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German Pages 679 [695] Year 1983
Hegel-Studien Herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler
Beiheft 11
VI.Veröffentlichung der Internationalen Vereinigung zur Förderung des Studiums der Hegelschen Philosophie
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Stuttgarter Hegel-Tage 1970 Vorträge und Kolloquien des Internationalen Hegel-Jubiläumskongresses Hegel 1770–1970 Gesellschaft, Wissenschaft, Philosophie veranstaltet von der Stadt Stuttgart, der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Internationalen Vereinigung zur Förderung des Studiums der Hegelschen Philosophie Herausgegeben von Hans-Georg Gadamer
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
Inhaltlich unveränderter Print-on-Demand-Nachdruck der 2. Auflage von 1983, erschienen im Verlag H. Bouvier und Co., Bonn.
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN: 978-3-7873-1504-8 ISBN eBook: 978-3-7873-3091-1 ISSN: 0073-1578
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INHALT
HANS-GEORG GADAMER,
Zur Einführung
Heidelberg
IX
VORTRÄGE Heidelberg Philosophische Weltgeschichte?
KARL LöWITH,
3
Heidelberg Hegel und Hölderlin
DIETER HENRICH,
29
Hannover Hegels „Herr und Knecht" in der modernen Literatur. (Hofmannsthal-Brecht-Beckett) 53
HANS MAYER,
Bochum Perspektiven der Hegelforschung
OTTO PöGGELER,
79
Kolloquium I NATURWISSENSCHAFTEN Leitung Heinrich Schipperges, Heidelberg Heidelberg Hegel und die Naturwissenschaften. Einleitende Vorbemerkung 105
HEINRICH SCHIPPERGES,
N. FINDLAY, Boston Hegel und die Physik
JOHN
111
München und Basel Hegels Interpretation der Cavalierischen Infinitesimalmethode
JOACHIM OTTO FLECKENSTEIN,
117
Heidelberg Das chemische System der Stoffe, Kräfte und Prozesse in Hegels Naturphilosophie und der Wissenschaft seiner Zeit . . 125
DIETRICH VON ENGELHARDT,
München Der alchemische Begriff des Caput Mortuum in der symbolischen Terminologie Hegels 141
KARIN FIGALA,
Inhalt
VI
Heidelberg Die Stufenfolge der Organismen in Hegels Philosophie der Natur 153
HANS QUERNER,
Heidelberg Der Krankheitsbegriff in der Dialektik von Natur und Geist bei Hegel 165
WOLFGANG JACOB,
Kolloquium II PHILOSOPHISCHE SPEKULATION UND CHRISTLICHE THEOLOGIE Leitung Michael Theunissen, Bern, jetzt Heidelberg München Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels
WOLFHART PANNENBERG,
.
175
Utrecht Hegels Philosophie der Religion und die Erfahrung des christlichen Glaubens. Korreferat zu Pannenbergs Vortrag ....
203
ADRIAN PEPERZAK,
Berlin Diskussionsbeitrag zu Pannenbergs Vortrag
215
E. CHRISTENSEN, Wofford College, jetzt Salzburg Hegel's Altar to the Known Go'd
219
Chantilly Dialogue Theologique avec Hegel
231
MARTIN PUDER,
DARREL
GASTON FESSARD,
Kolloquium III KUNSTPHILOSOPHIE UND GEGENWART DER KÜNSTE Leitung Dieter Henrich, Heidelberg München Die Gegenwärtigkeit der Kunst nach Hegels Vorlesungen über Ästhetik 251
HELMUT KUHN,
Santa Cruz Die Kunst: Tod und Verklärung. Überlegungen zu Hegels Lehre von der Romantik 271
ALBERT HOFSTADTER,
Berlin Kritische Bemerkungen zu den Referaten von Kuhn und Hofstadter. Nebst einer Skizze über die Voraussetzungen der Hegelschen Ästhetik 287
BERNHARD LYPP,
Inhalt
VII
Heidelberg Zur Aktualität von Hegels Ästhetik. Überlegungen am Schluß des Kolloquiums über Hegels Kunstphilosophie 295
DIETER HENRICH,
Kolloquium IV POLITISCHE PHILOSOPHIE Leitung Robert Spaemann, Stuttgart, jetzt München München Einige historische Vorbemerkungen zu Hegels politischer Philosophie 305
HANS MAIER,
Paris Le Droit Romain dans la „Philosophie des Rechts" de Hegel
MICHEL VILLEY,
MICHAEL KIRN,
321
Köln
Der Begriff der Revolution in Hegels Philosophie der Weltgeschichte 339 Erlangen Natur und Freiheit in Hegels Rechtsphilosophie
365
Stuttgart Hegels politischer Protestantismus
383
Heidelberg Hegels Kritik des Jakobinismus
417
Frankfurt Hegels Dialektik von ,Herr' und ,Knecht'
429
MANFRED RIEDEL,
REINHART MAURER,
ANDREAS WILDT,
WERNER BECKER,
Kolloquium V MARXISTISCHE THEORIE Leitung Karl Löwith, Heidelberg Florenz „Die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes". Zu Marx's Auseinandersetzimg mit Hegel 443
CESARE LUPORINI,
Frankfurt Vier Thesen zur Geschichtsauffassung bei Hegel und Marx .
47]
L. KEINE, Bryn Mawr Was Marx von Hegel hätte lernen können .. . und sollen .
497
IRING FETSCHER,
GEORGE
Inhalt
VIII Kolloquium VI
NEUKANTIANISMUS UND PHÄNOMENOLOGIE Leitung Werner Marx, Freiburg Wien Paul Natorps „Philosophische Systematik"
ERICH HEINTEL,
505
Heidelberg Idealität als dialektisch konstruierbare Totalität und als Hypothese der Fundierung wissenschaftlicher Geltung. Überlegungen zur Theorie des Begriffs bei Hegel und Cohen . . .
WOLFGANG MARX,
515
Heidelberg „Erlebnis". Thesen zu Hegels Theorie des Selbstbewußtseins mit Rücksicht auf die Aporien eines Grundbegriffs nachhegelscher Philosophie 537
KONRAD GRAMER,
R. DOVE, New Haven, jetzt New York Die Epoche der Phänomenologie des Geistes
605
Hamburg Phänomenologie und Dialektik
623
KENLEY
REINER WIEHL,
Bonn Zur Wiederaufnahme der Phänomenologie des Geistes in Georg Lukäcs' Geschichtsphilosophie 635
GERHART SCHMIDT,
Aachen Die Phänomenologie des Geistes und die Hegel-Renaissance in Frcmkreich 643
WALTER BIEMEL,
Graz Zum Referat von Walter Biemel
PAUL ASVELD,
WERNER MARX,
Resume
Freiburg
657 665
Vorlagen ZU HEGELS BIOGRAPHIE Bonn Die Stuttgarter Hegel-Ausstellung
671
Athen Hegel und Johannes Benthylos
677
FRIEDHELM NICOLIN,
JOHANNES THEODORAKOPOULOS,
HANS-GEORG GADAMER (HEIDELBERG)
ZUR EINFÜHRUNG Vom 12. bis 15. Juli 1970 fand in Stuttgart aus Anlaß der 200. Wiederkehr von Hegels Geburtstag ein großer wissenschaftlicher Kongreß statt, zu dessen Veranstaltung sich die Stadt Stuttgart, die Heidelberger Akademie der Wissenschaften und die Internationale Vereinigung zur Förderung des Studiums der Hegelschen Philosophie vereinigt hatten. Es sind nun bereits einige Jahre her, daß dieser Kongreß unter einer lebhaften Anteilnahme, insbesondere von seiten der Jugend, stattfand. Wir bedauern, daß die Beschaffung und die Veröffentlichung der Manuskripte soviel Zeit in Anspruch genommen haben. Ebenso wie die Durchführung des Kongresses hat auch die Veröffentlichung der Akten in der Verantwortung der Internationalen Vereinigung zur Förderung des Studiums der Hegelschen Philosophie gelegen, deren damaliger Präsident ich war. Der Vereinigung wurde durch diesen Kongreß eine neuartige Aufgabe gestellt, sofern diese Veranstaltung die Ausmaße der bisherigen Arbeiten der Vereinigung weit überschritt. Die Vereinigung hatte als ihre wesentliche Aufgabe gesehen, zwischen den Forschern und Kennern der Hegelschen Philosophie in den verschiedensten Ländern und von den verschiedensten Gesichtspunkten aus eine Gesprächsbasis zu schaffen. Wir hatten uns daher bemüht, sei es für die seltenen Kongresse, in denen die ganze Mitgliedschaft der Vereinigung zusammentrat, sei es für die häufigeren speziellen Arbeitstagungen in kleinerem Kreise, Forschungsprobleme zu behandeln, Forschung anzuregen und Forschungsresultate unter wechselseitigem Austausch zu erarbeiten und der Öffentlichkeit zu übergeben. Wir hielten uns damit bewußt in einem engeren wissenschaftlichen Rahmen und suchten keinerlei Öffentlichkeit — es sei denn auf dem Wege der Wirkung unserer Publikationen.
X
HANS-GEORG GADAMER
Der 200ste Geburtstag Hegels, aus dessen Anlaß wir mit der Organisation eines großen internationalen Kongresses beauftragt wurden, mußte von vornherein das Interesse der Öffentlichkeit stark auf sich ziehen. Daß die Stadt Stuttgart, die Geburtsstadt Hegels, tmd daß die Heidelberger Akademie der Wissenschaften, die vornehmste wissenschaftliche Institution des Südweststaates, in den heute das Schwabenland integriert ist, den großen Denker ehren wollten, war nur natürlich. Aber im Grunde ging es von vornherein um mehr. Es galt, diesem Manne einen Platz im öffentlichen Bewußtsein zu erobern, den er noch nicht so besaß wie andere große Söhne des schwäbischen Landes — ich erinnere nur an die großen klassischen Dichter Schiller und Hölderlin. In der Tat sind die Bedingungen für die öffentliche Wirkung eines Denkers vom Schlage Hegels sehr verschieden von derart literarischer Unsterblichkeit, die den großen Dichtern schwäbischer Zunge schon dadurch zukommt, daß bereits die Schuljugend mit ihrem Werk vertraut gemacht wird. Die Philosophen sind selten in solcher Weise breiten Kreisen bekannt. Auch das Werk Schellings, des Jugendfreundes Hegels, dessen Stil sich durch eine gewisse biegsame Anmut auszeichnet, ist nicht leicht zugänglich. Vollends aber vereinigt die Figur Hegels und seines Werkes Züge in sich, die es zu einer erstaunlichen Tatsache werden lassen, daß er in unserem Jahrhundert mehr und mehr ins öffentliche Bewußtsein einzugehen beginnt. Ich meine nicht nur die abweisende Sprödigkeit des Hegelschen Denk- und Sprachstiles, die insbesondere die von ihm selbst veröffentlichten Bücher mehr oder minder versiegelt hält. Hegels Weltruhm, der in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zu glanzvoller Entfaltung kam, beruhte weit mehr als auf seinen Druckschriften auf seiner Wirkung als Lehrer. Seine Berliner Vorlesungen, an denen nicht nur Studenten, sondern erlesene Persönlichkeiten des öffentlichen und staatlichen Lebens als Zuhörer teilnahmen, hatten eine gewaltige Ausstrahlung, auch wenn sie ohne jeden äußeren Glanz waren, und als diese Vorlesungen durch die Pietät der Freunde und Schüler in der Gesamtausgabe seiner Werke im Druck erschienen, durchbrach sein Denken den engeren Kreis seiner bisherigen Wirkung. Das geschah aber in einer Zeit, in der sich zugleich der Widerstand gegen die Art Philosophie, die sich in Hegel verkörpert hatte, sammelte und im Zeichen der siegreichen Erfahrungswissenschaften der Natur und der Geschichte eine wahre Verketzerung Hegels heraufführte. Das berühmte Wort von Marx ist ja allbekannt, in dem er sich dagegen wehrt, daß man diesen großen Denker wie einen toten Hund behandle. Aber bis zum heutigen
Zur Einführung
XI
Tage kann man wohl auf keinen großen Denker der Weltgeschichte mit soviel Recht das Dichterwort an wenden: „Von der Parteien Haß und Gunst verwirrt, schwankt sein Charakterbild in der Geschichte." So war es gewiß ein großes und selber umstrittenes Unterfangen, den Denker Georg Friedrich Hegel, den Sohn des schwäbischen Landes und den Berliner Professor im Zeitalter der Metternichschen Restauration, als eine lebendige Kraft vorzustellen, die unser gegenwärtiges Denken und seine Aufgaben mitbestimmt. Das war das Ziel des Stuttgarter Jubiläumskongresses. Es waren sehr andere Bedingungen als diejenigen, unter denen im Jahre 1871 die erste Jahrhundertfeier von Hegels Geburtstag stattfand. Sie fiel damals in die Zeit des deutsch-französischen Krieges und der nationalstaatlichen Geburtswehen des deutschen Reiches Bismarckscher Prägung. Obendrein waren, wie es bei einem hundertsten Geburtstag zu sein pflegt, die Träger seines Gedenkens und die Rühmer seines Wertes jüngere Zeitgenossen des Gefeierten selber, in diesem Falle seine Schüler. Ihnen konnte es nicht verborgen sein, daß die technisch-wissenschaftliche Gesinnung des späten 19. Jahrhunderts Hegel und seiner Philosophie feindlich gesinnt war und daß sie die große Gestalt ihres eigenen Lehrers mit einem sehr veränderten Zeitgeist zu vermitteln hatten. Dagegen war im Jahre 1970, zur Feier des 200. Geburtstages Hegels, die Lage recht anders. Zwar, eine umstrittene Figur des Gedankens war auch der Hegel des 20. Jahrhunderts. Wenngleich niemand die Bedeutung und die Wirkungskraft der Hegelschen Philosophie mehr verkennen konnte — die Wiedererweckung seiner Philosophie mußte gegen mannigfache Widerstände erfolgen. Da war in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts die Reserve, der Hegel selbst im idealistischen Lager begegnete. Es war gerade die Abkehr von Hegel gewesen, die unter der Parole „zurück zu Kant" die neukantianische Schulbildung geformt hatte. So bedeutete es einen Durchbruch durch das Schulverdikt des Neukantianismus, als Wilhelm Windelband im Jahre 1910 in seiner Heidelberger Akademierede die Wiederbelebung des Hegelianismus verkündete — als Sprecher für eine jüngere Generation, die damals in Heidelberg durch Namen wie Emil Lask, Paul Hensel, Julius Ebbinghaus, Richard Kroner, Ernst Hoffmann, Ernst Bloch, Eugen Herrigel, Fjodor Stepun und Georg von Lukäcs repräsentiert war. In den zwanziger Jahren führte dies Wiederaufleben Hegels, das auch den Marburger Neukantianismus, insbesondere Ernst Cassirer und Nicolai Hartmann, ergriffen hatte, bereits zu einem internationalen Zusammenschluß der Hegelfreunde aus vielen Ländern, in denen Hegeltraditionen lebendig geblieben waren, und
XII
HANS-GEORG GADAMER
nadi der schrecklichen Unterbrechung der dreißiger und vierziger Jahre lebte das Hegel-Interesse überall wieder auf. Gewiß war Hegel niemals und wurde audi jetzt nicht ein selbstverständlidier Bezugspimkt philosophischen Denkens in der Art, wie das von der Kantischen Philosophie gilt. Aber die Aufgabe, die uns bei der Durchführung des Jubiläumskongresses von 1970 gestellt war, den lebendigen Anteil Hegels am Denken der Gegenwart sichtbar zu machen, profilierte sich auf die natürlichste Weise. Daß wir uns nicht auf die Philosophie der Gegenwart und ihre besondere Beziehung zu Hegel zu beschränken hatten, ergab sich aus dem Anlaß auf zwingende Weise: Worauf es ankam, war nicht so sehr, das beständige, spannungsvolle Verhältnis zu Hegel, das die deutsche philosophische Tradition bestimmt, dem öffentlichen Bewußtsein zu vermitteln, als vielmehr die negativen oder positiven Vorurteile gegen und für Hegel, die dieses öffentliche Bewußtsein mehr oder weniger bewußt besetzt halten, in die Wiederbegegnung mit dem authentischen Denken Hegels zu nötigen. So zeichneten sich — nicht durch ein vorgefaßtes Programm, sondern durch die Vorgegebenheit der lebendigen Interessen — die großen Komplexe ab, denen die Diskussionen des Kongresses zugeordnet wurden: die Naturwissenschaften, die christliche Theologie, die Aesthetik, die politische Philosophie und die marxistische Theorie. Daß die Verhandlungen des Kongresses mit den Naturwissenschaften und der Theologie begannen, hieß, den Stier bei den Hörnern packen. Denn nirgends sind die Vorurteile gegen Hegel so mächtig, wie in diesen beiden Hinsichten. Daß es unserer Zeit, in der die Spezialisierung der Wissenschaften auch dem Philosophen nur noch eine sehr begrenzte Teilnahme am Leben der wissenschaftlichen Forschung gestattet, schlecht ansteht, sich über die idealistische Naturphilosophie wegen der in ihr verarbeiteten, inzwischen überholten Forschungsergebnisse von damals erhaben zu dünken, wurde ebenso deutlich, wie die Unwiederholbarkeit des damaligen Versuchs, die fortschreitende Forschung zu einer einheitlichen Dogmatik zusammenzufassen. In dem zweiten Kolloquium ging es abermals um eine umstrittene Thematik: wie weit der Hegelsche Versuch, die christlichen Wahrheiten auf den philosophischen Begriff zu bringen, mit dem Inhalt des Christentums und dem Anspruch der christlichen Offenbarung vereinbar ist — und wie weit es dennoch imvermeidlich bleibt, in die Rechenschaftsgabe der Theologie den Anspruch des philosophischen Begriffs einzulassen.
Zur Einführung
XIII
Das dritte Kolloquium war Hegels Aesthetik gewidmet — und gewiß mußte dabei eine der provozierendsten Thesen Hegels den zentralen Gegenstand bilden: seine Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst. Daß die Diskussion dieser These mit der beständigen Gegenwart der Künste — im heutigen Schaffen wie im gebildeten Genießen der älteren Werke — konfrontiert war, lag auf der Hand. Doch zeichnete sich in dieser Diskussion gerade auch ein über den Bildungsstandpunkt hinausdrängendes Moment ab, das den Begriff des Schönen in älteste Zusammenhänge der „schönen Sittlichkeit" der antiken Welt zurückbezog und damit seine politische Dimension aktualisierte. Daß der Schöpfer der berühmten Rechtsphilosophie Rechtshistoriker und Philosophen in gleicher Weise zur Auseinandersetzung reizte, war zu erwarten. Steht doch die Rechtsphilosophie Hegels im besonderen Lichte der von Karl Marx geübten Kritik. Insofern leitete das 4. Kolloquium, das Hegels politische Philosophie behandelte und, wie es sich versteht, mit Hegels Stellung zur Französischen Revolution aufs engste verknüpft war, unmittelbar zu dem 5. Kolloquium über, das der marxistischen Theorie gewidmet war. Hier fehlt bedauerlicherweise in unserer Dokumentation der auf Grund von Stichworten frei gehaltene Vortrag von Herbert Marcuse. Er enthielt eine gesellschaftskritische und gesellschaftspolitische Diagnose unserer Zeit und hatte mehr auf Karl Marx als auf Hegel kritischen Bezug genommen. Dafür konnten wir in imseren Band den Beitrag von Cesare Luporini aufnehmen, der leider nicht vorgetragen wurde, weil der Verfasser nicht anwesend sein konnte. Er steht nun, auf gründliche Dokumentation gestützt, am Anfang des 5. Kolloquiums, dem sich zwei weitere kritische Beiträge zum Verhältnis von Hegel und Marx anschließen. Der von George Kline enthält zugleich eine kritische Stellungnahme zu Thesen des Vortrags von Herbert Marcuse. Die Kolloquien fanden ihren Abschluß in einer lebhaften Diskussion über den Neukantianismus, diesen Ausgangspunkt der Wiederbelebung des Hegelianismus, der für die jüngere Generation der heute lebenden Philosophen ebensosehr ein neu zu entdeckender Gegenstand ist, wie er für die Älteren ihren eigenen abgesunkenen — und wer weiß wie wirksamen — Hintergrund bildet. Insbesondere die Beziehimgen zwischen der sich neukantianisch interpretierenden Phänomenologie und Hegels „Phänomenologie des Geistes" traten dabei ans Licht. — Es hätte im Spektrum der heuti-
XIV
HANS-GEORG GADAMER
gen Hegelpositionen und Oppositionen etwas Wesentliches gefehlt, wenn sidi nicht in einem 7. Kolloquium die Philosophie der Wissenschaft zu Worte gemeldet hätte. Nicht als ob diese Disziplin des gegenwärtigen Philosophierens eine wirkliche Beziehung zum Hegelschen Denken unterhielte. Aber insbesondere in der Form des logischen Konstruktivismus, wie ihn Lorenzen in Erlangen entwickelt hat, ist eine ähnlich umfassende Aufgabe in Angriff genommen, wie sie Fichtes und insbesondere Hegels systematischer Ableitung alles Wissens zugrunde lag. So mußte der systematische Aufbau einer Orthosprache es in allen Feldern mit dem des Hegelschen Idealismus aufnehmen — und mit den Einwendungen, denen ein solcher umfassender Anspruch sich aussetzt. Leider ist von diesem Kapitel eines Anti-Hegel nichts zur Drucklegung vorgelegt worden. Wie die Publikation ausweist, wurden im allgemeinen die Diskussionen innerhalb dieser Themenkreise, die sich spontan entfalteten, durch vorbereitete Stellungnahmen eröffnet, und so findet der Leser in diesem Bande zwar kein treues Abbild der in Stuttgart gepflogenen Verhandlungen, wohl aber eine Art Ausmessung der Spannweite möglicher Positionen und Beziehungen zu Hegel, von der überzeugten Identifikation bis zur radikalen Ablehnung, von der wohlabgewogenen Würdigung bis zur stürmischen Parteinahme, vom Wort des Ältesten bis zum Wort des Jüngsten. Der Band wird eingeleitet durch den Abdruck der öffentlichen Vorträge, die vor einem größeren Publikum stattfanden und von besonderer atmosphärischer Bedeutung für die eigentliche Kongreß-Arbeit waren. Noch einmal dürfen wir der besonnenen und entschlossenen Stimme Karl Löwiths lauschen, der seinen eigenen Abstand zu Hegel wie zu Heidegger markierte, indem er zugleich das Maß von Größe setzte, das beide Denker verbindet. Er ist inzwischen von uns gegangen — uns allen so gegenwärtig, wie er damals war. Dieter Henrich stellte neben den jungen Hegel den jungen Hölderlin als einen ebenbürtigen, ja, in überraschender Weise führenden Partner in dem philosophischen Gespräch, aus dem sich die imperiale Gestalt der Hegelschen Philosophie zu sich selbst bestimmen sollte. Hans Mayer präsentierte die Spiegelungen, die Hegels berühmte Dialektik von Herr und Knecht in drei dichterischen Gestalten der modernen Literatur gefunden hat. Endlich berichtete Otto Pöggeler, der als Leiter des Hegel-Archivs in Bochum und als Mitherausgeber der Hegel-Studien dazu besonders berufen ist, über den Stand der Hegelforschung und die Aufgaben, denen sich dieselbe gegenübersieht.
Zur Einführung
XV
Wie diese öffentlidien Vorträge sich der besonderen Fürsorge der Stadt Stuttgart erfreuen kormten, gilt dies auch für die überraschend reiche Stuttgarter Hegel-Ausstellung. Sie war der Sachkunde und Tatkraft Friedhelm Nicolins zu verdanken, der zu der Ausstellung als einem Beitrag und Anstoß biographischer Forschung das Wort nimmt. Zum Schluß sei allen gedankt, die sich um das Zustandekommen der Stuttgarter Hegeltage 1970 und ihre Dokumentation Verdienste erworben haben: In erster Linie allen Mitwirkenden, deren Namen man in diesem Bande findet. Dann aber den Veranstaltern, insbesondere der Stadt Stuttgart, die großzügige Gastfreundschaft gewährte, und deren Vertretern, insbesondere dem Herrn Oberbürgermeister Dr. Klett und dem Leiter des Kulturamtes Dr. Schumann, die uns bei unserer Aufgabe mit Rat und Tat unterstützt haben. Unser Dank gilt ferner der Bundesregierung und der Landesregierung, die ebenfalls für die Durchführung des Kongresses wie für die Drucklegung dieses Bandes Hilfe geleistet haben. Für die sorgfältige Drucküberwachung durch Dr. Konrad Gramer sei besonders gedankt. Ich schließe mit einem Wort dankbaren Erinnerns an den Ehrenpräsidenten der Vereinigung, Richard Kroner, der seinerzeit den ersten internationalen Hegel-Bund am Ende der zwanziger Jahre ins Leben gerufen und die ersten Kongresse desselben eröffnet hat. Er feierte am 4. März 1974 seinen neunzigsten Geburtstag. Möge er, wenn ihm dieser Band zu Gesicht kommt, ihn ein wenig auch als den seinigen erkennen.
VORTRÄGE
KARL
LÖWITH
(HEIDELBERG)
PHILOSOPHISCHE WELTGESCHICHTE?
I Hegels Philosophie ist, ihrer eigensten Absicht nach, ein „System", d. h. ein sich selber tragendes Ganzes, worin jeder Teil auf jeden anderen verweist und Teil eines Ganzen ist. Man kann daher weder seine Philosophie der Natur von der des Geistes isolieren, noch seine Lehre vom objektiven Geist, der das politische, soziale und sittliche Leben umfaßt, von dessen Bezug auf den subjektiven und absoluten Geist abtrennen. Das ursprüngliche und eigentümliche Fundament des Hegelschen Systems ist die Produktivität des Geistes. Dieser ist aber seinerseits nur, was er ist, indem er sich seiner selbst bewußt wird oder sich weiß. Als ein tätiger und sich in der Welt entwickelnder Geist hat er eine Geschichte, er ist weltgeschichtlich. Weil er sich aber denkt und weiß, ist er zugleich philosophiegeschichtlich bestimmt. Die Geschichte des philosophischen Denkens und Wissens ist für Hegel „das Innerste der Weltgeschichte" — ähnlich wie bei Heidegger das Verständnis des Wortes „Sein" den Gang des Weltgeschehens bestimmen soll. Die Geschichte der Welt und die Geschichte der Philosophie sind in Hegels System nicht zu trennen, und beide beziehen sich auf das, was er — zum ersten Mal in der Abhandlung über das Naturrecht — den „Weltgeist" nennt. Weil aber die Geschichte der Philosophie das Innerste der Weltgeschichte ist, konnte er die neue Aufgabe der spekulativen Philosophie weltgeschichtlich an Napoleon orientieren. Er beschloß im September 1806 seine Jenaer Vorlesung: „Wir stehen in einer wichtigen Zeitepoche, einer Gärung, wo der Geist einen Ruck getan, über seine vorige Gestalt hinausgekommen ist und eine neue gewinnt. Die ganze Masse der bisherigen Vorstellungen, Begriffe, die Bande der Welt, sind aufgelöst und fallen wie ein Traumbild in sich zusammen. Es bereitet sich ein neuer Hervorgang des Geistes. Die Philosophie hat vornehmlich seine Erscheinung zu begrüßen und ihn anzuerkennen, während Andere, ihm ohnmächtig widerstehend, am Vergangenen kleben und die Meisten bewußtlos die Masse seines Erscheinens aus-
4
KARL LöWITH
machen. Die Philosophie aber hat, ihn als das Ewige erkennend, ihm seine Ehre zu erzeigen." ^ Wir fragen: was ist von diesem System, welches unter dem Titel „Geist" beansprucht, das Ganze dessen, „was ist", in seiner sich entwickelnden Wahrheit gesdiichtlich zu begreifen, heute noch lebendig? Angenommen, das lebendig Gebliebene sei das von Hegel inspirierte geschichtliche Denken, wie es sich in den historischen Geisteswissenschaften imter den Titeln „Ideen-", „Problem-" und „Begriffsgeschichte" etabliert, zerstreut und verflüchtigt hat, dann erhebt sich die kritische Frage, ob diese Verbindxmg von Philosophie und Geschichte eine Wahrheit ist oder eine Verirrung, die schon bei den aus Hegels Schule hervorgegangenen Historikern der Philosophie (J. E. Erdmann, E. Zeller, K. Fischer) dazu geführt hat, die Philosophie auf Philosophiegeschichte zu reduzieren. Der Geist als Subjekt und Substanz der Geschichte ist für uns nicht mehr ein ewig gegenwärtiges metaphysisches Fundament, sondern bestenfalls ein Problem. Hegels Gesdüchte des Denkens hat zum Anfang und Ende das absolute, alles Andere und Fremde mit sich vermittelnde Wissen, in bezug auf das jeder Schritt in der Entwicklung des Geistes ein „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit", des Beisichseins im Anderssein ist; das Wissen der historischen Geisteswissenschaften ist ein relatives „Verstehen" und es fehlt ihm jeder Maßstab für eine kritische Beurteilimg des zeitgeschichtlichen imd philosophischen Geschehens. Eine solche Einbeziehung der Geschichte in die Philosophie als solche, die dann nicht nur eine Geschichte hat, sondern geschichtlich ist, ist zwar für uns eine Selbstverständlichkeit geworden; für die klassische griechische Philosophie, aber auch für die der Neuzeit, ist sie bis zu Kant undenkbar gewesen. Kant entwarf zwar eine Philosophie der Geschichte, aber was ihn daran interessierte, war nicht das Geschichtliche, sondern ihre möglichen Vernunftprinzipien, wogegen Hegel in der Französischen Revolution und in Napoleon den vernünftigen Willen des Weltgeistes erblickte. Es wäre für Kant absurd gewesen, seine Sitten- und Rechtslehre so, wie Hegel, in Weltgeschichte ausmünden zu lassen. Und eine kontinuierlich fortschreitende Philosophiegeschichte, d. h. eine Geschichte der Philosophie, die in sich selbst philosophisch ist und keine bloß historische Einleitung zu der in Frage stehenden Sache, gibt es überhaupt erst seit Hegel. Aber auch für Hegel war die Verbindung der Philosophie mit ihrer Geschichte und beider mit der Weltgeschichte noch * K. Rosenkranz, Hegels Leben 1844, S. 214.
Philosophische Weltgeschichte
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durchaus ein Problem, weil er den Widerstreit von Philosophie und Geschichte zum Ausgang nahm und nicht, wie wir, ihr Einvernehmen. Die Berufung der Linkshegelianer und auch der meisten heutigen Marxisten auf den bekannten Satz der Vorrede zur Rechtsphilosophie, daß jede Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasse ^ und sie nicht überspringe, wäre mißverstanden, wenn man daraus folgern wollte, daß der Geist einer Philosophie mit dem ihrer Zeit einfach identisch ist. Daß die Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfasse, hat bei Hegel den Sinn, daß es die Aufgabe der Philosophie ist, zu begreifen „was ist", d. h. was wirklich und gegenwärtig ist, und nicht bloß zu postulieren, wie es sein soll — „einem weichen Element, dem sich alles Beliebige einbilden läßt". Was in Wahrheit wirklich und gegenwärtig ist, ist aber nicht alles und jedes, das gerade zufällig jetzt existiert, sondern was immer und wesentlich gegenwärtig ist, nämlich die allgemeine Vernunft der geistigen und natürlichen Welt. Was jedoch „zwischen der Vernunft als selbstbewußtem Geist und der Vernunft als vorhandener Wirklichkeit liegt, was jene Vernunft von dieser scheidet und in ihr nicht die Befriedigung finden läßt", das erklärt Hegel für „die Fessel irgendeines Abstraktums, das nicht zum Begriff befreit ist". Hegels Satz, daß keine Philosophie ihre Zeit überspringe, bedeutet also nicht, daß der Geist selber etwas Endliches und Zeitliches ist, sondern daß sich der an und für sich ewig gegenwärtige, unendliche Geist von Zeit zu Zeit in einer bestimmten geschichtlichen Gestalt konzentriert und manifestiert. Als ein Bewußtsein des Wesentlichen einer Zeit ist aber die Philosophie über ihre Zeit auch schon hinaus und kein bloßer Ausdruck der gesellschaftlich-geschichtlichen Zeitverhältnisse. Denn das Bewußtsein setzt einen Unterschied zwischen dem, was an sich ist, und dem, was von uns gewußt wird, und erst dadurch, daß sich das Wissen von dem, was es weiß, absetzt, treibt es auch neue Gestalten des Geistes in der Geschichte hervor Die Philosophie ist also zwar gleichzeitig und gleichartig mit allen Erscheinungen des Geistes einer Zeit, zugleich ist sie aber als ein sich unterscheidendes Wissen auch über ihre Zeit hinaus und kein bloßer Zeitgeist. Entsprechend diesem Verhältnis von Geist und Zeit ist auch das Verhältnis von Philosophie und Geschichte für Hegel keine fraglose Gleichsetzung. Er fragt vielmehr: wie soll Philosophie, von der man seit jeher erwartet, daß sie um das immer und jederzeit Wahre bemüht ist, verein* Siehe dazu R. Bubner „Philosophie ist ihre Zeit, in Gedanken erfaßt", in: Hermeneutik und Dialektik 1, 1970. » WW (1832) XIII 70, 118; XIV, 276.
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KARL LöVVITH
bar sein mit dem ständigen Wechsel und Wandel, den uns ihre Geschichte zeigt? „Wie kommt es, daß die Philosophie überhaupt eine Geschichte hat?" Blickt man auf die Geschichte der Philosophie bloß historisch, so zeigt sie eine Folge von sich widersprechenden Meinungen, die philosophisch so belanglos sind wie eine Galerie antiquierter Gemälde. Ein philosophischer Standpunkt steht gegen einen anderen, ein Versagen folgt einem anderen, was noch vor dreißig Jahren galt, ist bereits abgetan. Die Geschichte der Philosophie scheint vorzüglich nur der Beweis der Nichtigkeit dieser Wissenschaft zu sein, denn schon allein die Manigfaltigkeit und Verschiedenheit der vielen Philosophien zeigt die Vergeblichkeit des Versuchs, jemals die eine Erkenntnis der Wahrheit zu erreichen. Sie handeln zwar alle von den allgemeinsten und höchsten Dingen: von Gott und der Welt und dem Menschen, aber wer die Geschichte der Philosophie studiert, gerät alsbald ins Gedränge und weiß nicht, an welche der vielen historischen Philosophien er sich halten soll. Die Philosophie beabsichtigt zu erkennen, was wahr ist; ihre Geschichte erzählt nur, was jeweils für wahr gehalten wurde und dann als Irrtum erklärt worden ist. Die Wahrheit über Gott, die Welt und den Menschen kann aber doch nur eine und immer dieselbe sein und nicht in sich widersprechende Wahrheiten auseinanderfallen. Also kann auch nur eine Philosophie die wahre sein Aber welche? Auf diese Frage kann die Geschichte der Philosophie keine Antwort geben, denn historisch gesehen sind alle Philo sophien jeweils gleichberechtigte Ansichten, Auslegungen, Entwürfe. „Ein Zeitalter, das eine solche Menge philosophischer Systeme als eine Vergangenheit hinter sich liegen hat, scheint zu derjenigen Indifferenz kommen zu müssen, welche das Leben erlangt, nachdem es sich in allen Formen versucht hat . . . Die verknöcherte Individualität sucht sich durch die Mannigfaltigkeit dessen, was sie hat, den Schein desjenigen zu verschaffen, was sie nicht ist." ® * Vgl. den Brief Hegels an Hinrichs (Briefe von und an Hegel, Bd. 2 Nr. 357): „Was das andre betrifft, daß die Vorstellung hervorgehe, das Absolute habe sich in meiner Philosophie erst begriffen, so wäre viel darüber zu sagen; das Kurze aber ist, daß, wenn von Philosophie als solcher die Rede ist, nicht von meiner Philosophie die Rede sein kann, daß aber überhaupt jede Philosophie das Begreifen des Absoluten ist — eben damit nicht eines Fremden, und das Begreifen des Absoluten somit allerdings ein Sich-Selbst-Begreifen desselben ist, — wie die Theologie — wie sie freilich mehr Theol(ogie) war als jetzt, — von je dasselbe ausgesprochen hat. Aber Mißverständnisse bei solchen sind freilich hierüber nicht möglich zu verhindern, welche bei solchen Ideen die besondere eigene Person, — ihre eigene und andere — nicht aus dem Kopfe bringen können." ' Differenz des Fichte'schen und Schelling'schen Systems der Philosophie 1962 (Meiner), S. 8.
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Angesichts dieser scheinbar unlösbaren Schwierigkeit, die Philosophie mit ihrer Geschichte ineins zu denken, stellt Hegel die Frage, ob es nicht dennoch einen Gesichtspunkt gebe, in dessen Blickbahn gesehen sich diese Geschichte der Unstimmigkeit und Unvernunft als einstimmig und vernünftig erweisen könnte. Um diesen Gesichtspunkt zu gewinnen, stellt sich Hegel auf einen ganz bestimmten Standpunkt: er setzt voraus, daß es nicht nur in der Welt der Natur, sondern auch, und sogar vorzüglich, in der Welt des Geistes, der wesentlicih Wille und Freiheit ist, vernünftig zugehe. Es ist das, nach Hegels eigenen Worten, der christliche Glaube an eine Vorsehung, wenn auch in anderer, nicht unmittelbar religiöser Gestalt. In der Geschichte — der Weltgeschichte wie der Philosophiegeschichte — herrsche als oberstes Prinzip die Vernunft, ein allgemeiner Geist der Welt, der auch das Wesen des Menschen sei. Diesen vorausgesetzten Glauben an einen alles beherrschenden Weltgeist versuchte Hegel im einzelnen zu erweisen, besonders in der Philosophie der Geschichte und in der Geschichte der Philosophie. Als ein ewig tätiger Geist ist er nicht etwas ein für allemal Feststehendes und Fertiges, sondern immer noch Werdendes, sich Wandelndes und Entwickelndes. Der Geist der Welt ist geschichtlich fortschreitend, von einem noch unentwickelten Anfang zu einem voll entwickelten Ziel, zu seiner Vollendung hin. So gesehen ist aber die Entwicklungsgeschichte des Geistes nicht etwas ihm Äußerliches und der Philosophie Widersprechendes, sondern deren eigenste Entwicklung zu einem sinnvollen Endziel. Zu dieser Entwicklung braucht der Geist Zeit; er hat aber auch Zeit — „tausend Jahre sind vor ihm wie ein Tag" —, weil er selbst ewig ist und zugleich in die Zeit fällt. Der Geist der Welt kommt in dem endlichen Geist des ihn vernehmenden menschlichen Geistes im Laufe der Zeit immer mehr zu sich selbst; er schreitet fort, vom eingewickelten Ansichsein zum ausgefalteten Fürsichsein. Die Geschichte der Philosophie, welche zunächst gegen die Philosophie zu sprechen schien, ist somit selbst philosophisch, vernünftig und geistvoll, so wie andererseits die Philosophie an ihr selber geschichtlich ist. Sie ist dann nicht mehr eine Ausstellung von wechselnden Meinungen und ein Gegenstand für historisch-gelehrte Neugier, sondern „System in Entwicklung", weil die Wahrheit selbst die „Tendenz" habe, sich mit der Zeit zu „entwickeln". Wer dagegen in der Geschichte der vielen Philosophien lücht die Einheit der einen Philosophie sieht, sei wie einer, der vor lauter Bäumen nicht den Wald sieht. In Wahrheit sei aber die Aufeinanderfolge der verschiedenen Systeme der Philosophie dieselbe wie die Folge ihrer logischen Prinzipien und umgekehrt. Um das einzusehen.
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müsse man freilich die Geschichte der Philosophie spekulativ-vernünftig begreifen und in den verschiedenen historischen Gestalten deren geistige Grundbestimmungen erkennen und das Wesentliche vom Unwesentlichen, sowie das innerlich Notwendige vom äußerlich Zufallenden unterscheiden. „Die philosophische Betrachtung hat keine andere Absicht, als das Zufällige zu entfernen. Zufälligkeit ist dasselbe wie äußerliche Notwendigkeit, d. h. eine Notwendigkeit, die auf Ursachen zurückgeht, die selbst nur äußerliche Umstände sind . . . Den Glauben und Gedanken muß man zur Geschichte bringen, daß die Welt des Wollens nicht dem Zufall anheimgegeben ist." Dann, aber auch nur dann, werde aus dem Studium der Geschichte der Philosophie ein Studium der Philosophie selbst, denn recht verstanden sei deren Geschichte die Entwicklung der Wahrheit selbst im Felde ihrer geschichtlichen Erscheinung. Niemand nach Hegel hat noch in einem solchen Vertrauen auf die Vernunft der Geschichte und die Macht des Geistes gedacht. In seiner Heidelberger Einleitung zur Geschichte der Philosophie von 1816 (und dann nochmals in der Berliner Antrittsvorlesung von 1818) heißt es: „Der Mut der Wahrheit, Glauben an die Macht des Geistes, ist die erste Bedingung des philosophischen Studiums; der Mensch soll sich selbst ehren und sich des Höchsten würdig achten. Von der Größe und Macht des Geistes kann er nicht groß genug denken. Das verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft in sich, welche dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte: es muß sich vor ihm auf tun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und ihm zu Genüsse bringen." Drei Voraussetzungen sind für diesen Gedankengang ebenso wesentlich wie fragwürdig: 1) die Voraussetzung, daß ein übermenschlicher, göttlicher Weltgeist den Gang der Welt- und Philosophiegeschichte bestimmt; 2) daß das Reich der Natur außer uns dem Reich des Geistes in uns untergeordnet ist; 3) daß die Welt des Wollens einer inneren Notwendigkeit gehorcht und nicht dem Zufall unterworfen ist. 1) Das höchste, alles umfassende Prinzip von Hegels Meta-physik ist nicht die aus sich selber bewegte Physis, sondern der tätige Geist oder die Vernunft und in ontologischer Hinsicht die „Idee", welche in allem, was ist, das eigentliche Wirkende und Wirkliche ist. Dieser Geist ist kein bloß menschlicher Verstand und kein bloßes Bewußtsein. Hegel unterscheidet sich durch ihn von der vorausgegangenen Ontologie des Bewußtseins, die von Descartes' „cogito me cogitare" bis zu Kants transzendentalem „ich denke" und Fichtes absolutem „Ich" reicht, dessen Bewußtsein die Quelle alles Faktischen sein soll. Gegenüber dieser Onto-
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logie sagt er in der Heidelberger Encyclopädie (§ 332), daß sie den Geist als Bewußtsein aufgefaßt habe und darum nur Bestimmungen der Phänomenologie, aber nicht der Philosophie enthalte. Mit dieser Unterscheidung bezeichnet Hegel das Eigentümliche seiner Phänomenologie des Geistes: sie geht zwar aus von der Erfahrung, die das Bewußtsein, zunächst als sinnliche Gewißheit, im Fortgang seiner Geschichte mit sich und seinem Gegenstand macht, aber das, worauf sie ausgeht, ist weder Bewußtsein noch Selbstbewußtsein, sondern die Wahrheit der objektiven Vernunft in den geschichtlichen Gestalten des Geistes. Diese realen Gestalten sind „Gestalten einer Welt", und sie versammeln sich in einem Reich der Geister, das die begriffene Geschichte der Welt ist. Der Geist ist der Geist der Welt, „Weltgeist". Hegel setzt ihn meistens gleich dem absoluten Geist, den er auch Gott nennt, in Erinnerung an das Wort des Johannesevangeliums, welches sagt, daß der christliche Gott Geist ist — eine Gottesdefinition, von der Nietzsche gesagt hat, daß sie kaum wieder gutzumachen sei und den größten Schritt zum Atheismus bedeute.® Der absolute, übermenschliche Weltgeist wird so zur begrifflichen Übersetzung der religiösen Vorstellung von einer göttlichen Vorsehung oder Weltregierung (Enc. § 6; Die Vernunft in der Geschichte 1955 (Meiner) S. 20, 28, 30, 38 f, 46 und der letzte Satz der Vorlesung über die Philosophie der Geschichte). Hegel kann deshalb seine Philosophie der Geschichte als eine Theodizee bezeichnen. Er selbst nannte sich einen Priester des Absoluten, „von Gott dazu verdammt, ein Philosoph zu sein". Wer von uns glaubt aber noch an eine göttliche Weltregierung und ihre Vorsehung durch einen Weltgeist? 2) Diese Welt des universalen, göttlichen Geistes umfaßt zwar formell auch die Welt der Natur, denn auch in ihr gehe es vernünftig und geistvoll zu, weshalb man die Bewegungsgesetze der toten und die Entwicklungsgesetze der lebendigen Natur erforschen könne, aber mit dem wesentlichen Unterschied zur geistigen Welt der Geschichte, daß die Natur das äußerliche „Anderssein der Idee" oder des Geistes ist, während in der Geschichte des Geistes die Entwicklungsstufen innerlich eine aus der anderen folgen. Die Natur ist nicht an und für sich, sondern nur für uns oder an sich geistvoll, denn sie hat für sich selbst kein eigenes Bewußtsein und Selbstbewußtsein. Nach der Schöpfung der Natur tritt der Mensch auf und er bildet den Gegensatz zur natürlichen Welt; er ist das Wesen, das sidi in eine zweite Welt erhebt. „Man hat oft vorstellig gemacht, wie ein Mensch den Morgen anbrechen, das Licht hervortreten und die • Zarathustra IV, Das Eselsfest.
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Sonne in ihrer Majestät empor steigen sehe. Solche Schilderung wird hervorheben das Anstaunen, Vergessen seiner selbst .. . Doch wenn die Sonne einige Zeit heraufgestiegen, wird das Staunen gemäßigt werden, der Blick mehr auf sich die Aufmerksamkeit zu richten genötigt sein; er wird so in seiner eigenen Helle stehen, zum Bewußtsein seiner selbst übergehen, aus der ersten staunenden Untätigkeit der Bewunderung weitergehen zur Tat, zum Bilden aus sich selbst. Und am Abend wird er ein Gebäude vollendet haben, eine innere Sonne, die Sonne seines Bewußtseins, die er durch seine Arbeit hervorgebracht hat; und diese wird er höher schätzen als die äußerliche Sonne und wird in seinem Gebäude sich dies erschaffen haben, zum Geist in dem Verhältnis zu stehen, in dem er zuerst zu der äußerlichen Sonne stand, vielmehr aber in einem freien Verhältnis; denn dieser zweite Gegenstand ist sein eigener Geist. Hierin liegt eigentlich enthalten der Gang der ganzen Weltgeschichte, der große Tag des Geistes, sein Tagewerk, das er in der Weltgeschichte vollbringt." Die Metapher von der inneren Sonne des Selbstbewußtseins, das kraft seiner eigenen Tätigkeit in seiner eigenen Helle steht, ist für Hegels Philosophie des Geistes kennzeichnend: die eigentliche Welt ist ihm nicht die erste Welt der Natur, sondern die vom Menschen hervorgebrachte zweite Welt des Geistes und seiner Geschichte, deren Endzweck es ist, im Menschen zu sich selbst zu kommen ®. Und weil der Geist als das Absolute eine Übersetzung von Gott ist, kann Hegel sagen, daß, wenn einem Naturforscher ein Strohhalm genüge, um das Sein Gottes zu erkennen, jede Vorstellung des Geistes, die zufälligsten Launen und jedes Wort ein besserer Erkenntrdsgrund für Gottes Sein sei als irgendein Naturgegenstand. Noch krasser äußerte er sich einmal in einem Gespräch — und Marx, der mit Hegel dessen Naturverachtung teilte, hat diesen Ausspruch mit Vorliebe zitiert —, daß selbst der verbrecherischste Gedanke erhabener sei als alle Wunder des' Sternenhimmels, weil nur der Die Vernunft in der Geschichte, a.a.O. S. 242. ® Vgl. Vorrede zur Rechtsphilos.: „Von der Natur gibt man zu, daß die Philosophie sie zu erkennen habe, wie sie ist ..., daß sie in sich vernünftig sei und das Wissen diese in ihr gegenwärtige wirkliche Vernunft ... als ihr immanentes Gesetz und Wesen zu erforschen ... habe. Die sittliche Welt dagegen, der Staat, sie, die Vernunft, wie sie sich im Element des Selbstbewußtseins verwirklicht, soll nicht des Glüdcs genießen, daß es Vernunft ist, welche in der Tat in diesem Element sidi zur Kraft und Gewalt gebracht habe, darin behaupte und inwohne. Das geistige Universum soll vielmehr dem Zufall und der Willkür preisgegeben, es soll Gottverlassen sein, so daß nach diesem Atheismus der sittlichen Welt das Wahre sich außer ihr befinde und zugleich, weil doch auch Vernunft darin sein soll, das Wahre nur ein Problema sei."
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denkende Mensch von sich wisse. Die wahre Welte ist also für Hegel nicht die Welt der Natur, sondern die Weltgeschichte des Weltgeistes, die im Unterschied zur Natur nicht durch äußere Zufälligkeiten bestimmt wird, sondern mit innerer Notwendigkeit ein Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit ist. Diese Unterscheidung von zwei verschiedenen Reichen, der Welt der Natur und der des Geistes, hat sich seit Hegel durchgesetzt und bis heute erhalten. Ihre Fragwürdigkeit besteht darin, daß die „Welt" des Geistes eine Metapher ist, vergleichbar der „Welt-des Wollens", „Welt der Sprache", „Welt der Dichtung" usw., wogegen das wirkliche Weltall die eine Welt der Natur ist, die auch den Menschen mit seinem Geist und dessen Geschichte hervorgebracht hat. Es ist nicht anzunehmen, daß dieses Weltall mit seinen Sonnen und Planetensystemen von unseren geschichtlichen Nöten, Entscheidungen und Geschicken die geringste Kenntnis nimmt. Und so wenig, wie wir noch annehmen können, daß die Erde der Mittelpunkt der Welt und die Welt um des Menschen willen da ist, können wir zweihundert Jahre nach Hegel noch annehmen, daß das christlich gewesene Europa das Zentrum der Weltgeschichte und das Christentum die absolute Religion ist, weil nur ihr Gott Mensch geworden ist. Es ist schon beachtenswert, daß Hegels auf Europa zentriertes Denken um 1820 den Gedanken erwog, daß der Weltgeist in kommenden Zeiten nach Rußland und Amerika auswandern könnte. Wer von uns glaubt aber noch an den Vorrang des Bewußtseins und Sichwissens vor dem Sein, das nichts von sich weiß und gerade so in der Natur des Menschen und in seiner Geschichte wirksam ist und sie antreibt? Es ist bemerkenswert, daß zur gleichen Zeit, als Hegel die Philosophie der Weltgeschichte aus dem Prinzip des seiner selbst bewußten Willens und Geistes vortrug, W. v. Humboldt „Betrachtungen über die bewegenden Ursachen der Weltgeschichte" schrieb, welche die Unterscheidung von Natur und Geist in Frage stellen. Denn in Wirklichkeit bediene sich der Geist der Hervorbringungskraft der Natur und habe sie selbst in sich. Der Versuch „der sogenannten philosophischen Geschichten", die Weltbegebenheiten unter einen Gesichtspunkt zu bringen, müsse scheitern und habe die wirkliche Geschichte und den geschichtlichen Sinn beinahe verdrängt. Worauf zu vertrauen ist, sei nicht ein kontinuierlicher Fortschritt der Zivilisation, „der kaum so zu nennen ist", weil sie sich immer selbst ihr Grab gräbt, sondern nur, daß die Zeugungskraft der Natur und die Imaginationskraft unerschöpft bleiben. „Die Schicksale des Menschengeschlechts rollen fort wie die Ströme vom
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Berge dem Meere zufließen . . wie Völker drängen und sich drängen lassen, vernichten und aufgerieben werden." Der hauptsächlichste Fehler der philosophischen Weltgeschichte ist für Humboldt: daß man die Geschlechter der Menschen viel zu sehr als Vernunftwesen betrachte und nicht als Naturprodukte, daß man infolgedessen fast nur auf Kultur und Zivilisation hinsehe und innerhalb dieser eine fortschreitende Vervollkommnung im Sinn habe und die ursprünglichsten Keime und Kräfte, aus denen Geschichte hervorgeht, übersehe. Man könne eine solche Betrachtung der Weltgeschichte die Physik derselben nennen, weil sie die natürlich wirkenden Kräfte aufzeigt, die sich ohne Geist, Wille und Bewußtsein mit den willkürlichen und bewußten Absichten der Menschen verbinden. Die bewegenden Kräfte der Geschichte lassen sich dann dreifach gliedern: 1) die Natur der Dinge, auch des Menschen; 2) die bewußten Absichten der Menschen, und 3) die Fügung des Zufalls, der eine gar nicht zu überschätzende Rolle im Lauf der Geschichte spielt. 3) Wir kommen damit zur dritten Fragwürdigkeit von Hegels weltgeschichtlicher Konzeption. Wie verträgt sich seine Absicht, das Zufällige aus dem Gang und Fortgang des geschichtlichen Geschehens auszuschalten und ihm eine innerlich notwendige, vernünftige Entwicklung zuzusprechen, damit, daß diese Geschehnisse nicht wie natürliche von selbst geschehen, sondern durch die Handlungen von Menschen Zustandekommen, vor allem durch weltgeschichtlich ausgezeichnete Individuen? Menschliche Entsdilüsse, Handlcmgen und Taten entspringen einem Willen, und zum Wollen gehört auch Willkür und damit Zufall; denn wie könnte man abstreiten, daß alles Gewollte auch nicht gewollt oder anders hätte entschieden werden können und daß folglich in der Geschichte alles audi hätte anders kommen können. Wäre dem nicht so, dann hätte Hegel seine Absicht, im Lauf und Verlauf der Geschichte Vernunft und innere Notwendigkeit nachzuweisen, nicht gegen die offenkundige Unvernunft, Willkür und Zufälligkeit rechtfertigen müssen. Was könnte uns aber veranlassen, „den Glauben und Gedanken mitzubringen" und an die Geschichte heranzutragen, „daß die Welt des Wollens nicht dem Zufall anheimgegeben ist"? Kein Gedanke, sondern nur ein ins Philosophische übersetzter Vorsehungsglaube. Ohne ihn ist der Zufall gerade das Element, in dem das alltägliche Leben der Menschen und die Weltgeschichte schwimmt. Für Hegel löst sich das Problem des Zufalls dadurch, daß er bezüglich der Handlungen und Ereignisse zweierlei Arten unterscheidet: wesentliche und unwesentliche, notwendige und zufällige, Kern und Schale, in-
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neren Pulsschlag und oberflächliche Erscheinung. Selbst die Tatsache, daß ganze geschichtliche Welten und ihre Kulturen vernichtet wurden und für immer verschwunden sind, machte ihm keinen entscheidenden Eindruck. Denn der Weltgeist brauche sich um solche „äußerliche Zufälligkeiten" nicht zu kümmern, er verfolge und vollbringe schließlich doch seinen Zweck und über ihm gebe es keine höhere Instanz, auf die sich Recht und Unrecht berufen könnten. „Die Weltgeschichte ist das Weltgericht". Sie hat das allerhöchste Recht, weil es zwischen den Völkern und Staaten keinen allgemeinen Richter gibt, der ihre Konflikte schlichten könnte. „Der höhere Prätor ist allein der allgemeine an und für sich seiende Geist, der Weltgeist." Der absolute Geist, der in der Kunst, Religion und Philosophie erscheint, ist in der Weltgeschichte „die geistige Wirklichkeit in ihrem ganzen Umfang von Innerlichkeit und Äusserlichkeit". Sie greift über die besonderen Volksgeister, Staat und bürgerliche Gesellschaft hinaus. Sie ist aber nicht das bloße Gericht der Macht des allgemeinen Geistes, d. i. die vernunftlose Notwendigkeit eines blinden Schicksals, sondern die notwendige Entwicklung der Momente der Vernunft, die Auslegung und Verwirklichung des allgemeinen Geistes, der als ein je besonderer Volksgeist immer nur einmal herrscht und Epoche macht. „Gegen dies sein absolutes Recht, Träger der gegenwärtigen Entwicklungsstufe des Weltgeistes zu sein, sind die Geister der anderen Völker rechtlos und wie die, deren Epoche vorbei ist, zählen sie nicht mehr in der Weltgeschichte", auch wenn sich solche Völker und Staaten vielleicht noch eine Zeitlang fortschleppen und nach Zufall herumschlagen — gar nicht zu reden von den Schicksalen der einzelnen Individuen. Diese großartige Gleichgültigkeit gegenüber den besonderen Zwecken der einzelnen Menschen, die die Geschichte erleiden, ist die Kehrseite von Hegels Blick auf die welthistorischen Individuen, die durch ihre Person hindurch „das Substanzielle" verwirklichen, nicht weil sie es selber wissen und wollen, sondern weil sie es als Agenten des Weltgeistes wollen müssen, indem sie mit einer fast tierischen Leidenschaft ihre partikulären Ziele verfolgen. Cäsar ond Napoleon wußten nicht und konnten nicht wissen, was sie taten, als sie ihre Herrschaft befestigten, aber gerade so erfüllten sie in der Geschichte Europas einen welthistorischen Zweck. Und als Hegel 1806 in Jena Napoleon einziehen sah, schrieb er; „Den Kaiser, diese Weltseele, sah ich durch die Stadt zum Rekognoszieren hinausreiten; es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einen Punkt konzentriert, auf einem Pferde sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht". Dieser Satz erinnert an einen anderen, den uns Rosenkranz
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überliefert hat: „Bist du aber wach, so sieht du alles und sagst zu allem, was es ist: Dieses aber ist die Vernunft und das Beherrschen der Welt". Ein solcher Satz enthält den ganzen Hegel, und auch seine Affinität zu Napoleon, wogegen er die Französische Revolution zwar in seiner Jugend als einen herrlichen Sonnenaufgang begrüßt hat, weil sich in ihr der Mensch zum ersten Mal „auf den Kopf" gestellt habe, in reiferen Jahren aber ihren Terror verwarf und in Napoleon ihren legitimen Erben sah. Aber auch noch nach Napoleons Sturz hielt er daran fest, daß der weltgeschichtliche Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit auf Napoleons Seite blieb und die Reaktion dagegen nur eitles Getue war. „Die allgemeineren Weltbegebenheiten . . . veranlassen mich meist zu allgemeineren Betrachtungen, die mir das Einzelne und Nähere ... im Gedanken weiter wegrücken. Ich halte mich daran, daß der Weltgeist der Zeit das Kommandowort, zu avancieren, gegeben; solchem Kommando wird pariert; dies Wesen schreitet wie eine . .. festgeschlossene Phalanx unwiderstehlich und mit so unmerklicher Bewegung, als die Sonne schreitet, vorwärts, durch dick und dünn; unzählbare leichte Truppen gegen und für dasselbe flankieren drum herum, die meisten wissen gar nicht, um v/as es sich handelt . . . Alles verweilerische Geflunker . . . gilt nichts dagegen; es kann diesem Koloß etwa bis an die Schuhriemen reichen und bißchen Schuhwichse oder Kot daran schmieren, aber vermag dieselben nicht zu lösen .. . Die Reaktion . .. habe ich erwartet; sie will ihr Recht haben; la verite en la repoussant, on l'embrasse . .., ihr Wollen reduziert sich, ob sie gleich das Gegenteil meint, hauptsächlich auf das Interesse der Eitelkeit, dem, was geschehen und wogegen sie den größten Haß zu haben meint, ihr Siegel aufzudrücken, um darauf zu lesen: das haben wir gemacht; die Sache bleibt dieselbe . . ." ® Daß auch die „großen" Ereignisse und Männer der Geschichte dem Zufall preisgegeben sind, kam Hegel nicht in den Sinn, weil ihn als einen Philosophen der Geschichte nur das interessierte, was einen Namen und weitreichende Folgen hat, aber nicht, was namenlos und folgenlos ist. Wie schon jede pragmatische Geschichtsschreibung ist auch die Geschichtsphilosophie, ob sie es weiß und will oder nicht, Erfolgsgeschichte, und der Erfolg spricht immer für sich selbst. Der Gedanke ist aber nicht abzuweisen, daß alles auch ganz anders hätte erfolgen können, als es faktisch geschah. Napoleon hätte schon als erster Konsul ermordet oder in einer Schlacht tödlich verwundet werden können; er hätte auch noch bei Waterloo siegen können, wenn ein bestimmter General mit seinen * Brief an Niethammer vom 5. Juli 1816.
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Truppen rechtzeitig eingetroffen wäre. Hitler hätte schon im ersten Weltkrieg umkommen können und niemand wüßte von ihm; er hätte aber auch Herr über Europa werden können und niemand würde dann von einer „unbewältigten Vergangenheit" sprechen. Dasselbe gilt für das private Leben des Einzelnen. Der Zufall läßt es beginnen und dann zu dem werden, was es ist. Man macht zufällig diese oder jene Bekanntschaft, begegnet dieser oder jener Frau, ergreift diesen oder jenen Beruf, der einen dann sozial bestimmt; man lernt zufällig dieses oder jenes Buch kennen, durch das man für immer geprägt wird, und erwirbt durch die Umstände diese oder jene Vorurteile und Überzeugungen. Man kann ohne Übertreibung sagen: das ganze individuelle Leben besteht aus Zufällen, die wir uns aneignen und dann Schicksal nennen. Man kann daher aus der Geschichte alles und nichts lernen, weil sie von allem Möglichen Beispiele gibt. Sie lehrt uns aber in keiner Weise, was morgen oder in 10 oder 100 Jahren geschehen wird. Es spricht für Hegels historischen Sinn, daß er trotz seiner Philosophie der Geschichte sagen konnte: „Man verweist Regenten, Staatsmänner, Völker vornehmlich an die Belehrung durch die Erfahrung der Geschichte. Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dies, daß Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben .. Mit all dem ist nichts gegen die Historie im ursprünglichen und wörtlichen Sinn gesagt, sofern sie nur berichtet, was sich zu einer bestimmten Zeit ereignet hat, und daraus die vernünftige Folgerung von Thukydides zieht, daß sich dasselbe oder Ähnliches in künftigen Zeiten wieder ereignen werde, weil sich die menschliche Natur nicht wesentlich ändere. Was sich ständig ändert und den Grundzug der Geschichte ausmacht, ist der unvorhersehbare Wechsel in den Herrschaftsverhältnissen. Tacitus ist deshalb in seinen Annalen der römischen Kaiserzeit zu dem Ergebnis gekommen: „Je mehr ich mir die Begebenheiten alter und neuer Zeit hin und her überlege, desto mehr zeigt sich mir in allen Verhandlungen und Geschehnissen das Blendwerk und die Unzuverlässigkeit aller menschlichen Dinge." Auch Hegel mißachtete keineswegs die Historie ohne Philosophie. In der Einleitung zu seiner Vorlesung über die Philosophie der Weltgeschichte hat er seine „philosophische Weltgeschichte" abgegrenzt gegen die naive oder ursprüngliche Historie, als deren Repräsentanten er Herodots Geschichten der Perserkriege, Thukydides' Bericht vom Peloponnesischen Krieg, Polybios' Darstellung von Roms AufAnnalen III, 18; vgl. Polybios, hist. XXIX, 21.
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stieg zur Weltherrschaft und Casars Schilderung des Kriegs in Gallien nennt. Auch die Florentinischen Geschichten von Madhiavelli und die Histoire de mon temps von Friedrich II., sie alle haben, diesseits der Frage nach Ziel und Sinn der Weltgeschichte, unlängst vorübergegangene Geschehnisse der politischen Geschichte zu einem Ganzen komponiert und durch Bericht dem Gedächtnis künftiger Generationen aufbewahrt. Das Ganze, das sie darstellen, ist ein jeweils begrenzter Erfahrungsbereich und infolge dieser Beschränkung so anschaulich wie lehrreich, weil sie nur berichten, was sie selber als Forschungsreisende, Staatsmänner und Heerführer mit eigenen Augen gesehen und erlebt oder in Erfahrung gebracht haben. „Weim man die substanzielle Geschichte studieren will, so muß man sich in solche ursprünglichen Geschichtsschreiber hineinstudieren und in ihnen verweilen, und man kann nicht lange genug bei ihnen verweilen; hier hat man die Geschichte eines Volkes oder einer Regierung frisch, lebendig, aus erster Hand." Hegel fügt hinzu, man könne beinahe bei solchen Schriftstellern stehen bleiben, wenn man nicht gerade ein gelehrter Historiker werden wolle. Aber weshalb blieb Hegel nicht auf diesem Standpunkt und dessen Gesichtspunkt stehen? Weshalb ging er weiter und weit darüber hinaus? Weil er in dieser ursprünglichen Historie „das Auge der Vernunft" vermißte, dem sich der Gang und Fortgang der Weltgeschichte als ein „vernünftiger Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" zeigt, durch den sich alles Übel der Weltgeschichte, dieser „Schlachtbank", auf der das Glück der Völker und Individuen geopfert wird und die Zeiten des Glücks „leere Blätter" sind, letzten Ende versöhne. Die pragmatische Reflexion der gewöhnlichen Geschichtsbetrachtung könne freilich einen solchen versöhnlichen Endzweck nicht einsehen; sie unterlasse die Frage nach dem Wozu und damit nach dem Sinn, dem inneren, leitenden „Geist der Begebenheiten". Die „erste Kategorie" der Geschichte sei zwar die Veränderung, der unaufhörliche Wechsel, das Auf und Ab von hochkommenden und untergehenden Völkern, Staaten, Kulturen, die eine Weile den Schauplatz der Weltgeschichte beherrschen und dann verschwinden. Und wenn man dieses ungeheure Schauspiel von Taten, Begebenheiten und Zufällen, von Verbrechen und Leiden unvoreingenommen betrachtet und sieht, wie aus etwas scheinbar Unbedeutendem enorme Folgen entstehen und umgekehrt aus einem ungeheuren Aufgebot an Kräften schließlich ein Nichts hervorgeht, dann zeige sich die Geschichte als eine Folge von Unvernunft und Gewalttätigkeit, der sich ebensosehr die guten wie die schlechten Absichten zugesellen. Gerade deshalb entstehe aber notwendig die Frage: wozu, zu welchem Endzweck das alles geschehe. Dieser Gedanke ent-
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stehe „notwendig", nämlich „für uns", weil wir, als europäische Christen, uns nicht wie andere, orientalische Völker damit abfinden wollen, daß es einfach so ist, wie es ist, ohne Zweck und Sinn. „Daß in den Begebenheiten der Völker ein letzter Zweck das Herrschende, daß Vernunft in der Weltgeschichte ist — nicht die Vernunft eines besonderen Subjekts, sondern die göttliche, absolute Vernunft, ist eine Wahrheit, die wir voraussetzen; ihr Beweis ist die Abhandlung der Weltgeschichte selbst." Ohne den christlich-theologischen Hintergrund, den Hegel aus seinen Jahren im Tübinger Stift mitgebracht hatte und der ihn später sagen ließ, das Christentum sei die „Achse der Weltgeschichte", ist ein solcher Satz nicht zu verstehen. Hegels Wissenschaft der Logik ist, wie erstmals Feuerbach gesagt und klargemacht hat, eine „Onto-Theo-Logik". Sie ist der letzte großartige Versuch, „das verlorene Christentum durch die Philosophie wieder herzustellen", durch eine spekulative Identität von Religion und Philosophie, Glaube und Unglaube auf dem Gipfel der Metaphysik. Hegels letzte Vorlesung behandelte die Gottesbeweise und er empfahl sie seinen Hörern zur Ergänzung der Vorlesung über die Wissenschaft der Logik! II Die anfangs gestellte Frage: was ist von Hegels System des sich entwickelnden Geistes noch heute lebendig? betraf vor allem seine Philosophie der Geschichte und überhaupt das geschichtliche Denken. Wir fragen nun: was bedeutet es für uns, daß Hegels System in allen Bereichen der absoluten Formen des Geistes die Geschichte der abendländischen Welt im Begreifen vollendet hat? Hegels postume Aktualität beruht schon längst nicht mehr auf dem Anspruch seines absoluten Systems, der Onto-Theo-Logik, ein Anspruch, den schon seine Schüler und dann R. Haym, und nach ihm Croce und Dilthey, zugunsten der geschichtlichen Denkweise preisgegeben haben. Sie beruht auch nicht auf der von Marx übernommenen scheinbaren Überlegenheit dialektischen Denkens, gegen dessen Wahrheit Trendelenburg, E. v. Hartmann und Croce eine nicht leicht zu nehmende Kritik vorgebracht haben. Sie beruht vielmehr darauf, daß Hegel gerade deshalb noch immer gegenwärtig ist, weil er die gesamte abendländische Tradition verarbeitet, vollendet und mithin beendet hat, so daß die Frage entstehen konnte und mußte: wie soll es nach Hegel überhaupt noch Philosophie oder Metaphysik geben können? Denn die Geschichte des „Begriffs" der Sache war mit der Sache des absoluten Denkens in der Tat mit Hegel zuende gekonunen. Es ist das
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Verdienst des dreiundzwanzigjährigen Marx, daß er sich in seiner Dissertation über zwei antike Materialisten diese entscheidende Frage gestellt hat. Im Unterschied zu den Junghegelianem, die Hegel nur reformieren wollten, gewann Marx aus der Geschichte die Einsicht, daß es um die Philosophie als solche ging. „Die halben Gemüter" — und er meint damit Philosophen wie Rüge — „haben in solchen Zeiten die umgekehrte Ansicht ganzer Feldherrn. Sie glauben, durch Verminderung der Streitkräfte den Schaden wieder hersteilen zu können, durch einen Friedenstraktat mit den realen Bedürfnissen, während Themistokles" — d.i. Marx selber — „als Athen" — d.i. der Philosophie — „Verwüstung drohte, die Athener bewog, es vollends zu verlassen und zur See auf einem anderen Element" — d.i. auf dem Element der politischen und ökonomischen Praxis, die es jetzt als das, „was ist", zu begreifen gilt — „ein neues Athen" — d.i. eine ganz neue Art von Philosophie, die im bisherigen Sinn keine mehr ist — „zu gründen". Auch dürfe man nicht vergessen, daß „die Zeit, die solchen Katastrophen folgt, eine eiserne ist, glücklich wenn Titanenkämpfe sie bezeichnen, bejammernswert wenn sie den nachhinkenden Jahrhunderten großer Kunstepochen gleicht, denn diese beschäftigen sich, in Gips abzudrucken, was aus karrarischem Marmor hervorsprang". Niemand nach Marx hat sich nochmals mit derselben Entschiedenheit die Frage gestellt: wie soll man nach einer total gewordenen Philosophie künftig noch weiter denken können — mit einer einzigen Ausnahme: M. Heidegger! Diese Behauptung muß zunächst befremden, und zwar um so mehr als Heidegger kein ursprüngliches Verhältnis zu Marx hat, sondern nur nachträglich und gelegentlich auf ihn Bezug nimmt. Wenn irgendein Denker des 19. Jahrhunderts für Heidegger nach „Sein und Zeit" eine wesentliche Bedeutung gewann, dann war es nicht Marx, sondern Nietzsche. Aber auch Nietzsches Versuch zur Überwindung des europäischen Nihilismus wird von ihm nicht als ein Neubeginn verstanden, sondern trotz Nietzsches Geschichte von der zur Fabel gewordenen Hinterwelt der Metaphysik in deren Geschichte und ihre Seinsvergessenheit eingeordnet. Ich will versuchen, das Befremdliche der Behauptung, daß nur Heidegger die Frage des jimgen Marx nach dem möglichen Fortgang der Philosophie nach Hegel auf andere Weise wieder aufgenommen hat, zu begründen. Dies verlangt zunächst eine kurze Darstellung von Heideggers Verhältnis zu Hegel. „Die Sache des Denkens" ist für Heidegger das Sein. Das Sein, von dem er spricht, ist aber kein griechisch verstandenes „unerschütterliches" Sein, das am Kosmos erschaut und danun „wohlgerundet" ist.
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sondern ein sich jäh veränderndes Seinsgeschick und als solches geschichtlich, weltgeschichtlich. Es ist deshalb von vornherein zu vermuten, daß Heideggers Denken eine nähere, wenn auch kritische Beziehung zu Hegels weltgeschichtlichem Denken hat als etwa zu dem von Parmenides, dessen Rede vom Sein mit Geschichte überhaupt nichts zu tun hat. Seine früheste Äußerung über Hegel enthält die Habilitationsschrift. Er beendet sie mit einem Hinweis auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit Hegels historischer Weltanschauung des lebendigen Geistes. „Der Geist ist nur zu begreifen, wenn die ganze Fülle seiner Leistungen, d. h. seine Geschichte, in ihm aufgehoben wird, mit welcher stets wachsenden Fülle . . . ein sich fortwährend steigerndes Mittel der lebendigen Begreifung des absoluten Geistes Gottes gegeben ist." Mit diesem Begriff des lebendigen Geistes soll sich ein Einblick eröffnen in die innere Zusammengehörigkeit von Geschichte und Philosophie, Veränderung und absoluter Geltung, Zeit und Ewigkeit. Zehn Jahre später, in „Sein und Zeit", ist von einem „Ewigen" nicht mehr die Rede. Im Gegenteil. Ein Begriff wie Ewigkeit oder Immersein sei auch nur ein Derivat der Zeitlichkeit. Der vorletzte Paragraph von „Sein und Zeit" handelt daher vom Verhältnis von Geist und Zeit bei Hegel, dessen weltgeschichtliches Denken der vulgären Weltzeit verhaftet geblieben sei. Ursprünglicher sei die Zeitigung der Zeit im endlich existierenden Dasein, dessen existenziale Temporalität auch allererst so etwas wie Weltgeschichte möglich mache. Zwar fällt der Geist auch bei Hegel in die Zeit, aber nur, um sich in ihr entfalten zu können; an und für sich ist er nicht zeitlich, sondern ewig, d. h. ständige Präsenz. Die Zeit hat keine Macht über den „Begriff", sondern dieser ist die Macht der Zeit, und die wahre Zeit ist bei Hegel die aristotelisch verstandene Gegenwart als kreisende Ewigkeit. Im Gegensatz zu Hegel sagt Heidegger, der Geist falle nicht erst in die Zeit, sondern existiere als ursprüngliche Zeitigung der Zeitlichkeit. Trotz dieser existenzialen Reduktion der Weltgeschichte bleibt aber auch bei Heidegger die Sorge um das Weltgeschehen als Seinsgeschick bestehen. Fünfzehn Jahre nach „Sein und Zeit", während des zweiten Weltkriegs, entstand die Abhandlung über „Hegels Begriff der Erfahrung", welche die Einleitung zur Phänomenologie des Geistes nach Maßgabe von Heideggers Seinsfrage auslegt. Wir können das Absolute wissen, weil wir schon immer in seinem Lichte stehen. Es gehört zum Wesen des Absoluten, daß es bei uns anwest, aber es kann auch nur bei uns anwesen. Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, 1916, S. 241.
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weil das Menschenwesen selbst zur „Parusie des Absoluten" gehört Gleichzeitig mit der Auslegung Hegels steigert sich Heideggers Bezug auf die weltgeschichtliche Situation zu eschatologischen Voraussichten. Pathetische Worte wie „der Mensch dieses Weltalters", „Weltaugenblick", „Weltgeschick", „Weltnot", „technisch verfertigte Weltnacht" dokumentieren einen absoluten, seinsgeschichtlichen Historizismus. Er übertrifft sogar Hegels geschichtliches Bewußtsein, das in der immergleichen Präsenz des absoluten Geistes noch einen Maßstab hatte, an dem er das Geschehen der Zeit als eine konsequente Folge von einem Ziel her, dem absoluten Wissen, abschätzen konnte. Sowohl Hegel wie Heidegger sprechen von dem, „was ist"; aber für Heidegger ist das, was ist, keine ewige Präsenz eines absoluten Geistes, sondern das, was jetzt und künftig im Sinne eines Seinsgeschicks ist. Heidegger nähert sich insofern Marx, als er die ganze bisherige, von Hegel erinnerte Geschichte der Metaphysik zu einer Vorgeschichte herabsetzt, deren äußerste Konsequenzen noch bevorstehen und einen radikalen Wandel des „bisherigen" Menschen und des „bisherigen" Denkens verlangen. Denn das Geschick des Seins bestehe darin, daß es dem Menschenwesen seit langem einen ursprünglichen Bezug zum Sein verwehre. Das Ausbleiben dieses Bezugs und die Vergessenheit dieses Ausbleibens bestimme von weither das moderne Weltalter. Diese Seinsverlassenheit und Seinsvergessenheit richte sich künftig noch entschiedener in der Vergessenheit ein, und zwar im selben Maße wie der Mensch der Metaphysik als animal rationale oder als homo faber und Arbeitstier nur noch — individuell oder kollektiv — um sich selber kreise. Die Metaphysik ist nach Heideggers Auffassung so wenig zu Ende, daß sie vielmehr erst jetzt ihre unbedingte Herrschaft im Seienden errichtet, nämlich in der „wahrheitslosen Gestalt des Wirklichen" und deren tausendfachen Objekten, die der Mensch als Subjekt vorstellt und herstellt und irrigerweise für echte Dinge hält. Indem die Vergegenständlichung alles Anwesenden durch den sich selber wollenden Willen, der ausschließlich Macht will, zur Herrschaft komme, geschehe als letzte Konsequenz der Metaphysik der Subjektivität eine Verwüstung der Erde, und es sei zu vermuten, daß diese Vollendung der Metaphysik länger dauern werde als ihre ganze bisherige Geschichte. Seinsgeschichtlich gedacht sei dieser Vorgang aber nicht erst eine Folge der modernen Industrie und Technik, sondern des Untergangs der Wahrheit des Seins, der damit beginnt, daß allein das Seiende maßgebend wird für das, was wir Sein und Wirklichsein nennen. “ Holzwege 1950, S. 120, 143, 176.
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Die Metaphysik ist für Heidegger, der zu ihrer Überwindung unterwegs ist, in allen ihren geschichtlichen Gestalten ein einziges, „aber vielleicht auch das notwendige Verhängnis des Abendlandes" und die Voraussetzung seiner planetarischen Herrschaft. Wenn aber Geschichte zum Wort für das „Geschick einer Schickung" wird, der gegenüber es keine höhere Instanz der Beurteilung gibt, dann ist der Historismus so absolut, daß er wie sein Gegenteil aussieht. So kann Heidegger Hegels geschichtlich gedachtes System, das das Gesetz des Denkens zum Gesetz der Geschichte macht, zwar ablehnen und doch zugleich sagen, Hegels Bestimmung der Geschichte als der Entwicklung des Geistes sei so wahr wie die ganze Metaphysik der Subjektivität, die in Hegel ihr absolut gedachtes Wesen zur Sprache bringe. Wenn Sein überhaupt nur in einer je geschichtlichen Prägung ist, wie es ist, und nur im Durchgang durch die Geschichte des abendländischen Denkens erfahrbar wird, dann löst sich die Frage nach der Wahrheit des Gedachten auf in die unterschiedslose Anerkennung der Epochen einer jeweils wahren, weil entbergenden Geschichte. Die Metaphysik, der von Platon bis zu Nietzsche die Wahrheit des Seins versagt blieb, gehört zur Geschichte eines Wahrheitsgeschehens, in der sich Wahrheit gibt und versagt. Der historische Relativismus wird damit, wie schon bei Hegel, der ihn erst möglich machte, indem er Geist und Geschichte zusammendachte und die immer gleiche Wahrheit sich im Lauf der Geschichte „entwickeln" läßt, seinsgeschichtlich absolut gesetzt. Unmittelbar nach dem Krieg (1947) wird dann in der Schrift gegen den Humanismus aus Hegels Vollendung der Metaphysik die Notwendigkeit eines neuen Anfangs begründet. „Insofern das Denken sich in seine Aufgabe bescheidet, gibt es im Augenblick des jetzigen Weltgeschicks dem Menschen eine Weisung in die anfängliche Dimension seines geschichtlichen Aufenthalts . . . Das Denken überwindet die Metaphysik nicht, indem es sie, noch höher hinauf steigend, übersteigt und irgendwohin aufhebt, sondern indem es zurücksteigt in die Nähe des Nächsten. Der Abstieg ist, zumal dort, wo der Mensch sich in die Subjektivität verstiegen hat, schwieriger und gefährlicher als der Aufstieg . . . Das künftige Denken ist nicht mehr Philosophie, weil es ursprünglicher denkt als die Metaphysik, welcher Name das gleiche sagt. Das künftige Denken kann aber auch nicht mehr, wie Hegel verlangte, den Namen der ,Liebe zur Weisheit' ablegen und die Weisheit selbst in der Gestalt des absoluten Wissens geworden sein. Das Denken ist auf dem Abstieg in die Armut seines vorläufigen Wesens. Es sammelt die Sprache in das einfache Sagen." Was aber die geistreiche Sprache der Dialektik betrifft, so sei sie
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eine ,,ecl\te philosophische Verlegenheit". Zehn Jahre später (1958), in dem Vortrag „Hegel und die Griechen", wird Hegels Vollendung der abendländischen Metaphysik als solche anerkannt und mit Rücksicht auf ihre griechischen Anfänge in Frage gestellt. „Aus dem Titel ,Hegel und die Griechen' spricht uns das Ganze der Philosophie in seiner Geschichte an und dies jetzt, in einer Zeit, da der Zerfall der Philosophie offenkundig wird; denn sie waiidert in die Logistik, Psychologie und Soziologie ab. Diese selbständigen Forschungsbezirke sichern sich ihre steigende Geltung und den vielschichtigen Einfluß als Funktionsformen und Erfolgsinstrumente der politisch-wirtschaftlichen, d. h. der in einem wesenhaften Siime technischen Welt. Allein — der von weither bestimmte und unaufhaltsame Zerfall der Philosophie ist nicht schon das Ende des Denkens, eher Anderes, jedoch der öffentlichen Feststeilbarkeit Entzogenes." Mit dieser These und der Feststellung, daß die größten Hegelianer die beiden Antihegelianer Kierkegaard und Marx sind, ist bereits vorweggenommen, was sechs Jahre später in dem Vortrag „Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens" ausgeführt wird. In dem vorausgehenden Vortrag „Zeit und Sein" (1962) wird die Dialektik nicht mehr als eine echte philosophische Verlegenheit bezeichnet, sondern endgültig verabschiedet. Er beginnt und endet mit Fragen, die zwar notgedrungen Aussagen sind, aber gerade keine Aussagesätze sein wollen, sondern nur auf etwas hinzeigen möchten, das sich nicht in Sätzen vortragen läßt. Die Ausgangsfrage ist nach wie vor die von „Sein und Zeit"; Sein werde seit jeher als Anwesenheit oder Gegenwärtigsein verstanden, also in einem Modus der Zeit, und umgekehrt soll doch auch diese sein. Aber weder ist das Sein noch die Zeit wie etwas Seiendes. „Sein ist kein Ding, demnach nichts Zeitliches, wird indes gleichwohl als Anwesenheit durch Zeit bestimmt. Zeit ist kein Ding, demnach nichts Seiendes, bleibt aber in ihrem Vergehen ständig, ohne selber etwas Zeitliches zu sein wie das in der Zeit Seiende. Sein und Zeit bestimmen sich wechselweise, jedoch so, daß jenes — das Sein — weder als Zeitliches, noch dieses — die Zeit — als Seiendes angesprochen werden kann. Dies alles bedenkend treiben wir in widersprechenden Aussagen umher. Für solche Fälle kennt die Philosophie einen Ausweg. Man läßt die Widersprüche stehen, spitzt sie sogar zu und versucht, das Sich-Widersprechende und dadurch Auseinanderfallende in einer umfassenden Einheit zusammenzustellen. Man nennt dieses Verfahren Dialektik. Angenommen, die einander widersprechenden Aussagen über Sein und Zeit ließen sich durch eine überis vVegmarken 1967, S. 255.
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greifende Einheit in die Eintracht setzen, dann wäre dies freilich ein Ausweg, nämlich ein Weg, der vor den Sachen und dem Sachverhalt aus weicht; denn er läßt sich weder auf das Sein als solches, noch auf die Zeit als solche, noch auf das Verhältnis beider ein." Im Vorwort bezeichnet Heidegger seinen Versuch, das Sein ohne Sei' endes zu denken, als befremdlich aber notwendig, weil sonst keine Möglichkeit bestehe, das Sein dessen, „was heute rund um den Erdball ist", eigens in den Blick zu bringen, geschweige denn das Verhältnis des Menschen zu dem, was bislang Sein hieß, hinreichend zu bestimmen. Diesem weltgeschichtlichen Bezug der Frage nach dem Sein auf das, was jetzt in globaler Weise ist, entspricht schon fünfunddreißig Jahre vorher der doppelt hervorgehobene Satz von „Sein und Zeit": es komme darauf an, „augenblicklich" zu sein „für seine Zeit". Heidegger denkt von Anfang an bis heute das Sein in der Tat aus der Zeit und diese aus jenem. Er ist bei aller Unzeitgemäßheit, in dürftiger Zeit, ein durchaus zeitgemäßer Denker. Schließlich nimmt er in dem Vortrag von 1964 über „Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens" seinen zeitund seinsgeschichtlichen Gedanken wieder auf, um aus der weltgeschichtlichen Situation von heute, die er zu einer Seinsgeschichte erhöht, die letzten Konsequenzen für die Möglichkeit und Unmöglichkeit der Philosophie zu ziehen. Zwei Fragen bestimmen den Vortrag: 1) Inwiefern ist die Philosophie im gegenwärtigen Zeitalter in ihr Ende eingegangen? 2) Welche Aufgabe bleibt dem Denken am Ende der Philosophie Vorbehalten? Zur ersten wird folgende Erläuterung gegeben: „Philosophie ist Metaphysik. Diese denkt das Seiende im ganzen — die Welt, den Menschen, Gott — hinsichtlich ... der Zusammengehörigkeit des Seienden im Sein. Die Metaphysik denkt das Seiende ... in der Weise des begründenden Vorstellens. Denn das Sein des Seienden hat sich seit dem Beginn der Philosophie ... als der Grund (arche, Prinzip) gezeigt . . . Der Grund hat . .. den Charakter des Gründens als ontische Verursachung des Wirklichen, als transzendentale Ermöglichung der Gegenständlichkeit der Gegenstände, als dialektische Vermittlung der Bewegung des absoluten Geistes, des historischen Produktionsprozesses, als der wertesetzende Wille zur Macht." Was meint die Rede vom „Ende" der Philosophie? Sie meint kein bloßes Aufhören, sondern die Vollendung der Metaphysik, die jedoch keine höchste Vollkommenheit bedeutet, denn es gibt für Heidegger nicht, wie bei Hegel, eine fortschreitende Entwicklung der Wahrheit von einem unentwickelten Anfang zu einem vollentwickelten Ziel. Zuletzt habe Nietzsche die ganze Geschichte der Metaphysik umgekehrt als eine Verfallsgeschidite des Platonismus, d.i.
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der wahren Welt der Ideen charakterisiert, so daß mit der „wahren" Welt auch die „scheinbare" als eine bloße scheinbare abgeschafft wird. Mit dieser Umkehrung, die schon Marx auf andere Weise vollzogen habe, indem er Hegel vom Kopf auf die Füße stellte, sei die äußerste Möglichkeit der Philosophie erreicht. Mit diesem Ende der Metaphysik sei aber nicht das Denken beendet, vielmehr verlege sich dieses auf die Ausbildung der Wissenschaft. „Die Ausbildung der Wissenschaften ist zugleich ihre Loslösung von der Philosophie und die Einrichtung ihrer Eigenständigkeit. Dieser Vorgang gehört zur Vollendung der Philosophie. Seine Entfaltung ist heute auf allen Gebieten des Seienden im vollen Gang. Es bedarf keiner Prophetie, um zu erkennen, daß die sich einrichtenden Wissenschaften alsbald von der neuen Grundwissenschaft bestimmt und gesteuert werden, die Kybernetik heißt. Diese Wissenschaft entspricht der Bestimmung des Menschen als des handelnd-gesellschaftlichen Wesens. Denn sie ist die Theorie der Steuerung des möglichen Planens und Einrichtens menschlicher Arbeit. Die Kybernetik bildet die Sprache um zu einem Austausch von Nachrichten .. . Die Ausfaltung der Philosophie in die eigenständigen, unter sich jedoch immer entschiedener kommunizierenden Wissenschaften ist die legitime Vollendung der Philosophie . . . Die Kategorien, auf die jede Wissenschaft . . . angewiesen bleibt, versteht sie instrumental als Arbeitshypothesen. Deren Wahrheit wird nicht nur am Effekt gemessen, den ihre Verwendung . . . bewirkt. Die wissenschaftliche Wahrheit wird mit der Effizienz dieser Effekte gleichgesetzt .. . Das Operationale und Modellhafte des vorstellend-rechnenden Denkens gelangt zur Herrschaft . .. Das Ende der Philosophie zeigt sich als der Triumph der steuerbaren Einrichtung einer wissenschaftlich-technischen Welt und der dieser Welt gemäßen Gesellschaftsordnung. Ende der Philosophie heißt: Beginn der im abendländisch-europäischen Denken gegründeten Weltzivilisation." Soviel zu Heideggers Beantwortung der ersten Frage nach dem Ende der Philosophie. Sie ist durchaus einleucJitend, wenn man von der Konstruktion einer angeblichen Kontinuität von der griechischen Metaphysik und Physik bis zur Kybernetik absieht, weil diese erst durch die neuzeitliche, mathematische Physik ermöglicht wurde und nicht schon in der griechischen vorgezeichnet war. Es folgt die zweite Frage, welche Aufgabe dem Denken am Ende der zur Wissenschaft gewordenen Philosophie Vorbehalten bleibt. Ihre Beantwortung ist sehr viel weniger einleuchtend. Denn was soll das für ein Denken sein, welches weder Metaphysik noch Wissenschaft ist? Überzeugend ist nur das Negative: daß dieses Denken des Seins als der „Lichtung" nicht wie das Denken der Metaphysik und
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der Wissenschaft unmittelbar oder mittelbar effizient sein kann und die Welt verändern oder auch nur begreifen könnte. Trotzdem ist Heideggers Überheblichkeit über Metaphysik und Wissenschaft eine nur scheinbare. In Wirklichkeit weiß sich dieses Denken geringer als die großen Philosophen und die großen Entdeckungen der Naturwissenschaft, denn es verzichtet auf jede Wirkung in der durch wissenschaftliche Technik geprägten Öffentlichkeit des Industriezeitalters. Es begnügt sich mit der Erweckung einer Bereitschaft für eine Möglichkeit, deren Kommen ungewiß und deren Aufriß dunkel bleibe. Gleich ungewiß bleibe, ob die Weltzivilisation bald jäh zerstört werde oder ob sie sich in einer langen Dauer verfestige. „Die Sache selbst", um die es Heidegger geht, ist nicht mehr die von Hegel, sondern das, was allem Sichwissenden, Erhellten, Aufgeklärten, überhaupt Gelichteten zuvorgehe: die Lichtung des Seins selbst, die allererst Wahrheit als Unverborgenheit möglich mache. Das wesentliche Denken an die Lichtung des Seins verwinde die Metaphysik und müsse an den Wissenschaften vom wirklich Seienden vorbei gehen. In der vorausgesetzten radikalen Differenz des Seins zu allem Seienden und ihrer Problematik spiegelt sich dieselbe Fragwürdigkeit, welche die Unterscheidung von Historie und wesentlicher Geschichte enthält. Denn wie sollte Sein ohne Seiendes denkbar sein und wesentliche Geschichte ohne historisches Bewußtsein? Weder Hegels spekulativ-vernünftige noch Heideggers seinsgeschichtliche Konstruktion eines „Wesensgangs" des Weltgeschehens können umhin, von den vulgären oder auch spektakulären Ereignissen, die die Historie berichtet und die „auf dem Ladentisch des historischen Vorstellens" ausgestellt sind, einerseits abzusehen und sie andrerseits doch ständig in Gebrauch zu nehmen, um aus den faktischen Ereignissen etwas denkerisch Wesentliches herauszupräparieren Es genügt, Worte wie Europäisch und Abendländisch, Griechisch, Römisch, Christlich, Neuzeitlich auszusprechen oder die zufällig erhaltenen Fragmente der Vorsokratiker kritisch-historisch zu edieren und dann solche Editionen der philosophischen Auslegung zugrundezulegen, um sich im Bereich des historisch Überlieferten zu bewegen. Und wenn Hegel in den Ereignissen der Französischen Revolution den auf sich selbst gestellten Willen der Weltvernunft erkannte und in Napoleon den Weltgeist der Weltgeschichte, oder Heidegger in Hitler und im Nationalsozialismus ein Seinsgeschick des „deutschen Daseins", dann konfundieren sie ein kontingentes Geschehen mit einer „philosophischen Weltgeschich“ Vgl. dazu W. Müller-Lauter, Konsequenzen des Historismus in der Philosophie der Gegenwart, in: Zeitsdir. f. Theologie u. Kirdie 1962, H. 2, S. 248 ff.
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te" bzw. mit einem wesentlichen „Seinsgeschick". Der Zeitgenosse Napoleons dachte seine Vollendung der europäischen Geschichte des Begriffs als die erreichte Fülle eines unentwickelten Anfangs; der Zeitgenosse Hitlers denkt dieselbe Geschichte des abendländischen Geistes als einen sich vollendenden Hervorgang des Nihilismus. Im Prinzip sind Hegels und Heideggers Konstruktionen nicht versdiieden. Beide bewegen sich innerhalb derselben Verstiegenheit eines absoluten Historismus, der als absoluter unhistorisch ist. Aber auch der „historische Materialismus" des Kommunistischen Manifests, dem von der ersten bis zur letzten Zeile eine weltgeschichtliche Konzeption zugrundliegt, teilt mit ihnen den Glauben an die Geschichte als solche. Der erste Satz der deutschen Ideologie lautet: „Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte". Sie ist für Marx die einzige, weil sie die alles umfassende und durchdringende Offenbarung menschlicher Tätigkeit, d. i. produzierender Arbeit ist. Sie ist auch „die wahre Naturgeschichte des Menschen". „Die in der menschlichen Geschichte werdende Natur ist die wirkliche Natur des Menschen." Einen Vorrang der Natur vor der Geschichte des Menschen gibt es nach Marx nur noch „auf einigen australischen Koralleninseln neueren Ursprungs". Was Hegel und Marx interessiert, ist nicht die ursprüngliche Produktivität der lebendigen Natur, die auch den Menschen hervorgebracht hat, sondern der sich selbst produzierende Geist bzw. die weltverändernde Arbeit der Menschengeschichte. Dem „Geisterreich" der Phänomenologie entspricht bei Marx das künftige „Reich der Freiheit" im Kommunismus: „er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreites zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen, die wahre Auflösung des Streites zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbetätigung, zwischen Freiheit und Notwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung." Ihr Rätselhaftes ist aber für Marx die alltägliche und beständige Tatsache, daß sich der Mensch in seinen eigenen Produkten veräußert und fremd wird und nicht — oder nur in seltenen Augenblicken — im Anderssein ganz bei sich selbst ist. Wäre Marx nicht von der Idee besessen gewesen, daß der künftige Mensch audi als Individuum ein soziales Gattungswesen sein werde, welches durch eine rein „menschliche", und nicht bloß politische, Emanzipation den Widerspruch von Selbstsein und Gemeinwesen abschaffen werde dann hätte er einsehen müssen, daß der Unterschied von einem MEGA I, S. 599.
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selbst und allem anderen keine kleinbürgerliche Marotte von Stirner war, sondern ein wesentlicher und unaufhebbarer ist. Die vulgären Geschichten des historischen Vorstellens sind von der sublim gedachten Geschichte des Weltgeistes und des Seins nicht zu trennen, wenn sich die Philosophie überhaupt auf die Geschichten der Geschichte einläßt — ein singuläres Substantiv, das schon als solches irreführend ist. Aber wie sollte man sich an den ständig wechselnden Geschichten und ihrem Auf und Ab von grandeur und misere denkend orientieren können? Die historisch faßbaren Ereignisse lassen sich so wenig mit einer undatierbaren Geschichtlichkeit des Geistes oder des Seins zur Deckung bringen wie die verschiedenen und entgegengesetzten Einschätzungen, Ausdeutungen und Beurteilungen, die ihnen schon die Zeitgenossen und hernach die Historiker zusprechen. Dasselbe Mißverhältnis wie das von Geschichtsphilosophie und Historie macht sich im Verhältnis von Metaphysik und Physik oder Wissenschaft geltend. Zwar kann keine philosophische Besinnung auf das Ganze des Seienden den fortschreitenden Ergebnissen der positiven Wissenschaften nachlaufen, ohne sich selber aufzugeben; sie kann aber ebensowenig an den Wissenschaften „Vorbeigehen" und sich auf das metaphysische Reich des Weltgeistes und seiner Volksgeister oder auf das Ereignis der Lichtung des Seins zurückziehen. Trotzdem glaube ich, daß Heideggers Versuch, den Fortgang des bisherigen Denkens durch einen Sprung zurück umzukehren, um diesseits von Wissenschaft und Metaphysik neu zu beginnen und die griechischen Anfänge der Philosophie „anfänglicher" als Hegel zu denken, ein so groß angelegter, einmaliger und radikal gedachter Versuch ist, daß ihm Hegel den Hegelpreis zuerkennen müßte. Er würde es aber nicht. Denn wer eine zweieinhalbtausendjährige Geschichte vollendet, kann nicht selber anerkennen, daß er eben damit für seine Nachfolger ein Ende setzt, das einen neuen Anfang fordert. Man kann einen solchen Versuch, wie den von Heidegger, der nicht auf der „Landstraße der Vernunft" geht, sondern auf Feldwegen und Holzwegen unterwegs ist, reaktionär nennen; aber Vokabeln wie progressiv und reaktionär sind einander ebenbürtig und gleichweit entfernt von einer Besinnung darauf, wie und ob Philosophie im überlieferten Sinn überhaupt noch möglich ist.
DIETER HENRICH
(HEIDELBERG)
HEGEL UND HÖLDERLIN
I Die Freundschaft Hegels mit Hölderlin endete im Schweigen. Im ganzen Werk Hegels ist Hölderlins Name nicht einmal genannt. Auch wo Briefe an ihn erinnern, ist Hegels Antwort stets karg. Die Zeit ihrer Gemeinsamkeit, in der das ,Ideal des Jünglingsalters' in Kraft stand, war dem Hegel, der die Idee zum System als Wissenschaft entfaltete, ebenso entrückt wie der im Wahnsinn verstummte Hölderlin selber. Gäbe es nicht Forschung, — wir wüßten nichts von dem, was sie verband. In besonderen Situationen konnte freilich das verschüttete Gedächtnis Hegels zu erstaunlicher Klarheit aufleben. Er konnte dann von der Vergangenheit mit Hölderlin so erzählen, daß die, die an ihr Anteil hatten, sich ganz in sie zurückversetzt fanden, — kaum anders als so, wie später Proust den vollendeteren Wiederaufgang der verlorenen Zeit beschrieben hat. ^ In der Erwartung einer neuen Gemeinsamkeit mit Hölderlin hatte Hegel einst das einzige Gedicht von Belang, das er schrieb, dem Freunde gewidmet. In Ungeduld zum nahen Wiedersehen pries er in ihm die Treue ihres alten Bundes. ^ Und er versicherte, daß er seiner Leitung und Führung bedürfe, — so wie Hölderlin umgekehrt ihn als den Mentor seines zu oft verstörten Lebens begrüßen wollte.® Dem folgte wirklich eine Zeit im größeren Kreis weiterer Freunde, die viel später noch zu’ Vgl. den Eintrag im Tagebuch der Prinzessin Marianne von Preußen in: Werner Kirchner, Hölderlin, Aufsätze zu seiner Homburger Zeit, 1967, Seite 120/1. 2 Im Gedicht Eleusis, abgedruckt u. a. in Hegel, Briefe, Band I, 1952, S. 38. Im Folgenden werden nur ausdrüddiche Zitate und einige wichtige, weniger bekannte Stellen durch Zitate ausgewiesen. Da im übrigen ständig auf Schriften Hegels und Hölderlins aus der Frankfurter Zeit Bezug genommen wird, ist auf Belege verzichtet worden. ä Hegels Versicherung ist indirekt aus Hölderlins Antwort zu entnehmen, vgl. WW VI, 1, S. 222.
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DIETER HENRICH
mindest einem von ihnen ein 3und der Geister' in der ,gemeinsamen Ansicht der Wahrheit' war.^ Für Hegel aber ist dieser Bund zerfallen, — im rapiden Wechsel der historischen Szene der Epoche, der das Leben der Freunde mit sich und in disparate Richtungen zog, mit dem Eintritt in den prosaischen Lehralltag der Jenaer Universität, mit der Ausbildung der Überzeugung, daß die moderne Welt sich selbst in der großen mythischen Dichtung nicht wiederfinden könne, für die Hölderlin lebte, sicher auch aus dem Schrecken über die vom Wahnsinn entstellte Erscheinung des Dichters, die ehedem Engeln und Göttern verglichen worden war. So breitete sich das Schweigen aus, verstärkt vom Bewußtsein der Welt Metternichs, die sich der Folge von Aufbrüchen und Krisen, der sie ihre eigene prekäre Ruhe schließlich abgewonnen hatte, zwar stets aber ebenso ungern erinnerte; verstärkt auch von Hegels Selbstdarstellung, derzufolge sein System aus denen, die ihm vorangingen, mit der Notwendigkeit logischer Konsequenz folgte. Wer die eigene Arbeit als die Quintessenz des von Kant, gar des von Parmenides begonnenen Denkens sieht, mag leicht die Lebenssituationen von sich abscheiden, aus denen er zu dem wurde, als der er sich nun versteht. Die unendliche Macht des Begriffs bringt seine Wahrheit aus beliebigen, somit gleichgültigen Bedingungen des besonderen Individuums hervor, das ihn zuerst in seiner vollen Bestimmtheit ausspricht, — so ist gut Hegelisch ein philosophischer Grund für das Vergessen zu formulieren. Doch seit langem ist klar, daß wir den Weg von Kant zu Hegel nicht nach dem Modell eines Aufgangs vorstellen dürfen, in dem Stufe auf Stufe zur höheren Einsicht führt. Und es ist auch längst an der Zeit, prägnanter darzulegen, inwiefern die Entwürfe einer Philosophie, die gegen die 18. Jahrhundertwende hervortraten, nur als ebenso viele Anstrengungen zu verstehen sind, auf eine singuläre Situation von Problemen Antwort zu geben, — daß sie sich also zu Unrecht gegenseitig für historisch überboten oder gar für Exkremente der Finsternis diagnostisch abgetan haben, — in unbefangener Anwendung der noch neuen Mittel der Geschichtsphilosophie auf ihre Erfinder. Im Zuge dieser Revision zeichnet sich ein Bild von Hegels Denken ab, das den Bund der Geister mit Hölderlin nicht einer belanglosen Vorgeschichte überlassen kann. Aber die Konturen des Bildes sind bisher unbestimmt geblieben. Hier soll nun versucht werden, sie schärfer nachzuzeichnen und Strukturen des Gedankens in einer Begegnung abzuheben, die vor allem ‘ Hegel, Briefe I, S. 322.
Hegel und Hölderlin
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deshalb bewegt, weil sie in Hölderlins Gratwanderung zur vollendetsten Dichtung und zum Absturz in dämmernde Einsamkeit einbezogen ist. Hegel verdankte seinem Freund mehr, als dieser ihm jemals danken konnte; und zwar in zweierlei durchaus verschiedenem Sinn: Er verdankte ihm zunächst den wesentlichsten Anstoß beim Übergang zu seinem eigenen, von Kant und Fichte schon im ersten Schritt abgelösten Denken. Seit der Frankfurter Begegnung blieb Hegel auf einem kontinuierlichen Weg der Entfaltung, auf den er ohne Hölderlins vorausgehendes Nachdenken nicht gefunden hätte. Daraus ist nicht zu folgern, daß Hegel eine Einsicht, die Hölderlin zukommt, lediglich zum System artikuliert habe. Im geraden Gegenteil dazu soll zweitens gezeigt werden, daß Hegel bald erkarmte, er müsse Hölderlins Einsicht ganz anders explizieren als dieser selbst es vermochte, so daß erst der Anstoß durch Hölderin mit dem Abstoß von ihm zusammengenommen Hegels frühen Weg zum System bestimmt haben. Zwar ist die Meinung allgemein, der reife Hegel habe stets, was ihm eigentümlich ist, in kritischer Beziehung auf Schelling ausgesprochen. In Grenzen kann das auch gar nicht bestritten werden, zumal Schellings Wirkung eine öffentliche Macht geworden war, der Hegel entgegenzutreten hatte. Dennoch ist es nicht nur Rücksicht auf den jüngeren Freund, die ihn Schellings Namen zunächst nicht nennen läßt: Hegel mußte in Schellings Identitätsphilosophie eine Denkfigur wiederfinden, die ihm in Hölderlin schon früher begegnet war und die tiefer auf ihn gewirkt hatte als Schellings Denken in der Jenaer Zeit der Ausarbeitung des Systems. In Beziehung auf sie, noch im Kreis der Frankfurter Freunde, hatte er gelernt, sein Eigenstes auszusprechen. Wir haben Grund, die Programmformeln von Hegels Denken, die heute in jedermanns Munde sind, so zu betonen, daß sie Hölderlins Einsicht gleichermaßen entsprechen und entgegentreten. Zu nichts weniger aber müssen wir auch imstande sein, um an beider Lebens- und Ideenentwurf, die aus je besonderem Grund unvergeßlich geworden sind, die Frage nach Recht und Wahrheit überhaupt richten zu können. Seit kurzem sind wir der Gewißheit nahegekommen, daß Hölderlin in der Nachfolge von Kants Freiheitslehre der erste war, der Kants These bestritt, der höchste Punkt, von dem die Philosophie auszugehen habe, sei die Einheit des Bewußtseins vom Ich als Subjekt des Denkens. Daß der, der sich ganz als Dichter sah und der sein ,spekulatives Pro und Contra' ® aus seinem Dienst für die Poesie rechtfertigte, in die Weltgeschichte der Philosophie eingreifen konnte, scheint unglaublich. Um so 5 WW VI, 1, S. 183.
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dringlicher ist es herauszufinden, wie es dennodr möglidi gewesen ist. Damit sei begonnen. Nicht immer kann sidi das Bewußtsein einer Zeit in der philosophischen Theorie, die in ihr vorherrscht, vollständig formulieren. So entstehen Nebenströme des Gedankens, die lange unbeachtet bleiben, bis sie Gelegenheit finden, den Hauptstrom zu erreichen. Sie ändern dann oft seine Verlaufsform und seine Richtung. Ein solcher Nebenstrom zu Empirismus und Metaphysik des 18. Jahrhunderts war die aus platonischen Quellen fließende Vereinigungsphilosophie. In ihr hatte Hölderlin schon das Problem seines Lebens formuliert, ehe er noch Fichtes Denken begegnete. Und sie gab ihm die Kraft, dessen Ideen umzuordnen und mit ihrer Hilfe, in der neuen Gestalt, die er ihnen gab, Hegel auf seinen Weg zu bringen. Thema der Vereinigungsphilosophie ist des Menschen höchstes Verlangen, das seine Befriedigung weder im Verbrauch von Gütern noch im Genuß von Macht und Anerkennung anderer findet. Shaftesbury hatte es — in neuplatonischer Tradition — auf die Anschauung des Schönen bezogen, das am meisten in der Kraft des Geistes zu finden ist, aus der die schönen Werke der Kunst hervorgehen. ® Durch den Gedanken, daß der Geist der eigentliche Ort von Schönheit sei, auf die höchstes Verlangen geht, hielt er sich in der Nähe der Grundüberzeugungen neuerer Philosophie. Aber bald trat ihnen Franz Hemsterhuis schroffer entgegen. Er meinte, das Verlangen sei nicht zu fassen als enthusiastische Verehrung höchster Schöpferkraft. Da es uns dazu treibt, alle Vollkommenheit zu gewinnen, muß es auch alle Einzelheit und Beschränkung überfliegen. Es befriedigt sich immer nur dann, wenn die Grenzen fallen, die den Verlangenden von dem trennen, wonach er verlangt. Vereinigungstrieb ist also Trieb zur Verschmelzung und kann nicht Liebe eines Höchsten sein, nur Hingabe an das Endliche außer uns. Hemsterhuis hat Gott nicht mehr als die Macht der Liebe gefaßt, sondern nur noch als die Kraft, welche einer Welt, in der alles zum Ganzen strebt, das unbegreifliche Schicksal der Vereinzelung auf erlegt.^ Daß solche Preisgabe nicht der Sinn von Liebe sein könne, hat dann Herder in seinem einflußreichen Aufsatz über ,Liebe und Selbstheit' gezeigt. Die Grenzen der Liebe, die Hemsterhuis in unserem vereinzelten Dasein gefunden hatte, dürfen nicht aufgehoben werden, wenn mit ihnen ® vor allem The Moralists III, 2. ’’ Sur le desir, letzte Absätze.
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nicht auch der Genuß der Liebe, somit sie selber verschwinden soll. Geschöpfe müssen „geben und nehmen, leiden und tun, an sich ziehen und sanft aus sich mitteilen" — dies ist „der wahre Pulsschlag des Lebens". Herder schließt sich Aristoteles an, wenn er sagt, daß Freundschaft, die im Bezug auf einen gemeinsamen Zweck ihre Erfüllung findet, die auch die Selbständigkeit der Freunde immer sucht und wahrt, in alle Liebe eingehen müsse. „Freundschaft und Liebe sind nie möglich als zwischen gegenseitigen freien, konsonen, aber nicht unisonen, geschweige identifizierten Wesen." Durch den Widerstreit zwischen Hemsterhuis und Herder war der Vereinigungsphilosophie ihr neuestes, auch ihr spezifisch neuzeitliches Problem gegeben, von dem Hölderlins selbständige Anfänge bestimmt waren, — im Dichten ebenso wie im Philosophieren. Mit Herders Aristotelismus war nämlich die Erfahrung der Hingabe nicht zu deuten, die Hemsterhuis als Wesen des Verlangens genommen und eindrücklich dargestellt hatte. Gegen ihn hatte aber Herder wieder davon überzeugt, daß in einem Verlangen, das Preisgabe will, die Liebe selber vergeht und zudem die andere Erfahrung modernen Lebens und neuerer Philosophie, das unveräußerliche Recht des freigesetzten Subjekts, ihre Legitimation verliert. Es schien sogar nötig, Her.ders Gründe gegen Hemsterhuis noch zu verstärken, der ,Selbstheit' höheren Anspruch zuzugestehen und zugleich Hemsterhuis' Hingabe gegen Herders aristotelische Einrede festzuhalten. Viel später, in den ästhetischen Vorlesungen, erinnerte sich Hegel noch dieser Aufgabe, wenn er die Mutterliebe, als romantisches Kunstsujet, so erläutert: „Sie ist eine Liebe ohne Verlangen, aber nicht Freundschaft, denn Freundschaft, wenn sie auch noch gemütreich ist, fordert doch einen Gehalt, eine wesentliche Sache als einen zusammenschließenden Zweck. Die Mutterliebe dagegen hat ohne alle Gleichheit des Zwecks und der Interessen einen unmittelbaren Halt . . ." ® Den ersten Versuch zur Vermittlung von Liebe und Selbstheit machte der junge Schiller in der ,Theosophie des Julius'. Er beschrieb ihn selbst als Unternehmen, zu einem „reineren Begriff der Liebe" zu gelangen.® Anders als Hemsterhuis deutete er Liebe als ein Sichausdehnen des endlichen Selbst, das nach aller Vollkommenheit strebt, über die ganze Welt. Es ist der ewige innere Hang, in das Nebengeschöpf überzugehen oder dasselbe in sich hineinzuschlingen, was wir mit ,Liebe' meinen. Man versteht sie also falsch, wenn man sie als Bereitschaft zur Hingabe ® Vorlesungen über die Ästhetik, ed. Glöckner II, S. 152. ® Vgl. Brief an Reinwald vom 14. 4. 1783.
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deutet. Sie ist ein Akt, der auf die Ausdehnung des Selbst geht, wenngleidi er dessen Grenzen gegen den Anderen niederreißt. Man sieht leicht, daß Schillers Interpretation, welche die Selbstheit wahren will, ohne die Erfahrung der Hingabe zu leugnen, dies nur deshalb tun kann, weil sie den Sinn der Hingabe in sein Gegenteil verkehrt: Vom Krieg aller gegen alle unterscheidet sich Liebe nur noch durch das Wenige, daß sie Aneignung von je schon Eigenem, also nicht Überwältigung von Fremdem und Macht über bloße Mittel ist. Es ist ein verzweifeltes Unterfangen, dem Gegensatz zwischen Liebe und Selbst zu entgehen, indem man die pure Identität beider behauptet. Wohl aber hat Schiller mit zu schwachem Instrument zuerst versucht, was sich auch noch als das Programm von Hegels spekulativer Logik formulieren läßt: Die Beziehung auf sich muß so gedacht werden, daß sie zugleich den Gedanken einer Beziehung auf anderes einschließt, — und umgekehrt. Man kann diese Aufgabe aber auch so formulieren, daß sie Hölderlins frühes Lebensproblem ausspricht: Beide, Liebe und Selbstheit müssen zusammengedacht, aus ihrem Gegensatz herausgeholt werden, der heillos zu sein scheint, — und zwar durch einen Gedanken, der keines von beiden dementiert und seines eigentlichen Sinnes beraubt, indem er es zu einem bloßen Element im anderen macht. Der Roman von Hyperion, begleitet von philosophischer Reflexion, sollte diese Aufgabe entfalten und lösen. Aus Anlage und früher Erfahrung seines Lebens war Hölderlin wie kein anderer imstande, die Gegensätzlichkeit in den doch gleichermaßen legitimen Tendenzen zu kennen, die durch die Wörter Liebe und Selbstheit bezeichnet sind. Empfindlich für Leben und Schönheit der Natur, seinen Verwandten stets anvertraut, war er bereit und bedürftig, schutzlos sich hingebend dem offen zu sein, was ihm begegnete. Früh lernte er aber auch im strikten Erziehungssystem seiner Schulen, daß sich nur der immer bewahren kann, der es vermag, sich ganz auf sich selber zu stellen und, wie er sagte, ein Unendliches in sich zu finden. Beides, so sehr es auch das jeweils andere ausschließt, gehört doch zueinander und macht erst ein ganzes Leben aus. Man sieht es daran, daß wir in beiden Lebenstendenzen uns frei fühlen und daß auch jedes Gewaltsystem versucht, die eine wie die andere unter seine Kontrolle zu zwingen. Doch ist es nicht leicht, sie in Freiheit zusammenzubringen, — auch nur das Eine zu denken, was sie zusammengehören läßt. Was nämlich Herder in die spaimungslose Übereinstimmung der Freundschaft einbringen wollte, steht doch miteinander in Konflikt: Das Aussein aufs Unbedingte und die Hingabe ans Vereinzelte, besondere Dasein, — Selbstsein und Liebe.
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Im Blick auf den Gegensatz der beiden erhält das Prinzip der Vereinigungsphilosophie bei Hölderlin eine ganz neue Funktion: Nicht mehr werden Mensch und schöne Geisteskraft, oder Person und Person miteinander verbunden, sondern Lebenstendenzen, deren eine selbst schon Einigung ist. Liebe wird damit zu einem Metaprinzip der Vereinigung von Gegensätzen im Menschen. Das sehnsüchtige Verlangen nach dem Unendlichen, die grenzenlose Bereitschaft zur Hingabe, vorzüglich aber der Trieb, die Einheit zwischen diesen Gegensätzlichen zu gewinnen und zu offenbaren, dies alles wird nun vom einen Wort ,Liebe' benannt. In den Grabspruch des Ignaz von Loyola ,Vom Größten unbezwungen, vom Kleinsten befangen' hat Hölderlin die Aufgabe eines solchen Menschenlebens hineingelesen, das sich in der Vereinigung seiner entgegengesetzten Lebenstendenzen vollendet. Er ist das Motto des Hyperion geworden. Ihre Integration kann nicht konfliktlos geschehen. Deshalb ist sie auch nur denkbar als das Resultat eines Weges des Lebens in der Zeit. So verwandelt sich ihm Liebe zu einer Kraft, die nicht in einem Zustand, sondern nur in Bewegung durch Gegensätze zu denken ist. Sie wird zu einem Prinzip von Geschichte. Der Konflikt ihrer Gegensätze läßt manchen versuchen, dem Gegensatz und der Aufgabe der Vereinigung zu entkommen oder sich die Anstrengung zu ihr zu ermäßigen. So ist der geschichtliche Weg des Menschen auch von vielerlei Irrungen bedroht. Hölderliri wendete deshalb auf ihn die Metapher einer Bahn ohne Mittelpunkt und klare Zielstrebigkeit an, — einer exzentrischen Bahn. Des weiteren fand er, daß die Vereinigung des Lebens zum Ganzen nicht nur das Ziel der Liebe ist, sondern auch die eigentlichste Bedeutung von Schönheit. Dabei ist klar von Beginn, daß sie die Spannung der Vielfalt und auch des Gegensatzes in sich einschließt. In welchem Sinne sie es vermag, das allerdings wußte Hölderlin zunächst nicht zu sagen. II Hölderlins frühe philosophische Entwürfe sind ebenso viele Ansätze über den Gedanken vom Doppelwesen des Menschen, seinem vom Widerstrebenden beirrten Weg und von der möglichen schönen Auflösung des Konflikts in Begriffen Rechenschaft zu geben. Es ist bekannt, daß er dies zunächst mit Hilfe von Schillers späterer Philosophie aus dessen Zeit seiner Schülerschaft zu Kant versuchte. Der Schiller dieser Periode war Hölderlin vorangegangen, als er die Einheit des Menschen dem Gegensatz
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von Pflichtgesetz und Geneigtheit des Willens abgewinnen wollte. Auch er kennt schon ,Liebe' als ein Metaprinzip der Vereinigung von Kräften des Lebens. Anders als in der frühen Theosophie ist sie nicht mehr begriffen als über jedem Gegensatz, sondern als seine Versöhnung, so daß sie reicher bestimmt erscheint: Schiller beschreibt sie — in Kantischer Sprache und doch in paradoxer Aufhebung Kantischer Unterscheidungen — als die Neigung, in der, nach Vollendung ihrer unendlichen Aufgabe, Vernunft sich frei ihrem Antagonisten, der Sinnlichkeit, zuwendet, um in ihr, überrascht und erfreut, den Widerschein ihrer zu gewahren und mit dem Spiegelbild ihrer selbst zu spielen.^® Wir können leicht sehen, warum Hölderlin von Schillers paradoxer Lösung unbefriedigt blieb: Was die Liebe vereinigt, verdient doch gleichfalls ihren Namen: Das Verlangen nach dem Unbedingten und die hingebende Neigung, sei es zum Kleinsten oder sei es zum Gleichen. So muß man verstehen, wie die Liebe nicht nur Gegensätze überbrückt, sondern in ihnen auch schon am Werke ist. Die Lebenstendenzen müssen trotz ihres Gegensatzes, sofern sie wahrhaft sollen vereinigt werden können, aus gleichem Ursprung begriffen werden. Hölderlin sah früh ein, daß er um dieses Zieles willen nicht, wie Schiller es wollte, Kantianer bleiben konnte. Kant hatte das Eigentümliche seines Denkens in den grundsätzlichen Unterschied zweier Strebensweisen des Menschen gesetzt. Er fand keinen Sinn darin, ihre Vereinigung zu erwägen. Schiller widersprach ihm darin, doch ohne eine gründende Einigkeit dem Gegensatz vorauszudenken, der zu vereinigen war. Das wäre auch im Rahmen von Kants Theorie notwendig mißlungen, die alles Erkennen auf Formen der Subjektivität einschränkt und ihren Ursprung dem Dunkel des Unbestimmbaren, nicht nur des Unerkennbaren überläßt. So sehr Hölderlin auch wußte, daß diese Restriktion um der Freiheit willen erfolgt war, und so sehr er sich Antrieb und Anspruch von Kants Denken bis in die Wahnsinnszeit verpflichtet wußte, — er mußte doch ,über die Kantische Grenzlinie' hinaus. Hilfe dazu bot ihm für kurze Zeit Platon, der Gründer der Tradition der Vereinigungsphilosophie. Er hatte gelehrt, daß die Liebe zum Schönen dieser Welt verstanden sein will aus einem höheren Verlangen, das über die Welt hinaus in den Grund aller Harmonie und in den Ursprung geht, aus dem wir kommen. Doppelaspekt wie einiger Grund des Verlangens Über die Paradoxien, die sich aus Schillers Gebrauch der Terminologie Kants im Gegenzug zu dessen Intentionen ergeben: Henrich, Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik, Zeitsdir. für philos. Forschung XI, 4, 1958. 11 WW VI, 1, S. 137.
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schienen damit gleich gut gewahrt zu sein. Gleichwohl ergänzt Platons Lehre den Mangel von Schillers Versuch nur, indem sie dessen Vorzüge preiszugeben zwingt: Hatte Schiller den Gegensatz der Strebensrichtungen überbrückt, ohne ihren Einheitsgrund nennen zu können, so fand Hölderlin in Platon zwar den Einheitsgrund genannt, den Gegensatz aber überspielt. Denn Platon deutet die Freude am Schönen in der Erscheinung gar nicht als Hingabe, — nur als den ersten Flügelschlag einer neubefiederten Seele hinaus in den überhimmlischen Ort.^^ Und so blieb Hölderlin weiterhin ohne begriffliche Lösung seines Lebensproblems. Diese Situation veränderte sich vollständig und auf Dauer in den wenigen Monaten der Begegnung mit Fichtes Wissenschaftslehre. Hölderlin nahm sie auf und verwandelte sie nahezu instantan zu einer Antwort auf seine eigene Grundfrage. Mit ihr trat er dann Hegel entgegen, der ihr nichts ebenso Schwerwiegendes an die Seite stellen konnte. Es ist von großer Bedeutung, sich darüber klar zu sein, wie Hölderlin Fichte lesen mußte: Mit Platon war er über die Weisen des Bewußtseins und Strebens hinaus und in ihren transzendenten Grund zurückgegangen. Mit Schiller hatte er das Gegensätzliche in den Strebensrichtungen des Menschen und die Notwendigkeit zu ihrer Vereinigung erfahren. Keiner, weder Platon noch Schiller, konnte aber beides in einem rechtfertigen. Das vermochte nur Fichte. Aus der inzwischen veröffentlichten frühesten Form der Wissenschaftslehre kann man lernen, daß Fichte zu seiner Theorie durch zwei Entdeckungen kam, die einander schnell gefolgt sind: Zunächst hat er gegen Reinholds These eingesehen, daß der Grundakt des Bewußtseins nicht ein Beziehen und Unterscheiden sein kann. Dem voraus muß nämlich ein Entgegensetzen geschehen, das die Möglichkeiten zum Unterscheiden erbringt. Es ist Fichtes höchst folgenreiche These, daß Bewußtsein nur aus dem Gegensatz, nicht schon aus Kants Verbindung von Mannigfaltigem verständlich wird. In einem zweiten Schritt begriff Fichte, daß die Entgegensetzung selbst auch einen Einheitsgrund verlange. Finden konnte er ihn nur in der Unbedingtheit des Selbstbewußtseins, das alles Entgegengesetzte umgreift.^® Phaidros 250 a ff. Fichtes ,Eigene Meditationen über Elementarphilosophie', aus denen sich die Entstehung seiner Wissenschaftslehre vollständig rekonstruieren läßt, sind inzwischen in der Fichte-Ausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (II, 3) erschienen.
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Man muß sich klar machen, daß diese Schritte, zum Gegensatz und zum Einheitsprinzip, genau dieselbe formale Struktur ergeben wie Hölderlins Vereinigungsphilosophie, — trotz der in der Tat fundamentalen Differenz, daß Fichte ,Bewußtsein' und Hölderlin ,Liebe' verstehen will. In Hölderlins Aufnahme der Wissenschaftslehre münden somit zwei Sequenzen des Denkens, die seit dem Beginn der Neuzeit getrennt verliefen, ineinander zum einen Problemstand der idealistischen Philosophie: Sie sind durch zwei verwandte Grundworte bezeichnet: Unio und Synthesis, — die Grundworte platonischer Tradition und Kantischen Denkens. Nur so ist auch zu verstehen, wie aus den unbeholfenen frühen Frankfurter Texten Hegels, die den Kantianismus scheinbar ins empfindsame Reden preisgeben, das System hervorging, das dann zur ,Weltphilosophie' seiner Zeit geworden ist. Hölderlin konnte Fichtes Argumente nun aber nur übernehmen, indem er ihre Bedeutung modifizierte. Ist Liebe Vielfalt und Einheit der Strebensrichtungen des Menschen, so kann ihr Grund nicht in seiner Ichheit liegen. Ohnehin ist die Rede vom ,Ich' sinnvoll liur, wenn sie auf Selbstbewußtsein bezogen wird. Das aber ist einzig als Korrelat von Objektbewußtsein zu denken, — somit niemals als der gesuchte Einheitsgrund über allem Gegensatz. Auf diesem Wege kam Hölderlin dazu, Bewußtsein und Ichheit voraus eine Einigkeit anzunehmen, die er mit Spinoza als Sein in allem Dasein, mit Fichte als Grund der Entgegensetzung dachte. Wieso dies Sein durch Teilung Gegensätze produzieren kann, vermochte Hölderlin zunächst nicht zu sagen. Er konnte sich der Frage danach auch entziehen: Die Ureinigkeit ist für ihn wohl höchste Gewißheit, aber nicht Gegenstand einer deskriptiven Erkenntnis. Hölderlin meinte, daß diese Art des Überstiegs über das Bewußtsein nun auch vor seinem Kantischen Gewissen gerechtfertigt sei; — war er doch der Bewußtseinslehre Fichtes abgenötigt worden, die sich ihrerseits als Konsequenz Kants empfohlen hatte. So kormte Hölderlin eine einfache, aber in ihren Möglichkeiten bedeutsame philosophische Theorie erwerben, in der die Situation des Menschen etwa so gedeutet wird: Er geht hervor aus einem einigen Grund, auf den er bezogen bleibt in der Gewißheit von den Voraussetzungen seines Daseins und der Idee von der Möglichkeit neuer Einigkeit. Zugleich ist er gebunden in eine Welt, die ebenso wie er dem Gegensatz entstammt. Um der Einigkeit willen strebt er tätig hinaus über jede ihrer Grenzen. Doch es begegnet ihm in ihr zugleich das Schöne, — eine Antizipation ** So nennt sie Karl Marx im Brief an den Vater vom
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der Einigkeit, die er verloren hat und die er wieder Herstellen soll. Indem er es liebend umfängt, verwirklicht sich ihm in Grenzen, was als ganze Wahrheit in unendlicher Ferne liegt. So wird er mit Recht von ihm befangen. Doch darf er auch nicht vergessen, daß sein tätiges Wesen zum Überstieg über das Endliche aufgerufen ist. Im Widerstreit von Liebe und Selbstheit läuft er, beirrt oder über sich verständigt, seine Bahn. Hölderlin hatte diese Philosophie noch im Jahre 1795 fertig ausgearbeitet. Über sie muß er sich mit Schelling in zwei Gesprächen, über die viel gerätselt worden ist, ausgesprochen haben. Isaak Sinclair, sein Homburger Jünger und Protektor, eignete sie sich an. Noch 1796 schrieb er ausführliche philosophische Raisonnements nieder.^® Aus ihnen kennen wir besser als aus Hölderlins eigenen Texten Gang und Höhenlage seines Denkens. Von diesem Denken mußte sich Hegel im Frühjahr 1797 herausfordern lassen, möglicherweise schon auf dem Wege nach Franfurt, auf dem Hölderlin ihm entgegenkommen wollte. III Hegel erschien in Frankfurt als dezidierter Kantianer. Schon in Tübingen hatte er dazu beitragen wollen, Kantischen Freiheitsgeist durch theologische Aufklärung zu verbreiten. So versuchte er, Einrichtungen einer öffentlichen Religion auszudenken, die — anders als die bestehende — wahre Bürgerreligion sein und die Vernunft und Freiheit fördern statt niederschlagen würde. 1793, kaum in Bern angekommen, erfuhr er von dem Angriff seiner theologischen Lehrer gegen die Kantische Religionsphilosophie. Um ihn abzuwehren, mußte er seinen kritischen Schriften gegen Kirche und traditionelles Christentum eine grundsätzlichere Wendung geben. Die bestand darin, die Kantische Lehre von einer Beziehung auf einen transzendenten Gott ganz abzulösen. Das Bewußtsein der Freiheit war ihm nun absolut, selbstgenügsam und über alle Hoffnung auf Glück und Gunst des Weltlaufes erhoben. In glücklichen Zeiten der Freiheit kann es sich zu einem harmonischen öffentlichen Leben entfalten. Es muß sich aber auch in sich zurückziehen können, die natürliche Existenz des Menschen dem Schicksal seines Lebens und seiner Zeit preisgeben und Diese Raisonnements sind interpretiert in Henrich, Hölderlin über Urteil und Sein, in: Hölderlin-Jahrbuch 1965/6, S. 73 ff. Sie sind inzwischen in einer Dissertation von Haimelore Hegel, Isaak von Sinclair zwischen Fichte, Hölderlin und Hegel, Klostermann, Frankfurt/Main 1971, publiziert worden.
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von ihm sich abhängig wissen, ohne in sich selbst abhängig zu sein. Stoische Tugend und Rousseauische Politie sind also komplementäre Gestalten einer aus der Macht der Freiheit kommenden Humanität. Man sieht leicht, daß in der philosophischen Theorie die Grenzen dieser Ideen eng gezogen sind: Sie ruhen ganz auf Kants Begründung und Limitierung der Erkenntnis. Hegel wußte das. Er sah sich nicht imstande, sah auch keinen zwingenden Grund, mehr zu leisten; — trotz der Berichte, die ihm Schelling über seinen Weg zu Fichte und weiter zu Spinoza gegeben hatte. In Frankfurt aber konnte er sein Tun nicht länger so eingrenzen. Hölderlin rückte ihm vor Augen, daß seine Kantische Begriffswelt ungeeignet war, gemeinsame Erfahrungen und Überzeugungen früherer Jahre festzuhalten, — daß die griechische Politie Vereinigung, nicht nur Verbindung der Freien gewesen sei, daß Freiheit nicht nur als Selbstheit, daß sie ebenso als Hingabe müsse gedacht werden, daß in der Erfahrung des Schönen mehr aufgehe als die Achtung fürs Vernunftgesetz. Dies alles können wir nur aus der abrupten Wandlung von Hegels Position erschließen, die in Frankfurt alsbald geschah. Wir wissen aber, daß die Gespräche zwischen den Freunden sehr intensiv und daß sie Streitgespräche waren. So berichtet der Bruder Hölderlins von einem Besuch in Frankfurt im Frühjahr 1797, daß auch Hegel ihn mit großer Herzlichkeit empfangen habe. Bald aber sei er vergessen gewesen, „als die beiden Kollegen über eine philosophische Frage in heftige Diskussion gerieten".^® Hegel war nicht nur Hölderlins Argumenten ausgesetzt, der ja in einem Kreis von Freunden lebte, die ihm alle in der einen oder anderen Weise folgten. Auch die Gespräche mit ihnen müssen für Hegel Bedeutung gehabt haben, — besonders die mit Sinclair, der sich Hölderlins Ideen ganz zu eigen gemacht und in eigener Terminologie ausgeführt hatte. Von Hegels erster Begegnung mit ihm bei einem Besuch in Homburg besitzen wir einen Bericht in Versen, der einer Reportage recht nahe kommt und den Sinclair viele Jahre später in der Sammlung seiner Gedichte veröffentlicht hat, möglicherweise in der Absicht, Hegel an die Zeit der Gemeinsamkeit zu erinnern.^^ Es ist ein Zufall von extremer Unwahrscheinlichkeit, daß wir bei einer historischen Konstellation in der Philosophie der Vergangenheit so sehr, — beinahe mit eigenen Augen zugegen sein können, wie es uns Sinclairs Reportagegedicht erlaubt. 16 WW VI, 2, S. 833. ,Die Bekanntschaft' in: Gedichte von Crisalin (= Anagramm von Sinclair), Bd. 2, Frankfurt/Main 1812, S. 188 ff. (vgl. H. Hegel, a.a.O. S. 284 ff.).
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Hegel betrat zusammen mit Hölderlin Sinclairs Zimmer, der ungeduldig und ein wenig ängstlich, ob er werde bestehen können, auf den Älteren, Gerühmten wartete. Man sprach von der Reise, kam zu allgemeineren Beobachtungen auf früheren Reisen, zu den sittlichen Verhältnissen der Stämme und Geschichtsepochen, — auch zum Glauben der Väter. Sinclair, der vom Kantianismus Hegels wissen konnte, nutzte die Gelegenheit dieses Themas, um auf die Grundfrage zu kommen, die Hölderlin über den Kantianismus hinaus gebracht hatte: Ob nämlich der Glaube der Völker der letzte Bezugspunkt sei für die Verständigung über ihre Geschichte, oder ob es vielmehr eine Möglichkeit gebe, wissend über den Standpunkt der Subjektivität der Glaubenden und ihrer Freiheit hinauszukommen. Was Sinclair Hegel entgegenhielt, ist nur eine Variation über die Themen von Hölderlins Philosophie: „Und ich stieg mit ihm zur Quelle Wo der Lauf sie noch nicht trübet Wies ihm da des Geistes Einfalt Schwindet sie nicht da die Schranke, Die von Gott den Menschen scheidet? Lebt da Liebe nicht in Wahrheit, Wo die Wesen eint ein Leben? Darf man Glauben es noch nennen. Wo das hellste Wissen strahlet? Sinclair sagt, daß Hegel nicht widersprochen habe. Aber da seine philosophische Überzeugung in Frage gestellt war, stimmte er doch auch nicht zu. Statt dessen legte er Sinclair ein Problem vor, das, Hölderlins Gesichtspunkt einmal als richtig angenommen, gelöst werden muß: Wie es nämlich von jenem Ursprung zur Entwicklung hat kommen können, in der sich die ursprüngliche Wahrheit in Schein verlor, so daß uns nur der Rückweg ins Verlorene offen zu stehen scheint. Sinclair räumte ein, daß wir diesen Anfang nicht verstehen können. Wohl aber sei zu verstehen, daß das ganze Geschlecht der Menschen in einen historischen Lebenszusammenhang gebunden sei, in den auch alle Abweichungen und Fehler einbezogen sind; — Hölderlins exzentrische Lebensbahn als Gang der Geschichte der Menschheit verstanden. Hegel hielt mit neuer Erwiderung zurück und schlug vor, weiterer Arbeit und Erfahrung und neuem Gespräch die Entscheidung zwischen Glauben und Begrenzung auf der einen, Liebe und Gewißheit auf der anderen Seite zu überantworten:
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„Lieber, laß uns hier verweilen In dem Lauf des raschen Streites, Weiser die Entscheidung lassend Selbst der Wahrheit unserer Zukunft. Ob dem Geiste das gebühret. Was du kühn für ihn verlangest. Ob nicht besser ihm Beschränkung, Die zu Höherem ihn weihet." In diesem Gespräch zeichnen sich bedeutsam bereits die Kräfte ab, die Hegel in seinen eigenen Weg trieben, oder, wie angemessener zu sagen ist, ihn in ihm hielten. Doch hatte er auf Hölderlins Spekulation zunächst kaum etwas zu erwidern. Sie bestimmte ihn jedenfalls dazu, vom eigenen Kantianismus kritische Distanz zu nehmen, in den Begriffsraum der Vereinigungsphilosophie einzutreten und ,Liebe' als ,Vereinigung' zum höchsten Gedanken von einem freien Leben zu machen. Zunächst hat er diese Liebe noch Kantisch als eine Art von Verhalten zur Welt, also analog zur Imagination gedacht.^® Aber bald schon ist sie auch ihm zur vereinigenden Macht geworden, die Natur und Freiheit, Subjekt und Objekt so miteinander verbindet, daß jedes von ihnen bleibt was es ist und doch mit dem anderen zu untrennbarer Einheit Zusammentritt. Diese Einheit nennt er nun wie Hölderlin ,Sein'; und er meint damit wie er innige Vereinigung. Daran, daß sie dem Verstände unfaßbar sei, hält er fest. So wahrt er ein Rechtsmoment der Kantischen Glaubenslehre, jedoch so, daß kaum ein Unterschied zu Hölderlins Gewißheit vom Sein sich finden läßt. Aus Hegels Aufnahme von ,Liebe' als Grundwort seines Nachdenkens ging ohne Bruch das System hervor. Das Thema ,Liebe' ist nur aus Gründen, die sich angeben lassen, durch die reichere Struktur des ,Lebens' und später durch die des ,Geistes' ersetzt worden, die noch mehr als ,Leben' impliziert. Dennoch ist es falsch zu sagen, Hegel habe Ideen, die er nicht aus Eigenem nehmen konnte, gleichsam nur ausgebrütet und allgemein gemacht. So läßt sich nur denken, so lange in der Art, in der Hegel Hölderlins Anstoß aufnahm, nicht der charakteristische Unterschied zwischen beiden deutlich gemacht ist, — im Konzept der Theorie, nicht nur in der Bestimmtheit der Personen. Dieser Unterschied liegt durchaus nicht offen zu Tage. Es muß aber gelingen, ihn zu benennen, denn das Werk beider soll ja nicht nur aus Impressionen und impressivem EnthuIm zweiten Teil des Textes, dem Nohl die Überschrift ,Moralität, Liebe, Religion' gab. Theologische Jugendschriften S. 376.
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siasmus, sondern als artikulierte Struktur von Gedanken und Erfahrungen erinnert und erwogen werden. Den Anfang dazu muß die Beobachtung machen, daß Hegel Hölderlins Denken nur verkürzt übernahm. Für Hölderlin war ,Liebe' Vereinigung von Sfrehensrichtungen, deren eine aufs Unendliche, deren andere auf Hingabe ging. Die eine verstand er aus der Beziehung zum Ursprung, die andere aus der Beziehung zu dem, das gleich uns die Einigkeit des Seins verlor. In Hegels Liebesbegriff ist von dieser Doppelung nichts zu finden. ,Liebe' ist geradezu als Vereinigung von Subjekt und Objekt gedacht. In dieser Selbstgenügsamkeit hat sie formaliter einen Charakter Kantischer Autonomie des Willens übernommen: Sie geht auf nichts, was ihr vorausliegt, und sie treibt nicht, etwas hervorzubringen, was sich von der Vereinigungsmacht noch unterscheiden läßt. Sie läßt sich allerdings auch nicht als das ,Alles in Allem' selber denken. Setzt sie doch voraus, daß eine Mannigfaltigkeit von Getrenntem besteht, in Beziehung auf die sie wirksam werden kann. Hegel hat auf diesen Aspekt seiner theoretischen Lage, den Hölderlin durch die Annahme einer Trennung im Sein beachtet hatte, zunächst gar keine Rücksicht genommen. Erst bei der Redaktion seiner Manuskripte über ,Liebe' im Winter 1798/99 ist er mit einfachen Argumenten auf ihn eingegangen, die er in den Text einfügte; Die Liebe muß suchen, sich zu vervielfältigen, um ein möglichst großes Ganzes der Vereinigung herzustellen. So zeigt sich also Hegels Unselbständigkeit gegen Hölderlin darin, daß er eine seiner wichtigsten Absichten beim Überschritt über Kant und Fichte mißkannte. Eigentümlicherweise war aber gerade diese Verkürzung die Bedingung der Möglichkeit von Hegels Entwicklung zum Eigenen. Man kann ganz abstrakt sagen wieso; Hegel mußte auf die Dauer alle die Strukturen, die Hölderlin aus dem ursprünglichen Sein verstand, als Weisen des Bezogenseins derer auffassen, die sich vereinigen. Das Geschehen der Vereinigung selber, nicht ein Grund, aus dem es herzuleiten ist, ist das wahre Absolute, das ,Alles in Allem'. Wir werden sehen, daß Hegel gerade darum zu der Überzeugung kam, es müsse ,Geist' und nicht ,Seyn' genannt werden. Hegel hatte schon in Bern das unabhängige Bewußtsein, das dem Schicksal trotzt, indem es ihm alles Natürliche preisgibt, als den Beweis der Freiheit unter Bedingungen gerühmt, in denen die Gemeinschaft der Freien unerreichbar bleibt. Von ihm ist die schlechte Unendlichkeit eines *• Dem Fragment mit Nohls Titel ,Die Liebe' liegen zwei Fassungen zugrunde. Erst in der zweiten wird das Problem der Herkunft des Mannigfaltigen gestellt.
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Glaubens zu unterscheiden, die sich in solcher Lage zur Unterwerfung unter Mächte und unendliche Objekte bereitfindet. Auch nach dem Anstoß durch Hölderlin konnte und wollte Hegel an diesem Schema festhalten. Es war nun nur nicht mehr der Sinn für Freiheit, sondern für wahre Vereinigung, der uns zwingt, in Weltlagen, die Vereinigung gar nicht zulassen, auf der Unendlichkeit in uns zu beharren. So nahm also Hegel Hölderlins Liebestheorem mit gutem Grund nur verkürzt auf, — nicht aus Ignoranz, sondern weil es allein in dieser Form geeignet war, auch noch seine Berner Einsicht neu zu formulieren. Damit war aber eine Entscheidung gefallen, die Hegels weiteren Gang beherrschte: Der Gegensatz zwischen Unendlichkeit des Selbstseins und Hingabe konnte von ihm nicht mehr als zwei Strebensrichtungen der Liebe verstanden werden, von denen jede auf eine andere Existenzform der Vereinigung geht, auf vollendete unendliche oder auf im Gegenwärtigen mögliche, aber beschränkte Vereinigung. Wenn das Ich aufs Unendliche geht, so hält es damit nur an sich, weil es die Möglichkeit der gegenwärtigen Vereinigung mit seiner Welt nicht sieht. Sehnsucht ist schlechte, ist abstrakte Unendlichkeit, die ihren besseren Ausdruck in der Tapferkeit findet. Für den Fall, daß Hegels Denken zum System reifen sollte, waren damit zwei Probleme vorbereitet, die auch formal behandelt und gelöst werden mußten: Die Relation zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit ist so zu denken, daß sich ihre Relata nicht aus einem Dritten herleiten, sondern nur aus den internen Bedingungen ihres Bezogenseins. Und weiter muß die Mannigfaltigkeit derer, die vereinigt werden, aus dem Wesen der Vereinigung selber einleuchten, — also wiederum nicht aus einem ihr vorausgedachten ersten Beginn und Grundprinzip. Diese zweite Frage ist in Hegels Skepsis gegenüber Sinclair vorweggenommen, mit der er sich danach erkundigte, wie denn, die Ureinheit einmal angenommen, der Prozeß der Teilung und Entwicklung überhaupt zu begreifen sei. IV Noch ein weiterer Gang ist nötig, ehe sich das Profil von Hegels Denken in aller Deutlichkeit von dem Hölderlins abhebt. Es muß auf einige Modifikationen eingegangen werden, die Hölderlins spätere Philosophie von seiner frühen unterscheiden. In der spekulativen Skizze, mit der er Hegel überzeugte, fungierte neben ,Liebe' ,Schönheit' als
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Schlüsselbegriff. Denn die vereinigten Strebensrichtungen des Menschen treten im Schönen zusammen: Göttlich ist es, vom Größten ungezwungen, vom Kleinsten aber befangen zu sein. So sehr es einleuchtet, das Vollendete schön zu nennen und in ihm die strenge Schönheit des Ideals zu finden, die Spannung nicht aus sich ausschließt, — dieser Begriff der Schönheit ist dennodi ganz unbestimmt. Eigentlich ist er nur das Postulat der Integration von Wesensrichtungen des Lebens, verbunden mit ästhetischem Sensorium. Es läßt sich nicht verstehen, wie solche Integration des Lebens wirklich geschehen kann. Wir wissen, daß Hölderlin erst wieder zu philosophieren begann, als er sich von Susette Gontard getrennt hatte und nach Homburg umgezogen war. Er bearbeitete nun nicht mehr philosophische Grundlegungsprobleme. Die Theorie der Dichtung, der Unterschied zwischen griechischer und moderner Poesie, das rechte Verhältnis beider zueinander und der Charakter poetischer Sprache wurden seine Themen. Daß er dabei von dem im früheren ,spekulativen Pro und Contra' Erreichten und im Bund der Freunde Bewährten ausging, ist leicht zu sehen. Zu sehen ist auch, daß er, was für ihn ehedem die Bahn des individuellen Lebens durch die Gegensätze seiner Tendenzen war, immer mehr auch als einen Begriff von der Geschichte der Menschheit gebraucht hat. Doch hat er zumindest zwei wichtige Änderungen in seinen frühen Entwurf eingesetzt, die ihn zusammengenommen dazu befähigten, den Begriff der Schönheit tiefer und angemessener zu fassen. So ging Hölderlin zunächst davon ab, Schönheit als simultane Integration der Lebenstendenzen einzuführen. Zumindest die höchste Schönheit der Poesie beruht auf einem geregelten Wechsel von Akten, in denen jede dieser Lebenstendenzen für einen Augenblick freigesetzt wird. Daraus folgt das Wichtige, daß weder im gegenwärtigen Endlichen noch in der erwarteten Wiedervereinigung statische Harmonie eintreten kann. Die Kunst wird ebenso wie das vollendete Leben nur die Verläufe des Wirklichen harmonisch wiederholen und seine Gegensätze durch Vollständigkeit und Ordnung aus ihrem Konflikt erlösen. Geht aber der Weg des Lebens nicht in den Ursprung zurück, so muß man auch in seinem Verlauf das Verhalten zum Ursprung von dem Verhalten zur Zukunft unterscheiden. Darum folgt aus der ersten Änderung zwingend eine weitere, — ob sie nun wirklich um der Konsequenz willen geschah oder aus unabhängigen anderen Gründen: Hölderlin hat die Dyas der beiden Lebenstendenzen durch eine Trias ersetzt: Der Mensch strebt einerseits über alles Endliche hinaus, um das Vollkommene tätig hervorzubringen. Er muß sich aber auch in der Anschauung des Endlichen
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befangen lassen. Sdiließlich muß er im Bewußtsein vom unfaßlichen Ursprung alles Wirkliche idealisierend überfliegen und frei zwischen seinen Antrieben schweben. Idealisierung und Bestrebung sind einander am schärfsten entgegengesetzt und nur durch ihre gemeinsame Beziehung auf das Naive einer Anschauung, die sich im Endlichen befriedigt, miteinander zu vereinen. Mit diesen Gedanken hat nun auch Hölderlin — ebenso wie Hegel — die Entfaltung der Gegensätze über die Idee der Wiederholung der Einheit des Ursprungs gestellt. Und es scheint daher, daß er schließlich doch dem nahekam, was Hegel früh und alle Zeit festhalten wollte: Die Wahrheit ist der Weg. Bei genauerem Zusehen scheint also auch wieder zu schwinden, was beide voneinander zu trennen schien. Man könnte gar versucht sein, dies einem Einfluß von Hegels Schichsalslehre auf Hölderlin zuzurechnen, den man auch wirklich annehmen darf, obwohl wir ihn aus Dokumenten nicht belegen können. Von diesem Schein darf man sich aber nicht täuschen lassen. Die Differenz besteht auch in Hölderlins Homburger Schriften fort, wo sie nur noch ein wenig schwerer als in den Frankfurter Texten zu entdecken ist. Um sie zu fassen, sei zunächst darauf aufmerksam gemacht, daß auch die Lehre vom harmorüschen Wechsel Fichtes Wissenschaftslehre abgewonnen worden ist. Schon in Hölderlins früher Wendung gegen Fichte war es überraschend, daß sie durch nur geringe Korrekturen am Aufbau von dessen Werk erreicht worden war. Sie bezogen sich auf seinen Eingangsparagraphen, — auf das Verhältnis des Unbedingten im Ich zu dem Gegensatz in ihm, sofern es Bewußtsein wird. Als Hölderlin die Trias des Wechsels an die Stelle der beiden Strebensrichtungen der exzentrischen Bahn setzte, war er nicht nur an allerlei triadischen Strukturen in Kategorienlehre, Charakterologie und Gattungspoetik orientiert; jedenfalls wußte er sich nicht durch sie legitimiert. Legitimiert fand er sich vielmehr noch einmal durch Fichte. Dabei hatte er nun im Sinn das Ende von Fichtes Darstellung der im Begriff des Ich liegenden Widersprüche. Hier hatte Fichte gezeigt, daß Bewußtsein als möglich zu denken drei Unterscheidungen verlangt: Das Ich, sofern es eingeschränkt und auf Objekte bezogen ist, diese Objekte, sofern sie für das Ich bestimmte und somit eingeschränkte sind, und diese beiden in Wechselbestimmung, dazu aber noch ein Drittes, nämlich das Unbedingte, das den einigen Charakter der Tätigkeit in beiden Beschränkungen zusammenhält und das auch seinerseits im Wechsel mit der Beschränkung beider als das Unbedingte zu fassen ist. Man sieht leicht, daß es diese triadische Struktur ist, an der Hölderlin sich orientiert, — nur so, daß er die Einigkeit gegenüber den Gegensätzlichen verselbstän-
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digt und somit jedes der drei — entgegen Fichtes Intention — als Lebenstendenz auf sidi selber stellt. An diesem Bezug auf Fichte wird deutlich, was auch Hölderlins Homburger Schönheitslehre noch mit der Frankfurter einigt: Zunächst war ihm Schönheit unbegreifliche Integration. Dann war sie ihm zum Wechsel ihrer Momente geworden. Aber auch in diesem Wechsel bleibt Schönheit etwas Unvordenkliches. Denn sie beruht nur darauf, daß Elemente trotz ihres Gegensatzes regelmäßig aufeinander bezogen sind. Der Einheitssinn, der in dieser Beziehung hervorscheint, läßt sich ihnen rein als Momenten nicht abgewinnen. Dies allein, daß sie aus einem gemeinsamen Grund kommen, weist sie als Angehörige eines Ganzen aus. Nur darum müssen wir nicht nur Unterschiedliches variieren, sondern können „im Urgründe aller Werke und Taten der Menschen uns gleich und einig fühlen mit allem." Auch im steten Bezug des Wechsels kann Hölderlin also die gründende Einheit nicht entbehren, wenn er auch den Weg in die Trennung als endgültig und die innige Ursprungseinheit als verloren, und zwar glücklich verloren anerkennt. Die Göttersprache des Wechsels spricht harmonisch aus der Einheit der Herkunft, deren Stille auch dort noch zu hören ist, wo der Wechsel rapide und zur geschichtlichen Notzeit geworden ist.®^ Wenn Hölderlin an einem Verbindenden festhält, das nicht aus den Wechselnden selbst hervortritt, so konnte er sich wieder durch Fichte dazu berechtigt finden. Man kann sogar mit einem Satz aus Fichte zu dem schönsten Gedanken überleiten, den Hölderlins Homburger Entwürfe über Gedicht und Geschichte enthalten: „Das setzende Ich, durch das wunderbarste seiner Vermögen . . . hält das schwindende Akzidenz so lange fest, bis es dasjenige, wodurch dasselbe verdrängt wird, verglichen hat. Dieses fast immer verkannte Vermögen ist es, was aus steten Gegensätzen Einheit zusammenknüpft, was zwischen Momenten, die sich gegenseitig aufheben müßten, eintritt und dadurch beide erhält, es ist dasjenige was allein Leben und Bewußtsein möglich macht." Nicht nur, damit der Wechsel harmonisch sei, sondern auch, damit er als Ganzes hervortrete, muß mehr in ihm gesetzt sein als die Wechselglieder selber. Hölderlin zeigt, daß Leben und Gedicht eines werden in der Erirmerung. Der Wechsel der Tendenzen und ihrer Töne führt ja nur zum jeweils Neuen. So muß, um das Ganze selbst zu offenbaren, im Wechsel ein Einhalten geschehen. In ihm wird die ganze Folge des Ver!0 WW IV, S. 222. Der Ardiipelagus, Schlußstrophe. ** Fichtes Werke, in der Ausgabe des Sohnes, I, S. 204/5.
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gangenen zusammengenommen und überblickt und zugleich mit dem Neuen verglichen, das schon gespürt werden kann und das sich als das Andere des Vollendeten anzeigt. Dies ist der göttliche Moment, der transzendentale Augenblick. Der Dichter muß ihn zu berechnen und zu produzieren wissen. Im Leben aber tritt er je nach dessen Schicksal ein. Wir können ihn nur festhalten und aus dem Verstehen, das er erschließt, besonnener unsere künftige Bahn gehen. Auch in Hegels Denken ist das Motiv der Erinnerung wesentlich, — jedoch als die Versammlung der Gestalten aus ihrer äußerlichen Existenz in das Innere des begreifenden Geistes. Ihm ist Erinnern immer ein Verwandeln, — Er-Innerung als Überholen des An-sich-seins des Vergangenen, — eine neue Weise, es zu setzen als zugehörig dem erinnernden Ich oder dem Allgemeinen der Intelligenz Hölderlin ist das Erinnern dagegen ein Bewahren, das unter der Forderung der Treue steht, also das Vergangene in seinem Eigenen sucht und hält. Für ihn gibt es keinen freien Ausgriff in die Zukunft, der das vergangene Leben nur von sich stößt, statt es — und die, deren Schicksal es war, — als den Gegensatz zum Eigenen erinnernd fortleben und -wirken zu lassen.
V 1810 schrieb Hegel an Sinclair, er erwarte dessen philosophisches Hauptwerk xmd sei gespannt, „ob Du noch der hartnäckige Fichteaner bist, und was der Progreß ins Unendliche für eine Rolle darin spielt." Dieser Satz führt leicht zu schwerwiegenden Mißverständnissen. Scheint er doch zu beweisen, daß Hegel im Frankfurter Kreis ungefähr so zu argumentieren hatte, wie in der Differenzschrift gegen Fichte aus dem Jahre 1801. Doch aus Sinclairs Texten und allen Dokumenten ergibt sich mit Sicherheit, daß er in durchaus anderer Lage war. Dann gewinnt aber auch der Satz an Sinclair eine andere, eine wirklich aufschlußreiche Bedeutung: Strittig war zwischen ihm und Hölderlins Freunden im Bund gewiß nicht, daß über das Ich als Prinzip hinauszugehen sei. Das hatte Hegel ja gerade von ihnen lernen müssen. Strittig konnte nur sein, ob auch nach diesem Übergang Elemente aus Fichte festzuhalten seien. In diesem Sinne, als Element von Hölderlins Lehre vom Sein, Trennung und Wechsel, bestand Sinclair auf dem unendlichen Jenaer Realphilosophie II, S. 182. Encyclopädie §§ 452 ff. Hegel Briefe, I, S. 332.
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Progreß. Und so erfahren wir in jener Briefstelle von Hegel selber, daß er seine eigene Einsicht nicht unmittelbar gegen Fichte, sondern gegen den fortdauernden Fichteanismus seiner antifichteschen Freunde auszubilden hatte. Daraus muß man nun aber folgern, daß die Mängel von Hölderlins Standpunkt Evidenzquelle auch aller späteren Formulierungen von Hegels System gewesen sind. Im System ist ihre Applikation wohl viel allgemeiner und sie geht auch vor allem auf Ideen, die wirkungsmächtiger waren als die Hölderlins. Aber der kritische Ausgang bleibt doch gegenwärtig. Hegel hätte Schellings Lehre gegenüber nicht so sicher standhalten können, wenn er diesen Stand nicht zuvor schon in den Gesprächen des Frankfurter Bundes gewonnen hätte. Und dies ist nun Hegels eigentümlicher Gedanke: daß die Relata in der Entgegensetzung zwar aus einem Ganzen verstanden werden müssen, daß dieses Ganze ihnen aber nicht vorausgeht als Sein oder als intellektuale Anschauung, — sondern daß es nur der entwickelte Begriff der Relation selber ist. Ausgearbeitet hat er ihn zuerst in der Analyse des Begriffs vom Leben: Leben kann man nur verstehen, wenn der Gegensatz der lebenden Wesen untereinander und die organische Einheit in jedem von ihnen aus dem Allgemeinen einer Organisation begriffen wird, die dennoch keine Existenz vor und außerhalb des Prozesses der lebendigen Wesen hat. Dieselbe Struktur findet sich wieder in dem Gedanken von wahrer Unendlichkeit: Sie ist einzig die Weise der Beziehung von Endlichem zu seinem Negat, der leeren Unendlichkeit, — also gerade nicht, wie Hölderlin wollte, gemeinsamer Ursprung und Zielpunkt zweier Tendenzen. Nicht anders verhält es sich beim Gegensatz des Wesens, etwa zwischen dem Positiven xmd Negativen, von denen jedes, trotz ihrer Entgegensetzung, den Begriff der ganzen Relation und damit auch sein Gegenteil einschließt. Somit ist der Wechsel zwischen ihnen zugleich auch der Wechsel zwischen Identischem — nicht ein Wechsel im Urgründe oder in Beziehung auf ihn. Jede Kategorie in Hegels Logik ist ein anderes Beispiel für diesen Sachverhalt, da eben das ganze Werk aus der Einsicht in diese eine Struktur geschrieben wurde. So ist auch Hegels Anfang mit der Kategorie Sein als direkte Opposition zu dem anderen Anfang Hölderlins zu hören. Nicht Sein im einzigen Sinn des Wortes, aus dem alles kommt und in dessen Anschauung alle Einigkeit steht, gibt den Ausgang. Sein ist das schlechthin Unnüttelbare, Unerfüllte, die Antizipation konkreter Bedeutsamkeit und nur diese.
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Deshalb wird audi der Weg des Fortschritts nicht Trennung, sondern Bestimmung sein. Das Leere bestimmt sich zum Ganzen, — eben aufgrund seiner Leere, — dadurch, daß sein Unbestimmtsein hervortritt, — somit durch Gegensatz. Daher führt der Gegensatz auch nicht zum Wechsel, sondern zu dem, was Hegel ,Entwickelung' nennt: Zur Ausführung des Bestimmteren aus dem Unbestimmten, — zu seiner Produktion. In Hölderlins Denken gibt es keinen Platz für solches Produzieren. Alles ist Trennung, Wechsel, und Tausch sowie Maß oder Übermaß und Einigkeit. Er hätte im ,Gegensatz' nicht die „unendliche Macht des Negativen" rühmen können, da doch die Macht der Einigung zwar durch ihn, aber nicht aus ihm kommt; sie aber allein ist unendlich. Auch für Hegel bleibt freilich Produktion der Selbstvollzug des einen Lebens, das ohne Ausgang ist und ohne Ziel, aus dem und zu dem es käme. Seine Vollendung geschieht in einem reflexiven Akte, in dem es für sich ganz geworden ist. Darin liegt ein Bezug auf seinen Beginn mit dem Sein und ein Zusammeimehmen seines Weges im Verstehen, aber wiederum nur als der Prozeß zu sich, der in nichts als sich selber begründet ist. Hegels wohl berühmtestes Wort lautet: „Das Wahre (ist) nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt" aufzufassen. Es hat sich nun gezeigt, daß seine Bedeutung plastischer und voller hervortritt, wenn man in ihm den Abstoß von Hölderlin hört: Deim es sagt, daß das Wahre der Prozeß sei und nur der Prozeß, der an seinem Ende sich selber hat, als der Begriff seines Weges zur Manifestation. Das gerade ist aber auch der Rechtsgrund dafür, das Wahre als Subjekt zu beschreiben. Hegel versteht nämlich das Wesen des bewußten Selbst so, daß es ein tätiges Zusichkommen ist, das nichts voraussetzt als dieses zu sich imd für sich. In diesem Sinne können wir ja auch wirklich davon reden, einer komme zu sich, und dabei doch wissen, daß der, der er als Bewußter ist, bevor er zu sich kam, nirgends zu finden war. Deim das Erwachen zur.i Bewußtsein macht erst den Menschen zum Menschen. In diesem Sinne ist ein Leben, das nicht individuell ist und doch die Verfassung des Subjektes hat, rechtens ,Geist' zu nennen, da es nur auf sich selber ruht, und durch sich Wissen von sich hervorbringt. Und so ist ,Geist' das Wort, mit dem Hegel Hölderlins ,Seyn' ersetzte, von dem er selbst noch in Fraidcfurt Gebrauch machte. Auch Substanz ist dieser Geist, aber nur insofern er als Prozeß ein Kontinuum ist. Substantialität *• Phänomenologie, Vorrede, ed. Hoffmeister, S. 19.
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ist also nur ein Moment seiner eigentlichen Struktur, bedingungsfrei sidi produzierende Selbstbeziehung zu sein. Hölderlins Denken hatte Fichtes hödistes Prinzip durch ein anderes ersetzt und Hegel davon überzeugt, daß es nötig sei, nicht mehr vom Bewußtsein auszugehen. Wohl aber hatte sidi Hölderlin audi weiterhin der methodischen Mittel bedient, die Fichtes Wissenschaftslehre anbot. Und so war sein Denken für Hegel immer noch zu sehr fichteanisch, um ganz sein zu können, wonach es strebte. Hegel entwickelte es in einer Richtung, die späteren Absichten Hölderlins durchaus entsprach, aber doch auf eine Weise, die ihn schließlich dazu brachte, nun auch Fichtes ersten Gedanken, von dem Hölderlin früh abgelassen hatte, aufs neue berechtigt zu finden, — nur in ganz anderem Sinne, als Fichte selber ihn gemeint hatte. Zwar ist das Ganze, in Beziehung auf das alle Entgegensetzimg geschieht, nicht unser Bewußtsein und auch kein Ich vor allem Prozeß der Entfaltung. Statt dessen ist aber dies Ganze, das einzig als Prozeß existiert, also der Prozeß selber, nur als Ichheit und nach der Struktur von Subjektivität zu begreifen. Wer den Fichteanismus in der Methode tilgt, der gerade versteht, was Fichtes Lehre bedeutet. An seiner Seite wollte Hegel begraben sein. Hölderlin gab Hegel als Philosoph den wichtigsten, den letzten prägenden Anstoß. Deshalb kann man sagen, daß Hegel ganz von Hölderlin dependiert, — von dessen früher Anstrengung, die Lebensbahn des Menschen und die Einheit in ihren Konflikten spekulativ zu begreifen, von der Eindringlichkeit, mit der Hölderlins Freunde seine Einsicht überzeugend machten, sicher auch von der Intregrität, mit der Hölderlin sein zerrissenes Leben in ihr zu bewahren suchte. Dem Mythos von Hegel als dem autochthonen Weltphilosophen ist also zu widersprechen. Das könnte die ermutigen, die Hegel unterstellen, er habe das Tiefste in Hölderlin mißkannt und eben nur auf Begriffe gebracht, was auf sie zu bringen war. Ihnen muß aber ebenso widersprochen werden. Denn Hegels System ist durchaus keine abstrahierende Ausdorrung von Hölderlins Denken, sondern ein Gegenzug zu ihm, wenngleich in ihm gemeinsame Überzeugungen gewahrt bleiben. Es ist gar nicht zu sehen, wie auch nur Hegels allgemeinste Aussagen klar und verständlich bleiben können, weim dieser Zusammenhang verschüttet wird. Vor der Frankfurter Begegnung mit Hölderlin war Hegel ein Kritiker der Kirche und ein Analytiker historischer und politischer Verhältnisse im Bund mit der Gironde. Im Anschluß an Hölderlin und im Abstoß von ihm ist er zum Philosophen seiner Epoche geworden.
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Damit ist nach Wahrheit freilich noch gar nicht gefragt, — nicht einmal in den Grenzen, die beide umschlossen und die sich aus dem Programm eines Spinozismus der Freiheit ergeben. Ich denke es ließe sich zeigen, daß selbst Hegels Begriff vom Subjekt noch aporetisch ausfällt und daß sich mit Hölderlins Gedanken vom Wechsel besserer, nur ihm selbst nicht zugänglicher Sinn verbinden läßt. Will man aber nur aufklären, was Hegel und Hölderlin verband und trennte, so muß die Sache eben selbst dahingestellt sein, — ob nämlich Hegel die Macht des Geistes, in einem Ganzen zu sich zu kommen, so rühmen durfte, wie er es beim Antritt in Berlin tat, oder ob die Philosophie nur tun kann, was Hölderlin in seinem spätesten theoretischen Text der Sprache des Sophokles zutraute: „Des Menschen Verstand, als unter Undenkbarem wandelnd, zu objektivieren".®’^ Noch immer ist dem Geist die Mühe nicht erspart, die Hegel wie Hölderlin für sein Wesen hielten, und der sie sich, Vorbild gebend durch Ernst und Inspiration, unterzogen: se ipsam cognoscere.
27 ww V, S. 266. “ Sämtl. Werke, ed. H. Glöckner, Bd. 19, S. 685, Stuttgart 1959.
HANS
MAYER
(HANNOVER)
HEGELS „HERR UND KNECHT" IN DER MODERNEN LITERATUR (HOFMANNSTHAL-BRECHT-BECKETT) Kunstvolle Verse des jungen Hugo von Hofmannsthal: hart gestellt gegen die höchst kunstvolle Kunstlosigkeit einiger Knüttelreime Bertolt Brechts aus der Exilzeit. In beiden Fällen geht es um die Wechselwirkung zwischen Herr und Knecht. Hofmannsthals berühmtes Gedicht „Manche freilich ..steht am Ausgang der Loris-Periode. Es gibt eine Bilanz sehr früher Erfahrungen in der Kunst und mit der Kunst. Als Absage an die formal ästhetische Existenz: verursacht durch den Anblick derjenigen menschlichen Wesen, die ohne Freiheit, Leichtigkeit und Kunst leben müssen. Doch ein Schatten fällt aus jenen Leben In die anderen Leben hinüber. Und die leichten sind an die schweren Wie an Luft und Erde gebunden .. . Daß ihm selbst im jungen Brecht ein Gegenspieler und Antipode in allen Bereichen von Leben und Kunst erwachsen war, hatte der reizempfindliche Hofmannsthal schon bald gespürt. Sein merkwürdiges Eingehen auf eine Produktion wie den „Baal" kann das bestätigen. Brecht seinerseits hat Hofmannsthal ignoriert. Der kam weder als Bundesgenosse in Betracht, noch als ernsthafter Gegner. Brecht nahm sich in den 20er Jahren die Mühe, über Stefan George zu höhnen. Hofmannsthal eignete sich offenbar nicht einmal dafür. Dennoch gibt es schon seit „Mann ist Mann" die Konfrontation zwischen Brecht und Hofmannsthal. In seiner Weiterarbeit an der „Dreigroschenoper", die Brecht im Grunde — noch in der letzten Lebenszeit — für mißlungen hielt, kam es bekanntlich zu der Formel von jenen, die im Licht stehen und jenen anderen, die zum Schattendasein verurteilt wurden. Schattenwelt und Knechtswelt bilden für Brecht eine Einheit. Darum ist die Unterwelt im „Verhör des Lukullus" ein Synonym für plebejische Herrschaft. Doch man sieht nur, die im Licht
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stehen, die im Schatten sieht man nicht. Allein ihr Schatten fällt, um Hofmannsthal abermals zu zitieren, „von jenen Leben in die anderen Leben hinüber". Das gilt auch bei Brecht. Nur zieht er daraus andere Folgerungen. Die extremste präsentiert er in „Herr Puntila und sein Knecht Matti", die der Stückeschreiber ausdrücklich im Untertitel als Figuren eines „Volksstücks" deklariert. Was mehr besagt als eine bloße Gattungsbezeichmmg. Gemeint war: ein Stück für Plebejer, genußvoll zu erleben im plebejischen Herrschaftsbereich. Diesmal steht der Knecht im Licht. Schatten fällt auf Herrn Puntila. „Die Stund des Abschieds ist nrm da Gehab dich wohl, Herr Puntila Der Schlimmste bist du nicht, den ich getroffen Denn du bist fast ein Mensch, wenn du besoffen. Der Freundschaftsbund könnt freilich nicht bestehen Der Rausch verfliegt. Der Alltag fragt: Wer Wen?" Die Formel: Wer Wen? ist- ein Leninzitat. Der russische Marxist verstand darunter die scharfe antagonistische Klassenposition. Es gibt keine Gemeinsamkeit von Interessen, Moralen, Ästhetiken, Sympathien zwischen den Angehörigen divergierender Klassen im Alltag des Klassenkampfes. Jede Begegnung zwischen ihnen hat objektiv Feindschaft zu bedeuten. Wer bekämpft wen, wer prellt wen, wer manipuliert wen, wer stürzt wen? An diesem sozialen Sachverhalt scheitert auch, für Brecht, eine mögliche Sympathie des Knechts Puntila für den Herrn Matti. Der Schatten stellt sich gegen das Licht, der Knecht gegen den Herrn. Eben dadurch aber bleiben sie auch bei Brecht, und bei Lenin, dialektisch miteinander verknüpft. Lenins Frage, die Brecht reproduziert, also die Frage nach dem „Wer wen?" ist gleichzeitig eine Frage zum Thema „Herr und Knecht". Die aber ist — seit Hegel — abgeleitet aus einer anderen Konfrontation und Grundkonstellation. Wer=Wen bedeutet Herr=Knecht. Herr= Knecht aber heißt gleichzeitig Subjekt=Objekt. Kaum ein anderer Text aus der Geschichte der Philosophie ist so leidenschaftlich, vielfältig und divergierend interpretiert worden wie jene paar Seiten über „Herrschaft und Knechtschaft" im Abschnitt „Selbstbewußtsein, römisch IV, Groß A der „Phänomenologie des Geistes" von 1807. Ob man die umfangreiche Darstellung von Georg Lukäcs über den „Jungen Hegel" nimmt oder Ernst Blochs Hegelinterpretation mit dem prinzipiell gemeinten Titel „Subjekt=Objekt" oder Herbert Marcuses bekanntes Buch „Vernunft imd Revolution" mit dem Untertitel „Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie": stets scheint alles zentriert
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ZU sein auf die Analyse dialektischer Wechselbeziehungen zwischen Herrschaft und Knechtschaft. Marcuse geht sogar, darin noch konsequenter und bewußt philologischer als Lukäcs und Bloch, von der These aus, aller frühere Systementwurf des jungen Hegel, besonders seine in Jena entworfene „Philosophie des Geistes", sei insgeheim als Etappe auf dem Weg zu den späteren Betrachtungen über den Herrn und den Knecht zu verstehen. Wenn es in der „Phänomenologie des Geistes" gleich zu Anfang des Kapitels über das Selbstbewußtsein heißt „Das Selbstbewußtsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewußtsein" (den Satz hat Hegel unterstrichen), dann sieht Herbert Marcuse in dieser, wie er schreibt, „ziemlich merkwürdigen Feststellung" eine These, die unmittelbar hinüberführe zu Hegels späteren Feststellungen über Herrschaft und Knechtschaft. Wie ist diese moderne Akzentuierung und Hegelinterpretation zu erklären? Offenbar nicht aus der Gesamtlage eines Buches, das ursprünglich mit folgendem Titel auf trat: „System der Wissenschaft. Erster Teil, Phänomenologie des Geistes". Iimerhalb dieses Systems der Wissenschaft aber bedeutete für den Autor seine Betrachtung über Herrschaft und Knechtschaft nur eine Etappe. Selbstbewußtsein ist noch nicht Vernunft, schon gar nicht Geist. Von Religion und Absolutem Wissen ist man noch weit entfernt. Erst muß das Selbstbewußtsein seinen Weg nehmen durch die Antike und das mit Untergang der Antike und christlichem Mittelalter gesetzte „Unglückliche Bewußtsein". Noch ist man auf jenen Seiten des Buches weit entfernt von Hegels Paraphrase des Goethischen Faust, erst recht von seinen Auseinandersetzungen mit Rousseaus Begriff des „Allgemeinen Willens" und über die „Umfunktionierung" der Aufklärung im politischen Terrorismus eines Robespierres. Kein Zweifel also, daß die Gesamtlage der „Phänomenologie des Geistes" diese Sonderstellung des Abschnitts „Herrschaft und Knechtschaft" kaum rechtfertigt. Andererseits ist es evident, daß Hegels Buch, der Anekdote nach abgeschlossen während der Entscheidungsschlacht zwischen Preußen und Napoleon vor Jenas Toren, ein eminent politisches Buch werden sollte und geworden ist. Es ist die Abrechnung Hegels sowohl mit dem Ancien Regime wie mit der als Revolution inkarnierten Aufklärung. An berühmter Stelle der Vorrede zu „Phänomenologie des Geistes" sagt Hegel deshalb: „Es ist übrigens nicht schwer zu sehen, daß unsere Zeit eine Zeit der Geburt und des Übergangs zu einer neuen Periode ist. Der Geist hat mit der bisherigen Welt seines Daseins xmd Vorstellens gebrochen und steht im Begriffe, es in die Vergangenheit hinab zu versenken, und in der Arbeit seiner Umgestaltung. Zwar ist er nie in Ruhe, sondern in
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immer fortschreitender Bewegung begriffen. Aber wie beim Kinde nach langer stiller Ernährung der erste Atemzug jene Allmählichkeit des nur vermehrenden Fortgangs abbricht — ein qualitativer Sprung, — und jetzt das Kind geboren ist, so reift der sich bildende Geist langsam und stille der neuen Gestalt entgegen, löst ein Teilchen des Baues seiner vorhergehenden Welt nach dem andern auf, ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet; der Leichtsinn wie die Langeweile, die im Bestehenden einreißen, die unbestimmte Ahnung eines Unbekannten sind Vorboten, daß etwas anderes im Anzuge ist." Was heißen soll: die Revolution bedeutete einen „qualitativen Sprung." Seit Marx pflegt der Marxismus immer wieder diese Formel Hegels gegen alle bourgeoisen Forderungen nach „organischem Wachstum" zu stellen. Die untergehende Welt j edoch empfindet Hegel bereits, wie in Vorahnung moderner Ästhetiken der Absurdität, gestellt unter die Auspizien des „Leichtsinns" und der „Langeweile": als eine Ästhetisierung des Lebens, und als eine Erotisierung der Lebensformen. Mit der Aufklärung als einem wissenschaftlichen Vorgang hatte es begonnen. Sie schlug dann jäh um in Revolution. Weshalb Hegel fortfährt: „Dies allmähliche Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde der neuen Welt hinstellt." Schaut man von dieser entscheidenden Stelle der Vorrede abermals hinüber zu den wenigen Seiten über Herrschaft und Knechtschaft, so wird in der Tat, der Anlage des Gesamtsystems zuwider, die Analyse des Verhältnisses von Herr und Knecht zum eigentlichen Mittelpunkt des Buches. Die modernen Interpreten Hegels und der „Phänomenologie des Geistes", besonders auch die französischen Spezialisten Jean Hyppolite und Paul Ricoeur, gehen daher gleichfalls davon aus, daß Hegels Buch, das seinen Höhepunkt findet als Deutung des Bewußtseins der Hegelzeit, in weitestem Sinn dessen also, was Horkheimer und Adorno die „Dialektik der Aufklärung" genannt haben, seinen geheimen Mittelpunkt in der Tat besitzt in der Abhandlung über die Beziehungen zwischen Herr und Knecht. *
So richtig es nun sein mag, dies Buch und diesen Abschnitt in seiner Genese bei Hegel selbst zu deuten: als Denkprozeß eines Philosophen, der hier einen ersten, provisorischen, aber doch unverkennnbaren Abschluß
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findet, so wichtig ist es andererseits, die Behandlung des Themas „Herrschaft und Knechtschaft" vor Hegel als Prozeß der bürgerlichen Ideologie zu interpretieren. Die Sklavengesellschaften der Antike haben keine theoretische Fassung der Auseinandersetzung zwischen Herrschaft und Sklaverei hervorgebracht. Die Lieblingsfigur moderner Sozialkritik, soweit sie sich mit der Antike befaßte, der legendäre Sklave Spartacus nämlich, modernes Thema des sowjetischen Balletts und des amerikanischen Films, repräsentiert kein Stadium des Bewußtseins in einer — nidit bloß Hegelschen — Phänomenologie des Geistes. Die Widersprüche in der antiken Gesellschaft wurden aufgedeckt durch die Fragen des Sokrates und die Lehren des Christentums. Die Lehensgesellschaft des christlichen Mittelalters bediente sich, in nahezu allen Fällen eines gesellsdiaftlichen Emanzipationskampfes, der Verteufelung ungebärdiger Unfreier als Ketzer. Der „Verketzerung" also, wie unsere Sprache das auch heute noch festhält. In dem Kapitel „Blick in den Chiliasmus von Bauernkrieg und Wiedertäufertum" seines Buches über „Thomas Münzer als Theologe der Revolution" hat sich Ernst Bloch darum bemüht, die Etappen des knechtischen Bewußtseins als Wendung von der theologischen zur ökonomischen, von dort zur politischen, und schließlich, auf höherer Stufe, zur theologischen Fragestellung zu interpretieren. Der Gegensatz von Herr und Knecht scheint sich nahezu bis ins 16.Jh. hinein so dargestellt zu haben, daß die aufbegehrenden Bauern und städtischen Plebejer in Manifesten und Postulaten die Rea/situation auszudrücken suchten, während die Obrigkeit, im Vollzug realer Interessen, im ideologischen Bereich des Häretikertums zu kämpfen vorgab. Dies anzudeuten ist auch deshalb wichtig, weil bis in die Gegenwart hinein, bis hin zu Brecht und Beckett diese Dialektik der Kampfebenen blieb: als Artikulation des realen Interesses auf der Knechtseite, als ideologische Affirmation und Apologetik im Bereich der herrschenden Gedanken. Wenn Thomas Münzer daher im Bauernkrieg 1525 dem Grafen Ernst zu Mansfeld das Recht zur Herrschaft aufkündigt, so vollzieht sich, in Deutschland wenigstens, ein Prozeß soziologischer Klärung ohnegleichen. „Siehe an, du elender dürftiger Madensack, wer hat dich zum Fürsten des Volks gemacht, welches Gott mit seinem Blut erworben hat?" Bis in den Wortlaut hinein wirkt das hinüber in den deutschen Sturm und Drang. Auch in Gottfried August Bürgers Ansprache des Bauern an seinen durchlauchtigsten Fürsten folgt auf die Frage: „Ha, du wärst Obrigkeit von Gott?" die schroffe Antwort: „Du nicht von Gott, Tyrann!"
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In einer ausführlidien Studie über „Herr und Knecht bei Leibniz und Hegel" hat der Leibniz-Forsdier Hans Heinz Holz auf den Text „De Jure et Justitia" von Leibniz hingewiesen, der vermutlich aus dem Jahre 1678 stammt. Da wird in der Tat ausdrüddich und lange vor Hegel das Thema „Herrschaft und Knechtschaft" philosophisch abgehandelt. Holz räumt zwar ein, daß Hegel diese von Leibniz offenbar nicht für den Druck bestimmte Aufzeichnung sicherlich nicht gekannt hat, weist aber wohl mit Recht darauf hin, daß eine objektive Konfrontation zwischen Leibniz und Hegel in dieser Grundfrage der Relationen zwischen Herr und Knecht einzig von Bedeutung seien. Bei Leibniz wird diese Relation als realer Prozeß verstanden. Hegel dagegen, schreibt Holz, läßt „die Dialektik der Sache selbst als eine objektive im Spiegel des Bewußtseins ansichtig werden". Aber es ist natürlich der konkrete geschichtliche Prozeß, der jedes Mal die Reformation des gesellschaftlichen Bewußtseins bestimmt: von Münzer bis Leibniz, von Leibniz bis Hegel. Vielleicht ist die Formel von Holz überspitzt, wenn er schreibt: „Der historisch-ideologiekritischen Charakterisierung nach ist Leibniz' Denken vorrevolutionär, Hegels nachrevolutionär". Richtig daran ist jedoch, daß Hegels Betrachtungen, gerade auch über „Herr und Knecht", als Quintessenz von Erfahrungen mit der Aufklärung und bürgerlichen Revolution verstanden werden müssen.
Dabei ist aber, wenn versucht wird, die Stadien des gesellschaftlichen Bewußtseins nachzuzeichnen, die hinführten zu Hegel, um von dort bis in die Gegenwart nachzuwirken, einer glanzvollen Darstellung unseres Themas von Herr und Knecht in der französischen Aufklärung zu gedenken. Daß Hegel jene private Aufzeichnung bei Leibniz kannte, ist nahezu unmöglich. Diderots Roman aber über den Fatalisten Jakob („Jacques le Fataliste"), den Mylius im Jahr 1792 zuerst in vollständiger deutscher Übersetzung unter dem Titel „Jakob und sein Herr" vorgelegt hat, war Hegel bekannt. Mehr als 30 Jahre vor der „Phänomenologie des Geistes" (Diderot hat seinen Roman erst im Jahre 1773 begonnen) war hier in einem philosophischen Roman aus der Nachfolge Voltaires die wesentliche gedankliche Essenz des berühmten Hegeltextes vorweggenommen worden. Diderot und Hegel: nicht bloß an dieser Stelle einer Hegelinterpretation werden sie zusammen genannt. Der abtrünnige Hegelianer Karl Marx hat später den französischen Herausgeber der „Enzyklopädie" als seinen Lieblingsschriftsteller bezeichnet. Bertold Brecht seinerseits, um abermals einen Vorgriff zu wagen, der seinen „Puntila" getreulich nach Hegels Deutung konzipiert, war gleichfalls ein leidenschaftlicher Verehrer Diderots.
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Im dänischen Exil beschäftigte sich Brecht mit den Plänen zur Gründung einer „Diderot-Gesellsdiaft". Diderots Roman aber geht von der These aus, daß der „Herr" des Fatalisten Jakob kein eigenes Interesse für sich beansprudien kann. Das Interesse an ihm ist reduziert auf die Tatsache, daß er Jakobs Herr ist. Nur in dieser dialektischen Zuordnung erhält er so etwas wie eigenes Gewicht. Ganz anders Jakob. Er führt das Romangesdiehen, und er führt seinen Herrn: in der Theorie und in der Praxis. Durch Jakobs philosophische Ideen und seinen Lebensbericht erhält der Herr eine Art Funktion. Er kann Jakob widersprechen, dessen Weltanschauung bezweifeln, dessen Tun verurteilen. Aber mit alldem gelangt er nicht über die Funktion eines Attributs seines Dieners hinaus. Seine eigenen philosophischen Gedanken sind nur insofern bedeutsam, als sie diejenigen Jakobs negieren; seine eigenen Moralauffassungen haben nur den Zweck, Jakobs Taten von allen Seiten zu beleuchten. Jakob ist ein Philosoph, und zwar einer von besonderer Art. Er ist ein Fatalist. Der Herr stellt einmal fest, Jakob sei mit seinen Grundanschauungen eigentlich ein Schüler Spinozas. Seine Philosophie hat Jakob, wie er berichtet, von einem früheren Gebieter, seinem alten Hauptmarm, geerbt. Der hatte ihm beigebracht, oben im Himmel gäbe es eine gewaltige Rolle, und auf der seien alle künftigen Taten und Schicksale eines jeden Menschen sorgfältig auf geschrieben. Es könne also nichts eintreten, was nicht vorherbestimmt sei. Jakobs Herr ist anderer Meinung. Er ist Anhänger der Willensfreiheit und glaubt daran, daß jeder durch sein eigenes Tun den Ereignissen eine keineswegs vorhergesehene oder vorhersehbare Wendung zu geben vermöchte. Nun zeigt aber der Ironiker Diderot, daß der Fatalist Jakob trotz seiner Schicksalsgläubigkeit ein energischer, entschlossener, tatbereiter Mensch bleibt, der die Dinge nicht an sich herankommen läßt, sondern selbst handelt, gleichsam, um dem Lauf der Fatalität „etwas nachzuhelfen", während der Herr mit all seiner scheinbaren Freiheit, wie Diderot bereits angedeutet hat, schwächlich, unentschlossen, den Dingen den Lauf läßt und mit allem „Freiheitsbewußtsein" im Grunde „dahinlebt". Eben dies gedachte Diderot dem Leser zu zeigen. Sein Herr dagegen redet viel von „Freiheit", weil er sich seiner tatsächlichen Abhängigkeit, gerade auch seiner Abhängigkeit vom Diener Jakob, nicht bewußt ist. Jakob aber zeigt ihm einmal ziemlich drastisch, daß der so frei sich dünkende Herr in Wirklichkeit seit geraumer Zeit die „Marionette" gewesen sei, die sein Diener bewußt gelenkt habe.
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Hier erweitert sich das philosophische Grundproblem des tiefen und gedankenreichen Buches zur konkreten Gesellschaftskritik großen Stils. In der Abhängigkeit des Herrn vom Knecht enthüllt Diderot die gesellschaftliche Unproduktivität und Wertlosigkeit dieses Herrentums. Die Lebensabhängigkeit der Herrenschicht von ihren Knechten ist hier zum ersten Male in der großen europäischen Literatur mit allen Konsequenzen vorgetragen. Jakob bleibt der Knecht, und der Herr bleibt der Herr. Der Herr kann nur Herr bleiben, weil es einen Knecht gibt. Damit ist er an Jakob gekettet. Diesen Gedanken nun hat Hegel, wie man sieht, durchaus im Sinne Diderots weiter entwickelt. Wenn Georg Lukacs zu diesem Hegel-Gedanken betont, daß Hegel hier aus dem Herrn „eine folgenlose Episode in der Entwicklung des Geistes macht, während die fruchtbaren Momente der Menschheitsentwicklung an das Bewußtsein des Knechts anknüpfen", so entspricht das genau der Grundkonzeption Diderots, die sich bereits in der verschiedenen Deutlichkeit der Zeichnung von Herr und Knecht erkennen läßt. Und auch Ernst Bloch unterstreicht im Grunde in seinem Hegelbuch die Grundthese von Diderots Jacques le Fataliste, wenn er feststellt, daß bei Hegel „die Fortentwicklung des Selbstbewußtseins durch das Bewußtsein des arbeitenden Knechts, nicht des genießenden Herrn geschieht." *
Die Dialektik von Herr und Knecht nun ist bei Hegel, um jene Textstelle noch einmal zusammenzufassen, durchaus prozeßhaft entwickelt. Da Herbert Marcuse in seinem Buch „Vernunft und Revolution" die Genese des Hegelschen Denkens, vor allem unter der Heranziehung von Texten aus der Frankfurter und frühen Jenaer Zeit sehr einleuchtend nachgezeichnet hat, und in dem Abschnitt, den er der „Phänomenologie des Geistes" widmet, auch seinerseits — wie bereits erwähnt — den Text über Herrschaft und Knechtschaft in den Mittelpunkt stellt, sei der Ansatzpunkt nach dieser modernen Zusammenfassung zitiert, die ihrerseits natürlich auch bereits schon Interpretation bedeutet. Bei Hegel ist der Titel „Herrschaft und Knechtschaft" einer Art von Obertitel unterstellt, die dem eigentlichen Text vorangeht. Sie trägt die Überschrift „Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins". Herbert Marcuse erläutert: „Das Individuum kann einzig durch ein anderes Individuum werden, was es ist; seine Existenz besteht gerade
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in seinem „Sein-für-anderes". Diese Beziehung ist jedoch keineswegs eine harmonische Zusammenarbeit zwischen gleich freien Individuen, die das allgemeine Interesse befördern, indem sie ihren eigenen Vorteil verfolgen. Sie ist vielmehr ein „Kampf auf Leben und Tod" zwischen wesentlich ungleichen Individuen, von denen das eine ein „Herr", das andere ein „Knecht" ist. Das Austragen des Kampfes ist der einzige Weg, auf dem der Mensch zum Selbstbewußtsein gelangen kann, das heißt, zur Erkenntnis seiner Möglichkeiten und zur Freiheit ihrer Verwirklichung." Um abermals Marcuse zu zitieren: „Marx war mit den Stufen der Hegelschen Philosophie, die der Phänomenologie vorangehen, nicht vertraut; er erfaßte aber trotzdem den kritischen Aspekt der Hegelschen Analyse, selbst in der verflüchtigten Form, in der es gesellschaftlichen Problemen gestattet war, in die Phänomenologie des Geistes einzugehen. Er sah das Große dieses Werkes in der Tatsache, daß Hegel die „Selbsterzeugung" des Menschen (das heißt, die Herstellung einer vernünftigen Gesellschaftsordnung durch die freie Aktion des Menschen) als einen Prozeß der „Vergegenständlichung" und ihrer „Negation" begriff, kurzum, daß er das „Wesen der Arbeit" erfaßte und den Menschen „als Resultat seiner eignen Arbeit" ansah." Während es daher nach dem Denkansatz Hegels zunächst so aussehen könnte, als wäre allein der Herr frei und der Knecht unfrei, verlagert sich im Verlauf der dialektischen Analyse der Schwerpunkt, ganz wie bei Diderot, auf das Selbstbewußtsein des Knechtes. Die Arbeit des Knechtes ist unfreie Arbeit, „denn was der Knecht tut, ist eigentlich Tun des Herrn". Aber eine Umkehrung ist nicht möglich, denn Hegel betont: „Aber zum eigentlichen Anerkennen fehlt das Moment, daß, was der Herr gegen den Anderen tut, er auch gegen sich selbst, und was der Knecht gegen sich, er auch gegen den Andern tue. Es ist dadurch ein einseitiges und ungleiches Anerkennen entstanden." Hegel folgert daraus, daß in des Herren Beziehung zum Knecht die Selbständigkeit des Bewußtseins abhanden kam: „Aber es erhellt, daß dieser Gegenstand seinem Begriffe nicht entspricht, sondern daß darin, worin der Herr sich vollbracht hat, ihm vielmehr ganz etwas anderes geworden, als ein selbständiges Bewußtsein. Nicht ein solches ist für ihn, sondern vielmehr ein unselbständiges; er ist also nicht des Fürsichseins, als der Wahrheit gewiß, sondern seine Wahrheit ist vielmehr das unwesentliche Bewußtsein, und das unwesentliche Tun desselben." Worauf Hegel den Prozeß scharf zusammenfaßt in den Worten: „Die Wahrheit des selbständigen Bewußtseins ist demnach das knechtische Bewußtsein". Worauf eine dunkle Antizipation, in der Sprache nicht ohne
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unterirdisches Grollen, die weiteren Perspektiven knechtischer Emanzipation anzudeuten sucht, wenn es über das „knechtische Bewußtsein" heißt: „Dieses erscheint zwar zunächst außer sich und nicht als die Wahrheit des Selbstbewußtseins. Aber wie die Herrschaft zeigte, daß ihr Wesen das Verkehrte dessen ist, was sie sein will, so wird auch wohl die Knechtschaft vielmehr in ihrer Vollbringung zum Gegenteile dessen werden, was sie unmittelbar ist; sie wird als in sich zurückgedrängtes Bewußtsein in sich gehen und zur wahren Selbständigkeit sich umkehren". Die Mischung aus Verkündigung zukünftiger Befreiung der Knechte und Hohn für die untergehende Herrenwelt erklärt vielleicht die außerordentliche Wirksamkeit eben dieser scheinbar rein „idealistischen" Analyse. Der ehemalige Schüler des Tübinger Stiftes macht sich lustig über den Gemeinplatz, wonach „die Furcht des Herrn der Anfang der Weisheit" sei. Dadurch erlange das knechtische Bewußtsein, durch Furcht also, niemals ein neues Selbstbewußtsein, ein „Fürsichsein". Diese Veränderimg wird allein durch menschliche, also knechtische Arbeit erwirkt. In dieser Beziehung zur eigenen Arbeit wird sich der Knecht sowohl seiner Unfreiheit wie der Tatsache bewußt, daß er allein produktiv sei: aber nur in Diensten des unproduktiven, nicht arbeitenden Herrn. Aufhebung der Knechtschaft aber, für Hegel immer als Prozeß des Geistes verstanden, setzt beim Knecht voraus, daß er nicht bloß Unannehmlichkeiten des Knechtsdienstes beklage, sondern in sich und von Grund auf den Zustand der Knechtschaft negiere. Hegel meint daher, nicht ohne Zorn wie es scheint, vom knechtischen Bewußtsein: „Hat es nicht die absolute Furcht, sondern nur einige Angst ausgestanden, so ist das negative Wesen ihm ein äußerliches geblieben, seine Substanz ist von ihm lücht durch und durch angesteckt. Indem nicht alle Erfüllungen seines natürlichen Bewußtseins wankend geworden, gehört es an sich noch bestimmtem Sein an; der eigne Sinn ist Eigensinn, eine Freiheit, welche noch innerhalb der Knechtschaft stehenbleibt." Dies ist bereits ein Lieblingsgedanke des späten Bertold Brecht. Was bei Hegel die Unterscheidung zwischen der kleinen Gelegenheitsangst und der „absoluten Furcht" gewesen war, wird in „Mutter Courage" als Gegensatz vom kleinen und vom großen Zorn definiert. Der kleine Zorn eignet den Querulanten und eigentlichen Knechtseelen. Wer sich aus kleinem Zorn beim Obristen „beschweren" möchte, lehrt die Courage, wird das Nachsehen haben. Der große Zorn aber, das scheint Brecht anzudeuten, läßt sich nicht mehr in Form einer Beschwerde bei irgendeiner Behörde beschwichtigen. Aus der absoluten Furcht und dem großen Zorn entspringt die große Verweigerung.
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Hegel ist auf diese Gedanken seiner Jugend, die in der „Phänomenologie des Geistes" kulminieren sollten, später kaum noch zurückgekommen. Wie es zur Transformation des Jenaer Philosophen in den sogenannten und in vielem auch realen Apologeten des preußischen Staates und Königtums kommen konnte, das ist seit Marx oft behandelt worden. Bemerkenswert jedoch und kennzeichnend, daß nach Hegels Tode die Auseinandersetzung zwischen den konservativen, preußisch-lutherischen Althegelianern und den „Berliner Freien", den Jimghegelianern also, zu denen auch der junge Karl Marx ztmächst gehörte, zwar von der Religionskritik ausging, den idealistischen Ansatzpunkt des Hegelschen Systems also nicht in Frage stellte, sehr schnell jedoch zurückgeführt wurde zu den Gedanken des jungen Hegel über Herrschaft und Knechtschaft. Dabei mag gar nicht wichtig sei, ob die Frühschriften Hegels schon allgemein bekannt waren. Karl Marx freilich kannte sich aus in der „Phänomenologie des Geistes". Noch einmal sei an dieser Stelle auf Herbert Marcuse hingewiesen, wenn er betont: „Marx war mit den Stufen der Hegelschen Philosophie, die der Phänomenologie vorangehen, nicht vertraut; er erfaßte aber irotzdem den kritischen Aspekt der Hegelschen Analyse, selbst in der verflüchtigten Form, in der es gesellschaftlichen Problemen gestattet war, in die Phänomenologie des Geistes einzugehen. Er sah das Große dieses Werkes in der Tatsache, daß Hegel die „Selbsterzeugung" des Menschen (das heißt, die Herstellung einer vernünftigen Gesellschaftsordnung durch die freie Aktion des Menschen) als einen Prozeß der „Vergegenständlichung" und ihrer „Negation" begriff, kurziun, daß er das „Wesen" der „Arbeit" erfaßte und den Menschen „als Resultat seiner eigenen Arbeit" ansah." Nicht weniger bemerkenswert ist es vielleicht, daß bereits vor Marx auch Ludwig Feuerbadi im Prozeß seiner Abkehr von Hegel gleichsam mit Notwendigkeit auf den Antagonismus von Herrschaft und Knechtschaft gestoßen wurde. Auf die Bedeutung von Feuerbachs Aufsatz „Notwendigkeit einer Veränderung" von 1842/43 hat Karl Löwith mit Nachdruck hingewiesen. Dieser Aufsatz aber, mitten in der großen Debatte über Feuerbachs Buch „Das Wesen des Christentums" von 1841 verfaßt, schließt als Anwendung der Herr- und Knechtproblematik auf Feuerbachs Zentralthema der Auseinandersetzung zwischen Diesseits und Jenseits, Anthropologie und Theologie. Feuerbach erklärt: „Wenn wir den Zeitpunkt des Protestcmtismus aufheben in Himmel, wo wir Herren, und in die Erde, wo wir Knechte sind, wenn wir also die Erde als unseren Bestimmungsort erkennen, so führt der Protestantismus stante pede zur Republik. Wenn in früheren Zeiten sich Republik mit dem
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Protestantismus verband, so war es freilich zufällig — doch nicht ohne Bedeutung — weil der Protestantismus nur religiös frei macht und daher ein Widerspruch, solange man noch den religiösen Glauben des Protestantismus festhielt. Nur wenn du die christliche Religion aufgibst, hast du sozusagen das Recht zur Republik, denn in der christlichen Religion hast du deine Republik im Himmel, du brauchst also hier keine. Im Gegenteil hier mußt du Knecht sein. Sonst ist der Himmel überflüssig." *
Wie ist es jedoch zu erklären, daß seit Feuerbach nicht bloß in der philosophischen Auseinandersetzung, sondern auch im literarischen Schaffen des späteren 19. Jahrhunderts die große Auseinandersetzung über das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft immer mehr zurückgedrängt wurde? Leibniz war vergessen. Hegel wurde, wie Marx erbittert feststellen sollte, unter der philosophischen Herrschaft Arthur Schopenhauers immer mehrmals „Toter Hund" behandelt. Im Marxismus hatte sich die Hegelsche Abstraktion von Herrschaft und Knechtschaft in die Klassengegensätze von Bourgeoisie und Proletariat auseinandergefaltet. Mit Hilfe einer „Kritik der politischen Ökonomie" wurde nun die Konkretisierung jener Phänomene des Geistes versucht. Im „Kapital" ging es abermals um Herrschaft und Knechtschaft in dialektischem Verstände; allein auch Hegels „absolute Furcht" war seit dem „Kommunistischen Manifest" konkretisiert und neu interpretiert worden. Damit geriet das Denken des jungen Hegel, das untrennbar verbunden war mit bürgerlicher Aufklärung und Revolution, in eine neue Welt des Klassenkampfes. Das Bürgertum war herrschende Klasse und wandte sich immer stärker und nicht ohne Schaudern ab von den geistigen Phänomenen seiner Anfänge und Aufschwünge. „Aufhebung" Hegels im Marxismus; andererseits Verspottung Hegels durch die Bourgeoisie und ihren neuen Philosophen. Wo Hegel bis 1849 wenigstens noch durch Feuerbach geherrscht hatte, wie bei Hegels Stuttgarter Landsmann Georg Herwegh oder bei Richard Wagner, erfolgte nun das Überlaufen zum philosophischen Pessimismus von Schopenhauer. Es war nicht zu verkennen, daß schon in der Terminologie einer „Herrschaft" und „Knechtschaft" die Situation eines bürgerlichen Protestes gegen feudale Zustände inkarniert worden war. Herr und Knecht waren Ausdrucksformen der Feudalgesellschaft. Überall dort also, wo noch mitten in fortschreitender kapitalistischer Entwicklung weite Parzellen eines vorkapitalistischen Rau-
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mes konserviert worden waren, im Zustand folglich einer gesellschaftlichen Unreife, kamen Denken und Belletristik sogleich wieder auf das Gefüge von Herrschaft und Knechtschaft. Da in gesellschaftlich entwickelten Sozialstrukturen jedoch die Auseinandersetzung längst als eine solche zwischen Bourgeoisie und Proletariat, auch in Form des Bündnisses von Arbeitern und Bauern, geführt wurde, erwies sich die Formel Hegels von der Beziehung zwischen Herr und Knecht, die so kühn gewesen war im Jahre 1807, immer mehr als regressiv. *
Die sogenannte „Schöne Literatur" des 19. Jahrhunderts seit 1848 versagt sich ebenso eine Nachfolge Voltaires und Diderots wie sich die Philosophen von Hegel abgewendet haben. Jakob der Fatalist und sein Herr sind keine Themen mehr für Flaubert oder Adalbert Stifter, für Hebbel und Baudelaire, Thackeray oder E. A. Poe. Nur die russische Literatur, als Ausdruck und Protest innerhalb unreifer Zustände, reproduziert immer wieder von neuem, vor allem bei Turgenjew und Tolstoi, die Konstellation zwischen Herrn und Knecht. In Frankreich entwickelt sich einmal, vor und durch Zola, die realistische Auseinandersetzung mit kapitalistischen Formen der Herrschaft und Ausbeutung, gipfelnd in einem Roman wie „Germinal". Andererseits verniedlicht eine objektiv apologetische Literatur des herrschenden Bürgertums den sozialen Gegensatz in Darstellungen treuer Dienstboten und patriarchalischer Verhältnisse, worin Herrschaft und Knechtschaft absorbiert werden sollen als Gemeinschaft einer „Großen Familie". Der späte Grillparzer überträgt die Formel „Ein treuer Diener seines Herrn" sogar auf die Beziehungen zwischen Monarch und Feudalherrn. Flaubert verherrlicht das „einfache Herz" des treuen Dienstmädchens und erntet dafür literarisch viel Lob. Es spuken der treue Diener und die emsige Haushälterin sogar weiter bei Marcel Proust, ganz zu schweigen vom sentimentalen Kitsch des Romans vom „veruntreuten Himmel" bei Franz Werfel. Keiner der bürgerlichen deutschen Erzähler des 19. Jahrhunderts hat sich dem Thema gestellt. Man versagte sich, im Gegensatz zu Stifter, die Apologetik, mochte andererseits auch nicht in Verdacht geraten, ein Schreiber der „Sozialdemokratie" zu sein. Immerhin gibt es in der Bitterkeit Wilhelm Raabes oder in Theodor Fontanes heller Nüchternheit keine treuen Diener und gütigen Herrn. Es sei denn, ironisiert und realistisch verstanden als Darstellung untergehender Feudalität, im „Stechlin". Wie aber erklärt es sich, daß kein anderer Schriftsteller im deutschen Litera-
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turbereich so angstvoll und ausschließlich das Thema der Herrschaft und Knechtschaft in den Mittelpunkt eigenen Schaffens rückte, wie gerade Hugo von Hofmannsthal? Mit dem geheimen und heiklen Aristokratismus des Mannes hat es vermutlich zu tun. Außerdem mit der Unreife oder prekären Überreife gesellschaftlicher Zustände im Kaiserreich der Habsburger. Hofmannsthal empfand sich als zugehörig zur Habsburgischen Barockgesellsdiaft. Im ersten Weltkrieg evozierte er den Prinzen Eugen und die Kaiserin Maria Theresia: gleichsam in einer Aktion geistiger Landesverteidigung. Zu einer Zeit übrigens, da Thomas Mann im deutschen Reich der Hohenzollern, mit größerer Skepsis freilich, das Bild des preußischen Friedrich beschwor. Andererseits war Hofmannsthal kein echter Aristokrat. Er spielte nicht ungern die Rolle des jungen Herrn aus großem Hause, gemahnte damit freilich bisweilen eher an den Herrn von Faninal, den „reichen Neugeadelten". Unter seinen Vorfahren gab es Österreicher, Juden, Italiener. Weshalb Hermarm Broch in seiner Studie über Hofmannsthal und seine Zeit dem Autor des „Jedermann" vorwarf, durch allzu weit getriebene Emanzipation am Ursprünglichen sich versündigt, also Schuld auf sich geladen zu haben. Hofmannsthal hat dies alles gewußt. Er lebte nie in einer fraglosen Sekurität der Finanzen und des Gefühls. Wenn er habsburgische Erinnerungen beschwor, das Zusammenwirken von Madrid und Wien im 17. Jahrhundert, also im Zeitalter seiner geliebten Lope und Calderön, so wußte er gleichzeitig, daß er in Wien gleichsam existieren mußte als Minderheit einer Minderheit einer Minderheit. Minderheit waren die Menschen deutscher Sprache in diesem Kaiserreich vielfältiger Nationalitäten. Weshalb es Hofmannsthal so ernst war mit „Welt und Ehre deutscher Sprache". Minderheit war die deutschsprechende bürgerliche Oberschicht, die das Reich Franz Josefs germanisieren und administrieren sollte. In Wien galten sie — diese Erfahrung hat bereits Grillparzer und Stifter arg verstört — nicht eben viel neben den echten Aristokraten, den Erlauchts Graf Bühl, und den Arbeitern von Floridsdorf. Die deutschsprechenden Erblande der Habsburger aber waren bäurisch geblieben. Minderheit schließlich des reizempfindlichen Künstlers unter diesen Bürgern. Minderheit einer Minderheit einer Minderheit. So ist es vermutlich zu erklären, daß Hofmannsthals Dichtung sich immer wieder und höchst bewußt als Regression präsentiert. Am Vorabend des entscheidenden Mißerfolgs seiner Oper „Die ägyptische Helena" rät er dem Partner Richard Strauß, nur mehr mythologische Opern zu schreiben. In ihnen allein lasse sidi Gegenwart abbilden. Daher das kostbare und oft doch verärgernde Spiel mit vergangenem Kulturgut und abgestorbenen Ritualen: Imitation
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des Moliere und des Calderon, des Mysterienspiels und der antiken Tragödie. Angebliches Wien der Maria Theresia oder der Zeit von 1860; Venedig des 18., Madrid des 17. Jahrhunderts. Imitation der Stegreifkomödie und der Opera seria. Auch das Lustspiel vom „Schwierigen" spielt in einem Niemandsland.
In alledem spürt man, hinter der immensen Bildung, die Todessüchtigkeit eines Erben, der keineswegs verschwendet, sondern kulturelle Schätze, die von Entwertung bedroht sind, konservieren möchte. Deshalb vor allem versagt sich Hofmannsthal der wirklichen gesellsdiaftlichen Konfrontation mit der eigenen Epoche seit dem Augenblick, da die Eklosion des genialischen Knaben Loris zu Ende kam. Die Germanisten machen immer nodi viel Wesens um das von Hofmannsthal angeblich nach schweren Wendungen „erreichte Soziale". Er hat es nicht erreicht. Das Soziale tritt bei Hofmannsthal immer nur als Regression auf und als gesellschaftlicher Anachronismus. Nicht wegen der historischen Kostümierung, denn Brechts „Courage" oder „Galilei" sind keineswegs regressiv. Hofmannsthal aber beschwört jedes Mal gesellschaftliche Konstellationen, die es längst nicht mehr gibt. Auch dies ist zugleich todessüchtig und mutig. Daß seine geistige Welt einem sterbenden Reich und einer untergehenden Gesellschaft zugehörte, wußte bereits der junge Hofmannsthal, dessen Lieblingsthema die Vergänglichkeit war, die Agonie, die Episode, die hübsche Formel für böse Dinge. Hofmannsthals Kunst war früh bereits eine Artistik des schlechten sozialen Gewissens. In dem Gedicht „manche freilich" klingt es an: schöne Kunst wird geschaffen, aber gleichzeitig verdunkelt, damit freilich auch im Wert gesteigert, durch Häßlichkeit, schwere Arbeit, Geistlosigkeit. Niemals aber stellt sich Hofmannsthal der Realität jener Menschen, die frustriert, ins Dunkel gestoßen, ausgebeutet sind. Es gibt keine Proletarier bei Hofmannsthal, sondern nur Diener und Knechte. In ästhetischen Regressionen seines Werkes erscheinen weder Bourgeoisie noch Proletarier. Es gibt nicht das Kapital, sondern den Mammon; nicht den Kapitalisten, sondern den Reichen; nicht den Arbeiter sondern den Knecht oder gar den Bettler.
Im „Märchen der 672. Nacht", das der 21-jährige Hofmannsthal im Jahre 1895 verfaßte, wird das Schicksal des Künstlers und Liebhabers der schönen Dinge als ein Vorgang behandelt, den man, mit einem Ausdruck von Richard Alewyn, als „Tod des Ästheten" bezeichnen könnte. Der junge, schöne und unabhängige Liebhaber des Geistes und der Schönheit lebt dahin ohne Beziehung zum Mitmenschen. Er hat Diener, die ihm nichts sind als eben Funktion der Dienstbarkeit. Sie sind völlig
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ihres Menschentums entfremdet und im Vorgang solcher Dienstbarkeit erstarrt. Nicht so ganz indessen. Ihre Augen schauen auf den Herrn: „Voller Haß, Abstand oder Trauer, es genügt jedoch, daß auch er anfangen muß, hie und da über sie nachzudenken." Immer stärker aber wirken die scheinbar ihrer Menschlichkeit entfremdeten „Objekte" störend hinein in Genuß, Ruhe und Geistigkeit ihres Herrn. Seine Historienbücher versagen den einstigen Genuß ästhetischer Rückschau, denn der Bericht des Geschichtsschreibers von Schlachtenelend und menschlichem Leid wird dem Leser plötzlich lebendig und bezüglich. Wenn er von sterbenden Kriegern liest, vom „Volk", das die Kriege der Herren führte, fühlt er die Augen seiner vier Diener auf sich geheftet. „Sie sehen sein ganzes Leben an, sein tiefstes Wesen, seine geheimnisvolle menschliche Unzulänglichkeit." Schon die frühe Ästhetenfigur in Hofmannsthals Werk erlebt jenen prüfenden Augenausdruck der „Anderen", den Sartre später so eindringlich beschrieben hat. Die Anderen aber sind für den schönen Liebhaber der schönen Dinge gleichgesetzt mit Dienerwelt und häßlicher Arbeitswelt. Der Schatten, den diese werfen, verdunkelt nunmehr den Glanz des elitären Daseins. Lange Zeit suchte Hofmannsthal dann Sphären für seine Dichtung, die unbedroht schienen vom Angeblicktwerden durch Knechte und Enterbte. Das fragwürdige Spiel vom „Sterben des reichen Mannes", 1911 zuerst erschienen, versuchte ernsthaft, ohne die Armut auszukommen. Der Mammon war bloß Allegorie; Armer Nachbar und Schuldknecht blieben Episode und dienten nicht zur gesellschaftlichen Antithese, sondern als Testfälle für die Sündhaftigkeit des Jedermann. Ärgerlicher und weitaus regressiver war dann der Versuch von 1922 mit einer Synthese aus Barockarchitektur, Mysterienspiel, katholisch-sozialer Erbauungsliteratur und nachgemachter Bauernsprache im „Salzburger großen Welttheater". Hätte Hofmannsthal hier den mittelalterlichen Spiel typ, wie er in der Vorbemerkung behauptet, ebenso entlehnt wie die Metapher der Welt als Schaubühne, — es wäre höchstens ästhetisch über den Geschmack zu streiten gewesen. Anstößig wird jedoch das Spiel durch Hofmannsthals Versuch, modernen Klassenkampf gleichsam als ewiges und statisches Spiel zu präsentieren, das ohnehin am Schluß vor göttlicher Weisheit als irrelevant erscheinen muß. Hofmannsthal hat den „Herrn" nicht in der Herrschaft, sondern nur in deren Rentabilität vorgestellt: als Reichen, der göttlicher Gnade am Schluß mißfällt, während man dem Bettler durch Engel berichten läßt, er habe zur Zufriedenheit des höheren Wesens agiert. Schon Alfred Polgar wußte damals als Rezensent nicht recht, ob er lachen oder böse werden sollte.
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Die Sphäre der Knechtschaft aber wird ideologisch dadurch verschleiert, daß der Autor produktive und frustrierte Welt aufteilt in die Rollen des Bauern und des Bettlers. So leistet er sich eine groteske Konfrontation der beiden: des besitzenden Bauern und des besitzlosen Bettlers. Der Bauer bin ich, und du stehst auf mei'm Grund. Marsch, oder ich brauch Hausrecht! Bettler (ungeheuer) Noch ein Recht! Bauer Und Herrenrecht dazu, wannst aufrebellst, du Knecht! Bettler (mächtig die Axt hebend) Dieb! Deine Recht sind g'stohlen, und zu der Stund Ruf ich mirs heim als wie verlaufene Hund. (Er pfeift) Jetzt kommt gleich's erste Recht. Schlagrecht ist jetzt bei mir! Siehst jetzt? die Recht sind lumpige Lakain, Die allezeit dem Stärkern dienstbar sein. Am Schluß formiert sie sich wieder, diese angeblich mittelalterliche Gesellschaft. Alle Kämpfe waren nur gespielt. Das Salzburger Festspielpublikum jedoch des Jahres 1922 trat lücht ohne einiges Gefühl der Erbauung aus der Kollegien-Kirche hinaus in die heitere Sommernacht von Salzburg. Herr und Knecht. Der Knecht ist hier reduziert auf eine Rolle in der Welt. Herrschaftsverhältnisse sind offenbar göttlich gegeben. Weit sind wir entfernt von Diderot und vom jungen Hegel. Auch noch von den Erkenntnissen des jungen Hofmannsthal. Hofmannsthals Lustspiel schließlich „Der Unbestechliche", ein Jahr nach dem Salzburger Welttheater entstanden, also 1923, spielt zwar, wie der Verfasser angibt „auf dem Gut der Baronin in Niederösterreich im Jahre 1912", aber es ist offensichtlich wiederum eine geheime Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Erfahrungen der Revolution von 1918 und den proletarischen Kämpfen jener ersten Nachkriegszeit. Abermals, wie zwei Jahre vorher bei dem Lustspiel vom „Schwierigen" erscheint die aristokratische Welt als unversehrt. Nur demonstrierte Graf Bühl die fraglose Überlegerrheit des echten — und diesmal älteren — Herrn aus großem Hause, während Theodor als der „unbestechliche" Diener
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offenbar die gesellschaftliche Umschichtung demonstrieren soll. Den Schluf? des „Unbestechlichen" hat Richard Alewyn folgendermaßen interpretiert: „In der Verwirrung unbemerkt, hat sich nämlich eine kleine Palastrevolution abgespielt. Der Diener Theodor ist keineswegs gewillt, nach der Regel der klassischen Komödie wieder an seinen Platz zurückzutreten. Er hat nicht darum die alte Baronin zur Abdankung gezwungen und das Götzenbild des Sohnes zertrümmert, um den Thron leer stehen zu lassen. Das Haus hat einen neuen Herrn: II Servo Padrone. Und das ist auch lustig, aber doch in einem nachdenklicheren Sinn." Das ist lustige Anspielung auf eine heitere italienische Oper des 18. Jahrhunderts auf die „ServaPadrona". Allein es ist nicht zu verkennen, daß ein Titel wie „Die Magd als Herrin" weitaus unbedenklicher anmuten muß als der Titel „Der Diener als Herr". Alewyn weist mit Recht hin auf die Beziehungen dieses Stückes zu Mozarts Figaro. Allein wiederum hat Hofmannsthal die Ernsthaftigkeit des Konfliktes zwischen dem Knecht und dem Herrn durch Manipulationen entschärft. Der unbestechliche Diener Theodor bleibt zwar „Herr im Haus", allein nur dadurch, daß er die Herrschaft selbst vor Schaden durch Andere bewahrt, die weniger unbestechlich sein könnten. Im Grunde ist ein Titel wie „Der Unbestechliche" fast ärgerlich zu nennen, denn so nannte man, wie auch Hofmannsthal wußte, in der französischen Revolution den Jakobiner Robespierre. Ein weiter Weg also von Hegels „Phänomenologie des Geistes", wo die Bedeutung des revolutionären Rigorismus eines Robespierres sehr tiefsinnig reflektiert wird, und dem niedlichen Dienstbotenterror des unbestechlichen Hausverwalters Theodor, der die eheliche Moral rettet und die aristokratische Ordnung zugleich: unentbehrlich auch ohne Kündigungsschutz. Ein Diener als Herr: eine hübsche Formel böser Dinge. *
Hofmannsthals Verhältnis zur Dialektik der Herrschaft und der Knechtschaft entspringt also der Untergangssucht und der Überreife von gesellschaftlich unreifen Verhältnissen. Das Habsburger Reich war in so hohem Maße „unzeitgemäß" geworden, daß es die Gleichzeitigkeit mit den kapitalistischen Systemen Westeuropas gar nicht mehr einzuholen imstande war. Unreife schlug unmittelbar um in eine gesellschaftliche Endzeit. Des Dichters Regression im Spielen mit den Figuren des Knechts wie des Herrn gehörte deshalb bereits zum literarischen Überbau einer Endzeit. Überall dort jedoch, wo sich erst die Anfänge einer modernen Arbeiterbewegung bildeten, um eine Minderheit zu repräsentieren gegenüber einer Majorität des Bauerntums, reflektierte die Literatur sogleich wieder
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die sozialen Gegensätze als solche des Herrn und des Knechts. Das gilt für Schweden und August Strindberg, den „Sohn einer Magd", ebenso wie für Dänemark und Martin Andersen Nexös Roman „Pelle der Eroberer". Andersen Nexös erster großer Roman entstand zwischen 1906 und 1910: unmittelbar also nach dem Scheitern der russischen Revolution von 1905. Der Entstehungszeit nach gehört „Pelle der Eroberer" unmittelbar neben Maxim Gorkis Roman „Die Mutter". Daß Martin Andersen Nexö, Sohn eines Knechts von der Insel Bornholm, in diesem Roman eigene Jugenderinnerungen verarbeitet hat, ist bekannt. Eigentliches Thema jedoch des Romans ist nicht eine Regression unreifer Zustände als geistige Verewigung der Gegensätze von Herr und Knecht. Im Gegenteil soll gezeigt werden, wie sich aus Bauemknechten auch in Dänemark die städtischen Arbeiter, schließlich die klassenbewußten Proletarier entwickeln. Der kleine Pelle Karlsson, der mit seinem Vater Lasse aus Schweden nach Bornholm kommt, wo sie Arbeit und eine Schlafstelle suchen, wird vom ersten Augenblick an als „Eroberer" vorgestellt. Noch im Augenblick der scheinbar tiefsten Erniedrigung, da Vater Lasse und Sohn Pelle in Bornholm auf dem Arbeitsmarkt herumstehen und niemand sie haben will, spürt das Kind, „daß nämlich die ganze Welt ihnen gehören würde, mit allem, was sie an Wunderbarem enthielt, mit Stumpf und Stiel. Er war schon dabei, sie in Besitz zu nehmen — mit weitgeöffnetem Munde". Womit freilich die Gestalt Pelles in einer künstlerisch bedenklichen Weise der Individualität beraubt und zum Symbol gemacht wird. Er ist dann weit weniger der Knabe und Junge und Mann Pelle, als der Repräsentant einer langsam und schwerfällig sich emanzipierenden Arbeiterklasse. Noch im Jahre 1938 muß ein Romanschreiber, der von Grund auf den Realismus eines Andersen Nexös ablehnt, bei Darstellung unreifer Verhältnisse sogleich das Thema Herrschaft-Knechtschaft romanhaft präsentieren. Es handelt sich diesmal um das gesellschaftlich „unreife" und in wesentlichen Teilen des gesellschaftlichen Lebens noch feudalistisch gebliebene Polen des Marschalls Pilsudski: jenes Polen also, das ein Jahr nach Erscheinen des Romans „Ferdydurke" von Witold Gombrowicz ein gewaltsames Ende nahm. Die polnische Welt im Roman „Ferdydurke" bietet gleichfalls einen solchen Zustand der Ungleichzeitigkeit. Feudalität und patriarchalische Gutsherrschaft, die bloß noch formal und brutal aufrecht erhalten werden können. Am Beispiel des Gutsbesitzer-Onkels Eduard und seiner Familie wird das ebenso grotesk wie genau geschildert: „Wir hatten die Bestie geweckt! Wir hatten die Frechheit des Hausgesindes entfacht! In jener fürchterlichen Nacht, in der ich schlaflos auf dem Bette lag, hatte ich das Geheimnis des ländlichen
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Herrenhauses begriffen, das Geheimnis des Landadels und der Bürgerschaft, ein Geheimnis, dessen vielfältige und trübe Symptome mich vom ersten Augenblick an mit dem Vorgefühl der Fressenangst und der Fresse erfüllt hatten! Die Dienerschaft war dies Geheimnis. Der Plebs war das Geheimnis der Herrschaft." *
Kaum verwunderlich daher, wenn in jenem Werk Bertolt Brechts, das ausdrücklich bereits im Titel als Paraphrase von Hegel verstanden werden sollte, nämlich im Volksstück von Herrn Puntila und seinem Knechte Matti, der Handlungsrahmen abermals durch wesentlich feudale Verhältnisse, abermals demnach durch soziale Unreife bestimmt war. Nach Schweden bei Strindberg, nach den dänischen Verhältnissen bei Andersen Nexö, nach dem Polen von Gombrowicz nun die Gutsbesitzerswelt in Finnland. Das Stück vom Herrn Puntila ist eine Frucht des Exils. Brecht flieht mit seiner Familie vor der deutschen Okkupation aus Dänemark nach Schweden, von dort nach Finnland, schließlich über Wladiwostock nach Amerika. Brecht selbst teilt mit; „Es ist ein Volksstück und wurde 1940 nach den Erzählungen und einem Stückentwurf von Hella Wuolijoki geschrieben." Der Entwurf dürfte also im finnischen Sommer 1940 entstanden sein. Aus dieser selben Zeit aber stammen auch die „Flüchtlingsgespräche". Diese glanzvollen Dialoge zwischen den beiden deutschen Emigranten, dem marxistischen Intellektuellen Ziffel und dem Proletarier Kalle, zwischen Herr und Knecht von einst, nun zwischen „Genossen", finden, als halbillegale Situierungen der gesellschaftlichen Lagen und Standorte, im Bahnhofsbüfett der finnischen Hauptstadt Helsinki statt. In seinem Arbeitsbuch hat Brecht unter dem 1. Oktober 1940 notiert; „Ich las in Diderots „Jakob der Fatalist", als mir eine neue Möglichkeit aufging, den alten Zippel-Plan zu verwirklichen, die Art, Zwiegespräche einzuflechten, hatte mir schon bei Kivi gefallen. Dazu habe ich vom Puntila noch den Ton im Ohr. Ich schrieb probeweise zwei kleine Kapitel und nannte das Ganze „Flüchtlingsgespräche". Diesmal ist die bewußte geistige Nachfolge evident. Das Volksstück von Herrn Puntila erinnert bereits im Titel an Hegels Antithese von Herr und Knecht. Indem Brecht, der gerade am Puntila gearbeitet hatte, nun auch noch Diderots Roman las, von Jakob und seinem Herrn, die geistige Quelle also auch für Hegel, werden ihm die „Flüchtlingsgespräche" gleichsam zu einer neuen, materialistischen Synthese aus Diderot und Hegel. Folgerichtig doziert darum Ziffel in diesen Dialogen;
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„Meine Kenntnis vont Marxismus ist unvollkommen, so seiens lieber vorsichtig. Eine halbwegs komplette Kenntnis des Marxismus kostet heut, wie mir ein Kollege versichert hat, zwanzigtausend bis fünfundzwanzigtausend Goldmark und das ist dann ohne die Schikanen. Drunter kriegen Sie nichts Richtiges, höchstens so einen minderwertigen Marxismus ohne Hegel oder einen, wo der Ricardo fehlt usw." In den beiden Geschwisterwerken Brechts also, im Volksstück und den „Flüchtlingsgesprächen", ist die finnische, unreife Umwelt mit hohem Bedacht gewählt. Durch den Rückgriff auf die veraltete Antithese vom Herrn und seinem Knecht soll die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Veränderung demonstriert werden. Darum beginnt der Knecht Matti in diesem Volksstück noch als integrierender Bestandteil der feudalen Umwelt seines Herrn und Grundbesitzers. Im Schluß aber kündigt er die unreifen Verhältnisse auf. Mit der Formel „Wer Wen" postuliert er die Analyse des Klassenkampfes zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten, Kapitalisten und Proletariern. Matti wird das Gut verlassen und städtischer Proletarier werden. Integration mit Herrn Puntila ist nicht mehr möglich. Was bei Hofmannsthal als geistige Regression und Abkehr von der Wirklichkeit gedacht war, erweist sich bei Brecht als gesellschaftskritische Ungeduld mit unreifen Verhältnissen.
♦ Worauf zu fragen wäre, ob die Beziehungen zwischen Herrn und Knecht auch im Spätkapitalismus, im Zeichen des Geredes von „Sozialpartnern" und „formierter" Gesellschaft, noch eine gewisse Erkenntnischance bewahrt haben. Folgt man Martin Walser und seinem Stück „Überlebensgroß Herr Krott: Requiem für einen Unsterblichen" von 1965, so scheint der soziale Antagonismus von einst zum bloßen Ritual hinabgesunken zu sein: besonnte Vergangenheit, die einmal im Jahr an irgendeinem „Festtag der Arbeit" heraufbeschworen wird. Natürlich arbeitet Walser auch mit Reminiszenzen an Brecht und dessen Puntila. Walsers Stück über den Herrn und den Knecht wird zur Literatur über Literatur. Herr Krott bei Martin Walser ist „überlebensgroß", womit eine Doppeldeutigkeit der Sprache (und der Sache) gemeint sein soll, die vielleicht sogar Hegel erfreut hätte. Krott ist überlebensgroß. Also verstößt er gegen die Maße und Normen der Natur. Riesenhaftigkeit ist ungesund. Krotts Größe und Übergröße erfüllt sich aber nicht nur im Raum, sondern audi in der Zeit. Er besitzt eine erschreckende Fähigkeit zum Überleben.
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Herr Krott hat die Vitalität des Herrn Puntila geerbt, nicht jedoch dessen ungebrochene, bloß im Suff gelegentlich durch moralischen Katzenjammer leicht getrübte Herrsch- und Eigentumsgesinnung. Krott, den man, wenn man so will, als „überlebensgroße" Inkarnation des Kapitals verstehen kann, empfindet sich selbst als unzeitgemäße Figur. Er möchte so gern sterben, dieser Unsterbliche, allein es gelingt ihm nicht. Herr Krott, der Kapitalist, sieht sich von Walser in eine Wirklichkeit versetzt, wo er allein noch ernsthaft dem Prinzip des Klassenkampfes zu huldigen scheint. Krott betreibt den Klassenkampf natürlich „von oben" und hält es für selbstverständlich, daß die im Schatten und dort unten sein gewaltsames Ende herbeiführen. Aber er hat sich verrechnet. Auch Herr Strick, der Gewerkschaftsvertreter, kann leider nicht dienen, wenn Krott ihn provoziert: „Ich protestiere. Sie haben eine Mission, Herr Strick. Die Echsen durften sterben, als es Zeit war. Den Lurchen wurde gesagt: eure Zeit ist um. Herr Strick. Sie waren bestimmt für mich. Die Luft, ich atme Ihre Luft, Herr Strick, das ist Ihre Luft, die ich, die ich atme, die ich Ihnen wegatme. Ihre Luft." Herr Strick aber ist nicht für Klassenkampf, sondern für gesellschaftliche Integration der Arbeitnehmer. Auch der Knecht Ludwig karm nicht dienen. Ludwig ist Kellner und gedenkt es zu bleiben, und Stiefsohn Hansi will auch einer werden. Keine Rede davon, daß der Knecht den Krott, wie Matti den Puntila, verließe. Der Kellner-Knecht profitiert vom Überleben des sterbelustigen Herrn Krott. Das Ende ist nicht, wie bei Brecht, die Absage des Knechts an den Herrn, weil sich der Herr nicht mehr als solcher und der Knecht nicht mehr als sein Gegenspieler fühlt. So kann es weder zu gesellschaftlichen Antithesen noch zu dramatischen Entscheidungen kommen. Für sein Volksstück vom Herrn Puntila und seinem Knecht hatte der Marxist Brecht eine dramatische Lösung gefunden. Walser hat keine für seinen Herrn Krott nebst Kellner Ludwig. Dies ist bei Walser, in aller Bewußtheit: statische Dramatik. Ein Tag des unsterblichen Herrn Krott ist wie der andere. Statt der Spannungen erleben wir ein immer wiederholtes Ritual. Der Knecht Ludwig freilich akzeptiert nur die gesellschaftliche Integration, nicht die private. Er dient weiter, will aber kein Freund des Herrn Krott werden und ihn auch nicht duzen. Das ist alles, was Walser seinem Knecht noch an Nachfolge des Knechtes Matti bei Brecht zu gestatten gedenkt. Ein anderer Sproß aus dem Familienverband „Herr Puntila und seine Kinder" kam zunächst in Ostberlin zur Welt. Gleichfalls im Jahre 1965. Der Verfasser Hartmut Lange lebt inzwischen in Westdeutschland. Seine Komödie „Marski" wurde in der DDR konzipiert und ist auch nur von
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dort her zu interpretieren. Das ostdeutsche Gegenstück zum westdeutschen Krott. Marski ist ein Großbauer, wenngleich kein Grundbesitzer wie Puntila. Dessen Sauflust ist bei Marski in Freßlust abgewandelt. Marski will Freundschaft mit seinen Knechten und Vasallen unter den kleinen Bauern, die ihm so lange eine Freundschaftskomödie Vorspielen, wie sie seiner Pferde und Maschinen bedürfen. Wie Puntila und Krott sehnt sich auch Marski, eben weil er Herr und Besitzer ist, nach Idealen, „rein menschlichen" Beziehungen. Die jedoch kann er nicht haben, solange das Herrschaftsverhältnis bestehen bleibt. Dann aber werden bei Lange plötzlich alle Schachfiguren umgeworfen: König wie Bauern. Seine Kinder verlassen den Marski und treten der landwirtschaftlichen Kooperative bei. Marski findet keine Knechte mehr, vermag seinen riesigen Besitz nicht mehr zu bearbeiten und macht wie Papageno in der „Zauberflöte" einen Selbstmordversudi, der verhindert wird. (Die bewußten Zitate der größtenteils in Versen geschriebenen Komödie sind, nach echter Brecht-Tradition, gar nicht zu zählen: Faust klingt an und Wallenstein und Lear — und wörtlich natürlich auch der Herr Puntila.) Die Knechte holen Marski in die Kooperative, denn jetzt sind sie, jenseits von Herrschaft und Knechtschaft, seine wirklichen Freunde geworden: „Weil die Freundschaft und die Kunst immer etwas Überflüssiges bleiben müssen". Ein riesiges Gastmahl beendet die Komödie. Einer der einstigen Kleinbauern wendet sich abschiednehmend an die Zuschauer und mahnt das Beispiel Marskis an: „Rappelt Euch also auf und folgt ihm wie wir / dann geht's euch gut, ich bürge dafür." Ein sonderbarer Sohn des Herrn Puntila, dieser Marski. Sonderbar vor allem, daß er in Ostberlin zur Welt kam. Historische Konkretheit von Ort und Zeit ist bei Hartmut Lange sorgfältig vermieden worden. Puntila lebte in Finnland; Krott aber und Marski stammen aus einer Parabelwelt. Kein Parteisekretär gibt hier richtungsweisende Direktiven. Die kleinen Bauern wirken eher korrupt und kurzsichtig als vorbildhaft. Marski ist kraftvoll und klug, gelangt aber in den Bereich der kooperativen Harmorüe ganz ohne „innere Wandlung". Ihm bleibt halt nichts anders übrig. Allein seine sündige Vergangenheit als Großbauer wird ihm nicht nachgetragen. Von nun an gibt es mit ihm und für ihn echte Freundschaft: jenseits von Herr und Knecht, Die Familienähnlichkeit zwischen Krott und Marski ist unverkennbar; dennoch sind sie ungleiche Brüder. Martin Walser scheint, durch die Gestalt des Krott, die Verweichlichung und Entschärfung der gesellschaftlichen Gegensätze zu bedauern. Kellner Ludwig wahrt immerhin die Di-
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stanz und verweigert sich der angebotenen Freundschaft mit der Herrenwelt. Walser gestaltet eine Welt der Statik, jedoch aus Sehnsucht nach einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung, die ausbleibt. Hartmut Lange aber schreibt ein sonderbar idealistisches Spiel von der sozialen Integration. Die landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft wird gezeigt als eine nivellierende Gemeinschaft der Gleichen und der Freunde. Marski blieb als Großbauer so unbußfertig wie Faust. Dennoch wird er erlöst. Muß man hier nicht von Herrn Puntilas Himmelfahrt sprechen? * In beiden Fällen, dem des unsterblichen Herrn Krott und jenem des gefräßigen Herrn Marski, werden die Beziehungen zwischen Herr und Knecht höchst zeremoniell dargestellt. Alles vollzieht sich gleichsam wie ein Ballett, das seine festen Regeln besitzt, die der Kenner im Publikum zu würdigen versteht. Publikum aber bedeutet immer noch: bürgerliches Parkett der Bildung und des Besitzes bei der Uraufführung, kleinbürgerliches Abonnement im Nachtrag. In Samuel Becketts „Warten auf Godot" spielt man das Ballett des Herrn und des Knechts als Pas-de-deux nur vor einem Publikum, das aus zwei Pennern besteht. Dennoch ein kunstvolles und offenbar bewährtes Stück, seit langem immer wieder erfolgreich, inzwischen freilich stark überdreht. Pozzo der Herr und Lucky der Knecht spielen vor einem unwürdigen Publikum die Geschichte ihrer gegenseitigen unlöslichen Verstrickung. Was übrigens wörtlich zu nehmen ist, denn der Herr zieht seinen Knecht am Strick. Beide hören nicht zu, wenn das Publikum reagiert. Die Penner und Clowns aber sind naive Realisten: sie können Spiel und Wirklichkeit nicht unterscheiden, gleichen eher der berühmten einfachen Frau aus dem Volke, die dem Othello von der Galerie aus zuruft, er solle nicht auf Jagos Lügen hineinfallen. Übrigens ist auch bei Beckett der Knecht Lucky die „Wahrheit seines Herrn", wenn er auf Kommando zu „denken" hat, kommt bürgerlicher Kulturmüll aus seinem Munde. Alles ist in den Kübel für geistige Abfälle gewandert, aber man kann einzelne Brocken noch voneinander unterscheiden: Redensarten aus der akademischen Polemik, wissenschaftliche Fachausdrücke, Shakespeares Miranda, schizophrene Geographie, Romanfloskeln. Schließlich wird der Knecht auf Trab gebracht, die Peitsche knallt, es folgt der große und wirkungsvolle Abgang. Freilich ohne Applaus der Penner. Für die schreibt Beckett einfach „Schweigen" vor. Silence.
„Herr und Knecht" in der modernen Literatur
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Schon das Stück „Warten auf Godot" hätte den Titel oder Untertitel eines „Endspiels" tragen können. In jener Ort- und Zeitlosigkeit gibt es keine Konflikte mehr, keine Traditionen. Herrschaft und Knechtschaft wurden ebenso zum sinnentlehnten Ritual wie das mechanische Bildungsgequatsche des Knechts. Übrigens hat es damit im zweiten Akt auch schon ein Ende genommen. Der Herr teilt den Pennern mit, Lucky sei stumm. Als wäre das die selbstverständlichste Sache von der Welt: „Irgendeines Tages ist er stumm geworden, eines Tages werden wir taub, eines Tages wurden wir geboren, eines Tages sterben wir, am selben Tag, im selben Augenblick, genügt Ihnen das nicht?" Sonderbarerweise ist auch bei Beckett der einstige Gesellschaftskonflikt reduziert auf das Ritual zwischen einem anachronistisch gewordenen Herrn und einem derart frustrierten Knecht, daß er unfähig erscheint, auch nur das Zeremonial der knechtischen Existenz zu vollführen. Im „Endspiel" gibt es den Herrn, den Hammer, und die drei Nägel, worauf er — ehemals — einzuschlagen pflegte: die Eltern in der Mülltonne und den Diener Clov. Wieder sind Herr und Diener aufeinander angewiesen. Nicht bloß durch ihre Rollen, wie in „Warten auf Godot", sondern durch Gebrechlichkeiten, die einander ergänzen. Der eine kann nicht sitzen, der andere nicht stehen. Jeder kann damit gleichzeitig, was der Partner nicht karm. Auch dies ist dialektische Zusammengehörigkeit. Hier wiederum das Spiel ohne Ort und Zeit, ohne Tradition und Zukunft. Trotzdem wird gespielt. Hamm weiß genau in dem stets repetierten Zeremonienspiel, warm sein Einsatz kommt. Als Clov als untauglicher Diener, von Hairun gedemütigt, die Frage stellt: „Wozu diene ich denn?" antwortet Hamm sogleich: „Mir die Replik zu geben." Dann ist wieder eine Pause. In der Tat. Wenn Herrschaft und Knechtschaft auf das tägliche Spiel, auf Gebärden und Repliken reduziert wurden, dient der Knecht bloß noch dazu, dem Herrn das Stichwort zu bieten. Am Schluß sieht es einen Augenblick so aus, als ende die traditionelle Aktion fast so traditionell wie bei Brecht. Der Knecht verläßt seinen Herrn. Es kommt zur großen Verweigerung. Allein auch die erweist sich bei Beckett als zum Spiel gehörig. Entweder steht sie bereits im Textbuch, oder sie ist einfach eine neue Nuance innerhalb des alten Klischees. Weshalb Hamm so reagiert: „Gut." Er zieht sein Taschentuch heraus. „Da es so gespielt wird .. ." er faltet das Taschentuch auseinander . .. „spielen wir es eben so" ... er faltet das Taschentuch auseinander . . . „und kein Wort mehr darüber" ... er hat das Taschentuch auseinandergefaltet .. . „kein Wort mehr." Er hält das Taschentuch mit ausgestreckten Armen ausgebreitet vor sich."
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Von einer Episode im „Endspiel" sagte der Beckett-Forscher Hugh Kenner, sie müsse betrachtet werden „wie eine Inszenierung von König Lear, dessen Handlung wir kennen". Ausschließlich also als Darbietung. In den Endspielen Samuel Becketts ist die sogenannte wirkliche Welt nur noch als Bühne vorhanden. Auf ihr wird — dimensionslos und zeitlos — immer noch gespielt. Beckett verweigert sogar alle Antworten auf die Frage, ob da je etwas anderes gewesen sein könnte, als eben solches Spielen. In seinem „Versuch, das Endspiel zu verstehen", bezeichnet Adorno das Spiel zwischen Hamm und Clov als einen Beitrag zur „Endgeschichte des Subjekts". Stimmt das, so sind wir in diesem Stück des Iren, der heitere Stücke schreibt über sinnlos gewordene Aktivitäten, wiederum angelangt bei Hegels „Phänomenologie des Geistes". Übrigens audi beim Beginn seines späteren Buches über die Wissenschaft der Logik. Reines Sein wird geboten, also Nichts. Aber es gibt nicht mehr das Werden. Hegels einstige Reise durch die Phänomene des Bewußtseins stellt sich bei Beckett als Krebsgang dar. Zum Schluß gelangt man wieder zurück zur Eingangstür. Alles kann von neuem beginnen. Man kann aber auch die Reise beenden und den Wandelprospekt sich selbst überlassen. „Zum Raum wird hier die Zeit": wie bei der Wandeldekoration in Richard Wagners „Parsifal". Dann hatte man, in Beckett, nicht bloß die „Phänomenologie des Geistes" durchgelesen: von vom bis hinten, schließlich zurück von hinten bis vom. Auch die Wechselwirkung zwischen Herrschaft und Knechtschaft bliebe, in solcher Sicht, bloßes (freilich reizvolles) Moment in einem schönen Menschheitspanorama. Was einstmals nach Freiheit ausgesehen hatte und Emanzipation, scheint sich, unernst geworden, als Spiel zu repräsentieren. Man kann danüt Endspielen, kann es aber auch lassen. Hegel hätte den Gedanken an eine „Phänomenologie des Geistes" verlacht, die einmal zu ihren Anfängen zurückgekehrte, aber als neue Reise und mit neuer Mannschaft jederzeit und neu beginnen könnte. Der Realkonflikt zwischen Herr und Knecht, an unreifen Verhältnissen fixiert, gerät in überreifen Verhältnissen leicht ins Faulen. Vom Standpunkt der bürgerlichen Gesellschaft und Ideologie aus gesehen, steht Hegel freilich am Anfang, und Beckett am Ende. Wer aber zwingt uns dazu, das Schicksal unserer Welt gleichzusetzen mit jenem der bürgerlichen Gesellschaft? Der junge Hegel gewiß nicht.
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PERSPEKTIVEN DER HEGEL F O RSCHU N G Ehe dieser Hegel-Jubiläumskongreß zu Ende geht, soll nodi gesprochen werden über Perspektiven der Hegelforschung. Eine Perspektive, das ist ein Durchblick; der Ausblick in einen Raum von einem bestimmten Punkt aus, die Darstellung der Raumverhältnisse auf einer ebenen Fläche, damit auch eine „perspektivische" Verkürzung dieser Raumverhältnisse. Perspektiven der Hegelforschung sind offenbar unterschiedliche Ausblicke auf Hegels Werk, in denen dieses Werk sich in jeweils anderer perspektivischer Verkürzung darstellt. Es gehört zu der Ironie unseres wissenschaftlichen Zeitalters, daß in ihm auch die Wissenschaft und Forschung, sobald sie nur hervortritt, selbst wieder gleich zum Gegenstand der Forschung werden kann. Soll in diesem Referat nun versucht werden, all das zu registrieren, was auf diesem Kongreß an Perspektiven der Hegelforschung und was überhaupt in unserer Zeit oder gar seit Hegels Tod an solchen Perspektiven hervorgetreten ist? Ein solcher Versuch wäre nicht uninteressant. Nachdem Hegels Vaterstadt Stuttgart in den letzten vier Tagen nicht nur einige kluge Sätze Hegels hat hören, sondern auch den Eifer hat sehen können, mit dem Leute aus aller Welt über Hegel diskutierten, wäre es angebracht, durch eine Bestandsaufnahme der Perspektiven der Hegelforschung die Überraschung darüber zu ersetzen, daß Hegel überhaupt eine so ausgedehnte Diskussion provoziert. Hegel hat seine Landsleute freilich immer schon verblüfft. Als sein Stern in Berlin aufging, fragten sich seine ehemaligen Württembergischen Kommilitonen, die wie seit eh und je als Pfarrer auf den schwäbischen Dörfern oder in den Städten saßen, wieso dieser unauffällige Hegel zu solcher Berühmtheit habe kommen können. Hegels Berliner Schüler suchten diesem Ruhm eine Rechtfertigung dadurch zu geben, daß sie Hegels System als letztes Resultat philosophischen Nachdenkens nahmen und weiter ausbauten. Heute scheint es uns im Rückblick so, daß diejenigen dem Bemühen Hegels näher blieben, die sich gegen Hegel stellten und alles andere als „Hegelianer" sein wollten — wie Droysen, Kierkegaard, Marx.
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Als Hegels Philosophie dann ein paar Jahrzehnte lang totgesagt worden war, geschah — zu Anfang unseres Jahrhunderts — das Überraschende: jene Wissenschaften, die den spekulativen deutschen Idealismus gestürzt hatten (die Naturwissenschaften wie die historischen Wissenschaften), mußten sich und ihre Arbeit zu legitimieren suchen; der Neukantianismus, der so entstand, ging aber, sobald die Kulturwissenschaften in den Vordergrund des Interesses rückten und nach dem Zusammenhang von Natur und Kultur gefragt wurde, immer mehr über in einen Neuhegelianismus. In diesen Neuhegelianismus brachte Wilhelm Dilthey das Erbe der Romantik und der Historischen Schule ein; dem Protest gegen den neukantischen Methodologismus, wie die Jugend ihn zur Zeit des Ersten Weltkriegs erhob, gab Dilthey das Argument in die Hand, das Verstehen, mit dem die Geisteswissenschaften es zu tun hätten, sei nicht auf ein blutleeres transzendentales Bewußtsein zu beziehen, sondern auf das volle Leben und Erleben und damit auch auf die geschichtlich sich ausbildenden Sinnzusammenhänge des Lebens. Als Wilhelm Windelband in seiner berühmten Heidelberger Akademierede von 1910 aus kritischer Distanz heraus eine „Erneuerung des Hegelianismus" konstatierte, hatte das Heidelberg der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg in seiner Auseinandersetzung mit Hegel eine Erneuerung des Hegelianismus, wie sie sich vom Neukantianismus aus konzipieren ließ, längst hinter sich gelassen. Max Webers Liberalismus und Toleranz schufen, in Anlehnung an die Universität und doch nicht einfach an sie gebunden, den Raum, in dem jene Köpfe sich sammeln konnten, die gegen den Liberalismus und Methodologismus, wie er nicht nur in Heidelberg herrschte, Hegel als eine radikalere Position ins Feld führten, die aber bald auch über Hegel hinaus zu einer neuen philosophischen, religiösen, politischen Orthodoxie weiterschritten. Julius Ebbinghaus, Hans Ehrenberg, Franz Rosenzweig, Georg Lukäcs, Ernst Bloch bewirkten durch ihr spezifisches Hegelinteresse, daß künftig Hegelnähe nicht mehr mit Hegelianismus gleichzusetzen war, daß die Auseinandersetzung mit Hegel vielmehr den Protest gegen Hegel in sich trug. In den dreißiger Jahren konnte dann Alexandre Kojeve in Paris den Marxschen Protest gegen Hegel in einer solchen Weise zur Aufdeckung einer verdeckt gebliebenen Lebendigkeit des Hegelschen Denkens nutzen, daß er — durch seine Vorlesungen über die Phänomenologie des Geistes — zwei Jahrzehnte französischen Philosophierens an Hegel band und die Hegeldeutung in stärkerer Weise prägte, als das etwas Croce zu tun vermocht hatte. Was zu Anfang unseres Jahrhunderts in Berlin und Heidelberg und dann im Paris der dreißiger Jahre grundgelegt wurde, was sich
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an vielen anderen Orten weiterentwickelte und neue und andere Motive in sich aufnahm, hat sich heute zu einem weltweiten Forschungskomplex ausgebildet. In welch unterschiedlichen Perspektiven sich Hegel dabei darstellen kann, hat uns zuletzt der gerade ablaufende Kongreß gezeigt: der Hegel, der die Philosophie auf das zusammengefaßte Erfahrungswissen gründet, dessen Naturphilosophie sogar wieder Gegenstand der Untersuchung wird, oder der Hegel, der eine Hilfe gibt, wenn nach Religion, Kunst, Politik gefragt wird, steht neben dem Hegel, der von Marx her oder auch von der deutschen wie der französischen Spielart der Phänomenologie her rezipiert, dessen Ansatz aber von der analytischen Philosophie in Frage gestellt wird. Wir wären jedoch blind für die Weise, wie Hegels Werk heute wirkt, wenn wir das Hegelstudium in eine Reihe etwa mit dem Aristotelesoder dem Kantstudium stellen wollten: Hegel führt oder verführt nicht nur die Philosophen und Wissenschaftler dazu, bestimmte Fragen in der Auseinandersetzung mit seinem Werk zu entfalten; Hegels Werk dient vielmehr in mannigfachster Weise als Mittel der Bewußtseinsbildung und der ideologischen Auseinandersetzung. Wodurch das Hegelstudium in den einzelnen Regionen der immer enger werdenden Welt geprägt ist, das sind mehr als nur philosophische oder wissenschaftliche Interessen. Vielleicht darf ich, in willkürlicher Auswahl der Beispiele, kurz in die Erinnerung rufen, in welch unterschiedlicher Weise Hegel heute in den osteuropäischen Ländern, den USA und in Westdeutschland studiert wird. In einem Land wie Bulgarien läßt das offiziell installierte Weltanschauungssystem des dialektischen Materialismus noch keinen rechten Ort für das Hegelstudium; zudem muß überhaupt erst die Sprache geschaffen werden, in die hinein Hegel übersetzt wird. Diese Sprachschwierigkeiten hat man etwa in Prag — aufgrund der alten Verflechtung mit der deutschsprachigen Kultur — nicht. Hegel wird auch hier vom dialektischen Materialismus her rezipiert, doch mit dem Durchbruch zu Hegel gelingt der Durchbruch zur vormarxistischen Philosophie überhaupt und zugleich führt die Auseinandersetzung mit Hegel über die ideologischen und politischen Barrieren hinweg zu einem offeneren Gespräch mit dem, was man die bürgerliche Philosophie nennt. Es ist jedoch ein genuin marxistisches Motiv, das zur Auseinandersetzung mit Hegel führt. Die Forderung eines „menschlicheren" Sozialismus (wie sie in anderer Form zugleich durch die Kulturrevolution in China und durch die Proklamation des Übergangs vom Sozialismus zum Kommunismus in der Sowjet-Union erhoben wird) artikuliert sich (auch) durch den Rückgang zum jungen Marx und durch die Auseinandersetzung mit Hegel.
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Ein ganz anderes Bild bietet das Hegel-Studium in den USA: Obgleich es dort alte idealistische Traditionen gibt, hat sich der angelsächsische common sense, hochstilisiert zu den verschiedenen Formen des Pragmatismus und der analytischen Philosophie, in unserem Jahrhundert gesperrt gegen einen Aiitor, der in seiner Spekulation Fragen aufwirft, die keine eindeutige Antwort finden können, der somit mehr Unklarheit erzeuge als beseitige. So überrascht es, daß in diesem Jahr in Nordamerika nicht nur überhaupt an Hegel erinnert wird, sondern gleich in einer Reihe von Kongressen, daß dazu in qualifizierter Weise eine neue Hegelrezeption aufgebaut wird. Offenbar ist man nicht nur gewillt, Hegel wieder als einen sog. „großen Philosophen" zu akzeptieren, sondern man sucht bei Hegel auch Hilfe für die Antwort auf Fragen, vor die eine Nation unabdingbar gestellt ist, die bei so großer weltpolitischer Verantwortung noch zu wenig innere Festigkeit hat, — Hilfe zur Entfaltung der Fragen, welchen Sinn Kunst, Religion, Wissenschaft in unserem Leben haben, wie die wirtschaftliche und die politische Sphäre zusammengehören, Hilfe auch zur Entfaltung jener Fragen, die vom Neomarxismus wachgerufen worden sind. Ein wiederum völlig anderes Bild zeigt Westdeutschland. Es bildet zusammen mit Frankreich immer noch das Zentrum der Auseinandersetzung mit Hegel. Hegel ist hier der Autor, der die philosophische Tradition zusammenfaßt, aber zugleich vorausweist auf den Bruch mit dieser Tradition, wie er schon im 19. Jahrhundert geschehen ist und die heutigen Versuche, zu philosophieren, bestimmt. Die Auseinandersetzung mit Hegel geschieht innerhalb eines philosophischen Betriebs, der in einem kaum zu rechtfertigenden Ausmaß historisch ausgerichtet ist: hatte im Deutschen Idealismus jeder Philosoph sein System oder sein Systemchen, so hat heute in unserem Land jeder seine Interpretation oder auch nur sein Interpretatiönchen; man ordnet sich durch eine vorwiegende Beschäftigung mit antiker Philosophie oder mit Kant, Hegel, Marx oder auch mit den Geisteswissenschaften in die Bewegung des Philosophierens ein. So entsteht ein Klima, das eine umfangreiche historische oder auch nur quasihistorische Hegelforschung begünstigt. Freilich läßt sich der Eindruck nicht verwischen, diese detaillierte und luxuriöse akademische Forschung hier im westeuropäischen Kulturpark habe den Ernst nicht, der in anderen Ländern oft zu der Zuwendung zu Hegel hinzugehört. Wichtiger als die Frage, wie der weltweite Komplex des Hegelstudiums sich ausgebildet hat und sich heute darstellt, sind Überlegungen darüber, was aus dem Hegelstudium werden soll. Wenn wir hier sprechen wollen über Perspektiven der Hegelforschung, daim sollten wir uns darüber unter-
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halten, welche Perspektiven, welche Ausgangspunkte in der Hegelforschung eine Zukunft haben. Wird die Hegelforschung nicht nur quantitativ in der gleichen Weise zunehmen, wie sie das in den letzten beiden Jahrzehnten getan hat, sondern auch eine Relevanz haben für die Philosophie, die wissenschaftliche Arbeit, die Bewußtseinsbildimg überhaupt? Vielleicht darf ich diese Frage wiederum nur von einer der möglichen Perspektiven her präzisieren: Auf unterschiedlichen Linien — in der hermeneutischen Philosophie wie im Neomarxismus wie im Pragmatismus und der Sprachanalytik — hat die Philosophie die Geschichte und deren Praxis sowie die (geschichtliche) Sprache aufgedeckt als das Element, in dem alles Philosophieren sich immer schon bewegt; zu fragen wäre, ob diese philosophischen Richtungen sich zurückführen lassen auf den Hegelschen Versuch, auf der Basis der Kantischen kritischen Philosophie Philosophie neu zu entfalten, ob sich so von Hegel her, mit Hegel und gegen ihn, eine Einheit des gegenwärtigen Philosophierens herstellen läßt. Könnte es nicht auch sein, daß Hegel aus der lebendigen philosophischen Diskussion herausgedrückt wird, weil seine Weise des Philosophierens dem inzwischen geforderten logischen und methodischen Niveau nicht gerecht wird und die Emanzipation der einzelwissenschaftlichen Arbeit von der Philosophie noch nicht berücksichtigt? Warum sollte nicht jener Sturz des Idealismus, wie er im 19. Jahrhundert geschah, wieder geschehen? Wenn die Berufung auf Hegel maßgeblich mit dazu beitrug, daß man nach dem ersten Weltkrieg den Neukantianismus einfach auf sich beruhen und in eine weitgehende Vergessenheit fallen ließ, warum sollte sich in den nächsten Jahrzehnten nicht der umgekehrte Vorgang vollziehen, also Hegel in die Vergessenheit fallen? Bei Überlegungen dieser Art sieht jeder sofort: die Frage nach den heute und künftig maßgeblichen Perspektiven der Hegelforschung kann allenfalls Gegenstand einer Diskussion und Kontroverse sein, nicht aber Sache eines Referates. Prognosen über die Zukunft der Philosophie und der Geisteswissenschaften sind eine mißliche Sache. Fahrpläne für die Entwicklung der Forschung der nächsten Jahrzehnte, wie man sie in einigen technologischen Forschimgsinstituten findet, können in unseren Instituten nicht angeschlagen werden. Auch in den Naturwissenschaften gibt es die „Revolutionen", in denen die leitenden Paradigmen der wissenschaftlichen Arbeit geändert werden; aber diese Revolutionen oder Umbrüche im Ansatz bleiben getragen von der „normalen" naturwissenschaftlichen Arbeit, die Wissen an Wissen fügt und so für weite Strecken einen kontinuierlichen, damit auch planbaren Fortschritt verspricht. In der Philosophie und den Geisteswissenschaften ist auch die normale wissenschaftliche Ar-
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beit viel stärker geprägt und beherrscht von unterschiedlichen leitenden Ansätzen, die nicht nur unter dem Zwang der Sache, sondern auch deshalb gewechselt werden, weil sie ihren Reiz verloren haben, weil sich die Kraft ihrer Wirkung nach außen abgenutzt hat. So kommt es zu den Moden, deren Wechsel jeden erschrecken muß, der sich über die Arbeit einer geisteswissenschaftlichen Nachbardisziplin auf dem Laufenden halten möchte: kaum hat er sich in sie einstudiert, da gilt all das Studierte schon nicht mehr; jedoch ist es nicht von neuen Arbeitsergebnissen, sondern von anderen Ansätzen verdrängt worden; was im letzten Jahrzehnt herrschte, ist im kommenden Jahrzehnt deshalb diskreditiert, weil der ganze Arbeitsansatz nicht mehr in Mode ist. Indem man neue Terminologien gebraucht (ein neues „Chinesisch", wie die Leute das nennen), macht man sich überdies blind dafür, daß die großen Sachfragen sich durchhalten. Auch die schöpferischen Durchbrüche, die schließlich noch das Modische tragen, wachsen offenbar nicht so sehr aus dem kontinuierlichen Forschungsprozeß heraus, sondern sind in mannigfacher Weise durch außerwissenschaftliche (gesellschaftliche, ideologische) Tendenzen angeregt und mitbestimmt. So sind sie schwer prognostizierbar, letztlich wohl überhaupt unableitbar. Auch ihnen gegenüber gilt, was im Neuen Testament von der wunderbaren Brotvermehrung gesagt wird: dieser neue Lehrer hatte auch nur die paar Brote und Fische, hatte nur das Gesetz und die Propheten, aber er vermochte das Überlieferte so auszulegen, daß in seiner Auslegung die Welt sich zu verwandeln begann. Ist ein solcher Prozeß einmal im Gang, dann gilt im weiteren Verlauf der Satz: wer hat, dem wird gegeben. Doch können ideologische (politische, religiöse) Vorurteile den Prozeß hemmen oder ersticken; nackte politische Gewalt kann (wie wir das bei der Hegel-Marx-Diskussion erlebt haben) den Prozeß einfach abbrechen. Ich möchte mich hier nun überhaupt lücht auf jenen schlüpfrigen Boden begeben, auf den man zu stehen kommt, wenn man über die künftigen maßgeblichen Perspektiven der Auseinandersetzung mit Hegel diskutieren will. Wenn hier von Perspektiven der Hegelforschung die Rede ist, dann ist das Wort „Forschung" in einem engeren Sinn genommen: verflochten in die Auseinandersetzung mit Hegel oder auch neben ihr, zusammen mit ihr gibt es eine historisch-philologische Hegelforschung, die sich unterhalb der großen Streitfragen der Hegelvergegenwärtigung hält, aber innerhalb des Streits um Hegel die Stimme Hegels selber zur Geltung zu bringen sucht. Könnte man nicht wenigstens diese Forschung wenn schon nicht planen, dann doch dadurch fördern, daß man für die nötige Information und Koordination sorgt, vielleicht sogar für die Organisation einer kon-
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tinuierlichen Bewältigung einzelner Aufgaben? Durch die Initiative einzelner, aber doch in einem naturwüchsigen, wenn nicht wildwüchsigen Zusammenhang hat sich diese Hegelforschung zu dem entwickelt, was sie heute ist. Manch einer glaubt, er würde rein von der Sache her eine entscheidende philosophische Thematik in der Auseinandersetzung mit Hegel abhandeln, und steht dabei doch innerhalb der Notwendigkeiten eines übergreifenden Zusammenhangs: blickt man auf die Hegelliteratur im ganzen, so kann man sehen, wie die einzelnen Themen wandern — von den Zentren zur Peripherie und von der einen philosophischen Schule zur andern —, wie damit auch der scheinbar originelle oder rein sachlich bestimmte Ansatz ein abkünftiger und geschichtlich bestimmter ist. Inzwischen sind weit über 200 deutschsprachige Dissertationen über Hegel geschrieben worden; eine Bibliographie verzeichnet für die fünf Jahre von 1961—65 280 selbständige Bücher von und über Hegel; jährlich erscheinen 80—120 unselbständige Arbeiten über Hegel; die Statistiker sagen, daß Hegel in manchen der abgelaufenen Jahre der Philosoph war, über den an den deutschen Universitäten die meisten Seminare gehalten worden sind. Freilich, was in diesen Arbeiten und Seminaren getrieben wird, das ist nur zu einem kleinen Teil Hegelforschung im engeren Sinn. Selten gelingt der Durchbruch zu einer genuin philosophischen Fragestellung; nicht sehr oft kommt man über eine bloße ideologische Nutzung Hegelschen Gedankenguts hinaus zu einem Streit, der die herrschenden Vorurteile verändert. Das meiste, was an Hegelliteratur erscheint, gehört zu jenem Genus, durch das ein naturwissenschaftlicher Forscher sich eher disqualifiziert als qualifiziert: also auf der einen Seite zu den lehrbuchartigen und popularisierenden Darstellungen, die sich an Studenten oder an ein noch breiteres Publikum wenden, manchmal auch in etwas anspruchsvollerer Weise an die Philosophielehrer im tertiären Bildungssektor, auf der anderen Seite zu den Versuchen, irgendwelche schon vorliegende Forschungsresultate mit dem Weihwasser einer bestimmten Schule oder Richtung zu besprengen. Im ganzen erinnert diese Literatur eher an alte Initiationsriten als an moderne Forschung.
Doch die Forschung im engeren Sinne fehlt nicht, und auch sie zeigt bestimmte Perspektiven, zeigt Aufgaben, die in unterschiedlicher Weise angegriffen werden können. Es wäre sicherlich wiederum sehr dankenswert, wenn man jene Arbeiten aus der kaum übersehbaren Hegelliteratur zusammenstellen würde, die fruchtbare Hegelforschung im engeren Sinn enthalten. Es wäre dabei auch über neuartige Forschungsversuche zu berichten, etwa über den Versuch, der in Paris gemacht wird: mittels der modernen datenverarbeitenden Maschinen ein Lexikon zur Phänomenologie
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des Geistes herzustellen, das nicht nur äußerlich den Wortbestand aufnimmt, sondern es auch gestattet, die Filiationen der Grundbegriffe zu durchschauen. Hier soll jedoch nur über einen einzigen Arbeitsansatz und dessen Perspektiven berichtet werden, über die Arbeit des „Hegel-Archivs". Das Hegel-Archiv wurde 1958 vom Lande Nordrhein-Westfalen als Arbeitsstelle für die Hegel-Ausgabe eingerichtet, die damals von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Auftrag gegeben wurde. Das Archiv hat dann zehn Jahre lang seinen Sitz in Bonn gehabt und so entwickeln können, was noch heute seinen Grundbestand ausmacht: verschiedene editorische und philologische Arbeiten und Arbeitsmethoden, eine Sammlung von Fotografien Hegelscher Manuskripte, eine Hegel-Spezialbibliothek, den Versuch einer Förderung und Koordinierung der Hegelforschung vor allem über die Zeitschrift Hegel-Studien. Inzwischen ist das Archiv mit der neuen Ruhr-Universität verbunden worden und nach Bochum übergesiedelt. Auf diese Weise soll langfristig eine Grundausstattung des Forschungskomplexes, der sich im Hegel-Archiv gebildet hat, gesichert werden. Die einzelnen Aufgaben des Archivs sind die folgenden; 1. Die primäre Aufgabe des Archivs ist, alle Voraussetzungen für die historisch-kritische Edition von Hegels Werken (wie sie von der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Auftrag gegeben worden ist) zu schaffen. Dadurch, daß die editorischen Bemühungen an einer Stelle konzentriert sind, soll die Kontinuität im Ansatz, in der Planung, in der methodischen Reflexion und in der Ausführung der Editionsarbeiten gewährleistet werden. Seit mehr als einem halben Jahrhundert bemüht man sich nun schon um eine kritische Hegelausgabe; was die Anstrengungen einzelner hinterlassen haben, das ist jedoch ein Trümmerfeld von unterschiedlichen Einzeleditionen und verschiedenen Ansätzen zu Gesamtausgaben. Immerhin haben diese Versuche Notwendigkeit wie Schwierigkeit einer historisch-kritischen Ausgabe sichtbar gemacht. Im Vorwort zur Kant-Ausgabe der Berliner Akademie benennt Wilhelm Dilthey die Voraussetzungen für die Erarbeitung der Kant-Ausgabe so: „ein starkes, über alle Zweige derselben (der Hinterlassenschaft Kants) ausgedehntes Interesse, Männer, die in diesen Studien lebten, und eine Fülle von Arbeiten, welche dieser Hinterlassenschaft zugewandt waren". Es scheint an der Zeit, den Schritt, den Dilthey und seine Mitarbeiter für Kant getan haben, heute für Hegel zu tun. Man fragt nun gern nach dem Zeitplan dieser Hegeledition. Wenn man sich überhaupt auf Prognosen einlassen will, so kann man sich am ehesten am Fortschritt der Kant-Ausgabe orientieren. Dilthey stellte den
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Antrag, eine Kant-Ausgabe zu erstellen, im Jahre 1893; seine Vorrede zum ersten Band der Ausgabe stammt aus dem Jahr 1902. Eine ähnlich lange Vorbereitungszeit gebrauchte die neue Hegel-Ausgabe, ehe 1968 ihr erster Band erschien. Bei der Kant-Ausgabe liegt nun heute die Abteilung „Vorlesungen" noch nicht vor. Es ist zu hoffen, daß die Hegel-Ausgabe in einer kürzeren Zeit fertig wird, daß die ca. 40 Bände in ca. 40 Jahren vorgelegt werden können (wenn der jetzt nur vorläufig gesicherte Mitarbeiterkreis erhalten bleibt). Zu dieser langfristigen Perspektive tritt eine kurzfristige: in den nächsten zehn Jahren soll die erste Reihe der Bände bis hin zur Phänomenologie ediert werden. Diese Bände sind im Detail vorgeplant. Im gleichen Zeitraum müssen dann auch die weiteren Bände konzipiert und durchgeplant werden. — Es wird interessieren, daß eine französische Gesamtübersetzung, eine Parallelausgabe, die der deutschen Ausgabe Schritt für Schritt folgen soll, vorbereitet wird. 2. Die Grundlage für die Editionsarbeit ist eine möglichst vollständige Sammlung der Hegelschen Manuskripte und der Nachschriften seiner Vorlesungen. Diese Manuskripte sind über Mitteleuropa, Osteuropa, Westeuropa und Amerika zerstreut. Es ist durchaus so, daß jeder von Ihnen noch, auch in den öffentlichen Bibliotheken, mit ein bißchen Aufmerksamkeit unbekannte Hegel-Manuskripte finden kann. Z. B. konnten im vorigen Jahr im Rahmen der Sammeltätigkeit des Hegel-Archivs unbekannte Hegelsche Aufsätze zur Farbenlehre entdeckt werden, die Hegel an Goethe sandte und die heute in Weimar liegen (jedem ohne weiteres zugänglich). Zusammen mit der Sammlung der Fotografien der Hegelmanuskripte baut das Hegel-Archiv seine Hegel-Spezialbibliothek weiter aus (eine Bibliothek, die nicht nur alle Literatur über Hegel sammelt, sondern auch die Literatur, die Hegel selber gelesen hat). Wilhelm Dilthey hat vor 80 Jahren in einem berühmt gewordenen Aufsatz Archive der Literatur gefordert. Dilthey hatte erfahren, daß Papiere Kants zum Einwickeln von Kaffee und Heringen benutzt worden waren, überhaupt die Nachlässe der großen Philosophen zerstreut wurden. Für die Editionsarbeit (wie Dilthey sie ja für Kant durchführte, für Hegel einleitete) müssen die Nachlässe aber vollständig beisammen sein. Das Hegel-Archiv soll nun unter gewandelten Verhältnissen und in der Beschränkung auf Hegel leisten, was Dilthey forderte. Die Papiere unserer großen Philosophen werden heute zwar kaum noch als Einschlagpapier benutzt; sie sind aber Objekt des Autographenhandels geworden, Mittel der Prestigebildung und der Kapitalanlage. Auch auf diesem Wege werden sie, wenn sie etwa in Schweizer Tresoren verschwinden, nur zu oft der Forschung entzogen. Zusammenbringen lassen sich die zerstreuten
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Nachlässe kaum noch. Der Besitz der größten Bestände ist sowieso fixiert, und die hohen Preise schließen zumeist den Kauf aus. Doch lassen sich die Manuskripte durch die technischen Mittel der Fotografie reproduzieren. Das Hegel-Archiv besitzt zur Zeit (neben wenigen Originalen) über 15 000 Fotografien und dazu in seiner Hegel-Spezialbibliothek über 3 000 Bücher. Wenn 1972 der Grundbestand der nötigen Fotografien und Bücher angeschafft sein wird, soll das Archiv als Präsenzbibliothek auch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich werden. Es bietet dann wohl in einer einmaligen Weise die Möglichkeit, einen klassischen deutschen Philosophen aus den Quellen zu studieren. 3. Das Hegel-Archiv soll auch seinen Beitrag leisten zur Koordination derHegelforschung,und zwar vor allem über die Zeitschrift Hegel-Stwche«. Ich hatte schon darauf hingewiesen, wie umfangreich die Literatur über Hegel heute ist. Wenn jemand über Hegel arbeiten will und nicht von vornherein darauf verzichtet, den Forschungsstand zu berücksichtigen und sich in die Forschung einzufügen, dann muß er eine Auswahl treffen können zugunsten der für ihn allein relevanten Hegelliteratur. Wie aber soll ein Hegelforscher in Argentinien, Kanada oder Israel in Erfahrung bringen, daß in irgendeiner deutschen oder französischen Zeitschrift ein Aufsatz erschienen ist, der gerade für sein Studium Wichtigkeit hat? Die Referate über die Hegelaufsätze, die Rezensionen der Hegelbücher, die Literaturberichte und bibliographischen Übersichten, wie die Hegel-Studien sie bringen, sollen die Kenntnis des Wichtigen und die Auswahl des Relevanten ermöglichen helfen. Bei den Arbeiten über Hegel, wie die Hegel-Studien sie bringen, liegt das Schwergewicht auf der historischphilologischen Forschung (obgleich andere Arbeiten natürlich nicht ausgeschlossen sind). Wenigstens diese Weise der Hegelforschung soll in den Hegel-Studien so dokumentiert sein, daß jeweils der neueste Forschungsstand ersiditlidi ist. 4. Zu den Aufgaben der Edition, des Aufbaus eines Archivs, der Koordinierung der Hegelforschung kommt eine vierte Aufgabe, der das HegelArchiv sich nicht entziehen kann. Wilhelm Dilthey hat von der KantAusgabe gesagt, erst sie mache eine entwicklungsgeschichtliche Darstellung des Kantischen Denkens möglich; das entwicklungsgeschichtliche Interesse an Kant sei bezogen auf ein „letztes Ziel", nämlich auf das „geschichtliche Verständnis der Lebensarbeit Kants", das herbeigeführt werden solle „durch das immer wiederholte Aneinanderhalten der geschichtlichen Lage, unter welcher das Denken Kants sich vollzog, mit dem ganzen Material seiner Gedankenarbeit, das uns erhalten ist". Die Kantforschung hat dieses Ziel, von dem Dilthey spricht, auf der Basis
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der kritischen Kantausgabe schließlich in einer Weise weiterverfolgt, die Dilthey sich noch kaum hat vorstellen können. Obgleich dieses geschichtliche Verständnis eines Autors nur als eine der möglichen Weisen der Rezeption und Auseinandersetzung gelten darf, ist die Hegeledition in besonders starkem Maße mit der Ausarbeitung eines entwicklungsgeschichtlichen Hegelverständnisses verbunden. Ja, dieses Verständnis ist nicht nur Ziel, sondern auch immer schon unabdingbare Voraussetzung jener Edition, die ein genaueres entwicklungsgeschichtliches Verständnis erst ermöglichen soll. Wenn nach dem Tode von Johannes Hoffmeister die Hegel-Edition noch einmal einen ganz neuen Ansatz machen mußte, dann vor allem deshalb, weil die Hegelforschung der ersten fünfzig Jahre unseres Jahrhunderts es nicht vermocht hat, eine entwicklungsgeschichtliche Hegeldeutung als Grundlage für eine chronologisch fortschreitende Hegel-Ausgabe zu erarbeiten. Mit jenen Vorstellungen über das Systemprogramm, die Genese der Phänomenologie, die Datierung der Jenaer Manuskripte, die im Schwange waren, ließ sich einfach keine kritische Hegel-Ausgabe aufbauen. Nur ein (etwas simplifiziertes) Beispiel möge das Gemeinte verdeutlichen: Aus Hegels Jenaer Zeit besitzen wir drei Manuskriptkomplexe, die Systementwürfe darstellen, die Logik, Metaphysik und Naturphilosophie, die man bisher auf die Jahre 1801/02 datierte, die sogenannte Realphilosophie I von 1803/04, die Realphilosophie II von 1805/06. Das Leitproblem der bisherigen entwicklungsgeschichtlichen Interpretation war: wie konnte Hegel von dem hohen „dialektischen" Niveau der Logik, Metaphysik und Naturphilosophie von 1801/02 in die schellingianisierenden Formen der Realphilosophie I von 1803/04 zurückfallen, um dann in der Realphilosophie II von 1805/06 den anfänglichen Ansatz durchzusetzen? Eine neue Chronologie, die auch mit buchstabenstatistischen Methoden erarbeitet wurde, zeigt nun, daß die Logik, Metaphysik und Naturphilosophie in die Jahre 1804/5 gehört (nicht schon in die Jahre 1801/02). So ergibt sich in Hegels Systementwürfen eine geradlinige Entwicklung. Das Leitproblem der bisherigen Interpretation enthüllt sich als ein Scheinproblem, das durch eine falsche Edition und Chronologie entstand. Für jede Art von Forschung ist es aber nützlich, weim sie nicht dadurch Scheinprobleme aufkommen läßt, daß sie Basisarbeiten versäumt. Erst die neue Chronologie und Edition ermöglichen eine Darstellung der Entwicklung von Hegels Jenaer Denken. Zu welchen Absurditäten man bisher greifen mußte, zeigen die „Hypothesen", die der bekannte Hegelforscher Theodor Haering aufgestellt hat. Haering glaubte die Entwicklung der Logik und Metaphysik nur verstehen zu können, wenn er neben
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der gut dokumentierten Entwicklungslinie eine zweite Linie hypothetisch ansetzte, die er aus „Quellen" erschloß, die ihrerseits, weil spurlos verschwunden, nur hypothetisch anzusetzen waren. Zur Genese der Phänomenologie entwickelte er eine These, die philosophisch gedankenlos und philologisch leichtfertig war und inzwischen, obgleich Hoffmeister sie noch seiner Edition der Phänomenologie zugrundelegte, von allen Hegelforschern aufgegeben wurde. Was die Entwicklung der Naturphilosophie angeht, so meinte Haering, Hegel habe das (gut ausgearbeitete) Manuskript zur Logik, Metaphysik und Naturphilosophie (vermeintlich von 1801/02) gerade nicht zur Hand gehabt, als er die Naturphilosophie der sog. Rcdlphilo
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über die Notwendigkeit, eine Geschichte der Entwicklung von Hegels Denken als Rahmen für die editorische Arbeit auszuarbeiten, ist die editorische Arbeit verbunden mit der Hegelforschung überhaupt. Würde man einmal zusammenstellen, welche neuen Ansätze zur Darstellung der Entwicklung des frühen Hegelschen Denkens, der Logik und Metaphysik, der Phänomenologie, der Naturphilosophie, der praktischen Philosophie wie der Geistesphilosophie und speziell der Rechtsphilosophie in den letzten zehn Jahren gemacht worden sind, dann würde klar werden, daß jedenfalls diese Weise der Hegelforschung in ein neues Stadium getreten ist. Die Hegelforschung ist aber auch unaufhebbar verbunden mit der Idealismusforschung. Wenn z. B. als Verfasser des Systemprogramms sowohl Sdielling angegeben wird wie Hegel, auch Hölderlin oder gar ein unbekannter Vierter ins Spiel gebracht wird, dann zeigt sich klar, daß die Hegelforschung ihre Fragen nicht isoliert von der übrigen Idealismusforschung entfalten kann. Das Interesse an Hegels Phänomenologie des Geistes ist immer schon geleitet durch die Umformung der Idee dieses Werks, wie Kierkegaard sie in seiner Stadienlehre oder Marx sie in seiner Geschichte von Natur und Gesellschaft durchgeführt hat. Gibt es jedoch eine Forschung, die sich jenem Denken im ganzen zuwendet, wie es von Kant und Jacobi, vom spekulativen Idealismus und der Romantik sowie schließlich von Kierkegaard und Marx entwickelt worden ist? Es gibt Versuche, innerhalb einer relativ dogmatischen Übernahme der Kantischen oder der Hegelschen, der Fichteschen oder der Marxschen Perspektive den ganzen Zusammenhang in den Blick zu bringen, und es gibt auch Versuche, historisch-philologisch von der Frage nach der Entwicklung eines einzelnen Autors aus vorsichtig in die anderen Forschungsdomänen hinüberzugreifen; es gibt so bedeutende Forschungszusammenhänge wie die Kantforschung oder die Hölderlinforschung; aber von einer
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methodisch ansetzenden Erforschung des genannten Zusammenhangs im ganzen kann man kaum sprechen. In jedem Fall bleibt die historisch-philologische Forschung eine zweideutige Sache: sie karm die lebendige Vermittlung, die Vergegenwärtigung Hegels und des Deutschen Idealismus fördern, kann aber auch Hegels Philosophie, die doch zu unserer Selbstverständigung beitragen möchte, zu einem Gegenstand nur noch des historischen Interesses machen. Wenn Studenten heute gelegentlich die Meinung vertreten, in einem Marxseminar brauche man nicht Marx zu lesen, denn was von Marx wichtig sei, das sei auch ohne Lektüre bekannt und dieses Bekannte müsse dann durch den Einblick in die Sache modifiziert werden, dann steckt in einer solchen Position ein wahrer Kern; sicherlich ist es nicht oder nicht primär die historisch-philologische Forschung, die das Geistesgut der Vergangenheit zu neuer Aktualität bringt. Doch wenn man dann noch weiter geht und auf Rückfragen hin etwa äußert, man habe Marx zwar nicht gelesen, teile aber seine Position, dann zeigt sich das Mißliche an dieser Weise, in unkontrollierter Art Gedanken früherer Zeiten zu aktualisieren und für die eigenen Absichten zu nutzen. Die europäische Kultur ist die einzige, die ihre eigene Tradition, selbst die religiöse, zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gemacht hat, und dieser Schritt hin zu einer intellektuellen Redlichkeit kann röcht wieder aufgegeben werden. Doch welchen Status hat die heutige Idealismusforschung innerhalb der historisch-philologischen Forschung überhaupt? Vergleicht man diese Forschung (um überhaupt einen Maßstab für das Niveau zu bekommen) etwa mit der Erforschung der griechischen Philosophie und Dichtung oder mit der Exegese des Neuen Testamentes, so kann man das Urteil nicht vermeiden, in der Idealismusforschung gebe es nur erste Ansätze. Die Koordination dieser Forschung steckt noch in den Anfängen, die Basisarbeiten sind nicht durchgeführt — selbst die kritischen Editionen fehlen; so etwas wie ein Kittelsches Wörterbuch sucht man in der Idealismusforschung vergebens. Das alles führt dazu, daß entscheidende Motive des idealistischen Denkens selbst denen, die Bücher über einzelne idealistische Philosophen schreiben, unbekannt sind, und dieses nicht deshalb, weil die Bücherschreiber zu eilfertig vorgingen, sondern eben deshalb, weil es so etwas wie einen überschaubaren und allgemein verbindlichen Forschungsstand noch nicht gibt. Z. B. ist die Tatsache, daß Jacobi, der frühe Hegel, der späte Fichte die Frage nach der Begründung der Philosophie ausdrücklich auf die Problematik des Nihilismus bezogen und mit vielen Zeitgenossen den Nihilismusbegriff gebraucht haben, nicht nur weithin unbekannt; vielmehr wird auch von denen, die Aufsätze und
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Bücher über den Idealismus schreiben, dieses frühe Auftauchen des Nihilismusbegriffs ausdrüddich verneint. „Idealismusforschung", das ist heute noch ein ungedeckter Scheck, der allenfalls in der Zukunft einmal einlösbar wird. Doch warum überhaupt Hegelforschung, Idealismusforschung? (Es fehlt uns ja selbst ein Name für jenen Denkzusammenhang, wie er sich von Kant und Hamann bis zu Hegel, Humboldt, Kierkegaard und Marx ausgebildet hat.) Bringt uns die heutige Krise der Universität und der Geisteswissenschaften nicht schon Probleme genug, so daß wir gut darauf verzichten können, mit einem großen Einsatz von Mitteln und von Arbeitskraft einen neuen Forschungszusammenhang aufzubaucn? Auf Fragen dieser Art möchte ich antworten, daß gerade die heutige Krise zu diesem Aufbau zwingt; man spricht von allen möglichen Notmaßnahmen — eine entscheidende Notmaßnahme wäre der Aufbau einer Idealismusforschung. Man kann sich ja auf die Dauer nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Universität nicht nur wegen quantitativer Veränderungen im Bildungswesen in einer tiefen Krise steckt; vielmehr wird den Geisteswissenschaften und auch einer bestimmten Weise des Philosophierens heute dadurch weithin der Boden entzogen, daß der Traditionsbruch, wie er schon vor 100 Jahren begann, aber zuerst noch durch solche Bewegungen wie den Deutschen Idealismus und die Ausbildung der Geisteswissenschaften aufgefangen werden konnte, radikal wird. Einem Herder waren die Traditionen, denen er sich forschend zuwandte, von Jugend auf vertraut, und so war damals noch die Forderung möglich, mit den Augen Homers die Welt zu sehen, Bauer mit dem Bauer Hesiods zu sein und Hirte mit dem morgenländischen Hirten oder gar die politischen Verhältnisse nach dem Leitbild der griechischen Polis zu gestalten. Solche Forderungen und Gedanken den Kindern des wissenschaftlich-technischen Zeitalters anzusirmen, wird sich bald keiner mehr unterfangen. Das bedeutet, daß es in Zukunft zwar noch Gräzisten in der Weise gibt, wie es heute Orientalisten gibt, daß aber der Schatz der Bilder, Gedanken, Frageweisen, wie die griechische Philosophie und Dichtung ihn ausgebildet hat, nicht mehr in der allgemeinen und unmittelbaren Weise unserem Denken und Reden zur Verfügung steht, wie das bisher der Fall war. Hier in Westeuropa machen wir uns ja nicht genügend klar, welcher Bruch mit der Tradition in den sozialistischen Staaten im Osten eingetreten ist, wie anders das Verhältnis zur Tradition in den USA ist. Unmittelbar spricht aber auch heute noch jenes Denken an, welches von Kant bis Hegel und Marx auf der Grundlage einer lebendigen Aneignung der Tradition und unter der Herausforderung durch die revolutionären Bestrebungen jener Zeit ent-
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wickelt worden ist. Vielleicht könnte diese Tradition, damit auch die Tradition des Deutschen Idealismus, in Zukunft das Medium der geistigen Kommunikation mitbilden helfen. Deshalb darf es nicht nur unsere Sorge sein, daß im Jahre 2000 oder 2010 eine komplette Hegel-Ausgabe auf den Regalen der Bibliotheken steht; vielmehr geht es primär darum, die Bedingungen dafür zu schaffen, daß eine solche Ausgabe in einer völlig veränderten Welt auch noch einen Sinn hat. Blicken wir zurück auf das Gesagte! Zum Gesamtkomplex der Hegelforschung gehört eine Hegelforschung im engeren Wortsinn — jene Forschung, die sich bestimmten Basisaufgaben zuwendet: die Ausdehnung der Forschung überhaupt und speziell der Hegelforschung legt es nahe, in neuen Formen über diese Forschung zu informieren und Versuche zur Koordinierung anzustellen; schon immer bestand die Notwendigkeit, eine historisch-kritische Ausgabe von Hegels Werken als tragfähige Grundlage der Hegelinterpretation zu erstellen. Der Ansatz, über den hier berichtet wurde, also das sog. Hegel-Archiv, ist freilich erst in vorläufiger Weise gesichert. Obgleich die kritische Edition von allen Seiten verlangt wird, das Archiv schon während seines Aufbaus vor allem vom Ausland in Anspruch genommen wird, ist noch durch lüchts garantiert, ob dieser Ansatz zur Entfaltung kommt. Die Geschichte der Geisteswissenschaften lehrt, daß es genug Aufgaben gab, die gar nicht in zulänglicher Weise in Angriff genommen wurden, und daß ein Beginn, von dem man sich viel versprach, zu nichts führte. So kann auch der Ansatz, über den hier berichtet wird, scheitern, sei es, weil die sachlichen Schwierigkeiten nicht gemeistert werden, sei es, weil diese Arbeit im heutigen kulturellen System keinen Ort findet, sei es, weil bestehende Arbeitsmöglichkeiten so umfunktioniert werden, daß wiederum nicht die eigentliche Aufgabe ausgeführt wird. Die bisherige Geschichte der Hegelphilologie ist ein erschreckendes Beispiel dafür, wie geisteswissenschaftliche Arbeit trotz aller einzelnen Leistungen das erstrebte oder zu erstrebende Ergebnis nicht erreichte. Wieviel an Arbeitskraft ist nicht von Wilhelm Dilthey und Hermann Nohl, Otto Weiß und Georg Lasson, Franz Rosenzweig und Hans Ehrenberg, Theodor Haering und Johannes Hoffmeister in die Hegelphilologie und Hegeledition investiert worden! Aber der Versuch, eine kritische Hegel-Gesamtausgabe zu schaffen, scheiterte zuerst auch dann noch, als er schon die großzügige Unterstützung der Forschungsorganisationen erfuhr. Worin bestehen nun die Schwierigkeiten, die sich der Hegeledition entgegenstellen? Sicherlich gibt es Schwierigkeiten genug, die in der Sache
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liegen: es fehlen die methodisch zureichenden Ansätze (z. B. für die Edition der Vorlesungen); es fehlt eine Entwicklungsgeschichte des Hegelschen Denkens als Rahmen für die chronologische Ordnung der erhaltenen Manuskripte; es fehlt eine Lösung jener Probleme, die der Hegelforschung und den angrenzenden Forschungskomplexen gemeinsam zugehören. Doch zur Lösung von Schwierigkeiten dieser Art ist Forschung nun einmal da. Die Frage ist nur, ob sich der Ausbildung einer Forschung, die der genannten Schwierigkeiten Herr zu werden vermag, nicht Schwierigkeiten anderer Art entgegenstellen. Sucht man diese anderen Schwierigkeiten in den Blick zu bekommen, dann wird man sich zuerst einmal vergegenwärtigen müssen, daß es — trotz des Vorbilds der Kantedition — nicht zur Ausbildung einer Philologie gekommen ist, die sich der Betreuung der Werke neuerer philosophischer Schriftsteller annimmt. Es blieb bei einzelnen Ansätzen; verbindliche Maßstäbe bildeten sich nicht aus. So mußten denn auch die Prinzipien der Hegeledition erst in langwierigen Experimenten erarbeitet werden. Vor etwa fünfzehn Jahren hätte noch die Chance bestanden, einen Konsensus herbeizuführen über die einfachsten Konventionen bei der Behandlung der Texte und der Gestaltung der Apparate; da die verschiedenen Ansätze zur Edition neuerer philosophischer Schriftsteller einer gemeinsamen methodischen Reflexion nicht unterstellt waren, wurde diese Chance verpaßt. Zwar hat man schon im 19. Jahrhundert die bewährten Methoden der Altphilologie auf die Werke neuerer Schriftsteller zu übertragen versucht. Eine solche Übertragung hat aber ihre Grenzen; der Altphilologe sucht von späteren Abschriften her so nahe wie möglich an das nicht erhaltene Original heranzukommen; der Neuphilologe hat das Original selbst, dazu oft noch viele Variationen, die er auch sichtbar machen soll — Entwürfe, Varianten, Zweitfassungen, zweite Auflagen usf. Die spezifischen Fragen, vor die der Neuphilologe gestellt ist, sind bei uns eigentlich erst in den letzten beiden Jahrzehnten (vor allem im Zusammenhang nüt der Arbeit an der Hölderlin-Ausgabe) ausgiebiger diskutiert worden. Für die Edition von Vorlesungen auf Grund von Hörernachschriften bestehen überhaupt noch keine verbindlichen Vorstellungen. (Hier bestehen wieder Analogien zu den Verhältnissen, die der Altphilologe vorfindet; ja Otto Eißfeldt hat mit Bezug auf die Edition Hegelscher Vorlesungen in einem interessanten Aufsatz Hegel-Kritik und Pentateuch-Kritik miteinander parallelisiert!) Während nun die Altphilologen sich selbstverständlich um die Texte von Platon oder Aristoteles kümmern, kommen die Neuphilologen gar nicht auf den Gedanken, die Edition der Werke von Kant, Fichte oder Hegel sei ihre Aufgabe. Die Germanistik hat sich
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als ihren Gegenstand die Dichtung des deutschen Volkes erwählt. Seit Herder und Jacob Grimm verstehen die Deutschen sich nicht als eine Nation, die durch staatlichen Zusammenschluß zustande kommt, sondern als ein Volk, das auch in staatlicher Zersplitterung seine Einheit durch das Sprechen derselben Sprache wahrt. Sprache im ausgezeichneten Sirm — „Ursprache" — sei aber die Sprache des Dichters. So beschäftigten sich jene, die den Namen „Germanisten" usurpierten, mit den Dichtungen des deutschen Volkes vom Hildebrandslied bis zur Lyrik Goethes und Rilkes. Daß auch die deutschsprachigen politischen oder philosophischen Schriftsteller, wenn nicht das „deutsche Wesen", so doch die geschichtliche Wirklichkeit zu artikulieren vermochten, auf diesen Gedanken kam man nicht; jedenfalls zog man aus ihm keine Konsequenzen für die eigene Arbeit. Als man nach dem Zweiten Weltkrieg in einer Abwendung vom Historismus die werkimmanente Interpretation in den Vordergrund rückte, verstärkte man nur noch die einseitige Zuwendung zu den dichterischen Sprachzeugiüssen. Es blieb zumeist beim bloßen guten Vorsatz, werm man etwa die Bedeutung der Traditionsvermittlung durch die mittelalterliche Literatur oder den Zusammenhang der deutschen Literatur mit den übrigen Literaturen würdigen wollte. Die deutschsprachigen Philosophen können schließlich stolz darauf sein, daß ihre Werke nicht Gegenstand dieser Germanistik wurden. Die Germanistik wäre der ganzen Ausrichtung ihrer Arbeit gemäß ja auch gar nicht fähig gewesen, etwa das Werk Hegels zu erforschen (da ein Aristoteles oder Proklos oder Spinoza Hegel näher stand als ein Novalis oder Kleist). Heute scheint es so, als habe die Ausbildung einer universalen Neuphilologie zwar nicht mehr der alten Vorurteile wegen keine Chance, aber doch deshalb, weil die Germanistik an den Universitäten zum Massenfach geworden ist. Doch sollte man sich darüber einig werden, daß eine Neuphilologie nur diesen Namen verdient, wenn sie zusammen mit der Philosophie auch das Werk von Schriftstellern wie Kant oder Hegel nach der philologisch-historischen Seite hin in ihre Obhut genommen hat. Für die Philosophie wird die Aufgabe, das Werk ihrer „Klassiker" philologisch zu betreuen, immer etwas Sekundäres bleiben, für das auf die Dauer nur die linke Hand frei ist. Das Fehlen einer universalen Neuphilologie, die sich auch der Werke philosophischer oder politischer Schriftsteller annimmt, trifft heute zusammen mit einer grundlegenden Umgestaltung der sozialen Formen, in denen geisteswissenschaftliche Arbeit sich vollzieht. Ich hatte schon darauf hingewiesen, daß das Zusammenspiel von wissenschaftlichen „Revolutionen" und „normaler" wissenschaftlicher Arbeit sich in den Geistes-
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Wissenschaften in anderer Weise vollzieht, als in den Naturwissenschaften. Zwar können auch dem Geisteswissenschaftler die Vorgriffe und „Vorurteile", die er in seine Bemühung um die Geschichte einbringt, nur als „Hypothese" gelten. Während aber in der naturwissenschaftlichen Arbeit der ständig neue Versuch der Verifikation die Hypothese sich bewähren läßt oder sie falsifiziert und ausscheidet, geschieht in den Geisteswissenschaften keine gleich eindeutige Unterscheidung zwischen den haltbaren und unhaltbaren Vorgriffen. Eben diese Vorgriffe bauen ja den „Gegenstand" (etwa die Malerei Rembrandts) in neuer Weise mit auf, so daß dieser Gegenstand kein festes Ansich ist, sondern erst in der Wirkungsgeschichte zu dem wird, was er jeweils ist. Das bedeutet zwar nicht, daß jeder Vorgriff sich halten ließe; aber es bedeutet doch, daß die Vorgriffe in ganz anderer Weise als in den Naturwissenschaften aus dem außerwissenschaftlichen oder vorwissenschaftlichen Bereich in die wissenschaftliche Arbeit einströmen können (so daß etwa der Maler Delacroix eine neue Zuwendung zu Rembrandt heraufrufen kann, für die der Kunsthistoriker Burckhardt kein Sensorium hat). In den Geisteswissenschaften bedarf es deshalb in besonderer Weise der lebensgeschichtlich gegründeten Erfahrung und Erfahrenheit, damit für die Forschung ebenso schöpferische wie legitime Arbeitsperspektiven gewonnen werden. So bleibt die geisteswissenschaftliche Arbeit angewiesen auf die schöpferische, „profilierte" Forscherpersönlichkeit. Diese muß sich (und das geschah an der früheren Universität auf dem Wege über Promotion und Habilitation) in ein Forschungsgebiet einarbeiten können und dann die Zeit haben, zu selbständigen Ansätzen zu kommen. Große Gelehrte wie Mommsen oder Diels haben solche Ansätze in einem Lebenswerk bewährt und dabei auch — in lockerer Assoziation mit anderen — wissenschaftliche Großaufgaben bewältigen können. In der Hegelphilologie ist es zwar zu Einzelleistungen gekommen, lücht aber zur Erfüllung der gestellten Aufgabe. Nohl, Rosenzweig, Hoffmeister wurden entweder bald zu anderen Aufgaben gerufen, oder das kulturelle System gab ihnen keine Möglichkeit, etwas Bleibendes zu schaffen. Von einem heutigen Hochschullehrer zu erwarten, er solle neben den Belastungen durch Lehre und Verwaltung auch noch selber Aufgaben wie die Hegeledition übernehmen, das hieße, Illusionen nachjagen und die Situation der Hochschullehrer arg verkennen. Wenn die notwendige Ausweitung der Bildungsprozesse bestimmte Fächer zu Massenfächern anschwellen läßt und so an den Hochschulen einen Vorrang der Lehre vor der Forschung erzwingt, dann trifft dieser Trend gerade die Geisteswissenschaften mit vernichtender Gewalt, da in den Geisteswissenschaften die Forschung von Niveau an die
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einzelne Forscherpersönlichkeit gebunden und Forschung überhaupt in ihrem Bestand nicht durch betriebliche Organisation und große apparative Ausstattung gesichert ist. Natürlich wird der Drude der Tradition Reservate sichern (etwa der Altphilologie). Aber werden noch neue Forschungsfelder aufgebaut werden können? Neue Forschungsfelder werden unter den heutigen Bedingungen wohl nur noch aufgebaut werden können, wenn sie eine Absicherung durch Institute erfahren. Wird die Gesellschaft in ihrem kulturellen System jedoch Raum lassen für die nötigen Forschungseinrichtungen? Ohne Zweifel verflicht unsere Gesellschaft in zunehmendem Maße Einrichtungen mit sich, die ohne geisteswissenschaftliche Forschung nicht denkbar sind. Die historische Landeskunde, die Denkmalspflege und die Betreuung der Museen, die wissenschaftliche Beratung der Verlage, der Schallplattenproduzenten und der Massenmedien bieten viele Beispiele für die Verflechtung geisteswissenschaftlicher Arbeit mit konkreten gesellschaftlichen Bedürfnissen. Es wäre interessant, einmal zu untersuchen, auf welch unterschiedliche Weise es zur Ausbildung jener Archive gekommen ist, die in institutionalisierter Form Teile unseres geistigen Erbes betreuen. So hat der Aufbau des Hölderlin-Archivs und seine Plazierung in Hölderlins schwäbischer Heimat bestinunte geistesgeschichtliche und kulturpolitische Voraussetzungen gehabt. Die Schätze eines Goethemuseums, in den Wirren unserer Zeit verschlagen in die Stadt Düsseldorf, wurden in lebenslanger Sammeltätigkeit zusammengetragen von der Pietät eines Einzelnen, der Goetheverehrung Anton Kippenbergs. Nach geradezu abenteuerlicher Irrfahrt gelangte der Marx-Nachlaß — ein wenig bestohlen — nach Amsterdam und aus der Emigration wieder zurück nach Amsterdam. Die Rettung des Husserl-Nachlasses ermöglichte ein Husserl-Archiv außerhalb Deutschlands und dann auch in Deutschland. Das einstige NietzscheArchiv blieb voller Zweideutigkeit (Hitler läßt sich im Archiv fotografieren, während Nietzsches Schwester zum eigenen Ruhme Brieftitel fälscht, die Nietzscheausgabe selbst durch Nietzsches Philosemitismus in ihrem Fortgang gefährdet ist); so ist es denn auch nicht von ungefähr, daß man heute in Deutschland die Lizenz für eine kritische Nietzsche-Ausgabe aus Italien kaufen muß. Die Bibliothek Warburg ist aus Deutschland vertrieben worden. Die Institutionalisierung des Hegel-Archivs an einer traditionslosen neuen Universität entsprang rein pragmatischen Überlegungen über Forschungsorganisation, usf. Sollte nicht all das einzelne, was auf Grund mannigfacher Initiativen entstanden ist und durch schlimme Zeiten hindurchgerettet werden konnte, heute von übergreif enden Direktiven her geordnet werden? Sicher ist
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jeder Dirigismus abzulehnen. Aber die Sorge um Einrichtungen, die wichtige Aufgaben übernommen haben oder erst noch zu übernehmen hätten, sollte doch eine gemeinsame sein. Die Gefahr ist zu groß, daß es nur noch zu einer kurzschlüssigen Verbindung geisteswissenschaftlicher oder pseudogeisteswissenschaftlicher Arbeit mit gesellschaftlichen Bedürfnissen kommt — daß also die geisteswissenschaftliche Arbeit durch die Lehre in Massenfächem blockiert, daß man nur noch zur Anregung von Taschenbucheditionen oder zu Expertisen für Pornographieprozesse kommt und die Aktualisierung des Geistesgutes der Vergangenheit auch wiederum nur auf der Taschenbuchebene erfolgt. Jede Zeit hat gewiß ihre spezifischen Aufgaben: die Arbeit in den Schreibstuben des Mittelalters, die Weise, wie Erasmus in den aufblühenden Druckereien seiner Zeit zuhause war, der Weg, auf dem ein einzelner Gelehrter im 19. Jahrhundert eine Edition erstellte — all das kann heute nicht mehr wiederholt werden. Unter die heutigen Aufgaben aber gehört es, durch kritische Editionen ein historisch-philologisches Niveau bei der Zuwendung zu den Werken unserer Philosophen zu sichern und die Interpretation sich nicht in Scheinfragen verlaufen zu lassen, die nur einer unzulänglichen editorischen Aufarbeitung der Texte ihr Entstehen verdanken. Heute droht jedoch die so nötige Hochschulreform nicht nur die Lehre, sondern auch die Forschung in schematischer Weise neuen Bedingungen zu unterwerfen, ohne daß überhaupt gefragt würde nach den Aufgaben, die von der geisteswissenschaftlichen Forschung zu lösen sind, und nach den spezifischen Bedingungen, die gegeben sein müssen, wenn geisteswissenschaftliche Forschung weiterhin möglich sein soll. (Es wird allenfalls an herausgehobenen, besonders aktuellen Beispielen wie Bildungsplanung, Friedensforschung, Politikberatung diskutiert, welche organisatorischen Konsequenzen gezogen werden müssen, wenn man sich den Aufgaben, die sich gestellt haben, wirklich zuwenden will.) Die Frage ist, ob die geisteswissenschaftliche Forschung nicht der Abstützung durch eine neue Art von Forschungseinrichtungen bedarf — durch Institute, die Basisaufgaben übernehmen: den Aufbau von Spezialbibliotheken, eine erste Aufarbeitung der einschlägigen Literatur durch ein neues Dokumentationssystem, dazu Aufgaben wie historisch-kritische Editionen. Sicherlich geht es nicht nur um Einrichtungen, die sich primär Editionsaufgaben zuwenden. Weim es z. B. noch eine Kimstphilosophie geben soll, so sind etwa deren Erörterungen über Architektur in einer Weise mit den verschiedensten historischen, technischen und sozialwissenschaftlichen Wissenskomplexen verbunden, daß ein einzelner sich kaum die nötigen Details anzueignen vermag.
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Da Institute der gekennzeidmeten Art nur an einem Ort entstehen können, da ihr Aufbau finanzielle Konsequenzen hat, da über Priorität entschieden werden muß, sollte eine verbindliche Diskussion über die so entstehenden Fragen der Forschungsorganisation in Gang gebracht werden. Man geht aber kaiun zu weit, wenn man sagt, daß heute von den maßgeblichen Instanzen noch keine klaren Vorstellungen über Richtlinien und Maßstäbe der Forschungsförderung in dem zur Diskussion stehenden Bereich entwickelt werden konnten. Die Planung der Arbeit selbst ist faktisch noch weitgehend unrealistisch; die projektierten Arbeitszeiten werden nur zu oft um das Vielfache überschritten; erst während der Arbeit selbst werden bestinunte Arbeitsvoraussetzungen sichtbar, die dann nachträglich noch berücksichtigt werden müssen; der Kampf um die Mittel verstärkt oft die Isolierung der einzelnen Forschungsdomänen oder führt gar zu balkanischen Zuständen. Die neuen Arbeitsformen haben sich noch nicht durchgesetzt; oft genug glaubt man sich noch an der Weise orientieren zu köimen, wie einmal ein Ordinarius mit Hilfe eines Famulus arbeitete. Dabei geht es nicht darum, die geisteswissenschaftliche Forschung um völlig neue Arbeitsvorhaben zu vergrößern. Vielmehr soll das, was in einer unzulänglichen Weise sowieso getan wird und auch getan werden muß, zureichend orgaiüsiert, die aufzuwendende Arbeit auf das unbedingt Nötige reduziert werden. Z. B. sollen die Ansätze zu einer Hegeledition, für die so viele ihre Arbeitskraft verschwendeten, in eine Form überführt werden, von der man sich ein Gelingen der Arbeit versprechen darf. So wird man für eine ftmktional festgelegte Grundausstattung der genannten Forschungseinrichtungen sorgen müssen. Dabei werden veraltete Konventionen aufgegeben, neue Arbeitsformen ausgebildet werden müssen. Ist es nicht schon absurd, daß es heute Archive gibt, die sich um Handschriften kümmern, und Bibliotheken, die fertige Editionen verwahren, daß aber das notwendige Zwischenglied, die Edition selbst, nicht in institutionalisierter Form betrieben wird? Unter den Konventionen, die auf gegeben werden sollten, sei hier nur eine genannt: man pflegt Handschriften in der Weise aufzuheben, daß man irgendwie Zusammengehöriges in gebundenen Bänden zusammenfaßt; das Einbinden hilft zwar, ein Abhandenkommen einzelner Blätter zu verhüten; durch das Einbinden werden aber nur zu oft die Ränder der Blätter beschädigt, die fotografische Reproduktion wird erschwert, weim nicht urunöglich gemacht. Für die fotografische Reproduktion gibt es so wenig wie etwa für die Dokumentation verbindliche Regeln. Wir haben z.B. im Hegel-Archiv nach vieljähriger Sammeltätigkeit Fotografien der verschiedensten Art;
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Hoffmeister hat sich seinerzeit ein Fragment aus einer Vorfassung der Phänomenologie (dessen Original nun verschollen ist) in der Weise fotografieren lassen, daß er die eine Seite reproduzieren ließ, den Texteil der anderen Seite aber mit der Hand abschrieb (weil offenbar das Geld für die Fotografien knapp war oder — in der Kriegszeit — das Fotopapier fehlte). Dazu gibt es Reproduktionen, die vergilben, und in der Hauptsache gute Fotografien, die jedoch wiederum von verschiedener Art sind. Rückblickend fragt man sich, ob die Mittel für einen so langwierigen Fotografierungsprozeß nicht gut angewendet wären, wenn man sofort wenigstens zwei fotografische Abzüge für die verschiedenen Benutzungsarten machen ließe (sofern die Verhältnisse das von der juristischen Seite her gestatten). So wichtig eine funktional festgelegte Grundausstattung und eine gute Organisation der genannten Forschungseinrichtungen ist — im ganzen sollte man sich dem Trend entgegenstellen, auch geisteswissenschaftliche Forschungsunternehmen nur noch wie arbeitsteilige, spezialisierte Betriebe zu organisieren. Diese Unternehmen sollten vielmehr jüngeren Forschern für eine begrenzte Zeit die Möglichkeit geben, sich in einen ausgebildeten Forschungszweig einzuarbeiten und dann nach Möglichkeit selber schöpferische Initiativen auszubilden. Was früher die Universitätslaufbahn garantierte, sollte rtun von diesen Forschungsunternehmen bereit gestellt werden: die Möglichkeit zu langfristiger Forschungstätigkeit. Nur wenn die Ausbildung schöpferischer Forschungsinitiativen ermöglicht wird, können die bestehenden Aufgaben wirklich gelöst werden, und nur dann wird nicht ein letztlich leer laufendes Unternehmen organisiert. Freilich gibt es heute Stimmen, die den Geisteswissenschaften keine wirklichen Chancen mehr geben wollen und in der „betriebsmäßigen" Ausgestaltung gerade das Ende der einstigen geisteswissenschaftlichen Forschung ansprechen. Defätistisch wird von Geisteswissenschaftlern selbst das Schwinden dessen beklagt, was einmal Grundlage der Geisteswissenschaften gewesen sein soll — das Schwinden des historischen Sinns, der Sensibilität für geschichtliche Differenzierungen, jenes ästhetischen Einfühlungsvermögens, das sich beglückt in die Formen vergangener Lebensgestalten einzuhausen vermag. Von außen her wirft man in aggressiver Weise der humanistisch-ästhetischen Kultur vor, sie verschließe die Augen vor den Lebensbedingungen des Industriezeitalters, programmiere die Bildungsprozesse falsch. In der Tat gibt es kein Zurück mehr. Wer wollte von der Masse der Studierenden, die in die anbrechende Weltzivilisation hineinwachsen und deren Probleme sich zueignen müssen, noch verlangen, sie solle sich in den besten Jahren ihres Lebens mit provenza-
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lischer Troubadourlyrik, mittelalterlichen Epen oder germanischen Sagen beschäftigen? Am Heidelberger Schloß solle sich ihr wenn schon nicht das Feuer nationaler Begeisterung, so doch alteuropäisches Bewußtsein entzünden? Man kann sich eine Germanistik, die im Medium poetischer Sprache Wesenskräfte eines deutschen „Volkes" aufzeigen wollte, genausowenig zurückwünschen wie eine Geschichtsschreibung, die auf die Bildung der Deutschen zur Nation zurückwirken wollte oder sich auch nur in die Horizonte einer der alten Hochkulturen einschloß. Die Perspektiven der geisteswissenschaftlichen Arbeit müssen heute neu bestimmt werden, und nur auf dem Weg einer solchen Neubestimmung wird sich die Frage klären lassen, ob geisteswissenschaftliche Forschung noch jenen „Bildungssinn" haben kann, den man ihr einmal zusprach. Die Geisteswissenschaften selbst haben die Traditionen, denen sie sich zuwandten, in eine Distanz gerückt und in ihrer unmittelbar wirkenden Kraft geschwächt, indem sie sie zum Thema objektivierender wissenschaftlicher Arbeit machten. In aller geisteswissenschaftlicher Arbeit ist eine Tendenz am Werk, die eine wie die andere Tradition (also die eigene wie fremde) zu behandeln und zum Objekt neutraler Forschung zu machen. Diese Tendenz muß gerade in Forschungseinrichtungen zum Zuge kommen, die sich Basisarbeiten zuwenden. (So wird denn auch ein Hegel-Archiv kaum Hegelianismen erzeugen; die Frage, die so oft von Gästen gestellt wird; welche Hegeldeutung das Hegel-Archiv vertrete, ist dahingehend zu beantworten, daß das Archiv für seine Arbeit möglichst alle voreingenommenen Gesamtdeutungen zugunsten neutraler Forschung ausschalten solle.) Doch kann solche neutrale Forschung ihren Sinn darin haben, daß sie eine philosophische, theologische, politische, ästhetische, wissenschaftstheoretische Arbeit abstützt, von der dieser Hegel-Jubiläumskongreß zusammen mit so vielen anderen Kongressen dieses Jahres Zeugnis gibt. Gerade die Hegel- und Idealismusforschung könnte innerhalb der geisteswissenschaftlichen Forschung überhaupt ihre besondere Aufgabe darin haben, deutlich zu machen, wie im Deutschen Idealismus in ersten gedanklichen Antizipationen und noch in gewaltsamen Konstruktionen vorweggenommen wurde, was heute geschieht: das Zusammenlaufen der verschiedenen geschichtlichen Entwicklungsstränge in die eine umfassende Weltzivilisation, die ihre Probleme und Gefahren — zeitlose wie geschichtliche — hat. Diese Forschung könnte uns auch darauf hinweisen, daß dii heutige Gestalt der Welt und unsere Welterfahrung etwas sehr Eigentüm liches sind, z. B. durch Gewinn und Verlust getrennt von der Weltgestalt, die der Deutsche Idealismus hinter sich ließ.
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Eines mag klar geworden sein: es besteht die Aufgabe, die Basisarbeiten der Hegelforschung in einer neuen Weise zu organisieren. In zehn Jahren wird man sehen, ob die Chance, die in dieser Aufgabe zu liegen scheint, von uns genutzt werden koimte, verspielt wurde oder gar keine wirkliche Chance mehr war. Die Aufgabe, von der hier vor allem die Rede war, bildet aber nur einen kleinen Ausschnitt aus der Hegelforschung überhaupt; die Bewältigung dieser spezifischen Aufgabe soll es der Hegelforschung ermöglichen, freier zu sein für ihre eigentlichen Aufgaben. Wenn also neue Ansätze und neue Organisationsformen für die Forschtmg nötig werden, wenn die Überlegungen, Planungen und Verwirklichungen noch im Fluß sind und es nicht einmal entschieden ist, ob die geisteswissenschaftliche Arbeit und speziell die Idealismusforschung im künftigen kulturellen System überhaupt noch einen Ort finden, wenn selbst der Sinn geisteswissenschaftlicher Arbeit und der Bezug auf das, was man einmal Bildung nannte, neu bestimmt werden müssen, dann ist eine Gesellschaft, die sich Vereinigung zur Förderung des Studiums der Hegelschen Philosophie nennt, ihrerseits zu Initiativen aufgefordert.
Kolloquium 1 NATURWISSENSCHAFTEN
HEINRICH SCHIPPERGES (HEIDELBERG)
HEGEL UND DIE NATURWISSENSCHAFTEN Einleitende Vorbemerkung
Die Thematik des heutigen Tages zwingt mich zu einer kurzen Vorbemerkung. Einem Hegel-Kongreß ein Kolloquium zu integrieren, das sich mit Hegel und den Naturwissenschaften beschäftigt, ist ein mehr als kühnes Unterfangen. Der erste deutsche Philosoph, dem ich diese Thematik zu uriterbreiten wagte, antwortete klipp und klar, daß er sich unter Naturwissenschaft bei Hegel einfach „nichts vorstellen" könne. Er schrieb dann weiter: „Diese Teile des Gesamtwerkes Hegels sind vollständig wertlos, wenn nicht unsinnig." Und schließlich noch als kleinen Trost: „Es könnte sein, daß in der DDR sich jemand kritisch nüt der Naturwissenschaft Hegels auseinandergesetzt hat." Wir haben eine solche Auseinandersetzung gleichwohl gewagt, und wir sollten uns auch als Naturwissenschaftler — als Physiker, Chemiker, Zoologen, als Mediziner — den Philosophen zur Diskussion stellen. Dies wird freilich nicht so einfach sein. In der Tat nämlich begegnen wir bei Hegel einer uns zunächst höchst fremden Naturwissenschaft. Denken Sie nur an die seitenlangen Auslassungen über den „Knorren hinter dem Ohr" (in der Phänomenologie des Geistes), an die frappierende These, daß „die Wirklichkeit des Menschen sein Schädelknochen" sei, an däs „Grelle des Satzes" (wie Hegel selber sagt), „daß das Seyn des Geistes ein Knochen ist" Sie erinnern sich sicherlich an die mehr als wunderlichen Stellen von den „Würmern im Herzen" oder „im Gehirn", gar nicht zu reden von der mystischen Beischlafslehre der Krankheit, wo das Individuum „sich gleichsam mit sich selbst" begattet *. Mehr Philosophie als Naturwissen liegt auch in Sätzen vor wie: „Die Luft ist ein schlafendes Feuer . . . das erloschene Feuer ist Wasser ... so ist ‘ G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes. Jubiläumsausgabe, Bd. 2, S. 268. ^ G. W. F. Hegel: System der Philosophie. Zweiter Teil: Die Naturphilosophie. Jubiläumsausgabe, Bd. 9, S. 699.
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das Feuer die Zeit". Oder: „Die Vulkane sind . . . ein unterirdisches Gewitter, mit Erdbeben; das Gewitter ist umgekehrt ein Vulcan in der Wolke" ®. Oder denken Sie an die schöne Geschichte vom guten Onkel Mond, der als wasserloser Kristall an unserem Meere „den Durst seiner Starrheit zu löschen sucht, und daher Ebbe und Flut bewirkt" *. So wunderlich geht es übrigens auch zu in der „Philosophie der Geschichte", wo das Mittelalter etwa — aus Gründen geistiger Geschäftsführung — deklariert wird als „das widrigste und empörendste Schauspiel, das jemals gesehen worden, und das nur die Philosophie begreifen und darum rechtfertigen kann" ® —, so wie sie das auch mit dem Schießpulver tut, dessen Erfindung erst den geistigen Mut zur Hauptsache gemacht habe ®. Es ist bei jedem Punkte dieses Systems völlig evident, daß Philosophie „Philosophie des Geistes" ist. Aber was ist darm die Philosophie der Natur? Was Natur-Philosophie, Natur-Wissen im Total? Hier, im Opus des Naturphilosophen Hegel, spricht die Überlieferung nicht von sich selber, wie doch sonst in der Wissenschaftsgeschichte; sie bedarf vielmehr einer besonderen Fürsprache. Sie appelliert damit aber auch besonders heftig an das Verstehen der anderen, der Fachleute, der Philosophen in diesem Falle, soweit ein Philosoph im hermeneutischen Fluidum überhaupt besonders angegangen werden muß! In der Philosophie ist ja — und „nur in der Philosophie" — „die Vernunft durchaus bei sich selbst". Und dennoch sollte hier in Stuttgart etwas anderes zur Sprache kommen, daß nämlich, wer vom Geist redet, damit notwendig auch etwas über die Natur aussagt, wobei Wissen von der Natur eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegt, denen sich der Philosoph einfach lücht entziehen kann; eine ganze eigenständige Dimension scheint uns damit gegeben, autonom für die Naturwissenschaft, als solche aber auch notwendig ein Korrelat für die Philosophie. Angesichts einer Entäußerung der Idee in der Natur wären die Fragen eines Arztes oder Naturforschers an den Philosophen durchgehend diese: Wie entäußert sich denn Idee zur Natur? Wie entläßt die unmittelbare Idee „frei aus sich" diese Natur? Und warum macht sie so notwendig jeden ® G. W. F. Hegel: Naturphilosophie, S. 191; 208. 1. c., S. 177. ® Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 2. Abschnitt, 1. Kap. * Die Stadt Stuttgart hat sich dafür revanchiert, indem sie die „Hegel-Gedenktafel" in Bronce am Elternhaus (Lange Straße 7) 1871 an die Kriegsmetallsammlung abgeliefert hat, wo die Bronce-Tafel eingeschmolzen wurde (nach Gustav Wais, Stuttgarts Kunst- und Kulturdenkmäler, Stuttgart 1954). *
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Körper zum Fremd-Körper? Genauer — und diesmal mit Hegel: Inwiefern entschließt sich die absolute Freiheit der Idee, ins Leben überzugehen, als Welt der Erscheinung auf zu treten oder — noch einfacher und nun ganz elementar — „anders" zu „werden"? Dies ist und bleibt unsere Frage und damit verbunden das immer dringlichere, bedrängende Weiterfragen: Welcher Arzt und Naturforscher könnte es denn aushalten, angesichts der dreifachen Unendlichkeit des Makrokosmischen, des Mikroskopischen, nicht zuletzt der unendlichen Komplexifikation eines Mesokosmos, wer könnte es aushalten, bei alledem immer nur „die Idee in der Form des Andersseyns" ^ als etwas so völlig Fremdes zu sehen, wo er es doch mit einem Eigentlichen zu tun hat, zu tun zu haben scheint, dem gegenüber eben alles andere — anders ist — „bloß Philosophie"? Diese Natur ist bis zum Tage „der unaufgelöste Widerspruch" geblieben, ein Skandalen für den Philosophen und ebenso auch ein wissenschaftlicher Skandal. Was sollen uns auch alle diese Abfälle vom Weltgeist, mit denen wir dann doch die Welt gestalten wollen oder auch nur Kranke bessern sollen? Was kann uns eine Natur bedeuten, die hier abgetan wird als „Abfall der Idee von sich selbst" ®? Wie läßt sich ein solches Phänomen noch retten, diese „Ohnmacht" der Natur®, die darin besteht, nur noch bloße „Äußerlichkeit" zu sein? Alle diese Fragen sind der Hegel-Forschung vermutlich bekannt, aber sie sind auffallend wenig herausgearbeitet, herausgestellt, artikuliert worden. Wir werden von den Wissenschaftshistorikern in unserem heutigen Kolloquium erstaunliche Daten vorgelegt bekommen über den Prozentsatz, den die Hegel-Forschung aufgebracht hat für einen solch wesentlichen Gegenstand, wie es „das Andere", ein „Andersseyn" ist! Dabei kann man eine solche Unterbewertung und Unterminierung kaum Hegel selbst zur Last legen. Wir wissen, daß er bereits als junger Student in Tübingen einen Kursus in der Anatomie absolvierte, daß er zwischen 1801 und 1807 in Jena Mineralogie, Botanik, Physiologie und Medizin (im Gefolge Schellings) betrieben hat; von Nürnberg aus konnte Hegel 1814 an Paulus nach Heidelberg schreiben: daß er sich „mit Physik, Naturgeschichte, Chemie zu sehr beschäftigt habe", um sich „von dem Schwindel der Naturphilosophie ... ergreifen zu lassen" Und erst in Heidelberg konzentrierte sich Hegel ganz auf die Philosophie, nicht ohne ’’ Naturphilosophie, S. 49. s 1. c., S. 54. » 1. c„ S. 63. »» 1. c., S. 49. ** Briefe von und an Hegel. Hrsg. J. Hoffmeister, Bd. 2, Hamburg 1952, S. 31.
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im Entlassungsgesuch 1818 an das Badische Innenministerium aufmerksam zu machen auf die „prekäre Funktion, Philosophie auf einer Universität zu dozieren" ! Gleichwohl steht die Natur nun einmal mitten im Feld der Philosophie, nicht nur als die „breit und platt geschlagene" Naturphilosophie, von der Hegel sich in seiner Einleitung bereits deutlich distanziert hatte, die Natur vielmehr als ein Phänomen sui generis. Oder ist dies etwa kein Phänomen, wie Ernst Bloch resümiert, wenn aus dem stillen Logischen nun plötzlich ein Zustand entspringen soll, „wo Steine fallen, Mägen verdauen, Menschen sich umbringen" **! Der Geist an sich ist außer sich geraten! Aber warum nur in aller Welt? Zunächst bleibt doch völlig unverständlich, wie Emst Bloch etwa fragt, „warum in das feine, einsame logische Ansich plötzlich solch äußerer Lärm hereinfällt", warum daraus solch ein ekstatischer Zirkus wird! „Die Natur ist der sich entfremdete Geist, der darin nur ausgelassen ist, ein bacchantischer Gott, der sich selbst nicht zügelt und faßt" Ähnlich auch in der Phänomenologie des Geistes; „Das Wahre ist so der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist, und weil jedes, in dem es sich absondert, ebenso unmittelbar sich auflöst, — ist er ebenso die durchsichtige und einfache Ruhe." Auf der einen Seite ist in der Natur kein versteinertes Anderssein der Idee zu finden, „sondern die Steine schreien und heben sich zum Geiste auf", zum Geist, das heißt zu unserem Geiste, zum Menschen. Und auf der anderen Seite ist dieses Heraustreten und Außersichkommen zugleich aber auch: ein Heraus in die Innerlichkeit, ein Erinnern. „Die Natur vertieft sich in sich, und das Äußerliche macht sich zur Weise des Begriffs. Dies ist die Wahrheit der Natur, das Bewußtsein" Eine andere Wahrheit hat sie nicht! Derartige Versuche, den Stufengang der Natur zu fassen, lagen Hegel als Emanationstheorie oder als Evolutionslehre vor. „Beide Gänge sind einseitig und oberflächlich und setzen ein unbestimmtes Ziel." Wir finden keine quantitativen Übergänge, sondern bei aller kategorialen Einschachtelung überall Sprünge. Man kann auch die trockene Reihenfolge nicht dynamischer oder philosophischer oder auch nur begreiflicher machen, ‘2 1817 so prekär wie übrigens noch 1970, und selbst unter dem Motto: „Dem lebendigen Geist"! ” Ernst Bloch: Subjekt—Objekt. Frankfurt 1962, S. 203. *'* Naturphilosophie, S. 50. Phänomenologie des Geistes, S. 45. Naturphilosophie, S. 48. ” 1. c„ S. 61.
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wenn man sich ein Hervor-Gehen vorstellt. „Ebensowenig muß man die Kategorie früherer Stufen zur Erklärung der andern Stufen gebrauchen; das ist ein formeller Unfug." Denn Hegels Natur ist lüdits anderes als ein Passiertsein, „ein totliegendes Parterre für die menschliche Geschichte" (E. Bloch). Alle Natur — so sagt sehr eindeutig Novalis — ist ehemalige Geschichte, ist eher Geschichtetes! Dieses aber ist zu entschichten, zu entdecken, bewußt zu machen. Nach dem Proteus korrunt sicherlich Phoebus, die historische Offenbarung. Bei diesem Spiel aber herrscht nun einmal eine gewisse List der Vernunft vor; „Die Individuen holen dem Weltgeist die Kastanien aus dem Feuer", um sich unaufhörlich dabei die Pfoten zu verbrennen. Das Ganze ist ein paradoxes Unterfangen, a) mit dem Bild der Natur diesen Proteus zu bezwingen; b) den Begriff in der Natur zum Begriffe sprechen zu lassen; c) in allem „den Spiegel unseres Selbst zu finden". Das Ziel der Natur soll dabei sein: „sich selbst zu töten und ihre Rinde des Unmittelbaren, Siimlichen zu durchbrechen, sich als Phoenix zu verbrennen, um aus dieser Äußerlichkeit verjüngt als Geist hervorzutreten." Diesen inneren Verbrennungsprozeß am Äußeren — gibt es diesen Prozeß ernsthaft und wirklich, gibt es eine solche mit Bewußtsein produktive Natur, von der auch Schelling gesprochen hatte? Und wäre dies „die sich selbst systematisierende Entwicklung", von der die Phänomenologie des Geistes spricht? Und was wäre Entwicklung, wenn nach Hegel die organische Natur gar keine Geschichte hat? Das Hervorgehen von Natur aus der Idee sei eben „nicht empirisch" vor sich gegangen; sollte dann die „Versöhnung des Geistes mit der Natur" und damit der Wirklichkeit diesmal empirisch zu verstehen und zu erwarten sein? Ich durfte diese Frage aus dem Hintergrund, aus der Hinterwelt, vorausstellen, weil sie im vordergründigen Gestrüpp der Positivität der Naturwissenschaften kaum noch zu finden ist, obschon sie da erst wach und wirksam würde! Und dahinter schließlich die Fragen, die wir hier eigentlich gar nicht stellen dürfen: Läßt sich eine solche organische Naturphilosophie überhaupt vereinbaren mit der Hermeneutik der geschichtlichen Welt? Passen beide zusammen in ein „System der Wissenschaft"? Und wie bildete sich ohne beide die von Hegel doch so leidenschaftlich gesuchte „Totalität des Wissens"? Hegel sagt doch deutlich genug, „daß das Wissen nur als Wissenschaft oder als System wirklich ist und dargestellt werden 18 1* 8“ ^1
1. c., S. 60. Naturphilosophie, S. 721. Phänomenologie des Geistes, S. 231. Naturphilosophie, S. 721.
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kann". Ein theoretisches System aber sei nur in der Arbeit des Begriffes zu gewinnen, d. h. es ist die Bewegung der Begriffe, welche erst die Natur der Wissensdhaftlichkeit ausmadrt. Diese und weitere Fragen werden nicht nur im Hintergrund bleiben können, wenn wir uns nimmehr mit ganz konkreten wissenschaftshistorischen Fragen der Mechanik, der Physik und der Organik befassen. In seiner Einleitung in die Naturphilosophie hat Hegel betont, wie beschränkt der Raum für solch reichen Stoff sei; er war sich bewußt, wie sehr die Naturphilosophie zu seiner Zeit schon „breit und platt geschlagen worden" war. Was er gegen alle Vorurteile dermoch betreiben wollte, war ihm keine Sache der Phantasie, sondern „Sache des Begriffs", so sehr, daß er in seiner Naturphilosophie sagen konnte; „Ich habe gar keinen Respect vor ihrem Wesen — Sagen!" Vom „Wesen" werden wir auch hier nichts sagen! Und wir werden uns kaum — iiüt Hegels Bild — dazu aufschwingen können, „die Welt als eine Blume zu begreifen, die aus einem Samenkorne ewig hervorgeht". Beginnen wir daher mit den Sachen, und vor der Organik mit Mechanik und Physik! Wir werden damit heute nicht fertig, aber wir dürfen doch damit einmal anfangen. Der Anfang ist — nach Aristoteles — mehr als die Hälfte des Ganzen. Was — nach Hegel — freilich viel zu statisch gedacht wäre; ihm war der Anfang „das Ärmste an Bestimmungen"; erst das Spätere sei das „Konkretere, Reichere". So will es der Geist im Prozeß, das System in Entwicklung, jene Entwicklxmgsphilosophie, die Friedrich Nietzsche als „die in Philosophie umgetaufte Historie" verlästert hat und unter deren Eindruck er konstatieren durfte: „Wir Deutsche sind Hegelianer, auch wenn es nie einen Hegel gegeben hätte."
Phänomenologie des Geistes, S. 27.
Naturphilosophie, S. 701. F. Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft V, 357; in Ed. Schlechta II, 226 f.
JOHN N. FINDLAY (BOSTON)
HEGEL UND DIE PHYSIK Idi will hier den Inhalt meines ziemlich langen Aufsatzes über Hegels Behandlung der Physik in seiner Naturphilosophie in zwanzig Minuten wiedergeben: der Aufsatz war in englischer Sprache abgefaßt und meine jetzige Zusammenfassung soll in deutscher Sprache sein. Wenn das Resultat nicht in allen Hinsichten tadellos ist, müssen Sie es mir verzeihen. Meine Ausführungen basieren auf den Paragraphen der Enzyklopädie mit den Micheletschen Zusätzen: zwei Übersetzungen dieses Werkes sind in englischer Sprache unlängst erschienen. Bei der einen habe ich eine unterstützende Rolle gespielt. Auf die Behandlung unserer Themen in den Jenaer Vorlesungen, die in manchen Punkten von denen der Enzyklopädie auf interessante Weise abweicht und hier und da mehr in die Tiefe dringt, bin ich nicht eingegangen. Mein vorherrschender Wunsch ist, daß ein so wichtiger Teil des Hegelschen Systems wie die Naturphilosophie bei dieser Gelegenheit nicht ganz vernachlässigt und vergessen werde. Es ist wichtig, daß wir uns erinnern, welche Stelle die Naturphilosophie in Hegels Gedankenwelt einnimmt. Sie will die Idee, das Absolute, in seinem Anderssein, in seinem Außersichsein, in seiner Entäußerung darstellen. Meiner Meinung nach ist der Begriff der Entäußerung, eines von sich selbst Weggehens und Zurücktretens, um damit seine Identität mit sich zu vermitteln und erst sinnvoll zu machen, bei weitem der originellste und tiefsinnigste aller Begriffe Hegels: wenn dieser ganze Kongreß sich nur mit ihm beschäftigte, statt vom Einfluß Hegels auf dieses oder jenes oder vom Einfluß von diesem oder jenem auf Hegel zu reden, wäre dies für mich nicht zu viel. Eine Einheit, die sich wunderbarerweise verdoppeln kann, um danach ihr entzweites Wesen wieder zu vereinigen: Dies konsequent durchzudenken, wäre für mich die wohl härteste und auch lohnendste aller philosophischen Bemühungen. Trotzdem hat sie bei Hegel eine einfache Begründung: daß eine Idee, wie vollkommen sie auch in ihrer reinen Begrifflichkeit sein mag, solange eine bloße Abstraktion ist und bleibt, als sie sich nicht in eine Welt
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konkreten Daseins ausgearbeitet und sich nicht in dem, wozu sie sich ausgebildet hat, anerkannt hat. Die Natur ist also das erforderliche Gegenstück des geistigen Seins, und wenn die Hegelsche Methode nicht in der Lage ist, die Natur durch und durch zu erhellen, so ist sie im tiefsten Wesen verfehlt. Vermag sie aber solche Aufklärung zu geben, so besitzt sie einen wahrhaften bedeutenden Vorzug. Die Naturphilosophie ist also der Prüfstein der Hegelschen Philosophie. Wie auch im Falle anderer Philosophen — Descartes, Aristoteles usw. — versteht man Hegel nicht gründlich, wenn man die Anwendung seiner Ideen auf die Natur nicht richtig begriffen hat. Die Entäußerung der absoluten Idee ist also weder ein Schöpfungsakt noch ein Akt des bewußten Setzens: Sie ist ein ewiges, logisches Verhältnis zwischen einer idealen Wesenheit einerseits und ihrer Besonderung und Vereinzelung andererseits, ohne welch' letztere sie gar nicht sein könnte, und in denen beiden ein Moment von anschaulichem Inhalt und von unableitbarer Zufälligkeit notwendig vorkommt. Sie ist, wenn man so will, ein Akt, weil sie unendliche Kraft hinter sich hat; weil sie aber immer fortbesteht und fortbestehen muß, ist sie Akt nur in analoger Bedeutung. Hegel legt Nachdruck auf die Besonderheit, die spezifische Verschiedenheit, als Merkmal der Natur, während die Einzelheit, die Individualität, das dritte Moment des Begriffes, dem Geist Vorbehalten bleibt. Es wäre besser, sowohl Einzelheit wie auch Besonderung in beiden Sphären anzuerkennen. Vielleicht ist die Natur mit ihrem sinnlosen Drang zur Wiederholung nicht differenzierter Exemplare mehr auf Einzelheit und weniger auf Besonderung gerichtet als der Geist. Weil in dem Hegelschen System alle Teile auch das Ganze sind und den Aufbau des Ganzen wiederspiegeln müssen, muß die Natur auch sich selbst, und nicht nur der absoluten Idee, entfremdet sein, eine Entfremdung, die sich einerseits in dem raumzeitlichen Auseinander und andererseits in der scheinbaren Unabhängigkeit und wechselseitigen Gleichgültigkeit der verschieden gefärbten Naturphänomene manifestiert. Die Natur ist naiv: Wie die Vorstellung, und auch wie der Verstand, will sie, was logisch untrennbar miteinander verflochten ist, voneinander trennen, dem im tiefsten Wesen Unabhängigen eine bildergleiche Selbständigkeit verleihen. Aber sie ist immer dabei, ihre Naivität zu verlieren: Das tut sie in einer Formenhierarchie, die von den unzusammenhängendsten und zerstreutesten Gestalten zu den am engsten verbundenen und einheitlichen Formen hinaufsteigt. Wir können dieser Formenleiter entweder von unten nach oben oder von oben nach unten folgen, sie in evolutionistischer oder emanationistischer Richtung auseinanderlegen. Die
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dialektische Folge bleibt trotzdem evolutionistisch, obgleich Hegel diesen Begriff nicht im zeitlichen Sinne auffaßt. Wir fangen also mit der Mechanik an, wo sich der Einheitspunkt immer außerhalb der organisierten Elemente befindet, wir fahren mit der Physik fort, wo sich die Einheit in der Form eines wechselseitigen Gesetztseins, einer überall waltenden Reflexion oder Relativität durchsetzt, und wir schließen mit der Organik, wo die Einheit allen ihren zerstreuten Elementen innewohnt und sich als unendlicher Selbstzweck bekundet, der in allen Wandlungen und Unterschieden nur sich selbst verwirklicht und ständig erhält. Hiermit sammelt und erinnert sich die Natur aus ihrer Zerrissenheit und wird in den Geist aufgehoben. Es ist die physische, relativistische Seite der Natur, die ich in meinem Beitrag hauptsächlich behandelt habe. In der Mechanik wird behauptet: (a) daß sich das räumliche Nebeneinander nicht von dem zeitlichen Nacheinander abtrennen läßt: wir brauchen eine sich bewegende Gegenwart, um die Punkte des Raumes voneinander zu unterscheiden; (b) daß das raumzeitliche Kontinuum nicht ohne eine stoffliche Erfüllung existieren kann: für seinen Bestand ist auch stetige Bewegung erforderlich; (c) daß die Schwerkraft im Begriff, im Wesen des körperlichen Seins ihren Platz hat: in ihr deutet sich in einem gleichgültigen, mechanischen Zusammenhang die Bezogenheit von allem auf alles in verhüllter Weise an; (d) daß die Einrichtung eines geordneten Sonnensystems mit Sorme, Planeten, Satelliten und Kometen auf keinem empirischen Zufall beruht, sondern auf einer Wesensnotwendigkeit. Meiner Meinung nach werden in diesen vier Punkten (a), (b), (c), und (d) wichtige und vertretbare Lehren ausgesprochen. In der Physik behandelt Hegel, wie gesagt, Abhängigkeiten und Beziehungen, die im Wesen des körperlichen Seins begründet sind. Ich werde bei dieser Gelegenheit die Relativitäten anders ordnen als in meinem Aufsatz und auch anders, als es bei Hegel geschehen ist: die Weise, in der Hegel hier seinen Stoff dialektisch gliederte, kommt mir in mancher Hinsicht künstlich und willkürlich vor. Hegel behauptet: (a) daß die Materie sich in bezug auf ihre notwendige Räumlichkeit und ihr notwendiges Zusammenhalten stets differenzieren muß. Das heißt, sie muß Verschiedenheit des spezifischen Gewichts und der Kohäsion bezeugen: Allgemeinheit ist nichts ohne differenzierende Besonderheiten; (b) daß die rein quantitative Raumzeitlichkeit der Materie immer von qualitativen Unterschieden begleitet sein muß: diese Qualitäten haben ein Sein in der Natur und nicht nur in unseren Empfindungen. Sie resümieren irgendwie auf qualitative Weise ihre quantitative Grundlage; (Ich kann hier leider nichts von Hegels höchst interessanter Behandlung
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von Klang, Farbe, Wärme, Gerudi und Geschmack mitteilen.) (c) daß die Materie ihre durchgehende Einheit und Identität vor allem im Phänomen des Lichts manifestiert. „Das Licht bringt uns in den allgemeinen Zusammenhang; alles ist dadurch, daß es im Lichte ist, auf theoretische, widerstandslose Weise für uns." Das Licht ist „die Kraft allgemeiner Wirklichkeit, außer sich zu sein, als die mit Allem zusammenfließende Möglichkeit, die Gemeinschaft mit Allem, die in sich bleibt, wodurch das Daseiende sich nichts von seiner Selbständigkeit vergibt" (Enz., 275 Zus.). Das Licht ist in der Tat die Manifestation und die Kommunikation selbst, das in stetiger Verbindung Stehen aller Dinge. Auch ist das Licht eine fast unkörperliche Körperlichkeit: selbst unsichtbar macht es andere Dinge sichtbar, und seine Bewegung ist nur ein verspätetes Ankommen. Das sind alles sehr anregende, sehr moderne Thesen; (d) daß die Materie sich auch in gewissen, allgemeinen, elementaren Formen bekundet, deren charakteristische Rolle es ist, die materialen Unterschiede zu nivellieren. Die Luft sublimiert, das Feuer verzehrt, das Wasser löst auf und die Erde vermengt und vergräbt. Diese verzehrenden Allgemeinheiten gehen dann meteorologisch ineinander über, um ihre zugrundeliegende Identität zu bewähren. Wir verkehren hier in einer vorsokratischen Gedankenwelt, in hegelische Tonart umgesetzt; (e) daß die Materie in der regelmäßigen Gradlinigkeit und scharfkantigen Winkligkeit des Verstandes sich als Kristall bekundet; (f) daß die Materie auch dynamische Äußerungsweisen ihrer zugrundeliegenden Identität hat, so in den Phänomenen des Magnetismus, der Elektrizität und des chemischen Prozesses. Im Magnetismus entzweit sich der Begriff der Materie in die räumlich getrennten, aber begrifflich untrennbaren Pole, die ihren Gegensatz oder ihre Verwandschaft in den Bewegungen des Sichnäherns oder Sichentfernens beweisen. Das ganze Wesen des Magnetismus ist in diesen linearen Bewegungen manifest, und es muß nichts als noch darunter verborgen gedacht werden. In der Elektrizität haben wir einen zerbrochenen Magnetismus: Die Verschiedenheit von zwei sich aneinander reibenden Körper läßt sich gleichsam in den gegensätzlichen Ladungen dieser Körper erkennen, und hebt sich dann in Licht, Schall und elektrischer Erschütterung auf. Im chemischen Prozeß haben wir schließlich den Widerspruch des gesonderten Bestehens von Substanzen, die wesensmäßig miteinander in Identität verbunden sind. Dieser Widerspruch muß sich dann, unter passenden Umständen, in einer chemischen Wirkung äußern, wodurch sich die Einheit der Substanzen in der Form einer neuen Substanz manifestiert. Hegels Behandlung zeigt hier, wie erhellend und wie verantwortlich er seinen Begriff des Widerspruchs benutzt: sein Widerspruch ist
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nicht der Widerspruch der formalen Logik. Formal gesehen, enthält der Widerspruch Hegels keinen Widerspruch. — In dem chemischen Prozeß kommen wir aber über die Relativität nicht hinaus. Die chemischen Körper mögen wohl ihre Identität im Prozeß ihrer Verbindung bezeugen, aber sie kehren wieder zu ihrer widerspruchsvollen Absonderung zurück und bedürfen einer Sollizitation von außen, um in wesensnotwendige Verbindungen zu treten. Der chemische Prozeß ist weder sich selbst erzeugend noch sich selbst steuernd: Wäre er das, so wäre er mit dem Leben identisch. Im Leben hat sich der Begriff enthüllt: Das Leben ist sich selbst entzündend, sich selbst erneuernd und sich selbst steuernd; in allen seinen Funktionen und Verrichtungen bezweckt es nur sich selbst. Die verschiedenen Formen des Lebens, solche ganz ohne Individualität — die geologischen —, solche mit rudimentärer Individualität — die botanischen — und die mit vollkommener Individualität — die zoologischen — werden dann in den drei Abschnitten der Organik besprochen, und am Ende sind wir bereit, von der Unwahrheit des natürlichen Außersicheins in die Wahrheit des geistigen An- und Fürsichseins überzugehen. Überall herrschen systematische Prinzipien, die im Grunde rein logischer Art sind: die Unmöglichkeit einer absoluten Absonderung oder Mehrheit von Faktoren und Momenten und die Notwendigkeit einer scheinbaren Absonderung derartiger Faktoren und Momente; ein Schein, der dann beseitigt und aufgehoben werden muß. Welche Stellung sollen wir nun gegenüber diesen Prinzipien einnehmen, und wie ist die Weise zu beurteilen, in der Hegel sie in seinem System ausgearbeitet hat? Die Einzelheiten sind meistens veraltet und ganz unannehmbar, aber Prinzipien und Methode haben ihre allgemeine Gültigkeit nicht verloren. Was wir in jeder Sphäre vor allem vermeiden müssen, ist ein bloßes Sichherumtreiben mit empirischen Tatsachen ohne erklärende und ordnende Kategorien: wir müssen eine Syntax, einen logischen Aufbau der Welt ausbilden können, und je integrierender, desto besser. Wir können die höheren Einheiten auf Grund der niederen Entzweiungen weder verstehen noch erklären, aber, von Hegel belehrt, können wir, mit einem Rest von Zögern, diese niederen Entzweiungen auf Grund der höheren Einheiten verstehen und erklären. Leben und Geist, jene dürftigsten, unselbständigsten, scheinbar schmarotzerhaftesten aller Dinge, können wir auch deshalb zu den erklärungsmächtigsten unter ihnen machen, weil wir alles als auf sie teleologisch hinzielend denken können, und weil wir annehmen können, daß nur in ihnen alle Dinge logische rmd ontologische Selbstgenügsamkeit und Selbständigkeit zu er-
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reichen vermögen. Es ist aufs tiefste erhebend, wenn wir so sehr verschiedene Naturphänomene wie die Schwerkraft, die Strahlung des Lichtes, die magnetischen, elektrischen und chemischen Wirkungen und selbst die unbewußten Vorgänge des Nervensystems so denken, als strebten sie auf eine geistige Einheit hin, ohne sie doch als Bewußtseinsphänomene oder als vom Bewußtsein abhängig anzusehen. Hegel hat jedenfalls in seiner Naturphilosophie viel für die Philosophie und die Naturwissenschaft geleistet. Sie ist ein Teil seines Systems, das viel mehr Beachtung verdient, als ihm gewöhnlich zugemessen wird.
JOACHIM OTTO FLECKENSTEIN (MÜNCHEN UND BASEL)
HEGELS INTERPRETATION DER CAVALIERISCHEN INFINITESIMALMETHODE In der Logik behandelt Hegel im zweiten Abschnitt des ersten Buches bei der Lehre von der Quantität ausführlichst die quantitative Unendlichkeit. Naturgemäß nimmt hier die Infinitesimalrechnung der Mathematiker einen besonderen Raum ein. Die mathematischen Grundlagen der sogenannten ,Analysis des Unendlichen' wurden aber erst gegen die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, insbesondere seit der Cauchy-Weierstrasschen Arithmetisierung der Infinitesimalrechnung eruiert. Hegel lebt noch in der — wie die heutigen Mathematiker sagen würden — ,naiven' Epoche der Euler sehen Tradition, wo die unendlichkleinen Größen zwar als Nullgrößen betrachtet werden, mit denen man aber wie mit Quantitäten rechnen könne. Leibniz hatte zwar schon die Differentiale als nur extensive Nullen, aber dennoch als intensive Größen deklariert, deren Definition jedoch nur innerhalb seiner Metaphysik verständlich war, die bekanntlich schon vor Kant ihr ,offizielles' Fiasko hatte. Immerhin unterscheidet auch Hegel wie Leibniz die formale Seite von dem materialen Inhalt des Differentialbegriffs In den folgenden Anmerkungen werden die entspredienden Passus aus Hegels Anmerkungen 2 und 3 zur ,Unendlidikeit des Quantums' zitiert: (2) Der Zweck des Differentialkalküls aus seiner Anwendung abgeleitet. (3) Noch andere mit der qualitativen Größenbestimmtheit zusammenhängende Formen. Vgl. Logik I, ed. Lasson. * „Bei der unendlidren Reihe wie in der Archimedischen Kreismessung bedeutet das Unendliche nichts weiter, als daß das Gesetz der Fortbestimmung bekannt, aber der sogenannte endliche Ausdruck, das ist der arithmetische, nicht gegeben ist, die Zurückführung des Bogens auf die gerade Linie nicht bewerkstelligt werden kann; diese Inkommensurabilität ist die qualitative Verschiedenheit derselben. Die qualitative Verschiedenheit des Diskreten mit dem Kontinuierlichen überhaupt enthält gleichfalls eine negative Bestimmung, welche sie als inkommensurabel erscheinen läßt und das Unendliche herbeiführt in dem Sinne, daß das als diskret zu nehmende Kontinuierliche nun kein Quantum nach seiner kontinuierlichen Bestimmtheit mehr haben soll.. . und man kann kein Arges daran haben, die Größe einer Linie mit der Größe einer anderen Linie zu multiplizieren; aber die Multiplikation dieser selben Größen gibt zugleich die qualitative Veränderung des Übergangs von Linie in Fläche; insofern tritt eine negative Bestimmung ein; sie ist es, welche die Schwierigkeit veranlaßt, die durch die Einsicht in ihre Eigentümlichkeit und in die einfache Natur der Sache gelöst, aber durch die Hilfe des Unendlichen, wodurch sie beseitigt werden soll, vielmehr nur in Verworrenheit gesetzt und ganz unaufgelöst erhalten wird." a. a. O. S. 321 f.
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Überhaupt erweist sich Hegel als guter Kenner der Geschichte der Infinitesimalrechnung, würdigt er doch den vielgeschmähten Cavalieri (1598— 1647), dessen Indivisibilienmethode den späteren Mathematikern als Gipfel scholastischer Unverständlichkeit erschien, durch eine besonders breite Darstellung. Es ist bemerkenswert, daß Hegel sehr deutlich die Übergangsposition des Cavalierischen Prinzips zwischen der scholastischen und der modernen ,funktionellen' Methode seit Leibniz und Newton fühlt. Hegel kennt die klassischen Autoren des modernen Infinitesimalkalküls und setzt mit Recht den Beginn desselben mit Kepler an. Cavalieris Leistung bestand bekanntlich darin, daß er — freilich bloß in geometrischer Form — einen allgemeinen Begriff aufstellt (,Allheit der Indivisibilien'), der mit dem späteren analytischen Begriff des bestimmten Integrals zusammenfällt. Damit kann Cavalieri auch allgemeinere Integrationen als Archimedes ausführen, dessen Methoden zwar streng mathematisch begründet aber nur auf spezielle Kontinua anwendbar waren; Kepler war in der Tat der erste, dessen Kontinua (allgemeinere Rotationsfiguren) über die der Antike hinausgingen, aber erst bei Cavalieri treten geometrische Kontinua auf, deren Berandung ganz allgemein ist. In der mathematikgeschichtlichen Literatur wird allgemein Cavalieri vorgeworfen, daß er seine ,Indivisibilien' nicht genau definiert habe, und Cantor weist darauf hin, daß wohl bei Bradwardinus (1290—1349) zum ersten Male dieser Begriff in der scholastischen Theorie des Kontinuums auftritt. Dieser hat die verschiedenen Möglichkeiten des Aufbaus eines Kontinuums diskutiert; man kann sie in folgendem Schema zusammenfassen: Compositio Continui Ex partibus divisibilibus sine fine non ex atonüs
Ex Indivisibilibus Ex punctis
(ARISTOTELES, ALGAZEL, BRADWARDINUS)
Ex corporibus indivisibilibus (DEMOKRITUS)
Ex infinitis indivisibilibus
Ex finitis indivisibilibus (PYTHAGORAS,
immediate conjimctis
Ad invicem mediatis
(HENRI DE GAND)
(GROSSETESTE)
PLATO, BURLEIGH)
Hegels Interpretation Cavalieris
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Cavalieri hat nie klar gesagt, welcher dieser traditionellen Auffassungen er selbst huldigt; einmal läßt er überhaupt offen, was die Indivisibilien überhaupt seien, deim es genüge, bloß das Verhältnis der Indivisibilien zu kennen, welche ein Kontinuum bilden, und führt als Beispiel die Ellipsenfläche an, welche sich zu K ab ergibt, weil alle Ellipsenindivisibilien zu denen des Kreises jr a^ sich wie b:a verhalten, ein Beispiel, auf dem auch Hegel insistiert Trotzdem muß Cavalieri der scholastischen Tradition insofern gefolgt sein, als er das klassische Schema vom Subjekt als Einheit von Forma et Materia weiterentwickelt, was freilich erst später Leibniz bewußt ausführte, wenn er die Cavalierischen Indivisibilienallheiten in Integral transformiert. Dieses Schema muß auch auf die spätscholastische Theorie des kontinuierlichen Quantums angewendet werden, wo das begriffliche Substratum die Materia des Kontinuums wäre. Da nun das Indivisibel ein Unteilbares ist, repräsentiert es als eine Qualität die Forma. Demnach ist das Kontinuum die Einheit von Punkten (als quantitative Substrata die Materia darstellend) und den Indivisibilien als Formen, welche das Punktaggregat zum Kontinuum prägen. Die ,Allheit' des Jesuiten Cavalieri (und nicht das Aggregat der Indivisibilien) bildet also das Kontinuum. Bei dieser Auffassung des Kontinuums schwankt natürlich die Dialektik der Jesuitenmathematiker des Barockzeitalters, wenn sie die Linie aus Punktelementen, die Fläche aus Linienelementen usw. zusammensetzen, ständig zwischen dem bloß materialen und dem bloß formalen ,Teil' der Begriffseinheit ,Indivisibel' hin und her. Hegel weiß aber sehr genau Cavalieris Absicht zu würdigen, wenn er darauf insistiert, daß die Indivisibilienallheit nicht ein bloßes Aggregat ist, sondern als etwas Kontinuierliches eines qualitativen Momentes bedarf ^ „... jede Ordinate der Ellipse verhält sich zu der entsprechenden des Kreises wie die kleine zur großen Achse; also, wird geschlossen, verhalten sich auch die Summen der Ordinaten d. i. die Flächen ebenso. Diejenigen, welche dabei die Vorstellung der Fläche als einer Summe von Linien vermeiden wollen, machen die Ordinaten mit der gewöhnlichen, ganz überflüssigen Aushilfe zu Trapezen von unendlich kleiner Breite; da die Gleichung nur eine Proportion ist, kommt nur das eine der zwei linearen Elemente der Fläche in Vergleichung." a. a. O. S. 315. ® „Diese gleichen oder in gleichem Verhältnis mit der Grundlinie stehenden Linien, kollektiv genommen, geben die in gleichem Verhältnisse stehenden Figuren. Die Vorstellung eines Aggregats von Linien geht gegen die Kontinuität der Figur; allein die Betrachtung der Linien erschöpft die Bestimmtheit, auf welche es ankommt, vollkommen. Cavalieri gibt häufige Antwort auf die Schwierigkeit, als ob die Vorstellung von den Unteilbaren es mit sich führe, daß der Anzahl nach unendliche Linien oder Ebenen verglichen werden sollen (Geom. Lib. II, Prop. 1, Schol.); er macht den richtigen Unterschied, daß er nicht die Anzahl derselben, welche wir nicht kennen — d. i. vielmehr die, wie bemerkt worden, eine zu Hilfe genommene leere
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Damit bemerkt ein Hegel das Unrecht, welches die Mathematiker — übrigens heute noch! — bei ihrer Kritik des Cavalierischen Prinzips dem Bologneser Mathematiker zufügen: Der klassische Einwand, den auch Hegel bespricht *, gegen die Allgemeinheit des Prinzips, daß die Kontinua sich verhalten sollen wie die Allheiten der Indivisibilien war das mittelst einer Höhe in zwei Teildreiecke zerlegte Dreieck. Links und rechts der Höhe sind alle Indivisibilien gleichlang — also müßten auch die beiden Dreiecke flächengleich sein! Hegel repetiert Cavalieris Antwort, daß diese der Höhe parallelen Indivisibilien nicht benutzt werden dürfen, da hier die ,Spissitudo' (Dichte) der Indivisibilien auf beiden Seiten der Höhe verschieden sei. Cavalieri impliziert nämlich in seinem Prinzip, daß die von den Indivisibilien gebildeten Kontinua nach dem gleichen Prozeß erzeugt sein müssen. Leider bleibt Cavalieri bei der Erzeugung der Kontinua auf einer mehr statischen Auffassung stehen, die übrigens auch der Bradwardineschen Tradition eigen war. Er muß deshalb in seinen ,Exercitationes Geometricae' von 1647 seine ,Geometria indivisibilibus continuorum' von 1637 in Abwehr dieser Kritiken ergänzen. Schon sein Zeitgenosse Souvey bemerkte, daß die Schwierigkeiten der Cavalierischen Indivisibilienauffassung umgangen werden können, wenn man von der statischen Auffassung des Kontinuums zu einer dynamischen übergeht. Läßt man nämlich durch die Bewegung eines Punktes (Fluxus) das Linienkontinuum entstehen — weldie Erzeugungsweise übrigens schon Proklos lehrte — durch einen Fluxus der Linie eine Fläche erzeugen usw., dann fällt das traditionelle Problem des Kontinuums als Aggregat einer Anzahl von Punkten, Linien, Flächen und als Indivisibilien dahin. Vorstellung ist, — sondern nur die Größe, das ist die quantitative Bestimmtheit als solche, welche dem von diesen Linien eingenommenen Raume gleich ist, vergleiche; weil dieser in Grenzen eingesdilossen ist, ist auch jene seine Größe in dieselben Grenzen eingeschlossen; das Kontinuierliche ist nichts anderes als die Unteilbaren selbst, sagt er; wäre es etwas außer diesen, so wäre es nicht vergleichbar; es würde aber ungereimt sein, zu sagen, begrenzte Kontinuierliche seien nicht miteinander vergleichbar." a. a. O. S. 317. ^ „Dergleichen Einwürfe oder Unsicherheiten haben ihre Quelle allein in der gebrauchten unbestimmten Vorstellung der unendlichen Menge von Punkten, aus denen die Linie, oder von Linien, aus denen die Fläche usf. bestehend angesehen wird; durch diese Vorstellung wird die wesentliche Größenbestimmtheit der Linien oder Flächen in Schatten gestellt. — Es ist die Absicht dieser Anmerkungen gewesen, die affirmativen Bestimmungen, die bei dem verschiedenen Gebrauch, der von dem Unendlichkleinen in der Mathematik gemacht wird, sozusagen im Hintergründe bleiben, aufzuweisen und sie aus der Nebulosität hervorzuheben, in welche sie durch jene bloß negativ gehaltene Kategorie gehüllt werden." a. a. O. S. 321.
Hegels Interpretation Cavalieris
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Gerade beim Problem der unendlichen Anzahl von Indivisibilien geriet Cavalieri in das Kreuzfeuer der Kritik; er läßt dabei die schon von den Scholastikern erwogene Möglichkeit von verschiedenen Ordnungsstufen des Unendlichen offen, ohne aber wie Bradwardine eine genaue Disjunktion durchzuführen. Bei dem von ihm gemeinten aber nicht formulierten dynamischen Erzeugungsprozeß des Kontinuums kommt es auf dieses Anzahlproblem nicht an; dagegen wird die Berandung des Kontinuums entscheidend, denn sie beschreibt geometrisch den Erzeugungsprozeß z. B. einer Fläche aus dem ab- und anschwellenden Geradenindivisibel Diese dynamische Auffassung läßt das neue Motiv erst deutlich hervortreten: es ist nicht mehr das statische Nebeneinanderliegen von unendlichvielen Elementarindivisibilien gemeint, sondern man spricht von einem einzigen erzeugenden Indivisibel, welches nach einem vorgeschriebenen FluxusProzeß das jeweilige geometrische Kontinuum bildet. EMeser Schritt eines scholastischen ,Fluxus formae', der in der Wissenschaftsgeschichte als eine der Grundlagen der neuen Dynamik des 17. Jahrhunderts (Geschwindigkeitsindivisibel Galileis!) betrachtet wird, wird von Hegel nicht beachtet. Dies ist umso erstaunlicher, als er selber in einer langen Anmerkung eine Schrift von Spehr ® bespricht, der 1826 die Infinitesimalrechnung als einen Fluentenkalkül, allerdings in Leibnizscher und nicht in der originalen Newtonschen Symbolik darstellt. Es war ja gerade “ „Cavalieri macht sich nichts aus der schlechten Folgerung, daß es größere und kleinere Unendliche gebe, welche aus der Vorstellung, daß die Unteilbaren das Kontinuierliche ausmachen, von der Schule gezogen werde, und drückt weiterhin (Geom. Lib. VII, Praef.) das bestimmtere Bewußtsein aus, daß er durch seine Beweisart keineswegs zur Vorstellung der Zusammensetzung des Kontinuierlichen aus den Unteilbaren genötigt sei; die Kontinuierlichen folgen nur der Proportion der Unteilbaren. Er habe die Aggregate der Unteilbaren nicht so genommen, wie sie in die Bestimmung der Unendlichkeit um einer unendlichen Menge von Linien oder Ebenen willen zu verfallen scheinen, sondern insofern sie eine bestimmte Beschaffenheit und Natur der Begrenztheit an ihnen haben." a.a.O. S. 318. * Hegel zitiert aus Spehr: „... Diese arithmetischen Untersuchungen begreifen die Regeln der Differentation, die Ableitung des taylorischen Lehrsatzes usw., ja selbst die verschiedenen Integrationsmethoden in sich. Es ist ganz umgekehrt der Fall, jene Anwendungen sind es gerade, welche den Gegenstand der eigentlichen Differentialrechnung ausmachen, und alle jene arithmetischen Entwicklungen und Operationen setzt sie aus der Analysis voraus." — Hegel fährt fort: „... Aber bei der interessanten Einsicht des Herrn Verfassers, daß eben die sogenannten Anwendungen es sind, welche den Gegenstand der eigentlichen Differentialrechnung ausmachen, ist es zu verwundern, wie derselbe sich in die (ebendaselbst angeführte) formelle Metaphysik von kontinuierlidier Größe, Werden, Fließen usf. hat einlassen und solchen Ballast noch mit neuem gar hat vermehren wollen; formell sind diese Bestimmungen, indem sie nur allgemeine Kategorien sind, welche eben das Spezifische der Sache nicht angeben, die aus den konkreten Lehren, den Anwendungen, zu erkennen und zu abstrahieren war." a. a. O. S. 309 f.
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diese Leibnizsche Differentialsymbolik, welche dem Newtonschen Kalkül mangelte, um die formelle Inferiorität gegenüber Leibnizens Methode auszugleichen. Hegel bemerkt mit Recht, daß der Ursprung der Infinitesimalrechnung in den physikalischen Anwendunngen der Analysis des Unendlichen liegt; aus der Physik hatte Newton seine Begriffe der Fluenten, Fluxio und des Fluxus als Zeitparameter begründet. Prinzipiell beschreibt die Mechanik nur die verschiedenen Arten der Änderungen der Fluenten (Differentialgleichungen) und vermittelt so den Zusammenhang zwischen Mathematik und Physik, welche die Naturprozesse in Raum und Zeit beschreibt. Raum und Zeit als Realitäten gesetzt — wie im Sinne des Newtonschen Neuplatonismus — erlaubt deshalb auch, die Fluxion (Änderung der Fluenten) oder Änderung der Fluxion als Kraft usw. ebenfalls als ,Realitäten' aufzufassen und damit die Fluxionsrechnung ,meta-physikalisch' zu begründen. Wenn aber damit das Werden als eine Realität zwischen Sein und Nichtsein postuliert wird, dann wird auch Hegels Schema provoziert; dieses interessiert aber nicht mehr die verschiedenen Arten der werdenden Größen, deren Detail die Physiker ausschließlich interessiert, sondern das Werden als solches. Für Hegel wird nämlich das statische Problem des Kontinuums der Geometrie nur auf das dynamische Problem der kontinuierlichen Änderung verschoben. Hier sieht Hegel richtig, daß das eigentliche Kontinuumproblem der Logik ungelöst bleibt. Und so kritisiert er später Spehr scharf wegen seiner ,formellen' Metaphysik des Fluxusbegriffes. Damit entgeht Hegel das Spezifische der Infinitesimalmethode von Leibniz, der den ,Fluxus Formae' sogleich als einen funktionellen Prozeß umdeutet und so in der Mathematik die spätscholastischen Indivisibilien in Differentiale verwandelt wie in der Metaphysik die aristotalischen Formen in Monaden. Hegel greift ausgerechnet Barrows ,Verunreinigung' der ursprünglichen Indivisibilienmethode in seinem ,triangulum characteristicum' an welches Leibniz zu seiner Intuition des Differentialquotienten inspiriert hat. Hegel weiß, daß die Differentiale als extensive Nullen trotzdem als intensiv werdende Größen eine Relation zueinander haben können und ’’ „Ich erinnere midi, daß Barrow in seinem oben angeführten Werke (Lect. Geom. II, p. 21), indem er die Methode der Unteilbaren gleichfalls gebraucht, — jedoch sie bereits mit der von ihm aus auf seinen Schüler Newton und die sonstigen mathematisdien Zeitgenossen, darunter audi Leibniz, übergegangenen Annahme der Gleichsetzbarkeit eines krummlinigen Dreiecks, wie das sogenannte charakteristische ist, mit einem geradlinigen, insofern beide unendlich d. h. sehr klein seien, versetzt und verunreinigt hat, — einen eben dahingehenden Einwurf Tacquets, eines damaligen in neuen Methoden gleidifalls tätigen, scharfsinnigen Geometers, anführte." a. a. O. S. 320.
Hegels Interpretation Cavalieris
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bespricht ausführlidi Newtons ,ultima ratio incrementorum evanescentium'; aber er lobt umsomehr die Cartesische Tangentenmethode welche das Problem des Quotienten zweier Nullen umgeht, indem man nicht den Grenzwert der Sekantenlage in der Tangente, sondern zwei zusammenfallende Schnittpunkte benutzt; dann muß man nur die Diskriminantenbedingung für den Schnitt von Kreis mit Kurve algebraisch ansetzen. Leider ist Hegel zu wenig Mathematiker, um zu sehen, daß dieses Verfahren des Descartes algebraisch bei höheren Kurven viel zu kompliziert wird. Aber gerade Hegel wäre der letzte, der nicht zugeben würde, daß die heutige Analysis von ,höherer Qualität' ist als die Algebra. Hegel hat noch zu sehr die Lagrangesche Form der algebraischen Analysis vor Augen, um zu sehen, daß gerade Leibniz mehr noch als Newton den analytischen Inhalt des Prinzips von Cavalieri auf die kürzeste und allgemeinste Form gebracht hat. Um anzudeuten, daß die ,Cavalierische Allheit der Geradenindivisibilien' eine höhere Qualität als die bloße Summe von Geradenindivisibilien 2 g; (x) ist, schreibt sie Leibniz in der Form eines ,Integrals': omn g(x) = X g(x). Dann kann man das Fundamentaltheorem der Infinitesimalrechnung, daß nämlich Differentiation und Integration inverse Operatoren sind, sofort finden, wenn man erstens Cavalieris Auffassung dynamisiert und zweitens Leibnizens Differentialquotienten anwendet. Wenn das Produkt des Bewegungsprozesses in der Mechanik der zurückgelegte Weg s(t) ist, so ist dieser erzeugt durch die ,Kontinuation' des An- und Abschwellens des Geschwindigkeitsindivisibels s (t) = / v(t)dt Nun ist aber bei Leibniz die Geschwindigkeit (Fluxio) ein ,wirklicher' Quotient von Weg- und Zeitdifferential, so daß die Relation geschrieben werden kann s (t) = /
~ ^ ds(t)
Die logistische Relation 1 = /d oder: ,Differentiation und Integration sind inverse mathematische Operationen' enthält nun substanziell schon den ganzen Inhalt der Analysis Hegel sieht nicht, daß Leibniz mit der kür® „Dieser Gang ist für den genialen Griff eines edit analytischen Kopfes anzusehen, wogegen die ganz assertorisch angenommene Proportionalität der Subtangente und der Ordinate mit den unendlich klein sein sollenden sogenannten Inkrementen der Abszisse und der Ordinate ganz zurücksteht." a. a. O. S. 296 f. (Das Barrowsche triangulum characteristicum liefert gerade für die Subtangente den Wert ydx:dy). * Vgl. J. O. Fleckenstein, Leibniz's algorithnüc interpretation of Lullus' art, Organon (4), 1967, p. 171—180.
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zesten logistischen Formel den maximalen mathematischen Inhalt ausgedrüdct hat. Hier hätte für einen Hegel das entscheidende Problem seiner Logik liegen können: die Deutung von logischen Operatoren! Man kann ihm freilich keinen Vorwurf daraus machen, daß er übersieht, daß es gerade der gescholtene Barrow war, der schon vor Leibniz und Newton das allgemeine Inversionstheorem der Infinitialmalrechnung — zwar ohne allgemeine Operatorenbezeichnung — besaß. Die Mathematikgeschichte hat diese Details erst um die letzte Jahrhundertwende eruiert. Den Prioritätsstreit Newton-Leibniz zu erwähnen vermeidet Hegel peinlichst; er scheint sich freilich nicht ganz der Verpönung Leibnizens, wie sie ganz allgemein bis Gerhardts Editionen verbreitet war, entziehen zu können. So bewirkt es die ,List der Geschidite', daß der einzige Philosoph, der vor der Mitte des 19. Jahrhunderts Leibniz die Siegespalme bei der Schöpfung des Infinitesimalkalküls zusprach, der quasischolastische Vater des Positivismus Auguste Comte gewesen ist und nicht Hegel, der neoplatonische Spätling der dialektischen Methode; der Jakobiner Comte stand fester in der aristotelischen Tradition der Sorbonne des Aquinaten als der konservative Hegel in der idealistischen Tradition des Tübinger Stiftes. Und also begreift die Leibnizsche Dialektik nicht der dialektische Erbe des Kantischen Kritizismus, sondern der positivistische Spätling der scholastischen Tradition seit Nicolas d'Oresme.
DIETRICH V. ENGELHARDT (HEIDELBERG)
DAS CHEMISCHE SYSTEM DER STOFFE, KRÄFTE UND PROZESSE IN HEGELS NATURPHILOSOPHIE UND DER WISSENSCHAFT SEINER ZEIT
In der Gesdiichte der Hegelforschung ist die Philosophie der Natur unangemessen vernachlässigt worden. Nur etwa fünfzig Studien sind über sie seit 1830 erschienen; vorwiegend widmen sich diese der gesamten Naturphilosophie. Zur Chemie als einem besonderen Bereich der physikalischen Natur liegen nicht mehr als vielleicht fünf Abhandlungen vor. Der akademischen Beschäftigung mit Hegel ist die Naturphilosophie nicht minder belanglos geblieben. An den Universitäten der Bundesrepublik sind von 1945 bis 1970 15 500 Vorlesungen und Seminare gehalten worden. Von diesen beziehen sich nur 12 auf Hegels Philosophie der Natur, ausschließlich auf sie nur 2. Die Geringschätzung befremdet, wenn man bedenkt, daß der zweite Teil des Hegelschen Systems allein von der Philosophie der Natur gebildet wird, und sich ferner daran erinnert, welche Aufmerksamkeit der Philosoph das Leben hindurch der Naturwissenschaft zugewandt hat. Die Behandlung der Naturphilosophie ist Hegel zudem so wichtig gewesen, daß er polemische Ausführungen über die gängige formal-analogisti'sche Naturspekulation seiner Zeit nicht zurückgehalten und sich auch nicht gescheut hat, an ihnen die Freundschaft mit Schelling zerbrechen zu lassen. Die Ablehnung, welche die Naturphilosophie gefunden hat, gründet sich vor allem auf Hegels angebliche Verachtung der Empirie und Vernachlässigung der modernen Forschung. Die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber der Naturphilosophie nach 1830 läßt sich indessen mit diesen Vorwürfen nur unzulänglich erklären, da sie allein von Naturwissenschaftlern in nur spärlichem Umfang, wenn auch erregtem und ausfälligem Ton, und mit nur dürftiger Resonanz erhoben worden sind. Der Grund der Indifferenz liegt vielmehr in der Polarisierung der Wissenschaften der Natur und des Geistes im 19. Jahrhundert, die Hegel vorausgesehen und in deren Aufhebung er einen wesentlichen Sinn des Philosophierens gesehen
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hat. Das Natur und Geist trennende Selbstverständnis der positivistischen Wissenschaften, anscheinend legitimiert durch die eindrucksvollen technischen Leistungen, ist nach der idealistischen Epoche zum Inbegriff der vorherrschenden Natureinstellung geworden; es hat die selbstbezogene und selbstgenügsame Bereitschaft gefestigt, die Welt der Natur dem empirischen Zugriff und Erkennen zu überlassen, und hat auf diese Weise die Naturwissenschaftler von der philosophischen Forderung befreit. Formen und Materien der Natur zu begründen. Das Studium der Naturphilosophie Hegels bietet die Möglichkeit, die Reflexion über das Auseinanderfallen von Natur und Geist wieder beginnen zu lassen. Die Philosophie der Natur läßt sich unter drei Perspektiven untersuchen: 1) nach ihrer Stellung im ganzen System, ihrem Verhältnis zur Logik und Geistphilosophie, 2) hinsichtlich ihrer Inhalte und Strukturen selbst und 3) in ihrer Beziehung zur Empirie. Eine prüfende Auslegung der idealistischen Naturphilosophie wird bei den an der Natur kaum interessierten Philosophen jedoch wenig Achtung und Förderung erfahren, viel eher aber, in der Form einer Gegenüberstellung von empirischer Wissenschaft und Philosophie, das ungebundene Interesse der Historiker der Naturwissenschaft und Medizin wecken können. Ein Beispiel einer solchen Interpretationsmethode wird im folgenden zu geben versucht, und zwar allein hinsichtlich der Chemie. Einer verkürzenden Einstellung zur Natur kann die Begrenzung fragwürdig erscheinen, die in den Bereichen des Geistigen unabdingbar ist; wer würde schon von einer Untersuchung der philosophischen Psychologie zugleich eine Beurteilung der Rechtsphilosophie erwarten. Zunächst werden das wissenschaftliche, darauf das philosophische System der Chemie dargestellt und schließlich wesentliche Momente ihrer Übereinstimmung und Unterschiedenheit zusammen mit einigen allgemeinen Bestimmungen der Naturphilosophie vorgetragen. I System und Empirie zu verbinden, war das allgemeine Ziel der Naturwissenschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der Empirie zu genügen und dabei systematisch zu verfahren, sollte eine neue Phase der Forschung einleiten. Zusätzlich wurde die Mathematik als Vorbild wissenschaftlicher Methode deklariert, die Möglichkeit der Mathematisierung als Ausweis des Szientifischen behauptet (d'Alembert, 1751, Discours Preliminaire; Kästner, 1768, S. 2,5; Erxleben, 1772, Vorrede; Condillac, 1780).
Das chemische System in Hegels Naturphilosophie
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Beide Teile der Naturwissenschaft — Naturlehre und Naturgeschichte — suchten das Empirie- und Systemprinzip zu verwirklichen. In der Naturgeschichte wurde die Beschreibung und Klassifizierung der Erscheinungen der drei Naturreiche gefordert, das heißt die Entwicklung einer natürlichen Ordnung statt eines künstlichen Systems oder auch beliebiger Beschäftigung mit einzelnen Gegenständen; in der Naturlehre wurde die Erklärung der Ursachen und Wirkungen der Phänomene verlangt, die Vereinigung auseinanderliegender Erscheinungen und deren mannigfacher Bedingungen zu einer natürlichen Ordnung. Die Naturlehre wurde unterteilt in Physik und Chemie, die Naturgeschichte in Mineralogie, Botanik und Zoologie. Den grundsätzlichen Forschungskriterien ist indessen durchgängig keineswegs entsprochen worden, weder in der Naturlehre noch in der Naturgeschichte. Diese Unzulänglichkeit traf auch für die Verabsolutierung der Mathematik zu, die ohnehin überzeugende Kritiker fand. Die Chemie, die Wissenschaft der Elemente, Verbindungen, Kräfte und Prozesse, wurde gleichfalls von dem allgemeinen Ziel der Naturwissenschaft geleitet (Erxleben, 1775, Vorrede u. S. 5 f; Lavoisier, 1789, Discours Preliminaire; Berzelius, 1820, S. 19 ff), wie auch sie es nicht vollständig zu erreichen vermochte. Ebenso galt ihr die Mathematik als Signum der Wissenschaftlichkeit. Die Auffassung von den Elementen und Verbindungen wandelte sich im ausgehenden 18. Jahrhundert durch die Kontroverse der antiphlogistischen und phlogistischen Chemie. Um 1800 hatte die Sauerstofftheorie sich durchgesetzt. Sie und die vor allem von den Phlogistikern entwickelte Lehre der Kräfte und Prozesse wurde im 19. Jahrhundert mit der atomistischen und elektrischen Theorie zu einem System der Chemie zusammengestellt. Der Begriff des Elementes erfüllte die Empirieforderung, insofern er gebunden wurde an das Wahrnehmbare. Der absolute Begriff des Elementes wurde auf diese Weise durch einen relativen ersetzt. Element ist nun nicht mehr wie früher einfach und schlechthin untrennbar, sondern eine unzerlegte Substanz, deren zukünftige Dissoziierung nicht ausgeschlossen werden kann. Statt der Bezeichnung; Element wurde deshalb auch der Terminus: unzerlegte Substanz gebräuchlich (Trommsdorff, 1800, S. 22 f). Dieser Bedeutungswechsel wurde gleicherweise von der phlogistischen wie antiphlogistischen Chemie vollzogen (Erxleben, 1775, Vorrede; Elliot, 1784, S. 7; Lavoisier, 1789, Discours Preliminaire u. S. 193 ff). Das vergangene absolute Verständnis des Elementes dauerte allerdings fort in der Gegenüberstellung von einfachen, unzerlegten und zusanunengesetzten Stoffen, wobei jedoch ältere Vorstellungen von etwa vier oder drei Elementen nicht wieder aufgenommen, sondern zu den einfachen Stoffen alle
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die Substanzen gezählt wurden, deren weitere Scheidung für unmöglich gehalten wurde. Obgleich die antiphlogistische Chemie mit dem Prinzip der quantitativen Messung das Phlogiston durch Sauerstoff verdrängt hatte, vertrat sie eine Ansicht des Elementes, die gegenüber dem Gewicht indifferent war, wenn sie Licht, Wärme, Magnetismus und Elektrizität unter die Elemente auf nahm. Allmählich setzte sich erst nach der Jahrhundertwende die Auffassung durch, Chemie sei die Wissenschaft wägbarer Stoffe; damit fielen die sogenannten imponderablen Substanzen aus der Klasse der Elemente heraus. Das Schwanken des Elementbegriffes, die Entdeckung neuer Elemente und Verbindungen, die bis dahin als Grundstoffe gegolten hatten, bedingten eine gleichbleibende Anzahl von etwa fünfzig Elementen. Dem Begriff des Elementes korrespondierte der Begriff der Verbindung. Unter ihr wurde die Vereinigung zweier oder mehrerer Grundstoffe verstanden. Als Verbindung galt, was in einfache Substanzen aufgelöst und aus diesen wieder zusammengesetzt werden kann. Wenngleich es erst im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts gelang, organische Substanzen zu synthetisieren (Wöhler, 1828), wurde zuvor schon ihr Verbindungszustand versichert. Nicht immer, besonders im 18. Jahrhundert nicht, wurden physikalische Mischungen und chemische Verbindungen deutlich auseinandergehalten. Die Ungenauigkeit des Verbindungsbegriffes wurde zusätzlich verursacht durch die Unentschiedenheit über die elementarische Natur der unwägbaren Stoffe Licht, Wärme, Magnetismus und Elektrizität. Die Menge der möglichen Verbindungen wurde um 1790 auf arithmetische Weise auf ungefähr 1200 festgelegt; das war jedoch eine hypothetische, empirisch nicht belegbare Zahl, da ihre Realität bei weitem noch nicht wissenschaftlich nachgewiesen war (Lavoisier, 1789, S. 182). Die Chemie wurde jedoch nicht angesehen als eine ausschließlich geometrische und statische Wissenschaft der Elemente und ihrer Verbindungen; sie war vielmehr vor allem eine Lehre von Kräften und Prozessen. Grundsätzlich wurden die chemischen Prozesse in synthetische und analytische (auch diathetische) gesondert, jene von Grundstoffen zu Vereinigungen führend, diese aus Vereinigungen Grundstoffe herstellend. Die Theorie der Kräfte, welche den chemischen Veränderungen zugrundeliegen, wurde auch Verwandtschaftslehre, Lehre der Attraktionen oder Affinitäten genannt. Gemeinhin wurden eine Verbindungsverwandtschaft und eine einfache und doppelte Wahlverwandtschaft unterschieden; die erstere bezeichnete das Streben heterogener oder differenter Substanzen, sich zu einem homogenen oder indifferenten Stoff zu verbinden, die letztere die Neigung homogener Substanzen, getrennt zu werden oder ihre Bestand-
Das cKemische System in Hegels Naturphilosophie
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teile auszutauschen. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wurde diese Lehre entscheidend von den Phlogistikern vervollständigt, während die Antiphlogistiker zunächst dieses Gebiet vernachlässigten (Lavoisier, 1789, Discours Preliminaire). Nach der Affinitätstheorie sollte es nicht nur möglich sein, anzugeben, in welchen Proportionen sich Elemente und Zusammensetzungen verbinden, sondern auch, welche unterschiedlichen Affinitätsgrade unter den Substanzen bestehen. Mit der Erforschung der Präferenzen hatte die chemische Kräftetheorie schon kurz nach 1700 ihren Anfang genommen (Geoffroy, 1718), wurde aber erst im letzten Drittel auf die ganze Chemie ausgedehnt und unter mathematische Kategorien zu bringen getrachtet (Bergman, 1775; de Morveau u. a., 1777; Wenzel, 1777; Richter, 1789, 1792—94). Erst die Verwirklichung des Mathematikprinzips hob die Chemie, wie allenthalben betont wurde, aus dem Zustand einer Kunst in den Rang einer Wissenschaft (de Morveau u.a., 1780, Bd. 2, Vorrede; Richter, 1792, Bd. 1, S. 1 f). Diese Wandlung erschien desto gerechtfertigter, je mehr es dann auch gelang, die Proportionen der Stoffe in den Verbindungen als konstant und, wenn veränderlich, als multipel nachzuweisen, das heißt in einfachen Verhältnissen zueinanderstehend. Die Kräftelehre wurde vor ihrer endgültigen Annahme zunächst zwar in Frage gestellt durch Beobachtung und Erforschung von Faktoren wie zum Beispiel Wärme, Aggregatzustand und Masse, welche die konstanten und multiplen Proportionen beeinflussen, letztlich aber doch durch diese Erkenntnisse verfeinert und erweitert (Berthollet, 1803). Als weitaus problematischer erwies sich aber die Verbindung der Attraktionslehre mit der elektrochemischen (Volta, 1792, 1800; Davy, 1807, 1812; Berzelius, 1803, 1819) und atomistischen Theorie (Higgins, 1789, 1814; Dalton, 1808/10). Nach der elektrochemischen Ansicht, auch Galvanismus genannt, sollten die Substanzen elektropositiv und elektronegativ geladene Stoffe und die Prozesse Vereinigung und Trennung der beiden Elektrizitätsarten sein. Diese Interpretation reduzierte die Attraktionslehre auf die zwei elektrischen Pole und ließ darüberhinaus auch die Geltung der Atomtheorie als fragwürdig erscheinen; denn mit der sich durchsetzenden Tendenz, Elektrizität — wie auch Wärme, Licht und Magnetismus — nicht als Substanz, sondern als Kraft oder Erscheinung von Kräften zu verstehen, mußte eine dynamische Betrachtung der Natur wieder wahrscheinlicher werden. Die empirisch nicht zu lösende Auseinandersetzung wurde dann allerdings zugunsten des Atomismus entsdiieden. Der damit verbundene dogmatische und zunächst noch zweideutige Charakter des chemischen Systems wurde von den Wissenschaftlern wohl bemerkt, wie überhaupt in diesem Zusammenhang allgemein zugegeben werden mußte, daß Wissenschaft und ihr Fortschritt
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ohne Hypothesen und Spekulation undenkbar seien (Gmelin, 1817, Bd. 1, S. 54 ff; Berzelius, 1820, S. 19 ff).
Elemente, Verbindungen, Kräfte und Prozesse waren die konstitutiven Momente der Chemie zwischen 1780 und 1830. Ein geschlossenes System aus diesen Momenten wurde jedoch von den Wissenschaftlern jener Jahrzehnte nicht hervorgebracht. Ein System der Chemie hätte sich grundsätzlich nach zwei Prinzipien und ihrer Kombination aufbauen lassen: einmal nach dem Prinzip der Stoffe, und zwar entweder in der Form einer mathematisierten Klassifikation der Elemente und ihrer Verbindungen einfacher und höherer Ordnung oder in der Form einer naturgeschichtlichen Einteilung, zum andern nach dem Prinzip der Kräfte und Prozesse. Keine der beiden Möglichkeiten noch ihre Integration in eine umfassende Einheit wurden verwirklicht. Das chemische System blieb in den mannigfaltigen Darstellungen uneinheitlich sowohl wegen der regellosen Verknüpfung der beiden grundsätzlichen Möglichkeiten als auch der Hervorhebung einzelner Substanzen oder Kräfte, wie zum Beispiel des Sauerstoffes und der Elektrizität. Die antiphlogistische Chemie hatte zwar, ausgegangen von wissenschaftslogischen Voraussetzungen (Condillac, 1780), eine analytische Methode für die chemische Sprache (de Morveau u. a., 1787) und das System der Elemente und Verbindungen verschiedener Stufen entwickelt, gelangte dann aber doch durch Betonung des Sauerstoffes und Orientierung an den drei Naturreichen zu einer willkürlichen Einteilung (Lavoisier, 1789). Kräftelehre und Prozeßtheorie blieben außerdem im antiphlogistischen System im ganzen ausgespart, wurden nur im einzelnen hier und da erwähnt. Dieser Zustand änderte sich in den folgenden Jahrzehnten nicht. Um 1800 etwa begann ein System mit der begrifflichen Erklärung der Elemente, Verbindungen, Kräfte und Prozesse, schritt fort zu der Erörterung von Feuer, Wasser und Luft, ging dann über zu Säuren, Alkalien, Erden und Metallen und endete mit der Betrachtung der mineralischen, vegetabilischen und animalischen Substanzen (Trommsdorff, 1800—04). Eine gewisse Durchgängigkeit erreichte eine Gliederung der Chemie um 1815, indem mcui nach den gewichtslosen Stoffen die ponderablen Elemente darlegte, diese in Nichtmetalle und Metalle schied und der Beschreibung der einzelnen Metalle jeweils die ihrer Verbindungen zufügte. Unabhängig jedoch von den Elementen und Verbindungen wurde die Theorie der Kräfte, und Prozesse vorgetragen (Gmelin, 1817). Um 1830 standen am Beginn eines Systems die nichtmetallischen Grundstoffe und ihre Zusanunensetzungen; es folgten Luft und Wasser und die Lehre der Attraktionen; ihnen schlossen sich an die Säuren, Basen und Metalle (Mitscherlich, 1829/30). Die chemischen Systeme kennzeichnete
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insgesamt, daß die Theorie der Kräfte und Prozesse keinen Einfluß auf die Gliederung der Stoffe hatte. Sie wurde zufällig bald am Anfang, bald am Ende oder auch an irgend einer Stelle innerhalb der Elemente und ihrer Verbindungen behandelt, zum Teil sogar überhaupt nicht oder nur partiell. Stoff, Kraft und Prozeß fielen auseinander. Darüberhinaus wurden und konnten auch nicht Kräftelehre, Atomtheorie und Elektrochemismus in Übereinstimmung gebracht werden. Weder für sich noch in ihrer Verbindung wurde aus den grundsätzlichen Möglichkeiten eine konsistente Ordnung der chemischen Stoffe und Prozesse entwickelt. Die im 18. Jahrhundert aufgestellten allgemeinen Wissenschaftsforderungen waren nicht erfüllt worden.
II Hegels Philosophie der Chemie ist ein einheitliches System der chemischen Empirie; Stoff, Kraft und Prozeß werden zu einer realen und begrifflichen Einheit verbunden. Ohne im einzelnen die logischen Kategorien heranzuziehen, die für die Betrachtung der Chemie entscheidend sind, und ohne allzusehr die physikalischen Phänomene und ihre philosophische Interpretation zu berücksichtigen, welche ihr vorangehen und ihre Grundlage ausmachen, läßt sich der allgemeine Begriff der Chemie in der folgenden Weise wiedergeben und erläutern: Chemie ist Indifferenzierung differenter und Differenzierung indifferenter Stoffe. Der erste Prozeß meint die Vereinigung entgegengesetzter Substanzen zu neutralen Produkten, der zweite deren Trennung zu wieder entgegengesetzten Substanzen. Ein dritter Prozeß ist ihre Vereinigung; er ist der neutrale Prozeß, die Hervorbringung neutraler Stoffe durch Auflösung anderer neutraler Stoffe; weder beginnt er bei entgegengesetzten, noch führt er zu entgegengesetzten Substanzen; er läßt sich bezeichnen als Indifferenzierung indifferenter Stoffe und wird von Hegel der ,totale Prozeß' genaimt. Den Veränderungen werden die chemischen Substanzen aber nicht äußerlich, mechanisch unterworfen — das würde nur zu Mischungen, Aggregationen, Amalgamationen führen; für Hegel ist das: der formale Prozeß ..., der eine Verbindung bloß Verschiedener, nicht Entgegengesetzter ist (§ 327, S. 392).
Die Veränderungen sind vielmehr Ausdruck der den Stoffen inhärierenden Kräfte, ihres Bestrebens, sich zu vereinen und zu scheiden. Säuren und Laugen sind realiter an sich selbst die Kraft der Neutralisierung. Die
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Attraktionskräfte sind den einzelnen Substanzen zugehörig, diese sind nach den Prinzipien der Attraktionslehre zu charakterisieren: jeder einzelne Stoff ist eine spezifische Verbindung von körperlich-individueller Erscheinung und äquivalenter Kraft. Da jeder Stoff sowohl Erscheinung als auch Kraft ist und die Kraft gerade nicht mit der Erscheinung übereinstimmt, vielmehr auf ihre Veränderung gerichtet ist, läßt sich in der Chemie von einem Auseinanderfallen von Begriff — dem Kraftziel des Stoffes — und der Wirklichkeit — dem Erscheinungszustand des Stoffes — sprechen. Der Prozeß hebt dieses Auseinanderfallen auf. Die Kräfte sind die Tendenz der heterogenen Substanzen, sich zu homogenisieren, der neutralen, sich wieder in heterogene Substanzen zu trennen oder bloß ihre Komponenten zu vertauschen. Verbindungsverwandtschaft, einfache und doppelte Wahlverwandtschaft sind in der gebräuchlichen Terminologie, welche auch Hegel verwendet, die Bedingungen der drei Prozesse. Eine solche Philosophie kann das übliche Verständnis von Element und Verbindung nicht teilen, das ihr indessen wohl bekannt ist. In der philosophischen Chemie ist Element einfach, da Ausgangsstoff des synthetischen Prozesses. Auf der anderen Seite ist Element durch seine differente Natur, nämlich Stoff und Kraft in einem zu sein, auch Verbindung, während Verbindung durch ihre indifferente Eigenschaft, ihre Neutralität, das heißt Negation des Gegensatzes von Stoff und Kraft, auch elementar ist. Die komplexe Definition von Element und Verbindung ist unvereinbar mit einer rein atomistischen Interpretation. Über Atomismus und Dynamismus wird nach Hegel aber nicht innerhalb der Chemie, sondern bereits in der Ableitung der Materie entschieden. Die Klasse der einfachen Ausgangsstoffe der Synthese, die heterogen sind wegen der auf Neutralität gerichteten Affinität, ist also in doppelter Hinsicht zu bestimmen: als heterogene Stoffe sind sie mit dem Streben nach Homogenisierung real different, da ihr Streben aber auf diese Homogenisierung gerichtet ist, sie vorwegnimmt, sind sie zugleich begrifflich indifferent. Die Aufhebung dieses Widerspruches zwischen Begriff und Wirklichkeit ist der synthetische Prozeß. Umgekehrt ist die Klasse der Stoffe des analytischen Prozesses real indifferent und begrifflich different, da sie zwar neutral sind, aber aus entgegengesetzten Stoffen bestehen, zu denen die Scheidung wieder führt. Die Klasse der neutralen Stoffe, die Bildung neutraler Verbindungen aus neutralen Verbindungen, der Vorgang der Auswechslung allein der Grundlagen von Zusammensetzungen, verbleibt in der Ebene der Neutralität oder Indifferenz. Die real differenten Stoffe, die Ausgangsstoffe des synthetischen Prozesses, sind: Metalle, Metallhydrate und Metalloxide, nichtmetallische und brennbare Stoffe wie
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Schwefel, Phosphor und schließlich Säuren und Laugen; die real indifferenten Stoffe, die Ausgangsstoffe des analytischen Prozesses, sind: Salze. Die Untergliederung der synthetischen und analytischen Prozesse in nuehrere Subprozesse begründet eine detailliertere Gruppierung der einfachen und verbundenen Stoffe. Im einzelnen alle Substanzen anzuführen und zu beschreiben, ist nach Hegel nicht Aufgabe der Philosophie. Sie hat die Mannigfaltigkeit begrifflich zu strukturieren, nicht aber von ihr ein Handbuch anzufertigen. Die Einteilung der chemischen Stoffe ist philosophisch, muß indessen durch Erfahrung belegt sein: die Stoffe manifestieren in der Realität die Erscheinungs-, Kraft- und Prozeßnatur, die ihre Stellung im System begründet. Die zahlreichen empirischen Ergebnisse können nicht angeführt und beurteilt werden, die Hegel für die Qualifizierung der Substanzen, Vertreter der differenten oder indifferenten Klassen zu sein, aus der Literatur auswählt. Der Philosoph, mit der Wissenschaft seiner Gegenwart jenseits der Alternative von antiphlogistischer und phlogistischer Chemie, nimmt natürliche Wahrnehmungen und experimentelle Beobachtungen aus der internationalen Forschung auf, vergleicht sie miteinander, bemerkt Widersprüche und Unstimmigkeiten, entdeckt vor allem den hypothetischen Charakter vieler empirischer Aussagen und das Metaphysische der Naturwissenschaft. Vorzüglich in der Lehre der Kräfte und Prozesse, der konstanten und multiplen Proportionen und auch der Äquivalenztafeln erweist sich Hegel auffallend kenntnisreich. Geschichte und modernster Stand sind ihm gleicherweise vertraut. Konsistent ist das philosophische System der Chemie nicht allein, weil Stoff, Kraft und Prozeß in eine immanente Ordnung gebracht werden, die überdies an der Empirie sich bewahrheitet, sondern auch, weil ein begrifflich-konkreter Zusammenhang der Chemie mit der Physik und Organik begründet und die spezifische Eigenständigkeit der verschiedenen Naturbereiche abgeleitet wird. Reduktion und Produktion neutraler Verbindungen gehen nicht ohne äußerliche Vermittlung ineinander über. Der neutrale Prozeß der doppelten Wahlverwandtschaft ist zwar Scheidung und Verbindung zugleich, verläuft aber nicht in der realen Differenz von Wirklichkeit und Begriff, die für Synthese und Analyse kennzeichnend ist: in der Chemie besteht kein unmittelbar zusammenhängender Kreislauf synthetischer und analytischer Veränderungen. Die Einheit der beiden Prozesse ist in ihr nur eine gedanklidie Vorstellung ohne korrespondierende Realität. So wie Begriff und Wirklichkeit für die sich verbindenden und trennenden Stoffe auseinanderfallen, stimmt audi der Begriff der gedanklichen Einheit von synthetischen und analytischen Prozessen nicht mit der
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diemischen Wirklichkeit überein. Jene beiden ersten Inkongruenzen der einfachen und verbundenen Stoffe heben die chemisdien Prozesse auf, die Auflösung der zweiten Inkongruenz leistet ein neuer Prozeß, der Prozeß des Organischen. Das existierende Verbinden zerlegender und vereinender Akte ist Kennzeidien der lebendigen Individualität. In Hegels Worten: Diese in Einem, aus der Besonderung der unterschiedenen Körperlichkeiten sich hervorbringende concrete Einheit mit sich, welche die Thätigkeit ist, diese ihre einseitige Form der Beziehung auf sich zu negiren, sich in die Momente des Begriffs zu dirimiren und zu besondern, und diese ebenso in jene Einheit zurückzuführen, — so der unendliche sich selbst anfachende und unterhaltende Prozeß, — ist der Organismus (§ 336, S. 445).
Entscheidender als das deduzierte Entstehen des Lebendigen aus der Chemie ist jedoch die real-ideelle Genese der Chemie aus vorangegangenen Phänomenen der Physik. Der Begriff der chemischen Wirklicheit ergibt sich immanent aus den Prozessen des Magnetismus und der Elektrizität; der Begriff der Chemie ist die vorgestellte Vereinigung zweier Aspekte des Magnetismus und der Elektrizität, nämlich der begrifflichen Indifferenz eines polaren Körpers — das heißt Magnetismus — und der realen Indifferenz zweier polarer Körper — das heißt Elektrizität: Im Magnetismus tritt der Unterschied an Einem Körper hervor. In der Elektrizität gehört jede Differenz einem eigenen Körper an; jede Differenz ist selbständig, und nicht die ganze Gestalt geht in diesen Prozeß ein. Der chemische Prozeß ist die Totalität des Lebens der unorganischen Individualität; denn wir haben hier ganze, physicalisch bestimmte Gestalten . . . Die beiden Seiten, worin sich die Form dirimirt, sind also ganze Körper, wie Metalle, Säuren, Alkalien; ihre Wahrheit ist, daß sie in Beziehung treten (§ 326, Zus., S. 387 f).
So wie Organik einen Begriff realisiert, der sich aus der Chemie ergibt, verwirklicht die Chemie einen Begriff, der in Magnetismus und Elektrizität entsteht. Darüberhinaus ist eine Klasse physikalischer Elemente konstitutiv für die chemischen Stoffe und ihre Verwandlungen; diese Elemente sind: Luft, Feuer, Wasser und Erde oder, wie man auch sagen könnte, Luftigkeit, Feurigkeit, Wässrigkeit, Erdigkeit. Die physikalischen Elemente unterscheiden sich von den chemischen grundsätzlich dadurch, daß sie gestaltlose allgemeine Materien sind und keine chemischen Affinitäten zueinander zeigen, sich selber realiter indifferent sind. In der Wirklichkeit finden sich Erde, Wasser, Feuer und Luft, ohne daß es zu einem chemischen Prozeß mit neutralen Produkten kommt, wenngleich auch sie miteinander in sich verändernden Beziehungen stehen; diese sind aber allein physikalisch, wie zum Beispiel meteorologische Vorgänge. Die Prozesse
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der chemischen Stoffe verlaufen nun im Medium der physikalischen Elemente. Die Salze etwa tauschen ihre Bestandteile aus im - Medium des Wassers. In den chemischen Aktionen werden auch die physikalischen Elemente zerlegt zu einer weiteren Klasse von Stoffen, die abstrakt chemische genannt werden; abstrakt, da sie Zersetzungsprodukte der physikalischen Elemente sind. Sie sind: Sauerstoff, Wasserstoff, Stickstoff und Kohlenstoff. Sie vereinen sich mit den chemischen Substanzen und vermehren die Formen der möglichen Verbindungen. Aus der immanenten Vereinigung von Stoff, Kraft und Prozeß und der Unterscheidung ihres physikalischen und chemischen Modus resultiert nun das vollständige philosophische System der chemischen Substanzen, das sich beträchtlich von dem wissenschaftlichen abhebt. Hegel äußert sich dazu in der folgenden Weise; In der empirischen Chemie ist es hauptsächlich um die Particularität der Stoffe und Producte zu thun, welche nach oberflächlichen abstracten Bestimmungen zusammengestellt werden, so daß damit in ihre Particularität keine Ordnung kommt. In jener Zusammenstellung erscheinen Metalle, Sauerstoff, Wasserstoff u. s. f., (ehemals Erden, nun) Metalloide, Schwefel, Phosphor als einfache chemische Körper neben einander auf gleicher Linie. Sogleich muß die so große physicalische Verschiedenheit dieser Körper gegen solches Coordiniren Abneigung erwecken; ebenso verschieden aber zeigt sich auch ihr chemischer Ursprung, der Proceß, aus dem sie hervorgehen. Allein gleich chaotisch werden abstractere und reellere Processe auf gleiche Stufe gesetzt. Wenn hierein wissenschaftliche Form kommen soll, so ist jedes Product nach der Stufe des concreten, vollständig entwickelten Processes zu bestimmen, aus dem es wesentlich hervorgeht, und die ihm seine eigenthümliche Bedeutung giebt; und hierfür ist ebenso wesentlich, die Stufen der Abstraction oder Realität des Processes zu unterscheiden . .. Ein Weiteres ist die empirische, ganz specielle Particularität nach dem Verhalten der Körper zu allen andern besondern Körpern; für diese Kenntniß muß jeder dieselbe Litanei des Verhaltens zu allen Agentien durchlaufen (§ 334, S. 437 f).
Obgleich die physikalischen Elemente an den chemischen Vorgängen teilnehmen und sie mitbedingen, sind sie nicht eigentlich chemische Substanzen; die Methoden der Physik sind auch auf andere Bereiche der Natur zu übertragen, verlieren in ihnen jedoch nicht ihre eigene Bedeutung. Die Ablehnung, die Naturgebiete und ihre Kategorien zu vermengen — ein Identifizieren, das nach Hegel viel eher den Vorwurf verdient, welchen die Identitätsphilosophie sich zugezogen hat —, verbietet auch, die imponderablen Stoffe wie Licht, Wärme, Magnetismus und Elektrizität zur Chemie zu rechnen, über deren physikalischen Charakter die Wissenschaft nur zögernd einig wurde. Elektrizität — wie ebenfalls Magnetismus — hat zwar teil an der Chemie und vor allem den Metallsynthesen, für die Hegel auch den Ausdruck Galvanismus übernimmt, die Kategorie der Polarität vermag Hl
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aber die qualitativen Eigenschaften der Stoffe, ihrer Kräfte und Prozesse keineswegs ausreichend zu erklären: Man werfe doch der Philosophie nicht mehr ,ihr Abstrahiren von dem Besondem und ihre leeren Allgemeinheiten' vor! wenn über positiver und negativer Elektricität alle jene Eigenschaften der Körperlichkeit vergessen werden dürfen. Eine vormalige Manier der Naturphilosophie, welche das System und den Proceß der animalischen Reproduction zum Magnetismus, das Gefäßsystem zur Elektricität potenzirt oder vielmehr verflüchtigt und verdünnt hat, hat nicht oberflächlicher schematisirt, als jene Reduction des concreten körperlichen Gegensatzes beschaffen ist. Mit Recht ist in jenem Falle solches Verfahren, das Concrete ins Kurze zu ziehen und das Eigenthümliche zu übergehen und in der Abstraction wegzulassen, verworfen worden. Warum nicht auch im vorliegenden? (§ 330, S. 411).
Es ist nach Hegel auch nicht legitim, Mathematisierbarkeit und Wissenschaftsstatus gleichzusetzen. Die Bedingungen der Wissenschaftlichkeit liegen in der inneren Verbindung begrifflicher Kategorien mit den Phänomenen, mit allein quantitativen kann das aber nicht gelingen, da die Relation von Quantität und Qualität in der Natur, abgesehen von einzelnen Bereichen, ein unbestimmtes Maß hat. Eine arithmetische Klassifikation der chemischen Stoffe ist unzulänglich, die auf dem üblichen wissenschaftlichen Begriff von Element und Verbindung aufbaut. Grundsätzlich wird die Anwendung der Mathematik jedoch nicht verworfen. Die Mengen der Bestandteile quantitativ zu erfassen, ist ein gerechtfertigtes und überaus bedeutsames Vorhaben, sowohl in der Perspektive der konstanten wie multiplen und äquivalenten Proportionen. Hegel wendet sich nicht allein gegen die verabsolutierende Übertragung mathematisch-physikalischer Methoden auf die Chemie — ebenso sehr ist es nach ihm unmöglich, das Organische nur chemisch zu erklären; gleichwohl vermag Belebtes der chemischen Analyse unterzogen zu werden.
III System und Empirie zu verbinden, war nicht allein das allgemeine Ziel der Wissenschaft, auch die Philosophie unterstellte sich der Forderung nach einer natürlichen Ordnung. Ein der Natur angemessenes begriffliches Aufnehmen und Erklären ist nach Hegel allerdings nur einer Wissenschaft möglich, die nicht abstreifet, auf metaphysischen Bedingungen zu beruhen, die nicht beansprucht, voraussetzungslos zu sein, sondern ihrer Metaphysik bewußt ist, sie an der Empirie überprüft und die Erfahrung an ihr orientiert. Die Naturunangemessenheit und Inkonsistenz des chemischen Sy-
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Sterns folgen aus der mangelnden metaphysischen Reflexion, aus der Vermischung unerkannter spekulativer Voraussetzungen mit Hypothesen und empirischen Theorien, aus der isolierten, die Natureinheit zerstörenden Behandlung der chemischen Phänomene, aus der Mißachtung der spezifischen Methodik der einzelnen Naturbereiche und besonders aus der inneren UnVerbundenheit der chemischen Stoffe, Kräfte und Prozesse. Einige andere naturwissenschaftliche Versuche, Übereinstimmung und Gesetz in der zerstreuten und zufälligen sinnlichen Welt zu verfolgen, finden jedoch auch Hegels Zustimmung: die Gliederung der Pflanzen nach dem Prinzip der Mono- und Dikotyledonen, der Metamorphosegedanke der Pflanze, die Trennung der Tiere in solche mit oder ohne Rückenwirbel und noch spezieller nach Zähnen und Klauen sind der Natur gemäß, sind nicht künstlich; denn Zähne und Klauen sind die Instrumente, mit denen sich das Tier selber von der Umgebung absetzt, und auch die Pflanzen bieten sich im Beginn dar als das Entfalten eines oder zweier Keimblätter; das Blatt ist die Grundform der pflanzlichen Gestalt und der Wirbel der Urtyp des tierischen Knochensystems. Dennodi sind auch diese Versuche für Hegel unzulänglich; sie übersehen die Einseitigkeit ihrer Kategorie, erfassen deren begrifflichen Charakter nicht, zerreißen die Einheit der Natur. Wenn für die Bildung einer natürlichen Ordnung die Wissenschaft auf Philosophie angewiesen ist, so gleichfalls die Philosophie auf Wissenschaft. Die begrifflichen Kategorien werden aus Beschreibung und Beobachtung gewonnen, die spekulativen Operationen zu einer formal-materialen Ableitung der Natur haben sich an der Erfahrung zu bewahrheiten. Der Begriff der Chemie ist Resultat der Wirklichkeit des Magnetismus und der Elektrizität — die chemische Wirklichkeit läßt einen Begriff entstehen, dessen Wirklichkeit das Organische ist. Der Begriff der Chemie und die Genese eines neuen Begriffes müssen in der Empirie belegt werden können. Philosophie ist aber nicht Forschung, sie muß sie voraussetzen, sich von ihr belehren lassen: nicht nur muß die Philosophie mit der Natur-Erfahrung übereinstimmend seyn, sondern die Entstehung und Bildung der philosophischen Wissenschaft hat die empirische Physik zur Voraussetzung und Bedingung (§ 246, S. 37).
Hegel bezieht sich auf etwa 100 Naturwissenschaftler; ein Drittel von ihnen sind Chemiker. Die aufgenommenen Wahrnehmungen und Erkenntnisse in den indirekten und direkten Zitaten, die zum Teil infolge unterlassener Kennzeichnung Hegeltext zu sein scheinen, sind Zeugnis für die vollkommene Vertrautheit mit den Grundzügen, abweichenden Theorien und wesentlichen Tatsachen der zeitgenössischen Chemie, ja selbst ihrer Historie.
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Der Vorwurf, die Empirie zu verachten und zu vernachlässigen, war für die Wissenschaft vorherrschender Anlaß, Hegels Naturphilosophie herabzusetzen; dieser Vorwurf ist unvertretbar. Drei weitere Beschuldigungen; Geringschätzung der Mathematik, Mißbilligung des Experiments und Ablehnung der Technik können gleichfalls ein selbst nachlässiges Studium der Naturphilosophie nicht überstehen. Der Nutzen der Mathematik wird hervorgehoben, die Notwendigkeit ihrer Anwendung in den Disziplinen der Physik, Chemie, Mineralogie, Botanik und Zoologie dargetan — zugleich aber auch die Eigenständigkeit dieser Bereiche unterstrichen. Das Experiment wird als Verfahren anerkannt — darüberhinaus aber verlangt, die Implikationen künstlicher Wahrnehmung nicht zu übersehen. Das technische Verhältnis zur Natur wird gutgeheißen, sogar gerechtfertigt als integrantes Moment der philosophischen Beziehung zur Natur — wird indessen als einzige Richtschnur der Forschung abgelehnt. Philosophie in den Widerspruch zur empirischen Wissenschaft zu bringen, gehört nach Hegel zu den ,üblen Vorurtheilen' und ,gewaltsamen Halbierungen'. Die Darstellung der Naturphilosophie Hegels als der Empirie verschlossen muß auf gegeben werden; eine prüfende Auslegung wird fortfahren, die Bedingungen der Übereinstimmung und Unterschiedenheit von Wissenschaft und Philosophie der Natur zu untersuchen. Philosophie und Wissenschaft miteinander zu konfrontieren, erleichtert das Eindringen in die Naturspekulation, einer ,ohnehin abstrusen Materie', wie Hegel gesteht, fördert zudem die Klärung anderer dunkler Hegelpassagen — wie etwa der Kapitel ,Kraft und Verstand' und ,Beobachtungen des Organischen' in der Phänomenologie des Geistes oder ,Maß' und ,Objektivität' in der Logik. Philosophie und Wissenschaft als entgegengesetzte aufeinander zu beziehen, läßt Anspruch und Sinn einer Philosophie der Natur begreifen, ihre Vergänglichkeit und Gegenwärtigkeit erkennen.
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KARIN FIGALA (MÜNCHEN)
DER ALCHEMISCHE BEGRIFF DES CAPUT MORTUUM IN DER SYMBOLISCHEN TERMINOLOGIE HEGELS
In der ,PhänomenoIogie des Geistes' deutet am Ende Hegel die säkulare Weltgeschidite feierlich als Thron der Schädelstätte des absoluten Geistes Hegels neuplatonische Mystik ist bekannt; seine christologischen Chiffren in Worten, wie: ,Im Wesen Gottes liegt es zu sterben' oder gar vom ,sich verzehrenden Gott' vorchristlicher Mythologie weisen auf archaische Denkformen hin, deren archetypischen Charakter in der Vorstellungswelt der Alchemisten aufgedeckt zu haben, C. G. Jungs unvergängliches Verdienst bleiben wird. Der junge Hegel schwelgt geradezu in Assoziationen des Laboratoriums eines Alchemisten®: Im Folgenden soll im Allgemeinen nach der Jubiläumsausgabe von Glöckner zitiert werden: Georg Wilhelm Friedrich Hegels sämtliche Werke in 20 Bänden, Stuttgart 1927—1940. Im Glocknerschen Begriffslexikon fehlt unverständlicherweise der Terminus „Caput mortuum"; Lassen dagegen hat ihn im Sachregister seiner Hegelausgabe aufgeführt. ‘ ,Das Ziel, das absolute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reiches vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins, ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beide zusammen, die begriffene Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewißheit seines Throns, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur — aus dem Kelche dieses Geisterreiches schäumt ihm seine Unendlichkeit'. (Glöckner, Bd. 2, S. 620) Schon in der ,Phänomenologie' fällt explizit der Terminus ,Caput Mortuum' und zwar beim — im übrigen auffallend umfangreichen — Kapitel ,Physiognomik und Schädellehre': ,Zunächst hat sich hier nur dies bestimmt, daß wie das Gehirn, der lebendige Kopf, der Schädel das caput mortuum ist'. (Glöckner Bd. 2, S. 255). So kritisiert Hegel in der Aesthetik (Bd. II) sehr scharf auch die damals aktuelle Gallsche Theorie: ,Freilich darf dabei nicht in der Weise Galls verfahren werden, der den Geist zu einer bloßen Schädelstätte macht'. (Glöckner, Bd. 13, S. 373). * K. Rosenkranz, Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben, Berlin 1844, S. 537 ff. = J. Hoffmeister, Dokumente zu Hegels Entwicklimg, 1936, S. 364 ff. Das theologische Milieu des Tübinger Stiftes ist bekannt. Nietzsche spottet „. .. unter
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,Die verzehrte Natur steigt in neuer idealer Gestalt als ein Schattenreich hervor, das jenes erste Leben verloren hat, die Erscheinung ihres Geistes Deutschen versteht man sofort, wenn ich sage, daß die Philosophie durch Theologie verderbt ist, man braudit nur das Wort Tübinger Stift auszusprechen." Diese Äußerung muß jedodi insofern präzisiert werden, daß das Spezifikum dieser Theologie in der „sdiwäbisdien Theosophie" liegt. Sie ist (vgl. E. Benz, Schellings theologisdie Geistesahnen in: Akademie der Wissenschaften (Geistesw. Klasse), Mainz, Jahrg. 1955 (Nr. 3), S. 231—306) von besonderem Einfluß auf die romantische Naturphilosophie Schellings aber aud\ lüdit ohne Wirktmg auf Hegel gewesen (vgl. Robert Schneider, Schellings und Hegels schwäbisdie Geistesahnen, Würzburg, 1938). Es ist anzunehmen — wie in einem Diskussionsvotum anläßlidi dieses Vortrages am 13. Juli 1970 bemerkt wurde — daß des württembergischen Prälaten Oetingers „Chemisdie Theologie" diese Theosophie maßgeblidi beeinflußt hat. Benz geht sogar so weit, zu formulieren: „... Oetinger und Sdielling ersdieinen durch ein geheimnisvolles System von Verheißung und Erfüllung aufeinander bezogen." Benz wagt diese Aussage, obwohl Sdielling — und erst redit Hegel — Oetinger nie zitieren. Im übrigen war dieser Einfluß Oetingers schon lange bekannt. Die Forschungen von Benz und Sdiröder fußen wesentlidi auf dem Werke: C. A. Auberlen, Die Theosophie F. C. Oetingers (2. Ausgabe), Basel, 1859. Denn schon hier findet sich (Anm. S. 141) der Passus „... und wenn Sdielling hierbei eine „Vereinigung von Rationalismus und Empirismus" in Aussidit stellt, so haben wir in demselben Sinne Oetinger sagen hören, daß „Idealismus und Materialismus" zusammengehören. Und diese Geistesverwandtschaft gründet sidi vielleicht teilweise auf die Stammes- und Blutsverwandtschaft; denn man darf bei der ganzen Auffassung der Schellingsdien — wie der Hegelsdien — Philosophie nicht vergessen, daß diese Männer Schwaben sind" (sic!). Obwohl die meisten Bibliotheken (vgl. British Museum) Friedrich Christoph und Halophilus Irenäus Oetinger als getrennte Autoren aufführen, sind beide identisch. Das Exemplar seines Werkes „Die Metaphysic in Connexion mit der Chemie (Schwäbisch Hall, 1771) in der Basler Universitätsbibliothek stammt übrigens aus der Bibliothek des berühmten aus Württemberg stammenden (*Urach 1799) Basler Chemikers C. F. Schönbein, des Erfinders der Schießbaumwolle und des Entdeckers des Ozons. Oetinger (1702—1782) huldigte einem extremen Idealismus, der Leibniz und Wolff ablehnte und auf Jakob Böhme zurückgriff; diese theosophische Mystik hat den damaligen Pietismus stark beeinflußt. Chemie und Theologie waren Oetinger eine Wissenschaft. Darum trennt er auch scharf die Chemie von der Mechanik ab, womit er den frührationalistischen Dualismus von Mechanismus-Organismus in die spätere romantische Triade von Chemismus zwischen Mechanismus und Organismus bei Hegel und Schelling aufzulösen vorbereitet. Als Illustration „chemischer Theologie" mag das Stichwort „Auferstehung Jesu" in seinem „Biblisches und Emblematisches Wörterbuch" (1776) (S. 46) dienen: „...Das Sterben ist nur eine Abscheidung der Dinge, die das Leben verdecken, Ablegung der groben Hülse, das treibende Lebende Wesen bleibt allezeit. Dies ist, was die Stäublein in die Form und die Blum in die Figur bringt. Das kan ich aus einem Chemischen Experiment erweisen von Melissen-Oel, wie ich es in der Solution von der Seele nach Berlin aufgesetzt. Die irdische Hülse bleibt in der Retorte, das bildende Oehl geht als ein Geist über mit völliger Form ohne Materie." Am Tübinger Stift war zwar Oetinger nur 2 Jahre als Repetent (1731—1732) direkt tätig; er wirkte jedoch den größten Teil seines Lebens in der näheren Umgebung Tübingens. Das Verschweigen des Namens Oetinger durch Schelling und Hegel kann deshalb geradezu als Indiz für den selbstverständlichen „Genius loci" Tübingens gelten.
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nach dem Tode ihres Lebens. Diese neue Gestalt ist aber die Überwindung des Bösen, das Ausgehaltenhaben in der Glut, des Schmerzens im Mittelpunkte, wo sie geläutert alle Flocken im Tiegel zurückgelassen hat, ein Residuum, das das reine Nichts ist. Sie erhebt sich als freier Geist, der nur in der Natur diese seine Verklärung sieht'. Vorher heißt es: ,Gott, zur Natur geworden, hat sich ausgebreitet in die Pracht und den stummen Kreislauf der Gestaltungen, wird sich der Expansion, der verlorenen Punktualität bewußt und ergrimmt darüber. Der Grimm ist diese Bildung, dies Zusammennehmen in den leeren Punkt. Er findet sidi als solchen, und sein Wesen ausgeschüttet in die ruh- und rastlose Unendlichkeit, wo keine Gegenwart, sondern ein wüstes Herausfahren über die Grenze ist, die immer wird, wie sie aufgehoben ist. Dieser Grimm, indem er dies Herausfahren ist, ist die Zerstörung der Natur. Das über die Gestaltungen Hinausgehen ist ebenso ein absolutes Gehen in sich selbst, ein Werden zum Mittelpunkt. In diesem frißt der Grimm seine Gestaltungen in sich hinein. Ihr ganzes ausgedehntes Reich muß durch diesen Mittelpunkt hindurch: ihre Gebeine werden davon zermalmt und ihr Fleisch in eben diese Flüssigkeit zerquetscht.' Mit dem Ouroborossymbol des Kreislaufes ® im ,Hen to Pan' durchbricht Hegel die Arcana des cusanischen Neoplatorüsmus der göttlichen Allmitte und steigt in die Tiefen der antiken Gnosis hinab. Deren Christologie ist aber die philosophische Basis der alchemischen Spekulation. Wie die Alchemisten erkennt Hegel den Januskopf der Realität. Christi Kreuzestod auf Golgatha (,Schädelstätte' übersetzt Luther), wobei der apokryphe Gnostiker Epiphaiüos von Salamis (315—403) des sterbenden Heilandes Blut den in Golgatha begrabenen Adam (hebräisch: Mann aus Erde) benetzen läßt, * ist Ursymbol des alchemischen Prozesses, ’ Das orphische Symbol der Schlange — zunächst auch in der alchemischen Tradition für die sich verzehrende Zeit (Kronos-Saturn) — wird in der späteren Gnosis überhaupt zum Symbol des Kreislaufes der Natur. Hegel selbst dürfte der Terminus ,Ouroboros' noch unbekannt gewesen sein; jedenfalls kommt dieses Wort in seinen Schriften nicht vor. Der Name tritt im Codex Marcianus auf (XI Saec.), den erst M. Berthelot (Coli. d. Anc. Alchim. Grecs, Paris 1887) bekannt machte. * Oetinger (Wörterbuch, S. 102) sagt: „Das Blut des Kreuzes, womit die Sünder erkauft waren, vereinigte Alles, es seie auf Erden oder in den Himmeln. Das Blut des Kreuzes mußte Alles durchgehen, was je geworden ist." Oder (S. 115): „Die Tinctur des Blutes Jesu ist edler als alle Steine. Dieses macht, daß die Steine (in der apocalyptischen Stadt Gottes) weiß und roth und nach den Regenbogenfarben glänzen." Am Tag des jüngsten Gerichts, den Oetinger auch den großen Tag der chemiae universalis nennt, wird die Natur zunächst wieder in ihre ursprünglichen Bestandteile aufgelöst, in die Prima Materia einerseits und die überhimmlischen Wasser des reinen Salzes, oder kurz in Licht und Finsternis. An diesem Tage wird ... „das reine Morgenlicht sich offenbaren, die reinste Tinktur Gottes mit Jesu Blut durchdrungen die Gottlosen
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der ,Weißung der Nigredo'. Ein primordiales Symbol der vorchristlichen Gnosis für den Übergang der Nigredo in Albedo bedeutet die Osirissage von Tod und Auferstehung. Die Transmutationslehre der Metalle zum ersehnten Endprodukt des Goldes ist dann die Extraversion des introspektiven Läuterungsprozesses des Adepten. In ,Totenbüchern' wird geschildert, wie der vornehmste Teil der Osirisleiche, nämlich das Caput mortuum des Toten an der altheiligen Stelle zu Abydos begraben gelegen habe, um auf die Auferstehung zu warten; bei der in Leinen gehüllten Leiche war nur dieses Haupt zu sehen, woher der den Alchemisten geläufige Ausdruck von der ,Präparation des Kopfes' stammt ®. Dieser christologische Aspekt, der sich z. B. bei Dorneus ® schon in modern anmutenden tiefenpsychologischen Symbolismen manifestiert, wird auswerfen, wie die Tinktur im Tiegel alles Unreine ausschafft." Das jüngste Gericht ist der große Tag der chemischen Scheidung zwischen Gut und Böse.
® Dazu E. O. V. Lippmann, Entstehung rmd Ausbreitung der Alchemie, Berlin 1919: Die Leinenstücke, in die eingebunden man z. B. die zu färbenden ,Steinchen' in die vorgeschriebenen Flüssigkeiten bringt, gehen in die Leinenbinden über, in die man den ,Toten', den ,Leichnam des Osiris' (d. h. das unedle Metall) gleich einer Mumie so einwickelt, daß das Haupt des Toten (das ,caput mortuum') sichtbar bleibt, und in die gehüllt man ihn der ,Wiederbelebung' (als Edelmetall) entgegenführt (S. 326). Man verglich nämlich die in Leinen eingelegten und mit leinenen Binden umwundenen, eingebeizten schwarzen Rohmetalle mit der gleichfalls in Leinen gehüllten einbalsamierten Leiche des ,schwarzen Osiris'; von der allein auch das Haupt des Toten (caput mortuum) zu sehen ist (S. 303). Christianos (Berthelot, loc. cit, VI, XII, 1) definiert das Caput Mortuum deutlich als: ,Melan kai apsychon kai nekra kai hos eipein apnous'. C. G. Jung (Psychologie und Alchemie, Zürich 1944, S. 447) gibt verschiedene spätere Beispiele an, welche die Wichtigkeit der Nigredo bzw. des Caput Mortuum für den Anfangszustand des Prozesses darstellen. Dann ist nämlich die Nigredo die Materia Prima, in welche das Gold oder der Lapis wie das Weizenkorn gesät wird. Es ist die schwarze magisch fruchtbare Erde, die Adam aus dem Paradiese mitnahm, auch Antimon genannt und als schwarz, ,schwärzer als schwarz' bezeichnet wird. Im Johannesevangelium, das nach H. Leisegang (Denkformen, 1928, S. 136 ff.) den jungen Hegel stark beeinflußt hat, heißt es: ,Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein; wenn es aber stirbt, wird es viele Frucht bringen'. (Kap. 12, 24).
Dorneus nennt die Prima Materia auch ,Adamica' neben der Bezeichnung ,limbus microcosmicus' in Anlehnung an Paracelsus (C. G. Jung, Psychologie und Alchemie, Zürich 1944, S. 434).
* C. G. Jung betont die Gnosis als Wurzel der alchemistischen Lapis-Christusparallele, die dann im westlichen Abendland etwa ab Raymundus Lullus (1235—1315) auftritt. Wie Christus geopfert werden mußte, um der Menschheit das jenseitige Heil zu sichern, so muß die Materie des ,Steins' durch die ,Qual' der Behandlung im alchemistischen Prozeß gehen, ehe sie am Ende der Menschheit wieder den diesseitigen Paradieszustand schenkt (C. G. Jung, Psychologie und Alchemie, Zürich 1944, S. 484 ff.).
Der alchemische Begriff des Caput Mortuum
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am Ausgang des Mittelalters von der iatrochemischen Praxis überwuchert; Paracelsus immerhin betont, daß der Sinn der Alchemie nicht im Goldmachen bestünde, sondern in der Zubereitung von wirksamen Arzneien. Bei Theophrast von Hohenheim, dem übrigens Hegel einen besonderen Absatz widmet wird das Caput mortuum sogar manchmal auf den Colcothar (fixierter Destillationsrückstand des Spiritus Vitrioli) eingeengt ®. Sonst
C. G. Jung sagt ferner, ,daß die zentrale Vorstellung des filius philosphorum auf einer Anthroposvorstellung beruht, in welcher der ,Mensch' oder ,Menschensohn' nicht mit der christlichen, historisdren Erlösergestalt übereinstimmt. Vielmehr kommt der alchemistische Anthropos mit der basilidanischen Auffassung desselben überein, wie Hippolytus sie übermittelt: ,Denn auch Er selber [der Heiland] stand, sagt er [Basilides], unter der Entstehung der Sterne und der Stunde der Wiederherstellung, er der in der großen Fülle vorausgesagt war. Dieser ist nach ihrer Auffassung der innere geistige Mensch im Psychischen. Er ist die Sohnschaft, welche da die Seele zurückgelassen hat, nicht eine sterbliche, sondern eine, die da bleibt, ihrer Natur entsprechend; wo oben die erste Sohnschaft, den Heiligen Geist, den Angrenzenden, an dem ihm zugehörigen Ort zurücäcgelassen hat, — sich dann in eine eigene Seele hüllend'. ,... Wenn... der Adept sich selber, d. h. den ,Wahren Menschen' in seinem Werke erfährt, so tritt ihm damit die Analogie des ,wahren Menschen', nämlich Christus in neuer und unmittelbarer Gestalt entgegen, und er erkeimt in der ihm geschehenden Wandlung eine Ähnlichkeit mit der passio Christi. Es ist eben keine ,imitatio Christi' mehr, sondern das Umgekehrte, nämlich eine Assimiliation des Christusbildes an das eigene Selbst, eben den ,wahren Menschen'. (C. G. Jung, Mysterium conjunctionis 11= Ges. Werke, Bd. XIV, 2, Zürich 1968, S. 99 ff.). ’’ Der Passus lautet bei Hegel: ,Eine geschichtliche Bemerkung ist, daß Paracelsus gesagt hat, alle irdischen Körper bestehen aus vier Elementen, Mercurius, Schwefel, Salz und aus der jungfräulichen Erde, wie man auch vier Cardinal-Tugenden hatte. Mercur ist die Metallität, als flüssige Sichselbstgleichheit, und entspricht dem Lichte; denn das Metall ist abstracte Materie. Der Schwefel ist das Starre, die Möglichkeit des Brennens; das Feuer ist ihm nichts Fremdes, sondern er die sich verzehrende Wirklichkeit desselben. Das Salz entspricht dem Wasser, dem Kometarischen; und sein Aufgelöstseyn ist das gleichgültige Reale, das Zerfallen des Feuers in Selbständige. Die jungfräuliche Erde endlich ist die einfache Unschuld dieser Bewegung, das Subject, das die Vertilgung dieser Momente ist; unter jenem Ausdruck verstand man die abstracte Irdischkeit, z. B. reine Kieselerde. Nimmt man dieß chemisch, so giebt es viel Körper, wo sich kein Mercur oder Schwefel findet; der Sinn solcher Behauptung ist aber nicht, daß diese Materien realiter vorhanden seyen: sondern der höhere Sinn ist, daß die reale Körperlichkeit vier Momente habe. Solches muß man also nicht nach der Existenz nehmen; sonst kann man Jacob Böhm und Andern Unsinn und Mangel an Erfahrung zuschreiben.' (Naturphilosophie, Paragraph 280 = Glöckner Bd. 9, S. 183). s Colcotar, proprie apud Paracelsum vitriolum fixum, quando videlicet phlegma a vitriolo distillando abstrahitur, atque hoc toties, donec colcotar phlegma sive aquam omnem imbiberit, neque ulla amplius distillando aqua exstillaverit, licet igne urgeatur: Serpens seu lacerta viridis, quae propriam caudam devoravit, fix Vitriol: Comunius intelligitur caput mortuum, simplici modo citra cohobationem rubificatum est vitriolum, vel atramentum rubeum seu citrinum. (M. Ruland, Lexicon Alchemiae, Frankfurt 1612 = Reprint Hildesheim 1964, S. 163).
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ist das Caput mortuum im allgemeinen eine beim aldiemiscben Prozeß übrigbleibende Schlacke. Freilich darf dann der Terminus nicht mehr im Sinne des archaischen Symbolgehaltes als notwendiges totes Übergangsprodukt auf dem Weg zur Vollendung aufgefaßt werden. Denn jetzt kommt dem Caput mortuum nur noch die Bedeutung einer ,Crassities' zu, welche im chemischen Prozeß durch Extraktion von den elementaren Mutterstoffen ® (matrices) abgesondert wird, während die Extrakte aus den Mutterstoffen die ,virtutes' enthalten. Hierbei ist dann das Caput mortuum sogar aequivalent mit ,Corpus' oder ,Recrementum' oder sogar ,Fex (Hefe)'. Libavius geht von der einfachen Erfahrung aus, daß Stoffliches durch Extraktionen in gröbere und feinere Bestandteile aufgespalten werden kann. Das Gröbere repräsentiert dann das Caput mortuum, welches verworfen wird, das Feinere aber die essentiellen Extrakte, welche automatisch eine Anreicherung an Virtutes bekommen. Da es nicht immer während eines einzigen Prozesses gelingt, die ,Essenz' vom ,Caput mortuum' zu trennen, ist es mitunter nötig, das mit virtutes schon etwas Angereicherte wieder dem caput mortuum beizugeben, um durch Cohobieren, wie der damalige Terminus technicus heißt, weitere Anreicherung zu erzielen. In einem Dictionarium spagyricum heißt es: ,Cohobare vel cooptare est quum materia saepe cum liquore imbibitur ac destillendo liquor iterum abstrahitur'. ® Am besten spiegelt wohl folgende Stelle des Paracelsus Auffassung vom Caput Mortuum wider. In dem .Buch von den tartarischen Krankheiten' (Sudhoffedition, Abt. I, Bd. 11, S. 31) heißt es: ,. . . im Wasser werden allerlei gestern, gut und bös, und wachsen aus dem wasser, wie ein bäum aus der erden, nun bleibt ein residuum übrig, das als vil ist als ein caput mortuum, das zun steinen zu werden nichts sol noch tauglich ist, dasselbig residuum wird immiscirt seiner matrici, das ist seinem element, in dem bleibt es und ist das impurum desselbigen elements. iezt ist das Corpus und das impurum ein mixtur und wachst mit einander, werden mit einander an sich gezogen von allen wachsenden dingen, als ein wasser, der es trinkt, der trinkt das impurum mit im, als ein wein, der in trinkt; der trinkt das impurum auch mit im, also was wir einnehmen, das ist purum und impurum in einer mixtur commiscirt.' Oder auf S. 353: ,... das cohobiren aber ist also, das das corpus oder caput mortuum oft mit seinem eignen Wasser imbibirt und widerumb darvon abdistillirt werde'. Deutlich wird der Gegensatz von Form und Materia bei folgender Paracelsusstelle (Caput sextum de magisterio antimonii): ,... das er (gemeint ist Antimon) nichts sol zerbrochen werden in seiner form, dan sein form ist sein arcanum, welche durch den retorten getriben sol werden on all caput mortuum (Sudhoffedition, Abt. I, Bd. 3, 5. 306). Vgl. Kommentar zu der ,Alchemie des Andreas Libavius, 1597, von F. Rex, 1964: Das Lehrgebäude der Alchimia des Libavius, S. 125. ” Du Cange, Glossarium Mediae et Infimae Latinitatis Bd. II (unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1883—1887), Graz 1954, S. 395 fährt weiter fort: Item cum herbae contunduntur, et in vase putrefiunt, donec purum a impuro separari possit. Roch. le Baillif in Dictionario spagyrico.
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Während nun Hegel in seiner Lehre vom Wesen (Essenz) beim Abstraktionsprozeß des Begriffes das Caput Mortuum wortwörtlich geradezu als ein bloßes Relikt wie in einem Bild der latrochemiker behandelt, vermeidet der gleiche Hegel bei der Lehre vom chemischen Prozeß jegliche terminologische Alliteration. »Indem das Absolute als Wesen bestimmt wird, wird aber die Negativität häufig nur in dem Sinne einer Abstraktion von allen bestimmten Prädikaten genommen. Dieses negative Tun, das Abstrahieren fällt dann außerhalb des Wesens und das Wesen selbst (Essenz) ist so nur als ein Resultat ohne diese seine Prämisse, das Caput mortuum der Abstraktion'. Der Hegelsche Chiasmus wäre freilich vollkommen, wenn er in den Tiefen des naturphilosophischen Details nun bei einer Lehre der Transmutation der Metalle den Begriff des Caput Mortuum im hohen Sinne der Osiris-Christussymbolik verwendet hätte. Die Alchemie jedoch war als wissenschaftliche Form der Chemie für Hegel tot. Lavoisiers Quantisierung war das Ereignis seines Jahrhunderts; Hegels Interesse an der Chemie war enorm. Da sie bei ihm zum großen Teil in die Physik inkorporiert ist (Elektrizität, insbesondere Galvanismus), nimmt sie in der »Naturphilosophie' einen relativ großen Teil ein In der Trinität der Naturprozesse: Mechanismus (tote Natur), Chemismus, Organismus (lebende Natur) ist der Chemismus das dialektische Mittelglied zwischen Leben und Tod: »Der lebendige Körper steht immer auf dem Sprunge, zum chemischen Prozesse überzugehen. . . aber nur beim Tode, oder in der Krankheit kann der chemische Prozeß sich geltend machen' Oder an anderer Stelle: »Wenn die Produkte des chemischen Prozesses selbst wieder die Tätigkeit anfingen, so wären sie das Leben' Oder gar: »Der Chemische Prozeß ist durch den Untergang der Gestalt der Übergang in die höhere Sphäre des Organismus' ^®. Das Wort »Caput Mortuum' scheint ihm auf der Zunge zu liegen — aber er spricht es nicht aus. Ja, selbst wo er die ganze moderne Chemie in ihrer Gestalt einer bloßen quantitativen Naturforschung scharf kritisiert, bringt er den symbolträchtigen Terminus der Alchemisten nicht über die Lippen: Für die Chemie ist die Hauptsache das »tote Produkt, das bei diesem oder jenem Prozeß herauskommt' und nicht »der Prozeß in seiner Totalität' Oder auch: »Die Betrachtung entgeht den Vgl. Anm. 31. In der Naturphilosophie wird die Physik in den Paragraphen 272—336 delt. Hiervon beziehen sich auf Chemie die Paragraphen 323—336. System der Philosophie (Teil II: Naturphilosophie) = Glöckner, Bd. 9, System der Philosophie (Teil II: Naturphilosophie) = Glöckner, Bd. 9, System der Philosophie (Teil II: Naturphilosophie) = Glöckner, Bd. 9, *■' System der Philosophie (Teil II: Naturphilosophie) = Glöckner, Bd. 9,
behanS. S. S. S.
451. 444. 448. 403.
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groben Händen der Chemie, die das Lebendige tötet; und nur zu sehen bekommt, was das Tote ist, nicht das Lebendige' Die analytische Methode wird von Hegel weiterhin kritisiert: ,Der Chemiker bringt ein Stück Fleisch auf seine Retorte, martert dasselbe auf vielfache Weise und sagt dann, er habe gefunden, daß dasselbe aus Stickstoff, Kohlenstoff, Wasserstoff usw. bestehe. Diese abstrakten Stoffe sind dann aber kein Fleisch mehr' Im übrigen wird Hegel nur außerhalb der schematischen Abgrenzung der Chemie in der ,Naturphilosophie' bei der Assoziation des Begriffes des Caput Mortuum freier; so spricht er in der Theorie des Lebens vom ,Lande als Leichnam des Lebens' Einmal fällt dort sogar der Terminus explizit : Beim tierischen Organismus (Paragraph 359) kritisiert er die chemische Erklärung des Nervenfiebers, welche durch einen ,bequemen Formalismus' richtige ,Konstruktionen und Beweise' ersetze: ,Das Rohe bestehe darin, daß das äußerste caput mortuum, der tote Stoff, in dem die Chemie ein erstorbenes Leben zum zweiten Mal getötet hat, für das Wesen eines lebendigen Organs, ja für seinen Begriff genommen wird' Hegel lebt gerade in der Epoche, wo in der Chemie mit aller Vehemenz der Symbolgehalt der spekulativen alchemischen Termini von der Realitätsbedeutung der quantitativen chemischen Formeln aufgrund experimenteller Befunde schärfstens getrennt wurde. Hegel, Kenner der alchemischen Tradition, muß deshalb sein philosophisches Unterbewußtsein, welches besonders beim alchemischen Begriff des Caput Mortuum von Archaismen imprägrüert ist, gerade in derjenigen Disziplin seiner „Enzyklopädie" der Wissenschaften, wo er bis Ende des Barockzeitalters unentbehrlich war, als provozierend unterdrücken. Trotzdem aber will die Hegelsche Philosophie wie die Alchemie die abendländische Wissenserfahrung in einem ganzheitlichen System vereinen, wo das Allgemeine wichtiger ist als das Spezielle. So hat er wenig Henamungen, den Kontrapunkt des System der Philosophie (Teil II: Naturphilosophie) = Glöckner, Bd. 9, S. 563. System der Philosophie (Teil I: Logik) = Glöckner, Bd. 8, S. 437. ,Das Land ist, als der Riesenleichnam des vorher immanenten, nun entflohenen Lebens diese individuelle, der Neutralität sich entwindende Consistenz, der feste Krystall des lunarischen Elements, während das Meer das Cometarische ist.' System der Philosophie (Teil II: Naturphilosophie) = Glöckner, Bd. 9, S. 488. System der Philosophie (Teil II: Naturphilosophie) = Glöckner, Bd. 9, S. 631. Auch Paracelsus benutzt das Caput mortuum zu einem weiteren chemischen Prozeß in den Archidoxa: Liber tertius: Von der Scheidung der elementen der undosischen: ,... als in vltriolo bleibt ein caput mortuum, das selbig laß sublimiren mit Salmiak, so solvirt sich da ein öl darin ist aqua et ignis und terra bleibt substantialisch ligen...' (Sudhoffedition, Abt. I, Bd. 3, S. 115).
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belasteten alchemischen Begriffes durch eine sprachliche Neuschöpfung zu fixieren: Der ^chemische Prozeß' setzt das Unterschiedene identisch, um es zu indifferenzieren, und differenziert das Identische, um es ,zu begeisten und zu scheiden' Die chemische Synthese ist für Hegel die Begeistung, die Analyse aber die Scheidung ,Das organische, lebensdurchdrungene, individualisierte Wasser entflieht den Händen der Chemie, — ein geistiges Band' Bei Hegel fehlt dem neutralen Produkt des chemischen Prozesses das ,begeistende' Prinzip Auch der chemische Prozeß untersteht in letzter Instanz dem dialektischen Dreiklang von Thesis, Antithesis und Synthesis. Wir haben jedoch hier nicht über die Hegelsche Theorie des chemischen Prozesses zu sprechen, uns interessiert das Abfallsprodukt, das Caput mortuum aus der vorwissenschaftlichen Phase der Alchemie. Dies letztere jedoch findet sich chiffriert selbst in der allgemeinen ,Dialektik der Idee': ,Die Antithesis wird in der Thesis selbst gefunden, weil beide Begriffe qualitativ auf ein höheres Gemeinsames bezogen sind. Sein. . . und Nichts sind aufgehoben im Werden, Entstehen und Vergehen im Dasein, Geburt und Grab im Leben' Der Prozeß steuert in letzter Instanz auf ein höheres Ziel zu, auf das ,Fürsichsein' der Idee. Die Idee ist darum immer das eigentlich Wirkliche. So ist der Geist auch das Ziel des Naturprozesses: ,Das Ziel
** System der Philosophie (Teil II: Naturphilosophie) = Glöckner, Bd. 9, S. 387. ,Die Analyse ist jedoch der Fortgang von der Unmittelbarkeit der Wahrnehmung zum Gedanken insofern die Bestimmungen, welche der analysirte Gegenstand in sich vereinigt enthält, dadurch, daß sie getrennt werden, die Form der Allgemeinheit erhalten. Der Empirismus, indem er die Gegenstände analysirt, befindet sich im Irrtum, wenn er meint, er lasse dieselben wie sie sind, da er doch in der That das Konkrete in ein Abstraktes verwandelt. Hierdurch geschieht es zugleich, daß das Lebendige getödtet wird, denn lebendig ist nur das Konkrete, Eine. Gleichwohl muß jene Scheidung geschehen, um zu begreifen, und der Geist selbst ist die Scheidung in sich. Dies ist jedoch nur die eine Seite und die Hauptsache besteht in der Vereinigung des Geschiedenen. Indem die Analyse auf dem Standpunkt der Scheidung stehen bleibt, so gilt von derselben jenes Wort des Dichters: Encheiresin naturae nennt's die Chemie, Spottet ihrer selbst und weiß nicht wie. Hat die Theile in ihrer Hand, Fehlt leider nur das geistige Band.' System der Philosophie (Teil I: Logik) = Glodcner, Bd. 8, S. 119/20. System der Philosophie (Teil II: Naturphilosophie) = Glöckner, Bd. 9, S. 526. Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse und andere Schriften aus der Heidelberger Zeit = Glöckner, Bd. 6, S. 122. ^ J. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, II. Teil (Neuzeit und Gegenwart), Freiburg 1958, S. 375.
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der Natur ist sich selbst zu töten, sich als Phönix zu verbrennen, um aus dieser Äußerlichkeit [Schale!] verjüngt als Geist hervorzutreten' Und also deduziert Hegel in der Wissenschaft der Logik, wenn er sich in der Kategorienlehre definitiv von Kant trennt: ,Die Kategorien sind daher unfähig, Bestimmungen des Absoluten zu sein, als welches nicht in einer Wahrnehmung gegeben ist, und der Verstand oder die Erkenntnis durch die Kategorien ist daher unvermögend, die Dinge an sich zu erkennen. Das Ding an sich (— und unter dem Ding wird auch der Geist, Gott befaßt) drückt den Gegenstand aus, insofern von allen, was er für das Bewußtsein ist, von allen Gefühlsbestimmungen, wie von allen bestimmten Gedanken desselben abstrahiert wird. Es ist leicht zu sehen, was übrig bleibt, — das völlige Abstraktum, das ganz Leere, bestimmt nur noch als ein Jenseits; das Negative der Vorstellung, des Gefühls, des bestimmten Denkens usf. Ebenso einfach aber ist die Reflexion, daß dies caput mortuum selbst nur das Produkt des Denkens ist, eben des zur reinen Abstraktion fortgegangenen Denkens, des leeren Ich, das diese leere Identität seiner selbst sich zum Gegenstände macht. Die negative Bestimmung, welche diese abstrakte Identität als Gegenstand erhält, ist gleichfalls unter den Kantischen Kategorien aufgeführt, und ebenso etwas ganz Bekanntes wie jene leere Identität' Von der ,erkenntnistheoretischen' Reflexion über das ,Ding an sich' im ,Vorhof' seiner Logik steigt Hegel nun zum Zentrum seiner Ontologik auf und beginnt seine Lehre vom Wesen: ,. .. Das Wesen, als das durch die Negativität seiner selbst sich mit sich vermittelndes Sein, ist die Beziehung auf sich selbst, nur indem die Beziehung auf Anderes ist, das aber unmittelbar nicht als Seiendes, sondern als ein Gesetztes und Vermitteltes ist. — Das Sein ist nicht verschwunden, sondern erstlich ist das Wesen, als einfache Beziehung auf sich selbst. Sein; fürs andere ist aber das Sein nach seiner einseitigen Bestimmung, Die Aldiemie versteht unter Phönix das Symbol des Absterbens und Wiederauflebens in der Natur, den Läuterungsprozeß, der von der ,Nigredo' zur ,Albedo' führt (vgl. G. W. Gessmann, Geheimsymbole der Aldiemie, Ulm 1964, S. 52 und C. G. Jung, Mysterium Conjunctionis I = Ges. Werke, Bd. XIV, I, Zürich 1968, S. 230, 232, 257). Der Phönix wird oft auch als Symbol Christi verwendet (C. G. Jung, Psychologie und Alchemie, Zürich 1944, S. 561 und Abb. S. 646). Ruland sagt: ,Foenix vel phoenix, filius unius diei. Der Philosophisch Stein.' Oder an anderer Stelle: ,Phoenix, quinta ignis essentia, vel lapis philosophicus celebratissimus'. (M. Ruland, Lexicon Alchemiae, Frankfurt 1612 = Reprint Hildesheim 1964, S. 222 und S. 361). *• J. Hirschberger, Geschichte der Philosophie, II. Teil (Neuzeit und Gegenwart), Freiburg 1958, S. 385. ““ System der Philosophie (Teil I: Logik) = Glodcner, Bd. 8, S. 133.
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unmittelbares zu sein, zu einem nur negativen herabgesetzt, zu einem Scheine. — Das Wesen ist hiermit das Sein als Scheinen in sich selbst. Das Absolute ist das Wesen. — Diese Definition ist insofern dieselbe als die, daß es das Sein ist, insofern Sein gleichfalls die einfache Beziehung auf sich ist; aber ist zugleich höher, weil das Wesen das in sich gegangene Sein ist, das ist seine einfache Beziehung auf sich ist diese Beziehung, gesetzt als die Negation des Negativen, als Vermittlung seiner in sich mit sich selbst. — Indem das Absolute als Wesen bestimmt wird, wird aber die Negativität häufig nur in dem Sinne einer Abstraktion von allen bestimmten Prädikaten genommen. Dieses negative Tun, das Abstrahieren, fällt dann außerhalb des Wesens, und das Wesen selbst ist so nur als ein Resultat ohne diese seine Prämisse, das Caput mortuum der Abstraktion. Aber da diese Negativität dem Sein nicht äußerlich, sondern seine eigene Dialektik ist, so ist seine Wahrheit, das Wesen, als das in sich gegangene oder in sich seiende Sein, seinen Unterschied vom unmittelbaren Sein macht jene Reflexion, sein Scheinen in sich selbst, aus, und sie ist die eigentümliche Bestimmung des Wesens selbst' Und damit triumphiert wiederum Hegels dialektischer Widerspruch, indem er die negative (Reliktumlehre) und die positive Auffassung (Osiristradition) des Caput Mortuum der Alchemisten vereinigt: Das tote Caput Mortuum als Äußerliches wird zugleich die höchste Abstraktion als Innerliches in der Spiegelung der Totalität in sich selbst.
System der Philosophie (Teil I; Logik) = Glöckner, Bd. 8, S. 261/62.
HANS QUERNER (HEIDELBERG)
DIE STUFENFOLGE DER ORGANISMEN IN HEGELS PHILOSOPHIE DER NATUR In der Einleitung zum zweiten Teil von Hegels ,System der Philosophie', der ,Naturphilosophie', steht der Satz: „Die Natur ist als ein System von Stufen zu betrachten, deren eine aus der anderen nothwendig hervorgeht, und die nächste Wahrheit derjenigen ist, aus welcher si6 resultirt" (§ 249). * Wenn man sich fragt, was unter dem ,System von Stufen', als das die Natur zu betrachten ist, verstanden werden soll. So ergibt sich zunächst die weitere Frage nach der Bestimmung des Begriffes ,Natur'. — „Was ist Natur", so fragt Hegel selbst. Die Natur sei ein Proteus, also ein sich ständig Wandelndes, dessen einfaches Wesen es zu erfassen gelte, indem man diesen Proteus zwingt, seine Verwandlungen einzustellen (Betrachtungsweisen der Natur, Zusatz). Für die Beantwortung der Frage ,Was ist Natur' ist das Prinzip eines Systems von Stufen von entscheidender Bedeutung, denn diese Stufen charakterisieren das Wesen der Natur. Die Natur ist Teil eines Ganzen. Sie ,hat sich als die Idee in der Form des Andersseyns ergeben'. Die Äußerlichkeit macht ihre Bestimmung aus, in welcher sie — die Idee — als Natur ist (§ 247). Die Stellung der Natur im Ganzen ergibt sich aus der Bestimmung, daß ,die Idee sich selbst bestimmt'. Dies geschieht dadurch, daß die Idee ,den Unterschied in sich setzt'. ,Das Unterschiedene kann in dreierlei Formen gefaßt werden: Das Allgemeine, das Besondere, das Einzelne'. Das Allgemeine ist ,die ewige Einheit der Idee', der Logos; im Gegensatz dazu steht die Einzelnheit, die Form des endlichen Geistes. Das ist der Mensch. Zwischen diesen Gegensätzen liegt die ,Idee in der Besonderheit'. Das ist die Natur. Die Natur ist in dieser Stellung zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen der Prozeß, zum Geiste zu werden, d. h. ihr Anderssein aufzuheben. Die kategoriale Beziehung zwischen Idee und Natur ergibt sich aus dem Satz: „Ist die Natur die Idee in der Form * Die Zitate sind dem neunten Band der Jubiläumsausgabe Stuttgart-Bad Cannstatt, 4. Auflage 1965, entnommen.
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des Andersseyns, so ist, nach dem Begriffe der Idee, die Idee darin nicht wie sie an und für sich ist, obgleich nichtsdestoweniger die Natur eine der Weisen der Idee ist, sich zu manifestieren, und darin Vorkommen muß" (§ 247, Zusatz). So ist die Natur selbst zweite ,Entwicklungsstufe der Idee' in einer hierarchischen Trinität, die sich innerhalb der ,Idee als Natur' wiederholt. In seiner strengen Systematik — Steffens spricht von der militärischen Disziplin der Hegelschen Philosophie, die die Freiheit des Geistes ebensowenig zu unterdrücken vermochte, wie die Berliner Wachparade den lebendigen, freien, kriegerischen Sinn — gliedert Hegel die ,Idee als Natur' und damit die Philosophie der Natur in Mechanik, Physik und Organik. Die Mechcmik ist charakterisiert durch ,unendliche Vereinzelung' und Materie, die Physik durch ,immanente Formbestimmtheit' und ,natürliche Individualität', während die Idee als Natur in der Organik in der Bestimmtheit der Subjektivität zu erkennen ist, ,in welcher die realen Unterschiede der Form. . . zur ideellen Einheit. . . zurückgebracht sind' (§ 252). In dieser Gliederung Mechanik-Materie, Physik-Individualität, OrganikSubjektivität liegt die wesentliche Stufenfolge der Naturphänomene. Hegel stellt sie als eine qualitative dar; es heißt, daß der Materie als solcher noch keine Individualität zukomme; auf der Stufe der Physik ist die Individualität noch an einzelne ausschließlich spezifische Eigenschaften gebunden, noch nicht auf totale Weise vorhanden. Dagegen ist ,das Organische die Naturtotalität, eine für sich seiende Individualität, die sich zu ihren Unterschieden entwickelt'. Es entstehen auf dieser Stufe ,concrete Totalitäten, nicht nur specifische Eigenschaften' (§ 252, Zusatz). Aber trotz dieser qualitativen Unterschiede ist ,in jeder Stufe die Idee vorhanden'. ,Jede dieser Stufen ist ein eigentümliches Naturreich'. Sie scheinen für sich zu bestehen, sind aber doch eng miteinander verbunden, denn jede höhere Stufe trägt die niedere in sich. Gleichzeitig stehen die Stufen aber auch in Gegensätzen zueinander. So kann das Unorganische das Organische zerstören und das Organische hat Macht über das Unorganische (§ 252, Zusatz). Eine Stufenfolge der Organismen kann nur in der dritten und höchsten Stufe der Natur, der Organik auftreten. Sie ist dadurch gekennzeichnet, daß erst in ihr, im Leben, es zur Subjektivität, zum Gegenteil des Auseinander kommt. ,Der Begriff kommt erst im Leben als Seele zur Existenz' (§ 248, Zusatz). Wie auch die Abschnitte Mechanik und Physik gliedert sich die Organik in drei Kapitel: Der Erdorganismus, die Pflanze, das Tier. In Parallele zu setzen ist offenbar das Phänomen Materie-Mechanik
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mit dem geologischen Organismus, der das allgemeine Bild des Lebens darstellt; das Phänomen Individualität-Physik mit der vegetabilischen Form des Lebens, der formellen Subjektivität; und das Phänomen der Subjektivität-Organik mit dem animalischen Organismus, der konkreten Subjektivität. Die Idee ist im Organischen zur Existenz gekommen, aber ,Wahrheit und Wirklichkeit' hat sie auch da nur, soweit sie in der Subjektivität vorhanden ist. Pflanze und Tier unterscheiden sich daher als die beiden höheren Stufen vom Erdorganismus grundsätzlich — wie die Mechanik, die nur durch die Materie repräsentiert ist, von der Physik, die Individualität besitzt, und der Organik, die durch Subjektivität ausgezeichnet ist. Die Organik besitzt aber die sie charakterisierende Subjektivität auf der untersten Stufe noch nicht; der Erdorganismus ist daher nur der ,Leichnam des Lebensprozesses' (§ 337). Aber auch zwischen Pflanze und Tier besteht ein großer Unterschied, denn Leben als solches ist erst im Tier vorhanden, weil die Hauptbestimmung des Lebens die Subjektivität ist. Erd- und Pflanzenorganismen sind nur unvollkommene Wege dorthin (§ 337, Zusatz). Aus dieser Gliederung der ,Organischen Physik' oder Organik ergeben sich die drei Reiche: Das Mineralreich, das Pflanzenreich, das Tierreich, entsprechend der Mechanik, Physik und Organik auf einer abstrakteren Stufe der Hierarchisierung, und dem Allgemeinen, dem Besonderen und dem Einzelnen auf der abstraktesten. Zwar rechnen wir heute die Erde mit ihren Gestaltungen in Zeit und Raum nicht zu den ,Organismen', die Systematik der Hegelschen Naturphilosophie verlangt es jedoch, auch über den Erdorganismus etwas auszusagen. Er ist die ,unorganische Natur des subjektiven Lebens', unorganisch wie alle Äußerlichkeit. Der Erdorganismus wird auch als das ,erstarrte Leben' im Gegensatz zum ,thätigen' der beiden anderen Stufen der Organik bezeichnet. Als ungegliedertes Ganzes wird er den Pflanzen und Tieren gegenübergestellt. Dieser erste Organismus ,existiert nicht als Lebendiges', sondern nur ,unmittelbar'. Damit ist er aber ,Voraussetzung für das subjektive Leben'. Auch die Erscheinungen des Erdorganismus zeigen drei Stufen der Vollkommenheit, sich darstellend in höherer Lebendigkeit durch stärkeres Hervortreten des ,Anderssein'. Die höchste Stufe ist das ,Leben der Erde', das der Subjektivität und Organik auf anderer Ebene entspricht. Das Leben der Erde hat als allgemeine Grundlage den meteorologischen Prozeß, so ist seine erste Stufe die Atmosphäre. Wie die Erde Voraussetzung für das ,subjektive Leben' der beiden höheren Stufen Pflanze und Tier
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ist, so ist der meteorologische Prozeß nicht der ,Lebensprozeß der Erde', sondern liefert nur die Möglichkeit dafür, daß ,die Subjektivität an ihr als Lebendiges hervorgeht' (§ 341, Zusatz). — Die höhere Lebendigkeit gegenüber der Luft ist das Meer. Die dritte und höchste Stufe stellt das feste Land dar, das audi als ,der Riesenleichnam des vorher immanenten, nun entflohenen Lebens' (des Erdorganismus) bezeichnet wird. Meer und Land stellen die realen Möglichkeiten des Lebens dar im Gegensatz zur Atmosphäre, wie der Erdorganismus als Ganzer im Gegensatz zu Pflanze und Tier steht, und die Materie zu Physik und Organik (und das Allgemeine der Idee zur Idee als Natur und als Geist). Meer und Land ,schlagen in punktuelle und vorübergehende Lebendigkeit aus' (§ 341). Beide sind ja nicht selbst lebendig, aber sie produzieren Lebendiges. Hegel postuliert damit die damals schon stark umstrittene Urzeugung bestimmter ,niederer' Lebensformen. Im § 341 sind nur die Infusorien und Flechten genannt, im Zusatz werden außerdem die Moose, Pilze, Salpen und Eingeweidewürmer aufgeführt. Wieweit audi alle andern Wirbellosen des Meeres, genannt werden ,Polypen, Korallen, Steinpflanzen, Steinthiere, Pflanzenthiere usw.', unter diejenigen, die durdi Urzeugung entstehen, gerechnet werden, ist nicht ganz eindeutig, scheint sich aber aus dem Zusammenhang zu ergeben. In der Zeit, als Hegel seine Vorlesungen in Heidelberg und in Berlin hielt, war unter den Naturforschern die Diskussion über die Art der Entstehung der ,niederen' Organismen zwar noch lebhaft im Gang, sie bezog sich jedoch nur noch auf Infusorien, parasitische Würmer und Algen, z. T. noch auf Pilze, nicht jedoch auf die Mehrzahl der wirbellosen Tiere des Meeres und auf die Moose. Alle diese Orgaiüsmen, die im Meer und auf dem Lande allenthalben, plötzlich und unvermittelt entstehen und vergehen, sind für Hegel ein Zeugnis dafür, daß die Erde, der Erdorgaiüsmus fruchtbar ist. Aber diese Lebendigkeit ist nur eine ,Lebendigkeit an sich, das wahrhaft Lebendige ein Anderes als der Erdorganismus'. Im Sinne der Dialektik muß er die Aufhebung seiner Unmittelbarkeit sein, das Andere darstellen, also mittelbare Lebendigkeit produzieren. Sie ist es, die durch generatio aequivoca ,zwar allenthalben, aber kümmferlich an der Erde ausschlägt' (§ 341, Zusatz). Die zweite Stufe irmerhalb der Organik stellt der ,vegetabilische Organismus' dar. Die Pflanze ist die nur erst ,unmittelbare subjektive Lebendigkeit'. Vom Erdorganismus und dem von ihm unmittelbar produzierten Leben unterscheidet sie sich aber dadurch, daß sie eine Gestalt besitzt, die aus Teilen besteht, die voneinander verschieden sind. Aber
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diese Gliederung in Teile ist nur eine ganz oberflächliche, denn jedes Teil ,ist auch die ganze Pflanze'; damit sind aber ,die Allgemeinheit des Lebens' oder der objektive Organismus und seine Einzelheit, die Subjektivität nodi identisdi. Während der Erdorganismus nur im Ganzen lebendig ist, ist es die Pflanze jedoch schon im Einzelnen. — Die Pflanze ist zwar das erste ,für sich seyende Subjekt', aber sie stellt auch ,das schwache, kindische Leben' dar, weil es in ihr in sich selbst noch nicht zum Lfnterschiede auf gegangen ist (§ 343). Ist das Mineralreich, der Erdorganismus, die Stufe der Äußerlichkeit, so ist die zweite Stufe, das Pflanzenreich, die der Reflexion und noch nicht wahrhafte Subjektivität. Das ist begründet darin, daß die Pflanze keine echte Gliederung besitzt. Tatsächlidi ist die Differenzierung der Pflanze in Organe wesentlich weniger deutlich als beim Tier. Mehr noch aber kommt es Hegel darauf an, daß jeder Teil der Pflanze auch ein Individuum ist, jedenfalls alle Voraussetzungen dafür besitzt, z. B. die Knospe oder der Zweig. Damit wird der Begriff des ,Andersseins' — die Natur ist die Idee in der Form des Andersseins ! — verdeutlicht. Das Anderssein bezieht sich offenbar nicht nur auf eine andere Art oder ein anderes Individuum, sondern es gibt audi ein Anderssein nach Innen. Diese Differenzierung ist tatsächlich bei der Pflanze geringer als beim Tier; sie stellt aucJi heute in der Biologie ein — wenn auch umstrittenes — Maß der ,Entwicklungshöhe' dar. Das Anderssein nacii Iimen tritt im ,Gestaltungsprozeß' der Pflanze hervor, aber nur als eine ,oberflächliche Metamorphose'. Der Gestaltungsprozeß ist die unterste Stufe des vegetabilischen Organismus, dem Allgemeinen und der Materie-Mechanik-Stufe entsprechend. Die zweite Stufe — gleich dem Besonderen und der Physik-Individualität-Stufe auf höherer Ebene — stellt der Assimilationsprozeß dar. Dem Einzelnen und der Organik-Subjektivitäts-Stufe, sowie dem ,Leben der Erde' unter den Prozessen des Erdorganismus entspricht die dritte Stufe, der Gattungsprozeß der Pflanze. Hierher gehört das Anderssein hinsichtlich der Arten, aber es ist offenbar zu gering, als daß die Frage nach der Mannigfaltigkeit und damit nach Ordnungsprinzipien gestellt werden muß. Der Gattungsprozeß kommt bei der Pflanze ,zu nicht mehr als zu einem Beginn und Andeutung'. Damit schließt Hegel Sexualität für den vegetabilischen Organismus aus. Der Abschnitt über den Gattungsprozeß der Pflanze ist fast ausschließlich der Widerlegung der Vorstellung, daß auch den Pflanzen Sexualvorgänge zugeschrieben werden müssen, gewidmet (§ 348 und 348, Zusatz). — Die Mcmnigfaltigkeit der Formen der Pflanzen wird nur nebenbei mit der Bemerkung über die sinnvolle Einteilung in
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Monokotyledonen und Dikotyledonen, ein- und zweikeimblättrige Pflanzen, erwähnt, im Abschnitt über die Gattung und Arten der Tiere (§ 370). Mehrere Umstände erleichterten es Hegel, die Mannigfaltigkeit im Pflanzenreich unbeachtet zu lassen und damit dem vegetabilischen Organismus den Stufenwert hinsichtlich des Grades des Andersseins zu geben, den er vom Konzept seines Systems her haben muß. Einmal ist die Mannigfaltigkeit im Pflanzenreich geringer und viel weniger auffällig als im Tierreich. Die botanische Systematik war von jeher deswegen weniger der philosophisch-spekulativen Fragestellung ausgesetzt. Schon in den Stufenleitern der Physikotheologen im 18. Jahrhundert gibt es nur wenige Stufen, die von pflanzlichen Organismen besetzt sind. Goethe hatte außerdem in seiner ,Metamorphose der Pflanzen' sich bemüht, die Einheitlichkeit bei allem scheinbar Wechselhaften der Gestalten zu erfassen und damit den Begriff ,Typus' in der Botanik eine besondere Bedeutung gegeben. Die Pflanze schien also leicht auf eine einzige ideale Grundform zurückgeführt werden zu können. Das bedeutete im Sinne des Hegelschen Systems, daß der Grad ihrer Fähigkeit zum Anderssein gering ist. Das Pflanzenreich als Ganzes entspricht dem Wasserreich, das auch das Reich der Neutralität ist. Auch im ,Leben des Erdorganismus' steht das Meer als zweite Stufe zwischen Atmosphäre und dem festen Land. Diese Mittelstellung der Pflanze (und des Wassers) entspricht der der Natur als Ganzem, denn die Natur steht als ,Idee in der Besonderheit' zwischen dem ,Allgemeinen' und dem ,Einzelnen', zwischen der ,ewigen Einheit der Idee' und dem Menschengeist; sie stellt den Prozeß dar, zum Geiste zu werden. Die Pflanze ist entsprechend auf dem Wege zu der Stufe, auf der die Natur zum Geiste wird und ihr Anderssein aufgehoben wird — im Menschengeist. Diese Stufe innerhalb der Organik ist das Tierreich; es entspricht auch dem Feuerreich. Wasserreich — Pflanze und Feuerreich — Tier stehen also im Gegensatz zueinander. Zwar sind die Stufen des Naturreichs eng miteinander verbunden durch eine kategoriale Einschachtelung, indem jede höhere Stufe die niedere in sich trägt; die Stufen stehen jedoch auch in Gegensätzen zueinander. Dieses Nebeneinander von Verbundenheit und Gegensätzlichkeit der Stufen ist für das Verständnis des Gattungsprozesses von besonderer Bedeutung. Denn dadurch löst sich die scheinbare Inkonsequenz in der Gliederung der Organik auf, daß nämlich das Analogon des Gattungsprozesses auf der Stufe des Erdorganismus bereits durch ein Anderssein ausgezeichnet ist, das aber ein unmittelbares ist, während dieses Anderssein auf der nächst höheren Stufe, der Pflanze,
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sdieinbar wieder verloren geht. Tatsächlich ist hier der Beginn von etwas Neuem, nämlich der der beiden Stufen der Subjektivität, der formellen in der Pflanze und der konkreten im Tier. So ist der so einfache Gattungsprozeß der Pflanze doch höher als das Anderssein im ,Leben der Erde'. Auf der Stufe des Tierreichs ist ,individuelle Subjektivität als vollkommene Lebendigkeit' vorhanden. Wie bei den Pflanzen gibt es Gestalten, aber deren Teile sind rdcht mit dem Ganzen des Tieres identisch, sondern zeigen wirkliche Unterschiede. Das Anderssein zeigt sich hier am Individuum. Auf dieser Stufe erst ist das ,Lebendige Subjekt, Seele, das Aetherische, der wesentliche Prozeß der Gliederung und Ausbreitung' (§ 337, Zusatz). Auf dieser obersten Stufe der Organik, die selbst die höchste Stufe der Naturphänomene darstellt, ist der Gattungsprozeß von entscheidender Bedeutung; auf der Stufe des Erdorganismus entspricht ihm ,das Leben der Erde', auf der der Pflanze ist er nur angedeutet. Pflanze und Tier haben beide Gestalt, d. h. die individuelle Idee bezieht ihre Prozesse nur auf sich selbst. Sie haben ferner beide die Fähigkeit zur Assimilation, d. h. das Verhalten zu ihrem Andern als anorganischen Natur. Beim Tier erst wird deutlich die Idee als das sich Verhalten zu einem Andern, das selbst lebendiges Individuum ist. Das aber ist der Gattungsprozeß: Leben, Individualität, Subjektivität. Auf der Stufe des Tierreichs hat der Gattungsprozeß drei Formen. Der Geschlechtsprozeß, durch den Individuen andere Individuen erzeugen durch ihren Tod, denn nach der Fortpflanzung sterben sie. Außerdem teilt sich die Gattung in Arten; in ihrem Verhalten gegeneinander stellen sie die unorganische Natur als Gattung gegen die Individualität dar, was wiederum zum Tod, zum gewaltsamen Tod führt. — Die dritte Form stellt die Gattung auf der Stufe der Subjektivität dar; sie führt über die Krankheit zum natürlichen Tod. Die Quintessenz des Gattungsprozesses ist es, daß ,die organische Natur in ihm endet, die Gattung zu sich selber kommt und so sich Gegenstand wird: was das Hervorgehen des Geistes ist' (§ 367, Zusatz). Die letzte Stufe dieser Ebene führt cdso zur Philosophie des Geistes. Als Phänomen der Krankheit wird sie hier nicht weiter behandelt. Für das Thema der Stufenfolge der Organismen finden sich die entscheidenden Bestimmungen in der zweiten Stufe der Kategorie des Gattungsbegriffes. In der Gliederung der Idee, die sich selbst bestimmt, ist die zweite Stufe die Idee in der Besonderheit, die Natur überhaupt. Sie tritt in der Kategorie des Gattungsbegriffes am stärksten hervor.
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Wie in der Natur als Ganzem, so gibt es auch auf der höchsten Stufe der Organik, dem Tierreich, die wiederum die höchste Stufe der Natur ist, Stufen der Vollkommenheit. Hegel spricht von den verschiedenen Stufen der Entwicklung des Typus des Tieres von der einfachsten Organisation an bis zur vollendetsten. Die Mannigfaltigkeit der Tierwelt beruht aber nicht allein auf diesen Stufen der Vollkommenheit. Verantwortlich sind außerdem ,Umstände und Bedingungen der elementaren Natur', wir würden sagen, der Außenbedingungen. Grundlage aller Formen ist der eine einzige Typus ,Tier'. Er ist durch den ,Begriff' bestimmt und kann sich als solcher im Leben nicht zeigen, weil der Begriff als solcher im Leben nicht existiert (§ 370). Über die Stufen der Vollkommenheit wird konkret nur wenig ausgesagt. Hegel betont, daß die neue Vergleichende Anatomie — vor allem durch Cuvier — dafür gesorgt habe, daß das Material der Zoologie ,sich gegen den Begriff hingearbeitet' hat. Dabei sei der entscheidende Unterschied gefunden, der zwischen Wirbellosen und Wirbeltieren, die Grundeinteilung, die schon Aristoteles gesehen habe. Diese beiden Ausprägungen des Typus Tier — sie werden offenbar als Stufen der Vollkommenheit angesehen — werden mit der Einteilung der Pflanzen in Monokotyledonen und Dikotyledonen gleichgesetzt. Die Vergleichende Anatomie habe ferner — so sagt Hegel — dazu geführt, den allgemeinen Typus des Tieres besser als früher erkennen zu können und ihn eben dadurch ,über und aus der Besonderheit in seine Allgemeinheit erhoben'. Für die spezielle Bestimmung der Formen sei man mit Recht darauf gekommen, die Unterscheidung nach den Zähnen und Klauen vorzunehmen — übrigens ein Prinzip Linnes und nicht der französischen Morphologen —, nach den Waffen der Tiere, ,denn sie sind es, wodurch das Thier selbst sich gegen die andern als ein Fürsichseyendes setzt und erhält, das ist sich selbst unterscheidet' (§ 370). Der Unterschied der Tiergattungen wird durch zwei Prinzipien bestimmt. Das erste, wonach die weitere Stufe nur die weitere Entwicklung des einen Typus Tier ist, liegt der Idee näher. Es ist daher auch der Haupteinteilungsgrund für die allgemeine Unterscheidung. Die Gattungsunterschiede können sich bei dieser Betrachtung mehr ,nach innen' oder mehr nach außen zeigen. Der Grad der Einseitigkeit der Artikulation nach außen oder nach irmen bestimmt die höhere oder tiefere Stellung. Bei den Wirbellosen sind die Weichtiere sozusagen nur Eingeweide; sie artikulieren sich nur nach innen. Ihnen stehen die Insekten gegenüber, die sich durch die Betonung der Körperhülle und die darauf beruhende Mannigfaltigkeit fast ganz nach außen artikulieren. Bei den Wirbeltieren findet
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man ein größeres Maß an Gleichgewicht des Innern und des Äußern, deswegen sind sie die höheren Tiere. Sind beide Seiten im vollkommenen Gleichgewicht, dann entsteht der Haupttypus des Organismus, der Mensch. Damit sind nicht nur die Stufen näher charakterisiert, sondern auch eine Möglichkeit der Ordnung, des Systematisierens gegeben. Dieses erste Prinzip der Gliederung muß bei den Wirbellosen angewendet werden, weil sich (nur) bei ihnen die Ungleichmäßigkeit in dieser Hinsicht stark ausprägt. Die Wirbeltiere müssen nach einem anderen Prinzip geordnet werden, nämlich nach ihren Beziehungen zu den Elementen: Wassertiere, Lufttiere, Landtiere. Hieraus ergibt sich aber auch eine weitere Stufenfolge. Am niedrigsten stehen die Wassertiere, die Fische. Sie kommen noch nicht zur Empfindung der Einheit mit ihren Jungen. Die zweite Stufe stellen die Vögel dar, die wie die Säugetiere Empfindungen für ihre Jungen haben. Die beiden höheren Stufen haben also wie bei Pflanze und Tier gegenüber dem Erdorganismus etwas Gemeinsames. Mit dem Vogel ist das Tierleben in das abstrakte Element, in die Luft geworfen; sie stehen damit der Vegetation näher, die sich durch die Ausbildung der Federn auf ihrer Haut auch zeigt. Die Landtiere sind die Säugetiere. Sie nähren ihre Jungen aus sich selbst und kommen so zum Gefühl der Einheit des einen Individuums mit dem andern, zum Gefühl der Gattung. Die weiteren Unterabteilungen entstehen durch ,Bestimmtseyn von außen; der Natur muß man hier das Recht des Spiels und Zufalls lassen'. Als großes Bestimmendes werden aber die Klimate hervorgehoben. Besonders im Süden, wo sich die Kontinente ,particularisiren', bewirken sie eine größere Mannigfaltigkeit. Zwischen den Fischen einerseits und den Vögeln und Säugetieren andererseits stehen in der zoologischen Systematik die Amphibien und Reptilien. Für Hegel sind sie Mittelgebilde, die teils der Erde, teils dem Wasser angehören. Als solche stellen sie etwas ,Widriges' dar. ,Jämmerliche Gebilde' sind auch die Tiere, die — wie die Walfische — als Säugetiere ihr Element verlassen, wie es auch die fliegenden Fische, das Schnabeltier, der Schwimmvogel und die Fledermaus tun. Ein ähnliches ,MitteIgebilde' ist der Strauß, der zum kamelartigen Landtier geworden ist (§ 370). Diese ,Mitteldinge' werden von Hegel deswegen so negativ beurteilt, weil sich in ihnen zeigt, daß die Natur ,dem Begriff lücht treu bleiben und die Gedankenbestimmungen nicht rein festhalten' kann. Gerade diese genannten Formen, diese ,jämmerlichen Gebilde', ,Monstrositäten', spielten in der Stufenleiteridee des 18. Jahrhunderts als Übergangsglieder eine besondere Rolle. Auch noch zur Zeit Hegels waren sie für viele Naturhistoriker der Beweis für eine irgendwie geartete Ver-
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wandtschaft der Formen untereinander, mehr oder weniger konket gedacht. Hegel sieht die Stufenfolge jedoch ganz anders als die Physikotheologen im 18. Jahrhundert und auch die meisten Naturhistoriker der Zeit. Er lehnt den Gedanken der Stufenleiter in der Einleitung zur Naturphilosophie ausdrücklich ab: „Es hat dem Fortschritt des Begreifens der Nothwendigkeit der Gestaltungen wohl eben dieser Umstand der Vorstellung einer Reihe von Stufen und dergleichen besonders geschadet", denn „die Natur stellt ihre Gestaltungen nicht so in Reihe und Glied" (§ 249, Zusatz). Aber wie versteht Hegel selbst die Stufen, von denen er ständig spricht? Er sagt: „Der dialektische Begriff, der die Stufen fortleitet, ist das Innere derselben. .. der Begriff unterscheidet nach qualitativer Bestimmtheit, insofern macht er nur Sprünge. . ." (§ 249, Zusatz). Die alte Stufenleiterlehre war gerade von dem Satz ausgegangen, den Aristoteles und Leibniz ausgesprochen hatten, ,Die Natur macht keine Sprünge'. Die darauf aufgebaute Lehre war entstanden in dem Bemühen, Ordnung in die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen der Natur, vor allem in die der Organismen zu bringen. Hegel lehnte sie ab; welche Möglichkeit der Systematisierung sieht er aber? Um diese Frage zu beantworten, muß darauf hingewiesen werden, daß die Mannigfaltigkeit für Hegel ein Phänomen ist, daß ganz unabhängig neben der geschilderten Stufenfolge innerhalb des Tierreichs — die im Sinne des Gesamtsystems den Weg zum Geist zeigt — besteht. Sie stellt für ihn ein schwieriges Problem dar. Er versucht es folgendermaßen zu erklären: Die Tierwelt könne besonders wenig an den Formen, die durch den Begriff bestimmt sind, festhalten, d. h. ein in sich unabhängiges vernünftiges System von Organisation darstellen. Sie könne die Formen nicht gegen die Unvollkommenheit, Verkümmerung und Übergängen bewahren. Durch diese ,Schwäche des Begriffs in der Natur' wirkten äußerhche Zufälligkeiten röcht nur auf die Bildung der Individuen, sondern auch auf die Gattungen. Aber diese Einwirkung der Natur auf den Begriff enthalte ,fast nur Fremdartiges, sie übt eine dauernde Gewaltsamkeit und Drohung von Gefahren auf sein Gefühl aus, das ein unsicheres, angstvolles und unglückliches ist' (§ 370). Daraus ergibt sich, daß es ein philosophisch zu ergründendes System der Tiere nicht geben kann und die Stufen, die auf dem einen einzigen Typus Tier beruhen, nicht leicht zu erkennen sind. Wenn Hegel bei der Behandlung der Stufenfolge der Organismen, besonders im Tierreich von den verschiedenen Stufen des Typus Tier und seiner Entwicklung von der einfachsten bis zur vollendetsten spricht, so
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scheint darin die Vorstellung einer realhistorischen Entwicklung, einer Evolution enthalten zu sein. Aber audi dieser Gedanke wird von Hegel ausdrücklich abgelehnt. Schon in der Einleitung zur Naturphilosophie heißt es, daß ,das System von Stufen nicht so zu verstehen sei, daß die eine aus der andern natürlich erzeugt würde; die eine geht aus der anderen nur hervor in der inneren, den Grund der Natur ausmachenden Idee (§ 249). Die Vorstellung einer Entwicklxmg im realen Sinne wird als eine ungeschickte Vorstellung älterer und neuerer Naturphilosophie bezeichnet, dessen sich die denkende Betrachtung entschlagen müsse (§ 249). Trotz dieser deutlichen Formulierung wird das Stufensystem Hegels in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vielfach realhistorisch gedeutet. Im Hinblick auf die Stufenfolge der Organismen kommt das klar zum Ausdruck in dem Worte Nietzsches: „Denn ohne Hegel kein Darwin".
WOLFGANG JACOB (HEIDELBERG)
DER KRANKHEITSBEGRIFF IN DER DIALEKTIK VON NATUR UND GEIST BEI HEGEL Der außerordentlich komplexe Zusammenhang des Systems der Philosophie, in welchen bei Hegel der Krankheitsbegriff gestellt ist, setzt die Kenntnis des ganzen Hegelschen Systems voraus. ^ Es stellt sidi aber mit der Erörterung des Krankheitsbegriffs bei Hegel für uns nicht nur ein Problem historischer Art, sondern ein solches der Allgemeinen Krankheitslehre selbst. Hegel sagt in der Jenenser Realphilosophie des Jahres 1803: „Mit der Krankheit übersdireitet das Tier die Grenze seiner Natur, aber die Krankheit des Tieres ist das Werden des Geistes". Dem entspricht in der Heidelberger Enzyklopädie des Jahres 1817 die negative Feststellung, daß nicht nur „die Bildung der Individuen äußerlichen Zufälligkeiten. .. sondern auch die Gattungen ganz den Veränderungen des äußeren allgemeinen Naturlebens" unterworfen seien, „dessen Wechsel das Tier mit durchlebt und damit nur ein Wechsel von Gesundheit und Krankheit ist". Krankheit ist schlechthin die Folge dessen, was Hegel als den „Prozeß der Selbstvermittlung der Gattung mit sich durch ihre Diremtion in Individuen und das Aufheben ihres Unterschiedes" bestimmt. Gattung ist der Begriff „als konkretes Allgemeines”, und sie tritt „mit der Einzelheit der Subjektivität" — dem Individuum — „in Verhältnis und Prozeß"; m. a. W.: Die Krankheit des Individuums wird dem zugeordnet, was Hegel als Gattungsprozeß beschreibt, aber nicht nur in der faktischen Wirklichkeit dessen, was wir * In einer ersten Bearbeitung des — soweit idi sehe — in der gesamten HegelForsdmng bisher nicht erörterten Themas erscheint es notwendig, den allgemeineren Zusammenhang, in welchen Hegel in seinem System der Philosophie den Krankheitsbegriff stellt, durch eine ausführlichere Unterbreitung des Hegelschen Textes zu erläutern. Indessen hat sich — nimmt man zu dem Text der Paragraphen des Systems der Philosophie die Zusätze hinzu — gezeigt, daß allein die Wiedergabe des vorzulegenden Materials den Rahmen eines Kongreßvortrags sprengt. Es kann daher auch in der vorliegenden Studie nicht sehr viel mehr als ein Anfang des in der Bearbeitung des Themas zu tun Notwendigen gesehen werden; sie zeigt u. a., daß die Frage nach der Bedeutung des Krankheitsbegriffs im System der Philosophie Hegels zu Unrecht bisher vernachlässigt worden ist.
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naturwissenschaftlich als Gattungsprozeß beschreiben, sondern bestimmt durch den Begriff „als konkretes Allgemeines". Darum ist von Hegel in dem vorletzten Paragraphen (§ 375) der Naturphilosophie Krankheit als Bestimmung des tierischen Organismus zu dem Tod in eine Beziehung gesetzt und wird hier im Zusammenhang mit dem Begriff der negativen Allgemeinheit abgehandelt: „Diese negative Allgemeinheit ist zunächst die abstrakte, nach welcher das Tier eine endliche Existenz überhaupt ist und die Macht der Allgemeinheit in einer äußeren Wirklichkeit erscheint, welche gegen das Tier mechanische oder chemische Gewalt ausübt und es zerstört" (Anm. z. 2. Ausg.). Krankheit ist als „ursprüngliche Krankheit und der angeborene Keim des Todes" durch die „Unangemessenheit" des — tierischen — Individuums zur Allgemeinheit bestimmt. Der „Tod des Natürlichen" ist „das Aufheben dieser Unangemessenheit", in ihm ist „das letzte Außersichsein der Natur . . . aufgehoben", sie ist „in ihre Wahrheit übergegangen, in die Subjektivität des Begriffs". Zu dieser gehört als „deren Objektivität selbst die aufgehobene Unmittelbarkeit der Einzelheit, die konkrete Allgemeinheit", und in diesen Prozeß ist „der Geist" als Begriff gesetzt, welcher — wie Hegel sagt — „die ihm entsprechende Realität, den Begriff, zu seinem Dasein hat". Ist an diesem Punkte der Gattungsprozeß in der Vollendung des stufenförmig sich darstellenden Entwicklungsprozesses des tierischen Organismus als einer „lebendigen Allgemeinheit" abgeschlossen und hat so die „objektive Natur" als tierischer Organismus diejenige Vollendung erreicht, welche auch eine leibliche Bestimmung des Menschen ist, so fällt nunmehr die Bestimmung des Menschen selbst samt seinen Krankheiten unter die des „subjektiven Geistes", also in den dritten Teil der Enzyklopädie: die „Philosophie des Geistes". Hier sind die Bestimmungen der Seele in dem Abschnitt „Anthropologie" (§ 388—411) zusammengefaßt, und Hegel unterscheidet zwischen der „unmittelbaren Naturbestimmtheit" der natürlichen Seele, der fühlenden Seele, welche „als individuell in das Verhältnis zu diesem, ihrem unmittelbaren Sein" tritt und der wirklichen Seele, deren unmittelbares Sein „als ihre Leiblichkeit in sie eingebildet" ist „und sie darin als wirkliche Seele" (§ 390). Fortan läuft alle Bestimmung der Krankheit des Menschen bei Hegel hinaus auf ein Verhältnis der fühlenden Seele zu ihrer Leiblichkeit; dies auch dann, wenn „im Seelenleben .. . das bloß Seelenhafte des Organismus, von der Gewalt des geistigen Bewußtseins unabhängig werdend, sich die Funktion des letzteren anmaßt, und der Geist, indem er die Herrschaft
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über das zu ihm gehörige Seelenhafte verliert, seiner selbst nicht mächtig bleibt, sondern selber zur Form des Seelenhaften herabsinkt und damit das dem gesunden Geiste wesentliche objektive, — das heißt — durch Aufhebung des äußerlich Gesetzten vermittelte Verhältnis zur wirklichen Welt aufgibt". Wenn also das Seelenhafte — wie Hegel sagt — sich vom Geiste trennt, sich für sich setzt und sich „den Schein" gibt, „das zu sein, was der Geist in Wahrheit ist", so treten, ähnlich wie in dem organischen Bereich der Krankheit (der „Begriff der Krankheit" ist „dies, daß der Organismus an sich selbst so auseinandertritt.. ."), in der natürlichen Seele im Krankheitsprozeß ihre beiden Seiten, „das unvermittelte Verhältnis der fühlenden Seele zu deren individueller Welt und substantieller Wirklichkeit" und „die vermittelte Beziehung der Seele zu ihrer in objektivem Zusammenhang stehenden Welt", auseinander, indem diese in der Krankheit „zu gegenseitiger Selbständigkeit gelangen". Daß auch hier „Seelenkrankheit" prinzipiell nicht von „leiblicher Krankheit" geschieden werden kann, zeigt der Satz: „Die durch jene Trennung entstehende Seelenkrankheit ist aber mit leiblicher Krankheit nicht bloß zu vergleichen, sondern mehr oder weniger mit derselben verknüpft, weil bei dem Sichlosreißen des Seelenhaften vom Geiste, die dem letzteren sowohl als dem ersteren zur empirischen Existenz notwendige Leiblichkeit sich an diese zwei auseinandertretenden Seiten verteilt, sonach selber zu etwas in sich Getrenntem, also Krankhaftem wird." Die nur im tierischen Organismus verlaufende Krankheit ist demnach als Prozeß nicht grundsätzlich verschieden von jener, welche in der natürlichen Seele hervortritt als mit leiblicher Krankheit „verknüpft". Demnach bleibt Krankheit, wo immer sie erscheint, stets mit der Leiblichkeit verbunden. Aber die Induktion und die Richtung des Krankheitsprozesses führen zu einer jeweils ganz verschiedenartigen Bestimmung. Im einen Fall ist Krankheit die Tendenz zu einem Vollzug zur Aufhebung des Gattungsprozesses gegen den Tod, also ein Ansatz zur Überschreitung der Grenze der Natur („die Krankheit des Tieres ist das Werden des Geistes"); im anderen Fall ist Krankheit bestimmt als Trennung des „bloß Seelenhaften des Organismus .. . von der Gewalt des geistigen Bewußtseins". Im einen wie im anderen Fall wird eine Grenze erreicht, die von dem als Krankheit Erscheinenden, was übergehen soll, nicht von sich aus überschritten werden kaim. Für Hegel ist in jedem Fall die leibliche Bestimmung der Krankheit konstitutiv, wenngleich der Krankheitsprozeß als solcher mit allen Bereichen des Hegelschen Systems in Berührung steht oder von ihnen berührt wird.
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Das gilt expressis verbis für den Krankheitsprozeß im organischen Bereich bis hin zur anorganischen Materie, aber das gilt auch für die Krankheit des Menschen — etwa die Verrücktheit oder den Wahnsinn — in der Spaltung der fühlenden Seele von dem Geist, wenn Hegel hier ausdrücklich sagt: „Der Geist ist frei und darum für sich dieser Krankheit nicht fähig. Er ist von früherer Metaphysik als Seele, als Ding betrachtet worden; und nur als Ding, d. i. als Natürliches und Seiendes ist er der Verrücktheit, der sich in ihm festhaltenden Endlichkeit, fähig. Deswegen ist sie eine Krankheit des Psychischen, ungetrennt des Leiblichen und Geistigen; der Anfang kann mehr von der einen oder der anderen Seite auszugehen scheinen und ebenso die Heilung". Weder in dem Abschnitt über die „wirkliche Seele" noch in den weiteren Abschnitten der Philosophie des Geistes — etwa in der ,Phänomenologie' in dem Kapitel „Selbstbewußtsein" — kommt der Begriff Krankheit noch vor, wenngleich auch hier von Leiblichkeit des Selbstbewußtseins, von dem „Kampf des Anerkennens ... auf Leben und Tod" oder von den zerstörenden Kräften der „Begierde" (§ 428) die Rede ist. Wir hätten also die Verrücktheit und den Wahnsinn als diejenigen Krankheitserscheinungen zu betrachten, welche in dem Prozeß der Auseinandersetzungen des „ausgebildeten, verständigen Bewußtseins" mit dem „besonderen" Inhalt der Empfindung, Vorstellung, Begierde, Neigung u. s. f. zu einem Widerspruch des Subjekts, d. h. „seiner in seinem Bewußtsein systematisierten Totalität und der besonderen in derselben nicht flüssigen und nicht ein- und untergeordneten Bestimmtheit" kommt (§ 408). Es bleibt aber auch hier gültig der Bezug zum Leiblichen, wenn Hegel etwa den Wahnsinn beschreibt als „wesentlich den' Widerspruch eines leiblich, seiend gewordenen Gefühls gegen die Totalität der Vermittlung, welche das konkrete Bewußtsein ist". Erst in der Gewohnheit (§ 409) kommt die „für sich seiende Allgemeinheit" des Selbst gleichsam zum Vorschein als ein „besonderes Sein", als ein der Unmittelbarkeit der Seele entgegengesetzes, „abstraktes Fürsichsein". An diesem Punkt „bricht" wie Hegel sagt — die Seele mit ihrer Leiblichkeit, mit ihrem besonderen Sein, indem sie von dieser „als deren einfaches Sein" unterschieden ist, als „ideelle, subjektive Substantialität dieser Leiblichkeit", als eine „auf ihre reine Idealität zurückgesetzte Leiblichkeit, welche so der Seele als solcher zukommt" (§ 409). Damit ist noch nicht das Ich, als „die Existenz des für das Allgemeine seienden Allgemeinen" erreicht, aber doch das unmittelbare Sein der Seele — in gleicher leiblichen Verknüpfung — zurückgelassen und jener Prozeß in Gang gebracht, der die Leiblichkeit als solche zur Äußerlichkeit bestimmt als ein —
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„Zeichen" der Seele. Nunmehr hat die Seele „an ihrer Leiblichkeit ihre freie Gestalt", welche „als das Kunstwerk der Seele menschlichen, pathognomischen und physiognomischen Ausdruck hat" (§ 411). So kommt das „Fürsichsein der freien Allgemeinheit" als „das höhere Erwachen der Seele zum Ich" zustande und damit jene abstrakte Allgemeinheit als das Denken und Subjekt für sich. Der dialektische Prozeß in der Entfaltung der ,natürlichen' Seele zur ,wirklichen' ist damit in dem Bewußtsein abgeschlossen, und er setzt sich nunmehr in der Phänomenologie des Geistes fort. Wie aber verläuft die Verschiedenheit der Richtung und Induktion des Krankheitsprozesses selbst? Im organischen Bereich erscheint die Krankheit in ihrem dialektischen Verhältnis zu der Heilung, vermittelt durch die „Identität des ganzen organischen Prozesses" als ein „sukzessiver" Verlauf der Lebensbewegungen durdi seine unterschiedenen Momente, die Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion, als „Verlauf der Totalität gegen die vereinzelten Tätigkeiten ..." Das will sagen: Jener Segregationsprozeß, in welchem die Krankheit als eine einzelne „seiende Bestimmtheit" gegen das Ganze des Organismus Selbständigkeit gewinnt — wie ein „Rad in ihm sich zum Mittelpunkt macht" —, induziert eine Bewegung des Gesunden, welche im Fieber den „Verlauf der Totalität gegen die vereinzelte Tätigkeit" der Krankheit herstellt und damit „Versuch und Beginn der Heilung ist". So erregt auch das Heilmittel „den Organismus dazu, die besondere Erregung, in der die formelle Tätigkeit des Ganzen fixiert ist, aufzuheben und die Flüssigkeit des besonderen Organs oder Systems in das Ganze herzustellen." Dieser Begriff der „Flüssigkeit", des „Flüssig"-seins oder -bleibens des gesunden Organismus wird auch im seelischen Bereich analog gebraucht, er entspricht einer allgemeinen Vorstellung der sich durchsetzenden und den leiblichen Organismus im „Flüssigen" haltenden Lebenskraft aus der Medizin jener Zeit. Heilung ist im organischen Bereich Aufheben des Krankheitszustandes, in welchem der Organismus sich „in sich entzweit" und „in sich selbst zu einem doppelten gemacht" ist, „als Lebenskraft und kranker Organismus". Auch die Heilung des Wahnsinns oder der Verrücktheit kann nur erfolgen, weil in der Verrücktheit nicht jede Vernunft verloren ist, sondern „nur Widerspruch in der noch vorhandenen Vernunft", analog — wie Hegel hier ausdrücklich amnerkt — zur physisdien Krankheit, welche ebenfalls nicht „abstrakter, d. i. gänzlicher Verlust der Gesundheit (ein solcher wäre der Tod), sondern ein Widerspruch in derselben ist." ^
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Es wird aber noch nach einer anderen Richtung das für die Verrücktheit charakteristische Negative, nämlich das „Beisichsein des Geistes im negativen Sein seiner selbst" erörtert und zwar als ein Unterscheiden der Seele als Bewußtsein, eintretend „in die Sphäre der Endlichkeit und Zufälligkeit, des Sich-selber-äußerlichen, somit Vereinzelten". Hegel erläutert in diesem Zusammenhang die Tätigkeit des Verstandes und der Vernunft, und es ist ohne die „begreifende Vernunft" jene Identität des Ich nicht erreichbar, in welcher der von Hegel zitierte Satz des Spinoza gilt: „Ordo rerum adque idearum idem est". Erst aus der begreifenden Vernunft erwächst für den Menschen die Möglichkeit, sich in einer „vollkommenen Abstraktion des Ich zu erfassen". Der Mensch habe damit zugleich — so sagt Hegel — „das Vorrecht der Narrheit und des Wahnsinns". Es ist die Tätigkeit der begreifenden Vernunft, Besonnenheit zu üben, d. h. „alles an die Seele kommende an die rechte Stelle zu setzen, in jeder seiner Vorstellungen sich selber vollkommen gegenwärtig zu bleiben". Das in der begreifenden Vernunft gedachte Wahre als eine „vollkommene Einheit des Gedachten und des Seienden" zerfällt in der Verrücktheit in die Beliebigkeit der Vorstellungen eines völlig unbestimmten Ichs und die von solcher Vorstellung gänzlich verschiedene „Äußerlichkeit" und damit in eine „absolute Ceschiedenheit" des Subjektiven und Objektiven. Kurzum, Verrücktheit ist „eine zugleich geistige und leibliche Krankheit um deswillen . . ., weil in ihr eine noch ganz unmittelbare, noch nicht durch die unendliche Vermittlung hindurchgegangene Einheit des Subjektiven und Objektiven herrscht — das von der Verrücktheit betroffene Ich —, so scharf diese Spitze des Selbstgefühls auch sein mag, noch ein Natürliches, Unmittelbares, Seiendes ist, folglich in ihm das Unterschiedene als ein Seiendes fest werden kann; oder, — noch bestimmter — weil in der Verrücktheit ein dem objektiven Bewußtsein des Verrückten widersprechendes besonderes Gefühl als etwas Objektives gegen jenes Bewußtsein festgehalten, nicht ideell gesetzt wird, — dies Gefühl folglich die Gestalt eines Seienden, somit Leiblichen hat —, dadurch aber in dem Verrückten eine von seinem objektiven Bewußtsein nicht überwundene Zweiheit des Seins, ein seiender, für die verrückte Seele zur festen Schranke werdender Unterschied sich hervorbringt". Nur an einer einzigen Stelle (Zusatz zu § 408) ist bei Hegel der Kranl * Hegel bezieht sidi hier auf den berühmten zeitgenössischen französischen Psychiater Pinel, dessen Therapievorschläge der Verrücktheit in § 408 ausdrüddidi erwähnt und in einem Zusatz ausführlich abgehandelt werden.
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heitsbegriff in eine überindividuelle Beziehung gebracht, nämlich dort, wo Hegel sagt, „daß das Moralische vor dem Sittlidien betrachtet werden" müsse, „obgleich jenes gewissermaßen nur als eine Krankheit an diesem sich hervortut." So wie in der Rechtsphilosophie der dialektische Fortgang des abstrakten und moralischen Willens zu dem konkreten sittlichen Willen sich fortentwickelt und die Familie und die bürgerliche Gesellschaft zu dem Staat in ganz dem gleichen dialektischen Verhältnis stehen, so setzt Hegel an der genannten Stelle die Fortentwiddimg des Moralischen zu dem Sittlichen in eine analogische Beziehung zum Krankheitsbegriff, aber zugleich in ein Verhältnis zur Verrücktheit, dergestalt, daß diese letztere als „festgehaltene Abstraktion" gegen das „konkrete objektive Bewußtsein des Verrückten" gesetzt und „vor diesem Bewußtsein" zu erörtern war. Der Begriff der Verrücktheit „als das Äußerste des Krankheitszustandes'', in welchen der Verstand „versinken kann", berührt an diesem Punkt die Sphäre, in welcher der dialektische Prozeß der Seele in ihrer Gestalt des „abstrakten natürlichen Selbstes" gegen den „konkreten freien Geist" fortschreitet. Soweit der Bericht über den Krankheitsbegriff bei Hegel. Welches aber sind die Konsequenzen für eine gegenwärtige Allgemeine Krankheitslehre? Der Begriff der Naturwissenschaft, welcher gegen Ende des 19. Jahrhunderts einer radikalen Reduktion auf Zähl- und Meßbares verfällt, enthält bis zu diesem Zeitpunkt noch die Kategorien: Gestalt — Leben — Mensch — Gesellschaft — Geschichte. Sie sind in dem Begriff Naturwissenschaft als Wissenschaft „der Natur" noch wie selbstverständlich enthalten. Der Naturbegriff jedoch, welcher einer heutigen Medizin zugrunde liegt, muß als ein rein positivistischer bezeichnet werden und kommt so in dem System Hegels nicht vor. Er ist mit dem Naturbegriff bei Hegel schlechthin inkompatibel. Nicht etwa, daß Hegel ihm nicht einen Platz in seinem System anzuweisen gewußt hätte: man kaim ihn unter das subsumieren, was Hegel über den Materialismus selbst sagt. Indessen ist Hegels Wissenschaft der Natur, sein Begriff ,Natur' diametral verschieden von dem isoliert-naturwissenschaftlichen Denken, welches seit dem Ende des 19. Jahrhunderts die Medizin fast ausschließlich beherrscht und prägt. Krankheit — als isoliert-naturwissenschaftliche Bestimmung der heutigen Medizin — ist nichts anderes als Abweichung von einem als normal erkannten, wie inuner gestalteten oder geregelten materiellen Prozeß, und eine solche Bestinunung der Krankheit erweist sich damit als völlig verschieden von jener, welche sich am Leben orientiert und von dem Corpus Hippocraticum der griechischen Klassik durch das gesamte Mittelalter bis
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gegen Ende des 19. Jahrhunderts fortläuft, dann jedoch einer radikalen positivistischen Reduktion verfällt. Das in der gegenwärtigen Naturwissenschaft vornehmlich geltende Postulat, bezogen auf den Wirklichkeitsbereich einer heutigen, fast ausschließlich technisch-operational orientierten Medizin, würde in dem Satz zusammenzufassen sein: „Allein, was machbar ist, ist wahr." Eine solche Aussage in Hinsicht auf den Krankheitsbegriff erscheint gegenüber den von Hegel präzise gefaßten Bestimmungen der Krankheit wie absurd; indessen würde sie selbst gegen das Hegelsche System den Vorwurf des „Idealismus" erheben. Denn sie glaubt, mit dem Argument des unendlichen Progresses der Naturwissenschaft und Technik — den hier noch unentfalteten, aber unbegrenzten Möglichkeiten — den Erfolg der Bewältigung schließlich aller Kräfte der Natur und damit auch der Krankheiten sich zumessen zu können, gerade unter Absehung von dem Begriff des Geistes, der „für uns die Natur zu seiner Voraussetzung" hat, „deren Wahrheit, und damit deren absolut Erstes er ist". Der Gegensatz von Natur und Geist, wie ihn die analytische Wissenschaftstheorie setzt, sieht von den Begriffen ,Geist' und ,Natur', wie Hegel sie in seinem System in ein Verhältnis zueinander setzt, ab; sie werden als Glaubenssätze diffamiert. Das Denken jedoch, von den Materialisten des ausgehenden 18. Jahrhunderts als „ein Resultat des Materiellen" auf gef aßt, verwechselt — wie Hegel sagt — die Ursache mit der Wirkung, indem „dasjenige, dessen Resultat das Denken sein soll, in diesem vielmehr aufgehoben ist." Für eine Allgemeine Krankheitslehre, d. h. eine Lehre vom kranken Menschen, bedeutet aber der Satz, daß der Geist „für uns die Natur" zu seiner „Voraussetzung" habe, „deren Wahrheit, und damit deren absolut Erstes" er sei, nicht das Absurde einer abstrakten Zielsetzung eines in Wirklichkeit blinden operationalen Fortschrittes, sondern er bezeichnet jenes Grundverhälttiis, welches besagt, „daß wir mit allen Lebewesen uns in einer Abhängigkeit befinden, deren Grund selbst nicht Gegenstand der Erkenntnis werden kann". Daß aber Krankheit in der Natur des Menschen einen Wandel schafft, in welchem etwas Neues sich anzeigt „wie bei einer Schöpfung", daß sie demnach nicht nur „eine Konsequenz von früher Geschehenem" ist, sondern etwas ganz Neues, Überraschendes enthält, eine Prolepsis der auf uns zukommenden Wirklichkeit, fällt nicht mehr unter die Bestimmungen des Hegelschen Systems. * ® Diese Sätze Viktor v. Weizsädcers eröffnen ein Untersuchungsfeld für die entscheidende Frage, ob der systematische Ansatz bei Hegel ein in dem kranken Menschen gänzlich neu sich Zeigendes überhaupt zuläßt, oder ob die bloße Behauptung einer Geschlossenheit des Hegelschen Systems auch hier einer entsdceidenden Revision unterzogen werden muß.
Kolloquium II PHILOSOPHISCHE SPEKULATION UND CHRISTLICHE THEOLOGIE
WOLFHART PANNENBERG (MÜNCHEN)
DIE BEDEUTUNG DES CHRISTENTUMS IN DER PHILOSOPHIE HEGELS
1. Zu den grundlegenden Bedingungen der neuzeitlichen Lebenswelt gehört die Lockerung der engen Bindungen, die im Mittelalter zwischen Kirche und Gesellschaft bestanden hatten. Will man diesen außerordentlich komplexen, weiträumigen und in verschiedenen Ländern unterschiedlich schnell fortschreitenden Prozeß vereinfachend auf ein einzelnes auslösendes Ereignis zurückführen, so muß sich der Blick auf die Reformation richten, und zwar in erster Linie auf ihre unbeabsichtigten weltgeschichtlichen Konsequenzen: Die abendländische Kirchenspaltung und die in ihrem Gefolge für über ein Jahrhundert die europäischen Nationen lähmenden Glaubenskriege riefen nach einer Emanzipation des Staates und seines Rechtes von den kontroversen Ansprüchen der Konfessionskirchen. Dadurch gewannen die weit in das Mittelalter zurüdcreichenden Tendenzen zur Ausbildung einer rein weltlichen Kultur einen Boden, auf dem sie sich frei entfalten und sich ihrerseits lösen konnten von den Autoritätsansprüchen der konfessionell zersplitterten Kirchen. Der hier angelegte Zwiespalt von kirchlichem Christentum und moderner Lebenswelt hat sich immer wieder antagonistisch zugespitzt, weil keine der beiden Seiten auf die eine und unteilbare Wahrheit Verzicht leisten konnte. Auf der einen Seite ging es um Emanzipation von kirchlicher Vormundschaft und um Beseitigung kirchlicher Privilegien, auf der anderen Seite um die Selbstbehauptung des kirchlichen Christentums gegen den Geist der Moderne. Dieser Dualismus von kirchlichem Christentum und moderner Lebenswelt hat das Problembewußtsein Hegels seit den Jahren seines Tübinger Theologiestudiums geprägt. Dabei wußte sich der junge Hegel keineswegs als Anwalt für den Bestand eines kirchlichen Christentums, weder im Sinne orthodoxer Selbstabschließung, noch auch durch Anpassung der religiösen Überlieferung an den Geist der Aufklärung. Hegel konzentrierte sich auf die religiöse Thematik, weil sie ihm unerläßlich schien für
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eine Lösung der Probleme der modernen Gesellschaft. Von früh an hat Hegel das eigentümliche Wesen der modernen Welt zu tief erfaßt, um mit der radikalen französischen Aufklärung eine Loslösung vom überlieferten Christentum bereits als Emanzipation im Sinne einer Befreiung des Menschen einschätzen zu können. Schon in seinen von Nohl unter dem Titel „Volksreligion und Christentum" herausgegebenen Aufzeichnungen hat Hegel vielmehr das Problem der Gesellschaft selbst als ein religiöses Problem erkannt. Deshalb ist es müßig, bei der Interpretation der Jugendschriften Hegels sein gesellschaftspolitisches Interesse gegen das religiöse geltend zu machen oder umgekehrt. Das Thema der politischen Emanzipation ist selbst in seinem Zentrum ein religiöses: Mit dieser Einsicht unterscheidet sich Hegel nicht nur von der bilderstürmerischen Religionskritik der französischen Aufklärung, sondern auch von den seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten und bis heute dominierenden Versuchen, das Verhältnis von Christentum und Neuzeit durch den Begriff der Säkularisierung zu beschreiben, also als ein Fortwirken ursprünglich christlicher Motive, die aber dabei ihre religiöse Form verloren haben. Hegel hielt gerade die religiöse Form selbst für unverzichtbar im Interesse der gesellschaftlichen Emanzipation. Der Stuttgarter Gymnasiast drückte das so aus, daß der „gemeine Mann" nicht durch Wissenschaften und Künste, sondern nur durch Religion der Aufklärung teilhaftig werden könne Der Tübinger Theologiestudent sagte es in der Sprache der Moralphilosophie Kants: Die Religion gebe „der Moralität und ihren Beweggründen einen neuen erhabenem Schwung" Einige Jahre später hat Hegel sich kritisch gegen Kants Begriff der Moralität gewendet, und von da an faßte er den Begriff der Religion tiefer als Erhebung „vom endlichen Leben zum unendlichen Leben", d. h. zu jenem „Geist des Ganzen", in welchem alles im Leben Getrennte und Entgegengesetzte vereinigt ist Doch auch die so bestimmte Religion blieb für Hegel mit der politischen Thematik verbunden. So heißt es 1821 in der Religionsphilosophie, die Religion sei das den Staat „für das Tiefste der Gesinnung integrierende Moment" Da nämlich die Religion die absolute Wahrheit zu ihrem Inhalt habe, so „fällt auch das Höchste der Gesinnung in sie ... Staat und Gesetze, wie die Pflichten, erhalten in diesem Verhältnis für das Bewußtsein die höchste Bewährung und die Dokumente zu Hegels Entwicklung ed. J. Hoffmeister, 1936, 37. Theologische Jugendschriften ed. H. Nohl, 1907, 5. 3 Nohl 347. * Grundlinien der Philosophie des Rechts ed. J. Hoffmeister (PhB 124 a) § 270, p. 225; vgl. Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion I ed. Ph. Marheineke, Jubiläumsausgabe der sämtlichen Werke Hegels Band XV, 116. ‘
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höchste Verbindlichkeit; denn selbst Staat, Gesetze und Pflichten sind in ihrer Wirklichkeit ein Bestimmtes, das in eine höhere Sphäre als in seine Grundlage übergeht" Hegel hat die Wirklichkeit des Staates also auch noch in der Rechtsphilosophie durchaus als eine endliche und beschränkte angesehen, obwohl ihm der Staat im Prinzip — übrigens ganz im Sinne der seine Jugendschriften beherrschenden Fragestellung — „göttlicher Wille als gegenwärtiger, sich zur wirklichen Gestalt und Organisation einer Welt entfaltender Geist" war ®. Die Endlichkeit und Beschränktheit der sittlichen Wirklichkeit des Staates begründet die Notwendigkeit der Religion für den Staat. Das Verhältnis der Religion zum Staat ist dabei keineswegs nur das der höheren Beglaubigung und Rechtfertigung. Es kann auch kritischen Sinn haben, wie Hegels Äußerungen über diejenigen Staaten, in denen das christliche Prinzip der Freiheit noch nicht zur vollen Auswirkung gekommen ist, erkennen lassen. So oder so aber geht das religiöse Bedürfnis aus der Erfahrung der Schranken der politischen Wirklichkeit hervor, und in diesem Sinne konnte Hegel noch in seiner Enzyklopädie 1827 schreiben, Kant habe mit Recht die religiöse Erhebung zum Glauben an Gott als „aus der praktischen Vernunft hervorgehend" betrachtet „Die wahrhafte Religion und wahrhafte Religiosität geht nur aus der Sittlichkeit hervor und ist die denkende d. i. der freien Allgemeinheit ihres konkreten Wesens bewußtwerdende Sittlichkeit", wie umgekehrt die Sittlichkeit selbst nichts anderes ist als „der göttliche Geist als inwohnend dem Selbstbewußtsein in dessen wirklicher Gegenwart als eines Volkes und der Individuen desselben" (ebd.). Allerdings ist für Hegel die religiöse Erhebung zu Gott nicht mehr wie für Kant eine bloße Konsequenz oder ein Postulat (ebd.) aus einer für sich selbst feststehenden Sittlichkeit. Vielmehr ist „das wahrhaft Sittliche Folge der Religion", wie es in der dritten Ausgabe der Enzyklopädie 1830 im gleichen Zusammenhang heißt. Darum, obwohl die religiöse Erhebung ihren „Ausgangspunkt" in der Sphäre der Sittlichkeit — und das heißt für Hegel immer: im konkreten gesellschaftlichen Leben — hat, ist die religiöse Thematik als „Bewußtsein des absolut Wahren" doch in sich selbst gegründet und zieht ihre Berechtigung keineswegs nur aus ihrer praktischen Relevanz für Moralität und öffentliche Sittlichkeit. Die Religion hat für Staat und Gesellschaft in der Sicht des reifen Hegel gerade darum fundamentale Bedeutung, weil sie nicht erst durch ihre Funktion * Grundlinien der Philosophie des Rechts § 270. • ebd. p. 222. ’ Encyklopädie der Philosophischen Wissenschaften im Grundrisse ed. J. Hoffmeister (PhB 33), § 552.
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und also durch eine ihr äußerliche Nützlichkeit gereditfertigt werden muß, sondern „die absolute Wahrheit zu ihrem Inhalt" hat. Das sittliche Leben der Gesellschaft und der Staat sind nach der Enzyklopädie so sehr vom religiösen Bewußtsein des Volkes abhängig, daß Hegel sagen kann: „so lange nicht die wahrhafte Religion in der Welt hervortritt und in den Staaten herrschend wird, so lange ist nicht das wahrhafte Prinzip des Staates in die Wirklichkeit gekommen". Platon habe diesen Sachverhalt noch nicht gesehen, weil er noch nicht die subjektive Gesinnung als den Ort der Religion und ihrer politischen Bedeutung erkannt habe, wie ja überhaupt sein Staat noch „ohne die subjektive Freiheit" konzipiert sei. Die subjektive Freiheit und damit auch die Subjektivität der sittlichen Gesinnung als Trägerin der politischen Relevanz der Religion ist für den reifen Hegel erst die weltgeschichtliche Wirkung des Christentum gewesen. In Hegels Anfängen liest sich das noch anders. In den frühen Aufzeichnungen über Volksreligion und Christentum heißt es im Gegensatz zu den bestehenden Formen des Christentums von der Hegel vorschwebenden Volksreligion, sie gehe „Hand in Hand mit der Freiheit" ®, und Hegel orientierte sich bei der Ausmalung dieses Ideals nicht am Christentum, sondern am Vorbild der griechischen Religion. Später hat Hegel dagegen die Beschränktheit der griechischen Freiheit hervorgehoben, ihre Abhängigkeit von äußerlichen Umständen, besonders vom Zufall der Geburt und der glücklichen Bewahrung von der Sklaverei. In der Berliner Einleitung zur Geschichte der Philosophie (1820) schreibt Hegel, die Griechen und Römer wußten „nicht, daß der Mensch als Mensch frei ist". Erst „in der christlichen Religion kam die Lehre auf, daß vor Gott alle Menschen frei sind, daß Christus die Menschen befreit hat, vor Gott gleich, zur christlichen Freiheit befreit. Diese Bestimmungen machen die Freiheit unabhängig von Geburt, Stand, Bildung usf.. ." ®. Hegel nennt diese mit dem Christentum in die Welt gekommene Freiheit auch „das Prinzip der absoluten Freiheit in Gott" denn diese subjektive Freiheit in ihrer von den äußeren Lebensumständen unabhängigen Gewißheit ist begründet in der Einheit des Menschen mit Gott, wie sie durch Christus offenbart worden ist Weil die durch das Christentum eröffnete Freiheit 8 Nohl 27. “ Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie: I. System und Geschichte der Philosophie ed. J. Hoffmeister, 1940 (PhB 166), 63; vgl. Philosophie der Geschichte ed. F. Brunstäd (Reclam), 1961, 339, 459. Philosophie der Geschichte, a. a. O. 459. Freiheit in diesem Sinne „kann nur da sein, wo die Individualität als positiv im göttlichen Wesen gewußt wird" (ebd. 101). ** Geschichte der Philosophie I, 245 f.
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in der Teilhabe des Menschen an Gott begründet und so allgemein ist wie der eine Gott der Gott aller Menschen ist, darum gehören die allgemeine Freiheit des Menschen als Menschen und das christliche Inkarnationsdogma für Hegel auf das engste zusammen. Hegels Wendung zu einer positiven Würdigung des christologischen Dogmas, in dem er nicht wie Kant nur eine Illustration für einen allgemeinen Sachverhalt der Vernunft gesehen hat, sondern den treffenden Ausdruck der weltgeschichtlichen Wende, zu der hin und von der her alle Geschichte datiert, hängt mit der Erkenntnis seiner Verbundenheit mit der Geschichte der Freiheit zusammen. Diese Erkenntnis findet sich noch nicht in den theologischen Jugendschriften Hegels. Sie begegnet erst in der Phänomenologie des Geistes. Nodi dunkel und rätselhaft deutet sie sich an in dem berühmten Kapitel über das unglückliche Bewußtsein, das des abstrakten Charakters der stoischen und der skeptischen Freiheit gewahr ist und weiß, daß es seine Freiheit und seine Wahrheit nicht unabhängig von den Zuständen der Welt haben kann. Das Unglück dieses Bewußtseins besteht darin, daß es sich getrennt weiß von dem, was sein Wesen und seine Wahrheit sein könnte. Eigenartigerweise hält sich in der Hegelforschung bis heute die auf den Linkshegelianismus zurückgehende Auffassung, dieser Begriff des unglücklidien Bewußtseins beschreibe das Christentum mit seinem Jenseitsglauben Die Religionskritik der Hegelschen Linken fand im Phänomen des unglücklichen Bewußtseins, das sein eigenes Wesen als ein fremdes von sich geschieden denkt, das Modell der Religion überhaupt. Doch für Hegel ist das unglückliche Bewußtsein eine geschichtliche Gestalt des Geistes, die er in seinen Anfängen mit der jüdischen Religion, später auch mit dem Geist der römischen Kaiserzeit verknüpfte und die durch das Christentum zuminSo beispielsweise G. Lukäcs, Der junge Hegel und die Probleme der kapitalistischen Gesellschaft (1948) Berlin 1954, 546 f. Ebenso A. Kojeve, Hegel (dt. 1958), 55 f., 62 ff., 65 u. ö. Schon R. Haym fand im unglücklichen Bewußtsein „eine Charakteristik der kirchlichen und mönchischen Ethik des mittelalterlichen Christentums" (Hegel und seine Zeit, 1857, 238). Dagegen hat J. Hyppolite, La Phenomenologie de l'esprit I, 1939, 176—92 auf den Zusammenhang des „unglücklichen Bewußtseins" bei Hegel mit der jüdischen Religion hingewiesen (178 Anm. 24). Vorlesungen über die Philosophie der Religion II ed. Ph. Marheineke, Jubiläumsausgabe Band XVI, 185 ff. 273 ff., Philosophie der Geschichte ed. Brunstäd 440 und 442 ff., wo gegenüber der römischen Welt die positive Bedeutung der jüdischen Erfahrung des unendlichen Schmerzes herausgestellt wird, gegenüber Nohl 260 und 373: Dort gilt die mosaische Religion als „eine Religion aus Unglück und fürs Unglück, nicht fürs Glück, das frohe Spiele will; der Gott zu ernsthaft ... eine Religion des Unglücks, denn im Unglück ist die Trennung vorhanden, da fühlen wir uns als Objekte und müssen zum Bestimmenden fliehen — im Glück ist diese Trennung verschwunden".
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dest im Prinzip überwunden ist. Denn das Prinzip des Christentums ist ja nicht die Entzweiung und Trennung des Göttlichen und des Menschlichen, sondern die Versöhnung dieses Gegensatzes in der Einheit von Gott und Mensch. Das unglückliche Bewußtsein dauert im Christentum nur insofern noch fort, als „der einfache Inhalt der absoluten Religion", nämlich die „Menschwerdung des göttlichen Wesens" im christlichen Glauben zunächst nur an der vereinzelten Gestalt Jesu angeschaut und als die Besonderheit seiner Person aufgefaßt, aber noch nicht in ihrer allgemeinen Tragweite erfaßt worden ist; „. . .die ganze folgende Geschichte ist erst die Realisation dieser konkreten Freiheit." In der Kirche der christlichen Frühzeit und des Mittelalters hat „das Licht der unendlichen Freiheit . .. noch nicht das Weltliche durchschienen" ^®. Das „religiöse Prinzip, das dem Herzen der Menschen einwohnt", muß aber „auch als weltliche Freiheit hervorgebracht" werden Den entscheidenden Schritt dazu hat nach Hegel die Reformation getan. Hegel hat erstaunlich treffsicher den Zusammenhang von Rechtfertigungsglauben und christlicher Freiheit bei Luther erkannt: Indem der Glaubende alle eigene Gerechtigkeit aufgibt, erlangt er im Glauben Anteil an Christus und an seiner Gerechtigkeit und damit Anteil an der Gerechtigkeit Gottes. In Hegels Worten heißt das; „das Subjekt selbst soll ein wahrhaftes werden, indem es seinen partikularen Inhalt gegen die substantielle Wahrheit aufgibt und sich diese Wahrheit zueigen macht" Durch Preisgabe der eigenen Endlichkeit und Partikularität gewinnt der Mensch teil an Gott. Was bisher als Besonderheit Christi galt, das ist nun durch den Glauben an ihn allgemein geworden: die Vereinigung des Menschen mit Gott und darin die Freiheit von aller äußerlichen Bindung und Autorität. Die Versöhnung als Überwindung des unglücklichen Bewußtseins wird innerhalb des Kapitels p. 160 (Phänomenologie des Geistes ed. J. Hoffmeister, PhB 114) und 163 erwähnt. Die späteren Rüdeverweise auf das unglückliche Bewußtsein, vor allem 523 ff. und 533, lassen ebenfalls erkennen, daß dieses Bewußtsein zwar den Ausgangspunkt („das gemeinschaftliche Geburtswehe" 525) für das Christentum bildet, von diesem selbst aber zu unterscheiden bleibt. Auch die Anklänge an christliche Motive (so 166 oben an die Inkarnation, 169 an den Mittlergedanken) treten in jenem Kapitel nach der späteren Erklärung nur „in der Bestimmung des aus dem Bewußtsein hervorgebrachten und ersehnten Inhalts, worin der Geist sich nicht ersättigen, noch Ruhe finden kann, weil er noch nicht an sich oder als seine Substanz sein Inhalt ist" (533) auf, obwohl der Inhalt der offenbaren Religion dabei „zum Teil schon ... vorgekommen" ist (ebd.). a. a. O. 528. Philosophie der Geschichte ed. Brunstäd 457, vgl. Vorlesungen über die Philosophie der Religion, XVI, 145 f., 253 ff. u. ö. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte 461. ebd. 558.
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In der Vernunftautonomie des aufgeklärten Geistes und in der politischen Freiheit der französischen Revolution hat Hegel Wirkungen des reformatorischen Kerngedankens der christlichen Freiheit erblickt. Dabei hat er den Unterschied nicht übersehen, daß die Freiheit in Gott bei Luther noch gebunden war an eine vorgegebene religiöse Autorität, während die Aufklärung allein die eigene Einsicht und Überzeugung gelten läßt Aber der Übergang vom reformatorischen Freiheitsgedanken zur vernünftigen und weltlichen Freiheit der Aufklärung erschien Hegel als ein innerlich notwendiger Schritt. Das reformatorische Prinzip der Selbständigkeit des einzelnen im Glauben gegenüber aller menschlicher Autorität mußte zur Vernunftautonomie der Aufklärung führen. Erst in ihr und in der aus ihr hervorgehenden politischen Freiheit hat die christliche Freiheit der Reformation ihre welthafte Realisierung gefunden. Wiederum hat Hegel durchaus gesehen, daß diese Wirkungsgeschichte des reformatorischen Freiheitsgedankens nicht geradlinig, sondern auf eigentümlichen Umwegen verlaufen ist. Erst die Kirchenspaltung hat die Emanzipation des Staates von der religiösen Autorität der Kirchen ermöglicht, die zum Boden für die gegenüber „den besonderen Kirchen" verselbständigte Freiheit des Gedankens und auch der Religion selbst — im Sinne der Toleranz anderen Bekenntnissen gegenüber — geworden ist. So kann Hegel in der Rechtsphilosophie sogar die Kirchenspaltung als eine notwendige Bedingung der Realisierung der christlichen Freiheit deuten: „Es ist daher so weit gefehlt, daß für den Staat die kirchliche Trennung ein Unglück wäre oder gewesen wäre, daß er nur durch sie hat werden können, was seine Bestimmung ist, die selbstbewußte Vernünftigkeit und Sittlichkeit. Ebenso ist es das Glücklichste, was der Kirche für ihre eigene und was dem Gedanken für seine Freiheit und Vernünftigkeit hat widerfahren können" Auf diesem Umweg, der in der Perspektive eines heutigen ökumenischen Bewußtseins allerdings wohl kaum noch so vorbehaltlos als in jeder Hinsicht notwendig und glücklich bezeichnet werden dürfte, ist die geistige und politische Freiheit der Moderne aus dem Christentum hervorgegangen. Diese historische Feststellung gewinnt ihr volles Ge„Luther hatte die geistige Freiheit und die konkrete Versöhnung erworben, er hat siegreich festgestellt, was die ewige Bestimmung sei, müsse in ihm selber Vorgehen. Der Inhalt aber von dem, was in ihm vorgehen und welche Wahrheit in ihm lebendig werden müsse, ist von Luther angenommen worden, ein Gegebenes zu sein, ein durch die Religion Offenbartes. Jetzt ist das Prinzip aufgestellt worden, daß dieser Inhalt ein gegenwärtiger sei, wovon ich mich innerlich überzeugen könne, und daß auf diesen inneren Grund alles zurückgeführt werden müsse." ebd. 587. Dazu mit weiteren Belegen K. Löwith, Hegels Aufhebung der christlichen Religion, HegelStudien Beiheft 1, 1964, 193—236, bes. 222 f. Grundlinien der Philosophie des Rechts § 270.
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wicht jedoch erst durch die weitere These, daß es sich dabei keineswegs nur um zufällige historische Anfangsbedingungen einer nunmehr in sich selbst begründeten Wirklichkeit handle. Die Freiheit des sittlichen Staates hat nach Hegel vielmehr auch weiterhin ihre eigentliche Substanz in der christlichen „Freiheit in Gott" Eine solche Behauptung ist angesichts der vielfältigen Spannungen zwischen dem Geist der Neuzeit und dem traditionellen Christentum alles andere als selbstverständlich. Doch erst mit diesem Gedanken überschreitet Hegel den Umkreis der Theorien, die die Moderne als Emanzipation von ihren christlichen Ursprüngen deuten. Hegel hat zuerst in der Phänomenologie des Geistes die bleibende Bindung der geistigen Freiheit der Aufklärung an den im Glauben bewahrten absoluten Inhalt begründet. Indem die „reine Einsicht" der Aufklärung sich zum Inhalt des Glaubens nur negativ verhält „und ihn noch nicht als sich selbst weiß, verkennt sie sich in ihm" und wird „Unwahrheit und Unvernunft" Die aufgeklärte Kritik zeigt zwar mit Recht in den Vorstellungen des Glaubens deren Endlichkeit auf aber indem sie überhaupt alle Bestimmtheit, „d. h. allen Inhalt und Erfüllung desselben auf diese Weise als eine Endlichkeit, als menschliches Wesen und Vorstellung begreift, wird ihr das absolute Wesen zu einem Vakuum, dem keine Bestimmungen, keine Prädikate beigelegt werden können" und so gerät die aufgeklärte Kritik des Glaubens in die „Plattheit" und den Widerspruch, daß sie vorgibt, „nur von der Endlichkeit, und zwar sie als das Wahre, und dies Wissen von derselben als dem Wahren als das Höchste zu wissen" Für Hegel war es dabei von untergeordneter Bedeutung, ob die den Gottesgedanken entleerende Religionskritik ihn in seiner leeren Allgemeinheit bestehen ließ und nur das Nichtwissen des Menschen von Gott betonte oder ob sie den Gottesgedanken überhaupt ablehnte. In beiden Fällen handelt es sich um „Gleichgültigkeit gegen die Religion, die man entweder dahingestellt sein und auf sich beruhen läßt oder endlich bekämpft", und der späte Hegel fügt hinzu: „Das ist die Consequenz seichter Seelen" Indem so der Verstand das Wissen auf endliche Gegenstände reduziert s. o. Anm. 10 Phänomenologie des Geistes ed. Hoffmeister 389, vgl. 401 f. ebd. 406, vgl. 393. ebd. 397. ebd. 400, vgl. Vorlesungen über die Philosophie der Religion, XVI, 32 f. Vorlesungen über die Philosophie der Religion, XVI, 51, vgl. 186 f. bes. 187: „Auf jenem inhaltlosen Standpunkt hingegen ist gar keine Religion möglich, denn ich bin das Affirmative, während die an und für sich seiende Idee in der Religion schlechthin durch sich, und nicht durch mich, gesetzt sein muß: es kann also hier keine Religion sein, so wenig als auf dem Standpunkt des sinnlichen Bewußtseins."
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und das göttliche Wesen des Glaubens in seine endlichen Elemente auflöst, gerät das moderne Freiheitsbewußtsein der reinen Einsicht in eigentümliche Parallele zum unglücklichen Bewußtsein der antiken Welt. Es erleidet „das tragische Schicksal der an und für sich sein sollenden Gewißheit seiner selbst". Dieses tragische Schicksal der reinen Einsicht besteht darin, daß sie untergeht mit der Negation der ihr Selbstsein tragenden substantiellen Wahrheit: „Es ist das Bewußtsein des Verlustes aller Wesenheit in dieser Gewißheit seiner und des Verlustes eben dieses Wissens von sich — der Substanz wie des Selbst, es ist der Schmerz, der sich als das harte Wort ausspricht, daß Gott gestorben ist" Hegels berühmtes und oft mißdeutetes Wort vom Tode Gottes formuliert das Ergebnis der Verstandeskritik der Aufklärung am Christentum, das Ergebnis der Verselbständigung der als freie Einsicht sich wissenden subjektiven Freiheit von ihrer geschichtlichen Herkunft aus der christlichen „Freiheit in Gott". Der Tod Gottes ist für Hegel ein notwendiges Moment der Verwirklichung des Christentums in der subjektiven Freiheit, weil diese subjektive Freiheit zunächst unmittelbar gegen alle Autorität und Überlieferung auftritt. Dabei bezeichnet der Tod Gottes zugleich das Ende einer als abstraktes Jenseits gedachten Gottesvorstellung. Der Tod des Mittlers enthält „zugleich den Tod der Abstraktion des göttlichen Wesens, das nicht als Selbst gesetzt ist" in welchem also die im Inkarnationsgedanken enthaltene Einheit von Gott und Mensch noch nicht in ihrer vollen Tragweite gedacht ist, sondern Gott nur in jenem ausschließenden Gegensatz zu Mensch und Welt vorgestellt wird, der seinen Ausdruck im unglücklichen Bewußtsein findet. Erledigt ist also für Hegel jener abstrakte Dualismus eines dem Endlichen nur entgegengesetzten (und so seinerseits endlichen) Unendlichen. Aber das Denken Hegels konnte nicht bei der Feststellung des Todes Gottes stehen bleiben, weil der Tod Gottes zugleich den Verlust des Selbstbewußtseins und seiner subjektiven Freiheit bedeuten muß. Die Erkenntnis, daß die subjektive Freiheit des modernen Bewußtseins nicht ohne Gott fortbestehen kann, führt zur Revision der Einseitigkeiten der Religionskritik der Aufklärung. Sie macht nicht rückgängig, was das Recht dieser Kritik ist. Sie gewinnt den konkreten Inhalt der Religion zurück, indem sie die falsche Entgegensetzung des Unendlichen zum Endlichen überwindet und so die Einheit von End” Phänomenologie des Geistes 523, vgl. 546. Die Parallele zwischen der Gegenwart und „der Zeit des römisdien Kaisertums" begegnet auch — und ausdrüddich — in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion, XVI, 196 und 354 f. Die Wendung vom Tode Gottes erscheint bei Hegel zuerst 1803 am Ende seiner Abhandlung über Glauben und Wissen, PhB 62 b, 123 f. ** Phänomenologie des Geistes 546.
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lichem und Unendlichem im christlichen Zentralgedanken der Menschwerdung Gottes und also im Prinzip der subjektiven Freiheit selbst zuende denkt. Das Prinzip der subjektiven Freiheit ist also für Hegel der Grund, weshalb man nicht im Namen dieser Freiheit die christliche Religion in der Weise einer „Säkularisierung" hinter sich lassen kann. Aus demselben Grunde wendet Hegel sich in seiner Enzyklopädie gegen die Trennung von Staat und Religion: Der moderne Staat kann nicht sittlicher Staat im Sinne der Verwirklichung der subjektiven Freiheit sein ohne die Grundlage dieser subjektiven Freiheit in der christlichen Religion. Mit einem Seitenblick auf die französische Revolution nennt Hegel es „eine Torheit neuerer Zeit, ein System verdorbener Sittlichkeit, deren Staatsverfassung und Gesetzgebung, ohne Veränderung der Religion umzuändern, eine Revolution ohne eine Reformation gemacht zu haben" Überhaupt sei es „der ungeheure Irrtum unserer Zeiten gewesen, diese Untrennbaren [nämlich Staat und Religion] als voneinander trennbar, ja selbst als gleichgültig gegeneinander ansehen zu wollen. So ist das Verhältnis der Religion zum Staat so betrachtet worden, daß dieser für sich sonst schon und aus irgendeiner Macht und Gewalt existiere, und das Religiöse als das Subjektive der Individuen nur zu seiner Befestigung etwa als etwas Wünschenswertes hinzuzukommen hätte oder auch gleichgültig sei, und die Sittlichkeit des Staates, d. i. vernünftiges Recht und Verfassung für sich auf ihrem eigenen Grund feststehe" Ein „ungeheurer Irrtum" ist das, weil der Staat des Bewußtseins der absoluten Wahrheit, das nur die Religion geben kann, als Grundlage seiner Institutionen und der ihn tragenden Gesinnung bedarf. Das bedeutet gewiß nicht, daß der Staat noch einmal an die religiöse Autorität einer Kirche gebunden werden könnte oder dürfte Vielmehr hat die Kirche selbst mit dem Freiheitsgedanken der Reformation das Prinzip hervorgebracht, das den Staat gerade als christlichen Staat unabhängig von den besonderen Kirchen macht Doch diese Selbständigkeit des Staates als allgemeiner Boden der Realisierung der christlichen Freiheit gegenüber den „besonderen Kirchen" ist nicht zu verwechseln mit einer Trennung von Staat und Religion überhaupt, die nach Hegels Einsicht nur zur Auflösung des Staates führen könnte. Enzyklopädie § 542, p. 460 (Zusatz der 3. Ausg. 1830). ebd. p. 456. 31 Über die „Theokratie" hat Hegel geurteilt: „Da ist die Freiheit als subjektive, moralische Freiheit ... gänzlich verloren" (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I ed. Hoffmeister 200). 33 Siehe Grundlinien der Philosophie des Rechts § 270, p. 232 f.
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Zweifellos erfordert nun aber diese Selbständigkeit des sittlichen Staates gegenüber den besonderen Kirchen, wenn sie nicht im Sinne einer Trennung von Staat und Religion überhaupt verstanden werden will, sondern als Wahrnehmung der vernünftigen Allgemeingültigkeit der christlichen Idee der Freiheit gegenüber der Partikularität der Konfessionskirchen, ein ihr entsprechendes Bewußtsein von dieser vernünftigen Allgemeinheit des Christentums. Man wird wohl nicht fehlgehen in der Annahme, daß Hegel darin die Funktion der Philosophie im modernen Staat gesucht hat. In diese Richtung weist, daß Hegel gegenüber dem Autoritätsprinzip der Kirchen der „Wissenschaft" zusammen mit dem sittlichen Staat die Form der „Allgemeinheit des Gedankens", der „selbstbewußten, objektiven Vernünftigkeit" zuerkannte, die der Staat gegen die Subjektivität des bloßen Meinens „in Schutz zu nehmen" habe Teilt die Philosophie mit dem Staate die Form der Allgemeinheit des Gedankens, so bewahrt sie darin zugleich den substantiellen Inhalt der Religion, ihre Wahrheit, die Hegel von der zeitgenössischen Theologie preisgegeben sah. Die Theologie hat sich unter dem Druck der aufgeklärten Verstandeskritik auf die Subjektivität des Gefühls zurückgezogen und allen Inhalt der Kritik überlassen Dieser Schrumpfung der Religion auf die Subjektivität entspricht der „Atheismus der sittlichen Welt", den Hegel in der Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie beklagt hat. Der Rückzug in die fromme Innerlidikeit überläßt zugleich mit dem Verzicht auf das Feld der objektiven Wahrheit auch die gesellschaftlichen Einrichtungen der Gottlosigkeit. Hegel hat den Zusammenhang dieses Rückzuges vor der Aufklärung auf die fromme Innerlichkeit mit dem Pietismus erkannt und die in der pietistischen Frömmigkeit hervortretende Eitelkeit der religiösen Subjektivität auf das schärfste bloßgestellt: Die tatsächliche Position dieser Frömmigkeit „diesseits des leeren Wesens Gottes" sei die „für sich frei und selbständig gewordene Endlich“ ebd. So Hegel in seiner Vorrede zur 2. Aüfl. seiner Enzyklopädie 1827, 14 f.; ferner Vorlesungen über die Philosophie der Religion, XV, 33: „so ist die Religion erkenntnislos geworden und in das einfache Gefühl, in das inhaltlose Erheben des Geistigen zu dem Ewigen zusammengeschrumpft, kann aber von dem Ewigen nichts aussagen, denn alles, was Erkennen wäre, wäre ein Herabziehen desselben in die Sphäre und in den Zusammenhang des Endlichen". Die Theologie hat „so wenig Inhalt wie möglich, hat mit den Dogmen reine Bahn gemacht und ist auf ein Minimum reduziert worden" (Geschichte der Philosophie, Einleitung 198). So macht das Verstandesdenken der Aufklärung „das Gemüth, den Himmel und den erkennenden Geist leer und der religiöse Inhalt flüchtet sich dann in den Begriff" (Vorlesungen über die Philosophie der Religion, XVI, 351 f.).
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keit, die sich absolut gilt" Hegel wunderte sich, daß auf diesem Standpunkt „Gott selbst noch Objektivität zugeschrieben" werde, und er hat demgegenüber den Materialismus als konsequenter bezeichnet, der die bloße Subjektivität des frommen Gefühls beim Wort nimmt und daraus die Konsequenz des Atheismus zieht Das Aufkommen eines christlichen Atheismus in der Theologie selbst hätte Hegel daher nur als Bestätigung empfinden können, als Bestätigung auch seiner Verachtung für die Bereitschaft der Theologie, den Inhalt der Religion aufzugeben, um sich mit der Verstandeskritik zu arrangieren. Da schon zu seiner Zeit „die Grundlehren des Christentums größten Theils aus der Dogmatik verschwunden sind", konnte Hegel so den nur auf den ersten Blick befremdlichen Anspruch erheben:: „Nicht allein, aber vornehmlich ist die Philosophie jetzt wesentlich orthodox; die Sätze, die immer gegolten, die Grundwahrheiten des Christentums werden von ihr erhalten und aufbewahrt" Die Philosophie nämlich vermag durch ihre Überwindung des abstrakten Verstandesdenkens die Religionskritik der Aufklärung in ihre Schranken zu weisen und die objektive Wahrheit des Christentums in einer Weise neu zu formulieren, die sich der Verstandeskritik der Aufklärung als überlegen erweist. Gegenüber der Kritik der Aufklärung kann die Wahrheit der Religion nur noch auf dem Felde der Allgemeinheit des Gedankens gerettet werden. Damit zugleich fällt es der Philosophie im Sinne Hegels zu, die Allgemeingültigkeit der christlichen Religion auch für den Staat zu formulieren. So kommt in Hegels Perspektive der Philosophie in der durch die Aufklärung heraufgekommenen Situation des neuzeitlichen Geistes eine Aufgabe von weltgeschichtlichem Format zu. Dennoch hat Hegel in seinem Alter gesehen, daß die Philosophie für sich allein nicht wirksam den Anspruch vertreten kann, im Unterschied zu den partikularen Kirchen die Allgemeingültigkeit der christlichen Religion schlechthin zu verkörpern; denn die Versöhnung im philosophischen Gedanken ist ihrerseits „nur eine partielle ohne äußere Allgemeinheit" weil beschränkt auf den esoterischen Kreis der Philosophierenden. Das Schicksal der Hegelschen Philosophie selbst ist dazu angetan, dieser Bemerkung verstärkten Nachdruck zu verleihen; denn der Philosophie geht äußere Vorlesungen über die Philosophie der Religion, XVI, 346 f. ebd. XV, 68: „Gott ist so ein historisches Produkt der Schwäche, der Furcht, der Freude oder eigennützigen Hoffnung oder Hab- und Herrschsucht. Was nur in meinem Gefühl wurzelt, ist nur für midi, das Meinige, aber nidit sein selbst, nicht selbständig an und für sich". Man müsse daher zeigen „daß Gott nicht bloß das Gefühl zur Wurzel hat, nicht bloß mein Gott ist". " ebd. XVI, 207. “ ebd. 356.
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Allgemeinheit offensichtlidi sogar im Kreis der Philosophierenden ab. Demgegenüber bildet die Religion durch ihre institutionelle Bindung die Form, die — wie Hegel sagt — die absolute Wahrheit für alle Menschen ist. Inwieweit Hegel durch das Medium des philosophischen Gedankens sich dem Ziel seiner Jugend nähern konnte, dem Ziel einer Reform der Gesellschaft durch Reform der Religion, das mußte sich daher nicht zuletzt daran entscheiden, wie das Verhältnis seiner Philoscphie zur vorhandenen Religion und ihrem Selbstverständnis sich gestaltete. 2.
Man sollte meinen, daß die christliche Theologie Grund genug gehabt hätte, die Philosophie Hegels als Rettung aus ihrer bedrängten Lage zu begrüßen, als Befreiung von den Angriffen der Verstandeskritik auf die Substanz des christlichen Glaubens und von dem Zwang, ihre Zuflucht vor diesen Angriffen in einer inhaltlosen Innerlidakeit zu suchen. Wohl keiner der großen Denker der Neuzeit hat soviel wie Hegel getan, um die christliche Religion wieder auf ihren gegen die Aufklärung verlorenen Thron zu setzen, und das nicht nur von Gnaden einer anderen Macht, wie Kant, sondern aus eigenem Recht der Religion und der christlichen Offenbarung selbst. Es hat ganz offensichtlich zu den großen Enttäuschungen Hegels gehört, daß die Theologie, von Ausnahmen abgesehen, auf diese ihr durch sein Denken gebotene Chance nicht einging, sondern die Zuflucht der frommen Innerlichkeit, in die sie sich vor den Angriffen der Aufklärung geflüchtet hatte, für das gelobte Land selber zu halten schien, statt das Feld der allgemeinen Wahrheit wieder in Besitz zu nehmen, auf dem allein der Gottesgedanke dauerhaft bestehen kann. Im Vorwort zur dritten Ausgabe der Enzyklopädie 1830 spricht Hegel mit spürbarer Bitterkeit von diesem Arrangement der Religiosität mit ihren entschiedensten Feinden und sieht mit Schmerz, wie dadurch sein eigener philosophischer Einsatz funktionslos wird: „Indem aus dem größten und unbedingten Interesse der menschlichen Natur der tiefe und reiche Inhalt verkommen und die Religiosität, gemeinschaftlich die fromme und die reflektierende, dazu gekommen ist, die höchste Befriedigung ohne Inhalt zu finden, so ist die Philosophie ein zufälliges, subjektives Bedürfnis geworden. Jene unbedingten Interessen sind bei beiden Arten von Religiosität, und zwar von nichts anderem als von dem Räsonnement, so eingerichtet worden, daß es der Philosophie nicht mehr bedarf, um jenen Interessen Genüge zu leisten; ja sie wird, und zwar mit Recht, dafür ge-
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halten, jenem neuerschaffenen Genügen und solcher ins Enge gezogenen Befriedigung störend zu sein" Wie ist es zu erklären, daß die christliche Religion und Theologie Hegel mit so viel Mißtrauen und Zurückhaltung begegnet ist? Auch Karl Barth hat — freilich nicht ohne ironische Distanz zum 19. Jahrhundert im ganzen, dessen Perspektiven er theologisch überwunden zu haben glaubte, — die verwunderte Frage gestellt: „Warum wurde Hegel für die protestantische Welt nicht etwas Ähnliches wie es Thomas von Aquino für die katholische geworden ist?" Solche Fragen lassen selten erschöpfende Antworten zu. Auch hier muß die Aufzählung einiger Gesichtspunkte genügen. Der wirksamste theologische Vorwurf gegen die Hegelsche Philosophie ist zweifellos die Verdächtigung ihres Gottesgedankens als pantheistisch gewesen. Diese Verdächtigung lag in der Luft wegen der engen Verbindung des jungen Hegel mit Schelling, der in seiner frühen Periode kein Hehl aus seinen Sympathien für den Spinozismus Lessings gemacht hat. Hegels energische Polemik gegen die abstrakte Entgegensetzung von End lichem und Unendlichem und sein Begriff des wahrhaft Unendlichen, der das Endliche als „Moment" in sich schließt konnten für ein oberflächliches Verständnis denselben Verdacht bestärken. Unter den ersten, die die Philosophie Hegels als pantheistisch klassifizierten, war der später sehr einflußreiche Erweckungstheologe Friedrich-August G. Tholuck (1799— 1877), der schon 1823 in einem romantischen Traktat über „die Lehre von der Sünde und dem Versöhner" und sodann 1825 in seiner „Blüthenlese morgenländischer Mystik" die idealistische Philosophie mit der ihm von seiner orientalistischen Gelehrsamkeit her vertrauten pantheistischen Mystik des Islam verglich. Daß Hegel selbst sich in der Vorrede zur zweiten Ausgabe seiner Enzyklopädie (1827) mit namentlicher Bezugnahme gerade auf Tholuck gegen das Schlagwort Pantheismus zur Wehr gesetzt und auch sonst wiederholt und ausdrücklich seine Philosophie Encyklopädie der Philosophischen Wissenschaften im Grundrisse ed. Hoffmeister p. 26. Wie die Fortsetzung des Textes zeigt, hängt der oft bemerkte und bemängelte Rüdezug des alten Hegel auf die reine Wissenschaft und die esoterische Theorie auf das engste mit dieser Erfahrung zusammen. K. Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert (1946) 2. Aufl. 1952, 343. Wissenschaft der Logik ed. G. Lasson Bd. I (PhB 56), 139. Zu einer ähnlichen Wendung in den geschichtsphilosophischen Vorlesungen (Reclam 414) bemerkt W. Lütgert, Die Religion des deutschen Idealismus und ihr Ende III, 1925, 93; „Das ist deutlich genug" — nämlich als Bestätigung des Verdachtes auf Pantheismus. Daß in dem Zitat der triiütarische und der Weltprozeß von Hegel sorgfältig unterschieden werden, ist der Aufmerksamkeit Lütgerts entgangen.
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gegen diese Etikettierung verteidigt hatte konnte nicht verhindern, daß sich das Vorurteil, die Philosophie Hegels sei pantheistisch, hartnäckig erhielt. So meinte Wilhelm Lütgert 1925 im dritten Band seines viel benutzten Werkes über „Die Religion des deutschen Idealismus und ihr Ende" zu Hegels Kontroverse mit Tholuck: „Nie hat er den Vorwurf des Pantheismus, der ihm gemacht wurde, ernsthaft gewürdigt und wirklich verstanden. Er wies ihn in dem alleräußerlichsten Sinn des Wortes zurück" (92). Als Indiz für Hegels Pantheismus genügte Lütgert die Feststellung, daß Hegels beherrschendes Interesse „in der Überwindung des Glaubens an einen jenseitigen überweltlichen Gott" gelegen habe. Daß sich der Pantheismus verdacht derart zum Vorurteil verfestigen konnte, erklärt sich weitgehend dadurch, daß die Hegelsche Linke sich seit D. F. Strauß, wenn sie den Gottesgedanken nicht überhaupt ablehnte, mehr oder weniger offen zum Pantheismus bekannte Das haben die theologischen Gegner des Hegelianismus ebenso wie der spekulative Theismus als Bestätigung ihres Verdachtes gegen Hegel genommen. Nimmt man hinzu, daß auch Dilthey Hegel im Sinne eines „mystischen Pantheismus" gedeutet hat dem seine eigenen Sympathien entgegenkamen, so nimmt es nicht Wunder, daß sich dieses Vorurteil trotz des energischen Widerspruchs von Hegelkennern wie Th. Haering bis in die Gegenwart erhalten hat '**. Dabei wird das Mißverständnis kaum gebessert, wenn man vorsichtiger von „Panentheismus" spricht. Auch der Begriff eines Panentheismus nämlich legt die Vorstellung eines Enthaltenseins der endlichen Dinge in Gott nahe. Doch wenn Hegel — was er selbst als nüßverständlich erkannt hat — gelegentlich von einer Einheit oder Identität Enzyklopädie (2. u. 3. Aufl.) § 573, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, XV, 109 ff. D. F. Strauß, Die christliche Glaubenslehre I, 1840, 496 und 512; der Sache nach weisen schon die Ausführungen in der Schlußabhandlung des Leben Jesu II, 1836, 734 f. in diese Richtung. W. Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels, in: Gesammelte Werke IV, 1921, bes. 36 ff., 51 ff. ■** Th. Haering, Hegel I, 1929, 463—65 und 547 ff. Siehe dazu die Übersicht bei I. Iljin, Hegels Philosophie als kontemplative Gotteslehre, 1946, 402 f. So H. Küng, Menschwerdung Gottes, 1970, 170 f., 339 f. ■** Hegel nennt es schon in der Phänomenologie des Geistes „eine ungeistige Weise sich auszudrücken", wenn man sagt, es sei „an sich ... das göttliche Wesen dasselbe, was die Natur in ihrem ganzen Umfange", und solche Ausdrudcsweise müsse, „notwendig Mißverständnisse erwecken" (542; vgl. dazu die Unterscheidungen 171 zwischen dem, was das unglückliche Bewußtsein an sich und was für es ist, entsprechend 386 f. 525 f.). Entsprechend wendet sich Hegel in seiner Enzyklopädie (§ 573, p. 486 ff.) gegen die Mißdeutung seines Begriffs der Identität. Siehe auch Vorlesungen über die Philosophie der Religion, XV, 111 ff.
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des Endlichen mit dem Unendlichen oder Absoluten spricht dann handelt es sich stets um negative Einheit, — um eine Identität, die durch Negation und Aufhebung des Endlichen vermittelt ist und daher nicht angemessen als ein Enthaltensein aufgefaßt werden kann. Eher karm sich da schon die entgegengesetzte Deutung auf Hegel berufen, die ihm die Position eines Akosmismus zuschreibt, derzufolge das Endliche in Wahrheit nichts und Gott alles ist. Für einen „Pantheismus" in diesem Sinne, in dem das göttliche Alles durch das Nichts des Endlichen vermittelt ist, läßt sich beispielsweise eine Passage der „Logik" anführen, in der Hegel sich gegen die gewöhnliche Form der Gottesbeweise wendet: „Im gewöhnlichen Schließen erscheint das Sein des Endlichen als Grund des Absoluten; darum weil Endliches ist, ist das Absolute. Die Wahrheit aber ist, daß darum weil das Endliche der an sich selbst widersprechende Gegensatz, weil es nicht ist, das Absolute ist. . . . Das Nichtsein des Endlichen ist das Sein des Absoluten" Es ist verständlich, daß man angesichts solcher Sätze geurteilt hat: „Für ein endliches Leben, welches sich in reiner ungestörter Harmonie nüt Gott und mit sich selbst entfaltet, ist in diesem System einmal kein Raum. . ." Hegel wäre dann im Sinne der von ihm selbst Spinoza zugeschriebenen Auffassung eines Akosmismus zu verstehen Dabei wird aber übersehen, daß schon die Phänomenologie des Geistes sich ausdrücklich gegen den Gedanken gewendet hat, daß „die Natur getrennt vom göttlichen Wesen nur das Nichts" sei Im Unterschied zu Spinoza kommt in Hegels Philosophie des Subjekts das Absolute in seinem Anderssein zu sich selbst, und die Welt entspringt aus dem freien Entschluß der Idee zu ihrem Anderssein, das dabei als solches zu seinem Recht kommt So in seinen frühen Schriften über die Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (PhB 62 a) 90 und über Glauben und Wissen (PhB 62 b) 12. Siehe auch Phänomenologie des Geistes 538. Einige Seiten weiter heißt es dort, „an sich" seien die göttliche und die menschliche Natur „nicht getrennt" (541). Ähnlich 529: „Die göttliche Natur ist dasselbe, was die menschliche ist, und diese Einheit ist es, die angeschaut wird" (sc. in der Menschwerdung des göttlichen Wesens). Vgl. auch Logik I, 133 (aber auch ebd. 138), sowie Vorlesungen über die Philosophie der Religion, XV, 87 und 121. Siehe dazu Logik I, 132, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, XV, 82, 227, vgl. 210; XVI, 280 f., vgl. 283, 286, 222. Wissenschaft der Logik II, 62. J. Müller, Die christliche Lehre von der Sünde, 1838, 3. Aufl. 1849, I. 549. “ Iljin a. a. O. 194 ff. deutet Hegels Philosophie in diesem Sitme als „Pantheismu:" der alleinigen Realität Gottes (vgl. Vorrede zur 2. Ausg. der Enzyklopädie p. iz, sowie ebd. § 50 Anm.). “ Phänomenologie des Geistes ed. Hoffmeister (PhB 114) 541 ff. “ Enzyklopädie § 244.
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Die Deutung der Gottesidee Hegels als pantheistisch ist seit D. F. Strauß davon ausgegangen, daß in der spekulativen Trinitätslehre Hegels wie bei Schelling „der Sohn nicht ein überweltliches, jenseitiges Wesen, sondern eben nur die Welt oder das endliche Bewußtsein selbst sein kann" Doch dieser Meinung stehen eindeutige Aussagen Hegels entgegen, die unterscheiden zwischen dem innergöttlichen Gegenüber als einem „Spiel der Liebe mit sich selbst, worin es nicht zur Ernsthaftigkeit des Andersseyns kommt, zur Trennung und Entzweiung", und der Freisetzung dieses Andersseins als eines selbständigen Elements, als Welt, worin „der Unterschied sein Recht erhält, das Recht der Verschiedenheit" Die Unterscheidung zwischen der immanenten Trinität, also dem Hervorgang des Sohnes aus dem Vater, und der Schöpfung der Welt findet sich bei Hegel auch nicht etwa erst in den religionsphilosophischen Vorlesungen, denen Strauß „übergroße Nachgiebigkeit gegen die religiöse Vorstellung" nachgesagt hat sondern schon in der Phänomenologie des Geistes, die Strauß als Hegels „Fundamentalschrift" bezeichnete Wer diese ausdrücklichen Differenzierungen Hegels berücksichtigt, der kann nicht bestreiten, daß Hegel die innertrinitarische Bewegung Gottes und den Weltprozeß unterschieden hat. Der einzige Vorwurf, den man an diesem Punkte mit Recht gegen Hegel erheben kann, ist, daß bei ihm das innere Leben des trinitarischen Gottes imt logischer Notwendigkeit zur Hervorbringung der Welt führt, mit der Notwendigkeit nämlich, derzufolge das in Gott gesetzte Anderssein sein Recht, nämlich das Recht der Verschiedenheit erhalten muß. Wer in diesem Zusammenhang bei Hegel die Freiheit der göttlichen Schöpfungstat vermißt, der wird allerdings beachten müssen. D. F. Strauß, Die diristliche Glaubenslehre I, 1840, 490. Mit dieser Formulierung beschreibt Strauß die Auffassung des frühen Schelling, fährt dann aber fort, daß diejenige Hegels „übereinstimmend hiermit" sei. Vorlesungen über die Philosophie der Religion, XVI, 248 und 250. Im Anschluß weist Hegel es ausdrücklich als „unrichtige Auffassung" zurück, „als ob der ewige Sohn des Vaters, der sich selbst gegenständlich seyenden Göttlichkeit, dasselbe sey als die Welt und unter jenem nur diese zu verstehen sey" (251 f.).
D. F. Strauß, Die christliche Gaubenslehre 1,1840, 493. ebd. 512. — In seiner Schrift über die „Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie" (1801) scheint Hegel diese Unterscheidung zwischen trinitarischem Prozeß und Weltprozeß noch nicht vollzogen zu haben; das läßt sich allerdings nur indirekt erschließen aus Hegels Satz, die ursprüngliche Identität des sich in Raum und Zeit ausbreitenden und des sich aus dieser Äußerlichkeit wieder in sich zurücknehmenden Absoluten „muß beides vereinigen in die Anschauung des sich selbst in vollendeter Totalität objektiv werdenden Absoluten — in die Anschauung der ewigen (!) Menschwerdung Gottes, des Zeugens des Worts vom Anfang" (PhB 62 a, 90). Die trirütarische Zeugung des Sohnes und die Menschwerdung scheinen hier tatsächlich noch in eins zu fallen.
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daß für Hegel Freiheit und Notwendigkeit einander nicht ausschließen und er wird Hegel nicht unterstellen dürfen, die Welt in neuplatonischer Weise als Emanation aus dem Wesen Gottes gedacht zu haben; denn Hegel hat den Begriff der Schöpfung durchaus von dem eines bloßen Hervorgehens unterschieden, und dieser Unterschied ist nach Hegel darin begründet, daß Gott als Subjekt gedacht wird, wie es schon in der israelitischen Religion der Fall war Aus einem als Subjekt gedachten Absoluten kann die Welt nicht einfach hervorgehen; die absolute Idee kann auch nicht lediglich als für die Reflexion in die Naturwelt übergehend gedacht werden, sondern nur als eine natürliche Welt frei hervorbringend. Die oft als Verlegenheitsauskunft und Mystifikation aufgefaßte Wendung, mit der Hegel in seiner Enzyklopädie von der Logik zur Naturphilosophie überleitet, folgt konsequent aus der Auffassung des Absoluten als Subjekt: „Die absolute Freiheit der Idee aber ist, daß sie nicht bloß ins Leben übergeht, noch als endliches Erkennen dasselbe in sich scheinen läßt, sondern in der absoluten Wahrheit ihrer selbst sich entschließt, das Moment ihrer Besonderheit oder des ersten Bestimmens und Andersseins, die unmittelbare Idee als ihren Widerschein, sich als Natur frei aus sich zu entlassen" Hegel verdeckt hier nicht, wie man gemeint hat, notdürftig und gewaltsam den Bruch zwischen den bloßen Gedankenbestimmungen der Logik und der Konkretheit einer materiell bestehenden Natur ®®, sondern es zeigt sich hier, daß Hegels Logik des Begriffs in allem Ernst als Logik des Subjekts und zwar des absoluten Subjekts, Gottes, gelesen sein will. Es ist daher schwer verständlich, wie man bei Hegel den Gedanken der Persönlichkeit Gottes vermissen konnte. Hat Hegel doch, nachdem er in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes erklärt hatte, es komme „alles darauf an, das Wahre nicht nur als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken" ®*, in seiner Logik die Persönlichkeit ausdrücklich als logisches Moment des Subjektseins herausgestellt, sofern nämlich der kon»•> Wissenschaft der Logik ed. Lassen II (PhB 57) 183, vgl. 216, wo „die Freiheit die Wahrheit der Notwendigkeit" heißt, die ihre Gestalt im Begriff bzw. im Subjekt hat (218 f.). Ähnlich schon die Differenzsdtrift PhB 62 a, 86 f. Vorlesungen über die Philosophie der Religion, XVI, 52. Enzyklopädie § 244. Das Sichentschließen der Idee wird hier als die der Logik des Subjekts eigentümliche Form des logischen Fortgangs gekennzeichnet, indem es unterschieden wird vom äußerlichen Übergehen von einer Bestimmung zur anderen, wie es für die Logik des Seins charakteristisch ist, und vom Scheinen einer Bestimmung in das ihr zugehörige andere, wie es die Wesenslogik charakterisiert. So Marx schon in den philosophisdi-oekonomischen Manuskripten von 1844 (MEGA Erg.band I, Berlin 1968, 585 f.). Phänomenologie des Geistes ed. Hoffmeister 19 ff.
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krete Begriff oder das Ich wesentlich einzelnes ist Entsprechend hat Hegel in der Berliner Einleitung zur Geschichte der Philosophie von der „Bestimmung der Subjektivität der höchsten Idee, der Persönlichkeit Gottes" gesagt, sie sei gegenüber dem Gottesgedanken der Griechen „ein viel reicherer" Begriff ®*. In seinen religionsphilosophischen Vorlesungen hat Hegel auch die trinitarische Dreipersönlichkeit Gottes als Moment der Gottesidee gewürdigt ®^, freilich auch nur als Moment: Hier wie auch sonst wird zugleich der abstrakte Charakter der Persönlichkeit betont, sofern sie „ein Starres, Sprödes, Selbständiges, Fürsichseyn" ist. So erscheint auch in der Rechtsphilosophie die Persönlichkeit als Kategorie des abstrakten Rechts, als das Selbstbewußtsein, das das Subjekt „von sich als vollkommen abstraktem Ich" hat ®®. Die Wahrheit der Person liegt jedoch nicht in dieser ihrer abstrakten Vereinzelung, sondern: „Es ist der Charakter der Person, des Subjekts vielmehr, seine Isolierung, Abgesondertheit aufzuheben ... In der Freundschaft, Liebe, gebe ich meine abstrakte Persönlichkeit auf und gewinne sie dadurch, die concrete" ®®. Je nachdem ob die Persönlichkeit in diesem Sinne als abstrakte oder als konkrete gefaßt wird, gilt sie Hegel als „verschwindendes Moment" in der göttlichen Idee (ebd.) — sowohl in ihren innertrinitarischen Bezügen als auch im Verhältnis des absoluten Subjekts zur Welt — oder als deren wahre Gestalt. Von der abstrakten Persönlichkeit heißt es schon im „Geist des Christentums und sein Schicksal", Jesus hebe trotz der Absonderung seiner Persönlichkeit gegen den jüdischen Charakter doch „alle göttliche Persönlichkeit, göttliche Individualität gegen seine Freunde auf, mit denen er nur Eins sein will, die in ihm Eins sein sollen" ^®. Auch der späte Hegel kann von dieser abstrakten Persönlichkeit noch sagen: „In der göttlichen Idee ist die Persönlichkeit als aufgelöst gesetzt" sofern nämlich die abstrakte Selbstidentität überwunden ist im Prozeß des göttlichen Lebens. Damit läßt Hegel der von Spinoza und Fichte geübten Kritik am Gedanken der Persönlichkeit Gottes als einer der Unendlichkeit unangemessenen Kategorie Gerechtigkeit widerfahren. Andererseits jedoch überwindet er diese Kritik durch den Gedanken, daß es die Wahrheit der Persönlichkeit sei, „sie (!) durch dieß Versenken, “5 Wissenschaft der Logik ed. Lasson II, 220 f., vgl. 484 und 502. System und Geschidite der Philosophie, ed. Hoffmeister (PhB 15 a) 1944, 67. Vorlesungen über die Philosophie der Religion, XVI, 238 f. Grundlinien der Philosophie des Rechts § 35. Vorlesungen über die Philosophie der Religion, XVI, 239; vgl. Wissenschaft der Logik II, 484. Theologische Jugendschriften ed. H. Nohl 315. 71 XVI, 239.
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Versenktseyn in das Andere zu gewinnen" In diesem Sinne wird man auch die Wendung der Berliner Einleitung zur Gesdiichte der Philosophie vom Reichtum des Gedankens der Persönlichkeit Gottes verstehen müssen (s. o. Anm. 66) und vielleicht auch die Randbemerkung zu § 35 der Rechtsphilosophie, die die Persönlichkeit als „Höchstes" bezeichnet — im Gegensatz zu dem im Paragraphen selbst herausgestellten abstrakten Charakter der Persönlichkeit — und fortfährt: „Man mag an Gott glauben, — bestimmen wie man will, fehlt Persönlichkeit, so nicht genügend" Der Umstand, daß Hegel die Persönlichkeit im Sinne der abstrakten Einzelheit als bloßes „verschwindendes Moment" der Gottesidee einschätzte und daß sein darüber hinausgehender Ansatz zu einem Begriff von konkreter Persönlichkeit demgegenüber leicht übersehen werden konnte, vermag nicht zu erklären, weshalb eigentlich die Meinung, Hegel habe die Persönlichkeit Gottes verneint, sich zum Vorurteil verdichtet hat. Wieder wie beim Pantheismusvorwurf traf sich in diesem Vorurteil die Kritik von rechts, vom philosophischen Theismus und von der Erweckungstheologie, mit der Deutung Hegels durch seine „linken" Schüler. So meinte D. F. Strauß, die Auffassung Hegels dahingehend zusammenfassen zu können: Nur „mittelst des durch dasselbe gesetzten Menschen, und in diesem, käme das Absolute zu Selbstbewußtsein und Persönlichkeit" Das ist eine Deutung, die — so einflußreich sie geworden ist — sich nicht auf Hegels eigene Formulierungen stützen kann. Ihre Voraussetzung liegt in einer anderen Fehlinterpretation von Strauß, nämlich in dessen Verkennung der Hegelschen Unterscheidung zwischen trinitarischem Prozeß und Weltprozeß: Wäre wirklich, wie Strauß meint, der ewige Sohn für Hegel identisch mit dem Weltprozeß, dann allerdings wären die Sätze der religionsphilosophischen Vorlesungen über die innertrinitarischen Personbeziehungen auf das Verhältnis des absoluten Subjekts zum Weltprozeß zu übertragen, und man könnte mit Strauß den Schluß ziehen, daß das absolute Subjekt erst in den menschlichen Subjekten zu Selbstbewußtsein und Persönlichkeit gelangt. Ist hingegen das innergöttliche Leben vom Weltprozeß zu unterscheiden, dann ist das Absolute bei Hegel schon in sich selbst als Person und als Subjekt gedacht. Dennoch bleibt an dieser Stelle eine unaufhebbare Zweideutigkeit bestehen, weil der Unterschied des Absoluten von der Welt als Inbegriff des Endlichen für ^2 ebd. Grundlinien der Philosophie des Rechts ed. Hoffmeister 324; vgl. 416 zu § 151 — zum ganzen Thema vgl. auch Falk Wagner, Die Persönlichkeit Gottes bei Fichte und Hegel, 1971. D. F. Strauß, Die christliche Glaubenslehre I, 1840, 521.
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Kegel nicht das letzte Wort sein kann. Das wahrhaft Unendliche darf nicht nur als Gegensatz zum Endlichen gedacht werden; es muß zugleich über diesen Gegensatz hinweggreifen, die Einheit seiner selbst und seines anderen sein. Bei Hegel erscheint das in der Form des schon berührten Gedankens, daß die Hervorbringung der Welt mit Notwendigkeit zum Wesen des Absoluten gehört. Dann aber drängt sich die Folgerung als unabweisbar auf, daß das Absolute erst durch Hervorbringung der Welt zu seinem eigenen Wesen als absolutes Subjekt findet. Zwar wäre auch so noch nicht, wie Strauß meinte, Selbstbewußtsein und Persönlichkeit des Absoluten identisch mit dem des Menschen. Wohl aber realisierte das Absolute erst in der Hervorbringung der Welt und des Menschen und ihm gegenüber sich selbst als Subjekt. Der Gedanke, daß Gott die Welt notwendig hervorbringe, daß also — mit Hegels eigenen Worten — das „Setzen der Natur . .. notwendig in den Begriff des geistigen Lebens" falle, ist nicht ohne tieferen Grund zu einem Hauptanstoß für die christliche Theologie geworden. Er dürfte wohl überhaupt allen anderen theologischen Vorwürfen gegen Hegels Philosophie zugrundeliegen. Die gegenüber dem Text Hegels unhaltbaren Mißdeutungen seiner Philosophie des Absoluten als Pantheismus und Leugnung der Persönlichkeit Gottes lassen sich nur verstehen als Hegel aufgebürdete vermeintliche Konsequenz dieses einen Sachverhalts, der Notwendigkeit der Setzung der Welt aus dem göttlichen Wesen. Tholucks philosophisch gebildeterer und differenzierter denkende Freund, der Hallenser Dogmatiker Julius Müller, erblickte hier den eigentlichen Pferdefuß der Hegelschen Philosophie, nämlich „darin, daß von diesem System das Wesen des Geistes einseitig als Denken, dieses Denken aber als notwendiger Prozeß aufgefaßt wird" Dadurch werde „die Welt zur Selbstverwirklichung Gottes . .., die sittlichen Bestimmungen des menschlichen Lebens zu Momenten in dem Prozesse derselben" und die letzte Konsequenz dieser Auffassung sei es, das Böse „als integrierendes Moment der Idee selbst anzuerkennen" In diesem letzten Punkt stellte Müller allerdings ein Schwanken in Hegels Aussagen fest. Müller wußte auch noch, daß Hegel zwischen der immanenten Selbstunterscheidung Gottes und der Verselbständigung der Momente derselben im Weltprozeß unter” Vorlesungen über die Philosophie der Religion, XVI, 51. J. Müller, Die diristlidie Lehre von der Sünde (1838) 3. Aufl. 1849, I, 552. ’’’’ ebd. 169, vgl. Bd. II 195: „Verwirklichung durch Selbstverendlichung". ™ ebd. I 552, vgl. 540 £. Müller scheint insbesondere § 139 der Rechtsphilosophie vor Augen zu haben, wenn er 554 sagt, wo Hegel den Begriff des Bösen ausdrücklich behandle, schreibe er ihm „mit dürren Worten Nothwendigkeit zu". Siehe aber auch Vorlesungen über die Philosophie der Religion, XVI, 259 f., 270.
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schied doch die behauptete Notwendigkeit des Fortgangs vona Absoluten zur Selbständigkeit des Momentes der Andersheit und also zur Welt gab für ihn den Ausschlag dahin, daß die Welt dennoch als notwendiges Moment der Selbstverwirklichung Gottes aufzufassen und die Hegeldeutung von Strauß also zumindest in der Tendenz berechtigt sei. In diesem Sinne spricht auch Müller von einem „logischen Pantheismus" Hegels und urteilt, das so gedachte Absolute sei „nur das notwendige Princip der Welt, welches durch den Weltprozeß sich seine Absolutheit vermittelt, die absolute Welteinheit" Mit einem solchen Begriff des Absoluten aber könne „weder die Erkenntnis Gottes als des Persönlichen noch überhaupt irgendeine Erkenntnis Gottes zusammenbestehen" Aus der von Hegel behaupteten logischen Notwendigkeit der Hervorbringung der Welt und der Entstehung des Bösen als der sich selbst behauptenden Endlichkeit wird also gefolgert, daß dann ungeachtet aller von Hegel vorgenommenen Differenzierungen die Welt zum Prozeß der Selbstverwirklichung Gottes gehören müsse, Hegels System also pantheistisch sei und daher weder der göttlichen Persönlichkeit, der Freiheit Gottes gegenüber der Welt, noch auch der Persönlichkeit und Freiheit des Menschen gerecht werden könne; denn beides müsse untergehen in der logischen Notwendigkeit, die hier die göttliche Idee in den Weltprozeß und diesen wieder in Gott übergehen lasse. Im wesentlichen dieselben Thesen, daß Pantheismus, Eliminierung des freien Selbstbewußtseins und der Persönlichkeit Gottes, sowie der Freiheit des Menschen und damit auch der Sünde untrennbar zusammengehören, hatte Tholuck schon 1823 ausgesprochen Müller hat sie jedoch auf die Gott und Welt verbindende logische Notwendigkeit zurückgeführt und als Konsequenzen dieser Grundthese, auch entgegen ausdrücklichen Stellungnahmen Hegels, gekennzeichnet. Daher wird bei Müller deutlich, daß es sich bei jenen Vorwürfen weniger um Folgen von einzelnen Mißverständnissen handelt, die durch bestimmte Wendungen Hegels veranlaßt wären, sondern vielmehr um eine in sich zusammenhängende polemische Konstruktion, die ihren Ausgangspunkt hat in der von Hegel behaupteten Notwendigkeit der Hervorbringung der Welt durch Gott und die Hegel ungeachtet seiner eigenen Äußerungen die wirklichen oder vermeintlichen Konsequenzen Müller I, 541. ebd. II, 241. 81 ebd. I, 6. 88 ebd. II, 159, vgl. I, 169. 88 A. G. Tholuck, Guido und Julius, Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder Die wahre Weihe des Zweiflers, 1823, 260 ff., vgl. 231. 81 Ähnlich urteilte später R. Haym, Hegel und seine Zeit (1857), 411.
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aus dieser These zur Last legt. Berücksichtigt man nicht diesen Charakter der gegen Hegel erhobenen Vorwürfe als einer polemischen Konstruktion und Konsequenzmacherei, dann kann man sich nur noch über die krasse Ignoranz wundern, mit der etwa W. Lütgert urteilte, daß Hegel „mit den einfachsten Äußerungen der Frömmigkeit, mit jedem Vater Unser in Konflikt kam und sich niemals ernsthaft bemühte zu verstehen, warum das Gebet der Christenheit mit den Worten beginnt: ,Vater unser, der du bist im Himmel'. Sein Gott blieb Gedanke, Idee, Vernunft, aber er war nicht Wille und darum doch nicht Person und erst recht nicht Geist" «L Angesichts solcher offenkundig abwegigen Konsequenzmacherei erhebt sich die Frage, ob die theologischen Kritiker Hegels nicht besser daran getan hätten, umgekehrt den Bedingungen der von Hegel selbst behaupteten Freiheit und Subjektivität des Absoluten nachzugehen. Wie verhält sich diese zu der Notwendigkeit, mit der das Setzen der Natur nach Hegel in den Begriff des geistigen Lebens fällt? Versteht man Notwendigkeit im Sinne von Hegels Begriff der absoluten Notwendigkeit, so kann es sich bei jenem Setzen der Natur nicht um äußerlich auf erlegte Nötigung handeln. In Hegels Logik hat die Kategorie der Notwendigkeit ihren Ort in dem Abschnitt, der den Begriff der Wirklichkeit behandelt, und das absolut Notwendige ist nichts anderes als das Wirkliche selbst in seiner Absolutheit: „Das schlechthin Notwendige ist nur, weil es ist; es hat sonst keine Bedingung noch Grund" In dieser Einfachheit seines Seins ist es eins mit dem Zufälligen. „Aber diese Zufälligkeit ist vielmehr die absolute [d. h. die durch nichts außer ihr selbst bedingte] Notwendigkeit" In solcher Selbstidentität ist das Wirkliche Substanz. Aber dabei hat es „die innere Identität" die seine absolute Notwendigkeit ausmacht, nicht in sich selbst, sofern es von anderen Substanzen verschieden ist, sondern in seiner Einheit mit dem anderen, von dem es sich unterscheidet: Hier treten Zufälligkeit und Notwendigkeit noch einmal auseinander; denn die verschiedenen Substanzen erscheinen in ihrer einfachen Wirklichkeit für sich als zufällig und haben ihre NotW. Lütgert, Die Religion des deutsdien Idealismus und ihr Ende, III, 1925, 92. Wissenschaft der Logik II, 182. ebd. 183. Dieser Begriff des absolut Notwendigen muß von dem des Absoluten als ens necessarium im Gegensatz zur Unselbständigkeit und in diesem Sinne Kontingenz der Weltdinge her verstanden und so von aller äußerlich auferlegten Notwendigkeit unterschieden werden, die Hegel vielmehr vom Gedanken des absolut Notwendigen her neu zu fassen sucht. Vielleicht darf man hierbei an Luthers necessitas immutabilitatis erinnern, die jedenfalls bei Gott ebenfalls eins ist mit der höchsten Freiheit. *8 ebd. 203.
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Wendigkeit, die ihnen als Substanzen doch innerlich eigen ist, erst in der sie untereinander verbindenden Identität. Diese Einheit ist die Wahrheit und Macht der Kausalverhältnisse zwischen den Substanzen, und ihre „Enthüllung" ist der Wendepunkt von der Notwendigkeit zur Freiheit ®*. Die Selbstidentität des Wirklichen, die seine absolute Notwendigkeit ausmacht, übergreift also die vereinzelten und insofern endlichen Substanzen; Sie ist ihr Allgemeines, das doch nur als Bestimmtes und Einzelnes existiert — d. h. aber sie ist Subjekt als existierender Begriff. Die göttliche Freiheit ist mit alledem nun allerdings noch nicht im Blick und so auch nicht die Frage, ob und wie ihr Wirken aus einer Notwendigkeit des geistigen Lebens Gottes zu denken ist. Jene Identität nämlich, die als das die endlichen Substanzen verbindende Allgemeine faßbar wird und in der diese zu ihrer Notwendigkeit und Freiheit finden, kann nicht identisch sein mit der Freiheit, aus der endliche Substanzen allererst entspringen. Diese schöpferische Freiheit geht daher auch nicht hervor aus einer wie auch immer konkret gedachten. Besonderes und Einzelnes umgreifenden Allgemeinheit des Begriffs, sondern umgekehrt macht sich erst durch die Hervorbringung einer Vielfalt von Endlichem die schöpferische Freiheit Gottes zum letzten Horizont des die endlichen „Substanzen" verbindenden Allgemeinen. So ist sie als Freiheit zugleich Liebe, und so erwirbt sie sich selbst ihr geschichtliches Wesen, die Bestimmtheit göttlicher Eigenschaften, die erst aus den Akten der absoluten Freiheit erwachsen. Bei Hegel dagegen wird die göttliche Freiheit festgelegt auf die Logizität des Begriffs, seiner vorgegebenen Zuordnung von Allgemeinem, Besonderem und Einzelnem. Sie wird als die Identität des Begriffs selbst gedacht, statt daß umgekehrt Identität aus dem Vollzug schöpferischer Freiheit und damit in ihrer Zufälligkeit gedacht würde. Hegel hat den Begriff, genauer das „wahrhafte, unendliche Allgemeine", als „schöpferische Macht" verstanden, die sich in ihre eigenen Momente unterscheide und bestimme, dadurch sich selbst realisiere Aber sind Begriff und Subjekt wirklich identisch? Hegel hier zu widersprechen, ohne in Gedankenlosigkeit zu verfallen, ist freilich nicht so leicht; denn wie soll das Subjekt der Freiheit gedacht werden, wenn es nicht ebd. 204: „Die Notwendigkeit wird nidit dadurdi zur Freiheit, daß sie verschwindet, sondern daß nur ihre noch innere Identität manifestiert wird... umgekehrt wird zugleich dadurcti die Zufälligkeit zur Freiheit, indem die Seiten der Notwendigkeit, welche die Gestalt für sich freier, nicht ineinander scheinender Wirklichkeiten haben, nunmehr gesetzt sind als Identität, so daß diese Totalitäten der Reflexion-in-sich in ihrem Unterschiede ntm auch als identische scheinen. . ebd. 204 f. ebd. 244 f.
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selbst Begriff ist? Die subjektive Freiheit kann nur dann sinnvoll vom Begriff abgehoben werden, — was doch nur im Denken geschehen kann, — wenn der Begriff nicht die höchste Form des Gedankens ist. Außerdem trifft der Widerspruch an dieser Stelle nicht nur Hegel, sondern auch die traditionelle Gotteslehre der Theologen. Solange nämlich die Freiheit Gottes als Vermögen eines göttlichen Wesens gedacht wird, das zwar als frei behauptet wird, aber dem Akt der Freiheit schon zugrundeliegen soll, solange erscheint der Akt der Freiheit Gottes entweder als ein äußerlich zu seinem Wesen Hinzukommendes oder aber als Ausdruck dieses Wesens selbst, seiner Macht, und somit als Manifestation seiner Selbstidentität, also der in ihm liegenden Notwendigkeit. Die traditionelle theologische Gotteslehre kennt keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Hegel teilt mit ihr die Annahme eines dem Akt der göttlichen Freiheit schon vorgegebenen absoluten Wesens. Es geht als „freie Macht" des Allgemeinen dem Akt der Freiheit selbst voraus. Hegel folgt hier der theologischen Tradition ebenso wie bei seiner Herleitung der Trinität aus dem Geistbegriff, mit der schon Anselm von Canterbury ihm vorangegangen war. Daß Hegel die theologische Gotteslehre strenger beim Wort nahm als sie selbst das zu tun pflegte, indem er die Freiheit Gottes als Ausdruck seines vermeintlich ihr vorgegebenen Wesens zu denken suchte, nämlich als Manifestation dieses Wesens, daraus wird man ihm keinen Vorwurf machen dürfen. Wenn hier ein begründetes Unbehagen bleibt, so sollte es sich nicht in erster Linie auf Hegel richten, sondern auf die hier bestehende, auch bei ihm noch nicht behobene Aporie der traditionellen Gotteslehre überhaupt, die freilich in der gedanklichen Strenge Hegelscher Formulierungen auffälliger ist als anderswo. Hegel hat den abstrakten Dualismus im Gedanken eines allem Endlichen nur entgegengesetzten Gottes mit Recht als Verendlichung des Absoluten bekämpft. Die Verendlichimg im Gedanken eines dem Akt der absoluten Freiheit als Vermögen und „Macht" dieser Freiheit zugrundeliegenden Wesensbegriffs, der die göttliche Wirklichkeit zu einem Vorhandenden herabsetzt, scheint er nicht durchschaut zu haben. Doch das kann ebensowenig von seinen Kritikern aus den Reihen des philosophischen Theismus und der Erweckungstheologie behauptet werden, die die Freiheit Gottes und des Menschen bei Hegel verkürzt fanden. Sie blieben bei der Gedankenlosigkeit der Annahme eines göttlichen Wesens und zu ihm noch hinzukommender Freiheitsakte stehen. Die einzige ernsthafte Alternative zu der von Hegel auf ihren Begriff gebrachten Vorstellungsweise wäre es, das •* ebd. 242.
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Wesen Gottes selbst aus der absoluten Zukunft der Freiheit zu verstehen, statt es umgekehrt als Vermögen seiner Freiheit zugrundeliegend zu denken. Nur als absolute Zukunft der Freiheit ließe sich Freiheit denken, die nicht der Notwendigkeit einer vorgängigen Wesensnatur unterliegt. Die theologischen Kritiker Hegels waren sicherlich nicht ganz zu Unrecht der Meinung, daß ausgerechnet der Gedanke der Freiheit — dieser Zentralgedanke Hegels — bei ihm nicht unverkürzt auf den Begriff gebracht worden sei, und zwar weder im Hinblick auf die Freiheit Gottes noch auf die des Menschen: Daß die Freiheit Gottes und die des Menschen einander bedingen, daß somit die Auffassung der einen nicht ohne Folgen für die andere bleibt, das hat sich ja spätestens seit dem 13. Jahrhundert, seit der Auseinandersetzung der christlichen Theologie mit dem lateinischen Averroismus, der denkenden Besinnung eingeprägt. Was in Hegels Begriff der Freiheit sowohl Gottes als auch des Menschen nicht zu seinem Recht kommt, das ist ihre Zufälligkeit im Sinne des aus der Zukunft Zufallenden, ihre Unableitbarkeit aus allem schon Vorhandenen, auch aus dem, was der Wollende selbst schon ist. Mit diesem Moment des Zufälligen hängt auch der Pluralismus der individuellen Realisierung der Freiheit, sowie das selbständige Recht des Historischen gegenüber der logischen Form des Begriffs und die Unabgeschlossenheit alles vergangenen und gegenwärtigen Wesens, sowie seine Verwiesenheit auf eine noch offene Zukunft zusammen, die darum unerläßlicher Horizont für das Verständnis gegenwärtiger Wirklichkeit ist. All das führt auf die zentralen Fragen, ob Geist und Gedanke wirklich ihre höchste Gestalt im Begriff und in der Idee als realisiertem Begriff finden und ob der Begriff schon Subjekt und subjektive Freiheit nur Begriff ist. Wenn Hegel das konkret Allgemeine des Begriffs „die freie Macht" nennt und diese freie Macht des Begriffs dann weiter als Freiheit der Liebe bestimmt ®®, dann wird der Sprung, der Riß im Gedanken unübersehbar, der hier gedanklich nicht Vermitteltes verbal zusammenzwingt; denn die Freiheit der Liebe ist unvorgreiflieh; sie übersteigt alle vorgegebenen Identitäten, und die Identität, die sie selbst hervorbringt, ist zwar ihr Ausdruck, Dabei gehört absolute Zukunft zum Wesen der Freiheit, weil absolute Freiheit keine Zukunft außer ihr selbst hat und so ihre eigene Zukunft ist. Diese Zufälligkeit oder Kontingenz der Freiheit bildet das Wahrheitsmoment des Insistierens der Kritiker Hegels auf der von ihm als abstrakt abgewerteten formellen Freiheit. Gerade im Gedanken konkreter Freiheit müßte dieses Moment der Kontingenz im Akt der Freiheit gewahrt bleiben. Wissensdiaft der Logik II, 242.
Das Christentum in der Philosophie Hegels
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aber nie schon ihr voller Begriff, so daß sie auch nicht eingeholt werden kann durch den Begriff. Aller Begriff bleibt hier bloßer Vorgriff Die Selbständigkeit der Freiheit, der Zukunft, der Individualität und des Historischen, damit aber auch des Geistes überhaupt gegenüber dem Begriff, der auch in seiner höchsten Form nur Moment des geistigen Lebens ist, hat Vorbehalte auch gegenüber der Aufhebung der religiösen Vorstellung in den Begriff, wie Hegel sie proklamierte, zur Folge. Das historisch Zufällige, das den Inhalt der religiösen Vorstellungen jedenfalls des Christentums bildet, läßt sich nicht unverkürzt auf die Identität des Begriffs bringen. Das gilt gerade auch vom Gehalt der Geschichte, der dem Blick wechselnder Zeiten je Verschiedenes zu erkennen gibt und einer noch nicht erschienenen Zukunft noch anderes bedeuten wird als der Gegenwart. Hegels Polemik gegen die Bemühungen um das Historische des Christentums zielte daher zu kurz. Andererseits behält die andeutende Sprache der religiösen Vorstellung gerade wegen ihrer Vorläufigkeit ein vorerst bleibendes Recht, wenn die Wirklichkeit im ganzen noch unabgeschlossen ist und in ihrem logischen Wesen durch** Die Herabsetzung des Begriffs zum Vorgriff bildet nicht etwa nur eine äußerlich gegen das Denken Hegels vorzubringende Antithese. Vielmehr erweisen sich die Hegelschen Gedankenbestimmungen in ihrer dialektischen Natur an ihnen selbst als antizipatorisch. So läßt sich an der Gedankenentwidclung der „Wissenschaft der Logik" zeigen, daß die logischen Bestimmungen die am Schluß der „Phänomenologie des Geistes" gewonnene Idee des absoluten Wissens oder der Wahrheit als Identität von Subjekt und Objekt inhaltlich formulieren, sie jedoch dabei nicht einholen und gerade so über sich hinaustreiben. In der Weise wie das absolute Wissen unmittelbar auftritt — als Sein — hat es noch nicht seine adaequate Gestalt gefunden, und diese Inadaequanz wird der Reflexion auf das in jener anfänglichen Bestimmung faktisch „Gesetzte" offenbar. Damit wird der Weg frei für eine neue Formel des absoluten Wissens, die sich ihrerseits der Reflexion auf das in ihr Gesetzte als bloße Antizipation enthüllen wird, die wieder über sich hinaustreibt. Dieser antizipatorische Charakter der logischen Bestimmungen, deren Anfang beim Sein schon „an sich" der Begriff ist (Enzykl. § 238, vgl. § 84), ist Hegel nur darum nicht zum Problem geworden, weil jener Anfang mitsamt dem darauf folgenden „Rückgang in den Grund" ihm von der spekulativen Idee aus als „ihr Selbstbestimmen" erschien (§ 238). Jedenfalls aber liegt auch unabhängig von dieser Selbstdeutung Hegels, die die Abschließbarkeit der Reflexionsbewegung der Logik in der absoluten Idee zur Bedingung hat, die antizipatorische Struktur der logischen Bestimmungen im Gang seiner Logik zutage, und insofern ist das Denken dieser Bestimmungen selbst auf eine Zukunft seiner Wahrheit bezogen, aus der es entspringt, indem es auf sie vorgreift. Das gilt auch noch für die absolute Idee, wenn deren Wahrheit noch nicht mit ihrer logischen Formalität erreicht ist, sondern erst mit ihrer konkreten Entwicklung durch Natur- und Geistesphilosophie bis hin zur Philosophie der Religion. Die logischen Bestimmungen erweisen sich dann letztlich als Vorgriff auf diejenige Wahrheit, die in der Geschichte der Religion thematisch ist. Sie sind freilich von Hegel selbst nicht ausdrücklich so entwickelt worden, sondern zeigen sich so erst einer Reflexion, die die Implikationen der gesetzten Bestimmungen und des Verfahrens ihrer Entwicklung auch gegen das Selbstverständnis Hegels kritisch geltend macht.
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aus nicht unbetroffen bleibt von den Zufällen geschichtlicher Zukunft. Nicht zuletzt weil die religiösen Vorstellungen Endgültiges im Modus der Andeutung sagen, vermögen religiöse Überlieferungen den Raum der Freiheit für den einzelnen offenzuhalten und damit die politische Funktion für die subjektive Gesinnung zu erfüllen, die Hegels insbesondere dem Christentum zuerkannte. Allerdings kommt in der traditionellen dogmatischen Gestalt der religiösen Vorstellungen gerade des Christentums diese ihre Vorläufigkeit, ihr andeutend bedeutender Sinn wenig oder gar nicht zum Ausdruck. Schon darum ist dem Urteil Hegels zuzustimmen, daß der Kritik der Aufklärung an den traditionellen Glaubensvorstellungen des Christentums nur dadurch zu begegnen ist, daß ihre Wahrheit befreit wird aus der Enge ihrer traditionell dogmatischen Gestalt. Das braucht nicht die Umsetzung der Glaubensvorstellungen in den Begriff im Sinne der Hegelschen Logik zu bedeuten. Es braucht nicht einmal zu heißen, daß die Glaubensvorstellungen auf ihren Begriff, auf den Begriff ihrer eigenen Sache gebracht werden müßten oder könnten: Die Endgültigkeit des Anspruchs, die Vorstellungen des Glaubens auf ihren Begriff zu bringen, wird fragwürdig, wenn durchschaut ist, wie wenig die Form des Begriffs der erfahrenen Wirklichkeit gerecht zu werden vermag. Diese Einsicht zeichnet schon eine neue Gestalt des Denkens vor, die der erfahrenen Wirklichkeit besser entspricht als der Hegelsche Begriff, eines Denkens, zu dessen Wahrheit die Reflexion der eigenen Vorläufigkeit ebenso gehört wie die der Tragweite von Zufall und Zukunft im Zeichen der Freiheit. Doch dürfte Hegel auch darin recht behalten, daß nur auf dem Boden der allgemeinen Wahrheit des freien Gedankens die Wahrheit der Religion ihrer selbst noch gewiß werden kann, nachdem die Kritik der Aufklärung das Prinzip der Autorität zerstört hat und am Tage ist, daß die Subjektivität der frommen Erfahrung oder des Glaubensdezisionismus, wenn sie als letzter Gewißheitsgrund des Glaubens genommen wird, den Ruin seiner Wahrheit bedeutet. Die Kritik an Hegels Verengung des philosophischen Gedankens zum Begriff des Begriffs sollte das christliche Denken nicht länger davon abhalten, die durch Hegels Denken eröffnete Möglichkeit für eine neue und positive Verhältnisbestimmung von Christentum und Neuzeit zu erkennen und zu ergreifen. Diese Möglichkeit ist gebunden daran, daß der christliche Glaube mit einer neuen Strenge und Ausschließlichkeit als Religion der Freiheit verstanden wird. Wenn die an Hegels Denken zu übende Kritik sich dahin zusammenfassen läßt, daß die Erfahrung der Freiheit noch tiefer durchdacht werden muß als das bei Hegel geschehen ist, dann folgt auch solche Kritik noch der von Hegel gewiesenen Richtung.
ADRIAN PEPERZAK (UTRECHT)
HEGELS PHILOSOPHIE DER RELIGION UND DIE ERFAHRUNG DES CHRISTLICHEN GLAUBENS Korreferat zu Pannenbergs Vortrag: Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels
In diesem Korreferat will ich die Hegelsche Philosophie der christlichen Religion nicht mit einer „orthodoxen" Dogmatik vergleidien, um zu kontrollieren, ob Hegel z. B. kein Pantheist sei, die Persönlichkeit und Freiheit Gottes, die Geschichtlichkeit Jesu, das Böse und das ewige Leben genügend anerkenne; es ist hier vielmehr um die spezifische Begriffsbildung seiner Religionsphilosophie zu tun. Genauer: um die Frage, inwiefern die von Hegel entwickelte Form des Begreifens eine adäquate Darstellung des christlichen Glaubens zuläßt. Einige der Voraussetzungen, die in dieser Fragestellung enthalten sind, werden im Verlauf der Überlegung zutage treten.
I 1. Die Hegelsche Auslegung der christlichen Religion fängt mit einer Charakteristik der religiösen Erfahrung an: der christliche Glaube, wie er sich unmittelbar gibt in den Empfindungen, Gefühlen, Vorstellungen, in Andacht, Kultus und Leben der christlichen Gemeinde. Wie immer, so geht es auch hier darum, „das was ist, zu begreifen" Der Prozeß, in dem das Begreifen sich produziert, hebt die Form der anfänglichen Unmittelbarkeit in die Form des Begriffs auf, aber der Inhalt bleibt dabei derselbe. Die Religion weiß die vollständige Wahrheit (den Geist, der sich selbst will und weiß) im Element des Gefühls und der Vorstellung; in der Philosophie erkennt dieselbe Wahrheit sich in ihrer wahren Form: im Denken des Begriffs. Das heißt: in einem Denken, für welches die Notwendigkeit dessen offenbar ist, was anfänglich ‘ Vgl. zum Beispiel Philosophie der Religion (ed. Lasson) IIH, S. 184.
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— für den noch nicht theologisch entwickelten Glauben — nur eine positive und zufällige Gewißheit war. Die vollendete Philosophie ist eine begriffliche (Re)produktion der Wahrheit, die im wahren Glauben immer schon gegenwärtig war, aber erst jetzt in ihrer ewigen Notwendigkeit erkannt wird 2. Das angegebene Verhältnis zwischen der christlichen Erfahrung und dem entwickelten Begriff dieser Erfahrung ist selber ein Begriffsmoment des Hegelschen Denkens. Die Erfahrung kann nur darum „unmittelbar" sein, weil sie von vornherein als aufzuhebendes Moment einer Vermittlung gedacht ist. Hegel bestimmt diese Vermittlung (welche also selbst als ein Element in die Definition der anfänglichen Erfahrung eingeht) als die Vermittlung des Begreifens. Der sich entwickelnde Begriff ist die Perspektive, in der Hegel — und das von ihm vollendete Philosophieren — sich der Religion zuwendet. Der Glaube ist so „unmittelbar" bestimmt als der noch nicht vor dem Begreifen gerechtfertigte Glaube. Die begriffliche Rechtfertigung ist aber eine wesentliche Aufgabe des Menschen, weil er sich vom Tier gerade durch die freie Vernunft unterscheidet. Wenn Hegel nun meint, daß die begriffliche Vermittlung des christlichen Glaubens vollständig gelinge — wie wir schon gesehen haben, ist die ganze Wahrheit der christlichen Erfahrung im philosophischen Begriff der Religion aufbewahrt —, so behauptet er, daß es nichts Wahres im Christentum gebe, das nicht in besserer: an und für sich wahrer Weise durch die Philosophie gewußt und ausgesprochen würde. Daß die Religion dadurch nicht überflüssig wird, sondern — auch ihrer Form nach — notwendig bleibt, kommt nur daher, daß die Menschen keine Engel sind, sondern auch empfindende, fühlende und vorstellende Wesen. 3. Nicht nur der Form nach ist Hegels Beschreibung der christlichen Religion abhängig von seiner Theorie des Begriffs, sondern auch die Wiedergabe des Inhalts der christlichen Religion ist vom spekulativen Denken geprägt und mitbestimmt. Weil die christliche Erfahrung für Hegel nur ein Moment der vollständig entwickelten Idee ist, kann er in ihr nur das erkennen, was sich in die Begriffsform aufheben läßt. Alles Geheimnisvolle, das nicht mit logischer Notwendigkeit (re) konstruiert werden kann, ist also entweder unvernünftig oder ein noch nicht genug bearbeitetes Material, das die Theologie in offenbares Wissen verwandeln soll. * Ebenda V, 291—302.
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Diese These würde nicht notwendig aus seiner Philosophie der Religion folgen, wenn Hegel behauptet hätte, daß die Philosophie nur dasjenige ausführt, was sich im Christentum begreifen läßt. Er sagt aber, daß es im Christentum nichts Wahres und keine Wirklichkeit gebe außer dem, was das spekulative Denken aus der Glaubenserfahrung heraushebt, um es in der Begriffsform zu formulieren. Diese These möchte ich an zwei Beispielen illustrieren. 1) Die Bibel ist als Glaubensquelle nur brauchbar unter der Bedingung, daß ihre Buchstaben zum Leben gebracht werden von dem lebendigen und wahren Geist, der sie auszulegen vermag. „Der wahre, richtige Geist" aber ist der Geist, „der in sich selbst nach der Notwendigkeit verfährt, nicht nach Voraussetzungen", — der sich für sich legitimiert durch „die Sache selbst", d. h. durch „das, was der Begriff dartut". Überhaupt gilt für die Auslegung der Bibel und der Glaubenssymbole: „der absolute Halt ist nur der Begriff" 2) Die Geschichte Jesu war eine „ganz zeitliche, vollkommen gemeine Erscheinung", aber der Geist der christlichen Gemeinde hat in ihr die Gegenwart des Göttlichen entdeckt. Die Wahrheit des historischen Ereignisses wird vollständig erkannt und adäquat formuliert, wenn wir es begreifen als die Erscheinung einer ewigen Notwendigkeit; als die realisierte Idee der Einheit des unendlichen und des endlichen Geistes. Der eigentliche Inhalt, das Innere, Wahrhafte, Substantielle dieser äußerlichen Geschichte ist das ewige göttliche Geschehen oder Tun. Sie ist ein Gedoppeltes, eine Allegorie Was die Religion als ein Nacheinander im Raum und in der Zeit vorstellt, ist nur der natürliche und bildliche Ausdruck des notwendigen Ineinanders des unsinnlichen und zeitlosen Begriffs, den die Philosophie darin erkennt ®. Die denkende Auslegung der christlichen Erfahrung ist die Aufhebung aller Äußerlichkeit und Positivität in den bei sich seienden Begriff. Die realisierte und offenbare Idee des sich selbst erkennenden endlich-unendlichen Geistes ist die Vollendung der freien Selbsterkenntnis: das mit dem Erkennen Gottes identische Wissen des Univer’ Ebenda I*, 39 ff.; IPI, 227—228: „Im Glauben ist wohl schon der wahrhafte Inhalt, aber es fehlt ihm noch die Form des Denkens. (...) Das Denken ist der absolute Richter, vor dem der Inhalt sich bewähren und beglaubigen soll". (Werke XII, 353). ‘ Ebenda !■, 111—H2; IIH, 130 ff.; 177 ff. ® Ebenda I*, 296—297; vgl. auch Enzyklopädie (ed. Nicolin-Pöggeler), S. 12 und 18—19.
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sums ®. Nur in diesem Wissen findet das Zeugnis des Geistes seine wahre Darstellung Was die symbolische Form der Religion noch verhüllte, ist jetzt offenbar. Das Geheimnis liegt zu Tage ®.
II 1. Der Theologe muß der Behauptung Hegels zustimmen, daß wissenschaftliches Denken sich auszeichnet durch die Aufdeckung von Allgemeinheiten und Notwendigkeiten in dem, was sich anfänglich als ein nur zufälliges und vereinzeltes Sein gibt. Wie sollte ein thematisches und methodisches Denken möglich sein, wenn es nicht wenigstens die Zufälligkeit als solche bestimmen imd im Zusammenhang mit Anderem denken könnte? Und wie eine spekulative Wissenschaft (Philosophie oder Theologie), wenn sie nicht fragen würde, wie dieses und jenes Zufällige und das Zufällige überhaupt möglich und wirklich sind, — was ihr Grund und Sirm im Ganzen der Welt, des Lebens, der Religion sind usw.? — Die Forderung nach einer wissenschaftlichen Notwendigkeit im Religiösen kann man also nicht widerlegen durch den Hinweis auf die Zufälligkeit historischer Ereignisse oder — was noch schlimmer wäre — göttlicher Dekrete. Denn inwiefern würde eine solche Theologie sich von dem naiven Erzählen unterscheiden? Das Erzählen hat vor ihr noch voraus, daß es dem Gläubigen wenigstens in verhüllter Weise eine allgemeine und wesentliche Bedeutung mitteilt. Die hier anzudeutende Kritik richtet sich denn auch nicht gegen die abstrakte Forderung nach Notwendigkeit. Sie versucht aufzuweisen, daß die Hegelsche Denkform und die in ihr liegende Auffassung von begrifflicher Notwendigkeit nur eine bestimmte Auffassung und Denkform darstellt, und zwar eine, die der christlichen Glaubenserfahrung nicht angemessen ist, sondern sie verstümmelt und verkürzt. 2. Die Leitfrage meines kritischen Versuchs ist diese: Von welcher (sowohl theoretischen wie praktischen) Einstellimg oder Position wird • Phil, der Religion !•, 185—186: „Die Entwicklung Gottes in ihm selbst ist somit dieselbe logische Notwendigkeit, welche die des Universums ist, und dies ist nur an sich insofern göttlich, als es auf jeder seiner Stufen die Entwicklung dieser Form ist". ’’ Ebenda P 94; 96; II«, 22—24; 227—228. ® Ebenda !•, 75: „Hier ist alles dem Begriff angemessen; die geoffenbarte Religion ist die offenbare, weil Gott in ihr ganz offenbar geworden ist, — es ist nichts Geheimes mehr an Gott"; vgl. auch P, 200—201; IPI, 69 („Die Dreieinigkeit heißt das Mysterium Gottes; der Inhalt ist mystisch, d. h. spekulativ") und 77 ff.
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das Begreifen, wie Hegel es exemplarisdi entwickelt hat, notwendig beherrscht? Also nicht: Was war Hegel für ein Mann? Wie religiös war er? Was war die Qualität seiner Frömmigkeit? Sondern: Vermag die von ihm befolgte Methode den wahren christlichen Glauben, wie er sich in der Erfahrung gibt, vollständig zu respektieren und theoretisch zu „dekken"? Meine These lautet: Dies ist nicht der Fall. Der von Hegel entwickelte Denkmodus ist der Position des Glaubens wesentlich entgegengesetzt. Die Theologie soll sein Denken nicht nur rezipieren, sondern es auch als eine Macht, von der sie bedroht wird, überwinden. 3. Eine allgemeine Auseinandersetzung ndt der Form des Hegelschen Denkens kann sich nicht auf seine Philosophie der Religion beschränken. Sie muß von einer niedrigeren Stufe seines Systems ausgehen. Im Anschluß an das Oeuvre von Emmanuel Levinas ® ist das Totalitätsdenken Hegels folgendermaßen zu kennzeichnen. Das Subjekt des Denkens ist ein einsames Ich, das die Wirklichkeit (Natur, Kultur, Menschheit, Gott) innerhalb der Grenzen seiner dialektischen Begriffsentwicklung umschließt und so selber eine zentrale, alle Wirklichkeit im Begriff beherrschende Stellung eirmimmt. Obwohl Hegels Sozialphilosophie zum Größten der europäischen Tradition gehört, muß man doch sagen, daß die Ausgangsposition des im Begreifen herrschenden Subjekts eine exakte Beschreibung und Theorie von Zwischenmenschlichem wie Begegnung, Gespräch, Unterweisung, Hören, Geben, Empfangen, Lieben usw. — alles Ereignisse, welche die Totalität brechen — verhindert. Ein Ich, das Begegnung, Dankbarkeit, Liebe, Moral usw. als begriffliche Momente in den sich selbst wollenden und wissenden Geist aufhebt, kann nicht zugleich das Subjekt dieser Verhältnisse sein. Oder: das Subjekt der Begegnung, der moralischen Verpflichtung, der Gastfreundschaft usw. ist nicht identisch mit dem Subjekt der theoretischen Totalität, in der die Anderen nicht mehr Andere, sondern Momente des Selbigen (des — vom Denker gedachten — Begriffs) sind. Ich kann diese radikale Kritik hier nur flüchtig andeuten. Ihre Ausführung würde zu erklären haben, warum das System des absoluten Wissens im Grunde eine Philosophie der Welt und des Lebens ist (aber das in unvergleichlicher Weise) und das Soziale nur insofern versteht, als es ein System, nicht insofern es ein immer neues und überraschendes “ Vor allem in Totalite et Infini, Den Haag 1961* und in vielen Aufsätzen. Eine so gut wie vollständige Bibliographie und viele Erläuterungen finden sich in E. Levinas, Het menselijk gelaat, Utrecht 1969. Vgl. auch das wichtige Buch von Michael Theunissen: Der Andere, Berlin 1965.
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Geschehen ist. Hinsiditlich der Religionsphilosophie wäre dann auch verständlich, daß das Wort der Verkündigung und des Unterrichts und eine dialogische Pluralität in Hegels Beschreibung des christlichen Lebens keine wesentliche Rolle spielen. Das einzige Wort, das nicht nur propädeutische Bedeutung haben soll, sondern als Wort der Wahrheit gilt, ist die logische Darstellung des Systems: ein Monolog, der das Gespräch der denkenden Subjekte im Ganzen des absoluten Wissens vollendet. 4. Die Hauptmomente der religiösen Erfahrung sind der Darstellung Hegels nach: 1) eine anfängliche Einfachheit (das religiöse Gefühl ist „meine Subjektivität in ihrer Einfachheit und Unmittelbarkeit", „ungetrennte Innigkeit" “); 2) die Entwicklung der Unterschiede nach dem Inhalt (Ich — Gott, endlicher — unendlicher Geist usw.) und nach der Form (Gefühl — Glaube — Vorstellung — Verstand usw.); 3) die vernünftige Wiederherstellung der ursprünglichen Einheit in eins mit der Aufbewahrung der im zweiten Moment entwickelten Unterscheidungen: der entfaltete Begriff. Die wahre Erfahrung des Glaubens aber, wie sie erlebt und von exemplarischen Christen beschrieben wird, ist nicht die einer gefühlten Einheit, welche sich entfaltet und wieder zusammennimmt in die Totalität der nicht nur gefühlten, sondern auch begriffenen Einheit des endlich-unendlichen Geistes. Die christliche Erfahrung ist ein Weg, der seinen Ausgang nimmt von einem radikalen Verlangen. Das Verlangen richtet den Glaubenden auf ein Größeres, Vermutetes, nicht Erkanntes aus. Er realisiert sich in einem Suchen, das wesentlich ohne Ende oder unendlich ist. Nicht im Sinne eines leeren Sehnens, derm das Orientierende ist eine Gegenwart, die dem Suchenden seine Stimmung und Bestimmung verleiht und ihn erfüllt in der Weise eines Gesuchten, das in eben dem Maße gesucht wird, in welchem man es findet. Es vertieft das Verlangen und erzieht es zum Frieden, indem es Gesuchtes bleibt und immer mehr wird Der Kontakt mit seiner Gegenwart ist und bleibt ein Verhältnis der Ferne. Im 4. Vorlesung über die Beweise vom Dasein Gottes, in: Werke XII, 385.
Eine entwickeltere Beschreibung dieses Suchens in seiner Wechselwirkung mit den Denken habe ich versucht in Op weg naar de waarheid van „Ik ben", in: Cronden en Grenzen, Haarlem, 1967, pp. 168—185. Dort finden sich auch Belege aus der theologischen Tradition. Vgl. auch Der heutige Mensch und die Heilsfrage, Freiburg i. B. 1972.
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Fortgang der Erfahrung verwandeln sich sowohl das Verlangte wie die Qualität des Suchens; sie entdecken und vertiefen sich, aber ihre Verbundenheit bleibt eine Identität der Annäherung und der Entfernung. Die Entfernung ist ein notwendiges Moment des religiösen Verhältnisses. Sie verhindert die Einsamkeit des monistischen Egozentrismus. Der Christ, der sich fragt, „was es heißen könne, sich Gott zu nähern" setzt nicht nur sein Denken, sondern sein Leben daran, um Stufen und Gestalten des religiösen Fühlens, Deutens und Tuns zu prüfen und — wenigstens teilweise — hinter sich zu lassen. Das Experiment der Annäherung Gottes ist eine Entdeckungsreise durch viele Gegenden: Wüsten und Oasen. Die entscheidende Erfahrung ist die sich unaufhörlich vertiefende praktische und theoretische Erinnerung und Prüfung des Ereignisses Jesu Christi, in dem die Wahrheit sich als unscheinbares Geben und nicht als triumphierende Güte offenbart. Aber am Ende des Weges leuchtet das einzig Notwendige wie eine Nacht. „Die Identität der Identität und der Nicht-Identität" die während dieser Entdeckungsreise auf verschiedenen Stufen und in verschiedenen Gestalten erlebt wird, ist nicht zu übersetzen in die Sprache eines Gott und Mensch umfassenden Begriffs. Gott ist nicht unendliches Leben, das sich in der spekulativ vom menschlichen Subjekt zu umgreifenden Einheit der menschlichen und der göttlichen Natur verwirklicht und sich ihr ausliefert. Er ist ein Geheimnis, dessen Wesen sich dem Ihn mit dem Universum zusammenfassenden Zugriff entzieht. Das Verlangen ist länger als die Intention, welche Gott in den Horizont des theoretischen Wissens einschließt. Jedes durch die Intention des totalisierenden Verstehens beseelte Sprechen verengert den Horizont: es verrät eine Position des Subjekts, die das Leben und Denken nicht radikal wagt und darum das Radikale nicht in den Blick bekommen kann. Ein Denken über die Einheit des Endlichen und des Unendlichen, das diese Einheit vollständig und konkret formuliert, springt über die einzig mögliche und notwendige Position des endlich-empirischen Subjekts angesichts Gottes hinweg. Es verkennt die Eigenart des Erfahrungswegs, auf welchem der Suchende sich in dem Grund seines Wesens angesprochen und aufgefordert weiß, eine Antwort zu finden, die dem Anspruch angemessen ist. Weil der Anspruch nichts unbehelligt läßt und sich bis auf Vgl. den Brief an Schelling vom 30. VIII. 1795, Briefe I, 29. ** Vgl. die mystische und theologisdie Tradition der Nächte (Einige Belege in Op weg . . pp. 184—185). Differenz des Fichte'sehen und Schelling'sehen Systems der Philosophie, in: Jenaer Kritische Schriften (ed. Buchner-Pöggeler), S. 64.
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den Grund des Angesprochenen hinabsenkt, weiß dieser, daß die Antwort nur eine radikale und totale sein kann: die Einübung einer Hingabe, welche nichts aus dem Spiel läßt. Das Subjekt der Erfahrung karm also nicht mehr selber das Spiel leiten; nur es so gut wie möglidi spielen. Für das Denken und Sprechen bedeutet diese Entdeckung, daß das wahre Sprechen „über" Gott kein Sprechen über ihn, sondern nur ein andeutendes und hinweisendes Sprechen sein kann. Nur diejenige Position und Gestalt des Denkens ist dem religiösen Anspruch gemäß, die sich dieser Wendung einfügt. Weil aber das Denken in der Form der Wissenschaftlichkeit notwendig das Ganze denkt, und zwar in objektivierender Weise, kann die Wissenschaft (Philosophie oder Theologie) die Wahrheit der religiösen Erfahrung nicht vollständig an ihr selbst ausdrüdcen. Sie kann aber das Experimentieren mit den Gestalten, welche sich der Prüfung anheimgeben, in der Weise einer Erläutertmg begleiten; dann wird sie eine phänomenologische Hermeneutik oder hermeneutische Phänomenologie. 5. Der skizzierte Versuch, das Philosophieren Hegels von der christlichen Erfahrungstradition her zu kritisieren, müßte näher geprüft werden im Lichte konkreter Themen des theoretischen und praktischen Christentums. In der Erfahrung der Dankbarkeit entdeckt eine phänomenologische Hermeneutik eine andere Struktur als die spekulativ nachvollzogene Selbstentfaltung und Verweltlichung Gottes: ein Empfangen und Geben, dessen Analyse eine bessere Deutung der Schöpfung und Gnade ermöglicht. — Die Beschreibung des Verlangens als eines sich ständig vertiefenden Kontakts der Ferne enthält Elemente für eine Definition der Liebe. — Die erfahrungsgemäße Prüfung der Hegelschen Theorie der Vorstellung und des „nur Symbolischen" entdeckt im Symbol eine vorläufige, vom Verlangen je schon eingeholte, widerlegte und zur Verwandlung auf fordernde Andeutung des Vielnamigen, deren Vorläufigkeit der einzige „Halt" ist, um überhaupt den Weg der absoluten Negation gehen zu können. — Eine solche mit der sich reflektierenden Erfahrung identische Prüfung der Hegelschen Philosophie erklärt auch den Eindruck der Langeweile, welche die von ihr versprochene, das Verlangen und die Erwartung aber enttäuschende „Befriedigung" verursacht. Nur auf ein Beispiel der Diskrepanz zwischen der Hegelschen Theorie und der christlichen Erfahrungstradition möchte ich noch kurz hinweiPhilosophie der Religion V, 110—116; 285; IIH, 190 ff. — Vgl. W. van Dooren, Het totaliteitsbegrip bij Hegel en zijn voorgangers, Assen 1965, pp. 73—83.
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sen: auf Hegels Deutung des Unterschieds zwischen Protestantismus und Katholizismus. Die beiden Konfessionen sollen sich durch eine verschiedene Einstellung zur Welt der Sittlichkeit unterscheiden. Die katholische Interpretation des christlichen Ideals enthält nach der Auffassung Hegels eine Mißachtung und Verleumdung der Erde, welche in den Gelübden der Keuschheit, der Armut und des Gehorsams zum Ausdruck kommt. Der protestantische Glaube wäre dagegen das Selbstbewußtsein des Prinzips der konkreten Freiheit, das sich in der Welt der modernen Sittlichkeit ihre objektive Verwirklichung gibt. Ganz zu schweigen davon, daß die von Hegel gezeichnete Karikatur des Katholizismus und seine Auslegung des Protestantismus als einer Religion der sich in der sittlichen Welt vollständig objektivierenden Freiheit viele Bedenken erregen, würde auch eine bessere Auslegung der Tradition der „evangelischen Räte" sich mit dem Religionsverständnis Hegels kaum vereinbaren lassen. Denn die Distanz zur natürlichen und sittlichen Welt, die sich in dem „Ideal der Heiligkeit" weltlich und gesellschaftlich realisiert, ist unvernünftig, wenn es über die Erwartung und Verwirklichung einer juristisch, wirtschaftlich und politisch gut geordneten Welt hinaus keine Hoffnung gibt. Man kann das Denken nicht in den spekulativen Horizont der endlich-unendlichen Geschichte einschließen, wenn die Zukunft des eigentlichen Verlangens und das absolut Notwendige sich nur in der wirklich gewagten und erlittenen Negation des Todes zeigen (oder symbolisch andeuten).
III Bei einer wiederum kritischen Prüfung der vorgebrachten Kritik muß man sich fragen: Welchen wissenschaftlichen Wert hat der Ausgangspunkt, der hier „die christliche Erfahrung" genannt wurde? War meine Beschreibung der religiösen Erfahrung nicht „eine bloße Versicherung" und verfällt sie nicht der philosophischen Kritik aller unmittelbaren Meinungen, eine Kritik, welche Sokrates angefangen xmd Hegel vollendet hat? Dazu zum Schluß zwei Bemerkungen: ” Phil, der Religion I>, 305—308; IIH, 217—220; Rede bei der dritten Säkularfeier der Übergabe der Augsburgisdien Konfession, in: Berliner Sdiriften, S. i4r-55; Enzyklopädie 1830, § 552 A und § 562 A. *• Vgl. zum Beispiel Enzyklopädie 1830, S. 5; 24; § 71 A.
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1. Hegel hat die Vermittlung des Begriffsdenkens vorbildlich ausgeführt und das relative (Un)recht alles Unmittelbaren vom Standpunkt des Begreifens überzeugend dargetan. Den Standpunkt selbst hat er aber niemals beweisen können. Um die Art des Schwimmens, wie er sie lehrt, zu erlernen, muß man nicht nur ins Wasser, sondern in dieses so bestimmte Schwimmen selbst untertauchen. Daß der Begriff alle Wahrheit in sich enthält, — daß Denken und Begreifen dasselbe sind und daß die ganze Wirklichkeit im spekulativen Sinn vernünftig ist, hat er immer vorausgesetzt. Das „Glauben an die Vernunft" welches er vom Anfänger fordert, wird im Resultat der Begriffsentwicklung bestätigt, weil es von Anfang an schon da war, aber die Frage, ob die Erfahrung der Moral, der Kunst, der Religion sich vom Standpunkt des Begreifens adäquat bestimmen läßt, wird niemals gestellt, — nur dezidiert Das Denken Hegels entspringt einem Entschluß, der in Wirklichkeit ein Glauben ist. Man karm ihm zugeben, daß seine Philosophie der Religion richtig entwickelt, was die Religion für das freie Denken im Modus des spekulativen Begriffs bedeutet. Was die Religion für sich selbst und für eine ihr angemessene Theologie (oder Philosophie) bedeutet, konnte er nicht wissen, weil er sie ihrer eigenen Erfahrung entrückt hat. 2. Auch vom Standpunkt der christlichen Erfahrung aus muß man sagen, daß eine bloße Versicherung nicht genügt. Denn der Weg dieser Erfahrung ist nicht nur das Experimentieren mit der Frage: Wo und wer ist Gott? sondern zugleich damit: Welche Erfahrung des Religiösen ist eine (oder die) authentische und „wahre"? Das Suchen, Auffinden und Einüben der wahren Erfahrung ist (nicht nur in der Kunst, der Moral und der Philosophie, sondern auch in der Religion) eine lange Arbeit und Anstrengung der Vermittlung. Die religiöse Vermittlung (man erinnere sich der Theorien der geistlichen viae und intineraria) hat ihre eigenen Strukturen, Gesetze, Autoritäten und Notwendigkeiten: eine lange Tradition, welche schon früh die griechische Philosophie rezipiert hat, indem sie versuchte, dieser den Sinn einer hermeneutischen Beleuchtung und Erläuterung des christlichen Lebens zu geben: Theologie als „captivatio intellectus in obsequium Christi" 21. 1® Rede zum Antritt des philosophischen Lehramts an der Universität Berlin, in; Berliner Schriften, S. 8; „zunächst aber darf ich nichts in Anspruch nehmen, als dies, daß Sie Vertrauen zu der Wissenschaft, Glauben an die Vernunft, Vertrauen und Glauben zu sich selbst mitbringen". Vgl. A. Peperzak, Le jeune Hegel et la Vision morale du monde. Den Haag 1962®, pp. 252—254. Bonaventura, Opera Omnia II, 126; III, 471; vgl. 2 Cor. 10,5.
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Eine vollständige Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels ist identisch mit der Ausbildung einer Theologie, welche zugleich eine Phänomenologie des religiösen Erfahrungswegs und eine systematische Auslegung der auf diesem Weg sich herausbildenden Gestalten ist Das Gesagte waren nur einige Vorbemerkungen zur Erfüllung dieser Aufgabe heutiger Theologie.
** Der beste mir bekannte Versuch einer durch das Hegelsche Denken hindurchgegangenen theologischen Phänomenologie und Systematik ist G. Morel, Le sens de Vexistence selon S. Jean de la Croix, Paris 1960, 3 Bände. M. Theunissen danke ich sehr für sprachliche Korrekturen am Text.
MARTIN PUDER (BERLIN)
DISKUSSIONSBEITRAG
Zu Pannenbergs Vortrag: Die Bedeutung des Christentums in der Philosophie Hegels Ich möchte versuchen, genaueres Interesse auf eine Denkbewegung Hegels zu lenken, die im Referat von Herrn Pannenberg zwar gegenwärtig war, aber — wie mir scheint — mehr in der beinahe heiteren Geborgenheit des Resultates dargeboten wurde als im Widerstreit des Prozesses. Ich meine damit jene Erfahrung der Negativität, die sich in den Jugendschriften Hegels durch die Bezeichnung der zeitgenössischen Kirche und Gesellschaft als „positiv" provokant manifestierte, die Hegel in der „Phänomenologie" mit einer stilistisch ungewöhnlichen Häufung von Substantiven als „Ernst, Schmerz, Geduld und Arbeit des Negativen" (Hoffmeister, 20) umschrieb und die als einer der wesentlichen Gründe der hermetischen Schwierigkeit Hegelscher Texte auch dann noch ein ständiger Stachel blieb, als seine Lehrmeimmg selbst den Anschein des positiv Versöhnten auf viele machte. „Unmöglichkeit der Vereinigung" heißt diese Negativität in einem Fragment des jungen Hegel (Nohl, 377), das die Situation des modernen, aus dem zerstörten kosmos noetos auf sich selbst zurückgeworfenen Bewußtseins analysiert und zugleich vor der „falschen Vereinigung" warnt. „Falsch" ist nach Hegel jede Vereinigung, durch die das Bewußtsein aus dem Leiden an seiner Isolation, seinem — wie Hegel sagt — „wirklichen Schmerz", um den Preis der Regression herauszukommen sucht, das heißt dadurch, daß es die Entwicklung des neuzeitlichen Reflektierens, des Hamletischen Zweifels, einfach hintergeht. Als in diesem Siim erschlichene Lösung hatte Hegel schon damals den Poliskult seiner ersten Schriften erkannt, und auch die im Kontext des erwähnten Fragments noch für erreichbar gehaltene Versöhnung durch eine spezifische Idee der Liebe wurde von ihm bald wegen ihrer Scheinhaftigkeit zurückgewiesen. Vor allem aber waren für Hegel unmöglich die Klitterungen von Glauben und Wissen, zu denen sich die Theologie seit dem
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Ausgang des Mittelalters immer mehr nötigte; sei es daß sie unter dem Druck der fortschreitenden Rationalität die Momente durch eine neutralisierende Treimung ausglich, sei es daß sie unter Absehen von der Erfahrung des Bewußtseins eine nicht mehr vorhandene Möglichkeit des Einklangs fingierte. Bei dem unablässig auch das eigene Denken treffenden Widerwillen gegen forcierte Harmonie, der den jungen Hegel auszeichnete, ließe sich als das innere Ziel seiner Entwicklung der Gedanke angeben, daß nicht die Reduktion des Negativen, nicht die wie auch immer geartete Verdrängung der Brüche, sondern nur ihr auf die Spitze getriebenes Bewußtsein Versöhnung bringen kann. In der Religionsphilosophie hat Hegel dieses Prinzip später beschwörend formuliert: „Erkennen heilt die Wunde, die es selber ist. (IV, 124) Es ist das Krankmachen und die Quelle der Gesundheit, der Giftbecher, aus dem der Mensch sich Tod und Verwesung trinkt und zu gleicher Zeit der Quellpunkt der Versöhnung." (IV, 110) Die hier in mythischen Bildern umrissene Denkfigur heißt begrifflich „Negation der Negation". Sie war für Hegel das Medium einer Versöhnung von Glauben und Wissen auf dem Boden der Moderne, weil in ihr der wesentliche Gehalt der christlichen Religion — das Karfreitagsgeschehen der äußersten Entäußerung und die erlösende Rückkehr daraus — gerade aufgrund der neuzeitlichen Erfahrung für das Denken einsehbar zu werden versprach. Nach der Struktur und der Tragfähigkeit dieser Spekulation ist deshalb intensiv zu fragen, bevor man die Hegelsche Vereinigung in der von Herrn Pannenberg exponierten Weise als gelungen annimmt. Solches Bedenken fordert gerade die Passage heraus, die Hegels Motiv am eindringendsten vorbringt. Die berühmten Sätze über die Umwendung des Negativen in der Phänomenologievorrede nämlich sprechen von einer „Zauberkraft", statt den intendierten Umschlag in seiner Gesetzmäßigkeit zu erhellen: „Er (der Geist — M. P.) gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht (. . .), sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt." (a.a.O., 30) Daß Hegel in einem so antiromantischen Kontext einen der Magie entlehnten Terminus auf das Kernstück reiner Theorie anwendet, weist auf eine Schwierigkeit, die in diesem Rahmen nur als These formuliert werden kann: Der durch den Begriff der Negation der Negation erhoffte Umschlag läßt sich nicht schlüssig machen. Damit aber verliert auch der Hegelsche Ansatz, den Glauben
Diskussionsbeltrag
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mit dem Wissen in inneren Einklang zu bringen, seine Fundierung. Statt daß jene Denkfigur das Mysterium aufschließt, bleibt sie dessen bloße Signatur und muß geglaubt werden wie das Dogma. Gleichwohl hat Hegel nicht von seinem Anspruch nachgelassen, das Geoffenbarte als offenbar zu erweisen, es aus der Sphäre des zu Glaubenden in die des Begreifbaren zu transponieren. Ein Bewußtsein, das die Spaltung dieser Bereiche anerkennt oder nur notdürftig überbrückt, war für ihn immer ein unglückliches. (Das Phänomenologiekapitel über das unglückliche Bewußtsein hat deshalb, wie ich entgegen der Pannenbergschen Deutung meine, durchaus keinen unverwechselbaren Bezug auf das Judentum, sondern ist die Deskription eines gerade auch im Christentum vorhandenen Zustands.) Bleibt aber bei Hegel eine Differenz zwischen dem Anspruch seiner Versöhnungslehre und dessen Einlösung, so ließe sich daraus die Atmosphäre des widerstreitenden Prozesses, des quid pro quo von Religion und Philosophie verstehen, die zu opponierenden Lesungen des Textes geführt hat. Es scheint mir ein durch die eindeutig klärende Interpretation von Herrn Pannenberg verletztes hermeneutisches Prinzip zu sein, daß schwierige Texte nicht ins Einfache zu übersetzen sind, sondern auf den inneren Grund der Schwierigkeit hin zu analysieren. Ebenso gilt, daß die Rezeptionsgeschichte als eine Kette bloßer Mißverständnisse zurückzuweisen weniger fruchtbar ist als deren Ursachen bei Hegel zu erwägen. Selbst die von Herrn Pannenberg ganz zu Recht angegriffene pantheistische Fehlinterpretation des Hegelschen Gottesbegriffes kann noch als Index einer durch ihn nicht gelösten Verwicklung gesehen werden. Der Einklang des statischen und dynamischen Moments innerhalb des Absoluten wird nämlich von Hegel, wie schon angedeutet, durch eben das Prinzip des Umschlags begründet, das ihn auf eine Selbstaufhebung der modernen Zerrissenheit hoffen ließ. Gerade indem sich Gott als das Allerdynamischste seinem Gegenüber, der Welt, ausliefert, soll er die Ruhe der Noesis gewinnen, die Aristoteles ihm nur aufgrund der völligen Trennung vom Weltprozeß zuschreiben wollte. Die pantheistische Verzerrung Hegels ist auch ein Ausdruck davon, daß die Notwendigkeit dieser Rückkehr von Hegel nidit einsichtig gemacht zu werden vermochte. Es liegt nahe, Hegels Religionsphilosophie gegen solche Reaktionen durch moderantistische Behauptungen abzuschirmen, etwa durch den Satz, es gebe neben der Entäußerung Gottes sein Beisichbleiben. Ohne Zweifel bietet Hegel selbst für ein derartiges Verfahren viele Ansätze. Allein, man ist damit im Gebiet der theologischen oder metaphysischen Versicherungen, denen beliebig andere entgegengehalten werden können;
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aus diesem Bereich aber das Denken herauszubringen und es zum zwingenden Ausdruck von Erfahrung zu bilden, war die ursprüngliche Intention Hegels und seine Modernität.
DARREL E. CHRISTENSEN (WOFFORD COLLEGE, JETZT SALZBURG)
HEGEL'S ALTAR TO THE KNOWN GOD Wenn es wirklich nötig wäre, nur so viel zu bewirken, daß der Glaube, es sei ein Gott, noch erhalten werde, oder gar, daß solcher Glaube zu Stande komme, so wäre sich nur über die Armut der Zeit zu verwundern, welche das Dürftigste des religiösen Wissens für einen Gewinn halten läßt und dahin gekommen ist, in ihrer Kirche zu dem Altar zurückzukehren, der sich längst in Athen befand, welcher dem unbekannten Gotte! gewidmet war. ‘
Hegel's chiding of the theologians of his time for setting up yet another altar to the unknown God is well known. ^ Likewise well known is his Claim, shortly to be considered, that the spiritual individual at the level of Absolute Religion comes into possession of the concept of God as the essential truth both of the subject and of the object, not merely of faith or opinion but of knowledge. Especially when this is placed alongside Hegel's representation of the high goals to whidt man's rational faculty can attain, it is very easy to be led to the conclusion that he was a kind of God-intoxicated gnostic. As comparatively recent work has shown with special clarity, however, despite all of his praises of the rational and his optimism regarding the capacity of man to achieve rationality, his sense of what it means to be rational is uniquely different from that of the tradition from Descartes
‘ G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophisthen Wissenschaften im Grundrisse, herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Otto Pöggeler (Hamburg: Felix Meiner, 1959), § 73, pp. 97 f. * Even at the threshold of Absolute Religion, Hegel can say, „Hier ist es offenbar, was Gott ist; er ist nicht mehr ein Jenseits, ein Unbekanntes, denn er hat den Menschen kundgetan, was er ist, und nicht bloß in einer äußerlichen Geschichte, sondern im Bewußtsein." Vorlesungen über die Philosophie der Religion, II (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1969), p. 187. This work will hereafter be referred to as VPR.
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to Spinoza. * To grasp this difference makes it seem most improbable to designate bis concept of God as in any simple sense that of a gnostic, at least as that term would generally tend to be understood. This prompts the question, "What did he put in place of the altar to the unknown God which he feit had been so inappropriately set up again in his own time?" Just what is it that is known in Absolute Religion, and in what sense of "know," which is held to be the essence of the divine nature? To provide a definitive answer to these questions would require a review of the entire dialectic. What I shall do here is to point to a consideration which pertains very directly and which I find often to have been neglected. This is the relation Hegel held to obtain between the dialectic culminating in the concept of God belonging to Absolute Religion (a concept, it should be remembered, which has resulted from cumulatively reconciling confrontations with the world) and the various phases of this dialectic as they are held to pertain to the continuing apprehension and reconciliation of the world by this consciousness. How one understands this relation radically effects how one understands Hegel to have viewed the consciousness of the world as related to the knowledge of God claimed for the individual in the Religion of Spirit in the Church. In treating of this matter, I shall not consciously be introducing anything essentially new to the understanding of Hegel. There has probably always (since his time) been someone who understood the Principal point I shall be making. My primary aim, in any case, will be to take a fresh approach whereby old understandings may be clarified and made more accessible. The issues with which I am concerned are posed and their Solutions at least partially adumbrated on the closing pages of each of the following Works, Phänomenologie des Geistes, Wissenschaft der Logik, and Vorlesungen über die Philosophie der Religion.problem in understanding these Works in the light of their closing passages is essentially the same. Hegel has delivered himself of the philosophical concept of God as the highest mediation of thought ® — a concept which he proposes to have ® Müller's treatment of Hegel reflects a special appreciation of this. Gustav Emil Müller, Hegel: Denkgeschichte eines Lebendigen (München: Francke Verlag, 1959). * Excepting a conjecture in VPR, II, p. 342, respecting the historical future of the Spiritual Community, I find the anticlimactic endings of these three works, to which I shall be referring, to be generally consistent and complementary if the particular task which Hegel sets himself in each of them is kept in mind. On this account, the consideration that VPR did not come entirely from Hegel's own hand seems not to pose a serious problem here. ® In Wissenschaft der Logik, it is the abstract Begriff (as Logical Idea) which in the language of Absolute Religion is God the Father, to which I here refer. Wissen-
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shown has been developed by a series of mediations whereby all instances of othemess have been successively first negatively defined and then taken up as determined elements into this concept. ® As the reader approaches the end of the exposition where he has been led to anticipate the grand climax in the presentation of all-inclusive Spirit in-and-forItself, however, he finds instead an anticlimactic ending. Because these brief concluding Statements stand in such marked contrast to the tone of what has gone before, he is likely to dismiss them as aberrations or to pay insufficient attention to their import. To put the matter in a way appropriate to present considerations: in these passages, Hegel, in a mood that is rare for him, retires from the lofty pirmacle to which speculation upon the Begriff has ever been leading, to reflect a cognizance of the more common state of consciousness (which he would still hold to be understood in terms of this Begriff) faced with day-to-day ambiguities not yet neatly ordered for the march of spirit. This will be seen to be crucial for the answer to the question at hand. Aber insofern das Denken anfängt, sich in Gegensatz zu setzen gegen das Konkrete, so ist der Prozeß des Denkens, diesen Gegensatz durchzumachen, bis er zur Versöhnung kommt. Diese Versöhnung ist die Philosophie: die Philosophie ist insofern Theologie; sie stellt dar die Versöhnung Gottes mit sich selbst und mit der Natur, daß die Natur, das Anderssein an sich göttlich ist und daß der endliche Geist teils an ihm selbst dies ist, sich zur Versöhnung zu erheben, teils in der Weltgeschichte zu seiner Versöhnung kommt. Attention is called to the Situation: if finite Spirit has risen into the state of reconciliation, the world is no more than in part reconciled. From this it can only be concluded that the concrete realization of the reconciliation of the world to Universal End which has been accorded dialectical exposition was only exemplary. Following, the reader is advised that the religious knowledge thus reached through the Begriff is not universal in its nature, its scope being only the Spiritual Community; and attention is called to certain principal transitional stages in the Schaft der Logik (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1969), will hereafter be referred to as WdL. ® For this basic notion, which may be found frequently reflected throughout Hegel's major Works, G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes (Frankfurt am Main; Suhrkamp Verlag, 1970), pp. 74 f. Hereafter, I shall refer to this work as Phän. 7 VPR, II, p. 342.
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dialectic of Absolute Religion which now appear in the world as broken and separated segments of that Begriff of God and the world (as mediated) which has been won for the consciousness of Spirit in the Church. Diese religiöse Erkenntnis durch den Begriff ist ihrer Natur nach nicht allgemein, ist auch wieder nur Erkenntnis in der Gemeinde, und so bilden sich in Rücksicht auf das Reich des Geistes drei Stufen oder Stände: der erste Stand der unmittelbaren, unbefangenen Religion und des Glaubens, der zweite der Stand des Verstandes, der sogenannten Gebildeten, der Reflexion und Aufklärung, und endlich der dritte Stand, die Stufe der Philosophie. ® If the information that the world still Stands in need of reconciliation has not been sufficient to awaken the reader from the rhapsody of the almost-accomplished unitary and complete Begriff, its presentation as not being possessed of universality and as broken up into its various constitutive moments and transition forms must do so. That the various levels and transition forms yet pertain to the work of reconciliation still to come to a world not yet reconciled to God need not comc as a complete surprise, however, in view of Hegel's repeated pronouncement that the concept of God in-and-for-Itself contains within Itself all of the discriminations which have been transcended in the dialectic. ® Attention is here called to the fact that Hegel nowhere regards concepts repräsentative of discriminations and transition stages the absoluteness and finality of which have been aufgehoben in the dialectic as no longer having a function. From the present context, in any case, it would » VPR, II, p. 342. * This is exemplified many times in the dialectic of religion as elsewhere. For a synoptic Statement of the principle, I turn to his philosophy of history, a work in which the same dialectical transitions are presented as in the philosophy of religion. „Alles ist ihr in der Vergangenheit unverloren, denn die Idee ist präsent, der Geist unsterblich, d. h. er ist nicht vorbei und ist nicht noch nicht, sondern ist wesentlich itzt. So ist hiermit schon gesagt, daß die gegenwärtige Gestalt des Geistes alle früheren Stufen in sich begreift. Diese haben sich zwar als selbständig nach einander ausgebildet; was aber der Geist ist, ist er an sich immer gewesen, der Unterschied ist nur die Entwicklung dieses Ansich. Das Leben des gegenwärtigen Geistes ist ein Kreislauf von Stufen, die einerseits noch nebeneinander bestehen, und nur andrerseits als vergangen erscheinen. Die Momente, die der Geist hinter sich zu haben scheint, hat er auch in seiner gegenwärtigen Tiefe." G. W. F. Hegel Vorlesungen über die Philosophie der Gesdiidite, mit einem Vorwort von Eduard Gans and Karl Hegel (Stuttgart, Fr. Frommann Verlag, 1961), p. 120. This work will hereafter be referred to as VPC. Hegel certainly would not have regarded the dialectic of the Thing and Its Attributes (Phän, pp. 93—107) as inoperative in the consciousness which has dialec-
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appear that one could only infer that the several concepts and transition stages in the dialectic [immediate naive religion and faith along with the understanding of reflection and the enlightenment (also kinds of knowledge) ], and, presumably, their sub-moments, continue to serve their respective functions of mediation and to adumbrate the concept of God as Spirit in the Church as Hegel believed he had shown that they do within the dialectic. This, I submit, amounts to a taking note of a concession the highest religious consciousness makes to the world it confronts and by which it is determined in the every-day (Hegel consistently held that subject and object are mutually determined), and in confrontation with which the Begriff is no longer found to be universal. This consciousness apprehends God in the serveral ways he may be apprehended at the serveral levels of the dialectic and actualizes Hirn concretely at these several levels in its every-day living. Universal End, if not universally actualized, however, is inwardly known to lie implicit within the world. This inward knowledge is not merely formal Begriff as Idea, moreover, but having been experienced (having been the form of experience) it can be remembered; and this that is remembered is the inner being and higher form of substance. In VPR tically transcended this transition phase in the phenomenology of mind. To suppose that such a consciousness would be unable to arrive at a concept, for example, of a newiy developed tool, because the finality of the discriminations exhibited in this phase of the dialectic had been aufgehoben would be clearly absurd. When Hegel is understood to imply that the philosophical consciousness for which art and religion have been aufgehoben can no longer appreciate art or religion as such, and not merely as adumbrations of philosophical concepts, a similar misunderstanding is reflected. If in the dialectical exposition of the Begriff the sense in which each of the several phases of the dialectic anticipate this result is of primary interest, this should not, I think, lead one to conclude that the several concepts and disciminations dignified by being accorded dialectical exposition no longer serve in the practical sphere. (The citation from VPR in the text above may serve to help clarify this point.) That the form of dialectic, as universal, is outside of time, however, should not, I think, be found incompatible with Hegel's contention that certain dialectical transitions are peculiarly the task of one period and locale in history — that the eternal breaks into time in particular ways. „ ... Glaube ist audi Wissen, nur in einer eigentümlichen Form." VPR, II, p. 311. See quotation above in text. The point may be brought home by proposing that Hegel would have found no particular difficulty in accommodating by his theory the case of highly developed religious consciousness for whom, on occasion, magic or astronomy was found to hold a particular fascination. He might have considered such a man to be at work upon a not-quite-completed religious task. “ Phän, p. 590. In WdL, Hegel presents a fuller account of what appears here as an anticlimactic ending. „Vermöge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als ein
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(see quotation above) this remembrance, which is an essential ingredienl of religious knowledge, is noted as being only within the spiritual Community. Within this community acts of reconciliation are celebrated. An additional element is introduced into the anticlimax presented in VPR by virtue of which it is more radical than it would otherwise be. As the Spiritual Community, after having attained realization in its spiritual reality, nevertheless is found to fall into a condition of inner disruption, Hegel is presented as actually ambivalent with respect to its future prospects. On the one hand, it is noted, „Sollte hier aber von einem Untergang gesprochen werden können, da das Reich Gottes für ewig gegründet ist, der Heilige Geist als solcher ewig in seiner Gemeinde lebt. . and on the other, „Allein, was hilft es? Dieser Mißton ist in der Wirklichkeit vorhanden." Since this conjecture respecting the historical future of the Spiritual Community belonging to Spirit in the Church does not seem directly to call into question either the nature or possibility of the knowledge of God in Hegel's sense, it need not detain me here. I only wish to note that it calls attention to the distance between the religious consciousness he has been expounding and what he understood to be the cultural Situation. For a further indication of what the "fall" into finitude of the concept of God as Spirit in the Church means with respect to my present concern, I turn again to Phän. . . . [A]bsolute[s] Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reichs vollbringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien, in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die Geschichte, nach der in sich geschlungener Kreis dar, in dessen Anfang, den einfachen Grund, die Vermittlung das Ende zurückschlingt . . ." WdL, p. 571. Here, in a manner adumbrated at the dose of Phän, the dialectic when completed returns upon itself in a circular manner; mediation bends back its end into its beginning as simple ground. There is a difference in the two works, however, in that in VPR it is not merely the timeless logical Idea which is developed, but its actualization in the concrete lived reality of the religious consciousness in the World, The anticlimactic ending in VPR, on this account, by virtue of the fact that it is not merely an Idea but an actuality realized to be a unity that now breaks up, may seem even more abrupt. VPR, II, p. 342. If this actually came from Hegel's pen, it is evidence against the contention of Fackenheim that Hegel did not anticipate the demise of religion. "For the early Hegel, philosophy will produce a new religion on the ruins of the old. For the mature Hegel philosophy comprehends the old religion, and this latter is not and cannot be ruined." Emil L. Fackenheim, The Religious Dimension in Hegel's Thought (Bloomington, Indiana: Indiana University Press, 1967), p. 209.
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Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens . . . The two-fold character of the knowledge of God, here referred to as Spirit knowing Itself as in Absolute Religion, is also reflected in Hegel's dialectic of Absolute Spirit. Die Vereinigung des Allgemeinen, an und für sich Seienden überhaupt, und des Einzelnen, des Subjektiven, daß sie allein die Wahrheit sei, dies ist speculativer Natur, und wird in dieser allgemeinen Form in der Logik abgehandelt. Aber im Gange der Weltgeschichte selbst, als noch im Fortschreiten begriffenen Gange, ist der reine letzte Zweck der Geschichte noch nicht der Inhalt des Bedürfnisses und Interesses, und indem dieses bewußtlos darüber ist, ist das Allgemeine dennodi in den besonderen Zwekken, und vollbringt sich durch dieselben. In the light of the foregoing, what then can be said to be known by the self-consciousness at the level of Spirit in the Church, and in what sense of "know," which is held to be the essence of the divine nature? The answer to this question must be from two perspectives. If these two perspectives are mediated in Hegel's dialectic, and if indeed they would have to have been mediated in exemplary instances for these two points of view even to be possible, following Hegel's account, for us who at least for the most part make our home in and not beyond time and history, they must, nevertheless, be kept distinct. These are, on the one hand, that of the infinite, i. e., intellectually comprehended Organization, spiritual forms as they are in themselves (whether in Vorstellung or Begriff ^®), which is universal and thus transcends time, and, on the other, spiritual forms as they accomplish the Organization of their spiritual kingdom within time and contingency. Phän, p. 591. VPC, pp. 54 f. I understand Hegel to be indicating in the contexts from which the above quoted passages are taken that this distinction is not done away with within history. I understand this to mean that it is not mediated except in exemplary instances and with respect to particular contents of experience. *• „Der Philosophie ist der Vorwurf gemacht worden, sie stelle sich über die Religion; dies ist aber schon dem Faktum nach falsch, denn sie hat nur diesen und keinen anderen Inhalt, aber sie gibt ihn in der Form des Denkens; sie stellt sich so nur über die Vorm des Glaubens, der Inhalt ist derselbe." VPR, II, p. 341. For a treatment of this theme in Hegel, see Quentin Lauer, S. J., "Hegel on the Identity of Content in Religion and Philosophy," in Darrel E. Christensen (Ed.), Hegel and the Philosophy of Religion: The Wofford Symposium (The Hague: Martinus Nijhoff, 1970), pp. 261—78. ”
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From the perspective of the non-finite, what the highest religious consciousness knows is the way of reconciliation. This knowledge takes the steady form of an inner sense of certainty, gained through participation in the several transitions of the religious consciousness pf which Hegel gives a dialectical account. The mediation between the inner sense of certainty and its opposing moments, the vvorld as contingent presented in its several aspects, has been sufficiently accomplished for this religious consciousness so that this sense has content and on this account can be remembered. The religious community reciprocally receives and shapes these Vorstellungen and, in the celebration of past moments of reconciliation, aids the remembrance of them. In his inwardness, he knows these to be operative in moments of encounter and decision and as the way the reconciliation of the world is wrought. In moments of selfnegation, he retrospectively knows himself as sharing in the grace and goodness of God, and he possesses the sense that what he knows Stands beyond the contingencies of time. Seeing his own destiny fulfilled by this way, he is able to acquiesce to, and to enter into, willing participation in the processes of self-negation which constitute the religious consciousness in its several phases. From the perspective of finitude, the contents of consiousness are derived from the realm of contingency. The unity of spiritual forms as they are in themselves is broken up into particular moments of Opposition and overcoming and their unity forgotten. These moments of Opposition and overcoming constitute both the only progression and the foundation for the only hope of progression in an otherwise static and merely repetitious world to which the individual responds in habitual ways. From this perspective, these spiritual forms are seen to arise as forms of the individual's encounter with and mutual determination by what is other to him but upon which he is, nonetheless, dependent. The development of a self-consciousness and consciousness of the world inclusive of the otherness of each of the several species of being to which he Stands in a relation of dependence is his task. The elaboration of these processes would involve the review of the entire dialectic. What is to be noted here is that these spiritual forms are not, from the present perspective, apprehended as possessing the cumulatively achieved unity which Hegel found them to have. To us who view the process, these are ways which reflect the various levels of the development which in Free willing is ultimately Spirit willing for Hegel. For what this means, note that „solange der Mensch noch darin existiert, ist er nur Wille an sich, noch nicht wirklicher Wille, noch nicht als Geist." VPR, II, p. 255.
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their dialectical development have been shown to be, relative to Spirit knowing Itself, contingent. Even if the sundered concepts and spiritual forms of the Begriff are found to be reflected in the world whereas their unity is not, the grasping of them as sundered, presupposing as this does an inner knowledge of the unity and perfection of the Begriff of God they adumbrate, is a mediation of the two perspectives above considered. The apprehension of Progression and cumulative import of the transition forms likewise is by the mediation of the two perspectives in particular instances. As such, however (and, I think, as in the case of all other dialectical developments in Hegel), the two perspectives are not finally mediated in time but only in exemplary instances, and with respect to particular Contents. To exhibit these transition forms in experience (as the form of experience), singularly or collectively, is to receive at least an intimation or an adumbration of Spirit as Universal End. Thus, on occasion, the perspective of the non-finite breaks in upon the finite perspective to become actual. At such moments of discovery, seif and the world are seen to exhibit a necessity not previously grasped, which from the side of contingency presents itself as a possibility of one or another sort. The breaking in upon the perspective of the world as contingent of the timeless knowledge of Universal End comes as the presentation of the possibility of a world order of infinite extensiveness both in space and in time. Viewed from the perspective of time, Hegel's famous slaughter bench of history is plainly visible. The mediation of these two perspectives at any and all levels, however, momentarily converts this bench in some way and degree into an Altar of destiny. In such moments of further reconciliation of the world and further actualization of God, the irmer history of the world, the theodicy of history, consists. As this actual What has been elucidated, then, is nothing other than Hegel's contention that „Der Geist ist ... der lebendige Prozeß, daß die an sich seiende Einheit der göttlichen und menschlichen Natur für sich und hervorgebracht werde." VPR, II, p. 205. The focus upon the anticlimactic passages at the conclusions of three of Hegel's dialectical expositions has principally the effect of lending emphasis to the state of man as in this process rather than to the more characteristic emphasis upon the process as completed from a non-finite perspective. 22 Necessity is the idea of conformity to end, Zweckmäßigkeit. VPR, II, pp. 33 f. ** The above accotmt, shorn as it is of all of the richness of dialectical detail which characterizes Hegel's work and which a full treatment of the matter would require, is intended only to serve as a very general elaboration upon Hegel's two perspectives upon the knowledge of God. „Daß die Weltgeschichte dieser Entwickelungsgang und das wirkliche Werden des Geistes ist, unter dem wechselnden Schauspiele ihrer Geschichten, — dieß ist die
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in the world He may be said to be known as an Altar requiring selfnegation and self-sacrifice as the means by which His creation bodies forth. But this is for a Universal End which is also known, if in a different way and within the Spiritual Community, as an inner sense of the way of reconciliation which can be remembered. Thus, to borrow a simile from Hegel's polemic against the theologians of his time and to put it to a different use, it may both be said that God as immanent for self-consciousness is known — as an Altar — and that this knowledge is an Altar to the Known God — God as known by an inner sense that can be remembered. Viewed from the side of transcendence, these two kinds of knowledge of God, taken together, are Spirit's seif-knowledge of Himself in the world as his Other in which He has become actual. The approach I have taken in thus arriving at the answer to the question, "What did Hegel put in place of the altar to the unknown God", has given emphasis to the state of man and the world as in the process of reconciliation rather than upon the more characteristic emphasis, at least of Interpreters of Hegel cmd perhaps of Hegel himself, upon the process as completed from the perspective of the non-finite. This emphasis, which directed my attention to the anticlimactic passages to which I have tumed, seems required by the question. It should be noted, however, that it does not undercut the distinctiveness of the first grasp or the first being-grasped by Spirit, the first realizations or discoveries for the religious consciousness of the sort Hegel has taken pains to delineate as mediations. To borrow an evangelical phrase, conversion experiences and their cumulative impact are left intact, even while the world lies largely unconverted — even, this is to say, while there is much grain to be ground through each of these processes and even while the individual himself has yet to undergo, in large part, the transformation he has owned. In a time when all knowledge of matters of fact and existence is commonly regarded as hypothetical, relative, and uncertain, is it not wahrhafte Theodicee, die Rechtfertigung Gottes in der Geschichte. Nur die Einsicht kann den Geist mit der Weltgeschichte und der Wirklichkeit versöhnen, daß das, was geschehen ist und alle Tage geschieht, nicht nur nicht ohne Gott, sondern wesentlich das Werk seiner selbst ist." VPR, p. 569. „ ... Religion [ist] die Idee des Geistes, der sich zu sich selbst verhält, das Selbstbewußfsein des absoluten Geistes." VPR, I, pp. 197 f. „Nur Gott ist; Gott aber nur durch Vermittlung seiner mit sich; er will das Endliche; er setzt es sich als ein Anderes tmd wird dadurch selbst zu einem Anderen seiner, zu einem Endlichen, denn er hat ein Anderes sich gegenüber." VPR, I, p. 191. Also see VPR, II, pp. 216 f. ” See footnote 21.
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feasible to talk of knowledge of God in something like the way Hegel did? It seems to me at least to be possible, and if it is possible^ perhaps it is necessary to do so. Certainly allowances would need to be made for imperfections in the dialectic of religion and needed extensions based upon both fresh phenomenological and historical analyses. His method, nevertheless, seems uniquely appropriate to the phenomena of religion, especially in our time, and it is predsely here, I think, that his greatest unassimilated impact may yet be found to lie.
GASTON FESSARD (CHANTILLY)
DIALOGUE THEOLOGIQUE AVEC HEGEL Das Niedrigste ist zugleich das Höchste; das ganz an die Oberfläche herausgetretene Offenbare ist eben darin das Tiefste (PhG, 529 h. propos de ITncamation). „Non coerceri maximo, contineri tarnen a minimo, divinum est". (sentence choisie par Hölderlin pour l'epigraphe de Hyperion)
Depuis 1926, mon dialogue avec Hegel s'est poursuivi ä travers les evenements de notre epoque (guerre mondiale et conflit du Liberalisme avec les „religions seculieres": Communisme et Nazisme). Avant meme de subir l'influence des Cours de A. Kojeve (1935—1939), il a ete, depuis 1931, constanunent sous-tendu par une etude philosophique des Exercices spirituels de saint Ignace ^ qui m'a conduit ä critiquer Thistoricite hegelienne sous l'angle d'abord de la forme, puis du contenu, enfin ä rehabiliter les representations de la Religion absolue contre „la domination du Concept", tout au moins dans la mesure oü, unilaterale, celleci tend ä se transformer en tyrannie. Confronter Hegel ä Ignace peut paraitre etrange. Cependant un tel rapprochanent ne manque pas de fondements. Le plus irrecusable, au seul point de vue historique, est foumi par la sentence ignatienne mise en epigraphe ä Hyperion par Hölderlin; car eile atteste assez les sentiments que Hegel partageait alors avec son ami En outre, on y discerne * Augmentee et developp4e, cette etude parut, plus tard, sous le titre La Dialectique des Exercices spirituels de saint Ignace de Loyola, Aubier, T. I: Temps, Liberte, Gräce, 1956; T. II: Fondement, Peche, Orthodoxie, 1956; T. III: Symbolisme et Histoiricite, ä paraitre. * Selon Hölderlin, cette „sentence est gravee au tombeau d'Ignace"; en realite, il n'en est rien (sur son origine, cf notre ouvrage eite supra, I, 167—173). Mais l'explication qu'il en donne dans le fragment de Hyperion publie dans la Thalia, d^s 1794, montre qu'elle repondait ä l'esprit de Hegel, son co-chambriste avec Schelling, k Tübingen. En effet, les trois amis venaient de „se quitter sur ce mot de ralliement: Royaume de Dieu" (Hölderlin k Hegel, 10 juill. 1794. — Correspondance, tr. D. Naville, 93). De son c6t6, Hegel evoque le meme Souvenir dans une lettre
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aisement l'expression du double mouvement „expansion-contraction", „pulsation de vie" (WG, XVII, 57) et racine de la dialectique hegelienne, qui des le debut definit l'Absolu „Identite de l'identite et de la nonidentite", et, s'illustre, dans la ligne du „plus beau lien" du Timee, (Differenz, Lassen, I, 77—78; commente dans PH. G., WG, XVIII, 248—261) par un symbolisme numerico-geometrique, usant en partilier de l'opposition entre ligne et cercle comme entre quatre et trois ®. Plus tard, sans doute, cette difference numerique n'est plus mentionnee que pour etre aussitot declaree sans importance (PhG. 558, Logik, II, 497—498), comme ce symbolisme est constamment desavoue, mais toujours apres un usage conscient et plus encore inconscient, qui se refere la plupart du temps, ä propos des mysteres chretiens, au coeur du Systeme pour en Her les divers aspects: ainsi, au sujet de l'Incamation, le texte de la PhG, eite en epigraphe de cette communication, et son parallele en PhG 254 oü convergent difference sexuelle, „jugement infini" et sort du peuple juif, „le plus reprouve" (250). Une fois remarquee cette gerbe de rapports, ne suffisait-il pas pour rapprocher Hegel d'Ignace sur une base speculative plus encore qu'historique, d'apercevoir qu'un ensemble analogue se retrouve au sein des Exercices, et fonde sur leur structure la plus intime? En eff et, ils se repartissent sur quatre Semaines alors que jusque lä, comme le rapelle leur Annotation X, la division classique de la vie spirituelle etait ternaire: purgative, illuminative, unitive. Cette difference vient, m'a-t-il semble, de ce qu'en son livret Ignace analyse un acte de liberte, r„Election" ä faire dans le hic et nunc, en fonction de 1'AVANT et de 1'APRES. Distinction, ä la fois temporelle et logique, dont les termes se dedoublent eux-memes necessairement en avant-apres tant de l'AVANT que de l'APRES; d'oü une division quadripartite, se superposant ä celle, tripartite, du temps en passe-present-futur. De plus, la reflexion ignatlenne se deroule en fonction des representations chretiennes qui divisent Phistoire universelle en Anden et Nouveau Testament, Avant et Apres de la decision du Christ s'offrant librement ä la mort dans le „Hoc est Corpus meum". Enfin, sur la base de deux images — l'une, la „balance" qu'elle evoque ä deux reprises; l'autre, le carrefour ou la bifurcation de la liberte qu'elle a Schelling de la fin janvier 1795, apres lui avoir donne des nouvelles de Hölderlin; „Raison et liberte demeurent notre mot de ralliement et l'Eglise invisible notre point de r4union" (Briefe, I, 18). * Citons, par exemple, la These 3 d'Habilitation: „Quadratum est lex naturae, triangulus, mentis" (Lassen I, 404); et l'inedit Vom göttlichen Dreieck oü Hegel evoque „le saint triangle de (trois) triangles" dont „le second devient un carre ..." (Dokumente, 303—306).
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suppose partout —, eile deploie une analyse du Temps et de l'Histoire, oü intervient constanunent le rapport 4/3 pour decrire les divers moments de la genese de la liberte dans la temporalite, et donc les possiblites offertes ä notre choix, qu'il s'agisse d'un etat de vie, du „discemement des esprits", c'est-ä-dire des pulsions conscientes ou non, soit vers le haut et le bien, soit vers le bas et le mal, ou meme de micro-decisions concernant seulement le langage et la „maniere de parier" (Regles XIII-XVII d'Orthodoxie). Pour grouper et faire ressortir les structures degagees par cette analyse, un scheme geometrique assez simple suffit Sitot dresse, il permet de saisir quasi intuitivement leur analogie avec celles de ,,1'auto-mouvement du Concept" parcourant „les trois cercles ou syllogismes qui constituent l'unique syllogisme de la mediation absolue de l'Esprit" ä travers Trinite, Incarnation, Redemption (Encyc., § 571) et deviennient le triple syllogisme de la Philosophie, en tant que Savoir absolu (§§ 575—577). Analogie d'une part si profonde qu'elle a amene Hegel ä formuler tres nettement, encore qu'ä son insu, l'idee-mere des Exercices dans sa definition du „culte" ®, et de l'autre si exacte qu'on peut aussi decouvrir leur scheme meme prefigure en divers passages de son oeuvre, pour peu qu'on les rapproche ®. Comment s'en etonner si seulement l'on songe que, pour ,lui comme pour Ignace, „la fin ultime de l'etre naturel comme aussi de l'activite spirituelle, c'est la glorification de Dieu"7 ^ * Le sdieme de cette analyse est mis en correspondance avec le Plan des Exercices. Voir la page suivante. ® „Le culte" est „dans la thtelogie economie du salut en tant que l'histoire intime,
suite graduee d'exercices (Handlungen) de l'esprit et du coeur, ce qui dans l'äme s'est passe et se passe et doit se passer" (Religion, l, 159), ... „l'histoire eternelle de Dieu et de l'humanit^, du mouvement de Dieu vers l'homme et de l'homme vers Dieu s'y expose... L'individu doit parcourir ce processus, y participer en son for interne et etre ainsi membre de l'Esprit universel qui s'expose" (Ibid. 278).
“ Dans ses Lefons sur la Phenomenologie de l'Esprit, A. KOJEVE n'a retenu qu'un seul aspect du symbolisme h^gelien du cercle et en se fondant uniquement sur deux textes de cette oeuvre (20 et 559), par surcroit incompletement interpretes. Alors que, des la Differenz, apparait tres net et en de nombreux passages (80—93), le symbolisme polyvalent de cette figure et des divers mouvements qui d'abord la redoublent, puis la triplent en fonction des Mysteres chretiens, si bien que s'annoncent deji les „trois cercles ou syllogismes" qui forment la cime de VEncy dope die. Que notre scheme des Exercices soit prefigure en cette premiere triade, on n'en pourra douter si on la rapproche de „l'image" que Schelling donne de son Systeme a la meme date et dans un ouvrage eite justement par la Differenz (90). Car, de cette „Image", Hegel gardera un Souvenir si pr4cis qu'il la reproduira plus tard, quitte ä s'en servir pour r^futer son ancien ami (Gesdtidite der Philosophie, WG, XIX, 669). Bien qu'il utilise constamment le symbolisme du cercle, Hegel n'a jamais songe k en discerner la polyvalence, ni meme k le r^fl^chir ne füt-ce qu'en sa valeur geometrique, Aussi, bien qu'on puisse retrouver en son oeuvre la prefiguration du
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ANALYSE DU TEMPS ET DE L'HISTOIRE
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