgendwie mit der phonologischen Besonderheit dieser Phoneme zusammenhängen, auch wenn mir die genauen Faktoren unklar sind. Bei s als "minimal sonorem Laut" (Abraham/Wiegel 1993: 43) ist aber z.B. feststellbar, daß es auch als klitisches Personalpronomen eine Sonderstellung einnimmt (vgl. dazu Kapitel III Abschnitt 4.2.1.). Keine Rolle dürfte dagegen spielen, daß die s- und «-haltigen Artikel klitische Formen sind, weil auch der rf-Artikel teilweise klitisch ist (d'Waiba, d'Manna) und trotzdem bei Distanzstellung ersetzt wird. Für die Artikelverwendung bei der Distanzstellung ist also kein einheitliches Prinzip zuständig. Es sind zwei Klassen bildbar: dentalhaltige Artikel, bei denen Silbigkeit das Kriterium ist, und dentallose Formen, die auch bei Distanzstellung unsilbisch bleiben können. 56 Das gleiche Verteilungsmuster zeigen die substantivierten Adjektive: da Reiche, de Reichn usw. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, da bei diesen 'Nominalisierungen' eine Struktur wie (103) mit einem leeren nominalen Kopf anzusetzen ist (cf. Bhatt 1990: 175-181). 57 M.a.W. es liegt keine Substantivierung vor: Die Adjektive sind strukturell immer noch in einer Attribut-Position (SpecNP) und bilden nicht den Kopf der NP. Dies zeigt sich u.a. daran, daß sie wie echte Attribute in Abhängigkeit vom Artikel flektieren: der Reiche vs. ein Reicher. Ein Wechsel der Wortkategorie (Adjektiv Nomen) muß daher nicht angesetzt werden. Evidenz dafür ergibt sich auch aus der Gegenüberstellung lexikalisierter und nicht-lexikalisierter Formen, da erstere im ^/-Bereich den unbetonten Artikel erlauben: d'Ejdan vs. de oidn. (103)

[ Dp [ D da

reiche] [ N e]]]]

Es wurde bereits angesprochen, daß die meisten der unbetonten Artikel Klitika sind, eine Ausnahme bildet nur da (Nom Mask.Sg., Dat Fem.Sg.). Die (a)w-Formen sind zwar an sich silbisch, tendieren aber stark zur Klitisierung (Reduktion zu ri) und sind daher als Klitika zu zählen. Penner/Schönenberger (1993: 7) haben - für ihre schweizerdeutschen Daten - bei der Artikelklise eine syntaktische Anhebung des Nomens zu D° (N-zu-DBewegung) vorgeschlagen. Bei den erwähnten Fällen klitischer Artikel (s'kloane Kind), bei denen ein Adjektiv zwischengeschaltet ist, müßte nach der Logik dieses Vorschlags eine A-zu-D-Anhebung vorliegen. Bei den klitischen Artikeln scheint mir eher wahrscheinlich, daß es sich um einfache Klitika (simple clitics) im Sinne von Zwicky (1977) und Anderson (1992) handelt, die schlicht als Phänomene der phonologischen Form zu 56 57

Den Angaben hierzu bei Nübling (1992: 203ff.) entnehme ich, daß ähnliche Verhältnisse im Schweizerdeutschen herrschen. In Haiders (1988: 43ff.) Kritik an dieser auf Olsen zurückgehenden Analyse ist das Problem leerer Köpfe bei lexikalischen Projektionen zutreffend angesprochen, doch scheint mir sein Vorschlag kongruenter Projektionen (AP -» NP) konzeptuell noch weitaus problematischer zu sein.

75 analysieren sind, da keine sichtbare syntaktische Bewegung involviert ist (ausführlicher dazu in Kapitel III Abschnitt 4.2.1.). Sie sind prosodisch defizient, d.h. keine phonologischen Wörter, und benötigen daher eine Trägerkategorie, mit der zusammen sie eine phonologische und prosodische Einheit bilden. Im Unterschied zu speziellen Klitika ist damit aber keine sichtbare syntaktische Bewegung verbunden. Und eben dies ist bei klitischen Artikeln der Fall: Sie verbinden sich auf der phonologischen Ebene mit dem nachfolgenden Element, unabhängig davon, ob Adjektiv oder Nomen. Die postulierte Anhebung von N-zu-D wäre ja auf jeden Fall unsichtbar und unabhängig dann motivieibar, wenn z.B. ein Adjektiv die Bewegung immer blockieren würde (es handelt sich dabei um eine Kopfbewegung!), so daß durch diese Blockade die nicht klitischen betonten Formen erzwungen werden. Doch dies gilt im Bairischen eben nicht, weswegen eine A-zuD-Anhebung als zusätzliche Möglichkeit vorgesehen werden müßte. Daß eine syntaktische Bewegungsanalyse in der von Penner/Schönenberger (1993) gegebenen Form nicht zutreffend sein kann, zeigt auch das Verhalten der klitischen Artikel in Präpositionalphrasen: Sie lehnen sich in bestimmten lautlichen Umgebungen an die vorhergehende Präposition und nicht an das Nomen an (vgl. dazu auch Nübling 1992: 213f.). Relevant sind dabei natürlich nur nicht lexikalisierte Kombinationen wie in die, wobei der Artikel bei konsonantischem Anlaut des folgenden Substantivs proklitisch, bei vokalischem Anlaut dagegen enklitisch ist (cf. 104a vs. b). In den Syntagmen von (104b) ist deutlich ein Knacklaut vor dem vokalisch anlautenden Nomen zu hören. Dies steht in Kontrast zu (104c), in denen er fehlt, da hier Artikel und Nomen eine phonologische Einheit bilden. Ähnliche Phänomene zeigen sich, wenn die Präposition eine DP mit pränominalem Dativ (s.u.) einbettet: Hier wird der klitische Artikel aus einer in deren Spezifikator befindlichen DP angehoben (104d). Auch lexikalisierte Formen (cf. 104e) verhalten sich nicht anders. (104a) (104b) (104c) (104d) (104e)

in d'Schui/kKiacha ind Uni/Oarbad dTJni/Oarbad mid'n Sepp seim Audo im (*am) Sepp seim Audo

Man müßte also auch noch eine dritte technische Lösimg bei der Artikelklise vorsehen, die (104b) regelt und dabei den geltenden lautlichen Bedingungen in (104b) Rechnung trägt. Da scheint denn doch die phonologische Konzeption theoretisch attraktiver zu sein, weil sie weniger aufwendig ist. Hier zeigt sich auch, daß klitische Artikel - anders als die klitischen Personalpronomen - der Natur nach weder proklitisch noch enklitisch sind, sondern daß die Orientierung von der syntaktischen und/oder phonologischen Umgebung determiniert wird. Es braucht also im Lexikoneintrag nicht spezifiziert zu sein. Außerdem beachten einfache Klitika nicht prinzipiell Phrasengrenzen, wie auch die heute zwar voll lexikalisierten Kontaminationen (im, vom, zum etc.) beweisen, weil deren Genese auf einer (früheren) Grenzüberschreitung beruhen muß. Da im Bairischen wie in anderen oberdeutschen Dialekten der Genitiv - von einzelnen Idiomatisierungen abgesehen - nicht mehr existiert, haben sich einige Differenzen zum

76 Standarddeutschen (v.a. schriftsprachlicher Prägung) ergeben. Neben der Reduktion des Präpositionalsystems (nur mehr zwei Klassen von Präpositionen: dativ- und akkusativregierende), die hier außer acht bleiben kann, sind insbesondere zwei Konsequenzen zu nennen: (1) die Ausbildung einer funktionalen Partikel von, die außer ihrer ursprünglichen lokalen Bedeutung heute als prototypischer Genitiversatz grammatikalisieit ist. Sie hat - vergleichbar dem englischen of oder dem französischen de - die Funktion, postnominale NPs, die im Standarddeutschen immer noch mit Genitiv versehen werden, mit Kasus zu markieren (nämlich mit Dativ). Bedeutungsmäßig scheint die Partikel dabei völlig unspezifiziert zu sein, da sie in Possessivkonstruktionen (105a) ebenso wie in Partitivkonstruktionen (105b) Verwendung findet. Außerdem ist sie in Syntagmen möglich, die traditionellerweise als Genitivus subjectivus bzw. objectivus bezeichnet werden (105c, d). (105a) (105b) (105c) (105d)

s'Auddo vo meim Vadda is hi de meisdn vo de Laid hand scho ganga s'Gschrai vo de Kinda vodrog'e ned sFiadan vo de Afln is voboodn

Wie bei "echten" postnominalen Genitiven existieren also keine thematischen bzw. semantischen Restriktionen, die von einer 'Bedeutung' der Partikel herrühren. Sie ist daher als rein funktional zu charakterisieren. Wenn man mit Haider (1988: 54) das Merkmal POSS als eine abstrakte Relation definiert, die zwischen zwei nominalen Konstituenten innerhalb einer gemeinsamen maximalen Projektion DP besteht und die nicht nur auf die Besitzrelation beschränkt ist, könnte man generalisieren, daß im Baltischen von als funktionale Partikel die Aufgabe hat, der postnominalen DP das Merkmal POSS und Kasus zuzuweisen. Damit wäre ihre Funktion dieselbe, die Abney (1987) für das englische of beschrieben hat. Die thematische Markierung hängt jedoch von der Natur des ersten Nomens ab: z.B. ein deverbales Nomen lizensiert entweder sein externes oder sein internes Argument in der postnominalen Position (also Genitivus subjectivus oder objectivus) mit je verschiedenen Θ-Rollen (Agens oder Patiens).58 Bei den nicht relationalen Nomina ist die Besitzrelation zwar nicht die einzige, aber doch die Default-Spezifikation des POSS-Merkmals, also die naheliegendste freie Interpretation der zugrundeliegenden Relation (cf. Bhatt 1990: 125). Da andererseits die postnominale DP von der funktionalen Partikel von als KaSus Dativ erhält, liegt im Bairischen eine klare und strikte Dissoziation der Merkmale POSS und Kasus vor. Im Hochdeutschen dagegen sind Kasus- und Θ-Rollen-Zuweiser bei postnominalen Genitiven identisch: Beides kommt von dem Nomen, das die postnominale DP regiert (Bhatt 1990: 125f.). Die zweite Konsequenz des Genitiwerlusts im DP-Bereich ist die gegenüber dem Hochdeutschen unterschiedliche Grammatikalisierung der Possessivpronomen der 3. Person. Im Deutschen gibt es sog. pränominale Genitive, die possessive oder andere Relationen (identisch mit obigen Verhältnissen) zum Ausdruck bringen, aber (semantisch) 58

Dieser Sachverhalt spricht gegen Haiders (1988: 53) Auflassung, POSS werde in D° basisgeneriert. Bhatt (1990: 124) bringt weitere Argumente gegen Haiders These.

77

restringiert sind auf Personen (also Personennamen, Verwandtschaftsbezeichnungen) bzw. personifizierte Größen wie einige Staatennamen (ausführlicher dazu Bhatt 1990: ΙΠΠΟ). Hier handelt es sich, wie insbesondere weibliche Eigennamen zeigen (106a), um scheinbare Genitive, tatsächlich liegt eher ein Possessivmorphem s vor. Das funktionale Pendant dazu ist im Bairischen der pränominale Dativ mit einem Possessivum (cf. 106b). Die Verwendungsbedingungen pränominaler Genitive und Dative sind allerdings nicht völlig identisch: letztere sind z.T. eingeschränkter, so sind z.B. Staatennamen dann nicht möglich, wenn sie nur artikellos verwendet werden können, ansonsten jedoch zumindest marginal (cf. 106c). Die bestehende Restriktion im Hochdeutschen bezüglich Staatennamen ist dagegen völlig anderer Art (cf. Olsen 1991: 48f.).59 (106a) (106b) (106c)

Ottos/Heikes Haus am Sepp sei Haus da Schwaiz/*Daidschland sei Präsident

Die genauen Verwendungsbedingungen pränominaler Dative stehen hier nicht zur Debatte. Interessant ist im Zusammenhang mit ihnen in erster Linie die strukturelle Verankerung der Possessiva, weil es hier im Prinzip drei Möglichkeiten gibt. In Frage steht damit letztlich deren kategorieller Status. Im Hochdeutschen werden Possessivpronomen im Specifier der DP lokalisiert, weswegen sie als maximale Projektionen zu gelten haben (Olsen 1991; Bhatt 1990). Eine Gleichbehandlung der bairischen Possessiva wäre die erste Möglichkeit, die von Bhatt (1990: 145-151) vertreten wird. Eine alternative Analyse könnte davon ausgehen, daß die Possessiva des Bairischen als D°-Elemente grammatikalisiert sind, sozusagen als funktionale Partikeln mit dem Merkmal POSS, worauf Haider (1988: 53; 1992: 315) hinweist. Die dritte Möglichkeit, die nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden soll, bestünde in der traditionellen Analyse der Possessiva als Adjektive in einer entsprechenden Modifikatorposition innerhalb der NP: Sie wird hier nicht weiter verfolgt, weil sie u.a. im Widerspruch zur 'komplementären' Verteilung von Possessiva und Determinantien steht, d.h. zur Tatsache, daß Artikel und Possessiva sich gegenseitig ausschließen, was bei den echten Adjektiven nicht der Fall ist. Die Grundlage der Analyse (I) ist die Kategorisierung hochdeutscher Possessiva als intransitive DPs, für die v.a. Olsen (1991: 51fif.) gute Argumente beigebracht hat, die an dieser Stelle aber nicht wiederholt zu werden brauchen (für Einwände vgl. man Haider 1993: 314f.). Bhatt (1990) geht davon aus, daß bei den von ihr untersuchten pränominalen Dativen - einer umgangsprachlich häufigen Konstruktion, die nicht auf das Bairische beschränkt ist (Henn-Memmesheimer 1986: 132-153; Werlen 1990a, 1990b, 1994: 62) - das Possessivum wie im Hochdeutschen in der Specifier-Position angesiedelt ist und daß es eine (maximale) DP ist, die im Normalfall intransitiv ist, also über keine Erweiterungen

59

Bhatt (1990: 145) bringt in diesem Zusammenhang auch Beispiele wie (i), die im Bairischen eher durch (ii) wiedergegeben werden dürften. Ausschlaggebend hierfür sind wohl die angeftlhrten semantischen Restriktionen, keineswegs aber syntaktische. (i) dem Computer sein Laufwerk (ii) sLaufwerk vom Computer

78

(Komplemente, Modifikatoren) verfugt. Bei den in Frage stehenden Konstruktionen hätte sie aber eine Spezifikator-Position, die von den pränominalen Dativen eingenommen wird. Ein Satz wie (107) hat nach Bhatt (1990: 146) die Struktur (108):60 (107)

der Nanni ihre Teddys

(108)

DP

DP

D'

ihr-

-e

Die Dativ-DP steht also in der Spezifikator-Position des Possessivums, das selbst sich im Specifier der übergeordneten DP befindet. Mit Struktur (108) ist gewährleistet, daß Possessiva auch in jenen Varietäten des Deutschen, die possessive Dative haben, kategoriell identisch sind mit denen der nicht umgangssprachlichen hochdeutschen Varietät. Ebenso besteht phrasensyntaktische Identität: Das in D° generierte Merkmal [POSS] markiert die pränominale DP - sei es nun ein Komplex wie der Nanni ihr- oder ein Possessivum allein mit Genitiv. Den unerwarteten Dativ anstelle des Genitivs erklärt Bhatt (1990: 148) damit, daß D° generell nur dann Genitiv an seinen Spezifikator vergeben kann, wenn es nicht mit einem Determinans besetzt ist. Dies ist z.B. bei den pränominalen Genitiven der Fall oder auch in (107)/(108), wo ja der Phrase der Nanni ihr- Genitiv zugewiesen wird.61 Da aber das Possessivum ein lexikalisches D°-EIement ist, kann es seinerseits seiner eigenen Spezifikator-Position keinen Genitiv zuweisen. Die zweite Möglichkeit geht davon aus, daß Possessiva in denjenigen Varietäten, die pränominale Dative aufweisen, in D° lokalisiert sind (Haider 1992: 315).62 Dem bairischen Satz (109) ist nach dieser Auffassung die Struktur (110) zu unterlegen (die folgenden Ausführungen gelten, sofern nicht anders vermerkt, wieder ausschließlich dem Bairischen).

60

61

62

Die bei Bhatt angegebene Struktur ist etwas anders, sie paßt in dieser Form allerdings nicht zu ihren sonstigen Ausführungen im Text, nach denen ich Struktur (108) erstellt habe. Fortmann (1996: 52-57) nimmt an, daß POSS und GEN zwei unabhängig voneinander generierte De-Merkmale sind, von denen das erste die Θ-Rollen- und das zweite die Kasuszuweisung an den Spezifikator regelt. Nach der Logik dieses Vorschlags wären ein lexikalischer Determinierer und GEN nicht miteinander verträglich. Haider nimmt zusätzlich an, daß hochdeutsche Possessiva identisch zu kategorisieren sind.

79 (109)

earn sei Haus

(110)

DP

Spec

earn

D' De sei

NP Haus

In dieser Struktur sind Possessiva keine maximalen Projektionen, sondern Köpfe, die als Lexikalisierung des abstrakten Merkmals [POSS] charakterisieibar sind. In dieser Verwendung sind sie eine funktionale Partikel, die von den übrigen Possessiva kategoriell verschieden ist. Zehetner (1985: 131) spricht m.E. ganz richtig von einem "Possessivzeichen". Eine klare Evidenz dafür liefert die Tatsache, daß zumindest im älteren Bairisch (Zehetner 1985: 131) keine Genuskongruenz vorlag (cf. l i l a ) , während bei 'attributivem' Gebrauch diese obligatorisch ist (11 lb). (lila) (111b)

daMareseiBua iarBua

Es deutet also einiges daraufhin, daß die Possessiva bei Konstruktionen mit pränominalen Dativen ein eigenes Paradigma bilden, das morphologisch allerdings nicht von den übrigen Verwendungsweisen distinkt ist. Wie an den vier möglichen (NOM-)Formen in (112a-d) ersichtlich ist, kongruiert das Possessivum zweifach. Zum einen besteht hinsichtlich Numerus und Person Kongruenz mit dem Bezugsnomen (cf. 112a vs. b, 112c vs. d), zum andern mit der pränominalen Dativ-DP (cf. 112a vs. c, 112b vs. d), sowie neuerdings auch bezüglich Genus, da jetzt auch das fem. iar gebräuchlich ist (cf. 112e). (112a) (112b) (112c) (112d) (112e)

am Sepp/da Mare/am Buam sei Haus am Sepp/da Mare/am Buam seine Haisa de Manna/de Waiba/de Kinda ear(a) Haus de Manna/de Waiba/de Kinda ear(an)e Haisa da Mare iar Haus

Die doppelte Kongruenz ist kein Argument gegen eine Positionierung des Possessivums in D°, wie Olsen (1991: 52) oder Bhatt (1990: 141) meinen, sondern ein morphologischer Reflex des anaphorischen Charakters des Possessivums, der in einem weiteren Sinne auch für die Beschränkung auf die 3. Person verantwortlich gemacht werden kann, denn nur die Personalpronomen der 3. Person sind anaphorisch. Die Personalpronomen der 1. und 2. Person sind dagegen direkt referentiell (Reinhart 1991 und Kapitel ΙΠ Abschnitt 4.2.6. dieser Arbeit), d.h. sie beziehen sich auf im Diskurs a priori anwesende Referenten. Im Bereich der Possessiva gibt es einen ähnlichen Personen-Split: Possessiva der 1. und 2.

80 Person sind zwar Anaphern im Sinne der Bindungstheorie (cf. 113a), doch sie können nicht lokal gebunden werden. Die für die Bindung relevante regierende Kategorie ist die DP, die im Fall der 3. Person-Possessiva den Binder enthält (bzw. enthalten kann), nämlich die pränominale Dativ-DP in der Spezifikator-Position. Sie sind also lokal gebunden.63 Genau diese Option ist für Possessiva der 1. und 2. Person nicht vorhanden: Sie dürfen nicht lokal durch einen Binder im Spezifikator gebunden werden. Daraus läßt sich die Ungrammatikalität von (113b, c) ableiten (kontra Haider 1993: 315, Anm. 5). (113a) (113b) (113c)

Ichj wasche meinej Wäsche *mia mei Handwerk *dia dei Handwerk

An dieser Stelle zeigt sich ein markanter Unterschied zum Hochdeutschen, dessen Possessiva der 3. Person sich nicht anders verhalten wie die der 1. und 2. Person. Auch sie dürfen nicht lokal innerhalb ihrer DP gebunden werden. Daher sind Phrasen mit pränominalen Dativen ungrammatisch. Im Bairischen zeigt sich wie in vielen anderen Dialekten (Henn-Memmesheimer 1986; Werten 1994), daß Possessiva der 3. Person echte Anaphern im Sinne der Bindungstheorie sind. Stechow/Sternefeld (1988: 239ff.) nehmen an, daß die Possessiva des Deutschen nicht der Bindungstheorie unterliegen, weil sie weder in ihrer bindenden Kategorie (entspricht dem (Teil-)Satz) ungebundene Pronominale (cf. 114a) noch gebundene Anaphern (cf. 114b) seien. Nun sind sie im je konkreten Fall zwar immer 'entweder oder' und nie beides gleichzeitig, was wohl auch Stechow/Sternefeld nicht bestreiten würden, so daß ein Vorkommen nach dem Bindungs-ABC eindeutig klassifizierbar ist: so liegt in (114a) eine Anapher und in (114b) ein Pronominale vor (im Verständnis von Stechow/Sternefeld; man könnte aber über die Erweiterung der Bindungsdomäne auf den Gesamtsatz auch in (114b) eine Anapher ableiten). (114a) (114b)

Wladimir schmiß seiner^ Mantel in die Ecke FranziSj glaubt, daß Wladimir ihren; Mantel in die Ecke schmiß

Andererseits ist es korrekt, daß sie in ihrer regierenden Kategorie (entspricht der DP) nicht gebunden sein können, lokale Bindung also ausgeschlossen ist. Danach wären es Pronominale im Sinne der Bindungstheorie. Die Ambiguität pronominaler Ausdrücke ist aber auch nicht auf Possessiva beschränkt, sie zeigt sich ebenso bei den Personalpronomen. Systematisch ist sie z.B. in der 1. und 2. Person verankert, da es hier für Reflexiva (Anaphern) und Pronominale keine morphologisch distinkten Formen gibt (cf. 115a,b), wie es bei der 3. Person des Hochdeutschen der Fall ist (cf. 115c,d). Zu erinnern ist an dieser Stelle auch an die bairische Höflichkeitsform, die ebenfalls Anapher (115e) wie Pronominale (115f) sein kann (vgl. auch Fanselow 1991: 263). In (115g) ist auch das Personalpronomen eam (3. Pers.Sg. mask.) reflexivisch verwendet, da im Bairischen zumin-

63

Zur Bindungstheorie und deren Begrifflichkeit vgl. u.a. Grewendorf (1988), Haegeman (1994) oder Stechow/Sternefeld (1988).

81 dest früher im Dativ der 3. Person pronominale und reflexive Form morphologisch identisch waren. (11 Sa) (115b) (115c) (115d) (115e) (115f) (115g)

Ich wasche mich Er sieht mich Er wäscht sich Er sieht ihn Setzen's eana Eana woid'e scho lang wos song Ea hod earn dengd

Angesichts der dargestellten Datenlange scheint mir Stechow/Sternefelds (1988) Behandlung der Possessiva nicht ganz geglückt zu sein. In deren Sinne wäre nämlich - bei einer etwas überspitzten Interpretation - ein nicht unerheblicher Teil des Pronominalbereichs kein Fall für die Bindungstheorie. Dem sei nun wie es sei, für das Bairische muß auf jeden Fall unabhängig gelten, daß auch Possessiva (hier wie im folgenden immer der 3. Person) klassische Anaphern sind, weil sie in ihrer regierenden Kategorie gebunden werden können, d.h. lokal innerhalb ihrer DP. Dies trifft sowohl bei Bhatts (1990) als auch bei der von mir vertretenen Analyse zu. Zum morphologischen Verhalten der Possessiva in den zur Diskussion stehenden Konstruktionen ist weiters anzumerken, daß sie die Kasusform, die der Gesamt-DP zukommt, realisieren, d.h. z.B. im mask.Sg. die 'sichtbare' Akkusativ- und Dativmorphologie zeigen (cf. 116a-c). (116a) (116b) (116c)

an Sepp sei Stoi is obrend da Hans hod an Sepp sein Buam zamgfoon der hod an Sepp seim Buam ghoifa

In diesem Phänomen zeigt sich die erwartete klare Dissoziation: Der Kasus der DP wird von dem Element realisiert, das in der Position (D°) steht, an die der Kasus zugewiesen wird, während die Konstituente im Spezifikator nur den dieser Position zukommenden Kasus trägt, den Dativ. Bei Bhatts (1990) Struktur entsteht dagegen ein Kasuskonflikt: Da in ihrer Konzeption vorgesehen ist, daß D° der Konstituente im Spezifikator Genitiv zuweist, ist nicht zu verhindern, daß diese mit (abstraktem?) Genitiv markierte Phrase morphologisch sichtbar einen zweiten Kasus (Akkusativ oder Dativ) erhält bzw. wenigstens realisiert. Auch wenn das Kasusmorphem in D° basisgeneriert und erst auf PF zum Possessivum angehoben werden sollte, halte ich eine derart doppelt kasushaltige Form konzeptionell für wenig plausibel. Die erwähnte doppelte Kongruenz des Possessivums mit Bezugsnomen und pränominaler Dativ-DP (cf. 112a-d) spricht ebenfalls staik gegen Bhatts (1990) Strukturvorschlag. Es ist nicht einsichtig, daß eine DPI, die sich in Spezifikator-Position einer DP2 befindet, bezüglich des Merkmals Numerus mit deren Kopf oder mit dessen Komplement-NP kongruieren sollte. Lokalisiert man dagegen das Possessivum gleich im Kopf der DP, erklärt sich das Verhalten als regelkonform, weil auch die übrigen Determinantien mit ihren NP-

82 Komplementen kongruieren.64 Possessiva unterscheiden sich von den anderen Determinantien nur durch ihren anaphorischen Charakter. Daher lizensieren nur die von ihnen projizierten DPs (mit lexikalischem D°-Element) eine Spezifikator-Position, die den pränominalen Dativ als bindenden Ausdruck enthält. Da - wie oben schon ausgeführt - pränominale Dative im Bairischen der Ersatz für bzw. das funktionale Analogon zu pränominale(n) Genitive(n) sind, läßt sich auch motivieren, daß D° phonologisch nicht leer sein kann. Der Genitiv ist ein struktureller Kasus, der pränominal von einem leeren funktionalen Kopf zugewiesen werden muß, daher ist der pränominale Genitiv inkompatibel mit einem Possessivum in D° (ausführlicher bei Haider 1992: 317f.).65 Dagegen ist der Dativ ein lexikalischer Kasus, der nur von einem lexikalischen Element zugewiesen werden kann. Das macht das Possessivum bei pränominaler Dativ-DP obligatorisch. Damit ist das bei Bhatt (1990: 146) angesprochene Problem, unter welchen Bedingungen [POSS] - das Merkmal in D°, das die Besetzung der Spezifikator-Position lizensiert, indem es Θ-Rolle und Kasus vergibt - Genitiv und unter welchen es Dativ zuweisen könne, gelöst und daher kein Argument gegen die hier vertretene Position. Das Kriterium ist, ob [POSS] lexikalisch oder leer ist. Die anzuschließende Hypothese besagt, daß die Phonetisierung von D° (sprich: die Einsetzung eines Possessivums) eine Konsequenz des Genitiv-zu-Dativ-Wechsels ist. Sollte das skizzierte - nicht strikt historisch zu verstehende - Szenarium zutreffen, wäre es ein sehr starkes Argument für die Analyse II. Die Annahme, daß das Possessivum der Kopf der DP und nicht in der Spec-Position befindlich ist, wird den Daten und deren theoretischen Erfordernissen gerechter. Ein schwerwiegendes Problem für diese Analyse wie auch für Bhatts (1990) Vorschlag stellen allerdings bestimmte Koordinationsdaten dar (117a-c). (117a) (117b) (117c)

am Sepp sei Stoi und am Hans da sei am Sepp sei Garasch und am Hans de sei am Sepp sei Auddo und am Hans des sei

Die Kookkurrenz von Artikel und Possessivum im zweiten Konjunkt ist in beiden Strukturvorschlägen nicht vorgesehen. In Bhatts (1990) Struktur (cf. 108) wäre, wenn überhaupt, nur die umgekehrte Reihenfolge Possessivum vor Artikel erwartbar, da sich ersteres in der Spezifikator-Position befindet und zusammen mit der pränominalen Dativ-DP eine Konstituente bildet, die durch einen Artikel nicht aufspaltbar ist. Diese Koordinationskonstruktionen sind mit Bhatts (1990) Vorschlag nicht analysierbar.66

64

65

66

Erweitert man die Kongruenzbeziehung auch auf das Merkmal Person, ließe sich womöglich die Beschränkung auf die 3. Person noch eleganter ableiten. Die bei Henn-Mechtesheimer (1986: 142f.) belegte Ausnahme ist, wie die Autorin feststellt, eine 'artifizielle' Konstruktion und bestätigt die Inkompatibilität. Bhatt (1990: 146) führt zur Stützung ihrer Argumentation Koordinationsstrukturen anderer Art an (cf. i), die aber für die hier präferierte Lösung ebenfalls kein Problem darstellten, wenn sie denn im Bairischen vorkämen, (i) dem Peter sein und mein Zimmer

83 Aber auch für die von mir bevorzugte Struktur (110) sind sie problematisch. Denkbar ist zunächst eine Struktur wie (118), in der die vom definiten Artikel projizierte DP nicht wie sonst eine NP, sondern eine DP als Komplement zu sich nimmt. Die Komplement-DP ist die Projektion des Possessivums, e symbolisiert die Lücke im Konjunkt, das fehlende Nomen.

An dieser Lösimg sind allerdings mehrere Punkte unbefriedigend. Zum einen ist auffällig, daß als Komplement eine DP erscheint, während ansonsten D° als funktionaler Kopf im Deutschen wie im Bairischen ausnahmslos eine lexikalische Projektion wie die NP selegiert. Zum andern ergibt sich ein Problem mit dem Spezifikator und im speziellen mit dem pränominalen Dativ: Artikel lizensieren normalerweise keine Spec-Position, weil sie an diese keine Θ-Rolle und keinen Kasus vergeben können. Auch sind Artikel eigentlich unverträglich mit dem [POSSJ-Merkmal. Woher haben sie also in den Koordinationskonstruktionen diese Έΐζβηζ'? Oder kommen Θ-Rolle und Kasus doch vom Possessivum, obwohl dies strukturell bei Annahme (118) nicht möglich ist. Es besteht ja keine Rektionsbeziehimg. Alles in allem deutet alles darauf hin, daß (118) nicht die korrekte Struktur sein kann. Als Alternative bietet sich augenscheinlich nur an, die D°-Analyse der Possessiva aufzugeben, was allerdings angesichts der Tatsache schwerfällt, daß sie für 'normale' DPs mit pränominalen Dativen eine an und in sich stimmige Lösung ist, die den Daten gerecht wird. Von daher möchte ich für eine Analyse plädieren, bei der die Possessiva im zweiten Konjunkt kategoriell einen anderen Status haben, vergleichbar dem der sog. substantivierten Adjektive. Daß damit das Dativ-Problem weiter besteht, soll nicht geleugnet werden. Wie aus den Daten in (119a-f) ersichtlich wird, bestehen minimale, aber eindeutige morphologische Unterschiede in beiden Kontexten: dort, wo nämlich Langformen Verwendung finden, sind es nicht dieselben. (119a) (119b) (119c) (119d) (119e) (119f) (119g)

an Sepp seine Haisa an Sepp de sein an Buaman eara(ne) Speija an Buaman de earan i hob's an Sepp seina Frau gsogd i hob's an Sepp da sein aa gsogd i hob an Sepp seine Kinda troffa

84 (119h)

i hob an Sepp de sein troffa

Wenn das Possessivum auf den Artikel folgt, ist eine bestimmte Form erforderlich, die sich deutlich von deijenigen unterscheidet, die bei echten Possessivkonstniktionen (mit pränominalem Dativ) verwendet wird. In den Kookkurrenzfällen ist ja der Artikel als Kopf der Gesamt-DP Träger z.B. der Kasusmorphologie (cf. 119f,h), woraus sich die 'reduzierte' Form beim Possessivum erklärt. Die Possessiva flektieren hier schwach und müssen sich daher in der identischen Position befinden wie Adjektive, deren Flexionsverhalten (stark vs. schwach) ebenfalls vom D°-Element determiniert wird. Die Position des Adjektivs ist je nach Theorie entweder eine Modifikatorposition in der Komplement-NP (Olsen 1991) oder eine spezielle AGR-Position (z.B. Haider 1993). Deshalb ist das Verhältnis von seine/sein in (119a, b) wohl ganz analog zu werten wie zwischen roude/roudn in (120a, b). (120a) (120b)

roude Haisa de roudn (Haisa)

Ich bin mir bewußt, daß dies keine überzeugende Lösung ist, weil sie einige, bisher nicht erwähnte problematische Konsequenzen hat. Dennoch weiß ich im Augenblick keine bessere und überlasse die Problematik weiterer Forschung.

3.2. Einige weitere Phänomene Hingewiesen werden soll zum Abschluß noch auf weitere Erscheinungen im DP-Bereich wie der Artikelverdoppelung/-reduplikation (121a), artikellose DPs (121b), Split-Topicalization (121c; Riemsdijk 1989). Insbesondere letzteres Phänomen verdiente eine ausführlichere Behandlung, um z.B. den merkwürdigen Kontrast zwischen (121d) und (121e) erfassen zu können. Auch dies sei weiterer Forschung anheimgestellt. (121a) (121b) (121c) (121 d) (121 e)

a ganz a schena Dog Da Karl is Lehra Α Geid hob'e koans dabei Anstand hod'a koan khod *Buach hod'a koans glesn

Ebenso kann die Syntax der Präpositionalphrasen nicht mehr berücksichtigt werden, obwohl auch sie einige interessante Erscheinungen böte (etwa die Frage möglicher Postpositionen). Diese Phänomene verdienen alle eine ausführlichere Untersuchung als die eher kursorische Behandlung, die ihnen in dieser Arbeit aus Platzgründen zugestanden werden könnte.

III. Die Pronominalsyntax des Bairischen

1. Exposition

Die Syntax der Pronomina (im Bairischen und anderen Dialekten) ist einer der prominentesten Bereiche, in dem Vorurteile gegenüber dialektaler Syntaxforschung einfach und eindrucksvoll widerlegt werden können. Ein gängiges Vorurteil hat z.B folgendes Argumentationsmuster (cf. Löffler 1990: 124ff.): (1) die Annahme, dialektale Syntax unterscheide sich kaum von hochsprachlicher, sei nicht unbegründet, "echte" Unterschiede "liegen vermutlich nur im Wortbereich"; (2) der Unterschied lasse sich auf einen stilistischen reduzieren: grundsätzlich stünden im Dialekt die gleichen Satzstrukturen zur Verfügung, verschieden ist die "Häufigkeit der Benutzimg bestimmter Typen und Grundmuster"; (3) präziser lasse sich der Unterschied als der zwischen gesprochen und geschrieben benennen, womit sich Dialektbesonderheiten auf Spezifika gesprochener Sprache reduzieren lassen. Nach diesem Dreischritt ist die Dialektsyntax kein Gegenstand sui generis der Syntaxforschung, sie kann höchstens innerhalb der Erforschung gesprochener Sprache Interesse beanspruchen. Unter dieser Voraussetzung nimmt es auch nicht Wunder, daß die Syntaxforschung im Bereich der Dialekte noch in den Kinderschuhen steckt (man sehe Löffler 1990: 128 für bislang erarbeitete "Merkmale dialektaler Syntax"). Dabei beruhen die Annahmen (l)-(3) - neben anderem - zum einen auf falschen Prämissen, weil sie das Verhältnis von Mundart und Hochsprache nicht zutreffend erfassen, zum anderen sind sie partiell schlicht falsch. An der Pronominalsyntax läßt sich nun insbesondere zeigen, daß der Unterschied zwischen dialektaler und hochsprachlicher Syntax (1.) beträchtlich sein kann, (2.) sich nicht auf einen stilistischen reduzieren läßt, weil es sich um einen 'harten' syntaktischen handelt, und daß (3.) die Kennzeichnung dialektaler Eigenheiten als 'sprechspezifisch' nichts erklärt. Anhand der Pronominalsyntax des Bairischen, die repräsentativ für deutsche Dialekte ist, soll dies - als Ergänzung und Präzisierung zu den in Kapitel I bereits vorgebrachten Argumenten - exemplarisch demonstriert werden. Im Unterschied zur Hochsprache werden im Bairischen Subjekts- und Objektspronomina im Normalfall in ihrer klitischen Form verwendet. Satz (la) entspricht im Bairischen Satz(lb): (1 a) (lb)

daß er ihn getroffen hat daß'a'n troffa hod

86 Auf den ersten Blick könnte man Klitika für Allegroformen halten, was die oben angeführte Annahme (3) bestätigen würde. Untersuchungen wie Altmann (1984) haben diese Auffassung aber widerlegt. Unter der Annahme, daß Klitika nur sprechsprachtypische Verschiebungen seien, wäre zu erwarten, daß damit keine weiteren, v.a. syntaktischen Konsequenzen (Stellungsveränderung o.ä.) verbunden sind. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: In einem beliebigen deutschen Satz geht das indirekte dem direkten Objekt (2a) voraus; werden nun die Objekte pronominalisiert und klitisiert (2b), erscheint wiederum die Abfolge indirektes vor direktem Objekt; wird aber allein das direkte Objekt klitisiert (2c), ist eine obligatorische Inversion beider Objekte die Folge, während die unter obiger Annahme allein mögliche Abfolge indirektes vor direktem Objekt (2d) zu einem ungrammatischen Ergebnis im Bairischen führt. Auch der diskurssemantische Wert von (2b) und (2c) unterscheidet sich: so ist nur (2c) eine mögliche Antwort auf die Frage Wem hast du ihn gezeigt?, nicht jedoch (2b). (2a) (2b) (2c) (2d)

Ich habe dem Mann den Stuhl gezeigt I hob'da'n zoigt I hob"n dia zoigt *I hob dia'n zoigt

Empirisch ist die obige Voraussage widerlegt und somit nicht haltbar. Sie könnte auch die beobachtbare Stellungsalternation, die systematisch auftritt, nicht erklären. Eine Reduktion der Dialektsyntax allein auf sprechsprachliche Syntax scheint mir daher falsch und irreführend1 (wenn auch Dialekte gesprochene Sprachen par excellence sind, was sie für generative Grammatik als Forschungsgegenstand so interessant macht). Allein schon dieser Befund macht die in bestimmten Bereichen enorme Differenz zwischen mundartlicher und hochsprachlicher Syntax offensichtlich. Als weitere Evidenz, daß es sich um einen rein syntaktischen, jedoch sehr spezifischen und komplexen Bedingungen unterworfenen Mechanismus handelt, kann gelten, daß die Klitisierung - allgemein und losgelöst von jeder Theorie gesprochen - abhängig von der Kategorie Satz ist. Im Unterschied zu vollständigen Sätzen (3a,b) ist nämlich in elliptischen Ausdrücken nur die Vollform (3c), jedoch nicht die klitische Form (3d) grammatisch: (3a) (3b) (3c) (3d)

I mog di (= Ich mag dich) I mog'de I di a (= Ich dich auch) *I de a

Die Klitisierung ist somit eindeutig ein syntaktisches Phänomen, das in Kategorien wie Stil oder Sprechsprache nicht angemessen erklärt werden kann. Dies gilt im übrigen auch 1

Auch A. Weiss (1984: 117) spricht sich gegen "eine zu weitgehende Gleichsetzung von dialekalen syntaktischen Formen mit Syntax gesprochener Sprache oder auch nur mit Syntax informeler Gespräche" aus. Er belegt dies u.a. mit dem Artikelgebrauch vor Eigennamen, den Genitiversatzontruktionen oder der doppelten Negation, die ebenfalls keine Erklärung als sprechsprachspezifsch erlauben. Er folgert daraus zurecht, daß Dialektsyntax keineswegs restlos auf die Syntax gesprochener Sprache reduzierbar ist.

87

für die Artikelproklise: Die Distribution von *betonten' und 'unbetonten' dentalhaltigen Formen ist - s. Kapitel II Abschnitt 3.1. - allein (phrasen-) syntaktisch geregelt (cf. 4a vs. b) und sogar auch unabhängig vom phonologischen Kontext (cf. 4b vs. c). (4a) (4b) (4c)

Habts d'Aandn haind scho gseng Habts de kloana / *d*kloana Aandn haind scho gseng Hosd de oarma / 'd'oarma Kinda gseng

Auf eine zusammenfassende Darstellung der Forschungslage, wie sie sich z.B. in Nübling (1992) findet, wird aus Platzgründen verzichtet. Als grundlegend gelten u.v.a. Zwicky (1977), Klavans (1985), Borer (1986), Spencer (1991), Anderson (1992) sowie als Bibliographie Nevis et al. (1994).

2. Datenlage

Im Bairischen ist die Klitisierung ein syntaktischer Mechanismus, der wie in anderen Sprachen auch spezifischen Regeln unterworfen ist. Bevor die Syntax untersucht werden soll, zunächst das Repertoire der Personalpronomina (s. Tabelle) und ein kursorischer Überblick über die (syntaktische) Datenlage:2

ich du er sie es wir ihr sie

Nom. i du ea sie —

mia es se

e/a sd a s s ma (d)s s

Dat. mia dia earn iar (eam) uns enk ea

ma da — —

— — — —

Akk mi di eam sie —

uns enk si

me de (a)n (a)s (a)s —



s

Kommentar: 1. Nur in der 1. und 2.Pers.Sg. existieren klitische und Vollformen in allen Kasus; 2. -sd ist die klitische Form zu du, entstanden wie die gleichlautende Personalendung -sd für 2.Pers.Sg. durch eine "Fehlsegmentierung" (Altmann 1984: 200)3 2

3

Die Formen stimmen - was die Distribution, nicht die phonologische Form betrifft - mit den entprechenden Angaben bei Altmann (1984: 196f.), Kollmer Π, 388f.; Zehetner (1985: 125) und (mit Abstrichen) Merkle (1975: 122, 124) überein. Sie können somit für gesamtbairisch gelten, auch wenn zahlreiche regionale Unterschiede existieren dürften; s. dazu Schmeller (1821) und Werner (1988). Die Daten in Abraham/Wiegel (1993: 19) und Abraham (1995: 516) sind nicht korrekt: so wird kein Klitikum für 1 Ps.Sg.Akk angegeben, dagegen schon für den Dat der 3.Ps.Sg. mask. Falsche Segmentierungen sind offenbar ein universelles Phänomen (Werner 1988:133).

88

3.

4. 5.

6.

der Abfolge -s (alte Personalendung) -d (altes Klitikum) in Vl-/V2-Sätzen. Analog ist auch die im Hochdeutschen erhaltene neue Personalendung -st zu erklären (Pfalz 1918: 4); gleiches gilt für das Klitikum -ds (2.Pers.Pl.) (Pfalz 1918: 4); wie wir später sehen werden, kann damit die sog. COMP-Flexion (cf. Bayer 1984, Fanselow 1991: 21 lf., Harnisch 1989) neu analysiert werden; die Form 'ds verwendet Bayer (1984 u.ö.), ansonsten wird meistens als Klitikum der 2.P1. die Form 's bzw. eine Klammerform '(d)s in der Literatur angeführt (Altmann 1984, Zehetner 1985); bei der 3.Pers.Sg.mask. und fem. gibt es keine klitische Dativform, was interessante syntaktische Konsequenzen hat; einen Sonderfall stellt die 3.Pers.Sg.neutr. dar, für die im Nom und Akk keine Vollformen existieren (bei Bedarf wird das Demonstrativpronomen des als Ersatzform verwendet); im Dativ gibt es nur die Vollform earn, mit der nur auf belebte Neutra (z.B. das Kind, das Mädchen) referiert werden kann; im Plural ist das klitische System äußerst lückenhaft, lediglich der Nom. für 1., 2. und 3.Pers.Pl. sowie für letztere auch der Akk ist abgedeckt.

2.1. Serialisierung Die Serialisierung der Personalpronomen unterliegt bestimmten festen Gesetzmäßigkeiten. In einem Satz mit einem transitiven Verb (Bsp.: daß ich ihn sehe, usw.) erscheinen die klitischen Pronomina in der Reihenfolge Subjektsklitikum (SCL) vor Objektsklitikum (OCL), also Nom vor Akk4 (5a-g): (5a) (5b) (5c) (5d) (5e) (5f) (5g)

das'e'n seg das'sd'n segsd das'a'n segd das's'n segd das'ma'n sengd das'ds'n segds das's'n sengd

In einem Satz mit einem intransitiven Verb (Bsp: daß er mir gefällt usw.) zeigt sich ebenfalls die Abfolge SCL - OCL, bzw. bei nichtklitisieibarem earn oder iar SCL vor indirektem Objekt (10), diesmal also Nom vor Dat (6a-d): (6a) (6b) (6c) 4

das'a'ma gfoid das'a'da gfoid das'a earn gfoid

Für dieses Kapitel gilt im folgenden als Abküizungskonvention: Nom, Akk, Dat meinen Pronomen im Nominativ, Akkusativ, Dativ, NOM, AKK, DAT dagegen nicht-pronominale DPs (NPs) in den entsprechenden Kasus. Die Beispielsätze sind zumeist Nebensätze, weil sie die Grundstruktur mit V/End-Stellung aufweisen. Die Angaben über die Serialisierung gelten aber auch bei Hauptsätzen mit V/2-Stellung.

89 (6d)

das'a iar gfoid

Weist nun ein Satz neben dem Subjekt direktes und indirektes Objekt in klitischer (DOCL und IOCL) oder nichtklitischer Form auf (Bsp.: daß er ihn ihm gab usw.), wird die Sache komplizierter, so daß eine pauschale Charakterisierung nicht mehr ausreicht. Der entscheidende Faktor für die Serialisiemng ist die Form des Dativpronomens. Betrachten wir zunächst, als einfacheren Fall, die 3.Pers.Sg.mask. und fem.: hier existieren nur Vollformen (earn bzw. iar), so daß sich dann die Reihenfolge SCL - DOCL - 10 ergibt (7a,b); Klitisierung an das ΙΟ-Pronomen, um die für 'normale' DPs gültige Abfolge IO-DO zu erhalten, ist nicht möglich (7c,d):5 (7a) (7b) (7c) (7d)

das'a'n earn geem hod das'a'n iar geem hod *das'a eam'an geem hod *das'a iar'an geem hod

Im Gegensatz dazu gibt es bei der 1. und 2.Pers.Sg. neben den Vollformen mia und dia bei deren Vorkommen ist die Anordnung analog zu (7a,b) - auch die klitischen Formen ma und da. Hier ist die Serialisierung SCL - IOCL - DOCL die Normalabfolge (8a,b), ebenso in V/2-Sätzen (8c,d), während die inverse Abfolge DOCL-IOCL zu ungrammatischen Ergebnissen führt (9a-d): (8a) (8b) (8c) (8d)

das'a'ma'n geem hod das'a'da'n geem hod ea hod'ma'n geem ea hod'da'n geem

(9a) (9b) (9c) (9d)

•das'a'n'ma geem hod *das'a'n'da geem hod *ea hodWma geem *ea hod'n'da geem

Während bei V/Endstellung eine Tendenz besteht, auch eine DOCL-IOCL-Abfolge als markierte akzeptabel zu finden, zeigt sich bei den V/2-Sätzen, daß allein die Abfolge IOCL vor DOCL als unmarkierte grammatisch und die umgekehrte Anordnung in Hauptsätzen nicht möglich ist. Ich persönlich halte auch (9a,b) für nicht akzeptabel, im Gegensatz zu einigen meiner Informanten. Die Bewertung von (9c,d) ist dagegen fast einheitlich negativ und daher aussagekräftiger. Was letztlich die schwankenden Bewertungen bei (9a,b) bewirkt, vermag ich nicht zu sagen (ich vermute artikulatorisch-phonetische Faktoren). Auf jeden Fall ist es so, daß auch für diejenigen, die DOCL > IOCL akzeptabel finden, diese eine äußerst markierte Abfolge ist.

s

Allein das Klitikum s bildet hiervon eine Ausnahme, s.u.

90 2.2. Bewertung der Daten Bei zwei Objekten im Satz gibt es also zwei mögliche Normalabfolgen, die aus der Form des Dativpronomens resultieren: Ist es - wie eam und iar - nicht klitisierbar, kommt es zu einer Inversion der bei sonstigen DPs/NPs gültigen Abfolge DAT - AKK, die bei Klitisierbarkeit des Dativpronomens natürlich unterbleibt. Dann bleibt die auch fur definite wie indefinite Nominalphrasen gültige Reihenfolge Subjekt - Dativobjekt6 - Akkusativobjekt erhalten (vgl. auch Altmann 1984: 205). Als vorläufiges Fazit aus der Datenlage können zwei Abfolge-Parameter formuliert werden: (A) (B)

NOM (Nom) - DAT (Dat) - AKK (Akk) Nom-Akk-Dat 7

Parameter (A) ist die Regel bzw. der Defaultwert, (B) die Ausnahme oder Spezialregel, die immer dann in Anwendung kommt, wenn das Dativpronomen nicht klitisierbar ist. Gezeigt wurde dies am Beispiel der 3.Pers.Sg.mask. und fem., sie tritt aber auch im PI. auf, da hier im Dativ fur alle drei Personen ebenfalls klitische Formen fehlen. Die Spezialregel (B) ist im Bairischen - im Gegensatz zum Hochdeutschen - morphologisch getriggert. Offenbar gelten die angegebenen Abfolgebeziehungen nicht nur im Bairischen. Nach Nübling (1992: 275) finden sich im Alemannischen (hier: Berndeutschen) ganz analoge Verhältnisse: "In solchen enklitischen Ketten herrscht die Kasusabfolge NOM. - DAT. AKK.". Das Bairische zeigt also keine Besonderheit, sondern nur die zumindest für das Oberdeutsche gültigen Gesetzmäßigkeiten fur die Abfolge pronominaler (sowie nominaler) Argumente. Ausnahmen von dieser Normalabfolge finden sich nur sehr begrenzt. Zum einen ist es allein das akkusativische 's (3. P.Sg.fem./neutr., 3.Pers.Pl.), das systematische Abweichungen zeigt (s. Abschnitt 4.2.1.). Daneben gibt es vereinzelte Fälle wie (10a), in denen die Dat-Akk-Inversion anscheinend extern durch das Pronomen selber erzwungen wird, das als Apposition (cf. Duden § 691) Adjazenz zum Bezugswort verlangt. Eine gewisse Evidenz dafür ist, daß ohne dieses Pronomen die Akk-Dat-Abfolge nicht akzeptabel ist (cf. 10b). Man könnte, um eine Überschreibung obiger Regel (A) zu umgehen, auch annehmen, daß mia selber eine lexikalische Einheit darstellt, bei der das erste Element phonologisch klitisierbar ist (zur Unterscheidung phonologische vs. syntaktische Klitisierung s. Abschnitt 4.2.1.), so daß also im Grunde keine Inversion vorliegt. (10a) (1 Ob)

6

7

do han'eWma selber gschengd *do han'eWma gschengd

Dabei scheinen sich freie Dative genauso zu verhalten wie valenzgeforderte IOs: (i) wia weid das'a'ma'n schlogd (Bsp. aus Altmann 1984: 204) Die beiden Parameter sind kasusbezogen formuliert, da dieses Format für unsere Zwecke vorerst genügt. Später wird sich zeigen, daß es nötig ist, sie auf fundamentalere Gegebenheiten wie synakische Funktionen (S-O) und morpholgisches Gewicht zurückzuführen.

91 An dieser Stelle sei der Hinweis erlaubt, daß in dieser Arbeit Subjekts- und Objektsklitika nicht getrennt behandelt werden, wie dies bei Haegeman (1991, 1992, 1993) für das Westflämische oder bei Bayer (1983-84) für das Bairische geschieht. Ausschlaggebend dafür sind für mich v.a. zwei Gründe. Einmal ist die Landeposition für beide identisch, nämlich die sog. Wackernagel-Position, zu der im Verlauf der Arbeit noch genaueres zu sagen sein wird.8 Es handelt sich dabei um die Position, die unmittelbar auf die V/2- (in Hauptsätzen) bzw. Komplementiererposition (in Nebensätzen) folgt. Daß sie auch Landeposition für OCLs ist, zeigt sich schon daran, daß OCLs bei nichtpronominalen Subjekten vor diesen und nicht etwa in einer eigenen Position erscheinen, selbst dann, wenn das Subjekt außerhalb bzw. am Rande des Mittelfeldes auftritt wie in (IIa), wo die Mittelfeldgrenze durch eine Partikel (hier: fei) markiert wird. Zweitens bilden SCLs und OCLs in dieser Position feste Cluster, d.h. nicht aufspaltbare Einheiten mit einer streng geregelten Anordnung. Daß die Reihenfolge nicht geändert werden kann, haben die bereits angeführten Daten erwiesen. Sie können aber auch nicht aufgespalten werden, d.h. es ist nicht möglich, lexikalisches Material (z.B. ein Adverb) dazwischen zu positionieren, wie (IIb, c) zeigen. Selbst bei denn, das im Bairischen ja über eine klitische Form, nämlich (a)n, verfügt, fuhrt es zu keinem grammatischen Ergebnis (1 ld,e). (IIa) (lib) (11c) (11 d) (lie)

das'me d'Maria fei gschlonghod hod's'da's scho geem •hod's'da scho's geem9 hod's'da'an s'Geid scho geem *hod's'da'n's scho geem

3. Daten aus anderen deutschen Dialekten

Man könnte nun annehmen, daß die Klitisierung spezifisch für das Bairische oder wenigstens doch für süd- bzw. oberdeutsche Dialekte sei. Dem ist aber nicht so. Es scheint im Gegenteil sogar so zu sein, daß Klitisierung in allen deutschen Dialekten stattfindet. Dies läßt sich zwar nur mit Vorbehalt behaupten, da entsprechende syntaktische Untersuchungen bislang weitgehend fehlen.10 Es gibt allerdings starke Indizien für diese Annahme, die sich aus Darstellungen dialektaler Pronominalsysteme mit allgemein phonologisch-morphologischer Ausrichtung entnehmen lassen. In diesen findet sich häufig die Unterscheidung von "betonten1 und 'unbetonten' Pronominalformen, wobei mit letzteren - ob8 9

10

Ich vertrete damit explizit eine Gegenposition zu Abraham (199S: 524) u.a. Die Begründung hierfür folgt an späterer Stelle. Diese Lautkette ergibt bei anderer Segmentierung (incl. entsprechender Intonation) den grammatischen Satz (i), der allerdings ein anderer ist (cf. die hd. Obersetzung in ii): (i) hod's da Schoos geem (ii) hat es der Georg gegeben Zu den bislang vorliegenden s. Abschnitt '5. Erklärungen für Klitisierung'.

92

wohl von den jeweiligen Autoren nicht explizit gemacht - die klitischen Formen gemeint sein müssen, wie sich aus der Gebrauchsweise des Terminus 'unbetont' in der Darstellung der bairischen Pronomina (z.B. bei Zehetner 1985) extrapolieren läßt. Im folgenden soll anhand von Beispielen die allgemeine Verbreitung der Klitisierung im Deutschen gezeigt werden. Die Auswahl erfolgte nach dem Grundsatz, daß die Dialekträume West-, Ostniederdeutsch, West-, Ostmitteldeutsch sowie Westoberdeutsch durch je ein Beispiel vertreten sein sollen, damit ein repräsentatives Bild entsteht. Die Daten sind dem Sammelband von Russ (1990) über die deutschen Dialekte entnommen, wo leider so gut wie keine syntaktischen Angaben gemacht werden, so daß zumeist nur das Forminventar wiedergegeben werden kann. Die Daten zum Schweizerdeutschen, die aus Nübling (1992: 252, 261, 266) stammen, wurden deswegen aufgenommen, weil dort auch ausführliche Angaben zur Syntax vorkommen, so daß die Vergleichsbasis größer ist. Nordfriesisch (Westniederdeutsch) (Russ 1990: 17f.)

ich du er sie es wir ihr sie

Nom ik dü hi iü hat/dät/et we jam ja

— —

r s et/t —

m s

Dat/Akk me de ham har ham/d&t/et fls jam jam

— —

η s et/t —

m s

Die 'unbetonten' Formen "[are] used following a verb, conjunction or advert)" (Russ 1990: 17), sind somit genau wie im Bairischen beschränkt auf die sog. Wackernagel-Position (s. u.), die auf das finite Verb in V/1- oder V/2-Sätzen bzw. die Konjunktion in V/End-Sätzen folgt (cf. 12a,b): (12a) (12b)

WaTr kaame? (Will er kommen) ik wiitj ai, weer's booget (Ich weiß nicht, wo sie lebt)

Die (scheinbare) Weglaßbarkeit von dü (2. Pers.Sg.) in Sätzen wie wäät ma? (= Willst du mif!) (cf. Russ 1990: 17) deutet zudem darauf hin, daß auch hier analog zum Bairischen (cf. Abschnitt 4.6.) von einer Klitisierung eines morphologisch nicht mehr als distinkt erkennbaren Klitikums ausgegangen werden kann. Berlinisch" (Ostniederdeutsch) (Russ 1990: 123)

ich du 11

Nom ik du

k de

Dat/Akk mia/mich/... dia/dich

Das Berlinische gilt als 'Semi-' oder Halbdialekf (cf. Russ 1990: 116-119).

ma da

93 ea sie et wia ia sie

er sie es wir ihr sie

e se es wa a se

ihn/ihm se/sie/ia et/es/ihm/ihn uns euch/eusch se/sie/ihn

n/m — — — —

se

Luxemburgisch12 (Westmitteldeutsch) (Russ 1990: 193)

ich du er sie es wir ihr sie

Nom ech du hien si hatt mir dir si

— —

hen/en se et mer der se

Dat mir dir him hirer him ons iech hinen

mer der em er em — —

en

Akk mech dech hien si hatt ons iech si

— —

hen/en se et — —

se

Thüringisch (Ostmitteldeutsch) (Russ 1990: 281)

ich du er sie es wir ihr sie

Nom ες doi ha: sei es mei dei sei

?

de ha/a se s me de se

Dat mei dei e:n/en e:r e:n/en ons ox en

η

Akk ηιβς de? en se es ons ox se

mer ter em re em ni ni ne

Akk mix tix i:ne si: ins uns eisch si:

me de η ar η — —

— —

η —

s — — —

Elsäßisch13 (Westoberdeutsch) (Russ 1990: 323)

ich du er sie es wir ihr sie

Nom ix tv: a:r si: as mi:r i:r si:

i te er si s mer er si

Dat mi:r ti:r im i:re im uns eisch i:ne

mi ti ne si s ni ni si

Diese Daten belegen, daß 'unbetonte* Pronominalformen und damit Klitisierung vermutlich in allen deutschen Dialekten zu finden sind, wenn auch sicherlich in unterschied12 13

Auf die Wiedergabe der Genitivformen wurde verzichtet. Das Elsäßische gehört zum Alemannischen, die angegebenen Formen stammen aus Colmar.

94 licher Ausprägung. Es lassen sich daraus zwar keine klaren Aussagen über die Syntax machen, wie die knappen Angaben beim Friesischen aber zeigen, steht zu vermuten, daß in allen Dialekten ähnliche oder partiell sogar identische Verhältnisse wie im Bairischen vorliegen. Dies läßt sich eindeutig am Schweizerdeutschen zeigen. Schweizerdeutsch (Nübling 1992: 252, 261, 266)

ich du er sie es wir ihr sie

Nom ig/i: du: ä:r seie/si: ä:s mi:r di:r seie

i t er si/se (e)s mer der si/se

Dat mi:r di:r im i:re im ü:s öich i:ne

mer der em (e)re em is/nis (n)ech ne

Akk mi: di: i:n seie/si: ins ü:s öich seie

mi di ne se s is/nis (n)ech se

Die Pronominalsyntax des Schweizerdeutschen zeigt fast vollständige Übereinstimmung mit der des Bairischen. So treten Klitika rechts an das finite Verb in V/2-Sätzen bzw. an die Konjunktion in V/End-Sätzen, sie bilden - wie bereits erwähnt - Cluster mit der festen Reihenfolge Nom-Dat-Akk und OCLs nehmen selbst dann die unmittelbar auf das finite Verb bzw. auf die Konjunktion folgende Position ein, wenn das Subjekt nicht-klitisch ist (cf. Nübling 1992: 275-283). Ähnlich wie im Bairischen14 sind die klitischen Formen die dominanten und werden weitaus häufiger verwendet als die Vollformen: im Nom etwa zu 80-90% (Nübling 1992: 277) und bei Objektspronomina werden im Korpus von Nübling (1992: 279) gar nur 2,5% nicht-klitisch gebraucht (d.h. 20 von insgesamt 801). Im Gegensatz zum Bairischen scheinen die schweizerdeutschen Dialekte das klitische System im pronominalen Bereich voll ausgebaut zu haben, da sie für alle Personen in den drei Kasus und in beiden Numeri klitische Formen aufweisen. Im Vergleich dazu ist das bairische System eher lückenhaft, jedoch so weit vollständig, daß die syntaktischen Besonderheiten klitischer Personalpronomen deutlich zutage treten. Dadurch daß nicht alle Personen klitische Formen aufweisen, dürfte das Vorkommen von Vollformen entsprechend höher sein als im Schweizerdeutschen. Nachdem bislang lediglich die Oberfläche (Formeninventar und Serialisierung) dargestellt wurde, sollen nun im folgenden strukturelle Zusammenhänge und feinere Details analysiert werden, um der 'Natur' der Klitisierung weiter auf die Spur zu kommen.

14

Kollmer 1,389: "Die persönlichen Fürwörter werden im Satz meist in der unbetonten Form gebraucht".

95 4. Syntaktische Analyse

4.1. Die Wackernagel-Position und die Struktur des Mittelfeldes Als Struktur des deutschen Mittelfeldes (MF) schlägt Haider (1993: 176-179) im Anschluß an Werner Frey folgende Schalenstruktur vor: (13)

[ W P f V P . · ^ . . . [Ρ[VP... β;... V]]]]

Den Nukleus (innerste Schale) bildet die vom jeweiligen Verb vorgegebene A-Struktur, d.h. die Positionen für die Argumente des Veibs (inkl. Subjekt), wobei die Serialisierung nicht festgelegt zu werden braucht. Die Scramblingpositionen, abgetrennt von der eigentlichen VP durch die Position Ρ für die Abtönungspartikel (wie denn, etwa, wohl oder ja), bilden als Erweiterung der VP eine Adjunktionsschale, deren Elemente mit einer Leerstelle "mit Projektiorislizenz" in der inneren VP verbunden sind. Die äußerste Schale stellt die sog. Wackernagel-Position (WP) dar, die als Landeposition für Pronomina fungiert. Der Status dieser Wackernagel-Position ist theoretisch noch ungeklärt, aber es scheint auf den ersten Blick vieles dafür zu sprechen, sie - wie Haider es macht - allein für die Pronomina zu reservieren und die ebenfalls unbetonten Partikeln strukturell getrennt zu lokalisieren. Weiter unten werden wir aber nach Analyse der bairischen Daten eine andere Strukturierung vorschlagen. Deskriptiv läßt sich die Wackemagel-Position als diejenige bestimmen, die unmittelbar auf die Position der Konjunktion oder des Relativpronomens (in V/EndSätzen) bzw. des finiten Verbs (in V/1- und V/2-Sätzen) folgt, wie in (14) dargestellt (wobei auf die genauere Beschreibung der einzelnen Knoten an dieser Stelle verzichtet wird, FP bedeutet Funktionale Projektion):15 (14)

FP

?

WP

VP

XP

VP

Ρ >s

VP

Der Einfachheit halber übernehme ich an dieser Stelle unkommentiert Haiders Struktur mit den beiden 'satzbildenden' Projektionen FP und VP, obwohl sie, wie an anderer Stelle deutlich wird (s. Kapitel Π Abschnitt 1), nicht die einzige Möglichkeit ist, den deutschen Satz zu strukturieren.

96 Diese Schalenstruktur für das Standarddeutsche läßt sich mit einigen geringen, im Detail aber nicht unerheblichen Modifikationen auch auf das Bairische übertragen. Es muß v.a. die Wackernagel-Position anders konzipiert werden: Im Bairischen handelt es sich eindeutig um die Landestelle erstens für pronominale Klitika sowie zweitens für klitische Modalpartikeln. Im Bairischen ist die Wackernagel-Position also allein klitischen Elementen vorbehalten, nicht jedoch 'unbetonten' Pronomina, wie dies in Haiders Konzeption für das Hochdeutsche vorgesehen ist. Ad 1: Anders als im Standarddeutschen (cf. Lenerz 1993a, b) erscheinen im Bairischen Subjekts- und Objektspronomen im Normalfall in ihrer klitischen Form, der Gebrauch der volltonigen Form involviert - außer bei Subjektspronomina in V/2-Sätzen und anderen Ausnahmen, von denen unten noch die Rede ist - Fokussierung bzw. eine sonstige Markierung: (1 Sa) (15b)

das'a'n gschlong hod das ea earn gschlong hod

Satz (15b) ist markiert, obwohl die Abfolge der Pronomina exakt der in (15a) entspricht; somit ist die Markiertheit einzig das Resultat der Verwendung von Vollformen. Klitika können nur in der Wackernagel-Position erscheinen:16 Sie folgen - oberflächenstrukturell gesehen - in V/End-Sätzen unmittelbar auf die Position der Konjunktion (16a), des Relativpronomens (16b) und des wh-Worts (16c) bzw. in V/1- oder V/2-Sätzen auf die des finiten Verbs (16d-f). Sie sind weder an einer anderen Position im Satz, also Vorfeld (16g) oder Mittelfeld (16h), noch z.B. innerhalb einer PP (16i) lizensiert:17 (16a) (16b) (16c) (16d) (16e) (16f) (16g) (16h) (16i)

i hoff, das'e'n seg den Mo, den wo'e/den'e troffa hob i woas ned, wen'e troffa hob i seg'n ned seng dua'e'n ned Hob'n scho gseng Eam/*n hob'e gseng I hob gestern eam/*n gseng I hob aaf eam/*n (aaf sie/*s) aafbasd

Die Restriktion auf eine einzige Position im Satz ist eine starke Evidenz dafür, daß die Klitisierung im Bairischen ein irgendwie syntaktischer Mechanismus ist, der nicht allein mit der Spezifik einer Sprechsprache erklärt werden kann. Denn so wäre eher zu erwarten,

16

17

Die vereinzelten Fälle, in denen an Inteijektionen klitisiert werden kann, vgl. (i) gelts 'nicht wahr, Du' (ii) gel'ns 'nicht wahr, Sie' (Werner 1988: 135) lassen sich vielleicht dadurch erklären, daß hier die Inteijektion in Ce (bzw. F e ) steht, daß also, weniger formal gesprochen, ein vollständiger Satz vorliegt. Merkwürdig ist, wie Werner schon bemerkt, daß die 2.Pers.Sg. fehlt, obwohl es für die 2.Pers.Pl. möglich ist. Damit ist auszuschließen, daß hier eine Restriktion bezüglich des Personenmerkmals vorliegt. Klitisierung nach einer Präposition ist lt. Nübling (1992: 275) im Schweizerdeutschen möglich.

97 daß eine phonologische Reduzierung unabhängig von der syntaktischen Position des zu reduzierenden Elementes möglich ist. Ad 2: Klitische Modalpartikeln wie (a)n/(e)n (denn) und ο (Ja) folgen unmittelbar auf die Pronominalklitika, gehen aber den pronominalen Vollformen voraus. (17a) (17b)

Hod'a'(a)n des gwisd Hod'(a)n ea des gwisd

Die Wackernagel-Position ist im Bairischen also zweigeteilt: Sie ist (1) die Landeposition für die Pronominalklitika und (2) für die klitischen Modalpartikeln. Auf die Wackernagel-Position folgt die Partikelposition, in der nicht-klitische Modalpartikel generiert werden. Die systematische Position nicht-klitisierter Pronomina ist nach der Partikelposition anzusiedeln, wie folgende Daten nahelegen: (18a) (18b) (18c) (18d) (18e) (18f)

HodVn ebba eam/EAM geem Hod's"n EAM ebba geem Ea hod'n fei eam/EAM geem Ea hod'n EAM fei geem das'a'n hoid eam/EAM geem hod das'a'n EAM hoid geem hod

Earn als nicht-klitisierbares Dativ-Pronomen wird, wenn es Modalpartikeln wie ebba, fei oder hoid vorausgeht, vorrangig als fokussiert interpretiert; folgt es einer Partikel nach, ist Fokussierung nicht obligatorisch, aber qua Betonung durchaus möglich. Diese Fokusverteilung ist zumindest eine schwache empirische Evidenz dafür, daß letzteres die unmarkierte Position sein muß. Aus dieser Strukturierung erklärt sich auch, daß ein (durchaus nicht marginaler) Satz wie (19a) mit homophoner Modalpartikel und Indefinitpronomen im Bairischen eindeutig als (19b) zu interpretieren ist, während die Interpretation (19c) ausgeschlossen ist (bzw. nur über eine sehr markierte Betonung hergestellt werden kann): 18 (19a) (19b) (19c)

Hod ebba ebba ebs gseng Hat denn jemand etwas gesehen "Hat jemand denn etwas gesehen

Im Standarddeutschen verhält es sich nun gerade umgekehrt, wie (20) vs. (21) zeigt:

18

Bei Zehetner (1985: 13lf.) findet sich ein ahnlicher Beispielsatz mit einer unsere These stutzenden Verhochdeutschung, hier als (i) und (ii) wiedergegeben: (i) Hod-da ebba gor ebba ebbas do? (ii) Hat dir vielleicht jemand etwas getan? Auch bei Kollmer 11,401 f. ist ein analoger Satz mit einer Übersetzung angegeben, die die von uns angenommene Serialisierung bestätigt, vgl. (iii) und (iv): (iii) Hod dar Spar äpar äps da? (iv) Hat dir etwa jemand etwas getan?

98 (20a) (20b)

Hod Sie ebba earn koiffa Hod Sie EAM ebba koiffa

(21 a) (21b)

Hat sie ihm etwa geholfen Hat sie etwa IHM geholfen

Im Standarddeutschen bleiben Pronomina nur dann in ihrer Grundposition, wenn sie fokussiert sind (cf. Haider 1993: 178f.). Der Fokusunterschied resultiert somit allein aus der unterschiedlichen Stellung des Pronomens relativ zur Partikel (also VP-intern vs. VP-extern). Im Bairischen sind die Verhältnisse in zweierlei Hinsicht anders: erstens ist die Fokusverteilung konträr, da das Pronomen vor der Partikel (also VP-extern) fokussierter zu sein scheint als VP-intern; zweitens - und hierauf kommt es mir v.a. an - ist der mögliche Fokusunterschied sehr viel mehr eine Sache der Betonung, nicht der Stellung. Man erkennt dies klar, wenn man hochdeutschen Beispielen (22a,b) entsprechende bairische (23a,b) gegenüberstellt, in denen die Vollform eines Pronomens, zu dem es auch eine klitische Variante gibt, gebraucht wird: (22a) (22b)

Hat sie ihn etwa gesehen Hat sie etwa IHN/*ihn gesehen

(23a) (23b) (23c) (23d)

Hod's ebba eam/EAM gseng Hod's eam/EAM ebba gseng Hod's ebba eam/EAM ghoifa Hod's eam/EAM ebba ghoifa

Da die Vollform earn alleine schon Markiertheit anzeigt, ist eine unterschiedliche Fokusverteilung in (23a) und (23b) nur durch zusätzliche Betonung zu erreichen, nicht aber lediglich durch die Stellung relativ zur Partikel. Etwas anders verhält es sich natürlich beim Dativ: Da hier keine klitische Form existiert, ist die Vollform alleine kein Indikator von Markiertheit. Zu beobachten ist aber auch hier wieder, daß durch entsprechende Betonung in beiden Positionen Fokussierung des Pronomens möglich ist. Wichtig ist v.a., daß im Bairischen kein ähnlich krasser Kontrast, wie er sich im Hochdeutschen bei (22a) vs. (22b) zeigt, allein durch Stellungsalternation erzielen läßt. Das scheint mir ein eindeutiger Befund zu sein. Wenn die Annahme für das Standarddeutsche zutreffend ist, beinhaltet sie ein merkwürdiges Phänomen: obligatorische Bewegung zu dem Zweck, Fokus zu entgehen. Was immer im Hochdeutschen diese Bewegung erzwingen mag, auffallend ist, daß sie im Bairischen nicht anzunehmen ist. Es gibt nur eine 'syntaktisch-phonologisch' geregelte Klitisierung, die zur unmarkierten Serialisierung der pronominalen Elemente fuhrt. Das Verbleiben in der Position rechts von den Partikeln hat jedoch nicht wie im Hochdeutschen systematisch und zwangsläufig Fokussierung zur Folge. Und dies ist ein wichtiger Unterschied, dessen Erklärung noch aussteht. Der hier ermittelte Befund, der empirisch eindeutig ist, ist theoretisch nicht ganz unproblematisch, da auch im Bairischen, wie wir später sehen werden, davon auszugehen ist, daß Pronomen als thematische Ausdrücke auch als Vollformen nicht in ihrer VP-internen Basisposition verbleiben dürfen.

99

Das Fehlen klitischer Pronomina und Modalpartikeln hat im Standarddeutschen offensichtlich zu einer gewissen Reduzierung bzw. Vereinfachung der MF-Struktur geführt: Die Wackernagel-Position ist im Hochdeutschen die obligatorische Landeposition für die (unbetonten) Vollformen der Pronomina, die Modalpartikeln sind systematisch nach ihnen zu lokalisieren. Im Bairischen folgt auf die Wackernagel-Position, die den Klitika vorbehalten ist, die Partikel-Position, der die unmarkierte Position der volltonigen Pronomina nachgeordnet ist. Die Verhältnisse im Bairischen und im Standarddeutschen unterscheiden sich somit in diesem Phänomenbereich nicht unerheblich.19 Erwähnt sei noch, daß im Bairischen klitische und Vollpartikel nicht, wie es die bis jetzt angeführten Daten oder auch die Sätze (24a-b) nahelegen könnten, dieselbe Position einnehmen. (24c) zeigt, daß zwei (oder mehrere) Partikeln - semantische Kompatibilität vorausgesetzt - zugleich und, oberflächenstrukturell gesprochen, adjazent vorkommen können. Aus (24d) erhellt jedoch eindeutig, daß zwischen Klitik- und Vollpartikel eine zusätzliche Position anzunehmen ist (zu ihrer genaueren Bestimmung s.u.). (24a) (24b) (24c) (24d)

Hod'an ea den Film aa oogschaut Hod ebba ea den Film aa oogschaut Hod'an ebba ea den Film aa oogschaut Hod'an ea ebba den Film aa oogschaut

Für den linken Rand des Mittelfeldes ist im Bairischen folgende, gegenüber dem Standarddeutschen komplexere Struktur anzusetzen, wobei WP1 die Klitikposition für Pronomina, WP2 diejenige für Modalpartikel meint, Ρ und Pron sind die Positionen für Partikel bzw. Vollpronomina: (25)

[WP1 [WP2 [P [Pron [...

Nach den Pronomen- und Partikelschalen folgt die Position für Adverbiale, wie man anhand entsprechender Betonungstests eruieren kann: (26a) (26b) (26c)

Hod's'n eam/EAM gestern (scho) geem Hod's'n gestern * eam/EAM geem ??Hod's'n GESTERN earn geem

Bei Abfolge Pronomen - Adverb gibt es zwei Betonungsmöglichkeiten beim Pronomen, bei umgekehrter Anordnung jedoch nur eine, was auf eine abgeleitete Positionierung des Advetbs deutet. Solche spezifischen Betonungsdifferenzen kann man bei nicht-pronominalen Objekten nicht beobachten, da hier das Adveibiale gestern auch in einer Position vor allen Objekten betonbar ist, vgl. (27a) (27b) 19

Hod's GESTERN den Bua am Peter geem Hod's den Bua GESTERN am Peter geem

Thurmairs (1988: 5) Feststellung, daß "dialektale Erscheinungen (Verschleifungen u.ä.) bei der Untersuchung der Modalpartikel kaum eine Rolle spielen", kann anhand des Bairischen also nicht bestätigt werden.

100 (27c)

Hod's den Bua am Peter GESTERN geem

Abgesehen davon, daß jede der Serialisierungen in (27a-c) auch mit einer Normalbetonung einhergeht, läßt sich doch feststellen, daß das Adverbiale in allen möglichen Positionen prinzipiell betonbar ist. Wichtig ist in unserem Zusammenhang, daß selbst bei Vollformen der Pronomina diese Möglichkeit (nahezu) ausgeschlossen ist. Bislang war nur von pronominalen Argumenten und Partikeln die Rede. Wenn man das syntaktische Verhalten nicht-pronominaler Elemente analysiert, kommt man zu einer Modifizierung der Struktur (25). Betrachten wir zunächst die folgenden Beispiele, in denen jeweils die Normalbetonung angegeben ist: (28a) (28b) (28c)

Hod ebba eam des Büechl gfoin Hod EAM ebba des Büechl gfoin Hod des BÜECHL ebba eam gfoin

(29a) (29b) (29c)

Hod ebba am Sepp des Büechl gfoin Hod am SEPP ebba des Büechl gfoin Hod des BÜECHL ebba am Sepp gfoin

(30a) (30b) (30c) (30d) (30e) (30f) (30g)

Hod ebba eam d*Maria des Büechl geem Hod EAM ebba d"Maria des Büechl geem Hod dMARIA ebba eam des Büechl geem Hod des BÜECHL ebba d"Maria eam geem Hod eam dMaria des Büechl ebba GEEM Hod dMaria eam des Büechl ebba GEEM Hod dMaria des Büechl eam ebba GEEM

(28) und (29) zeigen, daß sich NPs (bzw. DPs) und volltonige Pronomina relativ zu Modalpartikeln im Bairischen gleich verhalten. Aus (30) geht hervor, daß die Scrambling-Position, die vor den Partikeln lokalisiert ist und normalerweise Fokussierung involviert, die Landeposition für NPs (DPs) und Pronomina ist. Somit muß für das Bairische die modifizierte Struktur (25') angenommen werden: (25')

[WP1 [WP2 [VP ... XP ; ... [P [VP ... e ( ... V]]]]]

Der Unterschied zum Standarddeutschen liegt - neben der doppelten WackernagelPosition - auch in der Scramblingposition: Im Bairischen ist sie auch für volltonige Personalpronomina die Landeposition, nicht nur für nominale Argumente. Die innerste Schale, die als der VP-interne Bereich die Basispositionen für die Veibargumente (nominale wie pronominale) enthält, unterscheidet sich in beiden Idiomen nicht. Man könnte nun die Hypothese aufstellen, daß dies auch im Standarddeutschen der Fall ist und es also eigentlich keine Wackernagel-Position im Hochdeutschen gibt. Da DPs und Pronomina vor die Partikeln bewegt werden, gibt es ja auch keine strukturelle Evidenz dafür, Scrambling und Pronomenbewegung zu trennen, wie dies in der von Haider vorgeschlagenen Struktur der Fall ist. Die Obligatorik der Pronomenbewegung zum Zweck, Fokus zu entgehen (s.o.), ist auf jeden Fall ein merkwürdiges Phänomen, das aber empi-

101 risch nicht zu widerlegen ist, wie z.B. die in Haider (1993: 178f.) präsentierten Daten zeigen. In Abschnitt 5.4. dieses Kapitels werde ich versuchen, eine Lösung des Problems, die auch für die Klitisierung eine notwendige Voraussetzung darstellt, aus der Diskursrepräsentationstheorie und der Parsing-Theorie Hawkins abzuleiten.

4.2. Einzelne Besonderheiten In den folgenden Abschnitten wird zunächst das spezielle Verhalten der beiden Klitika 's (es) und 'ma (man) sowie der Höflichkeitsformen dargestellt. Im Anschluß daran sollen Besonderheiten, welche die Klitisierung insgesamt betreffen, analysiert werden.

4.2.1. es Die Besonderheit des Pronomens der 3.Pers.Sg.neutr. es liegt im Bairischen darin, daß es nur in klitischer Verwendung als 's vorkommt. Die Vollform es ist völlig unüblich, auch wenn sie in den entsprechenden Paradigmen (z.B. Zehetner 1985: 125; Kollmer 1,388) immer mit angeführt wird. Die Suppletivform ist das Demonstrativum des, das in den entsprechenden 'betonten' Positionen (im Vor- und Mittelfeld) auftritt. 20 Die korrekte Form des hochdeutschen Satzes (3 la) ist im Bairischen (3 lb) und nicht (3 lc): (31a) (31b) (31c)

Esfreutmich, daß du kommst Des gfraid'me, das'sd kimmsd *Es gfraid'me, das'sd kimmsd

Als Expletivum ist es im Bairischen zwar nicht so häufig wie im Hochdeutschen, aber durchaus nicht ungebräuchlich. 21 So bildet es bei Witterungsveiben wie im Standard (32a) das athematische Subjekt, wobei es nicht nur postverbal klitisieren kann (32b,c), sondern auch proklitisch im Vorfeld erlaubt ist (wenn auch 32c die gebräuchlichere Version ist): (32a) (32b) (32c)

20

21

Es regnet s"rengt scho wiada iatz rengt's scho wiada

Ebenso Mayerthaler/Mayerthaler (1990: 403): "Filling the subject position with the neutral pronoun es counts as one of the typical features of Standard German and many other German varieties. The pronoun es does not exist in Bavarian; its function is divided between a stressed form des, which is identical with the demonstrative pronoun, and a clitic s". Anders Mayerthaler/Mayerthaler (1990: 403ff.), die annehmen, daß hd. es und bair. Entsprechungen nicht äquivalent sind. Für Expletiva im Hochdeutschen cf. Lenerz (1985). Zur Unterscheidung des nicht-phorischen bzw. nicht-referentiellen es in drei Typen (verbgesteuertes, expletives und Korrelat-es) vgl. Zifonun (1995), in deren Terminologie in (34c-d) Korrelat-es vorliegt und in (35a) expletives es; bei Witterungsverben u.a. kommt verbgesteuertes es vor.

102

Beim unpersönlichen Passiv ist es dagegen nicht gebräuchlich: entweder werden Sätze ohne Subjekt (33b,e) oder persönliche Konstruktionen (33d) gebildet. Bei den Empfindungsverben (Verba sentiendi) existieren mehrere Alternativen, wie aus (34b,d,e) ersichtlich, um das Expletivum zu umgehen oder klitisch zu realisieren. Bei Korrelatkonstruktionen (themalose Sätze, bei denen das Subjekt im Mittelfeld verbleibt, cf. Lenerz 1985: 102f.) ist es dagegen völlig ungebräuchlich (35b). Tritt ein Korrelat auf, ist es ausschließlich die Expletiv-Partikel do (35c), die in diesen Verwendungsweisen dem englischen there oder auch dem niederländischen er vergleichbar ist: (33a) (33b) (33c) (33d) (33e)

Es wurde getanzt tanzt is worn Es wurde gegessen und getrunken geesn und drunga ham's geesn und drunga is worn

(34a) (34b) (34c) (34d) (34e)

Es friert mich / Mich friert (es) Mi froist / Mifroist's/ *s'froisfme Es freut mich, daß du kommst Des gfreidtae, das'sd kimmsd Mi gfraid's, das'sd kimmsd

(35a) (35b) (35c)

Es geschah ein Unglück A Ungligg is bassierd Do is a Ungligg bassierd

Im Bairischen existieren, wie Mayerthaler/Mayerthaler (1990: 405) festhalten, den unpersönlichen Konstruktionen analoge Bildungen auch bei anderen Verben (marginal auch im Hochdeutschen möglich, cf. 36c): (36a) (36b) (36c)

Mi hod's gschmissn/gschdrad/gworfa Den hod's abilassn Es hat mich mit dem Fahrrad geworfen/geschmissen

Die Syntax dieser Konstruktionen wurde bereits in Kapitel II Abschnitt 2.4. behandelt. Ein interessantes syntaktisches Verhalten zeigt im Deutschen und seinen Varietäten das akkusativische es. Im Hochdeutschen ist es ja das einzige Objektspronomen, das nicht vorfeldfähig ist (37a vs. b).22 Das Eigenartige an dieser Beschränkung ist, daß es weder durch die phonologische Form - siehe oben die Daten zum expletiven es, das durchaus vorfeldfähig ist - noch kategoriell bedingt sein kann, da die übrigen Objektspronomen (im Akkusativ) diese Restriktion nicht zeigen (37c). (37a) (37b) (37c)

22

Ich habe es gemacht *Es habe ich gemacht Ihn/Sie/Mich/Dich/... habe ich gesehen

Dies gilt offenbar doch nicht ausnahmslos. Leneiz (1993a: 162) bringt ein Beispiel: (i) Ihr Geld ist ja nicht weg, meine Damen und Herren. Es haben jetzt nur andere.

103 Im Bairischen findet sich dieselbe Beschränkung: es ist ebenfalls das einzige, daß nicht ins Vorfeld gestellt werden kann. 23 Im Vorfeld erscheint dann obligatorisch das Demonstrativum als Ersatzform (38b), ein proklitisches s' ist ungrammatisch (38c). Im Unterschied zum Hochdeutschen liegt die Ursache für die spezielle Beschränkung jedoch klar auf der Hand: Da es keine Vollform gibt, kann sie auch nicht topikalisiert werden. Eine proklitische Version, die beim Expletivum zumindest marginal möglich ist (cf. 32b), ist strikt ausgeschlossen, weil Objekte im Vorfeld obligatorisch fokussiert und daher betont sind (es handelt sich ja um keine kanonische Besetzung des Vorfelds wie beim Subjekt). Eine weitere Besonderheit ist, daß das Klitikum 's offenbar nicht so streng wie die übrigen an die Abfolgehierarchien gebunden ist. Neben der Normalabfolge Dat - Akk (38d) erlaubt es auch als einziges uneingeschränkt die inverse Abfolge Akk - Dat (38e vs. f), die ansonsten den Fällen vorbehalten ist, in denen das indirekte Objekt nicht klitisierbar ist. Selbst eine Klitisierung an ein nicht-klitisches Pronomen scheint mir nicht ganz ungrammatisch, sondern höchstens markiert zu sein (38g), wiederum eine Möglichkeit, die bei anderen Objektsklitika nicht realisierbar ist (38h). (38a) (38b) (38c) (38d) (38e) (380 (38g) (38h)

I hob's doa Des hob'e doa *s'hob,e doa I hob'da's geem I hob's'da geem *I hob'n'da geem ?I hob eam's geem *! hob eam'an geem

Das Klitikum 's ist also in mancher Hinsicht ein Sonderfall, auch im Bairischen. Die Klitisierung ist hier in einigen der angeführten Fälle weniger syntaktisch als phonologisch gesteuert (so auch Abraham 1995: 526). Syntaktische Klitisierung zeichnet sich dadurch aus, daß sie strikt positionell bzw. strukturell geregelt ist: Im Bairischen ist das Vorkommen syntaktischer Pronominalklitika an die Wackernagel-Position gebunden. M.a.W. der syntaktischen Klitisierung liegt eine Bewegung zugrunde, von der (VP-internen) Basisposition in die WP. 24 Syntaktische Klitika verhalten sich somit anders als ihre Vollformen. Im Unterschied dazu ist die phonologische Klitisierung ein Prozeß, der auf der phonologischen Ebene (PF) stattfindet. Damit erklärt sich die größere 'Stellungsfreiheit': Es kann sich ja im Vorfeld proklitisch an das finite Verb anheften (39a = 32b) oder an ein nichtklitisches Dativpronomen klitisieren (39b = 38g). (39a) (39b)

23 24

s'rengt scho wiada ?I hob eam's geem

Dies gilt auch für die klitische Form von sie (3.Sg.fem.akk ), die ja ebenfalls 's lautet. Da aber eine Vollform existiert, ist diese vorfeldföhig. Im folgenden wird darauf nicht mehr eingegangen. Ausführlicher dazu in Abschnitt 5. Nach Maaßen (1993: 356) muß man auch bei spanischen Pronomen zwischen phonologischer und syntaktischer Klise unterscheiden.

104 Die beiden Arten sind im Sinne von Prinz (1991: 86f.) echte Klitika, nicht postlexikalisch reduzierte Formen, die zu den Schnellsprechphänomenen zählen.25 Deutlich wird dies daran, daß es sich bei der phonologischen Klitisierung durchaus nicht um einen unrestringierten Prozeß handelt. Es gelten im Gegenteil sehr spezifische Beschränkungen. Die erste Beschränkung ist dabei, daß nur in Positionen phonologisch klitisiert werden kann, für die es eine kanonische Besetzung ist. In V/2-Sätzen ist die kanonische Besetzimg von [SpecCP] (Vorfeld) das Subjekt, weil dadurch die 'unmarkierte' SVO-Abfolge erzeugt wird. In der Regel ist das Subjekt im Vorfeld daher auch nicht betont bzw. fokussiert.26 Die im Deutschen und Bairischen mögliche OVS-Abfolge ist dagegen eine markierte Konstruktion, bei der das Objekt hervorgehoben ist, also im Fokus steht. Daher ist das Objekt zwar eine mögliche, jedoch keine kanonische Besetzung des Vorfelds, wodurch bedingt wird, daß es in dieser Position notwendigerweise betont werden muß (ansonsten resultiert Ungrammatikalität). Aus diesem Grund kann s als Subjekt im Vorfeld proklitisch erscheinen, als Objekt dagegen nie (cf. 40a,b vs. 40c). (40a) (40b) (40c)

s'rengd scho wiada s'schraid scho wiada (das Kind) *sTiob'e scho gseng

Ein ähnliche Kontextsensitivität im Sinne von Prinz (1991: 86) zeigt sich auch in den Fällen, in denen 's an ein Vollpronomen klitisiert (41a). Dies ist nämlich dann möglich, wenn sich das Dativpronomen außerhalb der VP relativ nahe an der WP befindet, wie in (41a) daran ersichtlich, daß es sich vor dem Temporaladverbiale und der Partikel befindet. (41a) ist zugegebenermaßen nicht gutes Bairisch, es kontrastiert aber deutlich zu (41b), das eindeutig ungrammatisch ist.27 Ein ähnlich klarer Kontrast ergibt sich im Vergleich zu nominalen Dativobjekten, an die es unabhängig von der Position nie klitisieren kann (41c) (So auch Abraham/Wiegel 1993: 43). Die Ursache für diesen Kontrast ist vermutlich, daß die Position nach dem Dativpronomen im Bereich der 'Pronominalschale' liegt und somit in einem kanonischen Pronominalbereich der Satzstruktur. (41a) (4 lb) (41c) (4 ld) (41 e)

25

26 27

I hob eam's gesdan scho geem *I hob gesdan scho eam's geem *I hob am Sepp's scho geem *weil er dem Vater's gezeigt hat * weil wir dem Vater gestern abend's gezeigt haben

Da man davon ausgehen kann, daß es im Lexikon nur ein 's gibt, ist es angemessener, wenn man sagt, daß es durch phonologische oder syntaktische Klitisierung generiert werden kann. Die Einsetzung geschieht beidemale natürlich auf PF. Die Begriffe '(un)markiert', 'betont', Fokus' usw. beziehen sich auf Höhle (1982). In den Quellen finden sich vereinzelte Belege, so bei Haller 1,68 (= i) und 72 (= iii) (i) er voo'rodd eahm's na amoi (ii) er verrät ihm es noch einmal (iii) und loosst eahm's voozeihjn (iv) und läßt sich es erzählen

105 Abraham/Wiegels (1993: 43) deskriptive Generalisierung (für das Deutsche), daß "das klitische -s [...] als minimal sonorer Laut an jedes Element unabhängig von dessen syntaktischer Position klitisierbar ist", ist für das Bairische (wie für das Deutsche) dahingehend zu präzisieren, daß die Klitisierung nur in kanonischen Positionen möglich ist. Daraus erklärt sich auch die Ungrammatikalität der hier als (41d, e) wiedergegebenen Beispiele aus Abraham/Wiegel (1993: 43): Das OCL befindet sich in einer Position, in der es betont werden müßte, weswegen die Klitisierung ausgeschlossen ist. In der Terminologie von Zwicky (1977) handelt es sich also um ein "simple clitic". Einfache Klitika wie das bairische 's verhalten sich syntaktisch wie Vollformen, d.h. es bedarf keiner zusätzlichen Regel, das Stellungsverhalten zu steuern, da die möglichen Positionen identisch sind mit denen 'normaler' Satzglieder. Nach Anderson (1992: 200) ist ein simple clitic "an element of some basic word class, which appears in a position relative to the rest of the structure in which the normal rules of the syntax would (or at least could) put it." Einfache Klitika sind "prosodically deficient" (Anderson 1992: 201), so daß sie - da sie keine phonologischen Wörter darstellen - unabhängig keinen Akzent erhalten können. Sie müssen sich deswegen ein Trägerelement suchen: in order to be phonetically well-formed, it is clear that all phonological material must be integrated into the prosodic structure of utterances, which will entail the requirement that some rule incorporates the segmental/syllabic content of a simple clitic into a domain at each level of prosodic structure. As a result, clitics must be adjoined to material on one side or the other in order to become part of a word-level prosodic unit (Anderson 1992:201).

Einfache Klitika haben in ihrem Lexikoneintrag zwar eine phonologische Form, diese ist aber insofern defizient, da die Kennzeichnung als prosodische Einheit auf der Wortebene (bzw. deren Zuweisung) fehlt (cf. Anderson 1992: 201). Die für das bairische 's festgestellte Beschränkung auf kanonische Positionen muß nicht über eine Zusatzregel abgeleitet werden, sondern erklärt sich aus seiner prosodischen Defizienz. Positionen in der Satzstruktur weisen einem Element, das als nicht kanonische Besetzung gilt (z.B. das DO in SpecCP) Betonung zu, so daß allein dadurch das Vorfeldverbot für das Objekts- 's oder die Tatsache, daß nur an Vollpronomina klitisiert werden kann (cf. 41), korrekt vorausgesagt ist. Einer speziellen Regel, die akkusativisches '5 im Vorfeld verbietet, bedarf es also nicht. Im Unterschied zu einfachen Klitika muß für special clitics ein besonderer Mechanismus angenommen werden: "A special clitic is one whose position within some phrasal unit is determined by principles other than those of non-clitic syntax" (Anderson 1992: 201f.). Die Wackernagel-Position ist eben keine mögliche Position für pronominale oder nominale Vollformen, so daß Klitika eben nur über Zusatzprinzipien dort hingelangen können. Die dafür verantwortlichen Prinzipien werden später diskutiert. Neben der syntaktischen Umgebung ist selbstverständlich auch die phonologische von Bedeutung. Ausgeschlossen ist aber nur, daß das Klitikum s an ein Element der gleichen Kategorie (also wiederum ein s) klitisieren kann. Dadurch sind die Kontraste in (42a-d) richtig vorausgesagt. Die ansonsten morphonologisch erzwungene Ersetzung durch silbische Alloformen (cf. Zehetner 1985: 127f.) ist nicht möglich, wodurch der Ausnahmecharakter der phonologischen Klitisierung deutlich wird (cf 42e vs. f).

106 (42a) (42b) (42c) (42d) (42e) (42f)

*ea hod uns's geem ea hod enk's geem *s'segt an Sepp ned (das Kind) s'blärd scho wiada (das Kind) habds'as? (Habt ihr es?) *ea hod uns'as geem

4.2.2. man Das Indefinitpronomen man existiert im Bairischen ebenfalls fast nur in seiner klitischen Form 'ma, die lautlich identisch ist mit dem Klitikum der l.Ps.Pl.28 Das Stellungsverhalten ist daher analog zum Personalpronomen, d.h. es tritt in der Regel nur in der Wackernagel-Position auf (43a) und ist im Mittelfeld nie erlaubt (43b). Im Unterschied zum Personalpronomen ist es aber auch im Vorfeld möglich (43c), wobei hier m.E. - trotz der phonologisch abgeschwächten Form - keine Proklise stattfindet wie bei es. (43c) dürfte aber im Vergleich zu (43 d) als die ungewöhnlichere Variante gelten, so daß die Vorfeldmöglichkeit insgesamt eher die Ausnahme zu sein scheint.29 Das Mittelfeldverbot hat seinen Grund darin, daß Pronomina in ihrer Basisposition in der VP immer betont sein müssen, was bei einer klitischen bzw. schwachtonigen Form wie ma eben nicht möglich ist. Dagegen ist man als Subjekt im Vorfeld möglich, da es sich dabei um eine kanonische Besetzung handelt (s.o. die Ausführungen zu es). (43a) (43b) (43c) (43d)

Hod'ma so ebbs scho gseng *Hod so ebbs ma scho gseng Ma is hoid aa nimma da jinga Da jinga is'ma hoid aa nimma

Erwähnt sei an dieser Stelle nur, daß im Hochdeutschen das Indefinitpronomen man ganz ähnliche Stellungseigenschaften aufweist.

28

29

Zehetner (1985: 132). Allerdings halte ich es anders als Zehetner für unwahrscheinlich, daß beide Formen "oft [...] verwechselt" werden. Sie sind für verschiedene Personen- und NumerusMerkmale spezifiziert und kongruieren daher in der Regel mit unterschiedlichen Verbformen, cf. (i) Am besddn lajfma. davo (l.Ps.Pl.) (ii) Am besddn laffctma davo (3.Ps.Sg.) Die phonologischen (und syntaktischen) Parallelen sind demgegenüber untergeordnet, so daß eine mögliche "Verwechslung" kaum plausibel erscheint. Anders liegt der Fall bei dem von Merkle (1975: 156) angeführten Beispiel da deaffadma, das wegen der 'zweideutigen' Verbform tatsächlich sowohl da dürften wir als auch da dürfte man bedeuten kann. Trotzdem ist es hier eher angebracht, wie Merkle von Mehrdeutigkeit' als von Verwechslung zu sprechen. So im Prinzip auch Kollmer 1,403, der eine Vollform män ansetzt wie in (i), dazu aber anmerkt, daß meist abgeschwächtes ma auftritt wie (ii) und (iii): (i) män is ο mid aissn zfrim (ii) des hobma a so kod (iii) ma sogad ο ninks, wen ...

107 4.2.3. Die Höflichkeitspronomina Der Vollständigkeit halber soll noch kurz die Syntax der Höflichkeitspronomina im Bairischen dargestellt werden. Aus morphologischer Perspektive werden sie meistens für interessant gehalten, weil die Formen im Bairischen nicht identisch sind mit denen im Hochdeutschen (cf. Zehetner 1985: 125).

Sie

Nom. Si

*a)

Dat. Eana

Akk Eana

Die Formen gelten für den Singular wie für den Plural. Im Unterschied zum Standard hat das Bairische für Dativ und Akkusativ die gleiche Form Eana, womit ganz offensichtlich einer Tendenz zur morphologischen Angleichung beider Kasus Rechnung getragen ist. Diese läßt sich, wie erwähnt (Kapitel II Abschnitt 2.2.1.), auch bei der Deklination der Artikel im mask.Sg. beobachten (cf. 44a), ebenso, wie (44b) zeigt, bei Adjektiven (mask., neutr.) (cf. Zehetner 1985: 108f.). In dieser Hinsicht sind die Höflichkeitsformen also keine Besonderheit, sondern passen genau ins System der bairischen Grammatik. (44a) (44b)

Ischde/gehaafanhouaBeag I heif/seg de kloana Kinda

Zudem sind damit analoge Verhältnisse wie beim Personalpronomen der 3. Pers. mask, gegeben, bei dem Dativ und Akkusativ dieselbe Vollform eam aufweisen. Da die Höflichkeitsformen in Dativ und Akkusativ ebenfalls Vollformen sind, ist die Formengleichheit somit 'systemkonform'. Der 'Ausnahmecharakter' ergibt sich nur aus dem Blick vom Hochdeutschen her, ist ansonsten aber nicht sonderlich erstaunlich. Auch in anderer Hinsicht wurden die Höflichkeitsformen des Bairischen bereits als bemerkenswert empfunden. So ist Fanselow (1991: 263) als Besonderheit aufgefallen, daß anders als im Standarddeutschen kein echtes Reflexivum existiert. Das Pronomen vertritt also das Reflexivum innerhalb "der Domäne der anaphorischen Bindung", ohne die Bindungstheorie zu verletzen. Auch dies war zumindest früher die Regel im Bairischen, das ähnlich wie das Mittelhochdeutsche im Dativ kein Reflexivpronomen besaß. Die Form eam war für alle drei Genera im Singular gebräuchlich (45a), später ist das Personalpronomen iar als fem. Form in Gebrauch gekommen (45b) und erst in neuerer Zeit ist unter dem Einfluß des Hochdeutschen das Reflexivum se ins Bairische eingedrungen (45c):30 (45a) (45b) (45a)

da Sepp/dMare/sKind hod eam dengd d'Mare hod iar dengd da Sepp/d'Mare/s'Kind hod se dengd

M.E. sind die Höflichkeitsformen aus einem anderen Grund interessant. Sie weisen nämlich nur im Nominativ eine klitische Form auf (übrigens genau wie die 1. und 2.Ps.Pl.). 30

Vgl. auch Kollmer 1,391. In der frnhd. Schriftsprache in Bayern ist sich erst im 16. Jh. belegt, s. Walch/Häckel (1988: 173).

108

Ob dies ein morphologischer Zufall ist oder mit Referenzeigenschaften zusammenhängt, vermag ich allerdings nicht zu sagen. Möglicherweise bietet aber die noch zu diskutierende Performanztheorie von Hawkins hierfür eine Erklärung.

4.2.4. Clitic-climbing (Fernklise) Fernklise oder Klitikwandern (engl, clitic climbing) ist, vereinfacht ausgedrückt,31 die (Kopf-zu-Kopf-)Bewegung klitischer Formen aus einem (eingebetteten) Minimalsatz heraus. Nach Kayne (1989) ist dies möglich, wenn "ein hinreichend starkes INFL ein VP so L-markieren kann, daß das Klitikum dieses VP verlassen und sich an das INFL desselben eingebetteten Satzes, Ie, anhängen kann" (Abraham/Wiegel 1993: 35). Von dort aus bewegt es sich über C° zu Γ des Matrixsatzes (im Französischen und Italienischen). (46a) zeigt schematisch den Bewegungsverlauf, ein italienisches Satzbeispiel (mit Übersetzung) in (461b,c) illustriert das Klitikwandern: (461a) (461b) (461 c)

[VP cl] —> V2 -> C"2 Iej Non [jp ti; saprei [ c p che [ „ [yp dire t( ... Ich wüßte nicht, was ich dir sagen soll

Im vorliegenden Fall wird das Klitikum ti aus einer eingebetteten CP heraus angehoben. Die Ableitung muß für das Bairische etwas modifiziert werden, da der Klitik-Landeplatz die Wackernagel-Position rechts von C° ist. Damit ergibt sich - in spiegelbildlicher Darstellung - vorläufig (47), wobei der Einfachheit halber auch für das Bairische ein I-Kopf angesetzt wird: (47)

[VP cl] - » I e 2 -> C e 2 -> 1°, -> C e ,

Sichtet man die Daten systematischer, so ergeben sich mehrere mögliche Kandidaten. ECM-Verben wie lassen und Verba sentiendi erlauben im Deutschen Acl-Konstruktionen, d.h. sie verfügen über die Fähigkeit, eine VP (Stechow/Sternefeld 1988: 440) einzubetten32, deren Subjekt sie kasusmarkieren. Bei lassen war zumindest früher eine Konstruktion wie (48a) üblich, die oberflächlich so aussieht, als werde hier dem Subjekt des eingebetteten Infinitivs Dativ statt Akkusativ zugewiesen. Nach Haider (1990) ist aber davon auszugehen, daß es sich dabei nicht um das strukturelle Subjekt des Infinitivs handelt, sondern um ein indirektes Objekt von lassenP Dem ist in der Struktur (48d) Rechnung getragen. (48c) - mit entsprechender Struktur in (48e) - zeigt aber, daß es inzwischen auch im Bairischen 'normales' ECM bei lassen gibt. Auf jeden Fall wird zumindest immer das 31

32

33

Eine ausführlichere Diskussion der Problematik v.a. auch in bezug auf das Deutsche bzw. deutsche Dialekte bieten Bayer/Kornfilt (1990) und Abraham/Wiegel (1993: 35-37). Bei anderen Theorievarianten kann es auch eine hybride VP/IP im Sinne von Staudinger (1997: 107-109) sein, die eingebettet wird, oder eine Agr0P (Geilfuß 1992). Analoge Konstruktionen sind im Schriftdeutschen noch im 19. Jh. nachweisbar (Haider 1990: 178). Eine zu Haider alternative Erklärung bietet Demske-Neumann (1994: 248-266).

109

OCL aus der eingebetteten VP heraus in die Wackernagel-Position angehoben, bei ECMKonstruktionen auch das SCL des eingebetteten Minimalsatzes. lassen:

(48a) (48b) (48c) (48d)

Loß'ma'n hoid anschaun wennsd'n an Sepp (ned) anschaun loßt Loß'me'n hoid anschaun [ c p [ c loßk'mai'nJ [ p hoid [ w tj [yp/v»

(48e)

t} anschaun] ^... [ c p [ e loßk'mei'nj [ p hoid [yp [yp, tj tj anschaun] e k ...

Im Sinne von Kayne (1989) liegt aber hier streng genommen kein clitic climbing vor, da nur eine VP eingebettet ist, aus der heraus angehoben wird. Dasselbe läßt sich auch für Verba sentiendi sagen: Auch sie subkategorisieren eine VP und nicht eine CP (cf. 49a-b). (49c) illustriert zudem ein merkwürdiges Phänomen: Wird eine VP mit lexikalischem Dativ eingebettet, kann das Dativ-Pronomen nicht klitisieren, eine Beschränkung, die nicht gilt, wenn das entsprechende Veib finit im Matrixsatz steht (49d). Doch ist das KlitikVerbot auch bei Akkusativobjekten zu beobachten (49e vs. f), ebenso natürlich, wenn der Infinitiv direktes und indirektes Objekt selegiert (49g). Verba sentiendi: (49a) das'e'n hoamgeh gseng hob (49b) das'e'n dia helfa gseng hob (49c) 'das'e'da'n / *das'e'n'da helfa gseng hob (49d) das'e'da gesdan ghoifa hob (49e) das'e'n di hoamdrong gseng hob (49f) *das'e'de'n / *das'e'n'de hoamdrong gseng hob (49g) ??das'e'n'da'n geem gseng hob (49h) das'e'da'n geem hob Von den als grammatisch gekennzeichneten Konstruktionen dürfte wohl nur (49a) tatsächlich auch vorkommen. Komplexere Konstruktionen, bei denen neben dem InfinitivSubjekt auch noch ein Objekt erscheint, bereiten zu große Verarbeitungsschwierigkeiten und sind von daher nur marginal. Es handelt sich deswegen nicht um eine Verletzung eines grammatischen Prinzips, sondern im Grunde um eine Parsingaporie. Wie nun der Vergleich zu (49h) zeigt, bei dem exakt dieselben drei Klitika wie bei (49c) vorkommen, ohne aber in Ungrammatikalität zu resultieren, muß die Anhebung aus einer eingebetteten VP heraus der Grund sein, warum das 10 (49c) bzw. DO (49f) nicht klitisieren kann. Die Ungrammatikalität von (49c,f) kann erklärt werden, wenn man den Abfolge-Parameter (A), der die Kasusabfolge regelt, als (A') umformuliert, so daß er die Reihenfolge von Subjekt und Objekt unabhängig von ihren Kasus darstellt: (A) (A') (B)

Nom - Dat - Akk Su - IO - DO Nom - Akk - Dat

Zunächst zu (49c). Das aus der eingebetteten VP heraus angehobene S E (= Subjekt des eingebetteten Satzes) ist wegen Exceptional Case Marking (ECM) ja zugleich O M (=

110

Objekt des Matrixsatzes).34 Aus (A) ergibt sich als einzig mögliche (morphologische) Anordnung Dat vor Akk, wie in (49c) wiedergegeben. Diese Anordnung entspricht in Begriffen der Satzglieder (49c'): (49C)

S ^ C V O ^

Diese Satzgliedabfolge verstößt aber gegen Parameter (A'), da das eingebettete Objekt 'seinem' Subjekt vorangeht ( 0 E -SE). Die einzige Möglichkeit, diesem Dilemma zu entgehen, ist die nicht-klitische Realisierung des Dativpronomens wie in (49b), weil sie Parameter (A') gerecht wird (cf. 49b') und zugleich durch Parameter (B) erlaubt ist: (49b')

SM-OM+SE-OE

Auf die gleiche Weise kann der Kontrast zwischen den Sätzen (49e) und (49f) erklärt werden. (49e) mit eingebettetem Subjekt vor Objekt entspricht (A') und (B) und verstößt nicht gegen (A). (49f) mit eingebettetem Objekt vor Subjekt ist dagegen ungrammatisch, weil es mit (A*) in Widerspruch steht. An (49e) vs. (49f) kann man auch zeigen, daß die Einführung von Parameter (A') ihre tiefere Berechtigung hat. Aus (49f) läßt sich eine grammatische Konstruktion machen, wenn man eine andere Lesart zugrunde legt, die (49f') entspricht. Dann ergibt sich als Satzgliedfolge (49f), die mit (A') in Einklang steht, weil in ihr das eingebettete Subjekt seinem Objekt wie gefordert vorangeht. (49f)

(49r)

SM-OM+SE-OE

das'e'de eam hoamdrong gseng hob

Daraus wird deutlich, daß die Kasusanordnung allein nicht ausreicht, um die Anhebungsdaten zu erklären. Parameter (A), der zur Erklärung der Daten bei einfachen Sätzen genügt, ist daher wohl restlos auf (A') zurückzuführen. Die syntaktischen Funktionen Subjekt und Objekt sind grundlegender für die Wortordnung als die hauptsächlich morphologisch relevanten Kasus. Kasus sind ja nur die morphologische Kodierung syntaktischer Funktionen und daher gegenüber diesen sekundär. Wenn dies zutrifft (und das tut es offenbar), dann muß auch Parameter (B) auf eine allgemeinere Beziehung zurückgeführt werden. Die Möglichkeit, die sich anbietet, ist (B1): (B')

Klitikum - Pronomen - NP

Mit (A1) und (B') haben die Wortordnungsparameter des Bairischen eine Form, wie sie auch in der Sprachtypologie- und Universalienforschung gängig ist. Die SOV-Anordnung ist seit Greenberg zumindest das Zentrum bei der Erforschung von Word Order Universals (cf. Hawkins 1983). Die Serialisierung nach Kriterien wie 'Schwere' einer Konstituente, wie sie in (B') zum Ausdruck kommt, spielt in typologischen Untersuchungen (Siewierska

34

Dies reflektiert auch deren Genese, weil das ( L ursprünglich sogar thematisches Objekt des Matrixverbs war (cf. Harris/Campbell 1995). Synchron ist es allerdings nur mehr "Kasus-Objekt.

Ill 1988) oder auch in der noch zu diskutierenden Performanztheorie von Hawkins (1992) eine große Rolle. Wir kommen auf diese Thematik zum Abschluß dieses Kapitels zurück. Trotz der Erklärungs-Überlegenheit von (A1) und (B') scheint der Parameter (A) nicht gänzlich auf (A1) zurückfuhrbar zu sein, denn es gibt Fälle wie (50), deren Ungrammatikalität sich nur aus einem Verstoß gegen (A) ableiten läßt: (50)

*das'e'n'da heifa gseng hob

Hier ist zwar mit eingebettetem Subjekt vor eingebettetem Objekt Parameter (A') erfüllt, das Resultat ist dennoch ungrammatisch. Mit Parameter (A) ist das Datum aber korrekt vorausgesagt, da mit ihm Akk vor Dat bei Klitika ausgeschlossen wird. Parameter (A) scheint in manchen Fällen also unverzichtbar zu sein. Beim Großteil der Daten braucht man jedoch nicht auf ihn zurückzugreifen und bei einigen Fällen wie den oben diskutierten Anhebungsdaten liefert er keine korrekten Voraussagen. Noch ein paar Worte zu (49g), hier nochmals als (51a) wiederholt: (51a) (51b) (51c) (51 d)

7?das'e'n'da'n geem gseng hob ??/*I hob earn eam geem I hob'n eam geem 7?das'e'n'da's geem gseng hob

Es ist im Unterschied zu (49c) und (49f) nur als hochmarkiert, nicht als ungrammatisch gekennzeichnet worden. Es widerspricht keinem der angeführten Parameter: Die Anordnung sowohl der Kasus (A) als auch der syntaktischen Funktionen (A1) ist völlig korrekt. Der Grund für seine Markiertheit könnte eine Verarbeitungsschwierigkeit sein, die sich aus dem Vorhandensein zweier homophoner Formen ergibt. Daß eine Art Homophonenverbot existiert, zeigt der Kontrast zwischen (51a) und (51b): (51a) verstößt gegen kein grammatisches Prinzip, dennoch ist der Satz ungrammatisch. (51d) macht aber deutlich, daß dies nicht der alleinige Grund für die geringe Akzeptabilität von (51a) sein kann, denn er ist, obwohl keine homophone Formen vorkommen, trotzdem kaum akzeptabel. Vermutlich sind (51a,d) oberhalb der Komplexitätsstufe, die in einer gesprochenen Sprache verarbeitbar ist: vier klitische Personalpronomen sind wohl kaum mehr parsebar (und stellen auch an die Sprechbarkeit keine geringen Anforderungen). Ahnlich wie bei den Veiba sentiendi stellt sich die Situation bei den Modalverben dar, da sie ebenfalls nur eine VP einbetten, aus der heraus die Klitika in die Wackernagel-Position des Matrixsatzes angehoben werden (52a,b). Modalverben: (52a) das'e'n kenna lerna mecht / kenna glemt hob (52b) das'e'da'n geem mecht / hob

Bei den drei bisher betrachteten Fällen liegt also keine Fernklise im Sinne von Kayne (1989) vor. Wenn allerdings zutrifft, daß im Deutschen die VP eine hybride V/I-Projektion ist (Brekle/Staudacher 1994, Staudinger 1997), die auch funktionale Aspekte wie AGR und Τ abdeckt, werden hier Klitika aus einer funktionalen Phrase heraus bewegt, nämlich

112

aus VP/IP. Diese Annahme scheint auch für die bairischen Konstruktionen plausibel, da zumindest das Infinitiv-Objekt z.B. in (48c) strukturellen Akkusativ vom Infinitiv bekommt. Nach neueren Ansätzen geschieht dies über Spec-Head-Agreement in einer AGR0P bzw. wird dort überprüft (Wilder/Cavar 1993a), so daß deren Existenz zumindest unter Checking-Gesichtspunkten notwendig erscheint.35 Problematisch ist in den vorliegenden Fällen die Annahme Kaynes, daß Klitika via Kopf-Bewegung angehoben werden. Da dies aber ein generelles Problem der Klitisierung im Bairischen darstellt, das später gesondert behandelt wird, gehe ich darauf jetzt nicht ein. In Modifikation zu (47) wäre folgende vereinfachte Ableitung anzusetzen: (53)

[ VP/IP [VP/IP cl]] -> Ce,

Ein weiterer Fall, bei dem Klitika aus einer (semi-)funktionalen Phrase extrahiert und in die Wackernagel-Position angehoben werden, sind Konstruktionen mit Small Clauses (SC). SCs sind Projektionen eines lexikalischen Prädikats, das über ein Subjekt verfugt (54). Zugleich liegt bei SCs immer auch eine funktionale Projektion vor, ähnlich der hybriden VP/IP im Deutschen (cf. Staudinger 1997). Es handelt sich also um eine Mischprojektion, die fiinkionale und lexikalische Eigenschaften besitzt. Es gibt drei Subtypen: Komplement SCs (54a), Resultativ-SCs (54b) und Adjunkt-SCs (54c). (54a) (54b) (54c)

Peterfindet[ s c Syntax interessant] Peter streicht [ s c den Zaun rot] Peter trinkt das Weißbier [ s c PRO warm]

Für unsere Problematik einschlägig sind Komplement- und Resultativ-SCs, da bei ihnen ein phonologisch präsentes Subjekt phrasenintern vorkommt. Ist dieses pronominalisiert, wird es an die Wackernagel-Position angehoben und verläßt den SC. Wie bei den vorher diskutierten ECM-Konstruktionen begeben sich die klitischen Pronomina an die im Bairischen einzig mögliche Landeposition und adjungieren an C°.36 (55a) (55b)

wenn'sj da Beda hoit [ s c t; interessant] find wenn'an, da Beda [ s c t( roud] streicha mechd

Für die SC-Konstruktionen ist also folgende Ableitung anzunehmen: (56)

[ VP/IP [SC cl]]

Ce,

Bislang haben wir nur Fälle betrachtet, bei denen die Klitika aus relativ einfachen Projektionen extrahiert wurden. Selbst für die /assew-Konstruktionen ist - wenn man die SplitINFL-Hypothese zugrunde legt - lediglich eine AGRCP als höchste Projektionsstufe anzusetzen. Bei erweiterten Infinitiven mit zu bzw. bair. zum liegt dagegen mit TP eine 35 36

Geilfuß (1992: 3) nimmt an, daß lassen eine AGRQP selegiert. Genau genommen handelt es sich bei Komplement-SCs ebenfalls um ECM, da das SC-Subjekt seinen Kasus (Akkusativ) vom Matrixverb erhält (cf. Staudinger 1997: 147ff.).

113

weitere Projektionsstufe vor, da angenommen wird, daß zu bzw. zum unter T° generiert wird (cf. Schmidt 1995: 188f.). Außerdem ist bei Annahme von PRO als Subjekt des Infinitivsatzes noch AGRgP vorhanden. Der eingebettete Satz ist damit um eine bzw. zwei Projektionsstufen komplexer. Bei kohärenten Konstruktionen ist Klitikanhebung sowohl bei Subjekt- als auch Objekt-Kontrolle möglich (in den unterlegten Strukturen wird der Einfachheit halber die traditionelle, nicht gesplittete IP angesetzt): (57a) (57b) (57c) (57d)

i hob'n zum obhoin vogessn (SK) [cp i [ c hot^Yi; [jp PROj t; zum obhoin] vogessn e k ... ι hoB'da'n / hob'n aia zum anschaun iabalossn (OK) [ c p i [ζ, ho^'nj dia^ [yp PROj t; zum anschaun] iabalossn ^ ...

Im Gegensatz dazu scheint clitic climbing aus inkohärenten Infinitiven problematischer zu sein, selbst wenn man die bei Abraham/Wiegel (1993: 36f.) zumindest andiskutierten "merkwürdigen" semantischen Restriktionen und Parsingaporien beiseite läßt. Dies muß aber nichts mit Klitikversetzung an sich zu tun haben, sondern kann daran liegen, daß inkohärente Infinitive im Bairischen immer noch eine kaum stabile Konstruktionsmöglichkeit darstellen (s. Kapitel V). Von den bei Abraham/Wiegel (1993: 36) angeführten Daten scheint mir nur ein einziges marginal akzeptabel. Ich gebe es hier leicht modifiziert als (58) wieder und enthalte mich weiterer Kommentare: (58)

das'ma d'Maria vogessn hod a Broud zum geem

4.2.5. Clitic-doubling Clitic-doubling ist ein Phänomen, daß z.B. im Spanischen begegnet (cf. Haegemann 1991: 579f.; Maaßen 1993: 352f.). Im Spanischen, einer SVO-Sprache mit pro-drop, bewegen sich OCLs von der postverbalen Basisposition (59a) in ihre Landeposition, die dem Veib linksadjazent ist (59b). Es existiert aber die Möglichkeit, daß das direkte Objekt zweifach ausgedrückt wird, als Klitikum und als volles Pronomen (59c). Diese Konstruktion ist im Standardspanischen möglich, in einigen Varietäten (z.B. im südamerikanischen Spanisch) kann auch eine lexikalische NP als Doppel' erscheinen (59d).37 (59a) (59b) (59c) (59d)

Vimos a el / a Juan Lo vimos LOj vimos a elj Loj vimos a Juaiij

In der Literatur werden diese als clitic doubling bezeichneten Konstruktionen z.B. so analysiert (cf. Haegemann 1991: 573-580), daß bei der Klitisierung ein koindiziertes kleines pro an der Basisposition veibleibt (60), das bei der Klitik-Doppelung phonologisch aus37

Auch ein indirektes Objekt kann gedoppelt werden, vgl. (i) (=13a bei Maaßen 1993: 351) (i) Le doy el libro a Pedro

114

buchstabiert werden kann. Die entsprechende Struktur ist (61a). Diese Analyse ist konform mit der gängigen pro-drop-Analyse. Die Klitik-Doppelung ist nicht ganz improblematisch für die Analyse der Klitisierung als Bewegung: Entweder erfolgt die Einsetzung der NP bzw. des Pronomens in die Position des direkten Objekts wie in (61a) erst auf der s-Struktur oder die PPs α el/a Juan werden wie in (61b) als adjungiert an die VP gedacht. (60)

Loj vimos prof

(61) (a)

cl .

ι

VP

V"

(b)

ael .

ι

i

VP

t.

Im Bairischen gibt es Sätze, die oberflächlich besehen wie clitic-doubling-Konstruktionen erscheinen (62a-c). (62a)

Geem'Sj vej Mil de Kiahj

(62b) (62c) (62d) (62e) (62f)

das's vej Mil geem de Kiah, gfreid'me des gfreid'me, das's vej Mil geem de Kiah Hosd'n gseng, den Deppn 7?/*Geem's vej Mil dKiah Geem dKiah vej Mil

In (62a-c) ist das Subjekt sowohl als Klitikum wie auch als lexikalische NP realisiert. (62d) illustriert, daß das Objekt ebenfalls gedoppelt werden kann. Auf den ersten Blick scheinen somit analoge Verhältnisse wie im Standardspanischen vorzuliegen. Bei genauerer Betrachtung ergibt sich aber, daß im Bairischen keine echte Klitik-Doppelung vorliegt. Wie die Struktur in (63) zeigt, ist davon auszugehen, daß die 'doppelnde' NP in einer an CP adjungierten Position erscheint. Als Indiz dafür werte ich den Kontrast einerseits zwischen (62a) und (62e) und andererseits zwischen (62e) und (62f), der deutlich macht, daß die doppelnde NP nicht in seiner Basisposition stehen kann. Wie aus (62f) erhellt, wird bei der Subjekts-NP in Basisposition (und mit Normalbetonung) der Artikel normalerweise in seiner unbetonten, proklitischen Form realisiert. Genau diese Möglichkeit ist bei (62e) kaum möglich, was darauf hindeutet, daß eine Adjunktionsposition vorliegen muß.

115

Es liegt somit wohl eine ähnliche Konstruktion vor wie bei den sog. Cleft- bzw. Spaltoder Linksversetzungskonstruktionen wie (64), bei denen ja auch eine Adjunktion an CP angenommen werden kann: (64a) (64b)

Da Sepp, der is fei a Hund CP

NP . ι

CP

C

SpecC da Sepp

der .

IS In diesem Sinne sind die Daten im Bairischen m.E. keine Exemplare von clitic doubling. Zumindest wenn man von der engen Definition ausgeht, die fordert, daß die doppelnde NP die Basisposition einnimmt (siehe oben 61a). Nach der alternativen Definition von (61b) ist allerdings eine starke Parallelität gegeben, da auch im Spanischen das Doppel in einer Adjunktposition erscheint. Wenn man so will, sind die Beispiele in (62a-d) somit Instanzen von clitic doubling in der abgeschwächten Version. Es gibt jedoch im Bairischen Fälle, bei denen das Subjektsklitikum - im Unterschied zu den Beispielen in (62), wo das nicht möglich ist - durch das Vollpronomen gedoppelt werden kann. Da diese Fälle in der Literatur bislang in einem anderen Zusammenhang thematisiert wurden, werden sie im nächsten Abschnitt separat behandelt. Auf eine Diskussion der bei Schmeller (1821: 191) genannten Beispiele wird verzichtet. Schmeller zieht übrigens schon den Vergleich mit dem Spanischen (und Französischen).

116 4.2.6. COMP-Flexion und Pro-drop Im Westflämischen (Heagemann 1991, 1992) läßt sich ein Phänomen beobachten, daß als COMP-Flexion (comp inflection) oder Agreement) in COMP bezeichnet wird.38 Im Grunde handelt es sich um zwei verschiedene Phänomene. Zunächst gibt es, wie in (65, nach Haegeman 1992: 49ff.) illustriert, den Fall, daß für Singular und Plural zwei verschiedene Formen ein- und derselben Konjunktion existieren, daß also die Konjunktion mit dem Verb bezüglich des Merkmals Numerus kongruiert. Die Numerus-Kongruenz ist im Westflämischen und in den meisten "Belgian dialects of Dutch" (Haegeman 1992: 51) obligatorisch (65c). (65a) (65b) (65c)

Kpeinzen da39 Valere morgen goat Ich denke, daß-sg. V. morgen geht Kpeinzen dan Val£re en Pol morgen goan Ich denke, daß-pl. V. und P. morgen gehen *Kvinden da die boeken to diere zyn Ich finde, daß-sg die Bücher zu teuer sind

Neben der Numerus-Kongruenz werden zu den Agreement-Phänomenen unter spezifischen Bedingungen auch Subjektsenklisen gerechnet. Man spricht gewöhnlich von Agreement bezüglich des Personen-Merkmals (bzw. zusätzlich Genus). Eine der angesprochenen Bedingungen ist die Möglichkeit, SCLs durch die Vollform zu doppeln. Im Westflämischen kann bei (voll)pronominalem Subjekt in allen Personen optional die entsprechende klitische Form auftreten, bzw. umgekehrt (66a-f): (66a) (66b) (66c) (66d) (66e) (66f)

Kpeinzen dan-k (ik) morgen goan Kpeinzen da-j (gie) morgen goat Kpeinzen da-se (zie) morgen goat Kpeinzen da-me (wunder) morgen goan Kpeinzen da-j (gunder) morgen goan Kpeinzen dan-ze (zunder) morgen goan

Westflämisch ist ein extremer Fall, da es nicht nur Numerus-Kongruenz aufweist, sondern auch Personen-Kongruenz, und zwar in allen sechs Personen. In vielen niederländischen Dialekten findet sich nur Numerus-Kongruenz (Haegeman 1992: 51) und in deutschen Dialekten wie dem Bairischen ist die Personen-Kongruenz auf die erste und zweite Person

38

39

In der Dialektologie, die dieses Phänomen im Bairischen (und in anderen deutschen Dialekten) schon lange kennt, spricht man von "Flexion der Konjunktionen" (Weise 1907). Auch Schmeller (1821: 191) spricht schon von der Möglichkeit, daß "das Pronomen in einem und demselben Fall doppelt, nemlich selbständig und affigiert" auftreten kann. Unsere Darstellung ist an dieser Stelle sehr vereinfacht und daher unpräzise: Die zugrundeliegende Form lautet eigentlich da-t, wobei -t als für [3.Pers.Sg.mask/fem.] spezifiziert gedeutet wird; vor einem Konsonant wird es unterdrückt, vor einem Vokal stimmhaft (cf. i) (i) dad Anna noar us goat Vgl. dazu Shlonsky (1994: 353, Anm. 5).

117 beschränkt, während sie in der dritten nicht auftritt (s.u.)· Im Friesischen gibt es COMPFlexion nur in der zweiten Person (de Haan 1994). Shlonsky (1994) versucht die COMP-Flexion durch die Annahme einer Agr-CP zu erklären. Er geht davon aus, daß zwischen der CP und IP eine zusätzliche AgrP existiert, die von CP immittelbar dominiert wird, wie in (67) dargestellt:40 (67)

CP

Spec

AgrC'

AgrC"

IP

Die φ-Merkmale [Numerus, Person, Genus] werden unter AgrC° phonologisch als Affix generiert, das dann zu C° angehoben wird, um die entsprechend spezifizierte Form der Konjunktion entstehen zu lassen. Die SCLs dagegen lokalisiert Shlonsky (1994) im Spec der AgrCP. Da die Merkmale in AgrC° lizensiert werden müssen, nimmt er an, daß dies qua Spec-Head-Kongruenz durch "an element bearing the same features in its specifier position" (Shlonsky 1994: 355) geschieht. Dieses Element ist das SCL, das nach Shlonsky eine in SpecAgrCP basisgenerierte DP ist. Die Spec-Position ist keine Kasus-Position, Klitisierung deutet er als einen Identifizierungs-Mechanismus, der gewährleistet, daß die betroffenen Elemente den Kasus-Filter erfüllen ("clitization is a means of identification sufficient to satisfy the Case Filter", Shlonsky 1994: 357). Ein Satz wie (68a), der sowohl Numerus-Kongruenz als auch 'doppeltes' Subjekt (Klitikum und Vollpronomen) aufweist, hat daher die Struktur in (68b): (68a)

40

da(t) ze zie werkt

Shlonsky meint mit dieser Analyse auch die bairisehen Daten erklären zu können, doch dazu später. Die Annahme einer Agr-Projektion zwischen CP und IP, die also nicht zum INFLKomplex gehört, findet sich z.B. auch bei Cardinaletti (1992).

118 (68b)

CP Spec

C AgrCP

werkt Auf Technika der Analyse soll nicht detaillierter eingegangen werden, obwohl sie durchaus ein Fall für Ockhams Rasiermesser wären. Erwähnt sei nur, daß er bei Fehlen von Klitika annehmen muß, daß die Subjekte, seien sie nun Vollpronomina oder normale NPs, in den Spec von AgrCP angehoben werden, damit die Merkmale in AgrC° lizensiert werden (Shlonsky 1994: 358). 41 Außerdem sind für ihn die Klitika nicht die Träger der Θ-Rollen, das eigentliche Subjekt in Sätzen, die nur ein SCL enthalten, ist pro (69): (69)

da(t) ze pro werkt

In analoger Weise analysiert er auch die bairischen Daten, doch dazu später. Zunächst seien die relevanten Daten vorgestellt. Im Unterschied zum Westflämischen gibt es im Bairischen keine Numerus-Kongruenz zwischen Konjunktion und Subjekt (bzw. finiten Verb), die Form ist für Singular und Plural identisch (70a, b): (70a) (70b)

41

I woas, daß da Sepp kimd I woas, daß da Sepp und dTvIare kemmand

Aus minimalistischer Sicht ist die Motivation für diese Bewegung bedenklich, da die Bewegung eines Elements α nur durch (morphologische) Faktoren, die es selbst betreffen, erzwungen werden kann, nicht jedoch um Bedürfhisse anderer Elemente zu erfüllen (cf. Chomsky 1995: 201). Hier sind es aber genau Bedürfnisse der Position AgrCe: "NP movement to Spec of AgrCP [...] is driven by the need to realize a Spec-head configuration and thus to license the contents of AgrC" (Shlonsky 1994: 359). Femer ist in Shlonskys Ansatz die Distribution der OCLs problematisch, da er aus Gründen der Kasustheorie Adjazenz zwischen SCL und pronominalem Subjekt annehmen muß. Abgesehen von den bairischen Daten, die damit eindeutig in Konflikt stehen, muß er auch für das Westflämische Zusatzannahmen machen (cf. Shlonsky 1994: 368ff).

119

Personen-Kongruenz ist im Bairischen auf die 2.Pers.Sg. und PI. sowie die l.Pers.Pl. beschränkt, in der 3.Pers. und in der l.Pers.Sg. tritt sie nicht auf. Die Daten sind in (71)-(74) vorab wiedergegeben: (71) (71a) (71b) (71c)

-sd: Klitikum und Flexiv ? (in C e und Ve, obligatorisch, fakultative Doppelung) wenn'«/ af Minga kim-sd wenn'ii/ du af Minga kim-sd •wenn du af Minga kimsd

(72a) (72b) (72c)

-ds: Klitikum und Flexiv ? (in C e und V°, obligatorisch, fakultative Doppelung) wenn'ds af Minga kem-tfc wenn'rfs ees af Minga kem-ds •wenn ees af Minga kemds

(73) (73a) (73b) (73c)

-a: Klitikum (nur C°, fakultativ, keine Doppelung) wenn'a des duad wenn ea des duad * wenn'a ea des duad

(74) (74a) (74b) (74c) (74d) (74e) (74f) (74g) (74h)

-ma: Klitikum (nur C°, fakultativ,42 Doppelsetzung) wem'ma af Minga fahrn wenn mia af Minga fahm wem'ma mia af minga fahm wataa's a ned so guat kint hama * wem'ma (mia) iatz af Minga fahmma mia wem'ma des doa hedn da Adenauer wenn des no dalebt hed mia fahm'ma iatz hoam

(72)

Zunächst ist die Zweiteilung des Pronominalsystems auffällig: 1./2. Pers. vs. 3. Pers. Doch scheint dies, wie sich zeigen läßt, universell zuzutreffen. Es ist auch nicht sonderlich verwunderlich, wenn man die fundamentalen Differenzen beider Klassen von Pronomina auf der pragmatischen und semantischen Ebene betrachtet. Personalpronomen sind zwar nicht die einzige, aber die grundlegende Grammatikalisierung der Personendeixis (dazu und zum folgenden cf. Levinson 1990: 70-74). Bei einer Komponentenanalyse, die nur die zentralen Merkmale Sprechereinschluß (S) und Adressateneinschluß (A) berücksichtigt, ergibt sich die Merkmalsmatrix in (75) für die drei Personen: Person 1. 2. 3. 42

S +

A

-

+

-

-

-

In dem von Altmann (1984) beschriebenen Basisdialekt ist -ma nach Konjunktionen "obligatorisch" (1984:201). Wenn dies gesamtbairisch zuträfe, ware eine weitere Parallele zu 'sd/ds gegeben. Nach meiner eigenen Intuition ist 'ma allerdings fakultativ (so auch Bayer 1983-84:253).

120 Die dritte Person unterscheidet sich von der ersten und zweiten, weil "sie nicht mit irgendeiner spezifischen Rolle im Sprechereignis übereinstimmt" (Levinson 1990: 70). Während die erste und zweite Person wenigstens für eines der Merkmale positiv spezifiziert sind, ist die dritte für beide negativ spezifiziert. Ma.W., die Referenten der einen Pronomengruppe sind festgelegt, während die Referenz bei Pronomen der dritten Person prinzipiell nicht festgelegt ist (sofern nicht sprachspezifische Sonderregeln existieren).43 Semantisch ist der Unterschied so zu rekonstruieren, daß nur Pronomen der 3. Pers. anaphorisch verwendet werden können (cf. Hofmann 1994), während Pronomen der 1. und 2. Person obligatorisch referentiell sind. Reinhart (1991: 535) zufolge können Pronomen entweder referentielle Ausdrücke oder eine gebundene Variable sein (76c,d). Referentielle Pronomina sind weiterhin entweder direkt referentiell (76a) oder pragmatisch koreferentiell (76b). (76a) (76b) (76c) (76d) (76e)

Er ist originell Felixj glaubt, er; sei originell Jeder Dichterj glaubt, erj sei originell Vx (Dichtei(x) -> χ glaubt, χ sei originell) *Felixj glaubt, ich/du, sei/seist originell

Die insgesamt drei pronominalen Referenzarten tauchen nur bei der 3. Pers. auf, Pronomen der 1./2. Pers. sind lediglich direkt referentiell (49c).44 Damit fallen letztere als RAusdrücke unter das Bindungsprinzip C,45 während Pronomen der 3. Pers. in ihrer pragmatisch-koreferentiellen Verwendung und als gebundene Variablen ein Fall für das Prinzip Β sind (zum Bindungs-ABC vgl. etwa Stechow/ Sternefeld 1988: 215-223). Selbst also im Bereich der Bindungstheorie lassen sich fundamentale Differenzen feststellen. Diese pragmatisch-semantische Opposition bildet sich nicht immer unmittelbar in anderen Bereichen der Grammatik ab, sie ist aber der Grund dafür, daß die beiden Klassen von Pronomen prinzipiell grammatisch nicht einheitlich zu sein brauchen. Die Auswirkungen können von Sprache zu Sprache andersartig und unterschiedlich weitreichend sein. Auch Ritter (1995: 418) verweist darauf, daß Untersuchungen in zahlreichen, nicht verwandten Sprachen gezeigt haben, "that there exists a fundamental difference between

43

44

45

Im Β airischen (und anderswo) scheint für Pronomen der dritten Person eine Art Referenzverbot zu existieren, d.h. sie können nicht auf einen anwesenden Dritten (Zuhörer) direkt referieren (cf. Altmann 1984: 209). Ein Satz wie (i) ist daher ungrammatisch, wenn die dritte Person anwesend ist, und würde von Seiten des Zuhörers eine Reaktion wie (ii) provozieren: (i) i hob'da doch gsogd, daß ea des hod (ii) wea ea? Die Beispiele (76a-d) sind aus Reinhart (1991:535) adaptiert. Ich persönlich würde (76a) nicht als direkt referentiell, sondern ebenfalls als pragmatisch koreferentiell bezeichnen (das Antezedens muß vorher schon erwähnt worden sein). Direkte Referenz bei Pronomen der 3. Pers. ist nur bei der sehr markierten deiktischen Verwendung möglich. Sieht man einmal von dem marginalen Sonderfall gespaltener Antezedenzien wie in (i) ab, bei denen die 1. und 2. Pers.Pl. als Pronominale im Sinne der Bindungstheorie (in einer nichttrivialen Verwendungsweise) möglich sind: (i) OttOj und ichj glauben, daß wir, es schaffen.

121 first and second person pronouns on the one hand, and third person pronouns on the other". Sie bedient sich ebenfalls einer pragmatischen Erklärung dafür. Darauf hingewiesen werden soll noch, daß Brekle (1985: 65ff.) eine Deduktion der Personen als grammatische 'Fälle' bietet, aus der eindeutig erhellt, daß die 3. Person in der Grammatik einer Sprache aus prinzipiellen Gründen anders verankert ist als die übrigen beiden Personen. Im Deutschen ist die Differenz weniger ausgebildet, da sich im syntaktischen Verhalten kaum Differenzen feststellen lassen. Es gibt aber, außer den angeführten Bindungsdaten (cf. 76), einzelne Phänomene, die darauf hindeuten, daß beide kategoriell verschieden sind. So hat Lenerz (1993a) bemerkt, daß Pronomen der ersten und zweiten Person im Gegensatz zur dritten Person durch Nomen erweiterbar sind (ich Idiot vs. *er Baum), was ein Indiz dafür ist, daß ein unterschiedlicher Projektionsstatus vorliegt. Da sich darüber die Referenzfähigkeit determiniert, zeigt sich die Einwirkung der Pragmatik unmittelbar. Im Hebräischen ist ähnliches zu beobachten. Nach Ritter (1995) sind hebräische Pronomen der ersten und zweiten Person DPs, die nur den D-Kopf enthalten, der nach Person, Numerus und Genus spezifiziert ist, während Pronomen der dritten Person dagegen eine komplexere Struktur aufweisen, weil sie DPs sind, die eine sog. Number-Phrase subkategorisieren (die das phonologische Material enthält, so daß D° zwar nach Definitheit und Person spezifiziert, jedoch leer ist). Im Unterschied zum Deutschen zeigen sich im Hebräischen aber eindeutigere syntaktische Differenzen: so können nur Pronomen der dritten Person zusammen mit dem definiten Artikel innerhalb einer DP auftreten (und bilden dann die Demonstrativpronomen). Auch weitreichende Agreement-Erscheinungen, auf die hier nicht eingegangen werden kann, lassen sich damit erklären (cf. Ritter 1995). In manchen Sprachen verläuft die Differenzierung sogar noch dramatischer, so z.B. im australischen Dyirbal (cf. Dixon 1979, 1994). Dyiibal ist eine Ergativsprache, in der das Subjekt eines intransitiven Satzes (S) im Absolutiv erscheint (77a), und damit den gleichen Kasus erhält wie das direkte Objekt (O) eines transitiven Satzes, während das transitive Subjekt (Agens/A) mit dem Ergativ markiert wird (77b). (77a) (77b)

T]uma banagan^u Vater (abs) kehrt zurück T|uma yabu+iigu buran Vater (abs) Mutter (erg) sehen Mutter sieht Vater1

Dixon spricht hier von S/O-pivot. Nominativ-Sprachen (wie die meisten europäischen) haben dagegen (intransitives) Subjekt und Agens aufeinander bezogen (S/A-pivot) und kasusmarkieren das direkte Objekt gesondert. So verfährt z.B. das Deutsche (78a,b): (78a) (78b)

Der Vater kehrt zurück Der Vater sieht den Jungen

Da es keine Sprache zu geben scheint, die vollkommen ergativisch strukturiert ist,46 weisen alle bekannten Ergativsprachen einen Bereich mit Nominativ-Akkusativ- bzw. ande46

Eine Ausnahme scheint Inuktitut, eine Eskimosprache, zu bilden, das offenbar durchgängig ergativisch ist (cf. Nowak 1993).

122 rer47 Strukturierung auf. In Dyirbal findet der Switch zwischen der dritten Person, die wie die Nomina dem Ergativsystem folgt, und der ersten und zweiten Person statt. Pronomen der ersten und zweiten Person haben Nominativ- und Akkusativformen (79a,b): (79a) (79b)

η ana banagan^u wir (nom) kehren zurück η ana i^ura-t-na buran wir (nom) euch alle (akk) sehen

Der Switch zwischen der dritten Person auf der einen Seite und der ersten und zweiten auf der anderen, ist nicht nur für das Dyirbal belegt. Auch Cashinawa, eine Indianersprache aus Peru, behandelt die dritte Person anders als die erste und zweite Person (Dixon 1979: 87). Dyirbal und Cashinawa zeigen, daß die Klassenbildung innerhalb des Pronominalsystems nicht nur aufgrund des unterschiedlichen Referenzverhaltens, letztendlich also aufgrund der unterschiedlichen Deixis, erfolgen muß. Dixon (1979) erklärt den Switch vom Ergativ- zum Nominativsystem mit der sog. Silverstein-Hierarchie. Darunter versteht man die von Michael Silverstein erarbeitete Hierarchie, in der die verschiedenen Nominale in eine Rangfolge nach dem Merkmal "potientiality of agency" (Dixon 1979: 85) gebracht sind. Auf der linken Seite (mit maximaler Agens-Potentialität) sind die erste und zweite Person angeordnet, auf der rechten Seite, mit minimaler Potentialität, Nomen, die unbelebte Entitäten denotieren. Die Referentialität nominaler Ausdrücke spielt dabei keine Rolle, da hier semantische Aspekte (potentielles Agens) eine Hierarchie aufbauen, in der das Pronominalsystem eingegliedert ist. An Ergativsprachen läßt sich auch zeigen, daß Singular und Plural in einer Sprache völlig unterschiedlichen Kategorien angehören können. Es ist nämlich auch manchmal der Fall, daß der Switch zwischen Ergativ- und Nominativ- bzw. einem anderweitigen System zwar im Pronominalsystem stattfindet, aber zwischen Singular und Plural. Dies kommt z.B. im Arabana vor, einer südaustralischen Sprache. Im Arabana richten sich nicht-singularische Pronomina nach dem Nominativsystem, singularische haben für die drei syntaktischen Funktionen S, Α, Ο unterschiedliche Kasusmarkierungen und die common nouns folgen dem Ergativsystem (Dixon 1979: 89). Die angeführten Beispiele v.a. aus den Ergativsprachen sollten keine Erklärung dafür sein, warum im Bairischen im Pronominalsystem eine Spaltung zwischen der dritten Person auf der einen Seite und der ersten und zweiten auf der anderen Seite sowie - bei der ersten Person - zwischen Singular und Plural existiert. Sie sollten lediglich belegen, daß dies - auf verschiedenste Weise - nicht unüblich, sondern die Regel ist. Es ist vielfach so, daß Pronomen der dritten Person sich in einem gegebenen Grammatiksystem in manchem eher wie normale Nomen verhalten als wie Pronomen der ersten und zweiten Person. An den Ergativsprachen zeigt sich das besonders deutlich.

47

Eine dritte Möglichkeit besteht darin, alle drei grundlegenden syntaktischen Funktionen (S, A, O) unterschiedlich zu markieren. Dies findet sich z.B. im Dyirbal beim Interrogativ-IndefinitPronomen war^a '(irgendwer1 (Dixon 1979: 87, Anm. 35).

123

Eine Erklärung für die bairischen Daten bleibt einem aber dadurch nicht erspart. In der Literatur sind bereits mehrere Analysen diskutiert worden, die vorgestellt werden sollen. Eine pro-drop-Analyse hat für das Bairische erstmals Bayer (1983; 1983-84; 1984) vorgeschlagen: "modern Bavarian is indeed partially a pro-drop language" (Bayer 1983-84: 211). Er geht davon aus, daß es in der Pronominalsyntax (und -morphologie) des Bairischen zwei Systeme gibt, ein klitisches und ein flexivisches System: (A) (B)

Klitika bei 1 Sg., 3.Sg. und PI. Flexion bei 2.Sg. und PL, (1 .PI)48

Bayer setzt pro an und analysiert einen Satz wie (71a) als (80a). Damit findet die schon von Pfalz (1918: 6) bemerkte Obligatorik der "konjugierten1 Konjunktion (80b) ebenso wie die fakultative phonetische Realisierung des Subjektes (80c) eine elegante Erklärung. (80a) (80b) (80c)

[ c p [Co wenn'sd] [wpro [ af Minga kimsd ... »wenn du af Minga kimsd wenn'sd du af Minga kimsd

Analoge Verhältnisse sind für die 2.Pers.Pl. gegeben (cf. 72), während die l.Pers. PI. (cf. 74) zwar eine Doppelung erlaubt, dagegen aber nur fakultativ sowie auf die WackernagelPosition beschränkt ist. In Bayers Analyse handelt es sich aber um keine Doppelsetzung (Klitikum und Vollpronomen), da er -sd/ds/ma als Flexive aufifaßt49 Ausgehend von einer 48

49

Bayer (1983-84) postuliert -ma als Flexiv nur im Niederbairischen, ansonsten als Klitikum, so daß (i) nur im Niederbairischen grammatisch ist: (i) dass'ma mia noch Minga fahrn Bspe. wie (ii) anstatt des unmarkierten (iii) - aus Zehetner (198S: 95) - zeigen aber, daß zumindest bei V/2-Sätzen gesamtbairisch Doppelsetzung möglich ist; (iv) ist ein Wortspiel der oberbairischen Biermöslblosn: (ii) mia laffma (iii) mia laffa(n) (iv) mia samma sei In Teilen des Bayerischen Waldes ist -ma vollständiger in die Flexion übergewechselt und erscheint daher auch in V/End-Sätzen am finiten Verb (nur beim Auxiliar möglich): (iv) wa'ma bmaid (gemeint) hama (Kollmer ΠΙ, 177) (v) wa'ma doch zwou kei kod hama (Kollmer ΠΙ, 185) Ich nehme im folgenden der Einfachheit halber an, daß -ma - gesamtbairisch gesehen - klitisch ist, also auf die Wackeraagel-Position beschrankt ist, jedoch Doppelung erlaubt (wie die Daten in (iHiü) und (69) es zeigen). Die Sonderentwicklung im Bayerischen Wald bleibt zunächst unberücksichtigt. Ebenso auch van Lessen Kloecke (198S: 79), der - mit Bezug auf das Datenmaterial bei Altmann (1984) - ein Argument für den flexi vischen Charakter darin sieht, daß "nach dass, was, bis [...] die Endung -st unsilbisch [ist], während mit benachbartem Zischlaut keine Neutralisierung zu verzeichnen ist bei den drei homonymen s, denn dann erscheint ein Zentrallaut." Dieses Argument ist nicht stichhaltig, da die Generalisierung empirisch nicht haltbar ist. Bei dem SCL 's (3.Pers.Sg.fem.) tritt z.B. nach dass ebenfalls keine Schwa-Epenthese auf (cf. i), sondern - wie bei 'sd - sogar auch Vokalkürzung, wie der Vergleich mit (ii) zeigt: (i) das's'n gfundn hod (ii) da:s'n SIE gfundn hod Aus den gegebenen Daten läßt sich somit über den Status von 'sd nichts ableiten.

124 Beobachtung den Bestens (1982), daß lexikalische Komplementierer im Deutschen nach [+tense] und [-tense] eingeteilt werden können, nimmt Bayer eine Koindizierungsbeziehung zwischen C° und V/I° sowie - via Kongruenz mit dem finiten Verb - der SubjektsNP an. Ein finites Verb selegiert eine [+tense]-Konjunktion, die Koindizierung wird mit Superskripten notiert (81a). Hinter der Notation steht die Vorstellung, daß das Subjekt nicht nur mit dem finiten Veib kongruiert, sondern ebenso mit der Konjunktion. Während im Standarddeutschen diese Kongruenz auf das Merkmal [+/-tense] beschränkt ist, erstreckt sie sich im Bairischen auch auf [2.Pers.Sg./Pl.] und - zumindest im Niederbairischen - [1. Pers.Pl.]. Bei letzterem drückt sich allerdings die Kongnienz nicht formal aus, da 'ma als Flexiv bei V/End-Sätzen nicht am Verb erscheint (außer in den erwähnten Daten aus dem Bayerischen Wald). Im X-bar-Schema läßt sich Bayers Konzept eines AGRin-COMP-Komplexes als (81b) darstellen. (81a) (81b)

daß1 die Mädchen1 einen Hund haben1 [cp [ c [Ce+AGR]...

Der AGR-Anteil in C° kann nun das Nullsubjekt pro identifizieren und lizensieren, wenn die Kongruenz auch Personen- und Numerus-Merkmale abdeckt. Für Bayer (1984: 31) ist Bairisch eine Sprache mit einem "mixed system" im Sinne Chomskys (1981: 241), da es pro-drop nur partiell zulasse. Bei der 3.Pers.Sg.mask. (cf. 73) besteht die Kongruenz zwischen C° und V°/I° nur bezüglich der Finitheit,50 Personen-, Numerus- und die hier relevanten Genus-Merkmale fallen aber nicht darunter. Daher sind Klitikum und Vollform komplementär verteilt (cf. 73a vs. b) und können nicht gemeinsam erscheinen (73c). In der generativen Grammatik gibt es derzeit zwei grundlegende Möglichkeiten (jeweils mit zahlreichen Varianten), das pro-drop-Phänomen im Bairischen theoretisch zu modellieren. Die eine Möglichkeit, Agreement in COMP selbst zu lokalisieren, hat mit Bayers AGR-in-COMP einen Vertreter. Eine COMP-INFL-Koindizierung nimmt auch Fanselow (1991: 21 lf.) an, auch er beruft sich neben anderem auf die bairischen Daten.51 Eine Variante dieser Theorie haben Haider (1993; 1994) und Frey (1993) entwickelt: das sog. I-Subjekt. Einer ursprünglich auf Rizzi (1982) zurückgehenden Beobachtung folgend stellt Haider (1994: 378ff.) Subjektsklitisierung und pro-drop in Beziehung: Angenommen, es gäbe ein manifestes Subjektsklitikum. Dieses pronominale Element wäre vollständig charakterisiert durch seine Phi-Merkmale, also die Person-Genus-Numerus Matrix. Die Kongruenz-Matrix des I-Elements ist ebenfalls fllr Person und Numerus zu spezifizieren. Die Werte werden vom Subjekt übernommen. Klitisierung des Subjekts führt zu einer Verdopplung der Matrix der Phi-Merkmale an der I-Position. Pro-drop entspräche der Vermeidung der doppelten Realisierung derselben Merkmale. Voraussetzung dafllr aber ist, daß die Sprache syntaktische Klitisierung des Subjekts und eine für Phi-Merkmale morphologisch differenzierte Kon50

51

Es besteht also - eigentlich gesprochen - somit keine Kongruenz. Finitheit und AGR sind distinkte Entitäten in der Theorie. Daher wird bei der Split-INFL-Hypothese auch zwischen den AGR-Phrasen und der Tempus-Phrase unterschieden. Die andere Möglichkeit, COMP-Flexion und/oder Subjektsenklise mittels funktionaler Phrasen (AGRSP o.ä.) zu erklären, bleibt vorerst unberücksichtigt, weil es sich im Grunde nur um technische Varianten handelt, die zur anstehenden Frage keine neuen Aspekte einbringen.

125 gruenz mit dem Element, an das klitisiert wird, aufweist. Rizzis Einschätzung lflßt sich daher wie folgt modifizieren: Pro-drop tritt dann auf, wenn pronominale Subjekte an die Kopfposition des kongruierenden Elements syntaktisch klitisiert sind. Die Beziehung zwischen I und der Subjektsposition ist dann zu präzisieren als die eines an I klitisierten Subjekts und der Position, die seiner Funktion entspricht (Haider 1994: 378).

Die in diesem Sinne definierte und verstandene "Abhängigkeitsbeziehung zwischen I und der Subjektsphrase" nennt Frey (1993: 57) das I-Subjekt. Es ist klar, daß dieses Konzept nur mit Modifikationen für das Bairische gelten kann. Wenn man mit Haider (1994: 379) davon ausgeht, daß "die Klitisierung des Subjekts an die Position des Kongruenzkopfes" das entscheidende Kriterium ist und den Status des AGR-Kopfes für sprachspezifische Variation offen läßt, ergibt sich vielleicht eine Möglichkeit. Angenommen, im Bairischen sei anders als im Italienischen nicht Γ bzw. V°/I°, sondern - etwa im Sinne Bayers (1983-84) - C° der hierfür relevante Kongruenzkopf, an dem die Phi-Merkmale ausbuchstabiert werden. Man könnte dies unter Umständen mit der Tatsache plausibilisieren, daß Bairisch eine V/2-Sprache ist. Da das pronominale Subjekt an C° klitisiert, wäre Haiders Bedingung erfüllt und pro-drop im Bairischen lizensiert. Das Bairische trägt der Tatsache, daß pro-drop eine Strategie zur Vermeidung von clitic-doubling ist (Haider 1994: 381) dadurch Rechnung, daß die pro-drop-Version (82a) den unmarkierten Fall darstellt, dagegen clitic-doubling (82b) nur unter spezifischen Bedingungen (Emphase) erlaubt ist. (82a) (82b)

wenn'sd af Minga kimsd wenn'sd DU af Minga kimsd

Allerdings gibt es einige gravierende Probleme mit dieser Analyse. Nach Haider (1994: 379) ist die Votbedingung für pro-drop die Klitisierung an die Position, "an der die Kongruenzmerkmale realisiert" werden. Die doppelte Ausbuchstabierung der Kongruenz-Matrix soll durch pro-drop ja vermieden werden. Wenn man, wie wir es getan haben, im Bairischen C° als Kongruenzkopf zuläßt und mit Bayer 'sd/ds/ma als Flexive und damit als phonologische Realisierung der Phi-Merkmale, was auch eine Bedingung für pro-drop ist, ansieht, liegt keine Klitisierung mehr vor. Bayer (1983-84: 233) sagt ja explizit: "Bavarian has no 2nd person/Nominative clitics". Haiders Konzept schließt also Bayers Analyse von 'sd/ ds/ma als Flexive aus. COMP-Flexion ist keine Bedingung für pro-drop. Andererseits ist die I-Subjekt-Konzeption in der für das Italienische entwickelten Form nicht mit den bairischen Daten kompatibel, da man unter der Annahme, daß allein Klitisierung pro-drop lizensiert, den Kontrast in (83) nicht erklären kann. (83a) (83b) (83c)

wenn'e (*i) hoamgeh wenn'sd (du) hoamgehst wenn'a (*ea) hoamgeht

Vorausgesetzt wird, daß zum pro-drop-Phänomen, das Haider (1994: 372) als "fakultative Absenz pronominaler Subjekte in der phonetischen Realisierung eines Satzes" bestimmt, umgekehrt auch die mögliche Anwesenheit des pronominalen Subjektes gehört. Dies ist im Bairischen - anders als im Italienischen - die einzige Möglichkeit, empirische Evidenz

126

für das Vorliegen von pro-drop beizubringen. Betrachten wir zunächst den Kontrast zwischen (83b) und (83c). Bei der 2. Pers.Sg. stimmen die Meikmalsmatrizen des Subjekts und des Kongruenzkopfes C° vollständig überein, da beide das Personen- und NumerusMerkmal kodieren. Die 3. Pers.Sg. differenziert morphologisch darüber hinaus auch das Genus-Merkmal, jedoch nur am Klitikum. Da die Kongruenz-Matrix an C° eine Kopie derjenigen in V°/I° darstellt, liegt keine totale Übereinstimmung vor, denn das GenusMerkmal ist in der Veibmorphologie unspezifiziert. Nach Haiders pro-drop-Erklärung wäre auch zu erwarten, daß die 1. Pers.Sg. sich wie die 2. Pers. und nicht - wie tatsächlich - wie die 3.Pers. (cf. 83a vs. b vs. c) verhält, denn das Genus-Merkmal wird weder klitisch/pronominal noch flexivisch am finiten Verb kodiert. Haiders Konzept, entwickelt an und für klitisierende Sprachen des italienischen Typs, ist somit auf klitisierende Sprachen des bairischen Typs nicht übertragbar. Zumindest overte Klitisierung an C° kann im Bairischen keine Bedingung für pro-drop sein, sie verhindert es ganz im Gegenteil. Dies läßt sich ex negativo zeigen, da clitic-doubling ausgeschlossen ist (83a,c). Daß Haiders Konzept nicht für germanische Sprachen wie Bairisch paßt, erklärt sich daraus, daß in romanischen Sprachen an Γ klitisiert wird: "Klitisierung bedeutet, daß die Position, an der ein klitisches Pronomen lizensiert ist, eine Position ist, die an I adjungiert ist" (Haider 1993: 114). Die Subjektsklitisierung ist - wie Haider (1994: 383) selbst betont - zwar der entscheidende Faktor für den romanischen Sprachtyp, in anderen Sprachen gebe es aber unterschiedliche Auslöser. Im Bairischen könnte man vielleicht die COMP-Flexion im Sinne von Bayer als verantwortlich annehmen: Nur wenn ein nicht pronominales, sondern flexivisches Element in C° das leere Subjekt pro identifizieren und damit lizensieren kann, ergibt sich eine grammatische Konstruktion. Da das Flexiv in C° basisgeneriert ist, kann in der Subjektsposition keine Spur sein, sondern nur pro. Andererseits ist Klitisierung, wie überwiegend angenommen wird,32 eine Bewegung, die in der Ausgangsposition eine Spur hinterläßt. Daraus erhellt auch, warum bei Klitisierung kein clitic-doubling möglich ist: Die Spur kann - im Unterschied zu pro - nicht 'phonetisiert' werden. Bei der 2. Pers.Sg. und PI. besteht synchron morphologische Identität zwischen den verbalen Suffixen -sd/ds und den "C°-Flexiven" 'sd/ds. Daß letztere nicht wie die übrigen Klitika über eine phonologische Regel von den entsprechenden Vollformen abgeleitet werden können, wird vielfach - z.B. bei Bayer (1983-84: 232f.) und Harnisch (1989: 284) - als Beleg für ihre kategorielle Distinktheit genommen. Historisch gesehen ist der Bezug zwi-

52

Sola (1994: 220) vertritt die Auffassung, daß jede Subjektsenklise "overt complementizer agreement" sei. Den Unterschied zwischen (i) Westflämisch mit und (ii) Niederländisch ohne clitic-doubling hält er nicht für kritisch für seine These. (i) Kpeinzen da'se zie morgen goat (ii) *Ik denk dat'ze zij komt Sola verweist hierfür auf keltische Sprachen: Das Irische erlaube keine Kookkurrenz overter pronominaler Subjekte und verbaler Kongruenzmorphologie, das Walisische schon. Für das Bayrische, das sich in diesem Punkt 'sowohl als auch' verhält, ist diese Hypothese wenig attraktiv.

127 sehen 'sd und du bzw. 'ds53 und es relativ einfach rekonstruierbar: -sd ist die klitische Fonn zu du, entstanden wie die gleichlautende Personalendung -sd für 2.Pers.Sg. durch eine "Fehlsegmentierung" (Altmann 1984: 200) der Abfolge -s (alte Personalendung) -d (altes Klitikum) in Vl-/V2-Sätzen. Analog ist auch die im Hochdeutschen erhaltene neue Personalendung -st zu erklären: "Entstanden ist die Endung st aus den Formen mit enklitisch angefugtem thu, du, in denen der Dental (th, d) sich dem s assimilierte. Diese Formen finden sich schon sehr früh [im Ahd. ...:] forsahhistu, gilaubistu [...] u.a. Diese Zusammenfügungen gaben Anlaß zu falschen Auflösungen, zu gilaubist thu, lisist thu etc." (Braune/Eggers 1975: 258). Die 'falschen' Flexionsformen traten zunächst nur im Zusammenhang mit nachgestellten pronominalen Subjekten auf: gäbist du vs. thu wissis. Nun ist es mit Sicherheit richtig, daß der historische Zusammenhang von du und 'sd dem heutigen native speaker des Bairischen nicht mehr präsent ist. Doch stellt sich die Frage, ob das tatsächlich der entscheidende Punkt für den flexivischen Status von 'sd ist, der in der Literatur "unstrittig zu sein" (Harnisch 1989: 283) scheint. Das von Bayer (1983-84: 232) konstatierte Phonologie-Problem wäre nur dann einschlägig, wenn Klitisierung erstens auf einen phonologischen Prozeß (z.B. Vokalreduktion oder -abschwächung) zurückführbar wäre, der zweitens synchron auch noch durchsichtig sein müßte. Zumindest die zweite Bedingung kann für das Bairische nicht gelten, da es - im Bereich der Objektsklitika - einen weiteren Fall gibt, bei dem die Beziehimg der Vollform zur entsprechenden klitischen Variante nur mehr historisch rekonstruieibar ist, nämlich die 3. Pers.Sg.mask. im Akkusativ: (84a) (84b) (84c) (84d) (84e)

earn —> η Earn mog'e ned I mog'n ned I heif eam glai *I heifn glei

Die klitische Form 'n geht auf eine ursprüngliche Akkusativ-Form ea(n) zurück (cf. Altmann 1984: 201), die verloren ging und durch die sehr markierte Form eam ersetzt wurde, die identisch ist mit der Dativform (einer allgemeinen Tendenz im Bairischen entsprechend, Akkusativ- und Dativmorphologie im Mask. Sg. gleichzuschalten, cf. Kapitel Π Abschnitt 2.2.1.). Die Beispiele in (84) belegen aber durch die dokumentierte Distribution, daß das Klitikum 'n nur auf das akkusativische eam bezogen werden kann (cf. 84b,c vs. d,e). Wichtig ist in unserem Kontext aber die Tatsache, daß die historische Herleitung des Klitikums aus einer "verschwundenen 'richtigen' Form" (Altmann 1984: 201) dem heutigen Β airischsprechern ebenso wenig zugänglich ist wie der diachrone Zusammenhang von du und 'sd. Eine durchsichtige phonologische Ableitungsbeziehung zur Vollform, die zumindest im Bairischen zu irgendeinem historischen Zeitpunkt für jedes Klitikum bestanden hat, ist synchron also ohne Relevanz: Das Phonologie-Problem ist 53

Für diejenigen (wie mich), deren klitische bzw.flexivischeForm nur 's lautet (wie bei Zehetner 1985: 125 angegeben), besteht das "phonology-problem" (Bayer 1983-84: 323) also nur in der 2. Pers.Sg. Im PI. sind dann verbales Suffix -ds und Klitikum/Flexiv 's nicht mehr identisch, Klitikum und die Vollform es sind dagegen regelmäßig aufeinander beziehbar.

128 somit keines. Damit ist auch die oben genannte erste Bedingung nicht gegeben. Phonologische Ableitbarkeit und Durchsichtigkeit sind zumindest im Bairischen keine durchgängig systematische Eigenschaft der Pronominalklitika. Dies ist von einem anderen Gesichtspunkt aus betrachtet auch zu erwarten, da man für die klitische Form eines Personalpronomens einen eigenen Lexikoneintrag annehmen muß. Zum einen ist das Klitikum die unmarkierte Form, die wesentlich häufiger vorkommt als die Vollform, die ja auf bestimmte Kontexte (z.B. Emphase) beschränkt ist. So ist unter lerntheoretischen Gesichtspunkten davon auszugehen, daß im Spracherwerb zuerst die unmarkierte Form, also das Klitikum, erworben wird und einen Lexikoneintrag erhält. Die Vollform wird auf jeden Fall zeitlich später erworben. Wenn man also eine phonologische oder andere - Ableitungsbeziehung annehmen will, dann wäre die Ableitungsbasis das Klitikum und nicht die Vollform (ein Aspekt, der m.W. noch nie bemerkt wurde). Zum andern ist die Annahme zweier separater - natürlich irgendwie korrelierter - Lexikoneinträge für Klitikum und Vollform auch deswegen plausibel, weil beide distinkten Wortkategorien angehören. Klitika sind, wie erwähnt, Einheiten, die 'prosodisch defizient' sind (Anderson 1992: 200iF.), da sie nicht der Kategorie 'phonologisches Wort' zuzuordnen sind. Dies ist im Lexikoneintrag zusätzlich zu den übrigen Spezifikationen vermerkt.54 Die Vollformen der Personalpronomen sind dagegen phonologische Wörter, denen aufgrund dieser Tatsache syntaktisch ein anderes Verhaltensmuster zukommt Die beiden Aspekte - Unterschiede beim Sprachenverb und im prosodischen Status - zeigen deutlich, daß es nicht eine einfache phonologische Abbildungsbeziehung sein kann, die die klitische und die Vollform miteinander korreliert. Damit verliert aber auch die phonetische Identität zwischen dem Klitikum 'sd und dem Veibalflexiv -sd einiges an Bedeutung. Ein Argument pro COMP-Flexion sind die erwähnten Daten aus dem Bayerischen Wald, die belegen, daß klitische Elemente in die Flexion überwechseln können: (85a) (85b)

wataa bmaid (gemeint) hama (Kollmer ΙΠ, 177) wataa doch zwou kei kod hama (Kollmer ΠΙ, 185)

In dieser regionalen Variante lautet das verbale (Auxiliar-)Suffix systematisch -ma. Es steht zu vermuten, daß die Entstehung über V/2-Sätze (86a) zu erklären ist, in denen klitisches 'ma - zumal in Kombination mit dem Vollpronomen - nicht mehr als solches erkannt und daher als Flexiv rekonstruiert wurde (86b), das dann auch bei V/End-Sätzen erscheint (86c). Man kann sich die Entwicklung schematisch so wie in (86d) vorstellen. (86a) (86b) (86c) (86d) 54

owai/mia ham'ma bmaid mia hama bmaid wataa bmaid hama Klitikum: 'ma -> Flexiv -ma

Ein durchschnittlicher Lexikoneintrag enthält zumindest die phonologische Repräsentation, eine semantische Charakterisierung, Angaben zur Subkategorisierung und - sofern vorhanden - zur Argumentstruktur, cf. Olsen (1986: 8f.)

129 Ein Element, daß als klitisches auf die Wackernagel-Position beschränkt ist, wird als Verbflexiv interpretiert, das nun auch zusammen mit dem finiten Veib in V°/I° lizensiert ist. Man hat hier also einen eindeutigen Beleg für die weitverbreitete Theorie, daß in der Indogermania "Verbflexion aus den pronominalen Formen in der sog. Wackernagelposition entstanden" (Abraham 1995: 517) ist.55 Die Entwicklung eines Klitikums hin zu einem Flexiv ist ein Fall von Grammatikalisierung. In der Sprachwandelforschung haben in vielen Sprachen zu beobachtende Entwicklungen dieser Art zur Erstellung eines Parameters geführt, der die unidirektionale Richtung der Grammatikalisierung angibt (cf. Harris/Campbell 1995: 337):56 (87)

Unidirectional change in grammaticalization UNBOUND WORD > ENCLITIC > INFLECTIONAL AFFIX > DERIVATIONAL AFFIX

Das vorgestellte Bayerwald-Phänomen demonstriert den Schritt vom Klitikum zum flexionalen Affix. Die Entwicklung läßt sich als Reanalyse rekonstruieren. Nach Harris/Campbell (1995: 61-65) ist Reanalyse ein Sprachwandelprozeß, bei dem die Konstituenz, die hierarchische Struktur, die Kategorie, grammatische Relationen und/oder die Kohäsion57 eines Elements einer Veränderung unterzogen werden. Im vorliegenden Fall sind - etwas vereinfacht analysiert - Konstituenz und Kategorie betroffen. Eine komplexe Konstituente [C° + WP] - COMP-Position und rechtsadjazente Wackernagel-Position bilden zumindest prosodisch eine Einheit - wird als einfache, syntaktische Konstituente reanalysiert (cf. 88a vs. b), weil das ursprüngliche Klitikum nun als flexionales Affix kategorisiert wird. Begünstigt mag dieser Umdeutungsprozeß dadurch geworden sein, daß zwischen einem Wort und einem Klitikum bzw. Flexiv der (nahezu) identische Grenztyp besteht, nämlich eine Morphemgrenze.58

55

56 57 58

Cf. Werner (1988: 127ff.), der von "Enklise als Nährboden der Flexion" spricht und ein auf T. Givön zurückgehendes Bonmot zitiert: "Today's morphology is yesterday's syntax" (Werner 1988: 129). Zu gegenläufigen Entwicklungen cf. Harris/Campbell (1995:337f). Harris/Campbell (1995: 64): "Cohesion may be viewed as concerning boundary type: word boundary, morphem boundary, no boundary". Ob zwischen Wort und Klitikum exakt die gleiche Grenze anzunehmen ist wie zwischen Wort und Affix, ist für unsere Fragestellung irrelevant Zumindest auf der pro sodischen Ebene ist das Klitikum ein gebundenes Morphem (cf. Andersen 1992).

130 (88a)

CP



(88b)

WP

I

I

ham

ma

CP

Ce

hama

Der geschilderte Fall belegt allerdings nur die - aus vielen Sprachen bereits bekannte Möglichkeit, daß ein Klitikum in die Klasse der flexionalen Affixe überwechseln kann, und ist daher nur bedingt einschlägig in der Frage der COMP-Flexion. Selbst der phonetische Zusammenfall von klitischem und flexivischem ma gibt in diesem speziellen Fall darüber keinen Aufschluß, da allein aufgrund der Oberflächenrealisation nicht zu entscheiden ist, ob in (89a) ein klitisches oder ein flexivisches ma vorliegt: Im Bairischen Wald sind jedoch Sätze wie (89b) belegt, bei denen zusätzlich zum Flexiv/Klitikum ma das Subjekt erlaubt ist. Diese Möglichkeit der 'Klitikdoppelung' spricht im Sinne Bayers für den flexivischen Status von ma und für die Ansetzung von pro in Sätzen wie (89c). In (89b) läge somit kein echtes clitic-doubling vor, sondern eine Phonetisierung von pro. (89a) (89b) (89c)

wa'ma bmaid hama wej'mar ih und da Gusterl in d'Schui ganga hand (Haller IV,76) wama pro bmaid hama

Anders als 'sd ist 'ma phonologisch regelhaft auf die Vollform mia selbst heute noch beziehbar, so daß nicht auszuschließen ist, daß - gesamtbairisch - wa'ma als [weil wir] und nicht als [weil-l.Pl.] zu analysieren ist. Das Phonologie-Problem, das bei sd synchron existiert, ist bei ma also nicht in derselben Weise gegeben. Auch für die 2.Pers.Pl. ist die Faktenlage nicht ganz so eindeutig wie im Singular, da gesamtbairisch wohl eher von einem problemlos aus es ableitbaren 's als von 'ds auszugehen ist (cf. Zehenter 1985: 125). Zumindest aber im Bayerischen Wald scheint nach den Angaben bei Kollmer 1,451

131 regelhaft'ds bzw. 'tz verwendet zu werden, das dann analog zu sd historisch erklärbar ist. Hier ist die Problemlage dann identisch mit der 2.Pers.Sg. Stellt man die Frage der COMP-Flexion in einen weiteren Kontext, ergeben sich m.E. einige Einwände gegen diese Analyse, die z.T. aber widerlegt werden können. Zunächst ist nicht ganz klar, warum pro nur durch ein Vollpronomen oberflächenrealisiert werden darf, nicht aber - zumindest bei der l.Pers.Pl. - zusätzlich ein Subjektsklitikum erlaubt ist: (90a) (90b)

wemma mia hoamgengan •wemma'ma hoamgengan

Dies hängt offensichtlich damit zusammen, daß Fokus (Emphase) der Lizensierer für die Phonetisierung von pro bzw. für clitic-doubling ist. Damit wäre dann (90b) als ungrammatisch auszuschließen, da ein Klitikum als prosodisch defizientes Element keine Betonung erhalten kann. Dies ist also kein Einwand gegen die pro-drop- Analyse. Ein anderer Einwand ist schwerwiegender. Das syntaktische Szenario, das SCLs und OCLs im Bairischen darbieten, ist insgesamt sehr einheitlich und systematisch strukturiert: Klitika landen in der Wackernagel-Position, in der sie Cluster mit vollkommen invarianter Serialisierung bilden; clitic-doubling ist prinzipiell nicht möglich, weder bei SCLs noch bei OCLs. Ausnahmen davon sind bei SCLs die 2. Pers.Sg. und PI. sowie die 1. Pers.Pl.: (91a) (91b) (91c) (91 d) (91 e) (91 f)

wai'e'da'n geem hob wai'sd'ma'n (du) geem hosd wai'a'da'n geem hod wai'ma'da'n (mia) geem ham(an)d wai'(d)s'ma'n (es) geem hobds wai's'ma'n geem hamd

Für dieses Szenario wäre ein einheitlicher Erklärungsansatz wünschenswert. Die COMPFlexionsanalyse, deren Vorzug ist, daß sie Obligatorik (wensd vs. *wenn du) und cliticdoubling (cf. 91b,d,e) problemlos erklären kann, hebt diese Einheit auf. Es geht von einem klitischen und einemflexivi sehen System aus und läßt die OCLs unberücksichtigt. Um diesem Dilemma zu entgehen, will Harnisch (1989) beide Systeme für alle Personen postulieren. Seine Dialektbasis ist das Ludwigsstädtische (aus der Bavaria thuringica, cf. die Karte in Zehetner 1985: 17). Harnisch nimmt an, daß in jedem einzelnen Fall Flexion und Klitisierung zugleich vorliegen, auch wenn dies nicht immer sichtbar ist. Oberflächenformen wie z.B. dasmer und mia wen analysiert er als (92a) und (92b) (Harnisch 1989: 288):59 (92a)

59

•/das+n#mer/ [dasmmer] [dasmer] [dasmer]

Eingabe Regressive Nasalassimilation Geminatenverschmelzung Ausgabe

"+" markiert die Grenze zwischen Wortstamm und Flexiv, "#" die zum Klitikum.

132 (92b)

*/mi:r wen+n/ [mi:r wen] [mi:r wen]

Eingabe Geminatenverschmelzung Ausgabe

Die Eingabe in (92a) besteht aus der Kette Konjunktion plus Flexiv /n/ plus Klitikum /mer/. Über Assimilation und Verschmelzung ergibt sich daraus die Ausgabe [dasmer]. Bis auf einen Schritt analog ist die Ableitung für [mi:r wen]. Das rekonstruierte Flexiv /n/ ist aus dem Präsens der Modalverben übernommen, deren Flexionsparadigma mit dem Präteritum anderer Veiben übereinstimmt. Insofern ist die Rekonstruktion unter phonetischen Gesichtspunkten durchaus stimmig, auch wenn es dabei keine erkennbaren Oberflächenreflexe gibt. Das sich aus Harnischs (1989: 289) Rekonstruktion ergebende vollständige Paradigma ist in (93) angegeben: (93) SG. PL.

Verb'sollen' l.sul+0 2.sul+sd 3.sul+0 l.sul+n 2.sul+d 3.sul+n

COMP "weil' wail+0 wail+sd wail+0 wail+n wail+d wail+n

PRON-Enklitikum #ix #de #er #mer #er #se

Wie Harnisch (1989: 289) selbst bemerkt, ist das System zwar vollständig rekonstruieibar, die sieht- bzw. höibare "Flexion der Konjunktionen und anderer Nebensatzeinleiter [ist] dennoch sehr stark eine Sache der 2.PERS. [...]. Zum einen wird sie bei anderen Personen nicht hörbar, sei es, weil es sich dort um /0/-Suffixe handelt (1./3.SG), sei es, weil das Suffix (/n/) immer assimiliert wird (l.PL)." Damit wird die ganze Sache aber spekulativ bzw. theorieinduziert, mag aber für das Ludwigsstädtische vielleicht durchaus angemessen sein.60 Harnisch (1989: 288) gibt selbst zu, daß "dessen Existenz von der phonetischen Realisation her allerdings nicht zu beweisen (aber auch nicht zu widerlegen) ist." Als Erklärung für die gesamtbairischen Gegebenheiten scheint es mir daher sehr unplausibel. Die Bayersche Lösung, nur bei sichtbaren Reflexen von Flexion auszugehen, ist dem vorzuziehen. Auch kann Harnisch mit seinem System die clitic-doubling-Phänomene bzw. deren Beschränkung auf bestimmte Personen nicht erfassen. Seine Erklärung bietet keine Möglichkeit, ohne Zusatzannahmen (pragmatischer Natur z.B.) den Datenkontrast in (94) korrekt vorauszusagen: (94a) (94b)

60

wen'e (*i) hoamgeh wen'sd (du) hoamgehsd

Im Ludwigsstädtischen gibt es zumindest einen (?) empirischen Hinweis auf COMP-Flexion außerhalb der notorischen 2.Pers. (cf. i) (i) das+n#ere six abgsedsd xa+n (ii) daß+3.Pl.#ihrer [=welche] sich abgesetzt haben Allerdings läßt sich m.E. das η auch als epenthetisch erklären, vgl. (iii) (iii) si seng'w'an (Zehetner 1985:128)

133 Als Alternative zur Bayerschen Analyse bietet sich nur an, ein einheitliches Klitiksystem anzunehmen, das den Vorteil bietet, SCLs syntaktisch einheitlich mit den OCLs zu behandeln. Da, wie oben erläutert, das Phonologieproblem nicht relevant ist bei der Entscheidung über den kategoriellen Status von 'sd/ds, bleibt als kritisch allein das Syntaxproblem, d.h. die Klitikdoppelung bei der 2. Pers.Sg. und PI. sowie der 1. Pers.Pl., die in dieser Sichtweise echtes clitic-doubling ist. Die Datenlage im Bairischen wäre nach dieser Theorie vergleichbar mit bestimmten norditalienischen Dialekten wie Florentinisch (F) und Trientinisch (T) (cf. Haider 1994: 381), in denen overt klitisierte pronominale Subjekte durch ein Vollpronomen oder eine NP gedoppelt werden können. (95a) (95b) (95c) (95d)

(El Mario) el parla (T) (Ti) te parli (T) (Mario) e parla (F) (Te) tu parli (F)

Haider (1994: 381) sieht in diesem Phänomen eine Vorstufe, das "missing link zwischen Klitisierung mit und ohne pro-drop". Die Klitika sind in diesen Dialekten obligatorisch präsent. Die zugrundeliegende Logik von Haiders Vorschlag ist, daß - im Italienischen die overte Klitisierung sich zu einer "phonetisch stummen" (Haider 1994: 382) weiter entwickelt hat. Das 'Ausbleiben der Doppelung' äußert sich in Sprachen mit stummer Klitisierung dann als pro-drop. Die Entwicklung ist in (96) hypothetisch skizziert: Das overte Klitikum, das fakultativ gedoppelt werden kann (96a), wird phonetisch stumm, so daß wenn kein clitic-doubling vorliegt (96c) - eine pro-drop-Konstruktion (96b) entsteht. (96a) (96b) (96c)

(El Mario) el parla pro parla El Mario parla

Im Bairischen ist die Datenlage etwas anders. Zum einen ist die Möglichkeit des cliticdoubling auf die mehrfach erwähnten Personen eingeschränkt. Außerdem ist nur bei der 2. Pers.Sg./Pl. feststellbar, daß die Klitisierung obligatorisch ist. Dieses gesplittete System macht es für alle Ansätze notwendig, Zusatzannahmen zu machen.61

4.2.7. Einige weitere Erscheinungen Zum Abschluß des deskriptiven Teils sollen noch zwei Phänomene erwähnt werden, die offensichtlich mit der Klitisierung zusammenhängen, auch wenn nicht klar ist, wie der Zusammenhang theoretisch zu erklären ist. Zum einen handelt es sich, worauf Jacobs (1991a: 32f., 38f.) hingewiesen hat, um that-trace-Effokte, die durch Klitisierung eliminiert werden können. So ist für Jacobs (1991a: 38f.) (97b) "schlechter" als (97a), was ich 61

Auch für Bayers Erklärung gilt dies, da er ja zwei Systeme annimmt. In Weiß (1998c) habe ich versucht, Bayers Flexionsanalyse via Haiders Theorie in eine typologisch tragfähige Hypothese auszubauen, in der das gesplittete System des Bairischen eine einheitliche Erklärung findet.

134 bestätigen kann. Jacobs vermutet, daß (Subjekts-)Klitisierung analog zu den morphologisch inkorporierten Subjekten in pro-drop-Sprachen die "Subjektsvalenz" (1991a: 38) schluckt, so daß das Subjekt als "syntaktische Konstituente [...] nicht vorhanden" (1991a: 31) ist. Dies gilt im Bairischen nicht nur für die notorische, der COMP-Flexion verdächtige 2. Person, sondern z.B. auch, wie (97c) zeigt, für die 3. Person, für die selbst eine prodrop-Theorie wie die von Bayer keinen Flexionsstatus reklamiert. Das Phänomen ist also keine Evidenz für die eine oder andere Auffassung. (97a) (97b) (97c)

wea sogsd das earn ghoifm hod wea harn damals d"Laid gsogd das earn ghoifm hod wea sogd'a das earn ghoifa hod

In GB-Terminologie übersetzt, könnte man sagen, daß in (97a) die Bewegung des whWorts weniger lang ist als in (97b). Theoretisch ist allerdings unklar, warum das so ist, denn strukturell sind beide Sätze gleich komplex (sieht man einmal in (97b) vom Temporaladverb ab). Die Sätze (97c) und (97b) haben die Strukturen (98a) und (98b): (98a) (98b)

[ c p wea; [ c , s o g d ^ [ w t^ tj [ c p [ c das [yp t; earn ghoifa hod]... [ c p wea; [ c ham [yp d"Leid gsogd t'j [ c das [yp t; eam ghoifa hod]...

Wie deutlich erkennbar, haben die Strukturen dieselbe Komplexität, so daß beidesmal lange Bewegung vorliegt, die theoretisch keine Schwierigkeiten bietet, da im Bairischen selbst bei phonetischer Füllung von C° mit daß der Specifier der eingebetteten CP als Zwischenlandeplatz fungieren kann. Eine mögliche Analyse wäre anzunehmen, daß Spuren, die bei Klitisierung entstehen, getilgt werden. Doch würde das vermutlich nur weitere theoretische Probleme (z.B. Theta- und Kasuszuweisung) mit sich bringen, nicht aber das anstehende Problem lösen, da sich dadurch die strukturelle Komplexität nicht reduzieren läßt. Spurentilgung ist nicht Knotentilgung, die es in der benötigten Form in der Theorie auch nicht gibt. Selbst die Ansetzung von pro, wie in der GB beim pro-drop-Phänomen üblich, bietet hier keinen Ausweg, da pro eine syntaktische Konstituente ist. Im Sinne von Jacobs müßte man auch eher an Basisgenerierung des SCLs am finiten Verb denken, da er pro-drop im Italienischen als "Fehlen einer offenen Subjektsstelle" (Jacobs 1991a: 31) rekonstruiert und für die bairischen Beispiele eine parallele Erklärung heranzieht (cf. Jacobs 1991a: 38f.). Für diese Analyse sieht allerdings bei Klitisierung die GB-Theorie keine Möglichkeit vor. Die derzeitige Standardannahme findet sich z.B. in Chomsky (1994: 16): "Under the DP hypothesis, clitics are D's. Assume further that a clitic raises from its theta-position and attaches to an inflectional head. In its thetaposition, the clitic is an XP; attachment to a head requires that it be an X°". Aus Thetaund Kasus-theoretischen Gründen ist eine Basisgenerierung in der Wackernagel-Position bei Klitisierung ausgeschlossen. Man muß außerdem berücksichtigen, daß nicht nur SCLs, sondern auch OCLs in die WP klitisieren, so daß für sie, die Jacobsche Analyse von Klitisierung als morphologische 'Basis'-Inkorporation vorausgesetzt, ebenfalls eine Parallelität zu pro-drop postuliert werden müßte. Da pro-drop aber wesentlich mit Kongruenz zusammenhängt (cf. Haider 1994) und Objektkongnienz für germanische Sprachen zu-

135 recht verworfen wurde (z.B. Grewendorf 1990: 66), ist diese Analyse aus GB-theoretischer Sicht wenig attraktiv. Das Problem ist in der generativen Theorie ja nicht zu erklären, warum (97a,c) korrekt sind, sondern warum (97b) weniger akzeptabel ist. Wie an (98b) ersichtlich, liegt kein Verstoß gegen ein grammatisches Prinzip vor, da [SpecCP] als Landeposition für die Zwischenspur zugänglich ist. Die Daten sind auch nicht, wie man auf den ersten Blick vielleicht vermuten könnte, ein Beleg für eine Subjekt-Objekt-Asymmetrie, da sich ganz ähnliche Akzeptabilitätsunterschiede selbst bei wh-extrahierten Objekten eruieren lassen (cf. 99a-e). (99a) (99b) (99c) (99d) (99e)

wem sogd'a das'a ghoifa hod wem sogd da Sepp das'a ghoifa hod ?wem sogd da Sepp, das da Franz ghoifa hod ??wem hod da Sepp gsogd das'a ghoifa hod ??wem hod da Sepp gsogd das da Franz ghoifa hod

(99a-e) lassen sich zwar als Holzwegsätze analysieren, da sich das wh-Wort wem auch als 10 zum Matrixveib sagen interpretieren läßt. Dies spielt aber bei der Lösung des von Jacobs aufgestellten Problems keine Rolle, weil damit nicht geklärt werden kann, warum (99a,b) akzeptabel sind, die übrigen Sätze in NP eine elegante und sehr naheliegende Erklärung bietet. Da Personalpronomen "short single-word items" (Hawkins 1991-92: 209) sind, gehen sie im Deutschen NPs voran, die - von Eigennamen und bare plurals abgesehen - in der Regel mehr als ein Wort umfassen, so daß die Abfolge [Pron NP] in der überwiegenden Zahl der Fälle ein besseres "Konstituenten-zu-Wörter-Verhältnis' ergibt als die alternative Abfolge [NP Pron] (cf. Hawkins 1991-92: 212). Man vergleiche hierzu die Beispiele in (148): Die grammatisch korrekte Reihung Subj > Obj. in (148a) ist gegenüber der inversen Abfolge in (148b) weniger bevorzugt, da Pron > NP ein optimaleres 'Konstituenten-zu-Wörter-Verhältnis' aufweist (wovon sich der Leser ohne Probleme selbst überzeugen kann): (148a) (148b) (148c) (148d)

Bis jetzt haben alle Männer mich geschwächt Bis jetzt haben mich alle Männer geschwächt Bis jetzt hat er mich geschwächt 'Bis jetzt hat mich er geschwächt

Bei Optimalitätsunterschieden setzt sich - relativ ungeachtet grammatischer Regeln diejenige Konstruktion durch, die einen besseren Durschnittswert hat. Nur bei identischen Werten wie in (148c,d) bestimmt allein die Grammatik die Wortfolge, nach der das Deutsche eine SOV-Sprache ist. Ein Satz wie (148b), der gegenüber (148a) eindeutig die unmarkierte Konstruktion darstellt, zeigt, daß Aspekte der Performanz bzw. des Parsens grammatische Regeln überschreiben (und somit die Kompetenz formen) können. Im Lichte von Hawkins Performanztheorie läßt sich auch Wackernagels Gesetz (KlitikZweit) einer einigermaßen plausiblen Rekonstruktion zuführen. Wie an den Daten in (148) zu sehen, können durch Performanzerfordernisse erzwungene Abfolgen grammati-

164

kalisiert werden. M.a.W. daß Pronomen vollen NPs vorausgehen, ist Bestandteil der Grammatik des Deutschen. Aus Performanzgründen plausibel ist desweiteren, daß Klitika wiederum Pronomen vorausgehen (siehe LIPOC), da die ersteren in der Regel eine morphologisch und phonologisch weniger komplexe Struktur aufweisen, so daß diese Abfolge ebenfalls Resultat des 'Konstituenten-zu-Wörter-Verhältnisses' ist. Hawkins (1991-92: 217, Anm. 6) erklärt nämlich die Präferenz akkusativischer Pronomina vor dativischen im Deutschen mit der geringeren Komplexität der ersteren "in terms of numbers of consonants, vowels and syllable length". Das Längen-Kriterium berechnet also nicht nur die Anzahl der Wörter pro Konstituente, sondern auch die Anzahl der Phoneme pro Wort. Wenn man dieses Argument auf das Verhältnis von Klitika zu Pronomen überträgt, erklärt sich damit die syntaktische Grammatikalisierung der Klitisierung. Daß schließlich Klitika, obwohl sie im Sinne von Hawkins die 'leichtesten' Elemente sind, nicht wie erwartet die erste Position im Satz einnehmen, kann auf ihre prosodische Defizienz und enklitische Natur zurückgeführt werden. Da sie aufgrund ihrer prosodischen Eigenart eine Trägerkategorie benötigen, die links von ihnen positioniert ist, ergibt sich das Klitik-ZweitPhänomen, das als Wackernagel-Gesetz bekannt ist. Die hier entwickelte Erklärung der Klitisierung anhand von Hawkins Theorie kann erstens nur Geltung für das Bairische (bzw. verwandte Dialekte/Sprachen wie das Alemannische, cf. Nübling 1992) beanspruchen. Wenn man nochmals das aus Anderson (1993: 83) zitierte Beispiel aus dem Ngiyambaa (cf. 149) heranzieht, wird klar, daß bestimmte grammatische Regularitäten gegen das 'Konstituenten-zu-Wörter-Verhältnis' resistent sind: (149)

wara:y -gara -dhu -na schlecht-offensichtlich -l.Pers.Nom. -3.Pers.Abs. Ich habe es offenbar schlecht [gemacht]'

In (149) geht die klitische Partikel -gara 'offensichtlich' den pronominalen Klitika voraus, obwohl es morphologisch-phonologisch komplexer ist. Somit ist anzunehmen, daß zumindest innerhalb einer einheitlichen Klasse - hier der Klitika - spezielle grammatische Serialisierungsvorschriften existieren, die nicht im Sinne von Hawkins überschrieben werden können. Auch im Bairischen gibt es mit der Cluster-Bildung der Klitika (Nom > Dat > Akk) ein Phänomen, das systematisch der Hawkinschen Erklärung widersteht. Die dativischen Pronominalklitika sind durchgehend 'schwerer* als die akkusativischen, wenn man die nicht unplausible Annahme macht, daß Schwa der reduzierteste Vokal ist: ma vs. me / da vs. de. Zudem sind die akkusativischen Klitika 'n und 's gegenüber den dativischen 'malda eindeutig kürzer, da sie nicht-silbisch sind. Hawkins müßte hier die Voraussage machen, daß Akk > Dat präferiert sei gegenüber Dat > Akk. Doch dem ist, wie in Abschnitt 2.1. gezeigt wurde, empirisch nicht so. Das Cluster ist ein Spiegelbild der Basisabfolge der Argumente in der VP. Auch die strikte Abfolgebeschränkung S/OCL > CMP vs. *CMP > S/OCL im Bairischen folgt nicht unmittelbar aus Hawkins Theorie. Dagegen kann damit zweitens die Dat-Akk-Inversion erklärt werden. Wie in Abschnitt 2.1. dargelegt, gilt bei klitischen (wie nominalen) Objekten die Abfolge Dat > Akk (cf. 150a), die sich bei nicht-klitischem IO in Akk > Dat umkehrt (cf. 150b):

165 (150a) (1 SOb)

das'a'ma'n geem hod das'a'n earn geem hod

Aufgrund des 'Konstituenten-zu-Wörter-Verhältnisses' ist die Dat-Akk-Inversion korrekt vorausgesagt. In der hier entwickelten Theorie der Klitisierung ist - anders als in bestehenden - nicht ein einziger Faktor, sei dieser nun syntaktischer oder prosodischer Natur, für den Klitisierungsmechanismus verantwortlich. Insbesondere stützt sich meine Erklärung auf drei unabhängige Faktoren: (1) (2) (3)

Die DRT erklärt, warum Pronomen nicht VP-intera verbleiben können Aus Hawkins Theorie folgt CL > Pron > NP Klitik-Zweit ist das Resultat der prosodischen Eigenschaft enklitischer Elemente

Ich lasse hier offen, ob die Klitisierung nicht letztlich ein (grammatikalisiertes) Epiphänomen aus den Faktoren (1) und (2) ist. Verneint man diese Möglichkeit jedoch, könnte aus (3) womöglich eine zu Anderson (1993) alternative Erklärung für die Genese des V/2Phänomens im Deutschen abgeleitet werden (ähnlich wie dies Wilder und Cavar in ihren Arbeiten für das Serbokroatische versucht haben): Die Bewegung des Finitums wäre danach erzwungen, weil die Klitika ein Trägerelement benötigen. Dies gilt für Hauptsätze, in Nebensätzen unterbleibt die Bewegung, da mit der Konjunktion bereits eine Trägerkategorie vorhanden ist. Man muß sich nur vor Augen halten, daß sog. Stirnsätze (V/lAussagesätze) im Dialekt eine prominente Rolle spielen (cf. Patocka 1989), dann erscheint einem diese Möglichkeit nicht mehr so unplausibel. Doch diese Spekulation soll aus Platzgründen nicht weiter verfolgt werden. Die Überschrift dieses Abschnitts versprach eine minimalistische Analyse der Klitisierung. Als minimalistisch, wenn auch nur partiell im Rahmen Chomskys (1995), verstehe ich sie durchaus, da sie ökonomisch in dem Sinne ist, daß sie fast ausschließlich auf Annahmen beruht, die unabhängig motiviert sind. Allein die Annahme eines prosodischen Subkategorisierungsrahmens ist klitikspezifisch, doch kann dieser vielleicht als Epiphänomen aus (2) erklärt werden.

Nachschrift Erst nach Abschluß dieses Kapitels ist Abraham (1996) erschienen. In dieser Untersuchung entwickelt Abraham eine Theorie der Klitisierung, die der von mir entworfenen in vielen Punkten durchaus ähnelt, obwohl er z.T. mit einer anderen Begrifflichkeit arbeitet. Allerdings ist der Rahmen seiner Arbeit typologisch weiter gesteckt, da er auch Sprachen vom Typ SVO (z.B. Romanisch) und VSO (Keltisch u.a.) mit einbezieht. Bei allen Unterschieden im Detail haben beide Theorien einen gemeinsamen Ausgangspunkt, insofern sie als Auslöser der Pronomenbewegung und im speziellen der Klitisierung den diskursfunktionalen Wert der Pronomen annehmen. Während ich dies im

166 Rahmen der DRT zu plausibilisieren versuchte, indem ich Pronomen als gebundene Variablen analysierte, arbeitet Abraham (1996) mit der Thema-Rhema-Gliederung. Letztlich gehen wir beide aber davon aus, daß ihre hochthematische Natur Pronomen aus der VP heraus zwingt, sei diese nun als Thematischer Bereich konzipiert, oder als Bereich des existentiellen Abschlusses. Beide Bestimmungen widersprechen sich nicht prinzipiell, auch wenn mir persönlich die DRT als die präzisere Theorie erscheint (so auch Haider 1993: 230). Gemeinsamkeit besteht daher und wesentlich in dem Bemühen, "einen tieferen Grund vermuten [zu] wollen, als der bloße verallgemeinerte Beschreibungsprozeß auf der Grundlage einer rein formal begründeten Landeplatzproliferation herzugeben vermag" (Abraham 1996: 467, Anm. 19). Gerade in jüngster Zeit sind zahlreiche Arbeiten erschienen, welche die Klitisierung in der von Abraham und mir kritisierten Weise behandeln. In Weiß (1998c) habe ich den Nachweis zu führen versucht, warum diese rein syntaktischen Ansätze zu kurz greifen und nur ein syntaktisch-pragmatisches Herangehen Erfolg verspricht.

IV. Negationssyntax: Die Doppelnegation im Bairischen

V: Haben Sie kein Geld auch nicht? B: Nein. V: Wenn's kein Geld nicht haben, dann haben Sie ja eins! (K. Valentin, S. 265)

1. Exposition Das voiangestellte Zitat des genialen Münchner Komikers Karl Valentin verdeutlicht auf unnachahmliche Weise die Problematik, die uns in diesem Kapitel beschäftigen wird. Die Problematik läßt sich grob in zwei Hauptprobleme einteilen: das logische und das empirische Problem. Das logische Problem erhellt, wenn man einen gängigen bairischen Satz wie (la) etwas vereinfacht in seine prädikatenlogische Form (lb) überträgt.1 Diese ist, gemäß dem prädikatenlogisch wahren Satz -> 3x -> F(x) = Vx F(x) (cf. Kutschera/ Breitkopf 1971: 81), äquivalent mit (lc), die ins Standarddeutsche rückübersetzt wie (ld) lautet: (la) (lb) (1 c) (1 d) (le) (lf)

koa Mensch is ned kema -i 3 χ (Menschen(x) Λ -ι ist gekommen(x)) V x(Menschen(x) ist gekommen(x)) Alle Menschen kamen Niemand kam koa Mensch is kema

(la) und (ld) sind aber konträr, denn im Bairischen heben sich die beiden Negationen eben nicht auf (im Standarddeutschen wäre die zu (la) äquivalente Aussage (le)). Es ergibt sich dadurch die Situation, daß der Satz (la) nicht die Verneinung des Satzes (le) ist, sondern beide synonym sind und den identischen Wahrheitswert haben. Eine Sprache wie Bairisch entspricht damit - zumindest in einem Bereich, und zwar einem, der nicht auf Idiomatisierungen beruht - nicht dem Kompositions- bzw. Fregeprinzip (2a) (nach Grewendorf/Hamm/Sternefeld 19S8: 318). Es befolgt somit nicht das sog. Gesetz der doppelten Verneinung (2b) (nach Kutschera/Breitkopf 1971: 20): (2a) (2b)

1

Die Bedeutung eines Satzes (= seine Wahrheitsbedingungen) läßt sich aus den Bedeutungen seiner Teilausdrücke ermitteln. Doppelte Verneinung ist Bejahung, oder genauer: Ein doppelt verneinter Satz —ι—iA hat denselben Wahrheitswert wie der unvemeinte Satz A.

Auf Technikalia wie die Zerlegung von kein in Existenzoperator und Negation wird später ausführlicher eingegangen, vgl. auch GDG (1981: 660), Grewendorf/Hamm/Stemefeld (1988: 359), Schwaiz/Chur (1993:146f.).

168 Im Bairischen existiert zumindest eine Teilklasse von Ausdrücken, die dem Fregeprinzip nicht Genüge leistet. Diese Ausdrücke zeichnen sich dadurch aus, daß sie neben der Standardnegation zusätzlich (mindestens) einen inhärent negativen Quantor bzw. zwei inhärent negative Quantoren (zur Begrifflichkeit s.u.) enthalten. Nach Jacobs (1991b: 595) handelt es sich dabei um eine "kaum jemals in der Literatur diskutierte Herausforderung für eine kompositionale Semantik". Dies ist ein äußerst unbefriedigender Befund, der einer Erklärung bedarf. Ob diese Erklärung syntaktischer, semantischer oder anderer Natur sein wird oder ob keine möglich ist, wird sich im Verlauf der Untersuchung zeigen. Das empirische Problem besteht darin, daß die Datenerhebung in diesem Bereich notwendigerweise problematischer ist als z.B. bei Infinitivkonstruktionen. In der generativen Grammatik haben sich als 'Meßverfahren' Grammatikalitätsurteile von native speakers eingebürgert, deren Kompetenz sozusagen die Meßlatte bildet. Aus dem Valentin-Zitat wird deutlich, daß sich Bairisch-Sprecher der 'doppelten' Negation im Normalfall bewußt sind bzw. sein können. Wenn vielleicht auch nicht unmittelbar bei der Produktion oder Rezeption, so doch mit Sicherheit auf sekundären Ebenen der Sprachveraibeitung, zu denen auch die Grammatikalitätsurteile gehören (sie sind natürlich eine reichlich artifizielle 'Sprachverarbeitung'). Bei Mehrfachnegation liegt das Hauptproblem - informell gesprochen - in der erschwerten Verarbeitung, die dann zu einem Kollaps (der intendierten singulären Negation) führt, wenn die semantische Analyse beide Negationen separat verrechnet. Dieser Sachverhalt ist im Valentin-Zitat in einem Sprachspiel wiedergegeben, wodurch deutlich wird, daß auch semantisch verarbeitet werden kann. Man muß sich hier auch vor Augen halten, daß im Bairischen die doppelte Negation in bestimmten, wenig komplexen Konstruktionen nicht obligatorisch, sondern nur fakultativ ist, so daß einfache Sätze wie (4a) und (4b) logisch äquivalent (sofern man die spezifischen, noch zu diskutierenden Verwendungsbedingungen außer acht läßt) und syntaktisch möglich sind: (3a) (3b) (3c)

V: Haben Sie kein Geld auch nicht? B: Nein. V: Wenn's kein Geld nicht haben, dann haben Sie ja eins!

(4a) (4b)

Koa Mensch is ned kema Koa Mensch is kema

Bei der Bewertung von Beispielsätzen, ob sie also grammatisch akzeptabel sind oder nicht, ist dies zu berücksichtigen. Bei meiner Informantenbefragung hat sich z.B. ein Kontrast wie der zwischen (5a) und (5b) ergeben, der sich - wie später gezeigt wird - syntaktisch erklären läßt. Da die Beurteilung nahezu einheitlich ist, ist der Fall unproblematisch. Dagegen konnte bei einem Satz wie (5c) keine einheitliche Bewertung ermittelt werden. 5 Informanten fanden den Satz akzeptabel, 4 unakzeptabel. Nach der in der generativen Grammatik entwickelten und für das Bairische in Teilen übernommenen Negationstheorie (s. 4.3.-4.4.) ist (5c) jedoch grammatisch. (5a)

Der Schwachsinn is koam Menschen ned afgfoin

169 (5b) (5c)

??/*Koam Menschn is der Schwachsinn ned afgfoin daß da Lehrer koam Schüla koan Vawais geem hod

Da die Negation, in den Worten von Dahl (1993: 915), "within the fuzzy borderline area between syntax, semantics, and pragmatics" liegt, ist ein sorgfältiger Umgang mit den Daten angebracht. Für eine (sehr kritische) Diskussion des Chomskyschen Intuitivismus sei an dieser Stelle lediglich auf Jäger (1993: 250-253) verwiesen.

2. Diachronie und Jespersens Zyklus

Typologisch gesehen stellt das Bairische in der Negationssyntax in keiner Hinsicht einen Sonderfall dar. Es läßt sich zeigen, daß analoge Gegebenheiten in zahlreichen Sprachen zu beobachten sind (Bernini/Ramat 1996; Haspelmath 1997). Eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung scheint das Vorhandensein sog. inhärent negativer Quantoren zu sein (Kiparsky 1975: 263f.). Darunter versteht man natürlichsprachliche, lexikalisierte Ausdrücke, die logisch als Negation des Existenzquantors analysiert werden können (cf. Payne 1985: 205). So kann z.B. der Ausdruck kein so aufgefaßt werden, als bestünde er aus den zwei Bestandteilen nicht und ein, was sich logisch als Verneinung des Existenzquantors darstellen läßt. Die Verbindung inhärent negativer Quantoren bzw. anderer negativer Ausdrücke (s.u.) mit der Satznegation, ohne daß beide Negationselemente sich gegenseitig aufheben, soll im folgenden als doppelte Negation bezeichnet werden. Doppelte Negation vom bairischen Typus meint also immer Fälle wie (6a) in der Bedeutung von (6b). (6a) (6b)

Koa Mensch is ned kema Koa Mensch is kema

Davon zu unterscheiden ist auf der synchronen Ebene die Negation nach dem französischen Typus ne ... pas, die formal zwar ebenfalls doppelt, syntaktisch und semantisch aber von grundlegend anderer Natur ist. Während im Bairischen - informell gesprochen zwei Satzglieder negiert werden - in (6a) ist es das Subjekt und das Prädikat/Verb -, liegt im Französischen eine singuläre Negation vor, die lediglich diskontinuierlich realisiert wird (7): (7)

je ne dis pas

Die beiden Negationstypen haben diachron zahlreiche Gemeinsamkeiten. Einem als "Jespersens Zyklus" bekannten Schema zufolge (cf. Grewendorf 1990: 83f.; Dahl 1993: 917) entwickelt sich die Negation in vielen Sprachen zyklisch:

170 Eine negative Partikel wird aufgrund von Abschwächung unzureichend und daher durch ein zusätzliches Wort verstärkt, das schließlich als die eigentliche Negation aufgefaßt wird (Grewendorf 1990: 84). Als Illustration gilt die Entwicklung der französischen Negation, die ans lateinischer Basis (8a), entstehend im Altfranzösischen, eine einfache klitische Negation ne aufwies (8b), zu der als verstärkendes Element pas hinzukam (8c), das inzwischen im modernen gesprochenen Französisch die einzige Negation darstellt (8d): (8a) (8b) (8c) (8d)

non dico (Latein) jeo ne di (Altfranzösisch) je ne dis pas (modernes literarisches Französisch) je dis pas (modernes Umgangsfranzösisch)

Eine analoge Entwicklung hat auch im Deutschen stattgefunden (Qian 1987: 293-301; Grewendorf 1990: 86). Im Ahd. herrschte zunächst Einfachnegation2 vor: Die Partikel ni diente als Satznegation und wurde proklitisch zum finiten Verb realisiert (Dal 1966: 163; Labrum 1982: 203-218 u.a.). Es gab aber bereits im Ahd. eine ganze Palette von Möglichkeiten für die Satznegation.3 So konnte wie noch heute im Bairischen ein inhärent negierter Quantor wie neoman 'niemand' oder niuuiht 'nichts' zusammen mit dem negierten Verb im selben Satz auftreten (9b,c), ohne daß sie sich aufhoben.4 Bei Veibendstellung konnte das Negativklitikum fehlen (9d); außerdem war es möglich, ein negiertes Veib mit nicht negierten Quantoren zu kombinieren (9e). (9a) (9b) (9c) (9d) (9e)

ni ward in sun (Tatian) dar nist neoman siuch (Muspilli) Do där niuuiht ni uuas (Wessobranner Schöpfiingsgedicht) tho si niwiht fuartin (Otfried) theiz iaman thoh ni wunto (Otfried)

Im Ahd. gab es auch noch Quantoren (dehein, thehein), die wie das engl, anything nur in nicht-affirmativen Kontexten auftreten konnten (in der Terminologie von Dahl (1993: 919): "quantifiers marked for non-affirmativity"). Bereits im späten Ahd. "beginnt nieht auch schon als einfache Negation 'nicht' aufzutreten" (Braune/Eggers 1975: 251). Ursprünglich war nicht ein "Akkusativ der Modalität

2 3

4

In der Germanistik sind filr Einfach- und Mehrfachnegation auch die Bezeichnungen Mononegativität' und Polynegativität' in Gebrauch (Pensei 1976, Qian 1987). Leider erst nach Abschluß des Kapitels ist Donhauser (1996) erschienen. Auch sie verweist darauf, daß die Mehrfachnegation in der Geschichte des Deutschen kein Übergangsstadium war, sondern sich konsistent bis ins Ahd. zurückverfolgen lasse und daß Mononegativität nur in der Standardvarietät des modernen geschriebenen Deutsch vorliege. Sie kommt damit in diesen beiden, für meine Argumentation zentralen Punkten zum selben Ergebnis wie ich. Darüber hat sich schon Otfried Gedanken gemacht: "Femer drücken zwei negative Worte im Lateinischen eine Bejahung des Satzes aus, im Gebrauch des Fränkischen verneinen sie fast immer. Und wenn ich dies auch zuweilen hätte vermeiden können, so habe ich mich doch mit Rücksicht auf den täglichen Sprachgebrauch beim Schreiben der gewöhnlichen Rede anschließen wollen" (in Übersetzung zitiert nach Mettke 1976: 203f.)

171 (adverbieller Akkusativ): "in keiner Weise" [...], welcher verstärkend zu dem einfachen ne hinzutreten konnte" (Paul/Moser/SchrÖbler/Grosse 1982: 413). Im 10./11. Jahrhundert hat sich vorübergehend aber das polynegative System fast vollständig5 durchgesetzt: Die Standardnegation im Mhd. ist ne/en... ni(e)ht, also der französische Typus (10a). Daneben existieren aber die verschiedenen Formen der Doppelnegation weiter, wobei das enklitische ne zunehmend entbehrlich wird, zumal im Nebensatz, wenn der negierte Quantor dem Verb vorangeht: (10a) (10b) (10c)

Nu enloufet ez die lenge niht (Tristan, 275) Daz es kein edele heize enbirt (Tristan, 117) swem nie von liebe leit geschach (Tristan, 204)

Im frühen 16. Jahrhundert finden sich nur noch letzte Spuren des Gebrauchs von en. In der frnhd. Zeit ist die Standardnegation singuläres nicht, wobei die Stellung weitgehend bereits dem heutigen Gebrauch entspricht (IIa). Nach Pensei (1976), Qian (1987: 294ff.) und Ebert/Reichmann/Solms/Wegera (1993: 427f.) gab es aber selbst in diesem 'mononegativen1 Zeitraum sämtliche seit dem Ahd. belegten Möglichkeiten der doppelten Negation (llb-d, alle Beispiele nach Qian 1987: 295), so daß in dieser Hinsicht Kontinuität im Negationssystem des Deutschen besteht. (IIa) (IIb) (11c) (11 d)

sie verstehen und lesen schrift nit da dorste lange nemant nicht spreken die mochtens nie nicht gewenet haben im ist ouch nit zu geben kein artzney

Diese letzteren Möglichkeiten sind aus dem Standarddeutschen inzwischen verschwunden. Zahlreiche Belege finden sich noch im 18. (cf. Paul IV/2: 334f.) und vereinzelt selbst noch im 19. Jahrhundert (cf. Qian 1987: 299). Goethe (12a), Schiller (12b) und Lessing (12c) haben sich ihrer noch bedient (Beispiele nach Paul IV/2: 334f.): (12a) (12b) (12c)

Keinen eigentlichen Stillstand an Faust habe ich noch nicht gemacht das disputiert ihm niemand nie wie er spricht, spricht Dir niemand nicht

Das Verschwinden der doppelten Negation ist mit großer Wahrscheinlichkeit allein auf Normierungsvorgänge zurückzuführen. Wenn man sich die in Kapitel I geschilderten Entstehungsbedingungen der nhd. Norm vor Augen hält, ist es naheliegend, daß Äußerungen wie die Gottscheds und Adelungs - die vermutlich eine Kodifizierung post factum darstellen - zu dieser Entwicklung maßgeblich beigetragen haben, die ja als Konventionsbildung ä la Lewis (1969) rekonstruierbar ist. Die verdoppelte Verneinung, die noch im vorigen Jahrhunderte bey guten Schriftsteilem gewöhnlich war, um desto stärker zu verneinen; mufl itzo in der guten Schreibart ganz s

Einfachnegation durch ne/en behauptet sich bei bestimmten Verben wie den Modalverben (cf. Dal 1966: 164; Paul/Moser/Schröbler/Grosse 1982:413).

172 abgeschaffet werden. [...] Allein heut zu Tage spricht nur mehr der Pöbel so. Artige Leute vermeiden es, und zierliche Scribenten noch mehr. (Gottsched 1762: 500) Die den rohen Völkern so natürliche Begierde, Nachdruck durch leere Schälle zu erhalten, hat in manchen Sprachen die Häufung der Verneinung eingefilhret, und in der Deutschen war sie ehedem sehr allgemein. [...] Diese Gewohnheit hat sich nicht allein im Oberdeutschen, sondern auch in andern gemeinen Mundarten bis auf die neuesten Zeiten erhalten. [...] Im Hochdeutschen ist diese Verdoppelung der Verneinung fehlerhaft [...]. (Adelung 1782:467f.)

Sei es nun, daß Grammatiker wie Gottsched oder Adelung bereits existente sprachliche Gegebenheiten nur post factum kodifizierten und damit multiplizierten (cf. Polenz II, 168f.), oder daß sie - weniger wahrscheinlich - die Norm erst schufen, auf jeden Fall ist Faktum, daß der Ausfall der doppelten Negation nicht auf inhärente Entwicklungsprozesse in der deutschen Sprache zurückzuführen ist. Die Doppelnegation ist seit der ahd. Zeit bis in die Gegenwart (belegt durch die rezenten Mundarten und in der Umgangssprache6) durchgehend nachweisbar. Sie "wurde seit dem Humanismus nach lat. Vorbild zurückgedrängt mit der logischen Auffassung, daß zwei Verneinungen nicht verstärken, sondern aufheben" (Polenz II, 267). Der Umbau des Negationssystems im Hochdeutschen ist also eindeutig extern motiviert (Stichworte: Rationalismus, lateinisches Vorbild usw.), sprachimmanente Faktoren haben - in diesem Grammatikausschnitt - keine Rolle gespielt. Ähnliche Prozesse sind übrigens in anderen Sprachen ebenfalls bei der Standardisierung beobachtbar. So ist auch im Englischen die "Ersetzung der mehrfachen durch die einfache Negation [... durch] den Einfluß der lateinischen Sprache" oder durch rationalistische Bestrebungen (Vachek 1975: 194) erklärt worden. Noch im 18. Jahrhundert gibt die doppelte Negation ein zentrales Diskussionsthema für englische Grammatiken ab (cf. Tieken-Boon van Ostade 1982; Knorrek 1938: 22-38.). Das Standarddeutsche stellt also in dieser Hinsicht keinen Sonderfall dar. Der Schwund der doppelten Negation ist auf Normierung zurückfühlbar, wobei unerheblich ist, ob sie qua Verbote, wie in den präskriptiven Grammatiken ä la Gottsched oder Adelung (die wahrlich nur die Spitze des Eisbergs darstellen), zustande kam oder auf einer unausgesprochenen Konventionsbildung έ la Lewis (1969) beruht (vgl. Kapitel I Abschnitt 1.1.2.). Dies ist fur das Gelingen einer Normierung ohne Bedeutung. Wichtig sind hingegen zwei andere Gesichtspunkte: erstens funktioniert Normierung ausschließlich bei N2-Sprachen und sie kann natürlich zweitens nur erfolgreich sein, wenn - salopp gesprochen - das jeweilige Grammatiksystem es zuläßt. Es müssen trivialerweise sprachimmanente strukturelle Voraussetzungen gegeben sein, die eine Normierung begünstigen. Dies läßt sich belegen, wenn man den Blick auf Sprachen wie das Tschechische richtet, in denen diese Voraussetzungen nicht existierten (cf. Vachek 1975). Doch zunächst zu den im Deutschen feststellbaren sprachimmanenten Antezedensbedingungen. Die externe Motivation erhellt deutlich im Vergleich zu der anderen Entwicklung, die im deutschen Negationssystem stattgefunden hat, nämlich dem 'Durchlauf durch Jespersens Zyklus', der eine tiefenstrukturell ziemlich weitreichende Umgestaltung der Nega6

Marcel Reif (Fußballübertragung vom 6.3.1996, RTL): "Keiner ist sich für nichts zu schade". Belege wie diese begegnen einem häufig.

173 tionssyntax mit sich gebracht hat. Die klitische Partikel ni war im Ahd. die neutrale, unmarkierte Negation, die mit dem Verb zusammen einen Komplex bildete. Ähnlich wie bei Präfixverben ist davon auszugehen, daß die Negationspartikel zusammen mit dem finiten Verb (cf. 13d) ein komplexes Verb ergibt. Dies zeigt sich syntaktisch daran, daß sie bei V/2-Sätzen nicht am Ende bleiben kann (13a,b,d vs. c). Die entsprechende Struktur repräsentiert (14): (13a) (13b) (13c) (13d)

ni ward in sun (Tatian) dar nist neoman siuch (Muspilli) Do där niuuiht ni uuas (Wessobrunner Schöpfungsgedicht) Ni scolta sid manno nohhein miatun intfahan (Muspilli, 72)

(14)

NEG®



Die Annahme, daß der Komplex [NEG°+V°] wiederum von der Kategorie V° ist, also Kopfstatus hat, ergibt sich aus der V/2-Bewegung. Da die Landeposition der Kopf C° ist, kann das hinein bewegte Element gemäß dem Strukturerhaltungsprinzip ebenfalls nur eine X°-Kategorie sein (cf. Chomsky 1986: 4). Die Sätze in (13) zeigen klar, daß sich das komplexe Verb [NEG°+V°] bei der V/2-Bewegung ebenso verhält wie ein einfaches, nicht negiertes Verb. Da die Negation sowohl in C° als auch in V°/I0 möglich ist (cf. 13b vs. c), kann geschlossen werden, daß das Negationsklitikum zusammen mit dem finiten Verb eine syntaktische Einheit bildet. Somit ist der Kopfstatus des Gesamtkomplexes evident. Aufgrund der überlieferten Datenlage kann man annehmen, daß im Ahd. eine morphologische Negation vorlag. Morphologische Negierung ist eine NEG-Markierung am Verb selbst durch spezifische Affixe (hier: Präfix), wobei diese häufig durch Klitisierung ehemals selbständiger negativer Partikel entstanden sind (cf. Payne 1985: 226).7 Morphologische Negierung findet sich in so unterschiedlichen Sprachen wie der in Ghana beheimateten Niger-Kongo-Sprache Akan (tu 'ziehen' vs. ntu 'nicht ziehen', cf. Schachter 1985: 10) oder den slawischen Sprachen (Dahl 1993: 917, anders Payne 1985: 222f.). Für die Annahme einer morphologischen Negation im Ahd. und Mhd. gibt es unabhängige empirische Evidenz durch die Tatsache, daß es die Alternative gab, das Verb durch das Privativpräfix un- zu negieren. Nach Paul/Moser/Schröbler/Grosse (1982: 413) ist die w/j-Negierung möglich am Partizip Perfekt (15a), doch existieren im Mhd. auch Belege fur finite Verben (15b). Schon für das Ahd. sind Verben wie uncrefiigön oder untrösten bezeugt, der Lexer nennt für das Mhd. Unbehagen, unloben oder unminnen, die alle die Negation bzw. das Gegenteil des Simplexverbs ausdrücken (nicht behagen, tadeln, hassen).8 7 8

Es spielt in unserem Zusammenhang keine Rolle, ob es sich dabei um einen derivationellen (so Payne 1985: 226) oderflexivischen Prozeß, wie Dahl (1993: 917) offenbar meint, handelt. Im Nhd. existieren nur noch geringe Reste morphologischer Negierung, nämlich Präfixverben mit miß-, die in vielen Fällen eine Negation des Simplexverbs bedeuten (z.B. achten vs. mißachten, cf. Fleischer 1982: 333).

174 (1 Sa) (15b)

den hän ich ungelönet war umbe untroestet ir mich (Hartmann von Aue, 206)

Daß un- als verbales Präfix im Nhd. völlig verschwunden ist, könnte ein Indiz dafür sein, daß sich an der Art der Negation (morphologisch vs. syntaktisch) etwas geändert hat. Gegen die Ansetzung einer morphologischen Negierung im Ahd. spricht scheinbar aber, daß die Negationspartikel ni in der Regel als getrennt vom Verb geschrieben überliefert ist und nur bei vokalisch anlautenden Verben (nist < ni+ist; nirfour < ni+irfour) mit diesen verschmolz. Einmal davon abgesehen, daß offenbar nur ein sehr schmaler Grat zwischen proklitischen Partikeln und Präfixen besteht (Dahl 1993: 918), ist außerdem die Schreibung ein äußerst unzuverlässiger Indikator für den Status morphematischer, lexikalischer oder syntaktischer Einheiten. Man muß sich nur die nhd. Schreibungen radfahren vs. Auto fahren betrachten, um dies einzusehen (cf. Staudinger 1997: 59). Ein aufschlußreiches Beispiel ist bei Dahl (1993: 917) erwähnt: Im Polnischen wird die Negationspartikel mit dem Veib zusammengeschrieben, im nahe verwandten Tschechischen dagegen als selbständiges Wort, obwohl es in beiden Sprachen "prosodically non-autonomous" ist. Orthographische Konventionen verdecken den Status eines Elements also häufig, anstatt ihn widerzuspiegeln. Andererseits ist der morphonologisch bedingte Vokalschwund vor Vokalanlaut auch kein sicheres Indiz dafür, daß eine lexikalische Einheit vorliegt. Morphonologische Variation operiert häufig nicht auf der Wortebene, sondern auf der Ebene von Phrasen (und manchmal auch Phrasen-übergreifend). Erst die Syntax macht aus zwei distinkten lexikalischen Einheiten ein Wort, eine prosodische Einheit. So sind die proklitischen Alloformen des Artikels die im Bairischen Ergebnis einer Operation über die Wortgrenze hinweg bzw. einer in der Syntax sich vollziehenden Aufhebung dieser Grenze: d'waiba - b'frau k'kinda (Zehetner 1985: 112). Aufgrund der überlieferten Datenlage ist nicht zu entscheiden, ob im Ahd. eine morphologische Negierung im strikten Sinne vorliegt oder nicht. Da aber in der Literatur (cf. Payne 1985: 228) auch Fälle wie engl, can't, mustn't oder mightn't unter morphologische Negierung subsumiert werden, ordne ich ihr auch die ahd. Negation zu, selbst wenn nur Klitisierung, also ein syntaktischer Prozeß, vorliegen sollte. Für die zugrundezulegende Phrasenstruktur hat die morphologische Negierung die Konsequenz, daß man entweder keine separate NEG-Phrase annehmen kann oder daß man, wenn man dies doch tut, über Zusatzannahmen regeln muß, daß sich Negation und finites Verb syntaktisch als atomare Einheit verhalten. Für die erste Möglichkeit, die alleine wir etwas näher betrachten wollen, spricht die zu Präfixverben parallele Komplexbildung, die sich syntaktisch in der V2-Bewegung9 spiegelt und deren Struktur oben in (14) 9

Für die Problematik, daß im Ahd. die Differenzierung zwischen Haupt- und Nebensatzstellung noch nicht so 'sichtbar* war wie sie im Nhd. ist, sei auf Lenerz (1984) verwiesen, der klar gezeigt hat, daß die sog. "Spät(er)stellung" oder "Nicht-Zweitstellung" des Verbs im Nebensatz durch (stilistisch o.ä. bedingte) Extraposition bzw. Ausklammerung erklärt werden kann (cf. Lenerz 1984: 129f.; vgl. zu dieser Problematik im heutigen Bairisch Kapitel Π Abschnitt 2.2.3.). In dieselbe Richtimg argumentiert neuerdings Demske-Neumann (1994: 42-50). Daher nehme ich an, daß das V/2-Phänomen im Ahd. bereits voll entwickelt und daß das Ahd. eine SOV-Sprache war (vgl. auch Dal 1966: 172-177). Dies ist kompatibel mit der seit den Junggrammatikern

175

angegeben ist. Bei Präfixverben klitisiert die Negation links an das Präfix, ergibt also die Adjunktions-Struktur NEG°+Prf+V° (cf. 16). Ve

(16)

Prf

nen-

V"

be- driezet(Notker) ind- rinnest (Lorscher Bienensegen)

Nach dieser Analyse wäre Negierung im Ahd. in etwa analog zur Verb-Präfigierung (vgl. zu Präfixveiben Staudinger 1997). Ein Unterschied ist allerdings, daß Präfigierung und Flexion (ge-) komplementär verteilt sind, während dies bei der Negation nicht der Fall ist. Doch liegt das daran, daß Negierung immer nur den finiten Teil des Verbkomplexes betrifft, das Partizip also somit nie negiert werden kann, so daß ein ähnlicher Distributionseffekt aus unabhängigen Gründen gar nicht auftreten kann. Da das Ahd. eine SOV-Sprache war, ist die präveibale Negation typologisch konsistent. Nach Vennemann (1974) zeigen XV-Sprachen nämlich die Serialisierung NEG V (cf. Ohkado 1989). Dies trifft auf das Ahd. zu. Ob man nun eine separate NEG-Phrase ansetzen kann, ist für das Ahd. aufgrund der Daten- und Forschungslage nicht eindeutig zu entscheiden. Denkbar wäre aber eine funktionale Phrase NEG im Split-INFL-System (cf. u.a. Pollock 1989; Chomsky 1995: 59ff.), die linksadjazent zu V° eingehängt werden könnte, um die obligatorische Klitisierung zu ermöglichen. Dafür spräche vielleicht die (zumindest) im Mhd. belegte Möglichkeit, daß sich das Negationsklitikum bei V/2 enklitisch an ein vorangehendes pronominales Element anhängen kann (vgl. unten 27b). Unplausibel scheint mir aber Grewendorfs (1990: 86) postveibale Positionierung (in Anlehnung an Lehmann 1974; 1978 und Ouhallas 1989 Analyse der französischen Negation) der (ahd. bis nhd.) Negation (ähnlich auch Büring 1993: 86 für das Nhd.). Da aber selbst für das Nhd. ein separater I-Kopf - und dementsprechend auch ein gesplitteter zweifelhaft ist (Haider 1993; Staudinger 1997), entfällt die Notwendigkeit einer V-zu-IBewegung, die Grewendorfs Analyse des Deutschen als SOVNeg primär erzwungen hat. Wir wollen uns nun der Partikel nicht zuwenden. Wie oben erwähnt, handelt es sich bei nicht ursprünglich um einen adverbialen Akkusativ mit der Bedeutung "in keiner Weise", der als Verstärkung zur einfachen Satznegation hinzutreten konnte. In der Typologieforschung bezeichnet man solche Elemente als favorisierten Ansicht, daß die Verbendstellung (SOV) im Indogermanischen auch für Aussagesätze anzunehmen sei (cf. Hams/Campbell 1995: 22ff.), und mit neueren typologi sehen Erkenntnissen (Harris/Campbell 1995:195-239).

176 exploratory expressions (Harris/Campbell 1995: 54-57). Solche entstehen als Teil des kreativen Sprachgebrauchs einzelner Sprecher ständig, werden aber zumeist kaum von der Sprachgemeinschaft übernommen und verschwinden daher wieder. Zur Verstärkung der Negation sind nun zu allen Zeiten zahlreiche individuelle Varianten in Gebrauch (wie ugs. Das interessiert mich nicht die Bohne), die meisten von ihnen werden aber nie idiomatisiert oder gar grammatikalisiert. Solche emphatischen Zusätze bilden eine der Hauptquellen für die Entstehung von Negatoren. Man erklärt dies damit, daß Negation immer eine positive Äußerung präsupponiert, während eine entsprechende Präsupposition bei positiven Äußerungen fehlt. Ein Satz wie Meine Frau ist nicht schwanger setzt voraus, daß geäußert, gedacht etc. wurde, daß sie schwanger sein könnte. Von daher gibt es einen natürlichen Zusammenhang zwischen Negation und Emphase (Croft 1991: 20). Nach Paul/Moser/Schröbler/Grosse (1982: 412) waren im Mhd. akkusativische Substantive, die etwas Geringwertiges bezeichneten, als Negationsverstärker üblich. So konnte z.B. niht ein bast die Negation verstärken (in etwa 'ganz und gar nicht', cf. 17a) und wurde als Idiom lexikalisiert. Das führte in diesem konkreten Beispiel dazu, daß ein bast alleine schon als Negationselement auftreten konnte (17b), nachdem es seinen emphatischen Charakter verloren hatte und als normale Negation empfunden wurde (ähnliches ist auch im gegenwärtigen umgangssprachlichen Deutsch häufig zu beobachten, z.B. 17c): (17a) (17b) (17c)

sie ne vorhtent niht ein bast uns (Alex S 6994) ich sag iu ein bast (Iw 6273) der kümmert sich einen Dreck darum

So ist auch 'nicht etwas' als Verstärkung der neutralen Satznegation in Gebrauch gekommen. Im Unterschied zu den übrigen ist es im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte grammatikalisiert worden (nach Harris/Campbell (1995: 54f., 73) ist die französische Negation ne... pas ebenso entstanden). Als Negationsverstärker war nicht wie alle übrigen exploratory expressions zunächst ein markiertes Element, das aber durch häufigen Gebrauch seinen markierten Status und seine ursprüngliche Bedeutung allmählich verlor und zu einem obligatorischen Bestandteil der Negation wurde. Die Einheit ne/en ... nieht "[...] was reanalyzed as the neutral, or unmarked, negativizer" (Harris/ Campbell 1995: 73). Der Sprachwandel besteht nicht im Aufkommen der Partikel nicht, sondern darin, daß sie grammatikalisiert10 wurde und daß in der Folge die Negationsphrase reanalysiert wurde. Reanalyse ist ein Typ des syntaktischen Wandels, bei dem "ein- und derselben linearen Abfolge von Morphemen eine andere Struktur zugeordnet wird" (Demske-Neumann 1994: 23f.). In der Theorie von Harris/Campbell (1995: 61-65) ist Reanalyse ein Sprachwandelprozeß, bei dem die Konstituenz, die hierarchische Struktur, die Kategorie, grammatische Relationen und/oder die Kohäsion" eines Elements einer Veränderung unterzogen wer-

10

11

Traugott/König (1991: 189): "Grammaticalization [...] refers primarily to the dynamic, unidirectional historical process whereby lexical items in the course of time acquire a new status as grammatical, morpho-syntactic forms". Harris/Campbell (1995: 64): "Cohesion may be viewed as concerning boundary type: word boundary, morpheme boundary, no boundary".

177 den. Der Einfachheit halber gehe ich davon aus, daß zunächst nur eine Umkategorisierung von nicht stattgefunden hat. Als Adverbiale (AdvP) ist es an VP adjungiert und markiert den linken Rand des Mittelfeldes, nach seiner Grammatikalisierung hat es nun die Kategorie NEGP, die als nichtgeschichtet vorzustellen ist. Der Kopf nicht projiziert zwar eine maximale Phrase, verfügt aber über kein Komplement und keine Spec-Position. Das Mittelfeld im Mhd. zeigt also die Struktur (17): (17)

VP

NEG°

V"

Problematisch an dieser Analyse ist, daß nieht und en/ne keine gemeinsame NEG-Phrase bilden. Zwei Alternativen sind denkbar. Die erste setzt eine wesentlich größere Umstrukturierung voraus, da die NEGP mit nicht im Specifier und dem Klitikum als Kopf der Phrase insgesamt als Schwester von V° eingehängt ist (18). Mit dieser Struktur müßte aber ausgeschlossen werden, daß irgendein Material zwischen nicht und dem Verb erscheinen kann. Doch scheinen auch im Mhd. Präpositionalphrasen zwischen beide treten zu können (19), wodurch folgt, daß (18) wohl nicht die adäquate Lösung sein kann. (18)

V

Spec

NEG° Klise

(19)

daz er niht wider si (ne) sprach (Iwein 1702)

Eine zweite Alternative ist die von Büring (1993: 85ff.) vorgeschlagene Struktur in Modifikation zu Grewendorf (1990). Danach ist die VP insgesamt als Komplement der Negationsphrase zu betrachten, wobei sie die linke Schwester von NEG° ist. Im Unterschied zu Grewendorf ist der Spezifikator nicht aber links positioniert (20).

178

Doch auch hier gelten dieselben Einwände wie bei Grewendorf: Eine SOVNEG-Struktur ist typologisch unwahrscheinlich und die V°-zu-I°-Anhebung ist unter neueren Analysen des deutschen Satzes (Haider 1993 u.a.) nicht mehr erforderlich, so daß die Motivation für eine postverbale Negation entfällt. Hinzu kommt, daß die Struktur (20) auch für das Nhd. gelten soll, allerdings nach Verlust des Negationsklitikums mit einem leeren Kopf.12 Man muß sich jedoch ernsthaft fragen, warum eine solche Struktur in den letzten 500 Jahren nicht reanalysiert wurde. Der Hauptgrund ist aber, daß man mit einer NegP, deren Spezifikator nicht ist, die bairischen Daten nicht erklären kann. Vorausgesetzt, daß sich die Negationssyntax des Bairischen strukturell nicht von der des Hochdeutschen unterscheidet - der Ausflug in die Diachronie sollte das plausibel machen, auch Haftka (1993) nimmt identische Strukturen an -, kommt man mit der doppelten Negation in Erklärungsnöte. Dies zeigt das Beispiel der Kohäsion. Nach Büring (1993: 87) ist kein "die Ausbuchstabierung zweier distinkter Knoten", nämlich des SpecNegP (also nicht) und der Position des Determinierers ein. Mit einer solchen Analyse kann aber die der doppelten Negation zugrundeliegende Sequenz [fce/wNP nicht] nicht abgeleitet werden, da sie voraussetzt, daß nicht - bildlich gesprochen - in kein aufgegangen ist und nicht mehr zur Verfügung steht. Man müßte also Zusatzannahmen stipulieren oder gar eine andere Struktur für das Bairische postulieren - beides Konsequenzen, denen wir nicht folgen wollen. Der gemachte Einwand spricht natürlich auch gegen Grewendorfs Vorschlag. Insgesamt scheint mir trotz der angesprochenen Problematik (17) die angemessenste Strukturinterpretation zu sein. Da die Negationssyntax des Mhd. nicht so zentral für mein Thema ist, möchte ich auch nicht weiter darauf eingehen. Ich möchte nur darauf hinweisen, daß von Struktur (17) aus die nhd. Negationssyntax leichter hergeleitet werden kann. Ich gehe dabei von der von Haftka (1993) entwickelten Analyse aus. Sie nimmt an, daß es "eine eigene Phrase für Affirmation/Negation" im Satz gibt, "also für die vom Sprecher (oder von dem von ihm Zitierten) eingenommene Position zur Gültigkeit des innerhalb der Verbalphrase beschriebenen Sachverhalts" (Haftka 1993: 139). Diese Phrase mit dem

12

Ähnliches schlagen Pesetsky (1989) und Pollock (1989) für das Englische vor. Gute Argumente konzeptueller Natur gegen die "Kopflosigkeit" der NegP im Englischen und generell bringt Emst (1992: 122f.). Er verweist zurecht auf den kuriosen Umstand, daß mit dieser Analyse NegP die einzige Phrase wäre, deren Spezifikator obligatorisch gefüllt und dessen Kopf obligatorisch leer wäre.

179 Namen POSP ist eine maximale Projektion, die die VP als Komplement zu sich nimmt.13 Die Struktur ist in vereinfachter Form in (21) dargestellt: (21)

POSP SpecP

POS

POS° [+/-NEG]

VP

Auf Details wird an späterer Stelle eingegangen. Hier möchte ich vorerst nur den Punkt ansprechen, daß bei dieser Struktur vom Mhd. her nur eine Veränderung postuliert werden muß. Aus der intransitiven, adverbiellen NEGP ist eine maximale Projektion geworden, deren Kopf nicht die VP als Komplement selegiert. Zudem verfügt sie jetzt über eine SpecPosition, die im Zusammenhang mit der doppelten Negation noch von Bedeutung sein wird. Außer der Reanalyse der AdvP als POSP ist nach Verlust des Negationsklitikums kein Wandel eingetreten. Insgesamt aber hat sich seit der ahd. Zeit die Art der Negation geändert: von einer morphologischen hin zu einer syntaktischen Negation. Die strukturellen Möglichkeiten der doppelten Negation sind davon unberührt geblieben bzw. wären es im Standarddeutschen (wie Umgangssprache und rezente Mundarten beweisen), wenn nicht externe Faktoren ins Spiel gekommen wären. Eine interne Voraussetzung, welche die Verbannung der doppelten Negation ermöglichte, dürfte der Verlust der morphologischen Negation gewesen sein. In einer morphologisch negierenden Sprache wie dem Tschechischen ist es nämlich trotz entsprechender Bemühungen, die es gegeben hat, nicht dazu gekommen (Vachek 1975: 194ff.).14 Daß der Verlust der morphologischen Negation eine notwendige (wenn auch nicht hinreichende) Voraussetzung war, zeigt auch folgende Überlegung. In Sprachen wie dem Deutschen existiert eine Regel (s.u.), die bewirkt, daß Quantoren, indefinite Ausdrücke u.ä. in negierten Sätzen selbst negiert sein müssen, d.h. als inhärent negative Quantoren ausbuchstabiert sein müssen. So ist die Negation von (22a) nicht (22b), sondern (22c) (warum das so ist, wird im nächsten Abschnitt diskutiert). Informell kann man es so formulieren, daß durch die Negation des Existenzquantors die normale Satznegation unterdrückt wird. Intuitiv dürfte klar sein, daß eine solche Regelung normativ schwerer, mit größerem Aufwand zu instantiieren ist, wenn die Satznegation wie im Ahd. oder im

13

14

Aus Gründen, die für unser Thema ohne Belang sind, nimmt Haftka (1993) an, daß sich POSP unterhalb der Split-INFL-Projektionen befindet. Auch die Benennung sollte nicht stören, der Vorschlag ist kompatibel mit der Analyse Haegemans (1995) und vielen anderen, die - wie wir im folgenden - von einer NegP ausgehen. Vachek (1975: 195) nennt als zweite Voraussetzung "die Existenz indefiniter Pronomina vom Typ any". Daß dies keine notwendige Bedingung ist, zeigt das Nhd., dem solche Ausdrücke ebenso wie die doppelte Negation fehlen.

180

Tschechischen Teil der Verbmorphologie ist. Zumindest wenn man wie z.B. Chomsky (1995: 195) und viele andere von einem Vollformenlexikon ausgeht. (22a) (22b) (22c)

Jemand ist gekommen Jemand ist nicht gekommen Niemand ist gekommen

3. Typologie

Nach Kiparsky (1976: 263) ist die Existenz inhärent negativer Quantoren eine notwendige Voraussetzung, daß eine Sprache doppelte Negation aufweist. Inhärent negative Quantoren sind, logisch gesehen, die Negation des Existenzquantors (Payne 1985: 236). Ihr Charakteristikum ist aber morphologischer Natur, da sie als Amalgam aus Negation und Indefinitpronomen komplexe Einheiten darstellen. Sie sind daher, semantisch und syntaktisch, von explizit negierten Quantoren zu unterscheiden. (23b) und (23c) sind nicht synonym und nur (23b) kann als unmarkierte Negation des positiven Satzes (23a) verstanden werden. Nur auf ihn trifft die Paraphrase (24a) zu, während es intuitiv einleuchtet, daß damit (23c) nicht angemessen paraphrasiert ist. Eine Paraphrase zu (23c) müßte wie in (24b) aussehen. Dadurch wird überdeutlich, daß die Funktion inhärent negierter Quantoren und die negierter Quantoren fundamental unterschiedlich ist. (23a) (23b) (23c)

Ein Mensch ist gekommen Kein Mensch ist gekommen Nicht ein Mensch ist gekommen

(24a) (24b)

Es ist nicht der Fall, daß ein Mensch gekommen ist Es ist der Fall, daß es nicht einen Menschen gibt, für den gilt, er ist gekommen

In vielen Sprachen sind inhärent negative Quantoren (INQ) eine morphologisch einheitliche Klasse, insofern sie als Komposita aus einem negativen und einem indefiniten Bestandteil analysiert werden können. Häufig ist wie im Englischen das negative Morphem dabei identisch (zumindest diachron): /tothing, «obody, no-one, none. Das Deutsche (und seine Dialekte) hat synchron hiervon eine Ausnahme in kein, die sich diachron aber auflösen läßt (cf. Kürschner 1983: 97) und daher kein Problem darstellt. Der Neg-Bestandteil in den INQs geht - von den ganz wenigen Ausnahmen wie kein abgesehen - sonst immer auf die indoeuropäische Satznegation zurück (Bernini/Ramat 1996: 29). Nicht alle Sprachen besitzen INQs (z.B. das Finnische, cf. Kiparsky 1976: 263), bei Existenz solcher Ausdrücke scheint es aber typologisch zwei Grundmuster zu geben: (1) obligatorische Kookkurrenz mit der Standardnegation und (2) gegenseitige Exklusivität (Payne 1985: 236-238).

181 Das erste Muster zeigt sich verbreitet in den slawischen Sprachen. Im Russischen werden INQs gebildet mit dem negativen Morphem ni, das unterschiedlich ist von der Standardnegation ne, und Formen der Interrogativpronomen (die auf Indefinitpronomen zurückgehen): kto 'wer' > nikto 'niemand', cvto 'was' > nicvto usw.15 Die INQs erfordern obligatorisch die Präsenz der Standardnegation ne (cf. 25a vs. b). Im Russischen ist auch das Mehrfachvorkommen von INQs möglich bzw. alle (indefiniten) Quantorenausdrücke in negativen Sätzen müssen als INQ erscheinen (25c). (25a) (25b) (25c)

Nikto ne priSel Niemand NEG kam 'Nikto priäel Niemand kam Nikto ni s kem ni ο c v em ne govoril Niemand mit niemand über nichts NEG sprach •Niemand sprach mit jemanden über etwas'

Beispiele für das zweite Grundmuster sind nach Payne (1985: 237) das Englische und das Deutsche. Im Standarddeutschen unterdrückt ein INQ normalerweise die reguläre Satznegation (26a vs. b) und Mehrfachvorkommen von INQ sind unzulässig (26c vs. d).16 (26a) (26b) (26c) (26d)

Keiner ist gekommen 'Keiner ist nicht gekommen Keiner hat etwas gesagt 'Keiner hat nichts gesagt

Da die doppelte Negation, wie aus den bisherigen Beispielen deutlich geworden sein dürfte, in den Zusammenhang von Quantifikation und Negation gehört, ist die bei Dahl (1993: 919f.) skizzierte typologische Klassiiikation aussagekräftiger als die von Payne (1985). Nach Dahl existieren drei Möglichkeiten, Existenzquantiiikation innerhalb des Skopus der Negation auszudrücken. Typ I ist die Verbindung der Standardnegation mit Quantoren, die für Nicht-Affirmativität gekennzeichnet sind. Diesen Konstruktionstyp illustriert das englische Beispiel (27a) mit dem Quantorenausdruck anything, wobei das Morphem any nicht per se negative Bedeutung trägt, wie seine Verwendbarkeit z.B. in Fragesätzen beweist. Wie oben erwähnt, gab es im Ahd./Mhd. mit de(c)hein 'irgendein' im Deutschen ebenfalls einen "quantifier marked for non-affirmity" (Dahl 1993: 919), cf. (27b).17 (27a) (27b)

15

16

17

I did not buy anything ezn gereit nie mit schilte dehein riter als volkomen (Iwein, 1458f.) "Es NEG ritt niemals irgendein so vollkommener Ritter mit Schild daher1

Erscheinen INQs als Komplement von Präpositionalphrasen, geht das Negationsmorphem der Präposition voran: ni ο cvem tlber nichts' (Payne 1985: 236), s. auch (25c). (26b) und (26d) sind nur als Äquivalente zu (26a) bzw. (26c) ungrammatisch. Doppelnegation als Bejahung mit entsprechender Betonung in geeigneten Kontexten ist durchaus möglich. Kein einziger ist nicht gekommen (cf. Kürschner 1983: 36-39). De(c)hein ist im Mhd. mit dem (teilw. synonymen) ne(c)hein "nicht ein' zusammengefallen, woraus unser heutiges kein entstanden ist, cf. Kürschner (1983: 97).

182 Typ II und III stimmen mit den beiden von Payne beschriebenen Grundmustern überein: Standardnegation und INQ bzw. INQ alleine als Satznegationen. Wie neuere typologische Untersuchungen (Bernini/Ramat 1996, Haspelmath 1997) gezeigt haben, ist die Exklusivität von INQ und Standardnegation, wie sie das Standarddeutsche zeigt, nicht sehr häufig in den Sprachen der Welt anzutreffen: Nach Haspelmath (1997: 202) handelt es sich um "a rare phenomenon in some peripheral areas of southern Africa, northern Australia and the extreme west of Eurasia." Der Normalfall ist dagegen, daß eine Sprache, die über INQs verfugt, auch die doppelte Negation erlaubt. Wie der syntaktische Ursprung des Neg-Bestandteils in INQs (s.o.) nahelegt, scheinen sich beide Erscheinungen notwendigerweise gegenseitig zu bedingen (cf. Weiß 1998b). Wie ordnet sich nun das Bairische typologisch ein? Dadurch daß es die Möglichkeit bietet, INQs mit der Standardnegation ned im selben Satz zu kombinieren (28a), ist evident, daß es in der Klassifikation von Dahl (1993) dem Typ Π angehört. Weil aber auch möglich ist, einen INQ alleine als Satznegation zu verwenden (28b), ist das Bairische zugleich eine Typ-III-Sprache. Da aber (28b) auf eine tiefenstrukturelle doppelte Negation zurückgeführt werden kann (s.u.) und Typ III keine natürliche linguistische Klasse zu sein scheint, ist es gerechtfertigt, Bairisch als Typ-II-Sprache zu klassifizieren. (28a) (28b)

Koa Mensch is ned kema Koa Mensch is kema

4. Die Negation im Bairischen

4.1. Negationsausdrücke In jeder natürlichen Sprache gibt es Ausdrucksmittel zur Negation von Propositionen (logisch: -^p). In der Forschung bezeichnet man als Standardnegation "that type of negation that can apply to the most minimal and basic sentences" (Payne 1985: 198). Minimale Basissätze in einer Spache sind z.B. solche, die ein expletives Subjekt und als Prädikat Witterungsverben aufweisen. Testet man das Bairische mit dieser Methode, so ergibt sich, daß die Standardnegation wie zu erwarten ned ist: (29a) (29a)

Haind rengd's ned Haind schnaibd's ned

Seit Klima (1964) gibt es auch verschiedene Tests, in einfachen wie komplexeren Sätzen die sog. Satznegation, die über ganze Sätze operiert, in Kontrast zur Satzglied-, Konstituenten- oder Sondernegation zu ermitteln. Diese Unterscheidung ist die traditionellere. Aus linguistischer Perspektive ist die Entscheidung für die Standardnegation aber vorzuziehen. Zum einen ist immer wieder bemerkt worden, daß sich Satz- und Sondernegation syntaktisch häufig nicht sauber differenzieren lassen (vgl. dazu auch Jacobs 1982: 39-46).

183

So ist die Negation von (30a) eindeutig (30b) und nicht (30c). Unter rein formalen Gesichtspunkten liegt bei (30b) aber eine Konstituenten-Negation vor (Subjektsnegation), in (30c) eine Prädikatsnegation, die im Deutschen, wie der Vergleich zu (30d) belegt, die Satznegation par excellence darstellt. Wendet man allerdings einen von Klimas Tests zur Ermittlung der Satznegation an (cf. 3 la vs. b), so wird deutlich, daß in (30b) und nicht in (30c) eine Satznegation vorliegt. (30a) (30b) (30c) (30d)

Jemand ist gekommen Niemand ist gekommen Jemand ist nicht gekommen Otto ist nicht gekommen

(31a) (3 lb)

Niemand ist gekommen, nicht einmal Otto kam * Jemand ist nicht gekommen, nicht einmal Otto kam

Dagegen ist der Begriff der Standardnegation ein klar definierter (s.o.), der sich nutzbringend anwenden läßt. Zusammen mit Klimas Tests ergibt sich z.B., daß in einem deutschen (analog: bairischen) Minimalsatz, der aus einem indefiniten Subjekt und einem einstelligen Prädikat besteht (cf. 30a), die Standardnegation durch einen INQ ausgedrückt wird (30b). Im Bairischen ist der Unterschied, daß der INQ neamd zusammen mit der Negationspartikel ned auftreten kann (32a), aber nicht muß (32b). Interessanter als die fehlende obligatorische Kookkurrenz ist für unsere Frage jedoch die Tatsache, daß bei einem Negationsvorkommnis im Satz dies nur der INQ sein kann (32c, ungrammatisch nur in der Lesart von 32a). (32a) (32b) (32c)

Neamd is ned kema Neamd is kema *Ebba is ned kema

Man mag dieses Ergebnis für trivial halten, es wird sich allerdings herausstellen, daß es das mitnichten ist. Die INQs im Bairischen, die mit der Standardnegation ned kompatibel sind, lassen sich in vier Klassen einteilen. Die erste Klasse umfaßt die Mengenquant(ifikat)oren koa, neamd, nix. Diese zeigen eine systematische Korrelation mit positiven Entsprechungen, die annäherungsweise so wiedergegeben werden können: kein = NEG + ein, niemand = NEG + jemand, nichts = NEG + etwas. Logisch gesehen, sind sie die Negation des Existenzoperators: - , 3. Aufgrund distributioneller Kriterien sind neamd und nix Substantive, koa ist ein Adjektiv (33a-c). Die beiden substantivischen INQs unterscheiden sich nach dem Merkmal [+/- menschlich] (cf. 33a vs. b): (33a) (33b) (33c)

neamd/da Sepp is kema i han nix/a Beidl gseng i han koa/vei Geid

184

Die Klasse II enthält den lokalen Quantor niegads, Klasse III die temporalen nie, niemois und Klasse IV den (morphologisch komplexen) modalen Quantor af koan Foi. Sie alle sind mit der Standardnegation ned kombinierbar, distributioneil gesehen handelt es sich bei ihnen um Adverbien (34a-c). (34a) (34b) (34c)

Des gibds niegads ned Des heda eam nie/niemois ned dengd Des is af koan Foi ned richdig

Zumindest nigads und nie/niemois lassen sich ohne weiteres logisch als Negation von Existenzquantoren analysieren, deren Bezugsbereiche Orte und Zeitpunkte bzw. Zeitintervalle sind. 18 So kann niegads mit "Es gibt keinen Ort, für den gilt..." und nie/niemois mit "Es gibt keinen Zeitpunkt, für den gilt..." paraphrasiert werden. Etwas komplizierter ist die Sachlage bei afkoan Foi. Nach Jacobs (1982: 184) ist der in vielem ähnliche Negationsträger keineswegs "ein Indikator für den illokutionären Akt des Bestreitens" im Sinne "einer Zurückweisung von Annahmen, die der Kommunikationspartner oder eine andere kommunikationsrelevante Person zum Ausdruck brachte oder die bei ihm bzw. ihr vermutet werden können". Auch für af koan Foi scheint mir eine Bedeutungsexplikation in dieser Art angemessen zu sein. In (34c) wird also die Annahme bestritten, daß das richtig sei (Paraphrase: Ich möchte doch mit Nachdruck bestreiten, daß dies richtig ist). Man könnte es der Einfachheit halber als Verstärkimg der Negation auffassen, doch werden dadurch nicht alle Vorkommnisse ganz adäquat erfaßt (wie z.B. 34c), andere offenbar aber schon, z.B. (35a), das sich durch (35b) angemessener paraphrasieren läßt als durch (35c): (35a) (35b) (35c)

Des werd'e af koin Foi ned doa Das werde ich nie und nimmer machen Ich bestreite, daß ich das machen werde

Da der Übergang vom bestreitenden zum verstärkenden af koan Foi auf jeden Fall fließend ist - (34c) läßt sich ja auch mit 'Das ist nie und nimmer richtig' paraphrasieren und sich eine verstärkte Verneinung als eine Art des Zurückweisens interpretieren läßt, wollen wir das Thema nicht weiter erörtern. Da bei af koan Foi der berechtigte Verdacht besteht, daß es sich lediglich um ein Verstärkungselement handelt, werden wir es im folgenden auch nicht mehr weiter berücksichtigen. Mit af koan Foi haben wir aber tatsächlich den Fall vor uns, daß der zweite Negationsträger nur zur Verstärkung der Satznegation dient. INQs sind eine einheitliche Klasse von Ausdrücken. Gemeinsam ist ihnen die logische Eigenschaft als Negation des Existenzquantors und die syntaktische, daß sie in DoppelNegations-Konstruktionen auftreten können. Doch zeigen sie noch eine weitere Gemeinsamkeit: Sie sind gewissermaßen maximale Negatoren. Das sei am Beispiel von nie

18

In Anlehnung an Kürschner (1983: 98), der immer als Allquantor definiert, "dessen Bezugsbereich Zeitpunkte oder Zeitintervalle sind".

185 demonstriert (nach Kürschner 1982: 98ff.)· Ein Satz wie (36a) ist als Negation zu (36b) aufzufassen. (36b) hat allerdings die Eigenschaft, daß er mit den Sätzen (36c-g), deren Temporaladverbien variieren, kompatibel ist, insofern als deren Behauptung zugleich (36b) impliziert. "Anders formuliert: Wer einen der Sätze [... (36c-g)] behauptet, kann [... (36b)] nicht bestreiten" (Kürschner 1983: 98). (36a) ist daher mit allen übrigen inkompatibel: Wenn wahr ist, daß Peter Thomas nie geholfen hat, dann folgt daraus, daß die Aussagen, Peter habe Thomas irgendwann, immer, meistens, oft, manchmal oder selten geholfen, falsch sind. In exakt diesem Sinne ist nie ein maximaler Negator: die Negation des Existenzoperators impliziert z.B. also auch die Negation des Allquantors. (36a) (36b) (36c) (36d) (36e) (36f) (36g)

Peter hat Thomas nie geholfen Peter hat Thomas irgendwann einmal geholfen Peter hat Thomas immer geholfen Peter hat Thomas meistens geholfen Peter hat Thomas oft geholfen Peter hat Thomas manchmal geholfen Peter hat Thomas selten geholfen

Fassen wir zusammen: Im Bairischen existieren genau drei Klassen von - synchron gesehen - morphologisch einfachen Ausdrücken, die inhärent negativ sind und die daher in Doppelnegationskonstruktionen auftreten können. (37)

1.1.

1.2.

1.3.

Π. m.

neamd ntx koa niagads nie(mois)

Sieht man einmal von negationsverstärkenden Ausdrücken ab, die wie af koan Foi selbst ein negatives Element enthalten können, können nur diese fünf INQs zusammen mit der Satznegation verwendet werden. Man sieht daran schon, daß sich das Bairische in den allermeisten Fällen an das sog. Law of Double Negation ("Duplex negatio affirmat", cf. Horn 1989: 22 u.ö.) hält und daß die doppelte Negation, die sich nicht aufhebt, im Grunde ein sehr restringiertes Phänomen ist. In vielen Sprachen, die INQs aufweisen, gibt es ebenfalls nur diese fünf: Englisch (nobody, nothing, no(ne), nowhere, never).

4.2. Funktion der doppelten Negation Es ist klar, daß die doppelte Negation weder eine Laune der Natur (i.e. ein nicht weiter zu hinterfragendes Zufallsprodukt irgendwelcher idiosynkratischer Eigenschaften einzelner

186 Sprachen) noch ein Kennzeichen 'naiver Dialekte' bzw. 'unraffinierten Sprachgebrauchs' ist.19 Welche Funktion erfüllt sie nun?

4.2.1. DN als Skopus- und Fokusmarkierung Es wurde im Vorhergehenden erwähnt, daß in der Linguistik traditionell zwischen Satzund Satzgliednegation unterschieden wird. Man könnte nun meinen, daß die doppelte Negation eine Möglichkeit ist, Satzglied- und Satznegation zusammen im gleichen Satz in eleganter Weise zum Ausdruck zu bringen (37a). Damit hätte das Bairische eine Distinktionsmöglichkeit, die dem Hochdeutschen fehlt. In (37b) ist keine Differenzierung von Satz- und Satzgliednegation mehr erkennbar. Dagegen können im Bairischen problemlos mehrere Satzglieder neben dem Satz als solchen negiert werden: in (37c) ist es das Subjekt und das direkte Objekt. Dieser real vorgefundene Satz (Kollmer III, 113) läßt sich noch expandieren, ohne daß er ungrammatisch wird, er wird höchstens unaussprechbar (37d). (37a) (37b) (37c) (37d)

wai'e koa Geid ned kod han weil ich kein Geld hatte mia hod neamad koa stikl broud ned gschengt mia hod nie/niegands neamd koa stikl broud ned gschengt

Eine in diese Richtung gehende Analyse stammt von Tanaka (1994). Er stützt sich dabei auf eine bei Jacobs (1982) entwickelte Begrifflichkeit, die zwischen Skopus und Fokus der Negation unterscheidet. Der Negationsskopus ist der semantische Bereich, der von der Negation betroffen ist (cf. Jacobs 1982: 25-28). Als relativ zuverlässigen Test zur Ermittlung des Skopus sieht Jacobs Paraphrasen mit der Einleitungsfloskel "Es ist nicht der Fall, daß ..." an, wobei der negierte Bereich im daß-Satz ausgedrückt wird. In diesem Test zeigt sich dann beispielsweise, daß der Negationsskopus in (37a) und (37b) der ganze Satz und für beide identisch ist (cf. 38): (38)

Es ist nicht der Fall, daß ich Geld hatte

Vom Skopus zu unterscheiden ist der Fokus. Darunter versteht Jacobs (1982: 28-34), vereinfacht wiedergegeben, den meist intonatorisch hervorgehobenen Teil eines Negationsbereiches, "dessen Ersetzung durch geeignetes 'kontrastierendes' Material [...] die Negation unangebracht machen würde", so daß "bei der realen Durchführung dieser Ersetzung das jeweilige Negationsträgervorkommnis auch tatsächlich weggelassen werden kann, d.h. daß nach einer solchen Ersetzung durch Weglassung keine inakzeptable Kette entstünde" (Jacobs 1982: 33). Ein Beispiel macht das Gemeinte deutlich. In einem Satz wie (39a), der traditionellerweise wohl als Sondernegation analysiert werden kann, steht freiwillig im Fokus des Negationsbereichs, seine Ersetzung durch ein entsprechendes Antonym wie gezwungenermaßen macht das Negationselement nicht überflüssig (39b). Nach Jacobs 19

Die beiden letzten Formulierungen sind Tanaka (1994: 191) entnommen.

187 (1982: 28f.) sind Fokus und Skopus der Negation im Beispiel (39a) und auch sonst meistens nicht deckungsgleich, da der semantische Bereich der gesamte Restsatz sei, wie die Paraphrase (39c) evident macht. Die einzig offensichtliche Relation ist nur, daß sich der Fokus innerhalb des semantischen Bereichs der Negation befindet. Auch in einer Paraphrase wie (39d), die dem Sondernegationsstatus Rechnung zu tragen versucht, indem es die Proposition, daß Peter Luise anrief, außerhalb des Skopus der Negation piaziert, gibt es ein Element (dies), das anaphorisch darauf Bezug nimmt. Aufgrund dieser Sachlage kommt Jacobs (1982) zu der Auffassung, daß mit den Termini Fokus und Skopus die Negationssyntax (und -semantik) angemessener zu beschreiben ist als mit der traditionellen Dichotomie von Satz- und Satzgliednegation. (39a) (39b) (39c) (39d)

Peter rief Luise nicht FREIwillig an Peter rief Luise gezwungenermaßen an Es ist nicht der Fall, daß Peter Luise FREIwillig anrief Peter rief Luise an, aber es war nicht der Fall, daß dies FREIwillig geschah

Dieses Konzept hat Tanaka (1994), einen bereits bei Mourek (1903) geäußerten Gedanken aufgreifend, für die Erklärung der doppelten Negation nutzbar zu machen versucht: "Bei jeder Negation kommt es nicht nur darauf an, ob der Satz überhaupt der Wirklichkeit entspricht oder nicht, sondern auch darauf, was genau dabei falsch ist" (Tanaka 1994: 192). Doppelnegation ist also Prädikats- bzw. Satznegation und Satzgliednegation. Tanaka (1994) überträgt dies auf das bei Jacobs (1982) entwickelte Konzept, so daß er die doppelte Negation als Skopus- und Fokusmarkierung deutet. Betrachten wir dazu Satz (40a) im Vergleich zu (40b): (40a) (40b)

i bin froh, daß ich koa Rede ned halden brauch ich bin froh, daß ich keine Rede zu halten brauche

In Satz (40a) sind zwei Konstituenten negiert: das direkte Objekt Rede und das Verb halten. Nach Tanakas Analyse ist der semantische Bereich der Negation der gesamte Satz, das 'Rede halten brauchen' wird verneint. Mit Beispielen aus dem Englischen (41a-c) und aus dem Italienischen (41d-e) versucht er plausibel zu machen, daß die Negation ihren Fokus nur nach rechts lizensieren kann (wobei ihm im Englischen any als Fokusmarkierer gilt, im Italienischen soll dagegen die Prädikatsnegation non den Fokus markieren).20 (41a) (41b) (41c) (41 d) (41 e) 20

I didnt see anybody »Anybody didnt see him Nobody saw him Nessuno (·ηοη) ha visto Mario Mario non ha visto nessuno

Die Haltbarkeit der Annahmen über das Englische und Italienische soll nicht hinterfragt werden. Allerdings kann man sich an manchen Stellen nicht des Eindrucks erwehren, daß er dort, wo er von Skopus spricht, eigentlich Fokus meint und umgekehrt, besonders im Obergangsabschnitt vonS. 194 zu 195.

188

Das bedeutet fur das Bairische folgendes: Da der Skopus nicht nach links wirkt, muß eine besondere Markierung eingesetzt werden, eben die zweite Negation, die markiert, welche Konstituente im Fokus der Negation steht. (Im Standarddeutschen (cf. 40b) kann die skopusprojizierende Negation vor der Veibalphrase (.Rede halten) auftreten, da es im Unterschied zum Bairischen eine feste Verbalphrase gibt.)21 Wenn wir dieses Konzept nun einer genaueren Prüfung unterziehen, dürfte ziemlich schnell deutlich werden, daß es nicht zutreffen kann. Zum einen kommt es, wenn wie in (42a) zwei INQ auftreten, zu Erklärungsschwierigkeiten, da Tanaka beide als Fokusnegationen deuten muß. Zumindest nach dem ursprünglichen Konzept von Jacobs (1982) ist es nicht zulässig, im semantischen Bereich der Negation - ohne besondere emphatische Bedingungen - mehr als einen Fokus anzunehmen. Auch für Sätze wie (42b), in dem die Satznegation nie der Fokus- und zugleich Satznegation nix vorausgeht, kann er keine plausible Erklärung bieten, wie er selbst eingesteht (Tanaka 1994: 192 Anm. 1). (42a) (42b)

mia hod neamad koa stikl broud ned gschengt i hob nia nix gsogd

Zum andern bietet diese Theorie keine Erklärung für den entscheidenden Punkt: warum nur INQs Eingang finden in die doppelte Negation. Wenn die zweite Negation nur die Funktion hat, die Konstituente im Fokus der Satznegation zu markieren, wäre dann nicht zu erwarten, daß in Analogie zu (43a) auch so etwas wie (43b) möglich wäre, was tatsächlich aber ungrammatisch ist (vorausgesetzt die beiden Negationen werden nicht als sich aufhebend interpretiert): (43a) (43b)

Neamd is ned kema *Ned da Otto is ned kema

Fokusmarkierung kann also weder hinreichend noch notwendig für die doppelte Negation sein. Der Einwand gilt auch für die Theorie, der Grund für die Doppelnegation sei gleichzeitige Satzglied- und Satznegation (wobei nicht bestritten wird, daß sie es ermöglicht). Eine Theorie der Doppelnegation, die nicht erklärt bzw. erklären kann, warum die Negation des Satzes Jemand kam den Satz Niemand kam ergibt, ist entweder unvollständig oder falsch. Bei der Theorie Tanakas tendiere ich zum letzteren.

4.2.2. Quantifikation und Negation Wie die Beschränkung auf INQs zeigt, muß eine Erklärung im Bereich von Quantifikation und Negation bzw. deren Interaktion liegen. Quantifikation und Negation lassen sich beide logisch als Operatoren22 analysieren, die Skopus haben, so daß es zu Skopus21 22

Daß diese Annahme nicht haltbar ist, dürfte aus meinen bisherigen Annahmen deutlich sein. Cf. Apostel (1972b): "If we look at symbolic logic we see that every negation is an operator on a sentence".

189 konflikten kommen kann, wenn beide zusammen in einem Satz auftreten (cf. Dahl 1993: 918ff.). Dies wird deutlich im Vergleich zu Sätzen ohne Quantoren. (44a) ist ein beliebiger transitiver Satz, dessen prädikatenlogische Form (44b) wiedergibt. Für einen solchen Satz gibt es nur eine Form der Negation: In (44c) hat die Negation Skopus über die ganze Proposition, wie auch aus dem prädikatenlogischen Format erhellt (44d). Hier kann es zu keinen Skopuskonflikten kommen. (44a) (44b) (44c) (44d) (44e)

Otto liebt Else lieben(Otto, Else) Otto liebt Else nicht -ilieben(Otto, Else) F(a,b) ->F(a,b)

Hat man dagegen einen Satz, der einen quantifizierten Ausdruck beinhaltet, kann dessen Negation zu Skopuskonflikten führen. Solche Skopusambiguitäten werden in der Literatur (z.B. Haegeman 1994: 490ff.) gerne anhand von Sätzen mit zwei Quantoren diskutiert. So können in (45c) zwei Lesearten vorliegen, d.h. es kann ausgedrückt sein, daß ein einzelner alle liebt oder daß alle von (mindestens) einem geliebt werden. Im ersteren Fall hat der Existenzquantor Skopus über den Aliquanter (45d), im letzteren sind die Skopusverhältnisse genau umgekehrt (45e). Die Anordnung der Quantoren im prädikatenlogischen Format gibt die Skopusverhältnisse wieder. (45a) (45b) (45c) (45d) (45e)

Jemand liebt Else Ξχ lieben(x, Else) Jemand liebt alle Ξχ Vy lieben(x,y) Vy 3x lieben(x,y)

Es gibt einen, der alle liebt' Tür alle gibt es einen, der sie liebt'

Etwas Ahnliches ist bei der Negation von Sätzen zu beobachten, die einen quantifizierten Ausdruck (im folgenden der Einfachheit halber Quantor) enthalten: Analog zu den beiden Lesarten gibt es nämlich zwei Möglichkeiten, einen solchen Satz zu negieren. Dies sei wiederum an einem Beispiel illustriert. (46a) bringt zum Ausdruck, daß für alle χ gilt, daß sie Else lieben (46b). Die Negation des Sachverhaltes oder des Prädikats (x lieben Else) bewirkt, daß der Allquantor nicht im Skopus der Negation ist bzw. umgekehrt daß die Negation sich in dessen Skopus befindet (cf. 46d). Doch es gibt auch die Möglichkeit, den Allquantor in den Skopus der Negation zu bringen, wie (46e,f) zeigen. (46a) (46b) (46c) (46d) (46e) (460

Alle lieben Else Vx lieben(x, Else) Alle lieben Else nicht Vx -ilieben(x, Else) Nicht alle lieben Else -iVx lieben(x, Else)

190

Semantisch handelt es sich um eine totale und eine partielle Negation. Während (46c,d) äquivalent ist mit der Aussage, daß es keinen gibt, der Else liebt, ist (46e,f) mit der Lesart kompatibel, daß es einige gibt, die Else lieben. Im ersteren Fall hat die Negation weiten Skopus, im letzteren engen Skopus, da nur der Aliquanter negiert wird.23 Daher ist eine Lesart wie für (46c, d) ausgeschlossen. Bei der Negation quantorenhaltiger Sätze dieser einfachen Art kommt es zwar normalerweise24 nicht zu Skopusambiguitäten zwischen Negation und Quantor, aber es sind zwei Skopusverhältnisse möglich. Dies ist schematisch in (47a-c) dargestellt: (47a) (47b) (47c)

Vx F(x) Vx -iF(x) -iVx F(x)

Für die doppelte Negation im Bairischen könnte man nun argumentieren, daß sie ihren Grund in diesen Skopusverhältnissen hat. Wie wir sahen, kann eine Negation, die Skopus über den Quantor hat, nicht auch Skopus über den Satz haben, so daß dadurch die zweite Negation motiviert wäre. Sie wäre dann die Negation, deren semantischer Bereich der Restsatz ist. Doch kann diese Erklärung in dieser Form nicht stimmen, weil sie fiir Sätze wie (48a,b) eine negative Bedeutung voraussagt. Bei Sätzen mit einem (overt) negierten Quantor ist doppelte Negation aber nur dann zulässig,wenn sich die Negationen gegenseitig aufheben (was sich syntaktisch ohne größere Probleme ableiten läßt): (48a) (48b)

Ned olle hand ned hoamganga Ned oana is ned doblim

Die Erklärung ist in der gegebenen Form also zu wenig restriktiv. Schauen wir daher einmal, welche Skopusverhältnisse bei jemand, niemand und Negation gegeben sind.

23

24 25

(49a) (49b) (49c) (49d)

3x F(x) Bx -iF(x) "weiter Skopus' -i3x F(x) 'maximaler Skopus' -i3x -iF(x)25 "maximaler Skopus'

(50a) (50b) (50c)

Jemand ist gekommen Jemand ist nicht gekommen Niemand ist gekommen

Ich möchte ausdrücklich betonen, daß ich im folgenden die Begriffe enger/weiter Skopus anders verwende als z.B. Horn (1989): Enger Skopus liegt vor, wenn im Bereich der Negation nur der Quantor liegt, weiter Skopus dagegen, wenn der Restsatz ohne Quantor den Negationsskopus bildet; gehören beide dazu, spreche ich von maximalem Skopus. Für Fälle mit Skopusambiguitäten (Neg-Q vs. Neg-V) s.u. Diese logische Notation für einen Satz wie (50d) ist zugegebenermaßen irreftlhrend, da die Formel gemäß dem Gesetz der doppelten Verneinung (cf. Kutschera/Breitkopf 1971: 20) die Bedeutung Alle kamen ergibt, was konträr zu (50d) ist. Die beiden Negationszeichen in (49d) markieren aber die syntaktische Position der natQrlichsprachlichen Negatoren in (50d), so daß die gewählte Notation in unserem Zusammenhang angemessen ist.

191 (50d)

Neamd is ned kema

(49a-c) gelten für Deutsch und Bairisch, (49d) trifft nur auf das Bairische zu. Der fundamentale Unterschied zum Aliquanter ist, daß die Negation des Existenzquantors maximalen Skopus hat, also nicht auf den Existenzquantor beschränkt ist. Allerdings lassen sich dieselben Skopusverhältnisse erzielen, wenn man die Negation des Existenzquantors nicht durch einen INQ ausdrückt, sondern durch eine externe (explizite) Negierung26 des Existenzquantors z.B. mit nicht ein ... (51 und 52): (51a) (51b) (51c)

Bx F(x) Bx -iF(x) -i3x F(x)

(52a) (52b) (52c)

Ein Mensch ist gekommen Ein Mensch ist nicht gekommen Nicht ein Mensch ist gekommen

"weiter Skopus' 'enger Skopus'

Die Differenz resultiert also nicht aus der Art der Qualifikation (Existenz- vs. Allquantifikation), sondern aus der Art der Negation: inhärent vs. extern (explizit). Bei inhärenter Negation ist maximaler Skopus möglich, bei externer bildet der Quantor eine Barriere, so daß der Restsatz nicht in den Skopus der Negation fällt. Es stellt sich nun die Frage, ob es ein historischer Zufall ist, daß in allen Sprachen nur INQs vom Typ niemand, nobody usw. existieren, aber keine vom Typ nalles, nall usw. Vom logischen Standpunkt aus wären solche Formen durchaus denkbar. Da dies für alle bekannten Sprachen gilt,27 scheint vieles, wenn nicht alles, dafür zu sprechen, daß es sich um keinen Zufall handelt. Betrachten wir zunächst noch folgende Asymmetrie zwischen Existenz- und Aliquanter. Bei interner (VP-)Negation einer Aussage, deren Subjekt ein dem Aliquanter entsprechender Ausdruck wie englisch all ist (53a-c), haben Untersuchungen festgestellt (Carden 1976; Horn 1989: 226-231 u.ö.), daß prinzipiell zwei Lesarten möglich sind: mit weitem und engem Skopus im obigen Sinne. M.a.W. (53a) kann einmal gleichbedeutend mit (53b) sein, wo die Negation engen Skopus hat, zum andern kann die Negation auch weiten Skopus haben, so daß sich die Bedeutung von (53c) ergibt. Im ersten Fall (Präferenz für Neg-Q) spricht man von einem negative quantifier dialect, im zweiten Fall (Präferenz für 26

27

Die Ausdrücke inhärente/externe Negation bezeichnen lexikalisierte vs. nicht lexikalisierte "-. Qs", sind also nicht identisch mit interner/externer Negation in der Logik, die "Q->" vs. "-.Q" bedeuten. In der einschlagigen Literatur (Payne 1985, Horn 1989, Dahl 1993) jedenfalls werden keine erwähnt. Cf. Horn (1989: 254): "no negative quantifiers, no one-word lexical item with or without negative morphology, are available to express particular negation (the negation of a universal)." Nach Horn (1989: 254) gilt die Nicht-Lexikalisierung von -iV universell. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Löbner (1990: 96ff.). Im Ahd. gab es zwar mit nalles (< ni alles) formal einen inhärent negierten Universalquantor, jedoch nicht funktional, da nalles nur als Adverb ('durchaus nicht') und nicht in der hier relevanten Funktion als Quantor Cnicht alles') in Gebrauch war. Es handelt sich dabei um die Negation eines (genitivischen) Adjektivadverbs alles ('in jeder Beziehung', cf. Paul et al. 1982: 172) und nicht um einen INQ, so daß kein Gegenbeispiel vorliegt.

192

Neg-V) von einem negative verb dialect, läßt ein Dialekt beide Lesarten ohne Präferenzsetzung zu, handelt es sich um einen ambiguous dialect (cf. 34). (53a) (53b) (53c)

All the boys didn't leave Not all the boys left All the boys stayed

(54)

(a)=(b) —• negative quantifier dialect (a)=(c) negative verb dialect (a)=(b) oder (c) —> ambiguous dialect

Wie die Sätze (55a) und (55b) illustrieren, sind Englisch und Französisch Neg-Q-Sprachen (für eine ausfuhrlichere Diskussion als hier möglich vgl. man Horn 1989: insb. 226231; 490-503). Für das Standarddeutsche scheint dies nicht zu gelten: In (55c) muß die Negation vor dem Allquantor stehen, um ihn in ihren Skopus zu bekommen. (55a) (55b) (55c)

All that glisters is not gold Tout ce qui reluit n'est pas or Nicht alles, was glänzt, ist Gold

Das Deutsche ist in der Terminologie von Carden (1976) eine Neg-V-Sprache. Bei Normalbetonung kann Satz (56a) nur die Bedeutung von (56c) haben. Die Bedeutung von (56b) stellt sich dagegen nur bei entsprechend markierter Betonung (etwa: ALLE Kinder sind NICHT nach Hause gegangen) ein. Obwohl also auf den ersten Blick Neg-V stark präferiert zu sein scheint, ist auch im Deutschen eine Neg-Q-Lesart zumindest prinzipiell möglich. Wenn man z.B. entsprechende Kontexte konstruiert, wird eine Neg-Q-Lesart wesentlich natürlicher und ungezwungener: In (57) ist sie die einzig erreichbare, Neg-V wird vom Kontext nicht zugelassen. Da Kommunikation normalerweise kontextsituiert ist, dürfte auch im Deutschen Neg-Q kein seltenes Phänomen sein. Fälle dieser Art werden in der Literatur (z.B. Jacobs 1982: 373-401; 1995: 68-77; Stechow 1992: 234ff.) als I-Topikalisierung (Topikalisierung mit bestimmter Intonation) diskutiert: Wenn der INQ im Vorfeld einen steigenden Ton und die Negationspartikel im Mittelfeld einen fallenden hat (cf. 57), kann die Negation Skopus über den INQ haben.28 (56a)

28

alle Kinder sind nicht heimgegangen

Drei Anmerkungen. Erstens: Die Beschreibung des Phänomens der I-Topikalisierung und der zugrunde liegenden Akzentverhältnisse (steigend - fallend) kann man bereits bei Schiepek (1908: 493) nachlesen. Zweitens: Man geht meistens davon aus, daß dieser Effekt im Mittelfeld nicht erreichbar sei, woran schon Stechow (1992: 234) (leichte) Zweifel anmeldet. Im Bairischen zumindest geht dies ohne Probleme, cf. unten (62a), hier als (i) wiedergegeben: (i) i kant'ma a jeds spei gor ned anschaung Drittens: Der I-Topikalisierungseffekt tritt nicht nur im Zusammenhang von Negation und Quantoren auf, sondern auch bei anderen Adverbien, z.B. bei Temporaladverbien, vgl. (ii), so daß der Effekt insgesamt kaum Marginalitätsstatus haben dürfte. (ii) Anfang der 90er Jahre wurde spätestens deutlich ... (Jaques1 Wein-Depot, 4/96)

193 (56b) (56c)

nicht alle Kinder sind nach Hause gegangen Alle Kinder blieben

(57)

A: Alle Augen waren auf mich gerichtet. B: Nun übertreib nicht. ALLE (/) Augen waren NICHT (\) auf dich gerichtet!

Im Bairischen ist dagegen interessanterweise die Neg-Q-Konstellation auch ohne entsprechende Kontexte schon stark präferent.29 So kann (58a) eher in der Neg-Q-Lesart von (58b) verstanden werden als in der Neg-V-Lesait von (58c). Das Bairische ist somit wie das Englische und Französische eine Neg-Q-Sprache: Der Allquantor befindet sich im Skopus der Negation, auch wenn er in der Syntax dieser vorangeht. Man kann also davon ausgehen, daß auf LF eine Struktur wie (59) im Bairischen vorliegt. (58a) (58b) (58c)

olle Kinda sand ned hoamganga ned olle Kinda sand hoamganga olle Kinda sand blim

(59)

[ned [olle Kinda [ ...

Der prinzipiellen Durchlässigkeit des Allquantors für Neg-Anhebung auf LF steht die grundsätzliche Nicht-Durchlässigkeit des Existenzquantors gegenüber.30 So kann der Satz (60a) niemals in der Neg-Q-Version von (60b) interpretiert werden, ebenso wenig wie dies im Englischen möglich ist (60c,d; nach Horn 1989: 497f.): (60a) (60b) (60c) (60d)

jemand ist nicht gekommen niemand ist gekommen somebody didnt come nobody came

Der Existenzquantor verhindert also im Unterschied zum Allquantor Neg-Anhebung auf LF. Horn (1989: 497ff.) erklärt die Skopusasymmetrie aus dem Zusammenwirken mehrerer unterschiedlicher Faktoren ("outcome of a rivalry among several functional tendencies", Horn 1989: 498). Zunächst einmal nimmt er mit Jespersen (1917; 1924) zwei syntaktische Prinzipien an, die gegenläufige Tendenzen beinhalten. Das erste Prinzip besagt, 29

30

In diese Richtung sind auch die Ausführungen bei Schiepek (1908:493) zu verstehen, der als "bemerkenswert1 anmerkt, "daß auch das lediglich zur Einschränkung von all, jeder dienende, somit zu diesen Begriffen gehörende nicht ohne Veränderung des Sinnes durch kein ersetzt werden kann; nur muß die Zusammengehörigkeit von jeder und kein (=nicht jeder) durch ihre gemeinsame stärkere [...] Betonung hervorgehoben werden", was bei jeder ... nicht umgekehrt nicht notwendig ist. Zwei seiner Beispiele sind (i) und (ii): (i) Jeda kröigts grod ned (ii) Jeda kröigt grod koas Auch bei Kollmer ΙΠ, 404 findet sich ein Beispiel mit Neg-Q: (iii) mid ana jdidn käna des ned moha (= 'nicht mit jeder kann er das machen') Was hier der Einfachheit halber als Neg-Anhebung auf LF bezeichnet wird, ist in der Theorie Absenkung der Quantoren, d.h. Rekonstruktion.

194

daß die Neg-Markierung vorrangig am füllten Verb(komplex) stattfindet ('use nexal negation whenever it is possible', d.h. benütze die unmarkierte Standardnegation). Andererseits existiert ein von Horn als "Neg First" bezeichnetes Prinzip ("the preference for negation to precede its focus", Horn 1989: 446), das verlangt, daß bei Negation mit engem Skopus (bei Horn 1989: weiter Skopus!) die Markierung eigentlich am Quantor (also Neg-Q) geschehen müßte. Außer bei INQs obsiegt in Neg-Q-Sprachen das erste Prinzip, so daß selbst eine nachfolgende Negation Skopus über den Quantor haben kann. Existieren aber INQs, kann das Neg-First-Prinzip nicht mehr überschrieben werden und die Neg-Markierung am Quantor ist obligatorisch. Da aber nun lexikalisierte negative Ausdrücke (INQs) nur für den Existenzquantor existieren, kann die oben dargestellte Asymmetrie aus dem Zusammenspiel der zwei Prinzipien und einer morphologischen Gegebenheit (niemand vs. *nalle) abgeleitet werden. Die Neg-Q-Interpretation des Allquantors, der der Negation vorausgeht, entsteht nach Jespersen und Horn aufgrund einer weiteren Tendenz, dem 'Subject-First'-Prinzip. Da aber im Fall des Allquantors nur morphologisch und syntaktisch markierte Formen (nicht alle, nicht jeder) existierten, setzte sich das Prinzip der unmarkierten Standardnegation durch, obwohl das 'Neg-First'-Prinzip dem entgegensteht. Bei den unmarkierten Formen der INQs greife dagegen das 'Neg-First'-Prinzip, so daß dadurch ausgeschlossen wird, daß die Standardnegation, die dem Existenzquantorausdruck nachfolgt, Skopus über ihn haben kann. Der Datenkontrast in (61) ist damit richtig vorausgesagt. (61 a) (6 lb) (61c) (6 Id)

All the boys didnt leave -,·Vx (boy(x) leave(x)) Nobody left -i3x leave(x)

In Ergänzung zu Horns Ausführungen sei ohne Diskussion an dieser Stelle angefügt, daß der Allquantor auch dann in den Skopus der Standardnegation gehören kann, wenn er nicht (Teil des) Subjekt(s) des Satzes ist. Im Bairischen haben Sätze mit quantorenhaltigen Objekten (62a) bzw. Präpositionalphrasen (62c) ausschließlich eine Neg-QLesart (cf. 62b,d): (62a) (62b) (62c) (62d)

i kant'ma a jeds spei gor ned anschaung Ich könnte mir nicht jedes Spiel anschauen (einige aber schon) mid ana jeidn käna des ned moha nicht mit j eder/mit nicht j eder kann er das machen

Insgesamt vertritt Horn (1989) die Auffassung, daß die Skopusasymmetrie letztlich auf morphologische Faktoren zurückzuführen ist, nämlich auf die Existenz einer komplexen lexikalisierten Form im Falle der INQs (z.B. niemand) bzw. auf deren Fehlen (*nalle). Als empirischen Beleg seiner Erklärung deutet Horn (1989: 500) die Tatsache, daß in vielen verbfinalen Sprachen, die keine INQs aufweisen, it is more the rule than the exception for a negative to the right of an existential or particular quantifier to be assigned (at least optionally) wide [!] scope with respect to that quantifier.

195 So haben Sätze wie (60a) oder (60c) in indo-arischen und dravidischen Sprachen eine Neg-Q-Lesart (bzw. können sie haben). Die morphologische Asymmetrie natürlichsprachlicher Ausdrücke für die Existenzbzw. Allquantiiikation läßt sich mit Horn (1989) im "square of opposition" verdeutlichen (vgl. auch Löbner 1990: 75-78). Das letztlich auf Aristoteles zurückgehende Viereck (die Eckenkennzeichnungen beziehen sich auf die lateinischen Verbformen affirmo und nego, cf. Horn 1989: 10) skizziert die möglichen Quantorenausdrücke und deren Konstellation. Die A/E- und I/O-Paare sind konträre Oppositionen, die A/O- und I/E-Paare dagegen Kontradiktionen. (63) gibt das Verteilungsmuster für das Englische wieder (Horn 1989: 255). Es weist die typische Lücke in der O-Ecke auf, die das Fehlen eines lexikalisierten Ausdrucks in der Bedeutung not all / some not anzeigt. (63) A: all

I: some

Ε: no(ne)

Ο:

Nach Horn (1989: 255) ist das englische Muster "typical rather than exceptional". Es läßt sich auch ohne Modifikation auf Sprachen wie das Deutsche (alle - einige - kein) oder das Bairische (oi - oe - koa) übertragen. Doch repräsentiert es keineswegs ein universelles Paradigma, da häufiger noch vorkommt, daß Sprachen auch die Ε-Position nicht lexikalisieren. Trotzdem kann man mit Horn (1989: 256) die universell gültige Generalisierung aufstellen: "A, I, and often Ε values may lexicalize, Ο values may not." Horn (1989: 499f.) vermutet übrigens funktionelle Gründe für diese Verteilung. Da einige immer auch einige nicht und nicht alle impliziere, lasse sich jede mögliche Information in einer Proposition ausdrücken, die entweder alle, einige oder kein enthalte: "The fourth value {*nall = not all, implicating some) is functionally (although not logically) expendable" (Horn 1989: 500). Danach ist es also kein historischer Zufall, daß es nur INQs vom Typ niemand, nobody usw. gibt, Formen wie *nall sind einfach überflüssig. Rekapitulieren wir kurz die Ergebnisse dieses Abschnitts. Negierte quantißkatorische Ausdrücke natürlicher Sprachen lassen sich für Sprachen wie Englisch, Deutsch, Bairisch usw. unter zwei distinkte Klassen fassen, die (zumindest) drei fundamentale Unterschiede aufweisen. Die Klasse I (Typ niemand) enthält (1) lexikalisierte Formen, (2) ihre positiven I-Pendants (ein/einige) sind nicht durchlässig für Neg-Anhebung auf LF (*3-i = -i3) und (3) in Sprachen mit doppelter Negation lizensieren nur sie solche Konstruktionen. Dagegen enthält die Klasse II (Typ nicht alle) (1) nicht-lexikalisierte Elemente, deren (2) positives Α-Pendant {alle) durchlässig für LF-Anhebung ist (V-> = -iV) und die (3) zusammen mit der Standardnegation eine positive Bedeutung ergeben.

196 Ganz allgemein gilt, daß nicht lexikalisierte negierte QuantoFen (tied + Q) die Standardnegation aufheben, während INQs mit ihr harmonieren, wie (64a) und (64b) für das Bairische illustrieren: (64a) (64b)

wai's koaner ned gseng hod [+Neg] wai ned oana vo uns des ned gseng hamd [-Neg]

Um gänzlich wieder auf das Bairische zurückzukommen, läßt sich als empirische Verallgemeinerung formulieren, daß Quantifikation im Skopus einer Satznegation zwei Realisierungsformen zeigt: (1) Nichtmarkierung {alle ... nicht) und (2) Markierung durch einen INQ. Die analytisch gebildeten Formen {nicht alle/jeder usw.) befinden sich bei Vorhandensein einer zusätzlichen Satznegation nicht in deren Skopus, weswegen es zur Aufhebung der negativen Bedeutung kommt: (64b) heißt eben, daß es alle gesehen haben. Aus diesem Grund spreche ich in diesen Fällen von engem Skopus, entgegen der Gepflogenheit der Forschung (cf. Horn 1989: 500 u.ö ).

Exkurs: Referenz, Denotation (etc.) und INQs Die Klasse der INQs hat neben den bisher diskutierten noch eine weitere interessante Gemeinsamkeit,31 daß sie nämlich nicht-referentielle Ausdrücke sind. Mit Strawson (1972: 202) kann man sagen, "es gibt keine Sache, die von 'nichts' eingeführt würde". In Antwort auf Horns (1989: 50) "How can there exist something which does not exist" und Apostels (1972a: 210): "Observing that There is no noise' is [...] not a negative observation" sei Valentin (1995: 190) zitiert: Simmerl: Hörst du mi denn aa, wenn i nix red? Anni: Sell waoß i net; red axnal nix, ob i nacha was hör. Simmerl: Ja, jetzt paß auf, jetzt red i nix. Hast des jetzt ghört, wia i nix gredt hab? Anni: Ja tadellos - und des hab i nacha ghört, wias d' gsagt hast "Hast des jetzt ghört, wia i nix gredt hab?" Simmerl: So, des hast ghört? - Aber des andere net? Anni: Was für a anders? Simmerl: No ja, wia i nix gredt hab. Anni: Na, zuaghört hab i scho, aber ghört hab i nix. Simmerl: Des is gspaßig, gell, mit dera Hörerei.

Für eine angemessenere Auseinandersetzung mit diesem v.a. in der Philosophie diskutierten, aber auch semantisch interessanten Thema sei auf die entsprechenden Ausführungen bei Horn (1989: 45-79), Apostel (1972a; 1972b) und Chierchia/McConnell-Ginet (1990: 50ff.) verwiesen sowie auf die folgenden Abschnitte, die eine bestimmte Herangehensweise an die Problematik implizieren.

31

Den Hinweis auf diesen Problemkreis verdanke ich E. Dobnig-Jülch (m.M.).

197 4.3. Syntax der doppelten Negation In der Forschung sind mehrere Termini für das hier untersuchte Phänomen gebräuchlich. Oft spricht man einfach von pleonastischer oder verstärkender Negation (Horn 1978: 171), Labov (1972) gebraucht den Ausdruck negative concord, der auch innerhalb der generativen Grammatik, in der sich die Negationssyntax in den letzten Jahren sehr großer Beliebtheit erfreut hat, üblich ist (z.B. Bayer 1990d; Haegeman/Zanuttini 1991; Haegeman 1995: 138-140). Dieser Gepflogenheit folgend werde ich abkürzend von NC (= negative concord) sprechen. (64a) hat in diesem Sinne eine NC-Lesart, (64b) dagegen eine DNLesart (DN = doppelte Negation). Der bei Haftka (1993: 140) gebrauchte Ausdruck Negationsharmonie ist synonym zu verstehen und wird von mir als stilistische Variante verwendet. Sie definiert (nach Aquaviva 1993) Negationsharmonie als "Kookkurrenz von Negationsmarkern mit negativen phrasalen Ausdrücken ohne logische Kumulation der Negation" (Haftka 1993: 141). Für das Bairische - und soweit ich sehe, für alle Sprachen mit NC - benötigt man dann nur die Präzisierung, daß die "negativen phrasalen Ausdrücke" entweder INQs sind oder welche enthalten. Aus Haftkas ursprünglicher Formulierung geht diese rigide Beschränkung nicht hervor, und einen Datenkontrast wie (64a vs. b) könnte sie damit nicht erfassen (wie auch das Neg-Kriterium, s. IV.3.2.).

4.3.1. NC als NEG-Absorption Technisch gesehen läßt sich NC in der Art der wh-Absorption analysieren (cf. Haegeman 1995: 78f., deren Notation übernommen ist).32 Der Satz (65a) enthält zwar zwei whWörter, er wird aber dennoch als eine einzige Frage interpretiert. Dies repräsentiert man, indem angenommen wird, daß seine LF nur einen wh-Operator aufweist, der zwei Variablen bindet (cf. 65b). GB-technisch wird dies so abgeleitet, daß auch das auf der s-Struktur in situ verbleibende wh-Element (was) auf LF zu [Spec,CP] angehoben wird (wie in (65c) vereinfacht dargestellt). (65a) (65b) (65c)

Wer hat was gesagt? Für welches x,y [x: eine Person; y: ein Ding] [x sagte y] [ c p wer was [ c ...

In ähnlicher Weise kann man das Mehrfachvorkommen negativer Konstituenten mit einer NC-Lesart (66a) so deuten, daß ein einzelner NEG-Operator zwei oder mehrere Variablen bindet (66b). Auf LF werden - wie in (66c) vereinfacht wiedergegeben - die Negationsausdrücke angehoben, so daß sie Skopus Uber den Satz haben. Da aber - so die Vorannahme - keiner von beiden im Skopus des anderen steht, gehen sie eine NC-Relation ein

32

Die Idee, NC analog zur WH-Absorption zu analysieren, geht auf eine mir nicht zugängliche Arbeit von Zanuttini 1989 zurttck; Haegeman/Zanuttini (1991: 246f.) gebrauchen den Terminus Neg-factorization, der das gleiche meint. Eine - davon unabhängige - funktional-pragmatische Erklärung, auf die nicht näher eingegangen werden kann, gibt Horn (1989:458, 193ff.).

198 und ergeben eine einzige Negation. Eine der Bedingungen für NC ist, daß der Skopus beider Negatoren identisch ist (cf. Haegeman/Zanuttini 1991: 235). Die Analogie zur whAbsorption liegt auf der Hand: zwei Negationsausdrücke werden als eine singuläre Negation interpretiert. (66a) (66b) (66c)

Neamd hod nix kod Für kein x,y [x: eine Person; y: ein Ding] [x hatte y] [ c p neamd nix [ c . . .

Eine Kritik dieses Konzepts folgt später.

4.3.2. Das Neg-Kriterium Wie in Abschnitt 2 bereits erwähnt, gehe ich von einer NegP aus, deren Kopf ned ist, weil allein dieses Format die syntaktische Analyse der doppelten Negation mit NC ermöglicht, ohne auf Zusatzannahmen zurückgreifen zu müssen. Auch dem sog. Neg-Kriterium wird dadurch in einer sehr ökonomischen Weise Rechnung getragen. Das Neg-Kriterium ist eine Wohlgeformtheitsbedingung für LF (Haegeman/Zanuttini 1991: 234) und eine Instanz des allgemeineren AfiFect-Kriteriums (Haegeman 1995: 93). Das Affect-Kriterium erklärt die Lizensierung bestimmter affektiver Elemente'33 wie whWörter (Haegeman 1995: 94-106), Fokuselementen (Haegeman 1995: 107-110) und negierter Ausdrücke (Haegeman 1995: 106f.), indem es die strukturellen Bedingungen angibt, die der Lizensierung zugrundeliegen. (67)

AFFECT-criterion (Haegeman 1995: 93) a) An AFFECTIVE operator must be in a Spec-head configuration with an [AFFECTIVE] X° b) An [AFFECTIVE] X° must be in a Spec-head configuration with an AFFECTIVE operator

Die relevante strukturelle Konstellation ist die Spec-Kopf-Beziehung, die im minimalistischen Programm als allgemeine Struktur bei Merkmalsüberprüfung jeder Art angenommen wird (Haegeman 1995: 94). Die klassische Instanz des Affekt-Kriteriums ist das wh-Kriterium, das die Syntax von wh-Wörtern erklärt. In der bei Haegeman (1995: 94) gegebenen Form lautet es: (68)

33

wh-criterion a) A wh-operator must be in a Spec-head configuration with an X° with the feature [wh] b) An X° with the feature [wh] must be in a Spec-head configuration with a wh-operator

Im ursprünglichen Sinne von Klima (1964) sind affektive Operatoren solche, die negative Polaritätselemente lizensieren, cf. Haegeman (1995: 76). Im engeren Sinne sind affektive Operatoren nur interrogative und negative Operatoren, cf. Haegeman (1995: 107).

199 (69)

a) b)

wh-operator: a wh-phrase in a scope position Scope position: left-peripheral A'-position, i.e. an adjoined position [XP, YP] or a specifier position [Spec, XP]

Es wird angenommen, daß z.B. in eingebetteten Fragesätzen das wh-Merkmal in C° lokalisiert ist. Um dem wh-Kriterium Genüge zu leisten, sind wh-Wörter gezwungen, sich nach [Spec,CP] zu bewegen. Damit befinden sie sich zum einen in einer A'- und Skopusposition, wie von (69a,b) gefordert (die Basisposition bei Subjekt und Objekt ist eine APosition und daher keine Skopusposition), und zum andern in der von (68a) festgeschriebenen Spec-Kopf-Beziehung zum wh-tragenden C°-Kopf. In Sprachen wie dem Deutschen wird das wh-Kriterium bereits auf der s-Struktur überprüft, so daß overte whBewegung obligatorisch ist (cf. 70a, b). In Sprachen wie dem Chinesischen können whWörter dagegen auf der s-Struktur in situ verbleiben (cf. 70c) und werden erst auf LF in [Spec, CP] bewegt, um dem wh-Kriterium gerecht zu werden. Auf welcher Ebene die Erfüllung des wh-Kriteriums überprüft wird, ist somit für Parametrisierung offen. (70a) (70b) (70c)

..., wer das getan hat ..., was er gesagt hat Zhe shi sh6nme? Dies ist was?

Auch die Distribution und Interpretation der Negationsausdrücke läßt sich analog dazu anhand des Affekt-Kriteriums beschreiben, wenn man dieses in ein entsprechendes Format bringt. Es ist in (71) angegeben mit den relevanten Definitionen in (72): (71)

NEG-criterion (Haegeman 1995: 106f.) a) A NEG-operator must be in a Spec-head configuration with an X" [NEG] b) An X° [NEG] must be in a Spec-head configuration with a NEG-operator

(72)

a) b)

NEG-operator: a negative phrase in a scope position Scope position: left-peripheral A'-position [Spec, XP] or [XP, YP]

Haegeman/Zanuttini (1991) demonstrieren das Funktionieren des Neg-Kriteriums im Westflämischen (WF). Ähnlich wie das Mhd. besitzt das WF noch eine klitische Negationspartikel en, die sie als Kopf der NegP analysieren, während sich im Spezifikator der NegP die Negationspartikel nie 'nicht' oder ein INQ wie niemand, niets befindet. Unter Zugrundelegung der Split-INFL-Hypothese gehen sie von einer Struktur wie in (73) aus. Im WF ist es nun so, daß das Neg-Kriterium auf der Oberflächenstruktur in einer so rigiden Weise erfüllt werden muß, wie das für das Bairische, wie wir sehen werden, nicht gilt. In Hauptsätzen wie (74a) wird die Spec-Kopf-Beziehung in der Regel auf Höhe der NegP erreicht, kann aber auch in einer abgeleiteten Position, nämlich [SpecCP, C°], realisiert werden, wie (74b) zeigt. Hier sind sowohl der INQ als auch das finite Verb samt Negationsklitikum nicht in ihrer Basisposition. In beiden Positionen (d.h. bei V/2 und V/End) ist das Negationsklitikum zwar fakultativ, wenn es aber auf der s-Struktur er-

200 scheint, ist nur eine Konstellation erlaubt, in der die Spec-Kopf-Beziehung zum zweiten Negationsträger gewährleistet ist. Wenn - wie in (74c) - ein INQ wie niets in die Spec-CP eines Matrixsatzes bewegt wird, kann das Negationsklitikum nicht am finiten Verb des eingebetteten Satzes stehen bleiben (cf. 74d), sondern muß ebenfalls angehoben werden. Die Spec-Kopf-Relation kann im WF also nicht durch die (Zwischen-)Spur, die der Negativoperator in Spec-NegP hinterläßt, erfüllt werden. (73)

ICP [A^P [Negp [ττ [VP v 1T] Ne8°l

(74a) (74b)

da Val£re niemand (en-)kent niets (en-)deeg Valere nichts tat V. niets en-peinzen-k da ze wilt doen nichts en-denke-ich daß sie will tun Ich denke, daß sie nichts tun will' * niets peinzen-k da ze en-wilt doen nichts denke-ich daß sie en-will tun

(74c) (74d)

Eine mögliche Erklärung dafür wäre, daß es mit der Art der Negation zusammenhängt. Ahnlich wie im Mhd. liegt nämlich eine morphologische Negation vor, d.h. die Negation en klitisiert obligatorisch an V°. Wie immer man die Klitisierung technisch löst (z.B. V°T-Neg°-Agr-Anhebung bei Haegeman/Zanuttini 1991), es ist aufjeden Fall so, daß auf der s-Struktur Neg° phonetisch leer ist und eine Spur enthält. Diese Spur kann mit einem INQ in SpecNegP dem Neg-Kriterium gerecht werden (Haegeman/Zanuttini 1991: 247). Jedoch eine zusätzliche Spur in Spec-NegP, die durch Bewegung des zweiten Negationsträgers entsteht, würde bedeuten, daß das Neg-Kriterium allein durch (Zwischen-)Spuren, also phonetisch leeres Material, erfüllt wäre, was offenbar nicht ausreicht. Daß eine analoge Beschränkung im Bairischen fehlt, das ja keine morphologische Negation hat, scheint mir ein Indiz für die Richtigkeit meiner Erklärung zu sein.

4.4. Die doppelte Negation im Bairischen 4.4.1. Struktur der NegP Die für das Bairische anzunehmende Struktur ist (75), wobei ScP = Scramblingposition und Ρ = Partikelposition bedeutet (Erklärung s.u.):

201 CP

(75) Spec

C C°

ScP Ρ

ScP

Ρ

NegP

Spec

Neg'

Neg®

VP

Die Struktur (75) ist weitgehend kompatibel mit deijenigen des deutschen Mittelfeldes (MF), die Haider (1993: 176-179) im Anschluß an Werner Frey vorgeschlagen hat: (76)

ΓΜΡ[νΡ...ΧΡ(... [Ρ [VP... e^.. V]]]J

Den Nukleus (innerste Schale) bildet die vom jeweiligen Veib vorgegebene A-Struktur, d.h. die Positionen für die Argumente des Verbs (inkl. Subjekt), wobei nach Haider die Serialisierung nicht festgelegt zu werden braucht. Die Scramblingpositionen, abgetrennt von der eigentlichen VP durch die Position Ρ für die Abtönungspartikel (wie denn, etwa, wohl oder ja), sowie in unserem Format die NegP, bilden als Erweiterung der VP eine Adjunktionsschale, deren Elemente mit einer Leerstelle "mit Projektionslizenz" in der inneren VP verbunden sind. Die äußerste Schale stellt die - in (75) der Einfachheit halber weggelassene - Wackernagel-Position dar, die als Landeposition für Klitika fungiert (vgl. Kapitel III). Anders als Haider (1993) nehme ich aber an, daß die Scramblingposition nicht mehr zur VP gehört, daß also alles Material, das links vor den Partikeln erscheint, nicht mehr VPintern ist. Warum ich diese Annahme brauche, werde ich gleich erläutern. Mögliche und nötige Erweiterungen (AdvPs) sind hier zunächst weggelassen, sind aber problemlos in die Satzstruktur einzubauen (vgl. z.B. Haftka 1993b). Eine nötige AdvP für den lokalen bzw. temporalen INQ wird zu einem späteren Zeitpunkt auch tatsächlich implementiert. Wenden wir uns zunächst den einfachen Fällen zu. (77) illustriert die anzunehmende Struktur eines Satzes, der bei einer doppelten Negation eine NC-Lesart aufweist. Der Kopf der Negationsphrase ist die Partikel ned, im Specifier befindet sich das Objekt, das den INQ koa enthält. Der INQ ist gemäß (72) ein NEG-Operator, da er in einer Skopusposition lokalisiert ist. Das Neg-Kriterium (71) ist erfüllt, weil die Spec-Kopf-Beziehung zu dem X°-Element ned mit dem Merkmal [Neg] gegeben ist.

202 (77)

[wai'e [ NegP koa Geid [ Neg , ned [ w han]]]]

Nach Ausweis von (77) gilt das Neg-Kriterium im Bairischen auf der s-Struktur. Wie die Daten in (78) zeigen, können sämtliche Argumente (Subjekt, direktes Objekt, indirektes Objekt) und Präpositionalphrasen mit Argumentstatus eine NC-Lesart mit der Satznegation eingehen. (78a) (78b) (78c) (78d)

daß koa Mensch ned kema is daß'e koan Menschn ned gseng hob daß'e des Buach koam Menschn ned geem hob daß'e auf koan Berg ned afegstieng bin

Im Normalfall wird das Neg-Kriterium an der NegP realisiert: Phonetisches Material in SpecNegP und Neg0 konstituieren die für NC notwendige Spec-Kopf-Beziehung. Anders als im WF, dessen morphologische Negation erzwingt, daß der Kopf der NegP obligatorisch phonetisch leer wird, ist im Bairischen Neg° immer gefüllt. Die Negation ned kann nicht bewegt werden: so ist sie weder zusammen mit dem infiniten Veib (79a) noch alleine (79b) vorfeldfähig; außerdem kann sie nicht gescrambelt werden (79c), geschweige denn extraponiert (79d). Die fehlende Beweglichkeit, insbesondere die fehlende Vorfeldfahigkeit weisen ned eindeutig als X°-Kategorie aus (wie im übrigen auch das nhd. nicht, vgl. Haftka 1993b: 156, Anm. 5). (79a) (79b) (79c) (79d)

*ned kema is da Sepp *ned is da Sepp kema *da Sepp is ned gesdan kema34 *da Sepp is gesdan kema ned

Die obligatorische Präsenz von ned in Neg° ermöglicht im Bairischen, daß das Neg-Kriterium auch dann erfüllt ist, wenn im Specifier der NegP nur eine Zwischenspur steht. Hier sind es ausschließlich zwei Fälle, die relevant sind. Zum einen Deklarativsätze mit Subject-First (also SVO) und zum andern mit Object-First, wenn das Objekt also fokussiert ist (OVS). Beide Male ist die negierte Konstituente in SpecCP und kann daher natürlich nicht in einer Spec-Kopf-Relation zur Satznegation stehen. Da die Sätze aber grammatisch sind, muß davon ausgegangen werden, daß dem Neg-Kriterium auf der s-Struktur auch dann Genüge geleistet wird, wenn die Spec-Kopf-Konfiguration zu Neg° durch die Zwischenspur, die das Subjekt/Objekt bei Topikalisierung in SpecNegP hinterläßt, aufgebaut wird. Die beiden Konstellationen sind in (80a,b) wiedergegeben (die Ausgangsspuren in der VP sind weggelassen): (80a) (80b)

34

[ c p koa Mensch [ c , is [Negp t( [Neg, ned kema]]]]] [ c p koan Menschn, [ c , haife [ NegP t, [Neg, ned [ w gseng]]]]]

Dieser Satz ist natürlich grammatisch, wenn eine Sondemegation vorliegt; in der hier intendierten Lesart mit ned als Satznegation ist er jedoch ungrammatisch.

203 Das Bairische unterscheidet sich in diesem Punkt vom WF, bei dem Zwischenspuren in SpecNegP ja nicht das Neg-Kriterium erfüllen können (s.o. 74c,d). Ich habe oben schon ausgeführt, daß der Unterschied seinen Grund in der Art der Negation (WF: morphologisch; Bairisch: syntaktisch) hat, und will darauf nicht mehr eingehen. Stattdessen möchte ich noch darauf hinweisen, daß eine Anhebung aus einem eingebetteten Satz heraus im Bairischen in bezug auf die NC-Lesart zu ungrammatischen Ergebnissen führt, obwohl Extraktion aus einer eingebetteten CP heraus grundsätzlich natürlich möglich ist (81a,b), so daß fehlende Spurenbindung als Ursache nicht in Frage kommt. Im WF dagegen sind solche Konstruktionen erlaubt (74c hier als 81c wiederholt). (81a) (81b) (81c)

neamd glaub'e, is (*ned) kema neamd glaub'e, daß (*ned) kema is niets en-peinzen-k da ze wilt doen nichts en-denke-ich daß sie will tun Ich denke, daß sie nichts tun will'

Diese Differenz mag damit zusammenhängen, daß im WF auf LF nicht rekonstruiert werden muß, um die für NC notwendige Spec-Kopf-Bedingung herzustellen, da sie ja schon auf der s-Struktur overt realisiert werden muß.35 Im Bairischen wird man dagegen Rekonstruktion36 auf LF zur Erklärung der Daten in (80) heranziehen müssen. Man hat wohl davon auszugehen, daß die fraglichen negierten NPs auf LF wieder abgesenkt werden in den Specifier der NegP, so daß die notwendige Spec-Kopf-Konfiguration entsteht. (80a) hat damit eine LF-Repräsentation wie in (82a) vereinfacht angegeben. (82a)

ICP TC '

S

INEGP

Menschj [Neg, ned [ w kema]]]]]

Das Neg-Kriterium muß also spätestens auf LF erfüllt werden, bzw. kann fakultativ auf LF erfüllt werden, wenn auf der s-Struktur andere Prinzipien, die damit konfligieren können, prominent sind. So hat in (80a) das Subject-First-Prinzip Vorrang, in (80b) überschreibt die Fokussierung des Objekts die (overte) Spec-Kopf-Erfordernis. In diesen Fällen findet dann Rekonstruktion auf LF statt. Die einfachste Erklärung für die Daten in (81) wäre wohl, daß Rekonstruktion zur Erfüllung des Neg-Kriteriums im Bairischen nur innerhalb einer einzigen CP erlaubt ist.37 Darauf deutet auch hin, daß es im Bairischen keine z.B. dem Italienischen oder Englischen vergleichbaren that-trace-Effekte gibt. In den Dialekten des Englischen, die NC erlauben, ist NC möglich zwischen einem Negationselement im Matrixsatz und einem negierten Element in der Objektsposition des eingebetteten Satzes (Haegeman 1995: 81f.). Die Sätze (82b, c) haben also eine NC-Lesart. Die entsprechenden Sätze (82d,e) haben im

35 36 37

Zwar werden auch im WF die Skopusverhältnisse rekonstruiert werden müssen, doch spielt das in diesem Zusammenhang offenbar keine Rolle. Zum Thema Rekonstruktion vgl. Haegeman (1994: 523-532) und die dort genannte Literatur. Für zahlreiche Beispiele (aus dem Englischen), in denen über Satzgrenzen hinweg rekonstruiert werden kann, vgl. Haegeman (1994: 523-532).

204 Bairischen dagegen eine DN-Lesart, d.h. die beiden Negationen heben sich gegenseitig auf. Im Bairischen ist Negationsharmonie also nur innerhalb einer CP möglich. (82b) (82c) (82d) (82e)

I didnt say that you could buy nothing Nobody said that John bought nothing I han ned gsogd, dassd nix kaffa soist Neamd hod gsogd, daß da Sepp nix kaffd hod

Eine Alternative zur Rekonstruktion wäre eine Analyse, die mit dem Begriff der Kettenbildung arbeitet (vgl. auch Haegeman/Zanuttini 1991: 247f.). Man müßte nur festlegen, daß Negationsabsorption im Bairischen auch über Neg-Ketten operiert. So bildet oben in (80a) [koa Menschj, t j eine Neg-Kette, so daß gilt, daß, wenn ein Glied der Kette mit Neg° in einer Spec-Kopf-Relation steht, das Neg-Kriterium erfüllt ist. Eine Rekonstruktion auf LF wäre somit überflüssig. Diese Analyse hat den Vorteil, daß dann das NegKriterium prinzjpiell und einheitlich auf der s-Struktur greift.

4.4.2. Mehrfachnegationen Es wurde bereits erwähnt, daß es möglich ist, daß es mehr als zwei Negationsträger im Satz geben kann, die aber dennoch eine NC-Interpretation erlauben. Im einfachsten Fall sind wie in (83) Subjekt und Objekt negiert. Hier ist es nötig anzunehmen, daß - nach einer Art Mirror-Prinzip - das Objekt als das veibnächste Argument den Specifier der NegP besetzt und daß das Subjekt an den Specifier wiederum adjungiert, um die VP-intern anzusetzende Abfolge Subjekt vor Objekt auch auf Höhe der NegP zu replizieren. Dies ist in (84) dargestellt. Da sich das Subjekt in einer Adjunktionsposition befindet, ist es per definitionem nicht exkludiert (Chomsky 1986: 9), wodurch die vom Neg-Kriterium (cf. 71) geforderte Spec-Kopf-Relation zu Neg° ebenfalls erfüllt wird. Diese Annahme ist durch Definition (72b) abgedeckt, da die Adjunktion an NegP ausdrücklich als Skopusposition zugelassen ist. (83)

mia hod neamad koa stikl broud ned kschengt

205 CP

(84)

Spec

C'

rrua

NegP

Subj.

NegP

hod Neg'

Spec neamad Neg°

VP

koa st.br. ned

kschengt

Mehrfachnegationen mit nominalen INQs sind also kein Problem fur das Neg-Kriterium, da der unabhängig motivierbare Adjunktionsmechanismus (vgl. dazu auch Sternefeld 1991: 27-37) eine befriedigende Erklärung erlaubt. Wie verhält es sich nun bei den adveibiellen INQs nie und niegads? Treten sie zusammen mit nominalen INQs in einer NC-Lesart auf, gehen sie diesen immer voran (vgl. auch die Beispiele bei Kollmer I, 403). Die inverse Abfolge fuhrt dagegen zu ungrammatischen Resultaten (cf. 85a vs. b), sofern sie nicht kumulativ interpretiert werden (s. später 117a). Bei Kookkurrenz von adverbiellem INQ und Satznegation gibt es ebenfalls nur eine grammatische Abfolgemöglichkeit (cf. 85c vs. d). (85a) (85b) (85c) (85d)

do is nie/niegads neamd/nix (ned) gwen *do is neamd/nix nie/niegads (ned) gwen do bin'e nie ned gwen *do bin'e ned nie gwen

Als strukturelle Analyse bietet sich nun eine Möglichkeit an, die am Beispiel von nie demonstriert werden soll (die Analyse für den lokalen INQ ist identisch). Die Möglichkeit besteht darin, das Frequenzadverbiale innerhalb der NegP anzusetzen (cf. Haftka 1993b: 144). Wie in (86) zu sehen, nimmt es ebenfalls eine Adjunktposition ein und ist somit nicht exkludiert (s.o.). Damit ist das Neg-Kriterium in einfachen Fällen (Kookkurrenz von nie und ned, s. 85c) kein Problem, da die Adjunktposition per definitionem (72b) ja eine Skopusposition ist. Auch die Iteration mehrerer negativer Elemente qua Expansion der NegP steht einer NC-Lesart nach dem Neg-Kriterium nicht im Wege, wie wir oben gesehen haben (cf. 84).

Neg·

Neg°

VP

ned

gwen

neamd

Die Struktur (86) scheint also eine elegante Erklärung der Daten zu erlauben. Mithilfe des oben entwickelten Begriffs der Neg-Kette sind die Daten in (87) analysierbar. Wir hatten anhand der Topikalisierungsdaten festgestellt, daß im Bairischen gilt, daß, wenn ein Glied der Kette mit Neg° in einer Spec-Kopf-Relation steht, das Neg-Kriterium erfüllt ist. Bei (87a), einem Zitat von L. Thoma, ist anzumerken, daß die Satznegation zwar fehlt, prinzipiell aber erlaubt ist und daher in (87b) eingefügt wurde.38 In (87a und c) wird die Spec-Kopf-Relation durch die Spur bewerkstelligt, die faktisch gegebene NCInterpretation ist somit aus der Erfüllung des Neg-Kriteriums ableitbar. (87a) (87b) (87c) (87d)

koa Lebemann war i gar nia (Thoma 1,141) [ ς ρ koa Lebemann; [ c war i [ NegP gar nia [ NegP t, [Neg, (ned) [yp... nia schaffd der des ned ICP ^ Ι tc schafft] der des [ NegP [ Neg , ned [YP...

Scheinbare Gegenbeispiele gegen die von mir gemachte deskriptive Generalisierung, daß adveibielle INQs den nominalen vorangehen, bieten Konstruktionen mit nie/nicht mehr, das im Bairischen als nimma als ein Wort lexikalisiert ist. (88a) (88b) (88c)

de wo selbst koan Schwung nimma ham (Thoma 1,151) es gibt koa Gerechtigkeit nimma (Thoma L, 151) wa koa va-kea nimma dogwen is (Kollmer ΠΙ, 77)

M.E. handelt es sich dabei nur um scheinbare Gegenbeispiele. Ich würde dafür plädieren, nimma aufgrund seiner Distribution als Satznegation zu analysieren, d.h. in Neg° zu loka38

Die Bedingungen der Weglaßbarkeit der Satznegation werden später erörtert.

207 lisieren. Es ist nicht kompatibel mit der Standardnegation ned (89a), zeigt aber ansonsten ein identisches Verhalten. So ist zwischen nimma und Verb nur lexikalisches Material erlaubt, das keinen Argumentstatus hat (cf. 89b vs. c), und es kann ebenso wie ned an der VTopikalisierung teilnehmen (89d). Wenn die Analyse als Neg°-Element zutreffend ist, sind die Sätze in (88) keine problematischen Fälle mehr, da in ihnen die Neg-Operatoren regelhaft das vom Neg-Kriterium (cf. 71, 72) geforderte Spec-Kopf-Verhältnis zum Neg°Element nimma aufweisen.39 (89a) (89b) (89c) (89d)

*de wo selbsd koan Schwung nimma ned harn wa koa Schwung nimma/ned dabei is *wa heind nimma/ned da Sepp kimd nimma/ned aushoitn han'e des Gsangl kind

4.4.3. Zur Adjazenz zwischen Negator und Verb In der zugrunde gelegten Struktur (75), hier als (90) wiederholt, ist die VP Komplement und rechte Schwester von Neg°. (90)

CP

Ρ

NegP

Spec

Neg'

Neg°

VP

Aufgrund dieser Struktur wäre zu erwarten, daß zwischen der Standardnegation ned und dem finiten Verb lexikalisches Material auftreten kann. Wie oben erwähnt, ist dies nur sehr beschränkt der Fall. So sind VP-intern z.B. keine (definiten) Argument-NPs lizensiert (cf. 91a vs. b), erlaubt sind Argument-PPs (91c) und (thematische) R-Pronomen (91d). (91a) 39

wai'e an Sepp ned gseng hob

Stechow (1993: 74) scheint mir einer orthographischen Verführung erlegen zu sein.

208 (91b) (91c) (9Id)

*wai'e ned an Sepp gseng hob wai'e heind ned in d'Schui geh mog i bin ned dazua kema

Die unmarkierte Position der Negation ist somit in der Regel unmittelbar vor dem finiten Verb und die nominalen VP-Konstituenten müssen aus der VP heraus und über die NegP hinweg scrambeln. Dieses "obligatorische Scrambling" hat Grewendorf (1990) dazu bewogen, die Links-Positionierung der NegP zu verwerfen. Da sein eigener Vorschlag ebenso wie die Modifikation bei Büring (1993), wie bereits erwähnt, sowohl empirisch wie auch konzeptuell äußerst problematisch ist, werden wir weiterhin an der Struktur (90) mit ihrer linksadjungierten NegP festhalten. Die gleiche Logik liegt auch dem Vorschlag von Bayer (1990d) zugrunde: Wegen der beobachtbaren Oberflächenadjazenz der Negationspartikel zum Verb(komplex) nimmt er an, daß die synkategorematische Neg-Partikel ned zusammen mit dem Verb eine neue X°Einheit bildet ("form a new V", Bayer 1990d: 17). Diese Strukturierung ist nach unserer Analyse überflüssig. Bayers Analyse ist auch empirisch nicht unproblematisch, da sie den Daten in (91c,d) nicht ohne Stipulation gerecht werden kann. Als Ausnahme ohne Erklärung werden explizit Fälle wie (91c) gehandelt, in denen Neg° "adjoin to [PP+V]" (Bayer 1990d: 22, Anm. 2). Ebenso müßte (91d) in Bayers Theorie der Status einer "peculiarity" (ebd.) ohne Systemkonformität zugewiesen werden. Für unsere eigene Theorie der Negation sind beide Fälle jedoch unproblematisch. Für das obligatorische Scrambling aus der VP heraus lassen sich nämlich in der Tat unabhängige semantische Gründe finden, die nichts mit der Negation zu tun haben und daher keine Ad-hoc-Stipulationen sind. Es gibt, wie Büring (1993: 79) hervorhebt, "semantische Mechanismen, die syntaktische Strukturen interpretieren, diese zugleich restringieren bzw. filtern." Die auf Kamp (1981), Heim (1982), Kratzer (1991) und dann insbesondere Diesing (1992) zurückgehende Mapping-Hypothese (MH) der Discourse Representation Theory (DRT) ist in unserem Kontext eine geeignete semantische Theorie, denn sie stellt für die Interpretation von Quantoren, indefiniten Ausdrücken usw. einen passenden Ableitungsmechanismus zur Verfügung. Die folgende Darstellung referiert v.a. Diesings (1992) Theorie (und Bürings (1993) Adaption für das Deutsche). Nach Diesing (1992) bildet die LF den Input für die semantische Interpretation und wird zu diesem Zweck in eine (maximal) dreiteilige Struktur überführt: Quantor, Restriktorsatz (restrictive clause) und Kernskopus (nuclear scope). Der Restriktor gibt den Bereich an, über den der Quantor quantifiziert, und der Kernskopus denjenigen, in dem Indefinita existentiell gebunden werden (existential closure). Entscheidend ist für die DRT die Annahme, daß Indefinite inhärent über keine "quantificational force" verfügen, also keine Existenzquantoren sind, sondern nur Variablen einführen, die entweder von (unselektiven) Quantoren gebunden werden können, sofern sie sich im Restriktor befinden, oder die im Kernskopus existentiell abgebunden werden. Betrachten wir zur Verdeutlichung folgendes Satzpaar (nach Büring 1993: 82f.): (92a) (92b)

Otto erzählt immer einen Ostfriesenwitz Ein Ostfriesenwitz erheitert Otto immer

209 (92a) läßt sich paraphrasieren mit (92a1) und (92b) mit (92b'): (92a') (92b')

zu allen Zeiten t: es gibt einen OFW x, den Otto zu t erzählt für alle Paare t und x, wobei χ ein OFW: Otto erheitert sich an χ zu t

In (92a) quantifiziert das Temporaladverb über Ereignisse, in (92b) aber zugleich auch über die indefinite NP ein Ostfriesenwitz. Daher ist (92b) auch so zu verstehen, daß jeder OFW, den Otto hört, ihn erheitert, während bei (92a) die Lesart nicht möglich ist, daß Otto jeden OFW erzählt, den er kennt. (92a) kann ja auch bedeuten, daß Otto immer ein und denselben OFW zum besten gibt. Die unterschiedlichen Quantifikationsdomänen sind Resultat verschiedener semantischer Repräsentationen: (92a") (92b")

Vt (3x) [OFW(x) Α erzählen(Otto,x,t)] Vt,x [OFW(x)] [erheitem(x,Otto,t)]40

In (92a") wird die indefinite NP in den Kernskopus abgebildet, weswegen sie existentiell abgeschlossen wird, d.h. technisch gesprochen, es wird qua eines Default-Mechanismusses ein Existenzquantor eingeführt (daher oben die Klammerung), der die von der indefiniten NP eingeführte Variable bindet. Dieses Verfahren wird als existentieller Abschluß (existential closure) bezeichnet. In (92a") wird kein Restriktor benötigt (warum werden wir gleich sehen). In (92b") dagegen befindet sich das Indefinitum im Restriktor und wird daher vom Allquantor gebunden. Diesings These ist, daß die Quantifikationsdomänen bereits in der Syntax vorgebildet sind ('tree splitting') und in die semantische Repräsentation abgebildet werden. Der 'gesplittete' Baum und der Mapping-Mechanismus haben die Form von (93, nach Diesing 1992: 9): Alles Material, das VP-intera ist, wird in den Kernskopus abgebildet, während VP-externe NPs Eingang in den Restriktor finden (cf. 94). Damit ist auch die an (92a vs. b) feststellbare Differenz erklärbar. In (92a) ist die indefinite NP innerhalb der VP und muß daher im Kernskopus repräsentiert werden, wo sie existentiell abgeschlossen wird. In (92b) ist sie dagegen als Subjekt im Vorfeld [SpecCP] und damit außerhalb der VP, so daß sie, weil sie sich im Restriktor befindet, vom Allquantor gebunden werden kann.

40

Die Notation ist an der Konvention bei Kratzer (1991) orientiert, die Restriktor und Kernskopus in eckige Klammern setzt.

210 (93)

Restriktorsatz

Kernskopus (94)

Mapping Hypothesis (Diesing 1992:10) Material from VP is mapped into the nuclear scope Material from IP is mapped into the restrictive clause

Mit der Mapping-Hypothese41 läßt sich erklären, warum definite NPs obligatorisch aus der VP heraus scrambeln müssen. Da diese Frage für unseren Zusammenhang weniger wichtig ist, sei lediglich auf die Ausführungen bei Büring (1993: 83f.) verwiesen.42 Indefinite NPs können in der VP verbleiben, wenn sie existentiell interpretiert werden sollen, und müssen scrambeln, wenn sie von einem vorhandenen Quantor gebunden werden sollen, wie oben die Beispiele in (92) verdeutlichen. Mit der DRT kann also, um auf Grewendorfs (1990: 70f.) Bedenken zurückzukommen, erklärt werden, warum der Satz (95a) unmarkiert ist, wie übrigens auch (95b): (95a) (95b)

weil Peter dem Jungen das Buch nicht gab damit du nicht einen Linken wählst

Aus (95a vs. b) erhellt, daß die NegP die VP-Grenze markiert, da gemäß Diesings MH Material außerhalb der VP in den Restriktor abgebildet wird, VP-internes dagegen in den Kernskopus. Dabei spielt es in unserem Zusammenhang keine Rolle, ob man Partikel und Adverbiale wie Diesing (1992: 31f.) als VP-Grenze analysiert, oder sie wie Haider (1993: 41

42

Eine Modifikation der MH bieten van Hoof (1992) und Haider (1993: 230f.). Haider möchte die Partikelfuge nicht als VP-Grenze verstanden wissen, er meint, es sei korrekter, den Bereich des existentiellen Abschlusses als C-Kommando-Bereich der Partikeln zu definieren. Es sei noch vermerkt, daß damit auch ein Teil der deutschen Daten, die im Kontext des sog. DefmitheitsefTekts (cf. Haider 1993: 136f.) diskutiert werden, zwanglos erklärt werden kann. Nach dem oben Dargelegten ist klar, warum definite Subjekte bei VP-Topikalisierung zu ungrammatischen Ergebnissen führen, indefinite dagegen nicht: (i) Ufos/*diese Ufos gesichtet wurden hier auch sonntags (ii) ein Syntaktiker/*Chomsky begegnet ist mir schon an manchen obskuren Orten

211 231) eine VP-interne Zweiteilung begründen läßt. Denn auch Haider akzeptiert Diesings MH unter der von ihm gemachten Modifikation. Für das Bairische ist mit guten Gründen zusätzlich zu postulieren, daß die NegP zwar den Rand der VP markiert, aber nicht als VP-extern gelten kann, so daß insbesondere indefinite NPs in ihrem Specifier in den Kernskopus und nicht in den Restriktor abgebildet werden. Im Sinne Haiders müßte der Bereich des existentiellen Abschlusses als der C-Kommando-Bereich der Negation definiert werden. Wir werden diese Annahme ausführlich erörtern und empirisch belegen. Zunächst möchte ich noch auf zwei Punkte zu sprechen kommen. In Diesings Struktur sind zwei Subjektpositionen vorgesehen, eine VP-externe (bei ihr [SpecIP]) und eine VPinterne ([Spec,VP]) (cf. Diesing 1992: 31-41). Auch diese Annahme kann mit der DRT begründet werden. Man vergleiche nur die beiden semantischen Ableitungen in (96): (96a) (96a') (96a")

weil ein Linguist selten Fußball mag selter^ [Linguist(x)] [mögen(x, Fußball)] "wenige von den x, die Linguisten sind, sind Fußballfans'

(96b) (96b') (96b")

weil selten ein Linguist Fußball mag selten, (5x) [Linguist(x) Λ mögen(x, Fußball, t)] 'zu den wenigen Ereignissen t: es gibt einen Linguisten x, der zu t ein Fußballspiel mag'

Oben wurde erwähnt, daß indefinite NPs im Kernskopus qua eines Default-Mechanismusses existentiell abgeschlossen werden. Daneben existiert noch ein weiterer Mechanismus, der für Indefinita im Restriktor einen Quantor zur Verfügung stellt, soweit kein anderer vorhanden ist. Bei pluralischen indefiniten Subjekts-NPs (von stage-level-Prädikaten, cf. Kratzer 1991) ist es der genetische Quantor, der sie im Restriktorsatz bindet. Angenommen, daß Partikeln im Deutschen die VP-Grenze markieren (Diesing 1992: 31f.), wird deutlich, daß das Subjekt Kinder in (97a) außerhalb der VP steht und gemäß der MH in den Restriktor abgebildet wird. Da kein Quantor (z.B. Adverbiale) zur Verfugung steht, wird der generische Quantor qua Default-Mechanismus eingeführt, der die Variable von Kinder bindet. Der Satz bekommt von daher seine generische Lesart. In (97b) befindet sich das Subjekt in der VP, wie die Position rechts von den Partikeln signalisiert. In diesem Fall wandert es in den Kernskopus und wird existentiell abgeschlossen. Die unterschiedliche Bedeutung manifestiert sich also syntaktisch in der Position des Subjekts. (97a) (97a') (97a")

weil Kinder ja doch auf der Straße spielen Ger^ [Kinder(x)] [spielen(x, auf der Straße)] 'es ist ein generelles Verhalten von Kindern, auf der Straße zu spielen'

(97b) (97b') (97b")

weil ja doch Kinder auf der Straße spielen (3x) [Kinder(x) λ spielen(x, auf der Straße)] 'es gibt Kinder, die auf der Straße spielen'

Die unterschiedlichen Quantifikationsdomänen zeigen v.a. für die Interpretation von Indefinita Konsequenzen, die auch im Zusammenhang mit der doppelten Negation eine zentrale Bedeutung haben, da ja nur indefinite Ausdrücke bei NC involviert sind.

212 Wie bereits erwähnt, nimmt die DRT an, daß Indefinite inhärent über keine "quantificational force" verfügen, also keine Existenzquantoren sind. Diese Darstellung war nicht ganz korrekt (aber ausreichend für obige Zwecke). Nach Diesing (1992: 93ff.) lassen sich Indefinita in zwei Typen klassifizieren: in kardinale und präsupponierende. Präsupponierende Indefinita sind klassischerweise NPs mit starken Determinatoren bzw. Quantifikatoren (jeder, alle usw.) und bilden zusammen mit definiten NPs eine gemeinsame Klasse. Starke Determinatoren haben inhärent quantifikatorische Kraft (QF) und unterliegen daher quantifier raising (QR), d.h. sie sind Quantoren, die eine Variable im Restriktor binden. Präsupponierende Indefinita können aus diesem Grund auch nicht existentiell abgeschlossen werden. Im Gegensatz zu starken sind schwache Determinatoren/Quantoren (ein, einige, viele) ambig. Sie können sowohl eine kardinale als auch eine präsupponierende Lesart haben. In ihrer präsupponierenden Lesart verhalten sie sich wie starke Determinatoren, d.h. sie unterliegen QR und bilden eine Operator-Variable-Struktur. In der kardinalen Lesart werden sie existentiell abgeschlossen, weswegen Diesing (1992: 94) sie auch als "existence closure indefinites" bezeichnet. Welche der beiden möglichen Interpretationen für schwache Determinatoren vorliegt, ist wiederum syntaktisch durch ihre Position geregelt. Die Beispiele in (98, modifiziert nach Diesing 1992: 78f.) illustrieren das Gemeinte. In (98a) ist das indefinite Subjekt VPintern und wird gemäß MH existentiell abgeschlossen. In (98b) ist es dagegen VP-extern, findet also Eingang in den Restriktor und wird von seinem Existenzquantor gebunden. Die Paraphrase (98b") zeigt, daß in diesem Fall, in dem die Variable im Restriktor gebunden wird, die Existenz von Cellisten präsupponiert ist. (98b) impliziert z.B., daß sich in der Stadt anläßlich eines Großkonzerts mehrere Cellisten befinden, von denen welche bei Freunden, bei der Familie etc. unterkamen und von denen eben einer auch in diesem Hotel abgestiegen ist. D.h. indefinite NPs im Restriktor sind existenzpräsupponierend. Die Lesart ist also immer partitiv, da ein Teil aus einer vorgegebenen Menge 'herausgegriffen' wird. (98a) präsupponiert dagegen nicht die Existenz mehrerer Cellisten, sie behauptet lediglich die Existenz eines, der in diesem Hotel abgestiegen ist. M.a.W. Indefinita im Kernskopus sind existenzbehauptend. (98a) (98a') (98a")

weil ja doch ein Cellist in diesem Hotel abgestiegen ist (3x) [Cellist(x) Λ absteigen(x, in diesem Hotel)] 'es gibt einen Cellisten, der in diesem Hotel abgestiegen ist'

(98b) (98b') (98b")

weil ein Cellist ja doch in diesem Hotel abgestiegen ist Bx [Cellist(x)] [absteigen(x, in diesem Hotel)] 'es gibt Cellisten, von denen einer in diesem Hotel abgestiegen ist'

Das unterschiedliche Präsuppositionsverhalten indefiniter (und definiter) NPs diagnostiziert auch Haftka (1993b: 147), allerdings ist für sie die für Präsupposition zuständige Position zwischen Satzadverbiale und NegP zu lokalisieren. Die genaue Positionierung ist für unseren Zusammenhang jedoch unerheblich, so daß wir die Frage nicht weiter verfolgen.

213 4.4.4. Die Funktion der doppelten Negation Mit dem bislang vorgestellten und entwickelten Instrumentarium (Interaktionsmöglichkeiten von Quantor und Negation, Neg-Kriterium, DRT und MH) läßt sich die Funktion der doppelten Negation mit NC bestimmen. Meine These lautet in vereinfachter Form, daß die doppelte Negation ein funktionales Mittel im Kontext der Quantifikationsdomänen ist. Dies gilt es im folgenden zu begründen. Im Abschnitt 4.2.2. über Quantifikation und Negation ist en detail herausgearbeitet worden, daß es nur drei mögliche Konstellationen gibt: (99)

1. enger Skopus: -,[V/3x] F(x) 2. weiter Skopus: V/3x -.[F(x)] 3. maximaler Skopus: ->[3x] ->[F(x)]

Anhand dieser Gegebenheiten ist klar, warum ein Indefinitum, das in den Kernskopus abgebildet werden soll, nicht rechts von der Negation stehen darf, da der Quantor nicht negationsdurchlässig ist.43 Damit ist vorausgesagt, daß die Abfolge [ned Q] nicht zulässig ist, sofern die Negation Skopus über die Prädikation und nicht nur über den Quantor haben soll. Es ist eine wichtige Funktion in Konstruktionen mit doppelter Negation, den Skopus der Satznegation zu erweitern, d.h. eine indefinite Nominalphrase (INP), die links von der Satznegation und damit - oberflächlich besehen - außerhalb deren syntaktischen Bereiches steht, als in den Skopus der Negation gehörig zu kennzeichnen. Die Notwendigkeit der VP-Internalität läßt sich wie folgt begründen: Weil, wie oben dargelegt, Indefinita in bestimmten, im Rahmen der DRT und MH voraussagbaren Fällen VP-intern (bzw. im C-Kommando-Bereich der Negation) sein müssen, um existentiell abgeschlossen werden zu können, bewegen sie sich in eine Position links der Negation, die sich mithilfe des Neg-Kriteriums (71) und der zugehörigen Definitionen (72) als Specifier der Negationsphrase bestimmen läßt. Diese Position ist noch Teil der VP, d.h. alles Material in SpecNegP (und in der Adjunktposition an NegP, cf. 84) wird in den Kernskopus abgebildet und kann daher existentiell abgeschlossen werden. M.a.W. die in der Negationsphrase befindlichen NPs gelten noch als VP-intern und finden daher Eingang in den Kernskopus (cf. 100).

43

Auf die Frage, ob diese Analyse aufrecht zu erhalten ist unter der Annahme der DRT, daß Indefinita keine inhärenten Existenzquantoren sind, sondern ihnen erst qua existentiellem Abschluß zu Verfügung gestellt werden, gehe ich vorerst nicht ein, sondern setze einfach voraus, daß es so ist. Siehe zu dieser Frage auch Abschnitt 4.4.5.

214 (100)

IP

Spec

Γ

NegP Restriktorsatz Spec

Neg'

Neg®

VP

Kernskopus

Die doppelte Negation ist - vereinfacht gesprochen - ein Indikator dafür, daß ein (inhärent negiertes) Indefinitum VP-intern positioniert ist, während die einfache Negation (bei Fehlen anderweitiger Indikatoren wie bestimmter Partikel) anzeigt, daß das Indefinitum VP-extern ist und in den Restriktorsatz abgebildet werden soll. Diese Funktions-Differenz ist am besten an Sätzen nachweisbar, die einen zusätzlichen Operator enthalten, der semantisch kompatibel mit der Negation ist. Aus diesem Grund sind Adverbiale nicht immer geeignete Kandidaten (s. aber unten). Am besten sind Modalverben, da sie zwar einfache, aber dennoch hinreichend komplexe Sätze erzeugen.44 Diese Sätze sind daher nicht marginal und erlauben verläßliche Intuitionen. Anhand von ihnen soll der Unterschied zwischen einfacher und doppelter Negation zunächst demonstriert werden. Betrachten wir dazu die beiden Sätze (101) und (102).45 In (101a) liegt einfache Negation vor, so daß nach unserer These die indefinite NP (INP) koa Beispiel außerhalb der VP ist und daher in den Restriktor abgebildet wird. Das bedeutet, daß kein in diesem Fall sich wie ein starker Determinator verhält, der QR unterliegt und eine präsupponierende Interpretation erzwingt. Und in der Tat liegt, wie die Ableitung in (101b-d) belegt, eine (negierte) Existenzpräsupposition vor. (101a) 44

45

wai koa Beispiel bekannt sa muaß

Hinreichende Komplexität ist eine Notwendigkeit der syntaktischen Forschung und kein Trick, um bestimmte Effekte zu simulieren. Man vergleiche die Sätze (i) und (ii), die nicht hinreichend komplex sind, um die korrekte Generalisierung über die Verbstellung in Haupt- und Nebensatz im Deutschen ableiten zu können. Bei minimaler Komplexitätszunahme ist dies dann möglich (cf. iii und iv). Ahnlich möge man das hier angewandte Verfahren bewerten. (i) ich gehe (ii) weil ich gehe (iii) ich gehe zur Uni (iv) weil ich zur Uni gehe Die beiden Sätze und ihre Analyse sind inspiriert durch die Ausführungen bei Kratzer (1991: 27ff ), die allerdings nicht der doppelten Negation gelten.

215 (101b) (101c) (101 d) (101 e)

-ιΞχ [Beispiel(x)] [ • bekannt(x)] 'es gibt kein χ, wobei χ ein Bsp., für das gilt: χ muß bekannt sein' Vx [Beispiel(x)] [-> • bekannt(x)] 'für alle χ, χ ist ein Bsp., gilt: nicht muß χ bekannt sein'

Ein möglicher Kontext für die Äußerung von (101a) wäre eine Situation, in dem einem Studenten verschiedene Beispielsätze (etwa Proben exotischer Sprachen wie Tonganisch, Cayuga, Yukatekisch, Dyirbal) vorgelegt werden, wobei ihm die Sprachen und die vorgelegten Beispiele nicht unbedingt vorher schon bekannt sein müssen, denn sie dienen lediglich zur Illustration dessen, was der Dozent über mögliche Strukturen natürlicher Sprachen ausführt. In (102) haben wir dagegen eine Konstruktion mit doppelter Negation, die indiziert, daß die INP koa Beispiel innerhalb der VP ist und daher im Kernskopus existentiell abgeschlossen wird. Die daraus resultierende Lesart ist eine existenzbehauptende (bzw. natürlich die Negation einer solchen). Kein ist in diesem Fall ein 'echt' schwacher Quantor, der über kein quantiflkatorisches Potential verfugt und daher auch nicht angehoben werden kann. Ein geeigneter Äußerungskontext für (102a) wäre eine Testsituation, in der ein Kandidat zwar Beispiele nennen kann, dies aber keineswegs die Voraussetzung für das Bestehen des Tests ist, da nur Inhalte abgefragt werden. (101a) und (102a) haben also unterschiedliche semantische Repräsentationen, die durch einfache bzw. doppelte Negation syntaktisch manifest gemacht werden können. (102a) (102b) (102c)

wai koa Beispiel ned bekannt sa muaß -. • (Ξχ) [Beispiel(x) λ bekannt(x)] "nicht muß es ein χ geben, von dem gilt: χ ist ein Bsp. und χ ist bekannt'

(101) und (102) demonstrieren klare Bedeutungsdifferenzen, die lediglich aus dem Vorhandensein bzw. Fehlen der doppelten Negation resultieren. Da keine anderen syntaktischen Markierungen (Adverbiale, Partikel) vorhanden sind, die interagieren, ist das Ergebnis eindeutig und aussagekräftig: Die Konstruktion mit doppelter Negation ermöglicht einem indefiniten Ausdruck, im Skopus der Negation und zugleich im Kernskopus zu sein. Bei (101) gilt es zu bedenken, daß der Satz auch die Bedeutung von (102) haben kann, wenn man ein tiefenstrukturelles ned ansetzt, daß auf PF getilgt wurde. Im Gegensatz dazu hat (102) nur eine Lesart, so daß eine klare semantische Differenz zwischen Einfach- und Doppelnegation weiterhin bestehen bleibt. Analoge Kontraste sind auch mit anderen Modalveiben erzielbar. Brauchen ist ein sog. Negative Polarity Item (NPI), das nur im Skopus einer Negation lizensiert ist (cf. Stechow 1993: 73). Im Baltischen ist es zudem zumindest syntaktisch modalverbartig, da es im Unterschied zum Hochdeutschen einen reinen Infinitiv selegiert und logisch-semantisch wie müssen mit dem Notwendigkeitsoperator zu übersetzen ist. Für (103) vs. (104) sind daher entsprechende Kontraste erwartbar. Und in der Tat kann der zu (101) vs. (102) analoge Unterschied abgeleitet werden. (103a) (103b)

daß'e koa Red hoitn brauch -i3x [Rede(x)] [ • halten(ich,x)]

216 (103c) (103d) (103e)

'es gibt kein χ, wobei χ eine Rede, für das gilt: ich muß χ halten' Vx [Rede(x)] [ - , • halten(ich,x)] 'für alle χ, χ ist eine Rede, gilt: ich nicht muß χ halten'

(104a) (104b) (104c)

daß'e koa Red ned hoitn brauch -, • (Ξχ) [Rede(x) Λ halten(ich,x)] 'es muß kein χ geben, von dem gilt: χ ist eine Rede und ich halte x'

Auch für (103a) und (104a) kann man Äußerungskontexte konstruieren, die die semantische Differenz verdeutlichen. So ist vorstellbar, daß (104a) von jemandem geäußert wird, der sich darüber freut, daß er irgendeine Rede nicht halten muß. Die INP eine Rede hat in (103a) dagegen eher eine spezifische Lesart, d.h. präsupponiert die Existenz von Reden, die nicht gehalten werden müssen (weswegen auch die logische Umformung in 103d möglich ist). Daß hier der Kontrast v.a. zwischen einer spezifischen und einer nicht-spezifischen Lesart46 ableitbar ist, geht darauf zurück, daß die relevante INP Objekt und nicht Subjekt des Satzes ist. Wie schon van Hoof (1992) feststellte, ist Diesings MH vermutlich nur bezüglich der Subjekte ganz korrekt. Doch ist diese Frage für unseren Zusammenhang solange unerheblich, als sich unterschiedliche Lesarten der betroffenen INPs nachweisen und auf Unterschiede in den Quantifikations- und Interpretationsdomänen zurückführen lassen. Und dies ist bei (103a) und (104a) eindeutig der Fall. Bei gescrambelten und in den Restriktorsatz abgebildeten Objekten zeigt sich im Deutschen häufig eine genetische Lesart, im Unterschied zur unmarkierten existentiellen Interpretation VP-interner Objekte (Büring 1993: 83). In (105b) ist anders als bei der unmarkierten Abfolge in (105a) eine genetische Lesart des Prädikats 'ein Stück Kuchen essen' (also nicht allein der INP) vorherrschend, die ganz offenbar nur aus dem Stellungsunterschied der INP resultiert. (105b) bedeutet ja, daß man sicher davon ausgehen kann, daß Peter ein Stücken Kuchen ißt, d.h. daß mit Sicherheit ein Stück Kuchen existiert, das Peter essen wird. Diese Lesart ist bei (105a) nicht möglich, das lediglich die Bedeutung hat, daß man erwartet, daß Peter zumindest ein Stück Kuchen sicherlich essen wird. (105a) (105b)

weil Peter sicher ein Stück Kuchen ißt weil Peter ein Stück Kuchen sicher ißt

Bei (105a) zeigt sich, was Diesing (1992: 66flf.) als kardinales Prädikat bezeichnet (s.o.). (106) ist ambig, weil er entweder bedeutet, (i) daß jeder Cellist aus einem fest vorgegebenem Set von Variationen einige zum Vorspielen ausgewählt hat, oder (ii) daß jeder Cellist einige Variationen vorspielte, ohne daß Vorgaben bestanden, (i) ist die präsupponierende Lesart, (ii) die kardinale. (106)

Every Cellist played some variations

Ein analoger Effekt ist auch im Kontext der Negation erzielbar. Betrachten wir dazu folgende Sätze (inspiriert von Bayer 1990a: 171): 46

Zu spezifisch/nicht-spezifischen Lesarten bei Indefinita vgl. Kamp/Reyle (1993: 288-293, 303).

217 (107a) (107b) (107c) (107d)

wai da Hans koa Jopn anzoing mog -ιΞχ [Jacke(x)] [wollen anziehen(H, x)] 'es gibt kein χ, wobei χ eine Jacke, für das gilt: Hans will anziehen x' 'für alle χ, χ ist eine Jacke, gilt: Hans nicht will anziehen x'

(108a) (108b) (108c)

wai da Hans koa Jopn ned anzoing mog —iW (Ξχ) [Jacke(x) λ anziehen(H,x)] Hans nicht will anziehen x, wobei χ ist eine Jacke'

Für (108a) ist ein Äußerungskontext wie folgender denkbar: Der kleine Hans möchte draußen spielen, weigert sich aber, eine Jacke anzuziehen, obwohl es kalt ist. Mit (108a) könnte seine Mutter ihr Verbot, Hans nach draußen zu lassen, einem Dritten gegenüber begründen. Die INP in (108a) wird also existentiell bzw. kardinal im Sinne von Diesing (1992) interpretiert. In (107a) liegt dagegen die Präsupposition vor, daß es bestimmte Jakken gibt, Hans sie aber generell nicht anziehen will, d.h. daß es keine Jacke gibt, die er anziehen will. Mit (107a) könnte z.B. die Mutter von Hans begründen, warum sie ihm nun mehr zu Weihnachten keine Jacken mehr schenkt: nachdem sie ihm bereits zehn geschenkt hat und er keine davon angezogen hat. Wie an (107) und (108) zu ersehen, ist die formale Ableitung bei wollen nicht so problemlos wie bei müssen, da kein zum Notwendigkeitsoperator analog ausgearbeitetes formales Hilfsmittel bereit steht und zudem die 'Willens-Modalität' doch etwas distinkt ist von der Notwendigkeitsmodalität.47 Selbst wenn die formale Übersetzung für (107a) und (108a) zu grob oder abweichend wäre, dürfte dennoch ersichtlich geworden sein, daß ein klar erkennbarer Bedeutungsunterschied vorliegt. Mehr sollte auch nicht gezeigt werden. Die Modalverben können und dürfen stehen beide für die Modalität der Möglichkeit und der Erlaubnis, wobei die Möglichkeit bei ersterem und die Erlaubnis bei letzterem dominiert. Sollen denotiert Notwendigkeit, ist aber nicht völlig bedeutungsidentisch mit müssen. Bei diesen drei Modalverben gibt es ähnliche Negationseffekte wie die bei müssen, brauchen und wollen/mögen demonstrierten. Zur Illustration seien noch, jedoch ohne Kommentar, Sätze mit können und sollen sowie die entsprechenden Ableitungen angeführt (die sich wiederum nur als erste Annäherungen verstehen):

47

(109a) (109b) (109c)

waftna koam Baiarn draun kann -ιΞχ [Bayer(x)] [0 trauen(x)] 'es gibt kein x, wobei χ ein Bayer, dem man trauen kann'

(110a) (110b) (110c)

wartna koam Baiarn ned traun kann -ιΟ (Ξχ) [Bayer(x) A trauen(x)] 'es ist nicht möglich, daß man trauen kann x, wobei χ ein Bayer1

So ist (i) im Unterschied zu (ii) ambig, weil es auch heißen kann, daß es kein Buch geben muß, das ich kaufe. Diese Lesart mit dem DO im Skopus des modalen Operators kann bei (ii) nicht erreicht werden. (i) weil ich kein Buch kaufen muß (ii) weil ich kein Buch kaufen will Diese Differenz läßt die sonst antreffbare Unterscheidung von deontisehen und epistemisehen Modalverben (cf. Abraham 1995:469-509; Diewald 1993) unberührt.

218 (lila) (111b) (111c)

wai'e koa Buach kaffa soi -ιΞχ [Buch(x)] (soll kaufen(x)] 'es gibt kein x, wobei χ ein Buch, das ich kaufen soll

(112a) (112b) (112c)

wai'e koa Buach ned kaffa soi -i sollen (Ξχ) [Buch(x) λ kaufen(x)] 'ich soll nicht kaufen x, wobei χ ein Buch'

Neben den Modalvetben sind die Temporaladverbien ein weiterer nicht marginaler Bereich, in dem sich Negationseffekte nachweisen lassen. Dies sei kurz an einem Beispiel erläutert. Frequenzadveibien wie oft können, wie wir bei (96) sahen, als Quantoren fungieren, die eine freie Variable im Restriktor binden. Dies ist auch in Satz (113a) der Fall, der ja auch bedeuten kann, daß alle Linguisten selten radfahren. Dagegen quantifiziert in (114a) das Frequenzadverb nicht über die INP, da diese sich im Kernskopus befindet und existentiell abgeschlossen wird, sondern über ein Erzählereignis. (113a) (113b) (113c)

wai koa Linguist oft raalfod oft^x [Linguist(x)] [radfahren(x,t)] 'für die vielen Paare t und x, wobei χ ein Linguist: χ nicht radfiihrt zu t'

(114a) (114b) (114c)

wai oft koa Linguist ned raalfod oft, (Ξχ) [Linguist(x) Λ radfahren(x,t)] 'es ist häufig der Fall, daß χ nicht radfährt, wobei χ ein Linguist'

Die Kontraste, die sich bei den Temporaladverbien zeigen, sind nicht so aussagekräftig wie die bei den Modalverben, da die relative Stellung des Adverbiale allein ausreicht, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Ein Temporaladverb ist alleine schon Indikator dafür, ob eine INP in den Restriktor oder den Kernskopus abgebildet werden soll. M.a.W. ist (115) trotz einfacher Negation äquivalent mit (114a): (115)

wai oft koa Linguist raalfod

Wie wir bei (80) sahen, kann eine negierte INP in bestimmten Fällen aus dem Specifier der NegP z.B. ins Vorfeld bewegt werden, womit bewiesen ist, daß im Bairischen die vom Neg-Kriterium (71) geforderte Spec-Kopf-Beziehung auch durch Spuren erfüllt werden kann (was auch für auf PF leeres Neg° gilt, s. 4.4.6.). Da aber eine INP vor einem Frequenzadverbiale in den Restriktor abgebildet werden muß, darf bei doppelter Negation die negierte INP nie vor das Adverbiale bewegt werden, weil es sonst zu Konflikten bei den Quantifikations- bzw. Interpretationsdomänen kommen würde. Empirisch ist dies tatsächlich so, wie (116a,b) zeigen, die bei einer NC-Lesart ungrammatisch sind (ansonsten aber o.k.). Aufgrund dieser Interpretationskonflikte ist auch ein grammatischer Satz wie (116c) zumindest marginal: Die doppelte Negation zeigt an, daß die negierte INP sich im Kernskopus befindet, die Stellung relativ zum Adverbiale indiziert, daß sie in den Restriktor abgebildet ist, so daß der Satz nicht mehr eindeutig interpretierbar ist. Fehlt dagegen die Standardnegation (116d), ist er mit der Bedeutung von (113a) völlig akzeptabel.

219 (116a) (116b) (116c) (116d)

*wai koa Linguist oft ned raalfod *wai koa Linguist seltn ned Fuaßboi schaud 7? koa Linguist fod oft ned raal koa Linguist fod oft raal

Auch dies ist ein Beleg dafür, daß einfache und doppelte Negation nicht äquivalent sind. In diesem Faktum liegt auch der Grund dafür, daß die adverbiellen INQs nie und niegads (cf. 85 und 86 oben) den nominalen INQs obligatorisch vorausgehen. Im umgekehrten Fall würden die nominalen INQs nämlich in den Restriktor abgebildet und dort vom adverbiellen Quantor gebunden, was hier speziell wohl die NC-Lesart blockieren würde. Ein Satz wie (117a) ist im Bairischen nämlich völlig analog zum hochdeutschen Pendant, d.h. mit sich aufhebender Negation. (117a) (117b)

daß koa Mensch nie kema is, kansd aa ned song daß kein Mensch nie gekommen ist, kannst du auch nicht sagen

Hier lassen sich noch zwei weitere Beobachtungen anschließen, die mit unserer Erklärung der doppelten Negation vollständig kompatibel sind. Zum einen ist bei Vorkommen mehrerer INQs, insbesondere wenn nie oder niegads vorhanden sind, die Standardnegation ned ohne Bedeutungsveränderung weglaßbar. Da die nominalen INQs nach den adverbiellen auf jeden Fall existentiell interpretierbar sind, kann ned auf der s-Struktur getilgt werden. (118a) kann trotz Fehlen der Standardnegation nicht die Bedeutung von (118c) haben, wie dies bei (101a) der Fall war, wo die einfache Negation angezeigt hat, daß die INP in den Restriktor abgebildet wird. In (118a) wird der INQ dagegen in den Kernskopus abgebildet und existentiell abgeschlossen. Daß der INQ dem negierten Temporaladverb nachfolgt, ist allein schon ein Indikator dafür. (118a) (118b) (118c)

wai nie koa Beispiel bekannt san muaß 'zu keinem Zeitpunkt muß es ein χ geben, von dem gilt: χ ist ein Bsp. und χ ist bekannt' *'zu keinem Zeitpunkt gibt es ein x, wobei χ ein Bsp., für das gilt: χ muß bekannt sein'

Sätze wie (119a) zeigen, daß eine nicht negierte INP nach einem INQ erlaubt ist. Mit der von mir entwickelten Theorie der Negation ist dies ohne Probleme begründbar. In (119a) muß man annehmen, daß das Indefinitum eps ('etwas') VP-intern ist und daher existentiell abgeschlossen wird, während der INQ neamd in den Restriktor abgebildet wird und eine generische Interpretation erfährt. Eine einsichtigte Paraphrase für (119a) wäre also: Damals war es generell so, daß niemand etwas besaß. Diese Lesart ist für (119a) mit Sicherheit die plausibelste. (119b) ist aber nicht (nur) aus dem Grund ungrammatisch, weil der INQ neamd bei doppelter Negation zwangsläufig existentiell abgeschlossen würde. Eher ist der Grund wohl auch darin zu suchen, daß quantorenartige bzw. -haltige Indefinita nicht durchlässig für den (Satz-)Negationsskopus sind (s. oben 99). (119a) (119b)

wai neamd eps kod hod (Kollmer ΠΙ, 130) * wai neamd ned eps kod hod

220

Negationseffekte der bisher beschriebenen Art lassen sich auch beim Konjunktiv nachweisen, zumindest in den Verwendungsweisen, in denen er als äquivalent mit dem Möglichkeitsoperator analysierbar ist, was natürlich nicht für alle Verwendungen des Konjunktivs möglich ist. In (120a) und (121a) ist der Konjunktiv aber mit 'es ist möglich, daß' bzw. "können' paraphrasieibar, so daß ein geeigneter Kontext vorliegt, in dem die gewünschten Effekte gezeigt werden können. Die jeweiligen Ableitungen sind hinreichend selbsterklärend, so daß sich ein weiterer Kommentar erübrigt. (120a) (120b) (120c)

so schnei weadsd koa bessere Erklärung findn -ιΞχ [bessere Erkärung(x)] [so schnell finden(du, x)] 'es gibt kein x, wobei χ eine bessere Erklärung, für die gilt: du kannst finden so schnell x'

(121a) (121b) (121c)

so schnei weadsd koa bessare Erklärung ned findn -.0 (3x) [bessere Erkärung(x) Λ SO schnell finden(du, x)] 'es ist nicht möglich, daß du so schnell findest x, wobei χ eine bessere Erklärung'

Unsere Analyse der doppelten Negation kann also die Funktion und Beschaffenheit erklären, d.h. warum es sie gibt und warum sie so und nicht anders beschaffen ist. Wäre die doppelte Negation, wie bisher in der Literatur angenommen, tatsächlich nur pleonastischer oder verstärkender Natur, wäre es völlig unerklärlich, warum sie ein so außerordentlich restringiertes Phänomen ist, wie sie nun einmal ist (und nicht nur im Bairischen!). Horn (1978: 172) z.B. vermutet mit (Jespersen 1917: 71f.), daß die pleonastische Negation auf Sprachen beschränkt sei, deren Standardnegation phonologisch schwach ist, also nur in Sprachen mit morphologischer bzw. klitischer Negation (s.o. Abschnitt 2) vorkommt: hence the gradual disappearance of cumulative [=pleonastic] negation in EARLY MODERN ENGLISH about the time OE preverbal nie-) was supplanted by postverbal not.

Daß die Hypothese falsch ist, zeigt das Bairische, das sprachgeschichtlich auch von klitischer zu syntaktischer Negierung überging und trotzdem immer noch doppelte Negation aufweist. Und bairisches ned dürfte phonologisch kaum schwächer sein als englisches not. Auch die englischen Varietäten, die NC aufweisen (cf. Labov 1972), demonstrieren, daß die Jespersen-Horn-Hypothese falsch sein muß. Selbst die syntaktische Beschreibung mithilfe des Neg-Kriteriums kann übrigens darauf keine Antwort geben, da sie diese Beschränkung lediglich als Gegebenheit konstatieren und deskriptiv generalisieren kann. Ein Beispiel: Allein anhand des Neg-Kriteriums ist, wenn überhaupt, nicht ohne Zusatzannahmen erklärbar, warum nur eine INP vom Format koa(n)N eine NC-Lesart mit der Standardnegation ned eingehen kann, nicht aber eine vom Typ ned olle vo uns/enk. Nach der hier vorgeschlagenen Theorie folgt dieser Kontrast aus der Natur der involvierten Determinatoren: alle ist ein starker Determinator, der QR unterliegt und daher die vom Neg-Kriterium geforderte Spec-Kopf-Beziehung gar nicht eingehen kann. Für unsere Theorie, die auch das Neg-Kriterium mit einbezieht, ist der Verweis auf die Natur des Quantors keine Stipulation, sondern integraler Bestandteil.

221

Die Arbeiten von Payne (1985) und insbesondere Dahl (1993) setzen die doppelte Negation zwar in den geeigneten Kontext der Interaktion von Negation und Quantifikation, können aber das Phänomen letztlich auch nicht erklären. In unserer Theorie findet die festgestellte Restriktion dagegen eine natürliche Erklärung, die keiner Stipulation mehr bedarf. In diesem Sinne ist hier eine Erklärung der doppelten Negation versucht worden, die die Bezeichnung Erklärung auch verdient. Der in der Literatur überwiegend anzutreffende Terminus pleonastische Negation ist in dem Sinne korrekt, als die zweite Negation tatsächlich kein weiteres Neg-Merkmal einführt, so daß es nicht zur Aufhebung der negativen Bedeutung kommen kann. Der Terminus ist v.a. aber nichtssagend und gar auch irreführend, weil er die tatsächliche Funktion der doppelten Negation nicht erfaßt. Die ebenfalls sonst häufig gebrauchte Bezeichnung verstärkende Negation ist dagegen eindeutig falsch, da kontrafaktisch: Aufgabe der zweiten Negation ist eben nicht die Verstärkung der Standardnegation. Eine verstärkende Negation wäre z.B. durch das - hier ja explizit ausgeklammerte - Adveibiale afkoan Foi (s.o. 35a-c) gegeben, aber nicht in den hier untersuchten Konstruktionen mit den INQs. Dieser Kontrast macht deutlich, daß in der 'normalen' doppelten Negation keine Verstärkung intendiert sein kann, sondern daß sie in der Art rekonstruiert werden sollte, wie es hier versucht wurde.

4.4.5. Das Lexem koa im Bairischen In der Literatur ist häufig die Ambiguität des INQ kein bemerkt worden. So rechnet Jacobs (1990: 19f., 29f.) kein zu den Dualismen in der Grammatik und bezeichnet ihn als den "seltsamsten" der von ihm behandelten Dualismen, weil semantisch komplexe Negationsträger wie kein "sich strukturell einerseits wie einfache Wörter [...], andererseits aber wie Amalgame aus einer das jeweilige verbale Syntagma modifizierenden negativen Partikel und einem nachfolgenden Indefinitum" (Jacobs 1990: 19) verhalten. Sie stellen daher einen klaren Verstoß gegen die behauptete syntaktische Atomizität morphologisch einfacher Wörter (cf. Di Sciullio/Williams 1987) dar, da sie, obwohl morphologisch einfach, als "Ausbuchstabierung zweier distinkter [satzsyntaktischer] Knoten" (Büring 1993: 87) zu analysieren sind. Für Büring (1993: 87) ist der INQ kein ein Beispiel für Kohäsion im Sinne von Bech (1955/57).48 Für das Standarddeutsche werden nach semantisch-funktionellen Kriterien meistens zwei verschiedene Lexeme bzw. Verwendungen von kein angenommen. Kürschner (1983: 116f.) unterscheidet ein Verschmelzungs- (122a) und ein quantifikatorisches kein (122b). Ähnliche Differenzierungen findet man bei Kratzer (1991: 30) und Pafel (1994: 250-257), der eine quantifikationelle (122c) und eine nicht-quantifikationelle Verwendung (122d) attestiert; die letztere setzt er mit der kohäsiven Verwendung gleich und diese ist identisch mit Kürschners Verschmelzungs-fcew.

48

"Damit ist die Zerlegung eines negativen Indefiniturns in eine Negationskomponente und eine indefinite Komponente gemeint" (Stechow 1992: 233).

222 (122a) (122b) (122c) (122d)

Heute ist kein schönes Wetter Keiner von uns konnte ihr helfen Keine Aufgabe haben alle gelöst Fido ist kein Leopard

Der quantifikationellen und nicht-quantifikationellen Verwendung von kein ist Diesings (1992: 93ff.) Unterscheidung von präsupponierender und kardinaler Interpretation von Indefinita bzw. von starken und schwachen Quantoren an die Seite (s. IV.4.3.) zu stellen. Werden indefinite als starke Quantoren verwendet, binden sie eine Variable im Restriktor und erzeugen eine präsupponierende Lesart. Bei schwacher Verwendung entsteht aufgrund existentiellen Abschlusses ein kardinales bzw. existenzbehauptendes Prädikat. Diese Unterscheidung kann auch auf kein angewandt werden. Ist die kein-NP Teil der VP, ist kein als kohäsiv und damit im Sinne von Pafel (1994) als nicht-quantifikationell zu verstehen. Nun stehen wir aber vor einer terminologischen Konfusion, die daraus resultiert, daß Diesings kardinal Pafels nicht-quantifikationell entsprechen soll. Doch da Diesing kardinale Prädikate als existenzbehauptende auifaßt - sie bezeichnet kardinale Indefinita auch als "existence closure indefinites" (Diesing 1992: 79) - und Pafel mit nicht-quantifikationell schlicht kohäsiv meint (cf. Pafel 1994: 254), ist der Widerspruch nur terminologischer Art. Also, das kohäsive kein ist ein schwacher Quantor, die ihn enthaltende INP ist - wie schon vielfach bemerkt (cf. Büring 1993; Jacobs 1990; Pafel 1994 usw.) - als [nicht [ein NP] ...] zu analysieren, wobei die Negationspartikel nicht nur die INP negiert, sondern die Satznegation darstellt, wie die Topikalisierungsdaten zeigen (cf. 123a vs. b) (123a) (123b)

Otto kann sich kein neues Auto leisten Ein neues Auto kann sich Otto nicht leisten

Im Unterschied dazu ist das quantifikationelle kein ein starker Quantor, der nach Diesings Analyse QR unterliegt und eine Variable im Restriktor bindet. Nach Diesing ist bei starken Quantoren die im Normalfall daraus resultierende Lesart eine existenzpräsupponierende, bei kein ist es natürlich die explizite Negation der Existenz. In diesem Sinne ist starkes kein ein negativer Existenzquantor (Pafel 1994: 254). Der Unterschied kann an einem berühmten Beispiel aus Kratzer (1991: 30) gezeigt werden: (124a) ist ambig, insofern er sowohl (124b) als auch (124c) bedeuten kann. In der Bedeutung von (124b) ist das nicht-kohäsive kein als starker Quantor, der die Variable im Restriktor bindet, die Negation des Existenzquantors. In (124c) fungiert das kohäsive kein dagegen als schwacher Determinator, die Negation bezieht sich auf das Prädikat und die INP wird, wie bei Diesing vorausgesagt, im Kernskopus existentiell abgebunden. In (124c) wird daher auch nicht die Existenz von Beispielen negiert.49 (124a) 49

weil kein Beispiel bekannt sein muß

Plurale negative Indefinita sind, wie Kratzer (1991: 27) zeigt, im Hochdeutschen obligatorisch kohäsiv, also nicht ambig, cf. (i) und (ii): (i) weil keine Beispiele bekannt sein müssen (ii) -iO (Ξχ) [Beispiel(x) Λ bekannt sein(x)]

223 (124b) (124c)

-,Ξ(χ) [Beispiel(x)] [ • • bekannt sein (χ)] - . • (Ξχ) [Beispiel(x) Λ bekannt sein(x)]

Für das Hochdeutsche ist nach Ausweis der Faktenlage die Annahme zweier Lexeme kein wohlbegründet, da kohäsives und quantifikationelles kein semantisch völlig unterschiedlich zu analysieren sind. Das quantifikationelle kein kann mit Pafel (1994: 254) als Negation des Existenzquantors bestimmt werden, das kohäsive dagegen als "Ausbuchstabierung zweier distinkter [satzsyntaktischer] Knoten" (Büring 1993: 87). Es handelt sich dabei nicht nur um zwei verschiedene Verwendungsweisen desselben Lexems, da die Semantik des einen nicht aus der Semantik des anderen ableitbar ist. Die Verbindung kann in diesem Fall nur diachron hergestellt werden: Das kohäsive kein ist Resultat einer (extern motivierten) Entwicklung, die zum Ausfall der doppelten Negation im Hochdeutschen geführt hat (s. die Ausführungen in Abschnitt 2), so daß kohäsives kein die Aufgabe der ausgefallenen Satznegation mit übernehmen mußte und daher synchron bifunktional ist. Für das Bairische ist die Lexemaufspaltung nicht notwendig, d.h. es gibt kein doppeltes kein, weil im speziellen kein kohäsives existiert. Das Bairische und nicht das Hochdeutsche entspricht in diesem Punkt der Atomizitäts-Hypothese von DiSciullio/Williams (1987)! Das bairische koa ist wie ein typischer schwacher Determinator im Sinne von Diesing (1992: 94ff.) beschreibbar, der ambig hinsichtlich einer 'existence closure'-Lesart und einer Lesart als Negation des Existenzquantors ist. Er zeigt die gleichen Eigenschaften wie z.B. Numeralia (Diesing 1992: 78f.), die wie in (125a) als Quantoren angehoben werden können (QR) und existenzpräsupponierend interpretiert werden. (125a) setzt die Existenz von Beispielen voraus und besagt, daß aus der präsupponierten Menge von Beispielen, die mehr als zwei Elemente enthält, zwei bekannt sein müssen. Dagegen ist bei (125b) nicht die Existenz von mehr als zwei Beispielen vorausgesetzt, es wird lediglich ausgesagt, daß es zwei Beispiele mit der Eigenschaft, bekannt zu sein, geben muß. Das Numerale erhält, da es sich im Kernskopus befindet, in (125b) also eine existentielle Lesart. (125a) (125b)

weil zwei Beispiele ja doch bekannt sein müssen weil ja doch zwei Beispiele bekannt sein müssen

Die beiden Interpretationen von zwei implizieren nicht zwei Lexeme zwei, sie resultieren aus den unterschiedlichen Domänen (Restriktor vs. Kernskopus), über die sie quantifizieren. Genau diese Differenz zeigt auch das bairische koa, wie oben z.B. die Beispiele (101) und (102) demonstrierten (hier als 126/127) wiederholt). In (126a) ist koa ein starker Determinator, wird angehoben (QR) und bindet eine Variable im Restriktor. Die Bedeutung von koa ist in (126a) daher die Negation des Existenzquantors, weswegen auch die in (126d,e) angegebene Anwendung eines bekannten logischen Gesetzes (cf. Kutschera/ Breitkopf 1971: 81) zulässig ist. (126a) (126b) (126c) (126d) (126e)

wai koa Beispiel bekannt sa muaß -ιΞχ [Beispiel(x)] [ • bekannt(x)] 'es gibt kein x, wobei χ ein Bsp., für das gilt: χ muß bekannt sein' Vx [Beispiel(x)] [-> • bekannt(x)] 'für alle χ, χ ist ein Bsp., gilt: nicht muß χ bekannt sein'

224

Eben dieses Gesetz ist bei (127a) nicht anwendbar, wodurch der Unterschied deutlich vor Augen tritt. Hier wird, nach Absorption des Neg-Merkmals durch die Satznegation, die INP existentiell abgeschlossen. In (127a) ist koa ein schwacher Determinator, der nicht QR unterliegt. Die doppelte Negation verhindert - metaphorisch gesprochen - die Quantoren-Anhebung. (127a) (127b) (127c)

wai koa Beispiel ned bekannt sa muaß -, • 3x [Beispiel(x) Λ bekannt(x)] 'nicht muß es ein χ geben, von dem gilt: χ ist ein Bsp. und χ ist bekannt'

Der Einfachheit halber nehme ich anders als Diesing (1992) und die übrige DRT an, daß bei schwacher Verwendung von koa (bzw. indefiniter Quantoren/Determinatoren) der Existenzquantor nicht per Default-Mechanismus in die logische Repräsentation eingeführt wird, sondern von koa selbst stammt. Bei existentiellem Abschluß liegt dann, GB-technisch formuliert, auf LF VP-Adjunktion vor, im Gegensatz zu den starken Varianten, bei denen von IP- oder CP-Adjunktion auszugehen ist. Zur Frage der VP-Adjunktion von Quantoren auf LF und deren Skopuskonsequenzen vergleiche man z.B. May (1985: 55ff.) und Haegeman (1994: 533ff.). Die in der semantischen Repräsentation aufscheinende Differenz, daß bei starker Verwendung der Existenzquantor negiert wird, bei schwacher jedoch nicht, ist kein Grund, zwei Lexeme koa anzunehmen, sondern muß über das Neg-Kriterium syntaktisch erklärt, also letztendlich stipuliert werden. Da bei schwacher Verwendung der INQ (oder auch seine Zwischenspur) in einer Spec-Kopf-Relation zu einem Neg°-Element steht, sei dies nun overt oder nicht, kommt es zur Absorption des Neg-Anteils des INQs, so daß nur die 'existentielle' Komponente in die semantische Repräsentation Eingang findet. Bei der starken Verwendung ist im Satz keine Neg°-Konstituente und keine NegP vorhanden, so daß der Neg-Anteil des INQs nicht absorbiert werden kann. Das Problem bleibt allerdings zu erklären, warum die Standardnegation von (128a) nicht (128b), sondern (128c) lautet. In (128b) ist die INP a Red spezifisch und referentiell (cf. Heim 1991: 518): es ist eine ganz bestimmte Rede, die ich nicht halten muß. Doch ist (128b) genau deswegen nicht die Negation von (128a), denn die INP a Red hat keine spezifische Bedeutung. Es heißt nämlich nicht, daß ich eine bestimmte Rede halten muß. Die adäquate Negation von (128a) ist daher (128c), der besagt, daß ich eine nicht näher bestimmte Rede nicht halten muß. Der INQ zeigt damit an, daß sich die INP zum einen im Bereich des existentiellen Abschlusses (daher [-spezifisch]) und zum andern im Bereich der Negation (daher [+Neg]) befindet. Die doppelte Negation ist also bifunktional. (128a) (128b) (128c)

daß'e a Red hoitn muaß daß'e a Red ned hoitn muaß daß'e koa Red ned hoitn muaß

Wie die logische Semantik dies technisch en detail löst, sei dahingestellt. Syntaktisch ist die doppelte Negation mit NC mit dem in der generativen Grammatik entwickelten Beschreibungsformat des Neg-Kriteriums erfaßbar. Es dürfte aber klar geworden sein, daß in

225 den beiden genannten Funktionen die doppelte Negation begründet ist. Diese Motivation ist offenbar so stark, daß dadurch selbst ein grammatikalisierter Verstoß gegen das semantische Kompositionsprinzip, das, von einzelnen und unsystematischen Idiomatisierungen abgesehen, ansonsten ausnahmslos zu gelten scheint, lizensiert wird. In Abschnitt 4.3.1. wurde der Mechanismus der Neg-Absorption nach Haegeman (1995: 78f.) noch unkommentiert vorgestellt. In diesem Mechanismus wird gefordert, daß die in eine NC-Lesart eingehenden Negationen identischen Skopus haben, wie dies in dem benutzten Beispiel (129a) vorderhand auch irgendwie intuitiv plausibel erscheinen mag. 50 Dagegen ist bei Sätzen wie (129b) ganz klar, daß identischer Skopus eben nicht vorliegt, weil die Satznegation nicht nur Skopus über das negierte Objekt {koa Beispiel), sondern auch über das Modalverb hat, das wiederum aber nicht im Skopus der zweiten Negation liegt, während dagegen die negierte INP im Skopus der Satznegation ist, obwohl sie ihr vorausgeht (Skopuserweiterung der Satznegation ist ja eine der Funktionen der doppelten Negation). Damit haben beide Negationsträger einen unterschiedlichen semantischen Bereich und die Skopusidentität kann keine notwendige Bedingung für NC sein.51 Bei genauerer Analyse würde sich zeigen lassen, daß die Hypothese auf sehr schwachen Füßen steht, falls ihr überhaupt eine Bedeutung über die als eine technische Konvention hinaus zukommt. Wie aus den Ausführungen dieses Abschnitts deutlich geworden sein dürfte, ist mit ihr das Charakteristische der doppelten Negation nicht erfaßbar. Sie ist z.B. kein geeignetes Mittel zur Darstellung der semantischen Differenz zwischen (129b) und (129c), obwohl sie als LF-Repräsentation dies leisten können müßte. Für beide könnte sie nur das Format (129d) anbieten, womit sich aber ohne zusätzliche Stipulation kein Unterschied sichtbar machen läßt. (129a) (129b) (129c) (129d)

neamd hod nix gsogd Für kein x,y [x: eine Person; y: ein Ding] [x sagte y] i han koa Beispiel ned kenna miaßn - . • (Ξχ) [Beispiel(x) Λ kennen(ich,x)] i han koa Beispiel kenna miaßn -ιΞχ [Beispiel(x)] [ • kennen(ich,x)] kein χ [χ: Beispiel] [ich muß kennen x]

Das bei Haegeman (1995: 78f.) skizzierte Konzept der Neg-Absorption hat damit für die tatsächlich interessanten Fälle keinen heuristischen Wert, weil es die relevanten Merkmale der doppelten Negation nicht zum Ausdruck bringen kann. Aus diesem Grund sollte man darauf verzichten (nicht jedoch auf die Idee der Neg-Absorption als solche!). 50

51

Die Originalbeispiele (25b) bei Haegeman (1995: 78) lauten wie in (i) bis (iv): (i) Personne ne disait rien (ii) no one ne said nothing (iii) "No one said anything' (iv) No x,y [x: a person; y: a thing] [x said y] Es ist an einzelnen Stellen unklar, welchen Skopusbegriff Haegeman (1995) verwendet. Wenn sie z.B. bei (i) annimmt, die Negation habe "sentential scope" (1995: 169), so ist das mit dem gängigen Skopusbegriff der Logik schlicht unvereinbar. (i) weil Peter mit nichts zufrieden ist

226 4.4.6. Die Syntax der einfachen Negation Zum Abschluß bleibt uns noch, die Syntax der einfachen Negation genauer als bislang zu untersuchen. Wie schon Kürschner (1983: 117) mit Bezug auf das Hochdeutsche betonte, ist es mitunter nicht einfach, ein Vorkommen von kein als kohäsiv oder quantifikationell auszuweisen. So kann der Satz (130a) die Negation von (130b) oder von (130c) sein. Im ersten Fall wäre kein kohäsiv, im zweiten dagegen quantifikationell. (130a) (130b) (130c)

Wir haben kein Geld Wir haben Geld Wir haben viel/etwas/wenig Geld

Eine ähnlich gelagerte Problematik liegt im Bairischen vor. Bei manchen Sätzen mit einfacher Negation auf der s-Struktur ist nämlich davon auszugehen, daß es sich um eine verborgene (coverte) doppelte Negation handelt, bei der also auf PF die Satznegation ned getilgt wurde. Dabei handelt es sich vorzugsweise um eher einfache Satzkonstruktionen: In diesem Sinne sind (131a) und (131b) strukturell äquivalent, was bezüglich ihrer Semantik intuitiv sofort einleuchten dürfte. Für (131a) ist m.a.W. ebenfalls eine NegP anzusetzen, obwohl das Neg°-Element phonetisch unsichtbar ist. So haben also (131a) und (131b) die gleiche Struktur (132, nur der hier relevante Ausschnitt): (131a) (131b)

haind is koa scheans Wedda haind is koa scheans Wedda ned

(132)

NegP

Neg° koa scheans Wedda

0 ned Da die NegP und das Neg°-Merkmal trotz Tilgung von ned auf den übrigen syntaktischen Ebenen sichtbar bleibt, ist die Erfüllung des Neg-Kriteriums nicht gefährdet. PF-Tilgungen bzw. die Optionalität bestimmter Lexeme sind theoretisch gesehen kein Problem, da sie unabhängig in vielen Bereichen beobachtbar sind und in die Theorie integriert werden können. Im Zusammenhang mit dem Bairischen sei an dieser Stelle lediglich auf die häufig vorkommenden cfa/?-/wo-Tilgungen (cf. 133a,b) und die Analyse der letzteren bei Bayer (1983; 1983-84) hingewiesen. (133a) (133b)

i woas aa ned, worum (daß) da Sepp des doa hod dea Moa, dea (wo) des gsogd hod

227 Anders als bei der 'scheinbaren' muß bei der echten einfachen Negation qua INQs - und nur um diese Fälle geht es hier52 - angenommen werden, daß es keine NegP im Satz gibt. Die im vorhergehenden herausgearbeiteten semantischen Differenzen zwischen Sätzen mit einfacher und doppelter Negation legen diese Analyse zwingend nahe. Es wurde ja deutlich, daß bei einfacher Negation keine Satznegation im traditionellen Sinn, sondern eine Sonder- bzw. Konstituentennegation vorliegt, weil die Negation z.B. die Modalverben nicht in ihrem Skopus hatte, während dies bei der doppelten Negation der Fall war. Für quantifikationelle Nominalphrasen wird in der generativen Grammatik zumeist angenommen, daß sie eine syntaktisch eigenständige Phrase von der Kategorie QP sind, deren Kopf Q° die Quantitätsangabe bildet, die als Komplement eine DP/ NP selegiert (cf. Haegeman 1995: 174). Der Ausdruck kein Beispiel hat somit die Struktur (134), in der kein von der Kategorie Q° ist: (134)

QP Q'



DP

kein

D"



NP

Beispiel Die Struktur (134) ist in allen Fällen anzusetzen, in denen nominale INQs beteiligt sind, unbeschadet der Tatsache, daß doppelte Negation vorliegt oder nicht. Die INQs niemand, keine(r/s) und nichts sind intransitive QPs, kein-NPs transitive.53 Bei einfacher Negation wird, wie bereits ausgeführt, die negierte QP aus der VP heraus in die Scrambling-Position angehoben, bei doppelter Negation wird sie in den Specifier der NegP bewegt, in der dann die Bedingung für die Negationsharmonie qua Neg-Kriterium erfüllt ist. 52

53

In Sätzen wie (i), dem NormalfalT der einfachen Negation, in dem Sinne, daß hier die unmarkierte Standardnegation ned vorliegt, ist dagegen eine NegP anzusetzen: (i) i kenn'de ned Das Format (134) ist nicht die einzige in der Literatur diskutierte Strukturvariante. Pafel (1994) verzichtet auf die Annahme von QPs und analysiert Quantoren als eine besondere Art von Adjektiven, die an D° rechtsadjungieren. Nach Bhatt (1989) und Vater (1991) ist QP ein Komplement von D°, das selbst eine NP selegiert. Alle diese Varianten sind z.T. empirisch angemessener als (134), z.T. aber auch nicht (etwa bei split topics, cf. Haegeman 1995: 173ff.). (134) ist bei keinNPs als Strukturannahme allerdings ausreichend.

228 Mit der Annahme, daß bei Einfachnegation der hier in Betracht kommenden Art keine NegP im Satz vorhanden ist, daß m.a.W. also eine positive Proposition vorliegt, können weitere Daten erklärt werden, die z.T. schon angesprochen wurden. So wurde bereits erwähnt, daß ein Satz wie oben (116a) - als (135a) wiedergegeben - kumulativ interpretiert wird (sofern er Uberhaupt als grammatisch akzeptiert wird). Wenn man (135a) als Negation von (135b) auffaßt, wie dies aus unserer Analyse zwingend folgt, ist die Aufhebung der beiden Negationen in (135a) nicht verwunderlich, da der Satz als Negation einer positiven Proposition eine NegP aufweist. Umgekehrt kann es dann aber nicht sein, daß in (135b) bereits eine NegP vorhanden ist, weil sonst (135a) als Negation von (135b) über zwei NegPs verfügen müßte, was wohl kaum sehr plausibel ist. Auch dieser Kontrast zeigt deutlich, daß die Einfachnegation qua INQs nicht in allen Kontexten die Negation einer Proposition ist und daß die Hinzufügung der Negationspartikel ned keine Verstärkung der Negation bewirken muß. (135a) (135b)

wai koa Linguist oft ned raalfod wai koa Linguist oft raalfod

Im Bairischen sind Sätze möglich, in denen ein nicht negiertes Indefinitpronomen einem INQ nachfolgt (136a). Unter der Voraussetzung, daß in (136a) eine NegP vorhanden ist, in dessen Specifier die INQ neamd ist, müßte der Satz ungrammatisch sein. Dann befände sich nämlich - wie bei overter doppelter Negation in (136b) - das Indefinitum innerhalb der VP und im Skopus des phonetisch zwar nicht sichtbaren, strukturell aber dennoch vorhandenen Neg-Merkmals in Neg°. Als Indefinitum ist es jedoch ein Quantor und daher siehe (99) - nicht negationsdurchlässig, so daß es die Lesart nicht etwas haben müßte, die es eben aber nicht hat. In (136b) ist die Negationspartikel phonetisch realisiert, strukturell ist aber Identität mit (136a) gegeben (allerdings nur unter der Annahme, daß bei ersterem eine Satznegation vorliegt). Falls man (136b) überhaupt als grammatisch akzeptiert, dann nur - mit entsprechender Akzentuierung - als Sondernegation, die mit einem sondernFortsatz versehen ist. Diese Interpretation ist bei etwas nicht leicht zu erreichen, bei spezifischeren Ausdrücken wie in (136c) jedoch problemlos. (136d) zeigt die korrekte Realisierung des Indefinitums als INQ, wodurch es als im Skopus der Satznegation und als durchlässig für diesen interpretiert werden kann. Auch diese Daten deuten daraufhin, daß bei INQs nicht automatisch im Satz eine NegP vorhanden sein muß. (136a) (136b) (136c) (136d)

wai neamd eps kod hod (Kollmer ΠΙ, 130) ??/*wai neamd ned eps kod hod wai neamd ned a Stikkl Kuacha kod hod, sondern a Stikkl Broud wai neamd nix ned kod hod

5. Resümee Die Theorie der doppelten Negation, die in den vorhergehenden Abschnitten entwickelt wurde, hat neben den schon genannten zahlreichen Vorteilen mit Sicherheit auch den

229 Nachteil, daß sie nicht für alle Vorkommen eine aus ihr sich ergebende Erklärung anbieten kann. Dazu ist dreierlei zu sagen. Zum einen ist, wie oben bei IV.4.4. schon ausgeführt, zu bedenken, daß sich ganz allgemein in der Syntaxforschung manche erhellenden Kontraste bzw. Phänomene nur an einigermaßen komplexen Strukturen zeigen lassen, so daß es nicht verwundern sollte, daß sie in einfacheren strukturellen Kontexten nicht in der gewünschten Deutlichkeit rekonstruierbar sind (obwohl sie dort vorhanden sein können). Diese Problematik ist also nicht spezifisch für meine Theorie der doppelten Negation, sondern betrifft die Syntaxforschung in der einen oder anderen Form allgemein. Die von mir herangezogenen Datenbereiche zeigen aber, darauf möchte ich doch hinweisen, bei weitem nicht den Grad an Marginalität, den man in generativen Arbeiten bisweilen antrifft, so daß die Theorie insgesamt einen breiten und produktiven Ausschnitt aus dem Sprachsystem abdecken und erklären kann. In Weiß (1998b) habe ich die Datenbasis erheblich erweitert und v.a. Kontexte untersucht, für die meine Theorie voraussagt, daß sie keine doppelte Negation erlauben (z.B. die sog. Eselssätze). In anderen Theorien (reinforcement, Neg-Kriterium) ist es nicht einmal möglich, solche Fragen zu formulieren, geschweige denn zu beantworten. Zum zweiten kann es durchaus sein, daß meine Theorie, vorausgesetzt sie ist korrekt, aus unabhängigen Gründen dennoch nicht alles erklären muß. Denkbar ist nämlich auch ein Szenario, daß es einzelne, nicht marginale, sondern produktive Bereiche (wie die von mir herangezogenen) im Sprachsystem gibt, welche die doppelte Negation (oder irgendein anderes Phänomen) funktionell erfordern.54 Der von diesen Teilsystemen ausgehende Druck kann, falls er stark genug ist, zur Grammatikalisierung der betreffenden Erscheinung führen, wodurch sie auch in Kontexten auftritt, in denen sie funktionell irrelevant ist. Für diese Kontexte kann dann selbstverständlich keine der Theorie entsprechende Erklärung gegeben werden, weil sie gar nicht für diese entwickelt wurde. Umgekehrt sind das dann aber auch keine möglichen bzw. ernsthaften Gegenbeispiele, die gegen die fragliche Theorie ins Feld geführt werden können. Zum dritten ist oben bei (131) und (132) explizit die Möglichkeit eingeräumt (und plausibilisiert) worden, daß es Sätze gibt, in denen die einfache Negation auf der s-Struktur semantisch äquivalent mit der doppelten Negation ist. Wenn man nun Vor- und Nachteile gegeneinander abwiegt, dürften die Vorteile deutlich überwiegen. Insbesondere spricht für meine Theorie, daß sie, wenn auch nicht im Chomskyschen Sinne, erklärungsadäquat ist in dem Sinne, daß sie dem beobachteten und mithilfe eines abstrakten Instrumentariums (Neg-Kriterium) beschriebenen Phänomen auch eine - vorsichtig formuliert - zumindest nicht unplausible Funktion zuordnen kann. Allein schon deswegen ist sie als Erklärung attraktiver als bisher gegebene. Zum Abschluß dieses Kapitels möchte ich noch kurz einen Punkt ansprechen. Im Abschnitt 4.2.2. wurde die morphologische Lücke im "square of opposition" erwähnt, also die Tatsache, daß die Negation des Allquantors in keiner Sprache lexikalisiert ist, häufig

54

Strenge Autonomsten mögen mir diesen Passus nachsehen. Die vorstehenden Ausführungen im Rahmen einer Satzsemantik haben aber, glaube ich, deutlich gemacht, daß strukturell verankerte Funktionalität eine nicht geringe Erklärungskraft besitzt.

230 jedoch die Negation des Existenzquantors. Horn (1989: 499f.) versucht die Lücke logischsemantisch zu erklären, insofern als sich jede Information in einer Proposition ausdrücken lasse, die alle, einige, und kein enthalte, weil einige auch nicht alle impliziere. Nach der hier entwickelten Theorie der doppelten Negation ist eine alternative Erklärung denkbar. Quantoren wie alle und jeder sind starke Quantoren, die angehoben werden müssen, um dem existentiellen Abschluß zu entgehen. Selbst wenn sie also im Skopus der Negation stehen (bei der sog. I-Topikalisierung), ist es aus unabhängigen Gründen ausgeschlossen, daß sie sich zugleich VP-intern (bzw. im C-Kommando-Bereich der Negation) befinden. Wenn man davon ausgeht, daß die Entstehung von INQs bedingt ist durch das Zusammenspiel von Negation und Interpretations- bzw. Quantifikationsdomäne, so ist klar, warum Formen wie nalle universell nicht lexikalisiert wurden. Mir scheint diese Erklärung nicht unplausibel angesichts der Tatsache, daß INQs und doppelte Negation immer zusammen auftreten (cf. Weiß 1998a, 1998b).55

Postscriptum: Erst nach Abschluß dieses Kapitels ist mir Ladusaw (1996) zugänglich geworden, eine Arbeit, die auf ca. 3 Seiten den derzeitigen Forschungsstand in der generativen Grammatik zur Negationsharmonie darstellt. Anlaß zu diesem Postscriptum ist weniger der Inhalt der Arbeit, sondern die Tatsache, daß mir bei deren Lektüre bewußt wurde, eine Prämisse meiner eigenen Untersuchimg bislang nicht explizit gemacht zu haben: Die Konzentration allein auf das Bairische. Bei Ladusaw (1996: 341) habe ich den Grund für diese Beschränkimg gefunden: negative concord is a widespread construction which, when understood thoroughly in a number of different languages, should provide telling evaluation of some basic assumptions about the syntax-semantics interface (Hervorhebung von mir). Für eine universelle Theorie der doppelten Negation ist Voraussetzung, daß das Phänomen in konkreten Einzelsprachen untersucht und verstanden wurde. Deshalb die Beschränkung auf das Bairische. D.h. aber umgekehrt auch, daß ich nicht erwarte, daß die doppelte Negation in anderen Sprachen exakt mit der Theorie zu erklären ist, die hier für das Bairische entworfen wurde. Ich würde mich nur wundern, wenn man dafür völlig andere Bahnen beschreiten müßte. Dies wollte ich zum Schluß ebenfalls noch anmerken, obwohl ich mir bewußt bin, daß ich es eigentlich schon am Anfang hätte sagen müssen.

55

Nach Kiparsky (1976: 263) ist zwar nur die Existenz von INQs notwendige Voraussetzung für die doppelte Negation, nicht jedoch umgekehrt. Ich vermute aber, daß sich in allen Ν1-Sprachen beide notwendig gegenseitig voraussetzen. Sprachen wie das Hochdeutsche oder - mit Einschränkung - Standardenglische zeigen, daß INQs ohne doppelte Negation nicht Resultat einer natürlichen (systemimmanenten) Sprachentwicklung sind. Diese Vermutung bestätigen auch neuere typologische Untersuchungen wie die von Haspelmath (1997).

V. Der bairische Infinitiv

... ailaans im schnäiweißn bissoa schdäih wous wassä vo di kachln drobfd und nimma aufhöm zum schiffm des is boesie (Fitzgerald Kusz, Dichterlesung)

1. Einleitung

1.1. Forschungssituation und Untersuchungsaufbau Sieht man von den beiden eingehenden Untersuchungen von Donhauser (1989a; 1989b) und einem ersten generativen Erklärungsversuch von Bayer (1993) ab, gibt es keine systematischen Studien zum Infinitivsystem des Bairischen. Dennoch herrscht bei den Dialektologen Einigkeit darüber, "daß die Mundartsprecher des Bairischen eine deutlich größere Zurückhaltung gegenüber den mit zu konstruierten Infinitiweibindungen an den Tag legen als dies z.B. in der gesprochenen wie geschriebenen Standardsprache der Fall ist" (Donhauser 1989a: 292f.). Es ist Donhauser darin zuzustimmen, daß diese Ansicht revisionsbedürftig sei. Sie verstellt den Blick auf die tatsächlichen Gegebenheiten, wie aus unserer Analyse deutlich werden wird. In der folgenden Untersuchung wird zwischen einem älteren und neueren Infinitivsystem im Bairischen unterschieden. Für diese Trennung gibt es zwingende Gründe: (1) liegt ihr die durch Daten belegbare These zugrunde, daß sich das Infinitivsystem im Bairischen in einem Wandel befindet, so daß (2) das ältere und neuere System als Ausgangsund (vorläufiger) Endpunkt der Entwicklung in der Analyse geschieden werden sollten, um Fehlinteipretationen der Daten zu entgehen. Nur auf diese Weise ist dem traditionellen und dem heute gesprochenen Bairisch gerecht zu werden. Bisher hat man nämlich beide Systeme - mit der Ausnahme von Donhauser (1989a; 1989b) - in ihrer Existenz kaum erkannt, was zu eklatanten Fehldeutungen der Datenlage und zu falschen grammatischen Erklärungen geführt hat. Ich will als Beispiel nur zwei 'meinungsbildende' Autoren anführen, auf die bei der späteren Untersuchung immer wieder zurückzukommen sein wird. Zehetner (1985: 148f.) handelt ausschließlich von der "Ersetzung von Infinitivkonstruktionen". Daß im Bairischen erweiterte Infinitive häufig durch daß-Sätze (cf. la vs. lb) oder substantivierte Infinitive (cf. lc vs. Id) substituiert werden, ist auf der faktischen Ebene ohne Zweifel eine korrekte Beschreibung der Verhältnisse. Sie impliziert jedoch, daß es erweiterte Infinitive verbalen Charakters im Bairischen überhaupt nicht gebe, und so verwundert es auch nicht, daß Zehetner in einem Satz wie (le) einen substantivierten Infinitiv erblickt. Wie wir an späterer Stelle zeigen werden, ist die 'nominale' Deutung der

232

Aa£e«+zw/n+Infinitiv-Konstruktionen' weder diachron noch synchron haltbar; hier liegen ebenso wie im Standarddeutschen verbale Infinitive vor. (la) (lb) (lc) (ld) (le)

Max hat versprochen, mich zu holen Da Max hod ma vaschbroocha, daß'a me hoid Dann fing er zu weinen an Na hod'a sBlean ogfangd Mid deara mechad i nix zun Doa hom

Einem ähnlichen Mißverständnis ist auch Bayer (1993) erlegen, der bei seiner generativen Analyse explizit vom präpositionalen Charakter von zum ausgeht und daher die Infinitive als Nomina klassifizieren muß. Bei ihm ist die Verwechslung des älteren und neueren Systems besonders deutlich, da er einerseits, wie erwähnt, an der nominalen Natur der Infinitive festhält, andererseits aber Sätze wie (2a-c) behandelt, die nach Ausweis anderer Autoren (Zehetner 1985; Donhauser 1989a, 1989b) sowie meiner eigenen Daten im traditionellen Bairisch gar nicht anzutreffen sind und allein schon deswegen unterschiedlich analysiert werden müssen. Damit wird seine Erklärung insgesamt obsolet. (2a) (2b) (2c)

Er hod de Sei zum fiadan vagessn De hom af alle Baam zum rumgraggln oogfangt Sie hods earn zum naafdroong vagessn

Mißverständnisse der eben geschilderten Art breiten sich dann oft ungeprüft in der Literatur aus und verhindern eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema. So scheint z.B. in der neueren generativen Forschung ungefragt akzeptiert zu werden, daß bair. zumInfinitive in keinem Kontext mit hd. zu-Infinitiven vergleichbar sind, bzw. anders formuliert, daß es dem Hochdeutschen entsprechende Infinitiv-Konstruktionen im Bairischen überhaupt nicht gebe. Man vergleiche Demske-Neumann (1994: 60, Anm. 20 u. 122f., Anm. 15) und Schmidt (1995: 184f.): Beide setzen sich kritisch-ablehnend mit Bayers theoretischen Annahmen auseinander, der angebliche Sonderstatus von zum wird allerdings nicht hinterfragt. Selbst bei Abraham (1995: 308) findet sich die Ansicht, "daß in den oberdeutschen Dialekten derartige zu-Infinitive im allgemeinen durch die Gerundialkonstruktion [= ζκ/w-Infinitiv] ersetzt werden. ZM+Infmitiv ist in der Mundart schlechthin unbekannt." Damit wird ein kategorialer Unterschied postuliert, der aber von der Datenlage - wie zu zeigen sein wird - nur partiell gestützt wird. Man sollte sich einmal ganz klar vor Augen stellen, was es bedeutet, wenn es im Bairischen tatsächlich - um die Terminologie von Gunnar Bech (1955-57) an dieser Stelle einzuführen - keinen 2. Status (zw-Infinitiv) gäbe. Dadurch unterschiede sich das bairische Verbalsystem von dem des Neuhochdeutschen natürlich gravierend. Schematisch läßt sich die von der Standardannahme behauptete Differenz wie folgt veranschaulichen (für das Hochdeutsche nach Grewendorf 1988: 263ff): 1

Ich habe die neutrale, dem Hochdeutschen angenäherte Schreibweise zum der besseren Lesbarkeit willen gewählt. Die tatsächliche Aussprache variiert von Region zu Region geringfügig, im Bayerischen Wald z.B. wird es /son/ ausgesprochen (cf. Kollmer I, 319).

233

1. Status 2. Status 3. Status

Deutsch Supinum

Paritizip

heben zu lieben geliebt

liebend(er) zu liebend(er) geliebter)

Bairisch Supinum

Partizip

mocha -

-

gmochd

gmochd(a)

Auf den ersten Blick ist erkennbar, daß das hd. Verbalsystem im Gegensatz zum bairischen vollständig ist. Vor allem im Partizipialbereich verfügt das Bairische regelmäßig und systematisch nur über die Form des 3. Status, der erste und zweite Status sind nicht vertreten,2 bei den Supina - so die derzeitige Standardannahme - fehlt der 2. Status, der 1. und 3. sind verfügbar. Das Bairische weist somit also nur die Hälfte der Formen des Hochdeutschen auf. Die Lücken im Veibalsystem müßten erhebliche syntaktische Differenzen zur Folge haben. Wenn wir von der eigentlichen Infinitivsyntax absehen, die noch ausführlich behandelt wird, könnte man z.B. aus dem Fehlen des Supinums im 2. Status elegant ein weiteres Phänomen der bairischen Syntax erklären. Bekanntlich sind im Bairischen Konstruktionen nicht möglich, in denen ein Partizip im 2. Status attributiv verwendet wird (cf. 3a vs. b). Es ließe sich nun ohne Probleme dafür argumentieren, daß das Fehlen eines Partizips im 2. Status aus dem Fehlen eines Supinums im 2. Status resultiert: die Partizipialformen sind ja morphologisch aus den Supinumformen abgeleitet. Man kann jedoch unabhängig davon zeigen, daß der konstruierte Kausalnexus nicht unbedingt zutreffen muß, daß auf jeden Fall aber das fehlende Partizip keine Evidenz bezüglich des Supinums liefert. Denn auch ein Partizip im 1. Status existiert - obwohl ein entsprechendes Supinum (einfacher Infinitiv) für jedes Verb vorhanden ist - nur in bestimmten, semantisch und nicht syntaktisch geregelten Ausnahmefällen (cf. Zehetner 1985: lOlf.) und kann auf keinen Fall erweitert attributiv konstruiert werden (cf. 3c vs. d). Das Partizip Präsens hoidnd fehlt im Bairischen, obwohl prinzipiell bildbar, da die entsprechende morphologische Regel gegeben ist, wie andere, semantisch erlaubte Partizipien (bliarad, drogad etc.) beweisen. Die im Bairischen existenten Präsenspartizipien können, neben der spezifischen Konstruktion mit werden (cf. 3e), auch attributiv verwendet werden (cf. 3f). Das Attributverbot gilt aber ausnahmslos für erweiterte Konstruktionen vom Typ (3d). Letztere Erscheinung erklären Mayerthaler/Mayerthaler (1990: 409f.) mit der im Bairischen angeblich weithin gültigen Rektion nach rechts, gegen die diese Konstruktionen verstoßen würden (sie werden daher als Relativsätze realisiert). (3a) (3b) (3c) (3d)

2

eine zu machende Arbeit *a zum/z'mochade oarbat der den Vortrag haltende Professor *da an Vortrog hoidnde Professor

Cf. Zehetner (1985: 101): "Die Hochsprache [...] kennt zu jedem Verb ein Präsenspartizip, das Bairische nicht ohne weiteres. Solche Formen sind nur üblich, wenn sie - mehr oder minder eine Eigenschaft zum Ausdruck bringen; sie können um so eher verwendet werden, je mehr sie sich bedeutungsmäßig einem Adjektiv nähern." Ebenso Schiepek (1899:197).

234 (3e) (3f)

sHai is earn brennad wom a brennade Zigan

Ob die Erklärung von Mayerthaler/Mayerthaler ebenso wie die Zehetners (1985: 101)3 zutrifft, möchte ich bezweifeln. Es scheint doch eher so zu sein, daß in der Regel nur die Präsenspartizipien intransitiver Veiten attributiv verwendet werden können. Genauer gesagt handelt es sich dabei um die sog. unergativen Verben, deren einziges Argument das (tiefen- wie oberflächenstrukturelle) Subjekt ist. Unergative Verben sind hinken, schreien, spinnen, stinken usw., sie alle können attributiv konstruiert werden (hinkade, schreiade, spinnade, stinkade Kinda). Diese Möglichkeit gibt es bei den sog. unakkusativischen, ehemals ergativen Verben (z.B. kema, hifoin, steam) nicht, deren einziges Argument ein tiefenstrukturelles, thematisches Objekt ist, das - verkürzt dargestellt - aus Kasusgründen auf der s-Struktur in die Subjektsposition angehoben wird.4 Da nun bei transitiven Verben - in den wenigen Fällen, in denen das Präsenspartizip als Attribut verwendet werden kann (z.B. drogade Kua) - als Kopfhomen nur das Subjektsargument auftauchen kann, nie jedoch das Objektsnomen, scheint alles dafür zu sprechen, daß die Beschränkung mit der ΘRollen-Zuweisung zusammenhängt. Es handelt sich ja um einwertige Aktiv-Partizipien, bei denen das verbale interne Argument, falls vorhanden, blockiert wird und nur das externe Argument erhalten bleibt. Aus diesem Grund ist klar, warum die Präsenspartizipien ergativer Verben, die nur über ein internes Argument verfügen, nicht attribuierbar sind, diejenigen unergativer Verben aber als Attribut ihres externen Arguments gebraucht werden können. Hierin liegt die tiefere Begründung für die beobachtbare Attribut-Beschränkung bei den Präsenspartizipien im Bairischen. Die Restriktion zeigt sich übrigens nicht nur bei der Attribuierung: Auch die berühmten werden + Part. Präsens-Bildungen (cf. Ulvestad 1983) vom Typ iatz wiad's rengat sind - bis auf die Bewegungsverben, die auch sonst eine Ausnahme bilden - auf die Klasse der unergativen Verben eingeschränkt: d'Rosn wearn boid bliarad. Man hat es hier mit dem umgekehrten Fall zu tun, daß Perfektpartizipien unakkusativischer Verben attributiv verwendbar sind, die unergativer Verben aber nicht (vgl. der angekommene Zug vs. *das geschrieene Kind). Während letztere Restriktion auch im Hochdeutschen zu beobachten ist, beschränkt sich die erstere auf das Bairische (vgl. der ankommende Zug vs. *da ankemmade Zug). Wichtig ist in unserem Kontext aber der Punkt, daß bei etwaigen Lücken im Bech'schen System keine morphologischen Faktoren beteiligt zu sein brauchen. Es kann daher sein, daß für das Fehlen des Partizips im 2. Status unabhängige Ursachen verantwortlich sind. 3

4

Gegen die von Zehetner vorgebrachte Standardansicht (vgl. auch Merkle 1990: 49f.) sprechen von empirischer Seite - um nur ein Beispiel zu nennen - die durchaus noch produktiven Schimpfwortbildungen wie baissad, bruntzad, soachad, wuislad, zanad etc. (cf. Aman 1975), die keine Eigenschaft zum Ausdruck bringen, wenn auch oft, wie Merkle richtig vermerkt, mit ihnen auf keine 'aktuelle' Tätigkeit referiert werden kann, von Ausnahmen wie der brennenden Zigarette u.a. abgesehen. Doch scheint mir diese Beschränkung kein Einwand gegen die hier vorgebrachte Theorie zu sein. Zum Thema Ergativitftt im Deutschen und allgemein vgl. Fanselow (1992), zur Unterscheidung unergativer vs. unakkusativischer Verben cf. Abraham (1995: ins. Kap. 2).

235

Meine im folgenden zu substantiierende These besagt daher, daß im Bairischen auch ein Supinum im 2. Status existiert und das Bech'sche Schema wie folgt auszusehen hat, womit die Unterschiede zum Hochdeutschen im Supinumbereich verschwunden sind. Die - von mir nicht geleugneten - Differenzen in der Infinitivsyntax zwischen Mundart und Hochsprache lassen sich damit nicht mehr auf etwaige Lücken im (morphologischen) Verbalsystem zurückführen, sondern müssen unabhängig erklärt werden. Bairisch 1. Status 2. Status 3. Status

Supinum mocha zum/z1 mocha gmochd

Partizip -

gmochd(a)

Um Pauschalierungen und Fehldeutungen von vornherein zu vermeiden, werde ich zunächst ausschließlich das ältere System einer eingehenden Analyse unterziehen, bevor ich mich dann dem Bildungstyp (Typ VII, s.u.) zuwende, der von zeitgenössischen Bairischsprechera bei erweiterten Infinitiven tatsächlich gebraucht wird. Nur so ist eine zutreffende Analyse beider Systeme möglich.

1.2. Über das Verhältnis von zum und z' Bevor wir uns der Infinitiv-Typologie und ihrer Erklärung zuwenden, soll kurz begründet werden, warum ich - synchron gesehen - die Form z' als (pro)klitisch und damit als Kurzform von zum bezeichne. Auf den ersten Blick ist diese Einordnung nämlich alles andere als selbstverständlich. Man kann die Form z' auf zwei Arten analysieren, die in den beiden folgenden Regeln zum Ausdruck kommen: (I) (H)

ZU-+2> zum —> ϊ

Nach (I) ist z' das Klitikum von zu, während in (Π) die Ableitung aus zum (das selbst durch Klisis aus zu + dem entstand) angegeben ist. Die erste Herleitungsart wird von Merkle (1990: 43f.) und Schiepek (1899: 191ff.) vertreten, die z' als äquivalent zu hd. zw auffassen. Nach z* nimmt Merkle daher einen (verbalen) Infinitiv an, dagegen nach zum einen substantivierten Infinitiv (cf. 4a vs. b). Nach moiphologischen (und historischen) Kriterien ist Merkles Herleitung nicht unplausibel, da der hd. Präposition zu im Bairischen zumindest in einem Fall z' entspricht (nämlich vor Ortsnamen mit der Bedeutung 'in', cf. 4c, d), während hd. zum im Bairischen immer zum lautet und nie zu z' reduziert werden kann, wenn ihm ein Nomen folgt (cf. 4e,f). Aus diesem Grund ist die Reduktion von zum zu z* vor Infinitiven selbst auf der synchronen Ebene ein Sonderfall. (4a) (4b) (4c)

Gibds heid nix z'essn? Gibds heid nix zum Essn? z"Reng/Bassau...

236 (4d) (4e) (4f)

in Regen/Passau... I geh zum Wiad/Hans ume *I geh zWiad/Hans ume

Historische Gründe für die Herleitungsregel I finden sich bei Schiepek (1899: 191ff.). Auch er trennt z' und zum. Nach seinen Angaben hat sich der Gebrauch von zum ursprünglich auf finale Angaben (z.B. bei unserem Typ V, s.u.) beschränkt, während z'-Infinitive hd. zu-Infinitiven entsprachen. Aber er geht - im Unterschied zu Merkle - ausdrücklich davon aus, daß zu seiner Zeit z' und zum weitgehend synonym verwendet werden: Im Laufe der Zeit mag aber die gewichtigere Form (zum) durch häufigen Gebrauch inhaltlich entwertet worden sein; die Bedeutung des Zweckes ging z.Th. verloren und mit diesem verringerten Gehalt konnte zum beim Infinitiv ohne sonderlichen Bedeutungsunterschied mit zu die Stelle wechseln und sich so auch in Fügungen festsetzen, wo nhd. nur zu statthaft ist (Schiepek 1899: 192).

Es ist also mit Sicherheit davon auszugehen, daß sich die 'Gleichsetzung1 von zum und z' nicht erst in jüngster Zeit ausgebildet hat, da sie von Schiepek bereits für das 19. Jahrhundert bezeugt ist. Soweit ich die Literatur überblicke, sind Merkle und Schiepek die einzigen, die die Herleitung von z' aus zu in Anspruch nehmen (und damit die Existenz echter Verbaler' Infinitive im Bairischen zugestehen). Andere wie Donhauser oder Zehetner äußern sich zum Verhältnis von zum und z' überhaupt nicht. Dagegen scheint Kollmer 1,319 die zweite Lösung zu vertreten, ohne allerdings die Gründe für seine Entscheidung zu thematisieren. Warum ich trotz des oben genannten Sonderstatus' der Herleitungsregel II an ihr festhalte, hat v.a. syntaktische Gründe und gilt natürlich nur für den heutigen Zustand des Baltischen.5 Regel I paßt z.B. nicht sonderlich mit den Typen II und III der nachfolgenden Typologie zusammen, in denen nach meiner Analyse eindeutig von einem veibalen Charakter der Infinitive auszugehen ist. Nach Regel I lägen in (Sa) und (Sb) unterschiedliche Infinitive vor, wofür es kaum überzeugende Gründe geben dürfte. Daß im tatsächlichen Sprachgebrauch beide Formen vorkommen (so auch Donhauser 1989a: 296), zeigen die aus dem Kollmer-Korpus stammenden Sätze (Sc) und (Sd), bei denen eine syntaktische (und semantische) Differenzierung vorzunehmen schwer fallen dürfte. (5a) (5b) (5c) (5d)

I hed na wos z'doa I hed na wos zum Doa do hod'ma grod mid da noud zlcempfa kod do han'e zwou Stund zum ge kod

Umgekehrt scheint mir der morphonologische Sonderstatus der zwm->z'-Reduktion dafür zu sprechen, daß die einen Infinitiv enthaltenden zwm-Phrasen im Bairischen nicht in jedem Fall eine *klassische' Präpositionalphrase mit finaler Semantik sind, sondern ebenfalls einen Sonderstatus innehaben, der diese spezielle Entwicklung ermöglichte. Daß

5

Es steht natürlich außer Frage und wird auch von niemandem bezweifelt, daß Regel I die historisch korrekte Herleitung angibt.

237 zH/w-Infinitive hd. zu-Infinitiven entsprechen, ist ein syntaktisches Charakteristikum des Bairischen. Eine Parallele zeigt sich auch in der spezifischen modalen Semantik der Konstruktionen in (5a-d), deren Ausbildung ebenso der syntaktischen Besonderheit geschuldet zu sein scheint. Die zu/w-Phrasen, nicht nur die modalen, mögen in Verbindung mit bestimmten Verben ja durchaus - intuitiv gesprochen - auf eine Art von Funktionsverbgefuge zurückgehen, in der sie ursprünglich als echte Präpositionalphrasen fungierten und der Infinitiv tatsächlich auch morphologisch im Dativ stand (cf. Schmeller 1821: 384).6 Daß heute aber z' und zum 'synonym', d.h. ohne den früheren Bedeutungsunterschied (s.o. die Ausführungen zu Schiepek) verwendet werden, geht diachron vermutlich auf zwei unterschiedliche Entwicklungsprozesse zurück, die ich etwas vereinfacht und schematisch darstellen werde (es scheint keine diachronen Untersuchungen zu geben, so daß ich auf zeitliche Angaben weitgehend verzichte). Die erste Entwicklung, die 'nominale' zu/w-Infinitive in heutige Verbale' Infinitive verwandelte, läßt sich annäherungsweise als Reanalyseprozeß7 in drei Schritten denken (wobei VN = Verbalnomen). Ein (erfundenes) Beispiel mit rekonstruierter Entwicklung ist in (6a-d) zu Illustrationszwecken angegeben (wobei Infi1 = Infinitivphrase): Entwicklung I: Grammatikalisierung von zum (I) (Π) (ΙΠ)

[pp 211 INP (de)m + V N p J l —> [ p p zu (de)m + VN]] [pp 2 1 1 I n p (de)m + VNJ] —» [ p p zu [ ^ p (de)m + Inf]] [pp 2 , 1 I N P (de)m + Inf]] —• [ zum [ Inf ]]

(6a) (6b) (6c) (6d)

Des brauchd'ma [ p p zum [ N nämenne^ ]] Des brauchd'ma [ p p zum [ N nömen ]] Des brauchd'ma [ p p zum [ v nömen j] Des brauchd'ma zum [ v nSmen ]]

Nach Wegfall der Dativmorphologie8 (vgl. I und 6b) am Infinitiv wurde dieser nicht mehr als nominale Form aufgefaßt, sondern als verbal reinterpretiert (vgl. II und 6c). Diese Umdeutung ermöglichte die Sonderentwicklung, die ein Verblassen der Semantik von zum9 nach sich zog, weil - zumindest synchron, aber sicher schon seit längerem - umgekehrt zum in diesen Konstruktionen nun wohl nicht mehr als (lokal-)direktionale Präposition (d.i. das ganze als finale PP) verstanden wurde, so daß heutigen Sprechern des Bairischen, die linguistisch nicht vorgebildet sind, die etymologisch korrekte Auflösung von zum in zu

6

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8

9

Zu einem neuren Erklärungsversuch der Entstehung verbaler Infinitive aus adjektivischen small clauses cf. Demske-Neumann (1994). Zur Reanalyse in der generativen Grammatik vgl. Demske-Neumann (1994: 23-26), ansonsten Harris/Campbell (1995: 61-96 et passim). Nach Paul et al. (1982: 195, Anm. 9) wird im Bairischen der flektierte Infinitiv im 15. Jh. aufgegeben. Ich verstehe hier - der germanistischen Gepflogenheit folgend - Gerundien als "flektierte Infinitive" (Paul et al. 1982: 193) und rede daher nur von Infinitiven, obwohl dies nicht ganz exakt ist. Die schon Schiepek (1899: 192) konstatiert, fälschlicherweise aber "durch häufigen Gebrauch" erklärt.

238 + dem in Verbindung mit Infinitiven kaum mehr zugänglich ist. Die ursprüngliche Präpositionalphrase wurde anschließend strukturell reanalysiert als Infinitivphrase, wie in (III) und (6d) dargestellt, die kategoriell zumindest distinkt ist.10 Die dargestellte Entwicklung von zum ist ein prototypischer Grammatikalisierungsprozeß: Aus einem Lexem mit voller Semantik wird ein Funktionswort, dem nur noch grammatische Funktionen zukommen.11 Die lokal-direktionale Semantik der Präposition zu(m), die in Verbindung mit einem (ursprünglich flektierten) Infinitiv z.B. in einer finalen Adverbialangabe zutage tritt, schwindet, und übrig bleibt eine Infinitivpartikel mit der Funktion der Statusmarkierung. Die Abschwächung des präpositionalen Charakters von zu(m) ist - gegen Bayer (1993: 52) - durchaus vorhanden und auch nicht Resultat erst jüngster Zeit (anders Donhauser 1989a). Im Modell Demske-Neumanns (1994) wäre die Deflexion die Antezedensbedingung für die Grammatikalisierung von zum und diese wiederum Voraussetzung für die Umkategorisierung der Infinitive von Verbalnomen (d.i. Adjektiven) mit den Merkmalen [+V, +N] zu 'echten' Verben mit den kategoriellen Merkmalen [+V, -N], Zeitlich nach Entwicklung I mu£ eine zweite vonstatten gegangen sein, die Schiepek (1899: 192) bereits korrekt beschrieben hat: Entwicklung II: Distributionserweiterung von zum z' + Infinitiv —> zum/z' + Infinitiv Nach der Grammatikalisierung dringt zum auch in jene Infinitiv-Bereiche ein, die ursprünglich nur z' vorbehalten waren (und in denen das Hochdeutsche zu verwendet). Das Resultat ist dann, daß in allen Fällen, wo ursprünglich allein z' erlaubt war, nun auch zum möglich (und sogar stark präferiert) ist (dies gilt - wie Schiepek (1899: 192) schon bemerkte - nicht umgekehrt, weil z' nicht in die zw/w-Bereiche eingedrungen ist, s. unten zu Typ I und zu Typ V). Daher halte ich die Herleitungsregel (II) wenigstens für die heutigen Gegebenheiten des Bairischen für die korrekte Lösung: Bei den Infinitivtypen, die sowohl zum als auch z' erlauben (Typ I, II, III, IV und VII), kann z' als klitische Form von zum gelten. Bei den übrigen Typen, bei denen nur zum möglich ist, stellt sich das Problem erst gar nicht. Trotz der unterschiedlichen zi/m/z'-Distribution in den einzelnen Typen halte ich - mit gewissen Differenzierungen, die bei einzelnen Typen notwendig sind und später ausfuhrlich erörtert werden - als Arbeitshypothese an einem einzigen 'verbalen' erweiterten Infinitiv im Bairischen fest. Die Infinitive mit Einleitungspartikel sind von ihrer Entstehungsgeschichte her im Bairischen somit ein heterogenes System, da es im Grunde aus zwei ursprünglich relativ verschiedenen Systemen entstanden ist. Das folgende Schema verdeutlicht die Entstehung aus den ursprünglich zwei Infinitivsystemen: 10 11

Zum kategoriellen Status der Infinitivphrase s. unten. Hopper/Traugott (1992: 3): "grammaticalization is usually thought of as that subset of linguistic changes through which a lexical item in certain uses becomes a grammatical item, or through which a grammatical item becomes a more grammatical". Daraus erklärt sich auch, daß sprachliche Einheiten manchmal nicht eindeutig kategoriell identifizierbar sind (etwa das bair. zum oder auch von, was m. W. bis heute nicht untersucht worden ist).

239 zu-Infmitive

zum/zu-Inflnitive

zum-Infinitive

zum-Infinitive

Die entstehungsgeschichtlich bedingte Heterogenic des heutigen Infinitivsystems kann leicht zu Fehlschlüssen verleiten. So meint etwa Donhauser (1989b: 93) in der "Bevorzugung des morphologisch aus Präposition und Artikel zusammengesetzten zM/w-Anschlusses" ein allgemeines Indiz für den "stärker nominalen Charakter" bairischer Infinitive zu sehen. Nicht zuletzt um Pauschalisierungen dieser Art zu entgehen, habe ich versucht, vorderhand eine möglichst differenzierte Typologie zu erarbeiten, um vorhandene Spezifika präziser erfassen zu können. Bei der Darstellung der einzelnen Typen wird dann auch, falls erforderlich, genauer auf Details wie z.B. die Bedingungen der z'-/zwm-Distribution oder die Herkunft aus einem der beiden ursprünglichen Systeme eingegangen, um auf der synchronen Ebene zu angemessenen Analysen zu kommen.

2. Das ältere System

Auch im älteren Βairisch gab es bereits ein relativ ausgebautes System des (erweiterten) Infinitivs mit einer Einleitungspartikel, das insgesamt eingeschränkter und v.a. etwas anders strukturiert war als im Hochdeutschen, wie die bereits kurz geschilderte Entstehungsgeschichte ja auch erwarten läßt. Erweiterter Infinitiv meint im folgenden - entgegen der Konvention - Infinitivkonstruktionen mit einer Einleitungspartikel (mit und ohne Erweiterungen), d.h. in der Bech'schen Terminologie Verben im 2. Status, deren Existenz im Bairischen wir damit behaupten. Eingeleitet werden die bairischen Infinitive mit zum bzw. der proklitischen Form z'. Für das ältere Infinitivsystem läßt sich folgende (vorläufige und nicht ganz vollständige) Typologie12 erstellen (wobei zunächst der Einfachheit halber und entgegen unserer eigenen Intuition und Analyse davon ausgegangen wird, daß es sich um Präpositionalphrasen handelt): 12

Die Typologie stützt sich auf die Angaben bei Kollmer I, 319-321, Donhauser (1989a, 1989b) sowie eigene Beobachtungen. Ausgewertet wurden femer die Texte bei Kolmer m, Steininger, Haller Ι-ΠΙ, Kerscher und Biberger sowie - an literarischen Texten - Thoma, Valentin, Polt und Kroetz. Zusätzlich wurde eine Informantenbefragung (mit einem Set von Beispielsätzen) durchgeführt und Hörbelege gesammelt. Eine vollständige Beschreibung des Iniinitivsystems ist nicht beabsichtigt, da für unseren Zweck der Nachweis der Haupttypen genügt. Die Beispielsätze sind zwar z.T. aus den ausgewerteten Quellen entnommen, in der Schreibung jedoch angepaßt.

240 Typ I: (7a) (7b) (7c)

als Komplemente von NPs/APs [Ν/Α PP] (oder adverbielle Angaben) I hob/find / Bei uns gibts koa Woassa zum dringa] De ham zum beschwem] koan Grund I hob / Bex uns gibts gnua zum/z'essen]

Typ Π: (8a) (8b)

sein + zum + Infinitiv SHai is na zum aivon Des is no z'doa

Typ ΠΙ: haben + zum + Infinitiv (9a) I han mid earn no zYeen (9b) I han no ebbs z'doa Typ IV: (10a) (1 Ob)

Verbalkomplexe (Basisverben: kriegen, geben, bringen, kommen, brauchen) do hodma scho a brem-öl zlcaffa kreikt Und kemmand da af dö G'schicht z'schmatzn

Typ V: finale Konstruktionen [« hd. um zu] (IIa) I kimm zum gratuliern (IIb) Des hod'ma heagnumma zum eistran Typ VI: zum + Ν + Infinitiv (12a) is's keema um a Zailhaferl zum Woassa aidoa (12b) Des brauch'e zum Bleame giesn Typ VH: satzwertige Infinitive (s. Abschnitt 3)

Zunächst ein paar Worte zur Häufigkeit und Distribution der einzelnen Typen. Besonders interessant sind die 237 von Kollmer gesammelten Texte aus dem Bayerischen Wald, die zu mehr als der Hälfte von Personen stammen, die vor 1912 geboren sind (41 von 65 Erzähler bzw. Autoren). Sie repräsentieren somit das ältere Bairisch in Reinform (genauer die im Bayerischen Wald gesprochene Variante des Bairischen).13 Auf den ca. 230 Seiten finden sich 144 zu/w-Infinitive, also im Durchschnitt ein Vorkommen pro 1,6 Seiten. Wenn man noch berücksichtigt, daß es sich bei den Texten fast ausschließlich um Verschriftlichungen mündlicher, nicht stilisierter oder sogar literarischer Erzählungen (zur Texterstellung cf. Kollmer III, 39-43) handelt, ist die Häufigkeit von Infinitiven als nicht gering zu bewerten (wenn sie auch zugegebenermaßen nicht besonders hoch ist). Das Ergebnis legt aber zumindest den Schluß nahe, daß (erweiterte) zum-Infinitive im Bairischen durchaus verbreitet sind, um es vorsichtig zu formulieren. Im Vergleich zum Hochdeutschen kann man zwar eine "Zurückhaltung gegenüber den mit zu konstruierten Infinitivverbindungen" (Donhauser 1989a: 292) konstatieren, doch mag diese Diskrepanz z.T. auch darin gründen, daß sich das Bairische ausschließlich als gesprochene Sprache entwickelte (was für das Standarddeutsche nicht zutrifft). Ungerechtfertigt ist jedenfalls die

13

Der Terminus 'älteres Bairisch' schließt das Bairische der zwischen den beiden Weltkriegen geborenen Generationen mit ein. Das "neuere Bairisch1 meint die Sprache meiner Generation und aufwärts.

241 Ansicht, es gebe Infinitivkonstruktionen dieses Typs im Bairischen kaum. Die - im Vergleich mit dem Hochdeutschen, oder mit anderen Worten: im Blick von diesem her - unterschiedlichen Konstruktionen haben offenbar zu diesem Fehlschluß geführt (vgl. etwa Zehetner 1985: 148f.) Der Schluß, daß rum-Infinitive keine vereinzelte Erscheinung darstellen, wird auch durch die Typenvielfalt gestützt, die ansonsten vollkommen unerwartet wäre. In den Kollmer-Texten ist Typ V mit Abstand am häufigsten vertreten (83x), dann folgen Typ I (23x), VI (22x),14 II (19x), III (1 lx) und IV (4x), der Rest ist nicht eindeutig einem Typus zuzuordnen. Jeder Typus ist also mehrmals belegt. Wie im weiteren Verlauf deutlich werden wird, ist die Typologie nicht willkürlich, sondern beruht auf syntaktischen Unterschieden (im Gegensatz zu Donhauser 1989a, wo die Kriterien nicht expliziert werden und aus dem präsentierten Material kaum erhellen). Vorkommenshäufigkeit und Typenvielfalt belegen aufjeden Fall ein ausgebautes System der zum-Infinitive im Bairischen, das nicht als Marginalie abgetan werden kann, sondern einer sorgfältigen Analyse bedarf, um diesen Teilbereich der bairischen Syntax besser als bisher verstehen zu lernen. Keine der oben angeführten Infinitivkonstruktionen ist als satzwertig zu charakterisieren. Sieht man von den Typen II - IV ab, von denen noch ausfuhrlicher zu sprechen sein wird, zeigen sich drei gemeinsame Merkmale (cf. Donhauser 1989a: 295): Erstens die adverbial-attributive Funktion, zweitens die direktive bzw. finale Semantik und drittens der stärker nominale Charakter. Die attributive Funktion ist in den Sätzen unter (7) realisiert, die adverbielle bei den Sätzen (11), die zugleich eine direktive bzw. finale Semantik aufweisen. Der nominale Charakter zeigt sich deutlich daran, daß in einem Satz wie (1 la) das interne Argument von gratulieren nicht realisiert werden darf (cf. 13a). Ebenso ist in (13b) das interne Argument von helfen blockiert. An (13b) ist wie schon an (7b) erkennbar, daß das Bezugsnomen kein Argument des Infinitivs zu sein braucht, aber durchaus sein kann, wie (7a) zeigt. (13a) (13b)

*I kimm dia zum gratuliem I hob koan Grund (*dia) zum helfa

Weiter unten wird für diese Beschränkung eine Erklärung gegeben, bei der die behauptete Nominalität des Infinitivs nicht mehr benötigt wird.

2.1. Typ I Bei Typ I ist auf den ersten Blick nicht leicht zu entscheiden, ob der erweiterte Infinitiv als Komplement zur Objekts-NP (cf. 7a) oder als adveibielle Angabe (cf. 7b) zu analysieren ist. Für die Komplement-Analyse spricht, daß NP und zum-Infinitiv sich syntaktisch wie eine Konstituente verhalten und gleichzeitig ins Vorfeld bewegt werden können (cf. 14a). Keine Gegenevidenz ist m.E., daß der zu/w-Infinitiv auch alleine im Vorfeld (cf. 14b) bzw.

14

Typ VI ist immer mit einem weiteren Typus kombiniert.

242 vor der Bezugs-NP (cf. 14c) stehen kann, da dies für Komplement-PPs nicht unüblich ist (cf. 14d,e), die gemeinhin syntaktisch eine größere 'Bewegungsfreiheit' aufweisen als genitivische NP-Komplemente (cf. Grewendorf 1988: 15f.): (14a) (14b) (14c) (14d) (14e)

An Grund zum beschwem findn dLeid immer Zum beschwem findn d"Leid immer an Grund DLeid findn zum beschwem immer an Grund Von Heino habe ich mir gestern eine Platte gekauft Ich habe mir von Heino gestern eine Platte gekauft

Die Trennbarkeit von der Bezugs-NP ist also kein Indiz für einen Adverbialstatus. Neben der gemeinsamen Vorfeldfähigkeit ist die Nichttilgbarkeit der Bezugs-NP ein sicheres Indiz für die Zusammengehörigkeit (cf. 15a), so daß die Komplement-Analyse eindeutig vorzuziehen ist. Sätze mit fehlender NP wie (15b) sind als elliptische Konstruktionen aufzufassen, bei denen das weggelassene Bezugsnomen zwar durch ein leeres Element vertreten ist, aber die Konstituente als solche syntaktisch präsent ist, so daß die Struktur wie in (15b) auch angedeutet - analog ist. (15a) (15b)

*I hob zum beschwem I hob no e zum dringa]

Per Ellipse weglaßbar scheinen darüber hinaus auch nur Bezugsnomen zu sein, die interne Argumente des Infinitivs sind (d.i. die alten z'-Infinitive). Das hängt damit zusammen, daß leere Elemente nur dann lizensiert sind, wenn ihre Identifizierbarkeit eindeutig garantiert ist, was bei diesen Infinitivkonstruktionen offenbar nur dann der Fall ist, wenn das Bezugsnomen auch vom Infinitiv eine Theta-Rolle zugewiesen bekommt. Doch gilt dies ebenso für das Standarddeutsche (cf. 16a,b). Außerdem sind solche Ellipsen nur bei Verben wie trinken, essen usw. möglich, die ihr internes Argument existentiell binden können, die also auch - herkömmlich gesprochen - detransitiviert verwendet werden können; andere transitive Verben erlauben dagegen keine Ellipse (cf. 16c).15 (16a) (16b) (16c)

Ich habe immer noch (etwas) zu trinken Ich habe immer noch *(Grund) zu schweigen I han no *(a Buach) zum herschenga

Komplement- wie auch Adverbial-Analyse deuten aber beide darauf hin, daß die zumPhrase von ihrem kategorialen Status her als Präpositionalphrase aufzufassen ist. Damit kompatibel ist der überwiegend nominale Charakter16 des Infinitivs: Die Präposition zu selegiert einen substantivierten Infinitiv (dem + Infinitiv). Ein großes Problem für die präpositionale Deutung der Infinitivphrase ist, daß die Präposition keine Barriere für die Thetarollenzuweisung vom Infinitiv an das Bezugsnomen sein darf. Wie wir oben bei der

15 16

Diesen Hinweis verdanke ich B. Staudinger (m.M.). Überwiegend nominal' deshalb, weil der Infinitiv zwar keinen Kasus, durchaus aber noch seine Theta-Rolle vergeben kann.

243 Tilgbarkeit gesehen haben, muß man von der Zuweisung ausgehen, um die Tilg- bzw. Nichttilgbarkeit erklären zu können. Dem Dilemma der PP-Analyse entgeht man, indem man die in Frage stehenden Konstruktionen als sog. small clauses (SC) rekonstruiert. SCs (vgl. Staudinger 1997) sind Projektionen eines Prädikats, die in den hier relevanten Fällen (17a-d) speziell als hybride Projektionen analysiert werden können, d.h. als Projektionen eines lexikalischen und eines funktionalen Kopfes (cf. 18). (17a) (17b) (17c) (17d)

Ich halte ihn für genial Ich betrachte ihn als feige I mechd Woassa zum dringa I hob Grund zum beschwern

Woassa F7X°

Fe

zum



dringa

Der SC ist eine gemeinsame Projektion des funktionalen Elements zum und des Infinitivs, des lexikalischen Kopfes der Projektion. Das Bezugsnomen ist gemäß der Internen-Subjekt-Hypothese (cf. Staudinger 1997: 133ff.) das SC-Subjekt, das vom SC-Prädikat seine Θ -Rolle erhält. Im Unterschied zur PP- und Adverbialanalyse wird bei der SC-Analyse angenommen, daß das Matrixverb - in (17c) also mechd - den ganzen SC als Komplement selegiert und nicht nur die NP. Es handelt sich in diesen Fällen also um Argument- bzw. Komplement-SCs, die in toto an der Position im Satz zu lokalisieren sind, in denen ansonsten das direkte Objekt erscheint und die dort vom Matrixveib als Ganzes ihre Θ-Rolle zugewiesen bekommen. Die Subjekts-NP erhält Kasus qua ECM vom Matrixverb (zu Argument-SCs vgl. allgemein Staudinger 1997: 147-163). Die Tilg- bzw. Nichttilgbarkeit des Bezugsnomens bzw. SC-Subjekts ist ein Reflex der historischen Entwicklung: In Fällen von Tilgbarkeit liegen ursprüngliche z'-Infinitive vor, ansonsten originäre zu/w-Infinitive. Unsere Typenbildung gilt nur synchron und bezieht

244 sich auf die identische strukturelle Konfiguration [NP + zum/z' + Infinitiv] bzw. bei der SC-Analyse auf die Kategoriengleichheit, wobei sich die beiden Subtypen nach der grammatischen Funktion der Bezugs-NP (Objekt vs. Nicht-Objekt des Infinitivs) differenzieren lassen.17 Nach historischen Kriterien wäre eine Separierung in zwei Typen durchaus legitim. Synchron stellt sich Typ I als aufgeteilt in zwei Subtypen dar: Der erste besteht aus (wohl immer noch eher präpositionalen) zw/n-Infinitiven (also Gerundien), der zweite aus ursprünglichen z'-Infinitiven. Dieser Subtyp unterscheidet sich vom ersteren durch die mögliche z'/zw/w-Varianz sowie dadurch, daß das Bezugsnomen das interne Argument des Infinitivs ist. Mit den beiden Subtypen läßt sich eine Datenbeobachtung bei Abraham (1995: 308f.) erklären. Abraham stellt fest, daß süddeutsch umgangssprachliches bzw. mundartliches [NP + zum + tV] im Gegensatz zu hd. [NP + zu + tV] "strukturell zweideutig" sei, insofern die NP nicht nur wie im Hochdeutschen Objekt, sondern auch Subjekt zum Infinitiv (eines transitiven Verbs) sein könne. Er hat dabei Sätze wie (19a-d) im Auge (von mir leicht modifiziert): (19a) (19b) (19c) (19d)

Wir möchten heute Muscheln zum essen (NP = Objekt) Wir haben heute Leute zum essen (NP = Subjekt) Wir bekommen Muscheln zu essen (NP = Objekt) * Wir bekommen Leute zu essen (NP = Subjekt)

Die Objektlesart der Konstituente [NP + zum + tV] resultiert aus ihrem Herkommen von ursprünglichen z'-Infinitiven, daher ist sie - sieht man einmal von der phonologischen Ebene ab - mit den hd. zw-Konstruktionen identisch. Deutlich wird dies daran, daß auch heute noch - bei geeigneten Kontextbedingungen (s.u.) - zum und z' alternieren können (cf. 20a). Diese Möglichkeit ist bei der Subjektlesart eben nicht gegeben: hier ist nur die Form zum erlaubt (cf. 20b). Da die NP in diesen Fällen nicht das Objekt des Infinitivs darstellt (so unser Kriterium s.o.), gehören diese zi/m-Phrasen zum zweiten Subtyp, der auf Gerundialkonstruktionen zurückgeht. Bestätigt wird dieser Befund durch intransitive (unergative) Verben, für die trivialerweise nur die Subjektlesart in Frage kommt: Auch sie können nur mit zum, nie jedoch mit z' konstruiert werden (cf. 20c). Bezeichnenderweise sind analoge Bildungen im Hochdeutschen völlig ausgeschlossen (cf. 20d): (20a) (20b) (20c) (20d)

Mir mechten ebbs zum/z'essn Mir ham haind Laid zum/*z'essn Mir ham haind Laid zum/*z'oarbadn do *Wir haben heute Leute zu arbeiten

Auf der synchronen Ebene ist Abraham (1995: 309) jedoch zuzustimmen, daß im Bairischen die Konstituente [NP + zum + tV] "prinzipiell strukturell zweideutig" sei und nur "semantisch-pragmatisch durch das Merkmal beim NP [!] desambiguiert werden" könne. 17

Man möge bedenken, daß der hier verwendete Subjektsbegriff ein rein struktureller ist, so daß ein thematisches Objekt strukturell durchaus ein Subjekt sein kann (wie z.B. systematisch beim Passiv und den sog. unakkusativischen Verben, s.o.).

245 Aufgrund ihrer Geschichte ist dieser Befund nicht verwunderlich. Das Desambiguierungskriterium ist dabei eindeutig, ob die Bezugs-NP direktes Objekt des Infinitivs ist oder nicht, wobei Subjekte offenbar wie die übrigen Nicht-Objekte zu behandeln sind und daher nur mit zum konstruierbar sind. Bei Typ I scheint im Prinzip sowohl zum als auch die proklitische Form z' als Infinitiveinleiter möglich, doch gilt es hier genau zu unterscheiden. In Wirklichkeit umfaßt Typ I nämlich zwei (historisch verschiedene) Untertypen, wie bei der Weglaßbarkeit des Bezugsnomens schon zu beobachten war: zum einen die ursprünglich nominalen zum-Infinitive und zum andern die veibalen z'-Infinitive. Bei der ersten Untergruppe steht ausschließlich zum, nie z\ In einem Satz wie (21a) kann zum nicht durch z' substituiert werden (cf. 21b), obwohl essn in anderen Fällen eine Substitution erlaubt (cf. 21c). Es kann also nicht die phonologische Umgebung sein. Die Erklärung für diesen Sachverhalt liegt, wie oben ausgeführt, darin, daß z1 nicht in die zu/n-Bereiche vorgedrungen ist. (21a) (21b) (21c)

I hob koan Grund zum essn *I hob koan Grund z'essn I hob no ebbs z'essn dahoam

Die zweite Unterklasse enthält ursprüngliche z'-Infinitive, in deren Domäne - als Spezifikum des Bairischen - sich die zum- Varianten durchgesetzt haben. Sie werden heute stark präferiert und haben als Regelfall zu gelten, weil sie in jedem möglichen Kontext ohne spezifische Beschränkungen erlaubt sind. Im Prinzip ist aber - cf. (21c) - auch hier z' immer noch möglich, doch gelten bestimmte Distributionsbeschränkungen recht komplexer, hauptsächlich intonatorischer Art, weswegen die z'-Variante heute den Sonderfall darstellt. Diese Beschränkungen sind nicht leicht zu durchschauen - bislang hat sich noch niemand systematisch mit dieser Frage befaßt. Mein Erklärungsversuch, der aufgrund der desolaten Forschungssituation zwangsläufig etwas spekulativer Art ist, versteht sich nicht als exhaustiv, sondern als erste Annäherung. Er kann und will nicht alle Fälle erklären. Zunächst einige empirische Beobachtungen, die die zugrunde liegenden Regeln illustrieren.18 (I): Immer wenn die Infinitivphrase im Satz eine betonte Position einnimmt, kann (fast) nur zum erscheinen. Dies zeigt sich etwa bei Distanzstellung der Infinitivphrase zum Bezugsnomen (bei w-Fragen, Topikalisierung), die obligatorisch mit stärkerer Betonung veibunden ist (cf. 22a,b). (II): Die Präferenz von zum nimmt in den Fällen ab, in denen die Infinitive mit einsilbigen, daher schwachtonigen Quantoren als Bezugsnomen (cf. 22c,d) konstruiert sind (und keine Distanzstellung vorliegt), während (III) mit 'normalen' NPs zumindest bei konsonantisch anlautenden Verben nur zum möglich ist (cf. 22e,f), m.E. aber auch bei vokalisch anlautenden Infinitiven (cf. 22g). (22a) (22b) (22c) (22d) 18

Wos hosdn na zum/? z'dringa dahoam Zum/?z'dringa hob'e na ebbs dahoam Hosd ebbs/wos/nix zum/z'dringa dahoam Hosd ebbs/wos/nix zum/z'lesn

Beim folgenden möge man beachten, daß nicht Grammatikalität, sondern 'Sprechbarkeit' das Kriterium ist, und dies ist ein wesentlich schwächeres, weicheres.

246 (22e) (22f) (22g)

Hosd a Wossa zum/*z'dringa Hosd a Biachl zum/*zlesn Hosd du dahoam a Broud zum/*z'essn

Die vierte empirische Beobachtung (IV) lautet: Vor Simplexveiben kann im Prinzip sowohl zum als auch z' stehen (cf. 23a,b), vor präßgierten Verben dagegen allein zum (cf. 23c,d): (23a) (23b) (23c) (23d)

Hosd ebbs zum/zlesn Hosd ebbs zum/z'essn Hosd ebbs zum/*z'dazein Hosd ebbs zum/*z'aozoing

Aus diesen deskriptiven Generalisierungen lassen sich drei Regeln ableiten: Regel I ^-Substitution ist nur bei Zusammenfall von Stamm- und Erstbetonung möglich. Regel Π In der Intonationseinheit [NP + zumtt + Infinitiv] ist der Infinitiv (bzw. der Stamm) immer starktonig. Trägt das Bezugsnomen einen schwachen Ton (keinen Hauptakzent), dann ist ^-Substitution möglich, ansonsten nur zum. Regel ΙΠ Bei Distanzstellung von Bezugsnomen und Infinitivphrase wird zum verwendet. Mit Regel I ist zum einen gesagt, daß bei einsilbigen sowie allen Simplexverben sowohl zum als auch z' vorkommen kann, zum anderen daß bei sämtlichen Präfix- und Partikelverben nur zum erlaubt ist. Regeln II und III betreffen daher nur Simplizia, da die Präfixund Partikelveiben bereits durch Regel I abgearbeitet sind. Die intrinsische Ordnung der Regeln ist also wichtig, weil Regel I den Input für Regel II und III liefert und somit vor diesen abgearbeitet werden muß. Regel II und III operieren dann über den Datenbereich, für den Regel I keine Entscheidung für zum oder z' erlaubt. Mit Regel II, die für die Beispiele (22c-g) zuständig ist, hat es folgende Bewandtnis: In der von Bezugsnomen und Infinitiv gebildeten intonatorischen Einheit können zwei Haupttöne nie unmittelbar aufeinander folgen, so daß bei volltonigen NPs die Form zum obligatorisch ist, da sie schwachtonig ist. Dagegen kann z' keinen Ton tragen, weil es nicht silbisch ist. Die möglichen Akzent-Strukturen sind zur Verdeutlichung in (24a-c) dargestellt, wobei die Anzahl der Sterne unter einer Silbe die relativen Prominenzverhältnisse untereinander wiedergibt. Dabei ist zu beachten, daß in (24b,c) darauf verzichtet wurde anzugeben, welchem der beiden Starktöne der Hauptakzent zukommt, weil dies von verschiedenen unabhängigen Kriterien (z.B. der weiteren syntaktischen Umgebung) abhängt. Im Prinzip können jedoch beide den Hauptton tragen. Wichtig ist der Unterschied zwischen (24a) und (24b): Erhält der Quantorenausdruck einen Starkton, ist nur zum möglich (vgl. das ungrammatische 24d). Dadurch ist garantiert, daß der Output in jedem Fall eindeutig determiniert ist.

247 (24a)

ebbs zlesn

(24c)

a Buach zum lesn

*

· ·



»

·*

(24b)

ebbs zum lesn

(24d)

*ebbs zlesn

· ·

*

··



»»

Regel III ist eine Sonderregel, die nur dann gilt, wenn Bezugsnomen und Infinitiv qua syntaktischer Bewegung eine diskontinuierliche Konstituente bilden (cf. 22a,b). Die Regelordnung und die Input-Output-Verhältnisse sind etwas vereinfacht im folgenden Schema abgebildet (wobei P-Veiben = Präfix-/Partikelvert»en; links jeweils der Input, rechts der Output einer Regel). 1. Schritt Verben

-> Regel I

I: zum (P-Verben) Π: zum/i (Simplizia)

2. Schritt Simplizia

-> Regel Π

I: zum Π: 4 zum

-> Regel ΠΙ

Aus dem Schema erhellt, warum zum die eindeutig präferierte Form gegenüber z" ist: In den vier möglichen Kontexten, die von den drei Regeln erzeugt werden, erscheint in dreien zum, nur in einem dagegen z\ Die drei Intonationsregeln erklären den überwiegenden Teil der Distribution von zum und z', aber nicht alles. Für einige Fälle gelten spezifische Sonderregeln, die sich zwar in obiges Regelschema einfügen lassen, nämlich auf jeden Fall nach der fundamentalen Regel I, aber nur über begrenzte Datenbereiche operieren. Vermutlich reicht schon eine einzige phonologische Zusatzbedingung aus, die festlegt, daß z' durch zum zu ersetzen ist, falls der Infinitiv mit einem dentalen Reibelaut beginnt. 19 Sie läßt sich annäherungsweise so wiedergeben (wobei wir auf weitere Diskussionen zu dieser Problematik verzichten): Zusatzregel z's/z... —• zum s/z...

2.2. Typ II und III Bei den Typen II und III bildet die zum-Phrase zusammen mit den Hauptverben sein bzw. haben ein komplexes Prädikat mit einer speziellen modalen Semantik (im allgemeinen des 'Müssens'). Im Hochdeutschen, wo sie mit zu konstruiert sind, werden sie in der Forschung als "modale Infinitive" geführt. Es handelt sich im Baltischen um ursprüngliche z'-Infiniti19

Cf. Schiepek (1899: 192): "Übrigens ist auch ein rein äußerliches Moment, nämlich der Anlaut des Infinitivs, auf die Gestaltung der Partikel von Einfluss. Bloßes i vor anlautendem ζ wird schon aus Gründen der Aussprache gem durch das bequemere zon ersetzt".

248

ve, heute jedoch ist die zum-Variante dominant. Die zw/w/z'-Verteilung ist hier anders als bei Typ I, insofern als nur Regel I zuständig ist, d.h. daß zum bei Partikel- und Präfixverben obligatorisch und z' nur bei Simplexverben möglich ist (cf. 25a-d): (25a) (25b) (25c) (25d)

I hed na an Briaf zum/*z'aafgeem I hed de Wand na zum/*z'aa-moin I hed na wos zum/z'mocha Des is na zum/z'doa

Es ist eindeutig so, daß Regel II und ΙΠ deswegen nicht zuständig sind, weil sie nur die Fälle betreffen, in denen die Infinitivphrase zusammen mit einer NP eine syntaktische Konstituente bildet (was, wie wir im weiteren darlegen werden, bei Typ II und III nicht so ist). Es scheint übrigens keine Regel zu geben, die die genaue Distribution von zum bzw. z' bei Simplizia regelt. Eine phonologische Zusatzregel für das Vorkommen von z' bewirkt, daß es vor dentalen Reibelauten als IM realisiert wird, wie in (26) (cf. Kollmer I, 319): (26)

wos hod dfln de wida t'Släka (Kollmer ΠΙ, 417)

Mit dem unterschiedlichen Verhalten der beiden Infmitivpartikeln liegt ein klares und unabhängiges Abgrenzungskriterium zu Typ I vor. Außerdem legen auch die zum Teil unterschiedliche Entstehungsgeschichte (nur ursprüngliche z'-Infinitive), die spezifische Semantik sowie die Tatsache, daß anders als bei Typ I nur das interne Argument als Bezugsnomen erscheinen kann, eine abweichende Strukturanalyse nahe, nämlich als kohärente Konstruktion. Bei den sem-Konstruktionen ist zu beachten, daß ich Bildungen wie in (27a), denen auch im Hochdeutschen ein zum + Infinitiv entspricht (cf. 27b), ausdrücklich nicht behandeln werde. Diese Bildungen sind Teil einer ganz anderen Paradigmatik, in der zwar auch zw-Infinitive vorkommen (cf. 27c), die in der Hauptsache aber Adjektive als Äquivalenzen aufweist (cf. 27d,e). In ihr fehlt jedoch - neben der modalen Semantik - das spezielle Verhältnis zu den />a6en-Konstruktionen (s.u.). Sie können auch, wenn von entsprechenden Matrixveiben wie finden selegiert, ähnlich wie Typ I SCs bilden, wobei dann zum in (27f) analog zu charakterisieren wäre wie für in (27g) oder als in (27h), nämlich als funktionale Partikel (und nicht als Präposition!), die gemeinsam mit einem Prädikatsausdruck eine Phrase projiziert, die intern über ein Subjekt verfügt, über das prädiziert wird.20 Diese Konstruktionen sind ein spezieller Fall, den ich im folgenden nicht mehr weiter berücksichtigen werde. (27a) (27b) (27c) (27d) (27e) (270 (27g) (27h) 20

Des is zum locha Das ist zum lachen Das ist zu verstehen Das ist lächerlich Das ist verstehbar/verständlich I findd [ s c den Film zum kotzn] Ich halte f s c den Film für interessant] Ich betrachte [ s c den Film als gelungen]

Zu SCs im Deutschen vgl. Staudinger (1997).

249 Man kann bei den zu behandelnden Typen von einer komplexen Veibalprojektion im Sinne von Haider (1993) ausgehen, in der der Komplex zum + Infinitiv + sein/haben die Projektionsbasis für die VP darstellt. Im Unterschied zu ihrer übrigen Verwendung regieren die Auxiliare hier den 2. Status und bilden den sog. modalen Infinitiv. Die Typendifferenzierung ergibt sich aus der unterschiedlichen Argumentstruktur der Auxiliare: sein verfügt über kein externes Argument, mit dem das externe des Infinitivs unifiziert werden könnte; dien das tritt aber bei haben ein. Typ II ist im Grunde die Passivierung von Typ III, was belegt, daß der Infinitiv Teil der Verbalprojektion ist (Dies ist auch der Grund, warum bei Typ I keine Passivierung möglich ist). Wie bei der 'normalen' Passivierung, bei der das Objekt in die Subjektsposition bewegt werden muß, um Kasus zu erhalten (cf. 28a, b), wird auch hier das interne Argument des Infinitivs als Subjekt und damit im Nominativ realisiert (cf. 28c,d). Daß Typ II das Passiv von Typ III darstellt, zeigt sich ebenso klar an Dativobjekten, die wie in einer 'normalen' Passivierung ihren Dativ behalten (cf. 28e,f). Es gibt also eindeutige Korrespondenzen: (28a) (28b) (28c) (28d) (28e) (280 (28g)

Ich habe das Heu eingefahren Das Heu wurde eingefahren I han sHai na zum aivon SHai is na zum aivon I hed earn no ztieifa Earn is ned zlieifa I han mid earn no z'ren

An Dativobjekten wird auch deutlich, daß Kasus und Thetarolle vom Infinitiv zugewiesen werden: In (28e) kann das pronominale Objekt den Dativ nur von helfen erhalten haben, da haben keinen Dativ zuweisen kann; ebenso muß die Thetarolle Experiencer (oder ähnliches) vom Infinitiv herkommen, weil im Theta-Raster des Matrixverbs keine solche vorhanden ist. Auch bei präpositionalem Objekt wie in (28g) zeigt sich derselbe Sachverhalt: haben selegiert keine PP, so daß diese ihre Projektionslizenz nur vom Infinitiv erhalten haben kann. 21 Daß Matrixveib und Infinitiv eine komplexe Projektionsbasis (kohärente Konstruktion) bilden, kann am Verhalten der Pronomina gezeigt werden. Nach Haider (1993: 248f) u.a. stellt es eine typische Eigenschaft eines "monosententialen Mittelfeldes" dar, wie es kohärenten Infinitivkonstruktionen eigen ist. Genau wie in Sätzen mit einer einfachen Projektionsbasis (cf. 29a,b) klitisieren pronominale Subjekte und Objekte gemeinsam bzw. das klitische Objektspronomen über ein nichtpronominales Subjekt hinweg (cf. 29c) in die Wackernagel-Position (cf. 29d,e,f). (29a) (29b) (29c) 21

weil'e'n gestern erst in da Stood troffa han gestern erst hob'e'n in da Stood troffa gestern hod'n da Beda in da Stood troffa

Im Hochdeutschen (wie auch im Bairisehen) zeigt sich die Fähigkeit von haben, Pr&dikatskomplemente' zu sich zu nehmen, auch an vielen idiomatischen Wendungen, denen zumeist small clauses oder Funktionsveibgeftlge zugrunde liegen: (i) ich habe mit ihm etwas gemeinsam (ii) ich habe ein Haus zur Verfügung

250 (29d) (29e) (29f)

weireto morgn no zum aafgeem hed morgn hed'e'n no zum aafgeem morgn hecTn da Beda no zum aafgeem

Auch andere Kohärenzeigenschaften (cf. Haider 1993: 248f. mit Bezug auf das Hochdeutsche) lassen sich nachweisen: so kann z.B. die zw/w-Phrase zusammen mit sein bzw. haben im Vorfeld erscheinen (cf. 30a,b), was unter der Annahme eines Verbalkomplexes erwartbar ist;22 zudem ist derselbe Komplex aus Infinitiv und finitem Verb durch ein Adverb nicht aufspaltbar (cf. 30c vs. d). Als sicheres Indiz für ein monosententiales Mittelfeld gilt das Verbot der Satzumstellung im Mittelfeld, das sich sinnvollerweise nur bei Typ III demonstrieren läßt (30e vs. f), da bei Typ II das Mittelfeld wegen Reduktion der Argumente zu wenig komplex ist, um das intendierte Phänomen deutlich werden zu lassen. (30a) (30b) (30c) (30d) (30e) (30f)

Zum doa gwen waar gestern na so vei Zum redn ghobt hed'e mid earn na vei daß'se da Max in da Schui kaum zum anstrenga hod * daß'se da Max in da Schui zum anstrenga kaum hod daß da Sepp sHai zum aivon hod *daß sHai zum aivon da Sepp hod

Somit bilden zumindest diese Infinitive auch im Bairischen eindeutig kohärente Konstruktionen. Die r«OT-Phrase kann also bei Typ II und III mit Sicherheit keine PP sein, weil sonst eine kohärente Konstruktion nicht möglich wäre. Bei Typ II und III sind daher die Infinitive keine Substantive, sondern haben verbalen Charakter. Auch hier schließt zum wie schon bei Typ I 'verbale' Infinitive nicht aus. Von ihrer Entstehung her sind die zumVarianten bei Typ II/III ja analog zu erklären: Es handelt sich um das Eindringen der grammatikalisierten Partikel zum in einen ehemals z' vorbehaltenen Bereich. Es gibt nun u.a. zwei plausible Analysemöglichkeiten für die modalen Infinitive: (1) Als Auxiliar hat haben keine eigenen Argumentstellen (es steuert, wie man üblicherweise annimmt, nur funktionale Informationen wie Tempus, Numerus, Kongruenz bei, cf. Haider 1993: 267), so daß die Argumentstruktur des Infinitivs unverändert an den Verbalkomplex weitergegeben und projiziert wird. Diese Analyse steht im Einklang mit Erklärungen des modalen Infinitivs im Hochdeutschen, dessen Ausbildung mit der Grammatikalisierung der Auxiliare in Zusammenhang gebracht wird (cf. Demske-Neumann 1994). Daß die se/w-Konstruktion ein Passiv bildet, kann daraus unmittelbar abgeleitet werden. (2) Es ist aber auch denkbar, daß es als Auxiliar gleichfalls zwei Argumentstellen besitzt, wobei die zweite eine Ereignisrolle (bzw. ein propositionales direktes Objekt) ist, die (das) durch die Selektion eines Verbs im 2. Status gesättigt werden kann; das externe (designierte) Argument des eingebetteten Infinitivs wird - da durch zum blockiert - mit dem von haben identifiziert (zum Begriff Identifikation cf. Haider 1993: 270ff.), während das inter22

Die gemeinsame Vorfeldfähigkeit ist allerdings kein ganz eindeutiges Indiz für Konstituentenhaftigkeit, da in bestimmten, markierten Konstruktionen mehr als eine Konstituente im Vorfeld erlaubt ist, cf. Ltlhr (1985), deren Belege aber einen wesentlich höheren Markiertheitsstatus haben als die Sätze (30a, b), so daß der Vorfeldfähigkeit in unserem Fall doch ein gewisser diagnostischer Wert zukommt.

251 ne Argument aktiv bleibt und projiziert werden kann. Für die zweite Lösung spräche, daß sie der (etymologischen und heute noch phonologischen) Identität der Vollverben und Auxiliare haben/sein Rechnung trägt.23 Sie hat nur die (unschöne?) Konsequenz, daß die traditionelle Sichtweise, daß - im Standarddeutschen, wo es völlig analoge Konstruktionen gibt - "die Stelle des designierten Arguments [...] durch zu inaktiviert" (Haider 1993: 271) wird, nicht mehr gilt, da auch auf Sätze wie Ich habe es getan dieselbe Analyse anzuwenden wäre. Der Blockierer des externen Elements wäre dann eher das Merkmal [-finit], zu bzw. zum/z' miißte dann als reine Statusmarkierung interpretiert werden. Welche der beiden Analysen nun zutrifft, ist für uns vorläufig unerheblich. Wichtig ist vielmehr, daß bei beiden die zum-Phrase nicht als Präpositionalphrase aufgefaßt werden kann (neben den schon explizierten Kriterien ist noch zu beachten, daß auch im Bairischen haben keine PP selegieren kann). Bei den hd. ζκ-Infinitiven ist dieser Konstruktionstypus ja vollkommen analog, was Kasus- und Thetarollenzuweisung und Passivierung betrifft (cf. 31a,b): (31a) (31b)

Ich habe die Wohnung noch zu putzen Die Wohnung ist noch zu putzen

Es ist also als erstes Ergebnis festzuhalten, daß es im Bairischen entgegen der traditionellen Ansicht zumindest zwei Konstruktionstypen gibt, die den hd. ζκ-Infinitiven insofern entsprechen, als sie rein verbalen Charakter aufweisen. Bayers (1993) Analyse wird dadurch obsolet. Es spricht, wie wir gesehen haben, einiges dafür, neben Teilen von Typ I (s.o.) zumindest noch die Typen II und III aus der 'gerundialen' Infinitivsystematik des Bairischen herauszunehmen und als veibales Infinitivparadigma zu interpretieren. Nicht nur ihre Entstehungsgeschichte lieferte hierfür gute Argumente. In Donhausers Datenkorpus sind die beiden Konstmktionstypen zwar nicht im sog. "Kernbereich bairischer Infinitivbildungen" (Donhauser 1989a: 296) vorhanden, sie finden sich aber z.B. bei Ströbl (1970), worauf Donhauser selbst hinweist, und bei Kollmer (I, 319f.; III), so daß sie auf jeden Fall zum Bestand des traditionellen Infinitivsystems des Bairischen zu rechnen sind. Auch bei Schiepek (1899: 192ff.) werden sie erwähnt. Bei Kollmer sind sogar Perfektiv- (32a,b) und Sätze in der Verlaufsform (32c) nachzuweisen, die belegen, daß die Typen II und III keine erstarrten Bildungen sind, sondern ein durchaus produktives und 'elastisches' Muster darstellen. Auch in den von Haller oder Biberger gesammelten Texten sowie bei Thoma und Valentin sind die Konstruktionen zu finden, so daß an der allgemeinen Verbreitung und Häufigkeit im Bairischen nicht zu zweifeln ist: (32a) (32b) (32c) (32d) (32e) 23

und do hod ma grod mid da noud zlcempfa kod (Kollmer ΙΠ, 113) und en winta is's e zon dreschn gwen (Kollmer ΙΠ, 129) wia fsau a so zon aushoka wiad (Kollmer ΠΙ, 98) wou der Schatz zum findn gwen waa (Haller 1,65) Es hand ned zum auskrebsn soichane Gschichtn (Biberger 55)

Bei dieser Analyse entsteht m.E. kein größeres Problem darin, daß haben dann sowohl eine NP als auch einen erweiterten Infinitiv selegiert, weil dies bei Verben wie vergessen oder beginnen auch der Fall ist.

252 (32f) (32g) (32h)

daß im Staat vieles zum verbessern waar (Thoma 2,113) wie wir ins zum verhalten haben (Thoma 2,19) Ich hätt doch nur mehr einen Ton zum blasen ghabt (Valentin 502)

2.3. Typ VI: Argumentiiikorporation Ein Vergleich mit den Typen V und VI verdeutlicht, daß in den besprochenen Konstruktionen die VP gemeinsam von Infinitiv und Matrixveib projiziert wird, so daß das interne Argument die 'normale' Objekts- bzw. - im Passiv - Subjektsposition einnehmen kann. Bei Typ VI ist die ztwn-Phrase (meistens) ein Adjunkt, dessen internes Argument zwar realisiert werden kann, dann aber inkorporiert werden muß (zur Inkorporation cf. Bayer 1993: 53f.) und spezielle Eigenschaften aufweist. So ist zwar davon auszugehen, daß es eine Thetarolle bekommt, es erscheint aber immer artikellos, so daß es keinen Kasus erhalten kann24 (cf. 33a) und eine nicht spezifische Lesart hat, d.h. nicht definit ist und generischen Plural (cf. 33b) oder Singular aufweist (cf. 33c); außerdem müssen bei direktionalen Angaben eigentlich notwendige Präpositionen (plus Artikel) weggelassen werden (cf. 33d). Der Infinitiv kann - zumindest im Bairischen - intern, d.h. innerhalb der zum-Phrase, seine 'normale' Rektion nicht ausüben: Das aus Abraham (1995: 313) entnommene Beispiel (33e) ist im Bairischen vollkommen unakzeptabel (mir ist ein ähnliches Beispiel auch noch in keiner Literatur begegnet). (33a) (33b) (33c) (33d) (33e)

*I brauchs zum de Bleame giesn I brauch's zum Kia fuadan I brauchn zum Stool bau is af Bebra avaganga zum (*aafs) Grob gä Er bekommt/hat nichts zum die Muscheln essen

Daß es sich hier nicht um die klassische' Wortbildung, sondern um einen syntaktischen Prozeß handelt, zeigen Sätze wie (34), da auszuschließen ist, daß was abstellen ein mögliches Wort darstellt, das gebildet werden kann bzw. im Lexikon verzeichnet ist. (34)

I brauchs halt zum was abstellen (Polt Π, 26)

Bei Typ VI ist die zw/n-Phrase eine PP, was sich daran zeigen läßt, daß auch andere Präpositionen - oberflächlich besehen - einen Infinitiv selegieren, der sein internes Argument inkorporieren kann. Die Sätze (35a-d) illustrieren dies für bei, in und mit. Auch im Deutschen ist das möglich, wenn auch stilistisch diskriminiert gegenüber Bildungen, in denen das Argumentsnomen mit Genitiv angeschlossen ist (cf. 36a,b), es gibt aber Fälle, bei denen die Inkorporations- der Genitivlösung vorgezogen wird (cf. 36c,d):25 24

25

Im Bairischen wird Kasus fast ausschließlich am Artikel morphologisch ausgedrückt, Substantive selbst unterscheiden morphologisch - von wenigen Ausnahmen abgesehen - nur noch Singular und Plural (cf. Kollmer 1,279-315; Zehetner 1985:108; Kapitel Π, Abschnitt 2.2.1.). Es handelt sich um die Fälle, in denen in der Schreibung die Zusammenschreibung überwiegt. (36c vs. d) illustriert zudem den Definitheitseffekt, den wir beim Bairischen erwähnt haben.

253 (35a) (35b) (35c) (35d)

bo dem bogschlidn von bon eapfe steka ess do weaha mid dem keihe dampfen

(36a) (36b) (36c) (36d)

Beim Weihnachtskarten-Schreiben Beim Schreiben der Weihnachtskarten Beim Rad-/Autofahren Beim Fahren des Rades/Autos

Solche Bildungen sind im Bairischen häufig und völlig regelmäßig und selbst Artikel (37a) oder Quantifizierer (37b) können erweiterte Infinitive (natürlich ohne zum) selegieren, wobei (37b und c) wiederum zeigen, daß es sich nicht um herkömmliche Wortbildung handeln kann: (37a) (37b) (37c)

s gros ma Do is koa dra denga ned Bei denan gibds koa driba noachdenga

Bei zum ergibt sich allerdings ein spezielles Problem: (35a vs. b) verdeutlicht, daß bei einer Präposition wie bei und anderen der nachfolgende Artikel im Prinzip sowohl klitisiert als auch nicht klitisiert realisiert werden kann. Dies ist bei der 'erstarrten' Form zum nicht möglich, was den Sonderstatus selbst in einer 'präpositionsnäheren' Verwendungsweise wie in den hier zu analysierenden Konstruktionen eindeutig belegt. In Fällen wie (35) spricht Kollmer I, 321-326 von einfachen Gerundien und unterscheidet davon erweiterte wie in den Sätzen (38a-e) (c, d und e eigene Beispiele): (38a) (38b) (38c) (38d) (38e)

Mid am Vada seim owai ess wiatshaus ge, kema no aaf gant Weng an Bouman earan vria aafste und e t schui ge kane a ned lang ling bleim Mid seim ο in ois vosprecha hod'a's earn midn Sepp vadoam Am Beda sei oin ois vosprecha regfme sehe langsam aaf Weng seim im winta owai aafs grob ge hod'a'se vokeid

In diesen Sätzen ist der Infinitiv samt seinen Ergänzungen Teil einer DP, die selbst Teil einer PP sein kann (38a-e). Da in diesen Konstruktionen der Infinitiv offensichtlich intern Kasus zuweisen kann, der beobachtete Definitheitseffekt nicht auftritt und vollständige Präpositionaladjunkte erlaubt sind (cf. 33d vs. 38e), spricht alles dafür, daß keine Inkorporation der Argumente (bzw. Adjunkte) stattfindet und man beide Fälle strikt auseinander halten sollte. In diesen Fällen ist von interner Rektionsfähigkeit der Infinitive auszugehen, so daß man annehmen kann, daß D° als Komplement eine VP selegiert. Kasusund Thetarollen-Zuweisung sind, weil eine VP projiziert wird, ohne Probleme möglich.26

26

Daß nur 'subjektlose' VPs möglich sind, läßt sich möglicherweise aus der Bindungstheorie ableiten, da das Subjekt im c-Kommando-Bereich des koindizierten De-Elementes läge (s. 40). Subjekte sind aber nie Anaphern (im Sinne der Bindungstheorie), so daß es ein Verstoß gegen das Bindungs-Prinzip Β oder C wäre.

254 Darin liegt der Unterschied zu Kollmers einfachen Gerundien: auch bei ihnen selegiert die Präposition ja nicht einen Infinitiv, sondern eine DP, als deren Komplement ein einfacher Infinitiv oder - bei Argument-Inkorporation - ein komplexes Verb erscheint. Die an den Daten beobachtbare Differenz bezüglich der Möglichkeit interner Rektion hat somit ihren Grund nicht in einem unterschiedlichen kategorialen Status des Infinitivs (nominal vs. verbal), sondern erklärt sich aus der Projektionsstufe des von D° selegierten Komplements (V° bzw. V* vs. VP). Strukturell sind einfache Gerundien als (39) und erweiterte als (40) zu analysieren (wobei V* = komplexes Veib aus N° + V°): (39)

PP

DP De

bo

dem

V· Ne bogschlidn

(40)

von

PP

po

DP

I mid NP am Vadda

D' De

seim

VP

owai ess W. ge

Daß in (40) die DP über einen Spezifikator verfugt und in (39) nicht, erklärt sich aus den Beispielen in (35a) und (38a), deren Strukturen etwas vereinfacht wiedergegeben wurden. Auch bei erweiterten Gerundien könnte der DP-Spezifikator fehlen, wie (38e) zeigte, bzw. umgekehrt, bei einfachen kann er durchaus vorhanden sein (41): (41)

Am Beda sei Audo woschn regd'me aaf

Mit den beiden 'Gerundialkonstruktionen' verfügt das Bairische über Möglichkeiten, die im Hochdeutschen zumindest in dieser Häufigkeit (und Komplexität) nicht gegeben sind.

255 Die Konstruktion mit 'erweiterten Gerundien' ist in der Hochsprache strikt ungrammatisch. Im Bairischen ist sie ein Bildungstyp, der eine satzwertige Proposition infinitivisch zu realisieren erlaubt. Der Satz (42a) muß im Standarddeutschen so wiedergegeben werden, daß dem Infinitivkomplex ein Nebensatz entspricht (z.B. ein kausaler wie in 42b): (42a) (42b)

Weng seim im winta owai aafs grob ge hod'a'se vokeid Er hat sich erkältet, weil er im Winter immer auf das Grab ging

Vielleicht liegt darin auch ein Grund, warum das Bairische von anderen Bereichen der Infinitivsyntax weniger Gebrauch macht.

2.4. Typ V Die komplexe Verbalprojektion, die bei Typ II und III vorliegt, läßt sich durch einen Vergleich mit den finalen Konstruktionen (Typ V) illustrieren, die semantisch den um...zuKonstruktionen im Hochdeutschen entsprechen. In (43a) gibt es ein Subjekt, das eine Argumentstelle des Matrixverbs und des Infinitivs sättigt, so daß es - wenn man zunächst nicht davon ausgeht, daß PRO vorliegt - von beiden eine Thetarolle bekommt. Ebenso kann man in (43b) annehmen, daß das Objekt, da internes Argument von Matrixverb und Infinitiv, von beiden thetamarkiert wird. Hierin liegt der entscheidende Unterschied zu einer Konstruktion wie (43c): wegen der gemeinsamen Projektion von haben und dem Infinitiv kann das Objekt nur vom Infinitiv eine Thetarolle erhalten, die Ereignisrolle von haben ist bereits durch die Selektion eines Veibs im 2. Status gesättigt. (43a) (43b) (43c)

eitz hand's wiada kema zum vanema na hod'a s'deichl zambundn zum hoamdrong I han sHai no zum aivon

Bei (43a) könnte man durch die Annahme von PRO die Infinitivkonstruktion als satzwertig analysieren. Sie würde dann die Struktur (44a) erhalten. Die Satzwertigkeit stellt uns allerdings bei (43b) vor das Problem, welcher Art das leere Element ist, das im satzwertigen Infinitiv das Objekt vertritt und mit dem Objekt des Matrixverbs deichl Vindiziert wird. In (44b) ist es durch ein Fragezeichen gekennzeichnet (im Hochdeutschen erscheint denn auch an der Position obligatorisch ein Pronomen, cf. 44c). Eine Bewegungsanalyse (d.h. ?j = tj) verbietet sich u.a. aus folgendem Grund: z.B. könnte man kasustheoretische Motive für die Bewegung annehmen, da das Objekt des Infinitivs an seiner Basisposition keinen Kasus erhalten kann und deshalb an eine Position bewegt werden muß, wo es Kasus bekommt; dann ergibt sich allerdings das Problem, daß auf der d-Struktur das Matrixverb seine interne Thetarolle nicht zuweisen kann, da die Position ja leer sein muß, und dies verstößt gegen das Thetakriterium, denn das Theta-Kriterium "gilt auf allen syntaktischen Ebenen" (Stechow/Sternefeld 1988: 279) (außerdem kann die 'Anhebungs'-Bewegung nicht der Grund für das 'Leerbleiben' sein).

256 (44a) (44b) (44c)

eitz hand'Sj wieda kema [PROjZum vanema] na hod'aj s'deichl· zambunden [PRO; Ί- hoamdrong] dann hat er das Tuch zusammengebunden, um *(es) heimzutragen

Aus diesem Grund ist es eher angebracht, die ζκ/w-Phrase als PP zu analysieren, die im Satz eine Adjunkt-Position (d.i. als freie Angabe) einnimmt. Eine Komplement-Analyse wie bei Typ I ist auszuschließen, da z.B. Adjazenz schlechter ist als Extraposition der zu/w-Phrase (cf. 45a vs. 43b) und keine gemeinsame Vorfeldfähigkeit (cf. 45b) zu beobachten ist, so daß es unwahrscheinlich ist, daß Bezugs-NP und Infinitiv zusammen eine Konstituente bilden. Ein eindeutiges Indiz für den Adjunkt-Status der zu/n-Phrase ist ihre Weglaßbarkeit (cf. 45c), weswegen sie - im Unterschied zu Typ Π, III und IV (s.u.) - nicht vom Hauptverb selegiert sein kann. Es deutet also vorerst vieles darauf hin, daß das infinite Verb nicht im 2. Status vorliegt, sondern substantiviert (wovon gleich noch zu sprechen sein wird). (45a) (45b) (45c)

?na hod'a s'deichl zum hoamdrong zambundn 's'deichl zum hoamdrong hod'a zambundn na hod'a s'deichl zambundn

Die PP- und Adjunkt-Analyse beinhaltet jedoch auch noch ungelöste Probleme. Zunächst sollen aber noch zwei mögliche Alternativen betrachtet werden: die parasitic-gap-Analyse und die als infinitivische Adjunkte. Wenn man (44b) als wh-Frage formuliert (cf. 46a), könnte man sie als parasitic-gap-Konstruktion interpretieren, der eine dem bekannten englischen Beispiel (cf. 46b) analoge Struktur wie in (46c) zu unterlegen wäre (wobei Op = leerer Operator). Diese Analyse ist aber wenig plausibel, da einige wesentliche Voraussetzungen, die im Englischen parasitic-gap-Konstruktionen erst ermöglichen (cf. Chomsky 1986a: 54-68; Haegeman 1994: 473-477), im Bairischen nicht gegeben sind. So ist die wh-Bewegung27 keine notwendige Vorbedingung, wie Satz (44b) zeigt, und die parasitäre Lücke wäre auch nicht optional (cf. 46d), wie dies im Englischen der Fall ist (cf. 46e): (46a) (46b) (46c) (46d) (46e)

Wos hod'a zambundn zum hoamdrong What; did you file t; [ p p Opi [ p p without t( PRO reading e ; ]]]] WoS| hod'a tj zambundn [ p p Op, [ pp zum [ c p t [jp PRO hoamdrong]]]] *Wos hod'a zambundn zum des hoamdrong What did you file without reading it

Aus den genannten Gründen ist die parasitic-gap-Analyse wenig attraktiv. Da das interne Argument nicht realisiert werden darf (zumindest nicht in der für Argumente üblichen Weise, nämlich kasusmarkiert, s.u.), ist es auch nicht ohne Zusatzannahmen möglich, die für infinitivische Adjunkte im Englischen entwickelte Analyse auf das Bairische zu übertragen (cf. Haegeman 1994: 469f.). Im Englischen sind diese CPs, d.h. sie enthalten PRO als Subjekt sowie - bei Fehlen eines (phonologisch präsenten) Objekts - einen leeren

27

Nach Chomsky (1986a: 54) sind parasitic gaps "typically licensed by a wh-trace (or other operator-bound trace) in object position".

257

Operator, der die Objektspur bindet (cf. 47a) und mit der entsprechenden NP im Hauptsatz - hier der Subjekts-NP - koindiziert ist. Im Englischen kann das Objekt phonologisch ausbuchstabiert sein, und zwar in der auch bei finiten Verben üblichen Weise (cf. 47b): (47a) (47b)

John; is too stubborn [ c p OP; [jp PRO to invite t, ]] John is too stubborn to invite him

In diesem Punkt unterscheiden sich die bairischen Konstruktionen, denn das Objekt des Infinitivs ist nicht so zu realisieren, daß es strukturellen (bzw. bei dativischen Verben inhärenten), also den 'normalen' Objekts-Kasus erhält (cf. 46d). Daher verbietet sich für finale zw/w-Konstruktionen die Annahme eines leeren Operators. In einem Satz wie (48a), in dem das transitive Verb ausfragen als Komplement von zum erscheint, gibt es zwei Möglichkeiten, das interne Argument auszudrücken: (1) inkorporiert wie bei Typ VI (cf. 48b) oder (2) mit einer vow-Phrase angeschlossen, die im Bairischen der Ersatz für den nicht possessiven Genitiv ist (cf. 48c). Die Inkorporation wurde oben schon erörtert und soll an dieser Stelle nicht mehr eingehender berücksichtigt werden. Relevant ist für den jetzigen Zusammenhang die zweite Möglichkeit, die eindeutig den nominalen Charakter des Infinitivs beweist. Damit ist evident, daß es sich in Typ V bei der zwm-Phrase um eine echte PP handelt, die eine substantivierte Verbform selegiert. Die Substantivierung bewirkt, daß der Infinitiv 'seinen' Objekts-Kasus nicht mehr zuweisen kann, und damit die Objekts-NP, weil sie keinen morphologischen Kasus erhält, überhaupt lizensiert ist, muß sie Teil einer PP sein (sofern sie nicht inkorporiert wird). (48a) (48b) (48c)

Se hand kema zum ausfrong Se hand kema zum leid ausfrong Se hand kenuna zum ausfrogn vo de leid

Die Sätze (48a-c) zeigen auch ein Phänomen, das aus der Wortbildung bekannt ist: Bei deverbalen Substantiven ist die Angabe des internen Arguments des Basisverbs optional. Im Deutschen gehören z.B. deverbale Substantive auf -ung zur Klasse der process nouns, die nach Grimshaw (cf. Speas 1990: 65) alle ein internes Argument haben, das syntaktisch auf verschiedene Weise realisiert werden kann. Unproblematisch ist dabei der Fall, daß das interne Argument wie in (49a) innerhalb der maximalen Projektion seine Theta-Rolle erhält, da dieser Fall durch die Theta-Theorie erklärt werden kann, die verlangt, daß ThetaRollen unter Rektion zugewiesen werden (cf. Speas 1990: 30). Nicht so eindeutig ist die Sachlage in (49b), wo man - intuitiv gesprochen - annehmen kann, daß Ede vom deverbalen Nomen Vernehmung ebenfalls eine Theta-Rolle zugewiesen bekommt, da es eindeutig Ede ist, der vernommen wird. (49b) ist deswegen synonym mit (49c), wo die 'Theta'Beziehung über Koreferenz auch auf der syntaktischen Ebene ausbuchstabiert ist. Es ist offensichtlich so, daß in diesen Fällen, wo von einem Adjunkt aus einem Argument des finiten Verbs eine 'sekundäre' Thetarolle zugewiesen wird, die Rektionserfordernis nicht greift. Bei der Zuweisung sekundärer Theta-Rollen wie in (49b) kann entweder die von

258

Williams formulierte Theta Role Assignment Condition (TRAC)28 nicht zuständig sein oder man muß annehmen, daß die PP keine Barriere bildet (s.u.). Interessant ist Satz (49b) in unserem Zusammenhang, weil er die Problematik verdeutlicht, die den finalen zumPhrasen im Bairischen bei der Theta-Rollen-Züweisung zugrunde liegt. Auch bei ihnen ist ja, wie oben schon angedeutet, davon auszugehen, daß das interne Argument des finiten Verbs - in (49d) ist es deichl - vom Infinitiv 'sekundär1 thetamarkiert wird, da es vom Vorgang des Heimtragens (in naher Zukunft) unmittelbar betroffen sein wird. Auch bei Typ I wurde eine Θ-Zuweisung des Infinitivs angenommen, um die Weglaßbarkeit bestimmter Nomen zu motivieren. (49a) (49b) (49c) (49d)

Die Vernehmung Edes/von Ede ergab ... Bei der Vernehmung verriet Ede seine Komplizen an die Polizei Als Edej vernommen wurde, verriet er; seine Komplizen an die Polizei na hod'a s'deichl zambundn zum hoamdrong

Ob und gegebenenfalls welche strukturellen Restriktionen für diese sekundäre Theta-Rollen-Zuweisung gelten, ist unklar. Daß Sätze wie (49b,d) nur eine Lesart haben, obwohl eine Argumentstelle - die des deveibalen Nomens bzw. des substantivierten Infinitivs syntaktisch scheinbar nicht gefüllt ist, deutet auf einen strikten Mechanismus, der sicherstellt, daß nur diese eine semantische Interpretation zustande kommt. Um den relevanten Sachverhalt zu verdeutlichen, ist in den Strukturbaum (50) mit Doppelpfeilen eingezeichnet, welche Theta-Beziehungen (s.u.) bestehen:

s'deichl

/\/[\

zambundn zum

hoamdrong

/]\

Da für die Fälle, in denen eine Phrase von zwei verschiedenen Köpfen eine Theta-Rolle erhält, die generative Theta-Theorie keine ausreichende Erklärung bietet, hat Emonds (1985) das Konzept der sog. Theta-Beziehung (Θ-relatedness) entwickelt. Danach sind 28

TRAC: no phrase at all can intervene between an assigner and an assignee (Speas 1990: 30). Speas modifiziert die Bedingung derart, daß keine Rektions-Barriere dazwischen treten könne.

259 zwei "Köpfe X° und Y° aufeinander Θ-bezogen, wenn XP von Y1 oder YP von X1 thetamarkiert wird" (Stechow/Sternefeld 1988: 437). Für unser konkretes Beispiel in (50) heißt dies, daß die Objekts-NP deicht (bzw. präziser der Kopf der NP) sowohl auf V° als auch auf den Infinitiv Θ-bezogen ist. Das Matrixverb ist für das Objekt subkategorisiert und kann es thetamarkieren. Die Frage ist aber, ob dies auch auf die Beziehung zwischen dem 'nominalen1 Infinitiv und der Objekts-NP zutrifft. Daß es sich nicht um den klassischen Fall handelt, wo ein Kopf sein Komplement thetamarkiert, liegt auf der Hand. Informell gesprochen wird man folgendes annehmen müssen: Die Rede vom substantivierten bzw. nominalen Infinitiv bedeutet ja nicht, daß aus einer verbalen Form per Wortbildung (Konversion) zuerst ein Nomen gebildet wird, das dann von der Präposition selegiert wird. M.E. erscheint hier ein Verbum in einer Position, die als Komplement einer Präposition eine kanonische NP-Position ist, wodurch typische verbale Eigenschaften blockiert werden. Da es z.B. keinen (strukturellen) Kasus mehr zuweisen kann, sind die für Verben 'normalen' Verfahren zur Realisation ihrer Argumente nicht mehr möglich. Die Eigenschaft, Theta-Rollen zuzuweisen, verschwindet dagegen nicht, sondern ist davon nur insofern betroffen, als es, wenn die Argumente innerhalb der PP gesättigt werden sollen, nur wie bei den Nomina durch die bairische Genitiversatz-Konstruktion bzw. durch Inkorporation (s.o.) möglich ist. Ist das Objekt des finiten Veibums zugleich das interne Argument des Infinitivs, wird er dieses sekundär thetamarkieren. Dasselbe gilt auch für das Subjekt: In Satz (43a), hier als (51) wiederholt, ist es das 'gemeinsame' Subjekt, das zweifach thetamarkiert wird (das interne Argument des Infinitivs bleibt ungesättigt). (51)

eitz hand's wiada kema zum vanema

Für die Zuweisung sekundärer Thetarollen gelten bestimmte Beschränkungen, die bereits von Emonds (1985) formuliert und bei Stechow/Sternefeld (1988) für das Deutsche z.T. modifiziert wurden. Das zentrale Prinzip, das Emonds als Teil des Theta-Prinzips deutet, besagt, daß die Relation der Θ-Bezogenheit anti-transitiv ist.29 Wenn also in einem Satz die Elemente Α und Β sowie Β und C aufeinander Θ-bezogen sind, kann keine Θ-Bezogenheit zwischen Α und C existieren. Daraus leitet sich fur die finalen zi/w-Phrasen im Bairischen ab, daß diese Adjunkte sein müssen. Wären sie nämlich ebenfalls auf das finite Verb Θ-bezogen, weil sie ein Argument von ihm sind, wäre das Anti-Transitivitäts-Prinzip verletzt. Diese Vorhersage wird durch die Daten bestätigt (s.o.). Die möglichen ©-Relationen in den finalen Konstruktionen des Bairischen sind in (52a,b) dargestellt (logisch wären mehr denkbar, tatsächlich existieren nur diese beiden): (52a)

Subj.

V

Inf.

b)

V

Obj.

Inf.

Sätze wie (53), die m.E. im älteren System ungrammatisch sind und für die ich auch keine Belege in den Quellen gefunden habe, verstoßen zwar nicht gegen das Anti-Transitivitäts29

Emonds (1985:78): "Θ-reIatedness is an anti-transitive relation."

260 Prinzip, sie sind jedoch wohl aus kasustheoretischen Gründen auszuschließen. Die NP de Leid besetzt eine Position, die weder eine Adjunktsposition noch im Subkategorisierungsrahmen des finiten Verbs enthalten ist. Da sie auch vom Infinitiv keinen Kasus erhalten kann, ist sie ungrammatisch. (53)

*Se hand kema de Leid zum vanema

Als Wohlgeformtheitsbedingung für zweifach thetamarkierte Phrasen hat Emonds (1985: 68) Prinzip (54) formuliert, das wir allerdings in der von Stechow/Sternefeld (1988: 445) modifizierten Version (55) übernehmen: (54)

A phrase which receives a Θ-rolefromtwo heads must be the subject NP of one of them.

(55)

Falls eine Position Ρ zwei Wert-Argument-Paare [entspricht in etwa den Θ-Rollen] von verschiedenen GFs [grammatische Funktionen] besitzt, sind die Zweitglieder der Paare kategorial verschieden.

Mit Prinzip (54) ist zwar (52a) ableitbar, aber die grammatische Struktur (52b) wäre ausgeschlossen, da die zweifach thetamarkierte Phrase Objekt sowohl vom finiten Verb als auch vom Infinitiv ist. Mit der modifizierten Version (55) ist jedoch auch dieser Fall erklärbar: Die Zweitglieder der Wert-Argument-Paare sind kategorial verschieden (cf. 56a,b, in der Notationsweise von Stechow/Sternefeld, wobei auf absolute Präzision verzichtet wurde). (56a) (56b)

Objekt Objekt