Vorträge über Philosophie und Gesellschaft 9783787327379, 9783787303205

Die vorliegende Ausgabe der Reden du Bois-Reymonds will einige seiner wichtigsten Arbeiten zu philosophischen, wissensch

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German Pages 312 [374] Year 1975

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Vorträge über Philosophie und Gesellschaft
 9783787327379, 9783787303205

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EMIL DU BOIS-REYMOND

Vorträge über Philosophie und Gesellschaft Eingeleitet und mit erklärenden Anmerkungen herausgegeben von SIEGFRIED WOLLGAST

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 287

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Das Inhaltsverzeichnis befindet sich am Schluß des Bandes.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­ sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. isbn 978-3-7873-0320-5 ISBN eBook: 978-3-7873-2737-9

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1974. Alle Rechte vor­ behalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

Einleitung des Herausgebers

Emil Heinrich du Bois-Reymond hat das wissenschaftliche Leben Deutschlands in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wesentlich mitgeprägt. Der große Physiologe, glänzende Redner, Bekenner einer bürgerlich-materialistischen und bürgerlich-atheistischen Weltanschauung, einer der entschiedensten Verfechter einer Zurückdrängung der neuhumanistischen zugunsten der naturwissenschaftlichen Bildung, der aktive Kämpfer für das Entwicklungsdenken und leidenschaftliche Anhänger Darwins, scheint in unserer Zeit fast vergessen zu sein. Sicherlich: in Handbüchern und Geschichten der Medizin bzw. der Physiologie werden seine Verdienste voller Respekt genannt. Aber sein philosophisches und gesellschaftliches Wirken finden kaum noch Erwähnung. Erinnert man sich im Bereich des dialektischen Materialismus du Bois-Reymonds, so fällt zumeist gleichsam automatisch sein Schlachtruf "ignorabimus". Mit diesem seinem Worte - "wir werden es nicht erkennen" - wird dann du Bois-Reymond als Agnostiker abgetan. Ein aufmerksames Studium der Schriften du Bois-Reymonds, ja schon em kurzer Blick in dieselben, V

verschafft uns aber die Gewißheit, daß diese Abqualifizierung fehl am Platze ist. Du Bois-Reymond gebührt ein Ehrenplatz auch in der Geschichte der Philosophie in Deutschland. Er gehört zu jenen Naturforschern, die bis in die Anfänge des Imperialismus hinein den Materialismus gegen Idealismus und Religion mannhaft verteidigten. Der Materialist du Bois-Reymond bezeichnet gleichzeitig das Ende und den Ausklang des mechanischen Materialismus sowie die Mitbegründung und die Entwicklung des naturwissenschaftlichen Materialismus. Er ist Beispiel dafür, wie sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts die Dialektik bei den Naturwissenschaftlern spontan durchsetzt. Sein Beispiel läßt uns wertvolle Schlußfolgerungen für das Bündnis zwischen dialektischem und naturwissenschaftlichem Materialismus ziehen, dessen Herstellung Lenin in seinem philosophischen Vermächtnis, der Schrift "Über die Bedeutung des streitbaren Materialismus" programmatisch forderte und das bis heute eine Grundforderung unserer marxistisch-leninistischen Weltanschauung und Politik geblieben ist. Als Emil du Bois-Reymond geboren wurde, stand das politische Leben in Deutschland unter den Zeichen der "heiligen Allianz" und der "Karlsbader Beschlüsse" von 1819, die die Unterdrückung jeglicher fortschrittlicher und demokratischer Aktionen durch die Vertreter der feudalabsolutistischen Reaktion beinhalteten. Die im "Deutschen Bund" zusammengefaßten deutschen Einzelstaaten bildeten einen ziemlich lockeren Staatenbund. Es bestand weder ein einheitliches Maß- und Münzsystem, noch gab es ein gemeinsames Postwesen oder ein Bundesgericht und Bundesheer. In der Naturwissenschaft und in der Technik hatte Deutschland gegenüber dem auf diesen Gebieten führenden England einen gewaltigen Rückstand. Die industrielle Revolution befand sich in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts in Deutschland erst in ihren Anfängen. Die deutschen Forscher hatten nicht nur große materielle Schwierigkeiten, sondern auch den starken Widerstand der fortschrittsfeindlichen Kräfte in Staat und Kirche zu überwinden. Für die Naturwissenschaft wurden an den deutschen Universitäten völlig unzureichende VI

Mittel zur Verfügung gestellt. Auf dem Gebiete der Philosophie dominierte der Einfluß G. W. F. Hegels, der von 1818 bis zu seinem Tode (1831) Professor an der Berliner Universität war. Sein objektiv-idealistisches, dialektisches System beeinflußte nicht nur das Denken der Gesellschaftswissenschaftler, sondern auch der Naturwissenschaftler seiner Zeit. Es war zugleich die Blütezeit der spekulativen Naturphilosophie, die mit dem Namen F. W. J. Schellings untrennbar verknüpft ist. Als Emil du Bois-Reymond verschied, bestand schon seit 25 Jahren das "mit Blut und Eisen" gezimmerte "Deutsche Reich". Deutschland war in die imperialistische Phase eingetreten. Es existierte eine starke Arbeiterbewegung, die 1890 den herrschenden bürgerlich-feudalistischen Kreisen die Aufhebung der zwölf Jahre währenden Sozialistengesetze abgerungen hatte. Technik und Naturwissenschaften hatten einen fast unglaublichen Aufschwung genommen. Die Bourgeoisie war in Deutschland ein Bündnis mit der feudalen Reaktion eingegangen. Deutschland war eine führende Industriemacht geworden. Der technisch-wissenschaftliche Fortschritt wuchs in solchem Maße, daß die deutsche Sprache zum vorherrschenden internationalen Verständigungsmittel der Wissenschaft wurde. Je mehr die Bourgeoisie in ihr parasitäres Stadium eintrat, desto mehr ging sie dazu über, einen Stamm von Technikern und Wissenschaftlern auszubilden, die ideologisch so geformt waren, daß sie der kapitalistischen Gesellschaftsordnung und ihrem Staatetreu blieben. Mit der staatlichen Förderung und aufsteigenden Entwicklung von Naturwissenschaft und Technik kontrastierte der Niedergang der bürgerlichen Gesellschaftswissenschaften, vor allem der Philosophie. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mußten Naturwissenschaft und Technik an den deutschen Universitäten und Hochschulen um ihre Gleichberechtigung kämpfen. In den heftigen Parteikämpfen innerhalb der akademischen und nichtakademischen bürgerlichen Philosophie widerspiegelt sich der Widerspruch der gesellschaftlichen Praxis, darüber hinaus der Widerspruch zwischen alten bürgerlichen Ideen, Idealen und Konventionen des 19. Jahrhunderts und den Bedürfnissen einer VII

extrem reaktionären imperialistischen Bourgeoisie. Ende des 19. Jahrhunderts setzt im bürgerlichen theoretischen Denken eine Wendung zum Mystizismus und zur Mythologie ein. Friedrich Nietzsche (1844-1900) wird jetzt populär. Der von Mach und Avenarius seit den 70er Jahren in eine - damals moderne - naturwissenschaftliche Form gehüllte subjektiv-idealistische Positivismus beginnt immer mehr an Boden zu gewinnen. Daneben besitzen die verschiedenen Schulen des Neukantianismus großen Einfluß. Die epochemachenden Erkenntnisse von Marx und Engels werden von bürgerlichen Denkern verschwiegen, verfälscht oder einfach nicht zur Kenntnis genommen. In der zwischen diesen beiden Endpunkten ablaufenden Zeit vollzog sich das Leben Emil du Bois-Reymonds. Emil du Bois-Reymond wurde am 7. November 1818 in Berlin geboren. Seine Vorfahren waren als Hugenotten aus Frankreich geflüchtet. Sein Vater, Henri du BoisReymond, stammte aus dem Schweizer Kanton Neufchatel, der damals zu Preußen gehörte und Neuenburg hieß. Henri du Bois-Reymond war als junger Uhrmachergeselle nach Berlin zugewandert und war hier zu einer Tätigkeit als Sprachlehrer und Erzieher und schließlich zu einer Stellung im Preußischen Auswärtigen Ministerium emporgestiegen, wo er zuletzt der Abteilung für die Neuenburgischen Angelegenheiten vorstand. Emil du Bois-Reymonds Mutter war Tochter eines Predigers der französischen Gemeinde in Berlin und Enkelin des berühmten Malers, Radierers und Zeichners Daniel Chodowiecki (1726-1801). Seine Schulbildung erhielt Emil du Bois-Reymond vornehmlich am französischen Gymnasium zu Berlin, an dem er 1837 die Reifeprüfung ablegte. Anschließend besuchte er zwei Semester die Berliner Universität und hörte ein weiteres Semester Vorlesungen in Bonn. Seine Studien waren höchst unsystematisch. Er belegte Vorlesungen in Naturphilosophie (bei H. Steffens), Ästhetik, Geschichte, Kirchengeschichte (bei Neander), Geologie usw. Auch Dove gehörte zu seinen Lehrern. In dieser Zeit wollte er u. a. Künstler werden. Als er zufällig ein Kolleg des Experimentalchemikers Eilhard Mitscherlieh (1794-1863) besuchte, VIII

wuchs sein ohnehin latent vorhandenes Interesse für naturwissenschaftliche Fragen. Entscheidend für du BoisReymonds weiteren Lebensweg wurde seine Bekanntschaft mit Eduard Hallmann (1813-1855), einem Assistenten des berühmten Berliner Physiologen J ohannes Müller. Hallmann begeisterte den jungen du Bois-Reymond für das Gebiet der Physiologie und veranlaßte ihn, Medizin zu studieren. Hallmann war in einen "Demagogenprozeß" verwickelt gewesen und daher wurde ihm in Preußen die Zulassung zur Arztpraxis verweigert. Er war später Arzt in Brüssel und Zürich, bevor er kurz vor seinem Tode nach Deutschland zurückkehrte. Mit Hallmann verband Emil du Bois-Reymond bis zu seinem Tode eine herzliche Freundschaft. Die erhalten gebliebenen Briefe du Bois-Reymonds an Hallmann sind ein interessantes Dokument für seine weltanschauliche Haltung in dieser Zeit. Durch die Vermittlung Hallmanns knüpften sich bald auch Beziehungen zwischen du Bois-Reymond und Johannes Müller an. Letzterer machte den jungen du Bois auf den 1840 erschienenen "Essai sur les phenomenes electriques des animaux" des italienischen Physikers C. Matteucci (1811-1868) aufmerksam und forderte ihn auf, dessen Versuche über den sogenannten "Froschstrom" und über das Verhalten des "Nervenprinzips" zur Elektrizität nachzuprüfen und womöglich fortzusetzen. Von nun an war Emil du Bois-Reymonds ganze Arbeitskraft und sein rastloser Fleiß auf die Lösung dieser großen Aufgabe gerichtet. Im Jahre 1843 promovierte du Bois-Reymond mit einer wissenschaftshistorischen Arbeit über die elektrischen Fische (..Quae apud veteres de piscibus electricis extant argumenta") zum Doktor der Medizin. Du BoisReymond hat diese Dissertation nicht hoch eingeschätzt. An Hallmann schreibt er, aus Zeitmangel habe er nichts Vernünftiges schreiben können. Daher habe er "aus der gesammelt in meinem Porte-feuilles liegenden enormen Literatur über die elektrischen Fische die wenig bekannten und zum Teil höchst pikanten Zeugnisse über diese Tiere, welche sich bei den Griechen und Römern vorfinden" zum Druck zusammengestellt. "Heute erwarte ich die ersten Aushängebogen von dem verdammten Wisch (d. h. der DisserIX

tation - S. W.), den ich später niemals als mein opus anerkennen werde." 1 Was den letzten Punkt angeht, so hat du Bois seine Meinung später zu recht geändert. Eine der von ihm bei der Disputation verteidigten Thesen richtete sich bereits gegen die idealistische Lehre von der "Lebenskraft", eine andere behandelte die Schädigung des menschlichen Organismus durch den Krieg. Wissenschaftlich und für du Bois-Reymonds weitere Entwicklung bedeutsamer war allerdings das Ergebnis seiner Nachprüfungen der Ergebnisse Matteuccis, die er 1843 in einem Artikel in "Poggendorffs Annalen" veröffentlichte. Durch diesen Artikel wurde Alexander von Humboldt auf den jungen du Bois-Reymond aufmerksam und war ihm bis zu seinem Tode ein wohlwollender Gönner. In den 40er Jahren entwickelte sich du Bois' Freundschaft zu einer Reihe von später berühmten Männern, so zu Hermann von Helmholtz, K. Ludwig, Ernst Brücke, u. a. Mit Ernst Brücke, Karsten, Knoblauch und einigen anderen jungen Vertretern der physikalischen Schule der Berliner Physiologie gründete Emil du Bois-Reymond im Januar 1845 die Berliner "Physikalische Gesellschaft", die schnell zu hohem wissenschaftlichen Ansehen gelangt ist. In die bescheidene "Studentenbude" in der Karlstraße 21, wo du Bois bis zu seiner Verheiratung lebte, kamen bald die hervorragenden Vertreter der Wissenschaft seiner Zeit, Dove, Magnus, Poggendorff, Erman und selbst Alexander von Humboldt, um die ersten Versuche an Froschnerven zu sehen. Im Jahre 1846 hatte sich du Bois-Reymond mit einer Arbeit über die saure Reaktion der Muskelsubstanz nach ihrem Tode habilitiert. 1848 erschien der 1. Band seiner "Untersuchungen über tierische Elektrizität", dem 1849 die erste, 1860 und 1884 die zweite und die letzte Abteilung des zweiten Bandes dieses Werkes folgten. Der erste Band machte du Bois-Reymond mit einem Schlag zu einem der hervorragendsten Vertreter seines Fachgebietes. Diesem Ansehen und dem Einfluß Alexander von Humboldts ist es zu danken, daß Emil du Bois-Reymond 1851 - noch nicht 33 Jahre alt -mit 20 von 21 Stimmen zum Ordentlichen Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften X

gewählt wurde. Der Wahlvorschlag selbst ging von Alexander von Humboldt und Johannes Müller aus. Ende der 30er Jahre und Anfang der 40er Jahre vollzieht sich die Herausbildung der Weltanschauung du Bois-Reymonds, die er in seinen späteren Jahren nur modifiziert und angereichert hat. Entscheidende Aufschlüsse vermitteln uns dazu vornehmlich die Briefe an Eduard Hallmann. Mehrfach äußerte er sich hier zur christlichen Religion seiner Zeit und bezeugt deren Ablehnung. So schreibt er über einen seiner zeitweiligen Bekannten: Smith " ... glaubt an die Bibel- Wort für Wort. Verfängliche Fragen, wie ob er dann auch glaube, daß eine Schlange gesprochen, ein Löwe Gras gefressen habe - denn im Paradiese verzehrten sich diese Biester bekanntlich nicht einander - beantwortet er leicht. Er sei bereit jede Wissenschaft ... - dem Glauben zu opfern ... meine einfache Gegenfrage - ... wie es denn möglich sei, daß es einen Gesetzgeber gebe, ohne vorläufiges, vorhandenes Gesetz, verstand er gar nicht. Alles nimmt er ganz genau an, wie es die heilige Schrift giebt ... "~ Ab 30. 9. 1841 diente du Bois sein praktisches Jahr als Armee-Arzt ab. Er betrachtete sich als "freiwillig gezwungener Chirurg". In dieser Zeit schreibt er an Hallmann: "Schelling ist seit mehreren Wochen hier und wird Philosophie der - Offenbarung lesen. Dahin ist der Nestor der Naturphilosophie zur Erbauung aller gläubigen Seelen ... endlich gelangt . . . Dieser Unzucht ungeachtet bleibt SeheHing ein sehenswürdiges altes Gebäude ... "3 Gleichzeitig begeistert sich der junge Wissenschaftler du Bois für Regel: "Nächst den Confessions (von Jean Jacques Rousseau - S. W.) hab' ich eine interessante Lektüre gemacht an Hegels Philosophie der Geschichte, deren Einleitung ganz populär geschrieben ist, und worin nichts steht, was Du und ich, wie ich Dich kenne, nicht unbedingt unterschreiben möchten." 4 In einem weiteren Brief teilt du Bois mit, daß er Hegels "Philosophie der Geschichte" mit großer Erbauung zu Ende gelesen habe.5 In seinen Jugendbriefen zitiert du Bois-Reymond immer wieder zustimmend Goethe. Es ist bekannt, daß er den ersten Teil des "Faust" auswendig konnte und dadurch anläßlich eines Besuches in Weimar bei Eckermann nicht XI

geringes Erstaunen hervorrief. Mit der spekulativen Naturphilosophie .bricht du Bois-Reymond schon sehr früh. Mehrfach kommt diese Ablehnung in seinen Briefen zum Ausdruck. Jugendlich - unbekümmert berichtet er über sein Philosophicum: "Steffens quatschte mir eine ganze Stunde naturphilosophischen Unsinn vor ... "G Ein weltanschauliches Programm, dem er sein Leben lang treu blieb, entwickelte er in folgenden Worten: "Brücke und ich, wir haben uns verschworen, die Wahrheit geltend zu machen, daß im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind, als die gemeinen physikalisch-chemischen; daß, wo diese bislang nicht zur Erklärung ausreichten, mittels der physikalisch-mathematischen Methode entweder nach ihrer Art und Weise der Wirksamkeit im konkreten Fall gesucht werden muß, oder daß neue Kräfte angenommen werden müssen, welche, von gleicher Dignität mit den physikalischchemischen, der Materie inhärent, stets auf nur abstoßende oder anziehende Componenten zurückzuführen sind." 7 Aus den Jugendbriefen du Bois-Reymonds läßt sich auch eine progressive politische Grundhaltung erkennen. So schreibt er über den preußischen König, Friedrich Wilhelm IV.: "Er ist gesinnungslos, religiös verfinstert, eitel, ohne Sinn für das, was wir \Vissenschaft nennen, und versteht keine Menschen zu wählen." 8 In einem Brief an Karl Ludwig meint der junge du BoisReymond optimistisch: "Deutschland wird einig werden, wenn unsere Generation ans Ruder kommt, der der Partikularismus so fremd ist als dem älteren Geschlechte das Prinzip der Nationalität."9 Du Bois-Reymonds Brief vom 22. April 1848 gibt eine hervorragende plastische Schilderung der bürgerlich-demokratischen Revolution in Berlin. "Nie hab ich gewagt zu hoffen, daß der blasierte Berliner in seinen breiten, platten, schnurgeraden Straßen einst dem verhaßten Militärstaat ein moralisches Jena bereiten würde. 0 da hättest Du dabei sein müssen, wie am Montag (20. März) Morgens im Strahle der Frühlingssonne die Schar der Borsiger, die schwarz-rot-goldne Fahne an der Spitze, ins Oranienburger Tor hineinzog im Genuß des Siegs ... Ich sage Dir, die Tränen stürzten mir in die Augen, und obschon ich nicht hinter den Barrikaden geXII

wesen bin, man wurde durchbebt von dem freudigen Bewußtsein, daß man (in - S. W.) sich den Mut fühlte, allen Gardebajonetten zum Trotz die Errungenschaften zu behaupten, die man nicht mit erkämpft hatte." 1o Trotz dieser Begeisterung hat sich du Bois-Reymond nicht an der Revolution beteiligt. In einem Brief an Hallmann schreibt er 1849 von den "scheußlichen Oktoberwirren" des Jahres 1848, womit offenbar der Aufstand des Volkes von Wien im Oktober 1848 gemeint ist. Weiter heißt es hier: "Meine einzige politische Tat im vorigen Sommer ist die gewesen, eine Adresse an die Akademie der Wissenschaften zu organisieren, in welcher um Öffentlichkeit ihrer Sitzungen gebeten wurde." 11 Im gleichen Briefe wird auch schon die Distanzierung du Bois-Reymonds von der Revolution erkennbar: "Laß mich nur in Kurzem sagen, daß ich im Anfang ganz berauscht von dem Weine der neuen Zeit war, daß mich leider aber bald die gemeine Wirklichkeit der Dinge zur Vernunft zurück brachte, und daß ich die Genugtuung hatte, einer der ersten in meinem Freundeskreis als ein gräulicher Reaktionär verschrieen zu werden, worunter man hier alle solche versteht, die nicht dem plattesten Radikalismus huldigen." 12 Emil du Bois-Reymond hat nie zu den politisch-progressiven Idealen seiner Jugend zurückgefunden. "Er ... bekennt sich offen zu dem ihm einst so verhaßten Militärstaat der Hohenzollern. Als akademischer Festredner seit 1869 - lobt und preist er Wilhelm I., den ,Volksmörder' (wie er ihn 1848 genannt hatte), als ,Ritter ohne Furcht und Tadel', er ernennt ihn zum ,Herzog der Deutschen', er feiert ihn schließlich als ,sieghaften Helden' und ,erhabenen Wiederhersteller des Reiches' und verherrlicht den einstigen ,Kartätschenprinzen' als ,wahren Friedensfürsten' und als ,das leuchtendste Ruhmesbild dieses Jahrhunderts'" .13 Mit seiner Absage an seine revolutionären Jugendideale steht du Bois-Reymond in dieser Zeit nicht allein. Einmal vom Scheitern der bürgerlichen Revolution, zum anderen durch die Einigung Deutschlands von oben und seine wachsende Machtfülle nach 1871 beeindruckt, wandten sich viele Naturforscher und Politiker jener Zeit der Reaktion XIII

bzw. den bürgerlichen Parteien zu. Zudem ist der Bruch zwischen philosophischer Grundposition und praktischem politischen Handeln nicht nur bei du Bois-Reymond zu konstatieren. Der naive Materialist Heraklit von Ephesos tendierte zur Sklavenhalteraristokratie. Der subjektive Idealist Johann Gottlieb Fichte war ein begeisterter deutscher Patriot. Die Beispiele ließen sich vermehren. Du Bois-Reymond ist somit kein Ausnahmefall. Wenn er ob seiner materialistischen Auffassungen wohl heftigen "Tiderspruch, aber keine amtliche Maßregelung erfuhr, so ist dies m. E. daraus zu erklären, daß er eben diesen Materialismus in keinerlei Hinsicht auf die Gesellschaft ausdehnte, vielmehr aus ehrlichem Herzen die Preußisch-deutsche Staatsordnung seiner Zeit bejahte. Zweitens entwickelte er keine Breitenwirkung. Seine hier abgedruckten Reden sind Akademiereden, von vornherein auf ein kleineres (gebildetes) Publikum berechnet. Du Bois-Reymond ist in dieser Hinsicht nicht mit Haeckel zu vergleichen. Drittens sprach du Bois-Reymond hinsichtlich der Naturwissenschaft nur aus, was die Masse der Naturwissenschaftler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ohnehin dachte. Schließlich sichert sich du Bois-Reymond in gewisser Hinsicht ab. Wenn er immer wieder die Sympathie Friedrich II. für La Mettrie betont, wenn er wahrheitsgemäß ausführt, daß der König selbst auf den Tod La Mettries in der Akademie eine "Eloge" verlesen habe - wer wollte da von gefährlichen umstürzlerischen Ideen sprechen? Von 1848 bis 1853 hatte du Bois-Reymond als Lehrer der Anatomie an der Berliner Akademie der Künste gewirkt. 1855 wurde er zum außerordentlichen Professor für Physiologie ernannt. Jetzt begann seine eigentliche Universitätslaufbahn. Sie war mit vielen Reisen, vor allem nach England und Frankreich verbunden. Im Jahre 1853 hatte sich du Bois-Reymond mit Jeanette Claude verheiratet, einer Kaufmannstochter, die einen großen Teil ihrer Jugend in Chile verbracht und später in England gelebt hatte. Als im Jahre 1858 nach dem Tode von Johannes Müller dessen Lehrstühl für Anatomie und Physiologie geteilt wurde, erhielt du Bois den Lehrstuhl für Physiologie nebst der Leitung des Physiologischen XIV

Instituts. Diesen Lehrstuhl hatte er bis zu seinem Tode inne. Etwa seit Ende der 50er Jahre nahmen ihn seine Unterrichts- und Verwaltungsaufgaben so in Anspruch, daß seine wissenschaftlichen Publikationen kaum noch neue Ergebnisse brachten, sondern vornehmlich Ergänzungen darstellten. Zweimal, 1869-70 und 1882-83 war du BoisReymond Rektor der jetzigen Humboldt-Universität. 1877 konnte . er das nach seinen Plänen erbaute Physiologische Institut seiner Bestimmung übergeben. Seit 1867 war er beständiger Sekretar der Physikalisch-Mathematischen Klasse der Akademie der Wissenschaften zu Berlin. In dieser Eigenschaft forderte er Akademiereformen, die den esoterischen Charakter der damaligen Preußischen Akademie der Wissenschaften beseitigen und ihre bessere Verbindung mit der Außenwelt garantieren sollten. Nach du Bois-Reymond sollte die Akademie eine wirkliche anregende Forschungsakademie, ein echtes wissenschaftliches Zentrum in Deutschland sein. Bis ins hohe Alter hielt du Bois-Reymond in jedem Wintersemester im Auditorium Maximum der Berliner Universität mantagabends öffentliche Vorlesungen "Über einige neuere Fortschritte der Naturwissenschaften" und über "Physische Anthropologie". Mit diesen Vorträgen trug er wesentlich zur Verbreitung des naturwissenschaftlichen Weltbildes bei. Stets war du Bois-Reymond sehr anspruchsvoll in seinen Forderungen. Als Examinator war er -besonders bei den Medizinstudenten - nachgerade gefürchtet. Wie wenig er die Tätigkeit des "Propagandisten" verschmähte, geht daraus hervor, daß er - zum Entsetzen seiner Fachkollegen -lange Zeit ständiger Mitarbeiter der "Deutschen Rundschau" war. Besonders lag ihm die Pflege der deutschen Sprache am Herzen. Er meinte, die Deutschen täten zu wenig für die Sprachpflege, blieben in dieser Hinsicht hinter anderen Kulturvölkern zurück. Daher entwarf er den Plan einer "Kaiserlichen Akademie der deutschen Sprache", die gegen die "sprachliche Verwilderung" - auch bei den Naturwissenschaftlern- angehen sollte. Du Bois-Reymonds Reden selbst sind Muster einer meisterhaften Sprachbeherrschung. Bis zu seinem Tode tätig, verstarb er am 26. Dezember 1896 an altersbedingten Gefäßveränderungen. XV

Emil du Bois-Reymond, der die klassische Physiologie in Deutschland begründen half, ist wissenschaftsgeschichtlich gesehen einer der ausgeprägten Spezialisten unter den Naturforschern des 19. Jahrhunderts gewesen. Sein langes Arbeitsleben hindurch hat er sich in bewußter Einseitigkeit und zielvoller Beschränkung mit einem streng umgrenzten Gebiet der organischen Naturwissenschaft, mit der Erforschung der bielektrischen Erscheinungen, beschäftigt. Er war bemüht, die dabei auftauchenden Probleme bis in ihre letzten Verzweigungen zu verfolgen und mit den damals zur Verfügung stehenden Mitteln zu klären. Was leistete Emil du Bois-Reymond in seiner Wissenschaft? 1ft Aus heutiger Sicht war du Bois-Reymonds Kritik an Matteucci übertrieben. Aber ihm gebührt das Verdienst, das physikalische Handwerkszeug zur Untersuchung der tierischen Elektrizität, wie empfindliche Meßgeräte, Multiplikatoren, unpolarisierbare Elektroden, eine verbesserte Kompensationsschaltung und anderes erstmalig geschaffen und zielbewußt angewandt zu haben. Da die Beschäftigung mit der tierischen Elektrizität stets auf die allgemeinen Probleme der Physik hinwies, ergab es sich ganz natürlich, daß du Bois-Reymond auch rein physikalische Fragen zu lösen vermochte, z. B. in seinen Untersuchungen über Flüssigkeitsketten, über Polarisation elektrischer Endosmose, Kataphorese, Diffusion, Thermoströme u. dgl. Das Induktionsgerät mit der Schlittenführung, wie es du Bois-Reymond erstmalig einführte, hat neben der Physiologie auch die physikalische Technik bereichert. Von den elektrophysiologischen Erscheinungen hat er (neben Matteucci) den Verletzungsstrom und __die "negative Schwankung" am Muskel entdeckt. Die Ahnlichkeit des elektrischen Verhaltens der tierischen Organe mit dem Magneten veranlaßte du Bois-Reymond zur Aufstellung einer Theorie ("Molekulartheorie"), welche der Amperesehen Vorstellung von der Konstitution der Magnete nachgebildet war. Es handelte sich also um eine Theorie nach den Prinzipien des mechanischen Materialismus. Die Widerlegung seiner Theorie durch seinen eigenen Schüler Ludimar Hermann hat du Bois nie verwunden. XVI

Du Bois war der Kritik an seinem Werk wenig zugänglich, andere kritisierte er dagegen scharf. Inhalt und Form seiner Vorlesungen und Vorlesungsdemonstrationen erfuhren im Laufe der Zeit kaum eine Änderung. Zu seinen Schülern gehörten so bekannte Physiologen wie Albert von Bezold (1836-1868), Eduard Friedrich Wilhelm Pflüger (18291910), Ludimar Hermann (1838-1914), Rudolf Heidenhain (1834-1897), Isidor Rosenthai (1836-1915) und Johannes Gad (1842-1926). Der nachmalige Nobelpreisträger A. Kossel gehörte ebenfalls zu diesem Kreis. Max Planck kam erstmalig 1890 mit du Bois-Reymond in Berührung. Planck hielt in der "Physikalischen Gesellschaft" einen Vortrag über Potentialgleichungen zweier Elektrolyte. Du BoisReymond hatte den Vorsitz und übte an Plancks Vortrag entschiedene Kritik. Will man das Werk du Bois-Reymonds würdigen, so heißt das für den dialektischen Materialisten, ihn im Gesamtzusammenhang seiner Zeit, ihrer und seiner eigenen Entwicklung zu sehen. So enge Auffassungen du BoisReymond in seinem Fachgebiete hatte, so umfassend war dagegen seine Allgemeinbildung. Davon zeugen vor allem seine Reden und Aufsätze, deren Ausgabe er selbst besorgte (1885), und denen wir im weiteren vornehmlich folgen. Dabei wollen wir keine ausführliche Interpretation der Reden du Bois-Reymonds geben, die im folgenden ohnehin abgedruckt werden oder den Leser etwa ermahnen, wie er zu lesen hat. Wir wollen vielmehr einige Hauptzüge seines Schaffens nachzeichnen und dann abschließend du Bois-Reymond weltanschaulich zusammenfassend einordnen. Welche progressiven Hauptlinien sind zu nennen? Zunächst sein Kampf gegen die "Lebenskraft". Emil du Bois-Reymond ist Schüler des großen Physiologen Johannes Müller (1801-1858). Er hat ihm stets große Verehrung bezeugt, seine Leistungen gewürdigt und ihm ein ehrendes Andenken bewahrt.15 Müller ist einer der Begründer der modernen Physiologie. Die Medizin verdankt ihm die Entdeckung des Müllersehen Atemversuchs und des Müllersehen Gangs. Besonders bekannt geworden ist aber sein Gesetz von den spezifischen Sinnesenergien. Er formulierte es so: "Es ist ganz gleichgültig, von welcher Art 2

Wollgast, Philosophie

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die Reize auf den Sinn sind, ihre Wirkung ist in den Energien des Sinns" ,lG Unter Energie verstand er dabei ein den Analysatoren immanentes Vermögen, Empfindungen lediglich einer bestimmten Art hervorzurufen. Der objektive Sachverhalt, der dem von Müller entdeckten Gesetz zugrunde liegt, wurde von der späteren Physiologie und Psychologie bestätigt.17 Aber Müller knüpfte an dieses Gesetz agnostizistische Schlußfolgerungen. Er schrieb beispielsweise: "Wir mögen uns die Mahnung gelten lassen, daß Licht, Dunkel, Farbe, Ton, Wärme, Kälte und die verschiedenen Gerüche und Geschmäcke, mit einem Worte, was Alles uns die fünf Sinne an allgemeinen Eindrücken bieten, nicht die Wahrheit der äußeren Dinge, sondern die realen Qualitäten unserer Sinne sind ... Die Wesenheit der äußeren Dinge und dessen, was wir äußeres Licht nennen, kennen wir nicht, wir kennen nur die Wesenheit unserer Sinne; und von den äußeren Dingen wissen wir nur in wie fern sie auf uns in unseren Energien wirken." JS Diese agnostizistische Lehre wurde von Kant beeinflußt, begründete die Schule des "physiologischen Idealismus", die von Ludwig Feuerbach einer entschiedenen Kritik unterzogen und von Lenin in Analogie zum "physikalischen" Idealismus gesetzt wurde.19 Neben dieser idealistischen philosophischen Auffassung vertrat Johannes Müller auch die Theorie der "Lebenskraft". Nach dieser vitalistischen Theorie ist das Leben an ein spezifisches, nicht physiko-chemisches Substrat gebunden und seine Entwicklung nur auf der Grundlage besonderer Vitalkräfte möglich. Wieweit sich Emil du Bois-Reymond schon in der frühen Periode seines Schaffens, zu Lebzeiten Müllers, bewußt vom Idealismus trennte, bezeugt seine Vorrede zum 1. Band der "Untersuchungen über tierische Elektrizität" vom Jahre 1848. Er geht hier konsequent vom mechanischen Materialismus aus, meint, "daß es weder in der anorganischen noch in der organischen Natur Kräfte gebe, derenletzte Komponenten nicht entweder einfach anziehende oder abstoßende, sogenannte Zentralkräfte, seien". (S.ll) Mit schneidendem Hohn geißelt er dagegen die Lebenskraft, diese "Dienstmagd für alles", denn "sie häuft auf ein Phantasiegebilde XVIII

solche Summe unmöglicher Attribute und undenkbarer Tätigkeiten, daß es schwer hält, sie ernst zu nehmen, und ihrer offenkundigen Abgeschmacktheit nicht mit dem verdienten Spotte zu begegnen." (S. 13) Dabei wendet sich du Bois-Reymond speziell gegen Justus von Liebig, den er als eine Geißel Gottes bezeichnet. Für du Bois-Reymond gibt es zwischen organischer und anorganischer Materie zu dieser Zeit letztlich keinen Unterschied. Wenngleich er dieses Postulat benutzt, um die Lebenskraft zu verbannen, deuten sich schon hier gewisse Mängel seiner mechanischmaterialistischen Weltauffassung an. Verschiedene Gründe führt du Bois-Reymond gegen die Lebenskraft ins Feld. Der gewichtigste ist dabei das Gesetz von der Erhaltung der Kraft, wie es der Autor nennt. Du Bois-Reymond ist keineswegs der Einzige, der gegen die "Lebenskraft" ankämpfte. Er nennt selbst Alexander von Humboldt, Berzelius, Schwann, Schleiden und Lotze als seine Vorkämpfer. Auch Vogt und Moleschott, die kleinbürgerlichen Materialisten wandten sich später gegen die Lebenskraft als ein "unbekanntes X, das überall im Hintergrund steht, das stets ausweicht, wo man es fassen will, und dessen Reich umso weiter zurückgedrängt wird, je weiter voran die Wissenschaft schreitet" .20 Aber wenn du Bois-Reymonds erstes großes philosophisches Credo der Kampf gegen die "Lebenskraft" war, so hat er diesen Kampf zeitlebens geführt. In späteren Arbeiten kommt er immer wieder darauf zurück. Seine letzte große Rede vom 28. 6. 1894 ist dem Kampf gegen den Neovitalismus gewidmet. Auch hier geht er auf die Geschichte der Wissenschaft ein, die, wie noch darzulegen sein wird, überhaupt für ihn eine entscheidende Rolle für das Verständnis der Gegenwart darstellte. Bemerkenswert ist dabei, daß du Bois-Reymond - nach seinen Reden "Über die Grenzen des Naturerkennens" und "Die sieben Welträtsel" - feststellt: "Wer kann behaupten, daß sie (die Urzeugung S. W.) nicht in unseren Laboratorien zustande käme, wenn wir über Atmosphäre, Gewässer, Sonnenstrahlung von der urweltlichen Beschaffenheit verfügten?" (S. 220) Aber das Entscheidende in seiner letzten Rede ist eben die Warnung vor dem Neovitalismus: "Diesem Neo-Vitalismus ... beiXIX

zeiten entgegenzutreten, dürfte natürliche Aufgabe, ja Pflicht derjenigen sein, welchen es bis jetzt als ein Teil ihrer Lebensarbeit angerechnet wurde, zur Niederkämpfung jener Irrlehre beigetragen zu haben". (S. 222) Konkret wendet sich du Bois gegen Rindfleischs Würzburger Rektoratsrede von 1888, gegen den Basler physiologischen Chemiker Bunge und gegen Hans Drieschs kleine Schrift ,.Die Biologie als selbständige Grundwissenschaft" (1893). Auf Hans Driesch (1867-1941), der sich große Verdienste um die Entwicklung der Biologie erwarb, geht in der Tat die theoretische Begründung des Neovitalismus zurück. Driesch baute seine Konzeption nicht mehr auf unterschiedliche Stofflichkeit der lebenden und nichtlebenden Materie, sondern auf der Behauptung auf, daß der Chemismus erst durch ,.Entelechien" die Leistungen des Lebendigen hervorbringe, daß künstlich hergestelltes Eiweiß also niemals Lebensfunktionen besitzen könne. Die Leistungen der ,.Entelechien" (und "Psychoide") bestehe in der Hinordnung der Teile aufs Ganze, in der Steuerung der Teile durch das Ganze, in Regulation, Restitution usw. Driesch wies damit tatsächlich auf Spezifisches des Lebens hin, fehlinterpretierte aber die Ergebnisse der Vererbungslehre und die eigenen Entdeckungen auf dem Gebiet der Entwicklungsphysiologie, indem er die Leistung von der sie bedingenden Struktur trennte. Der vitalistische Standpunkt Drieschs erfuhr verschiedene Entwicklungsstadien.2t Du Bois-Reymond sagt: wenn man den Neovitalisten folge, gelange man zum ,.Supranaturalismus", d. h. zur Religion. Dawider ist er entschieden. Er malt die Ungereimtheit einer solchen Theorie aus und beweist damit, daß er auch im Alter seinen Kampfgeist keineswegs verloren hat. Du Bois-Reymonds Eintreten gegen den Neovitalismus ist mehr als eine historische Reminiszenz. Daß du BoisReymond keine eindeutige und vor allem richtige Erklärung des Wesens des Lebens zu geben vermochte, erhellt aus seinen ,. Welträtseln". Aber er hielt auch in dieser Frage am naturwissenschaftlichen Materialismus fest - das ist sein Verdienst. Der Neovitalismus hat in modifizierter Form bis in die Gegenwart als idealistische Lehre weiter-

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gewirkt und ist inzwischen zwar aus der Biologie verschwunden, aber zu einer Domäne religiöser Theoretiker geworden. Zunächst wirkte der Neovitalismus durch eine naturphilosophische Verselbständigung des Ganzheitsbegriffes im sogenannten Holismus (Smuts, Meyer-Abich, J. S. Haldane, F. G. Donnan) weiter. Auch J. von Uexkülls "Bedeutungslehre" ist eine Spielart des Vitalismus im 20. Jahrhundert. Der Vitalismus ist eine der Grundlagen der faschistischen Ideologie. Massenwirksam ist vor allem Bernhard Bavink geworden, der sich in seinem bekannten Standardwerk "Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften" für "einen auf jeden Fall haltbaren V italismus" ausspricht und fortfährt: "Der letztere besteht zu Recht, sobald wir der organischen Zweckmäßigkeit eine objektive, über das bloß Vorgestellte hinausgehende Bedeutung beilegen" .22 Aus rein religiösen Motiven motivierten bzw. motivieren den Vitalismus J. Haas, Nachtwey, Muschalek, Spülbeck, Wetter u. a. Die relative Widersprüchlichkeit moderner biologischer Theorien wird zur Unerkennbarkeit der Wunder und Rätsel des Lebens umgedeutet. So ist für Haas "seinsmäßig" die Materie im Organischen und Anorganischen die gleiche. Sie ist aber nach seiner Auffassung unfähig, aus ihrem eigenen Gestaltungsvermögen organische Strukturen hervorzubringen. Dazu sei ein immaterieller "Gestaltungsfaktor" nötig, der völlig der Entelechie, der Seele, dem Typus, der Leitidee, der Ganzheit, dem Sinngefüge usw. anderer Neovitalisten entspricht.23 Ein solcher Vitalismus hat sich jenseits rationaler Argumentation, im Bereiche des Glaubens, angesiedelt. Er steht außerhalb der Wissenschaft. Aber er ist zu bekämpfen, solange er wirkt. Ein weiterer entscheidender Aspekt des theoretischen Denkens von du Bois-Reymond ist sein bürgerlicher, naturwissenschaftlicher Materialismus und Atheismus. Will man du Bois-Reymonds Weltanschauung historisch richtig fassen, so muß man auf den französischen Materialismus als dessen eigentliche Quelle zurückgehen. "La Mettrie scheint der eigentliche Erwecker der materialistischen Weltanschauung des jungen du Bois-Reymond gewesen zu sein." 24 In der Bibliothek seines Vaters fand der junge du BoisXXI

Reymond La Mettries Werk "Der Mensch - eine Maschine", das ihn stark beeindruckte.25 La Mettrie ist auch eine Akademierede du Bois-Reymonds vom Jahre 1875, gewidmet, die eine glanzvolle Ehrenrettung des Materialisten La Mettrie darstellt, "damit die Geschichte der Naturforschung und Philosophie aufhöre, . . . durch Gouvernantenmoral und Priesterfanatismus sich ihr Urteil vorschreiben zu lassen." (S. 81) Du Bois-Reymond gibt eine sachliche Schilderung von La Mettries Leben und Kämpfen, wobei er betont, daß dieser seinen Überzeugungen bis zu seinem Tode treu blieb. Nach du Bois-Reymond hat sich La Mettrie im 19. Jahrhundert durchgesetzt. Seine "Lehre wird jetzt täglich in vielen Schriften ausdrücklich vorgetragen, noch öfter stillschweigend vorausgesetzt, auf Lehrstühlen und in öffentlichen Vorträgen erörtert, ohne daß ihre erklärten Anhänger irgendeiner Unannehmlichkeit ausgesetzt wären. Zum Teil allerdings weil denen, die ihnen schaden möchten, die Macht fehlt, Giordano Brunos Scheiterhaufen anders als in ihren Wünschen wieder zu entzünden." (S. 92) Du Bois-Reymond rühmt sehr das Verdienst La Mettries, "der zuerst nach langer kimmerischer Nacht der Scholastik auch mit deren letzten Überlieferungen brach und es wagte, wie einst Demokrit, Epikur und Lucrez, sich die Welt rückhaltlos als System von Ewigkeit her bewegter Atome vorzustellen." ( S. 96) Holbach habe eigentlich in seinem "System der Natur" nur La Mettries Lehre methodischer ausgeführt. Auch seine ethischen Auffassungen seien nicht tadelnswert. In seiner in unsere Auswahl aufgenommenen Abhandlung "Kulturgeschichte und Naturwissenschaft" hat du BoisReymond den verderblichen Einfluß des Christentums auf die Geschichte der Wissenschaft ausführlich dargestellt. Seine Rede "Darwin und Kopernikus" wurde als versteckte Gotteslästerung verketzert. Wegen seines konsequenten Eintretens für den Darwinismus wurde Emil du Bois-Reymond von dem einflußreichen Hofpfarrer Adolf Stöcker (1835-1909), dem Gründer der christlich-sozialen Partei, im Landtag heftig angegriffen und seine Maßregelung gefordert.2H Da der Unterrichtsminister eine Maßregelung ablehnte, suchte Stöcker Leute zu gewinnen, die XXII

die Fensterscheiben des Physiologischen Instituts mit Steinen einwerfen sollten.27 Du Bois-Reymond gesteht höchstens, und das auch nur im Konjunktiv, Gott die Rolle eines ersten Anstoßes zu: "Die Cuvier'sche Lehre von den wiederholten Schöpfungen, welche wiederholten Kataklysmen unterlagen, verlor jede Berechtigung, seit Lyell zeigte, daß die Geologie, ohne allgemeine Kataklysmen auskommt, und Darwin hinzufügte, daß Spezies sich umwandeln. Nun konnte man der schaffenden Allmacht vernünftigerweise nur noch die Aktion zuschreiben, in die vorher unbelebte Natur einen ersten Lebenskeim geworfen zu haben. Ist es dann aber nicht einfacher und jener Allmacht würdiger, sich zu denken, daß sie sogleich die Materie mit dem Vermögen schuf, unter bestimmten Verhältnissen, ohne neue Beihilfe, Lebendiges aus sich entstehen zu lassen?" 28 Die Theologie war und blieb für den Materialisten du Bois-Reymond ein "graues Larvengehäuse" (S. 27). Unter Berufung auf die Deszendenztheorie stellt er fest, daß die Seele natürlich entstanden ist (S. 74) und spricht von den Fieberträumen einer Existenz höherer Wesen im "Himmel". (S. 133) Jegliche Teleologie wird von ihm entschieden abgelehnt, was bei seiner unbedingten Anhängerschaft an Darwins Lehre nicht verwunderlich ist. Hier nur ein Beispiel: "Die wenn auch nur in der Ferne gezeigte Möglichkeit, die scheinbare Zweckmäßigkeit aus der Natur zu verbannen, und überall blinde Notwendigkeit an Stelle von Endursachen zu setzen, erscheint ... als einer der größten Fortschritte in der Gedankenwelt, von welchem in der Behandlung dieser Probleme eine neue Epoche sich herschreiben wird. Jene Qual des über die Welt nachdenkenden Verstandes in etwas gelindert zu haben, wird, so lange es philosophische Naturforscher gibt, Charles Darwins höchster Ruhmestitel sein." 29 Wie in seiner ganzen Weltanschauung, so bleibt du BoisReymond auch in seinem Atheismus innerhalb der Grenzen der bürgerlichen Ideologie. Für ihn ist die Befreiung von Religion und Aberglaube ein Problem des Wissens und der Erziehung. Die Klassenwurzeln der Religion erkennt er nicht. Er geht aus vom Atheismus der französischen Materialisten, besonders La Mettries. Gleichzeitig meint er aber, XXIII

David Friedrich Strauß {1808-1874) sei in seinen Schlußfolgerungen viel kühner gewesen (vgl. S. 98, lOOf.). Man kann wohl sagen, daß das Niveau des Straußsehen Atheismus auch in etwa das Niveau darstellt, von dem Emil du BoisReymond zunächst ausgeht. Strauß hatte mit seinem "Leben Jesu" (1835) einen massiven Angriff gegen die ideologischen Grundlagen des feudalabsolutistischen Regimes in Deutschland geführt und zugleich die Spaltung der Schüler Hegels in Alt- und Junghegelianer eingeleitet. In seinem Buch wies Strauß nach, daß Jesus kein "Gott-Mensch" gewesen sein kann. Vielfältig ist Strauß von Regel abhängig. Wenngleich Strauß Regel entschieden entgegentritt, teilt er mit ihm die idealistische Geschichtsauffassung. Die Geschichte geistiger Erscheinungen wird nicht aus dem wirklichen gesellschaftlichen Leben erklärt und nicht als ideelle Widerspiegelung des Kampfes der Gesellschaftsklassen betrachtet. Zwar hat Strauß mit seinem "Leben Jesu" die bürgerliche Revolution in Deutschland ideologisch vorbereitet. Aber in der Revolution selbst trat er als Feind der Demokratie auf. Später bekämpfte er die Sozialdemokraten und wurde zu einem begeisterten Anhänger Bismarcks. Seine späteren Schriften erreichten nicht mehr das Niveau des "Leben Jesu". Das gilt auch für "Voltaire", welche Arbeit sowohl du Bois-Reymond als auch Helmholtz lobend hervorheben. Immerhin gebührt Strauß das Verdienst, wesentliche Grundlagen des christlichen traditionellen Glaubens als Legenden nachgewiesen zu haben. Auf diese Abneigung gegen die christlichen Legenden stützt sich Emil du BoisReymond. Aber sein Atheismus verbindet sich mit naturwissenschaftlichem Materialismus, findet darin seine Begründung, während Strauß dagegen Theologe ist und bleibt. Daher ist auch du Bois-Reymonds bürgerlicher Atheismus radikaler und fundierter. Auch Friedrich Albert Langes "Geschichte des Materialismus" ist für die Herausbildung und Fundierung von du Bois-Reymonds materialistischer Weltanschauung von großer Bedeutung. Sie wird immer wieder von ihm zitiert. Lange stand zeitweilig der Arbeiterbewegung nahe, er war 1864-1866 Mitglied des ständigen Ausschusses des VerXXIV

bandes Deutscher Arbeitervereine, zeitweilig Mitglied der Internationalen Arbeiterassoziation und Delegierter des Lausanner Kongresses (1867). Den Marxismus hat er nie begriffen. Seine philosophische Grundposition ist neukantianistisch; gleichzeitig enthält seine Arbeit zur Geschichte des Materialismus sehr gutes und reichhaltiges Material, das auch heute noch brauchbar ist. Die "Geschichte des Materialismus" hat seit ihrem Erscheinen (1865) eine große Wirkung, auch in der Arbeiterbewegung, ausgeübt. Franz Mehring hat Lange trotz seiner neukantianischen Schlußfolgerungen sehr geschätzt und sich in seinen philosophischen Aufsätzen immer wieder auf ihn berufen. Eine eingehendere marxistische Untersuchung von Leben und Werk Friedrich Albert Langes steht leider noch aus. Sie würde m. E. ein bedeutend progressiveres Bild dieses Mannes ergeben, als es bislang vorliegt. Du Bois-Reymonds weltanschauliche Grenzen kommen in seinen Gesellschaftsauffassungen ganz eindeutig zum Ausdruck. Dafür ist besonders seine Rede "Kulturgeschichte und Naturwissenschaft" kennzeichnend. Es klingt ganz materialistisch, wenn du Bois-Reymond feststellt, der Gebrauch des Feuers und der Sprache trennten den Menschen am sichersten vom Tier (S. 107). Es ist aber eindeutig Idealismus, wenn er feststellt, für die Naturwissenschaft habe den Alten Griechen die Bildung, Erziehung usw. gefehlt, dafür hätten sie diese Eigenschaften in der Kunst bewiesen. Ebenso idealistisch ist seine Behauptung, die Verachtung der freien Bürger der Antike für Beschäftigung mit der Wissenschaft beweise ihren dafür ungenügend ausgeprägten Sinn (S. 116). Die Geschichte der Naturwissenschaft ist für ihn die eigentliche Geschichte der Menschheit (S. 134). Es ließen sich noch weitere Beispiele dafür anführen, daß du Bois-Reymond jeglichen Sinn für objektive gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten vermissen läßt. Es möge bei diesen Beispielen bleiben. Nur sei noch Franz Mehring zitiert, der diese idealistischen Auffassungen du Bois-Reymonds der Lächerlichkeit preisgibt. Mehring wendet sich gegen du BoisReymonds Worte: "Das Zurückbleiben der Alten in der Naturwissenschaft ward verhängnisvoll für die Menschheit. XXV

In ihm liegt einer der vornehmsten Gründe, aus denen die alte Kultur unterging. Das größte Unglück, welches die Menschheit traf, Überrennung der Mittelmeerländer durch die Barbaren, blieb ihr wahrscheinlich erspart, hätten die Alten Naturwissenschaft in unserem Sinne gehabt" (S. 120). Mit Delbrück stellt Mehring dagegen fest,. ... daß zu einer Erfindung ein durch viele Generationen, ja Jahrhunderte fortwährend anreizendes Bedürfnis gehört, daß eine Erfindung von den Bedürfnissen ihrer Zeit so wenig zu trennen ist, wie ein Mensch ohne eine Mutter geboren werden kann, daß die Annahme, irgendeine Erfindung hätte auch zu einer anderen Zeit gemacht werden können und durch einen anderen Lauf der Geschichte verursacht, ein leeres Phantasiegebilde ist.":IO Du Bois-Reymonds gesellschaftliche Auffassungen zeigen uns eindeutig, daß der naturwissenschaftliche Materialismus keineswegs mit Notwendigkeit zum historischen Materialismus führt und daß er zur Erklärung und Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht ausreicht. Um die Gesellschaft wissenschaftlich analysieren zu können, muß man nicht nur naturwissenschaftlicher, sondern dialektischer Materialist sein. Wie wenig du Bois-Reymond die gesellschaftlichen Entwicklungsgesetze zu deuten vermochte, bezeugt auch :;ein Angriff gegen die wachsende Arbeiterbewegung und ihre deutsche Partei, die damals revolutionäre Sozialdemokratie. Er vergleicht sie mit mittelalterlichen Epidemien, die das Land befielen und dann wieder ver:;chwanden. Du Bois-Reymond hat Furcht vor jeder Revolution. So beschuldigt er Rousseau der Schuld bzw. Mitschuld an der Jakobinerdiktatur und spricht von Robesspierre und ,.seinen hirnverbrannten Nachfolgern". Auch in dieser Frage ist du Bois-Reymond keine Ausnahme. Fast alle großen deutschen Naturforscher des 19. Jahrhunderts - stellvertretend seien nur Helmholtz und Virchow genannt- haben sich in ähnlicher Weise gegen die Arbeiterbewegung ausgesprochen. Nur ein bedeutender Naturwissenschaftler fand den Weg zum dialektischen Materialismus - der Chemiker Carl Schorlemmer, der Freund von Marx und Engels. Du Bois-Reymond meinte, im ,.sozialistischen Zukunftsstaat" sei für eine Akademie XXVI

der Wissenschaften kein Platz. Das Aufblühen von Wissenschaft und Technik in der Deutschen Demokratischen Republik, gerade auch der Akademie der Wissenschaften der DDR widerlegt dieses Fehlurteil des großen Physiologen wohl am augenfälligsten. Neben diesen idealistischen Gesellschaftsauffassungen enthält die genannte Rede sehr wichtige Ausführungen über die Ausbildung der jungen Generation. Programmatisch ist du Bois-Reymonds Wort geworden : "Kegelschnitte! Kein griechisches Skriptum mehr!'' (S. 157). Du BoisReymond kämpft gegen die Überhöhung des neuhumanistischen Unterrichts, wobei er feststellt, das Gymnasium sei seit der Reformation im wesentlichen unverändert geblieben. Er verlangt solidere mathematische und naturwissenschaftliche Ausbildung, dafür weniger Religionsunterricht in der Prima. Letzteres haben ihm die Theologen sehr übel genommen, wie aus einem entsprechenden Angriff in der "Neuen evangelischen Kirchenzeitung" (19. Jahrg., Berlin 1877, Spalte 744/45) hervorgeht. Damit kam er aber den Kreisen der Industrie und Technik engegen, die statt eines mehr oder weniger schlecht altgriechisch parlierenden und zitierenden Absolventen einen mit den Ergebnissen der Naturwissenschaft der Zeit vertrauten Fachmann verlangten. Du Bois-Reymond ist auf diesem Gebiete ein Bahnbrecher des Fortschritts. In einer Zeit, da die Vertreter der sogenannten Humaniora noch immer hochmütig auf Naturwissenschaft und Technik herabsahen, erhob er seine gewichtige Stimme für die letzteren. Für den Aufruhr, den diese Rede hervorrief, zeugen die vielen positiven und scharf ablehnenden Stellungnahmen zu ihr. Betrachtet man die Reden du Bois-Reymonds, so stellt man fest, daß sie fast ausschließlich historisch orientiert sind. Wenn im vorigen Jahrhundert jemand das Prädikat "Wissenschaftshistoriker" verdient, dann ist es Emil du Bois-Reymond. Dabei ist für ihn Geschichte niemals Selbstzweck, keine beschauliche Betrachtung des längst Vergangenen. Du Bois-Reymond sucht vielmehr verschiedenen Quellen der Auffassungen seiner Zeit in der Vergangenheit aufzuspüren und für sich und die Wissenschaft nutzbar zu machen. Dabei verbindet du Bois-Reymond stets GeXXVII

schichte der Naturwissenschaft und Geschichte der Philosophie. Er zeigt La Mettrie, Diderot, Voltaire u. a. in ihrer Zeit und in ihrer Bedeutung für die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts. Er verdeutlicht vor allem die Kontinuität des materialistischen Denkens und zeichnet Traditionslinien. Somit beschäftigt sich du Bois-Reymond mit einer Problematik, die auch vor den marxistischen Wissenschaftshistorikern steht und m. E. noch nicht vollauf oder zumindest annähernd befriedigend gelöst ist. Es geht auch bei uns um die Nutzbarmachung der Wissenschaftsund Philosophiegeschichte für die Gegenwart und Zukunft - natürlich unter marxistischem Aspekt.31 Damit steht im Zusammenhang, daß eine Darstellung der Geschichte als vornehmlich oder ausschließlich politische Geschichte von du Bois-Reymond abgelehnt wird. Du Bois-Reymond ist in seiner Weltanschauung stets Materialist gewesen und allen Angriffen zum Trotz geblieben. Er stellt fest: "Ohne wachendes oder wenigstens träumendes Gehirn ist auf der Welt kein Bewußtsein denkbar". Durch die Nerven sind "die Sinnesorgane, welche dem Gehirn die Eindrücke der Außenwelt kundtun sollen ... mit dem Gehirn verbunden".32 Er weiß sehr wohl um die Bedeutung der naturwissenschaftlichen Entdeckungen für die Widerlegung falscher, idealistischer Theorien. Nach du Bois-Reymond sind z. B. für die Widerlegung der Theorien der "Lebenskraft" drei Entdeckungen wesentlich gewesen: 1. Schwann und Schleidens Entdeckung der Zelle; 2. die näheren Aufschlüsse über die Natur der Nerven- und Muskelwirkungen; 3. die Lehre von der Erhaltung der Kraft.33 Gegen die beharrlichen Vertreter eines gegenüber dem 18. im 19. Jahrhundert unveränderten mechanischen Materialismus sei nur kurz angemerkt, daß Friedrich Engels zwei dieser Entdeckungen zu den drei entscheidenden Entdeckungen des 19. Jahrhunderts zählt! 3t, Es ist bemerkenswert, daß Leibniz von du Bois-Reymond durchgängig materialistisch, wenn auch mechanisch-materialistisch aufgeiaßt wird: "Streifen wir von Leibniz' Weltansicht das trügliche Beiwerk der Monadologie, der prästabilierten Harmonie und des Optimismus ab, so bleibt als sicherer Kern nur seine mechanische XXVIII

Auffassung der materiellen Welt und die Einsicht in die Unmöglichkeit zurück, irgendein materielles Geschehen supernaturalistisch, und umgekehrt irgendein geistiges Geschehen mechanisch zu erklären."35 Ebenso meint der große materialistische Physiologe, daß Holbachs "System der Natur" der Weltansicht des heutigen Naturforschers in den meisten Punkten ganz nahe steht.36 Nie kommt du Bois-Reymond gänzlich aus den Fesseln des mechanischnaturwissenschaftlichen Denkens heraus. Aber er ist sich bewußt, daß dieses Denken nichts Endgültiges bezeichnet: "Es gibt für uns kein anderes Erkennen, als das mechanische, ein wie kümmerliches Surrogat für wahres Erkennen es auch sei, und demgemäß nur Eine wahrhaft wissenschaftliche Denkform, die physikalisch-mathematische" .37 Du Bois-Reymonds Denken ist eben schon versetzt mit den großen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts, vor allem mit Darwins Entwicklungstheorie, deren glühender Anhänger er ist. Daher auch zumindest ein Ahnen der Dialektik, z. T. ihre spontane Anwendung. Daher ein sehr eingeschränkter Agnostizismus (es wird noch zu zeigen sein, wie wir du Bois-Reymonds Agnostizismus fassen): "Daß er (der menschliche Verstand - S. W.) vor ewigen Rätseln steht, entmutigt ihn nicht ... Und deshalb sucht und findet er (der menschliche Verstand - S. W.) Trost und Erhebung in der Arbeit, welche den Schatz menschlicher Erkenntnisse mehrt, durch heilsame Anstrengung die Kräfte und Fähigkeiten unseres Geschlechtes steigert, unsere Herrschaft über die Natur ausdehnt, unser Dasein durch Bereicherung unseres Geistes veredelt und durch Vervielfältigung unserer Genüsse verschönt. Von jenem niederschlagenden ,Ignorabismus' rafft sich der Naturforscher wieder auf zu des sterbenden Septimus Severus mannhaftem Losungswort an seine Legionäre: ,Laboremus'." 38 Emil du Bois-Reymond wendet sich, wie bereits erwähnt, entschieden gegen die Teleologie, sie ist Bestandteil seines Kampfes gegen den Vitalismus. Im Gegensatz zu Kant wird dem Raum und der Kausalität keine Apriorität zugesprochen. Du Bois-Reymond ist auch kein "Induktionsesel" (Engels). Er gibt zwar der induktiven Methode den Vorrang, will sie aber mit der historischen verbunden sehen. XXIX

Davon macht er vor allem in seiner Rede "Kulturgeschichte und Naturwissenschaft" Gebrauch, darin dem sonst von ihm so geschmähten Hegel folgend. Von großer Bedeutung ist auch du Bois-Reymonds Bestimmung der Naturwissenschaft: "Unter N aturwissenschajt verstehen wir ... nicht allein die Summe der Kenntnisse von der toten und lebenden Natur, ihren Erzeugnissen, Wirkungen und Gesetzen, sondern auch die bewußte Einsicht in die zur Vermehrung jener Summe einzig dienliche Methode, und die gleichfalls bewußte Anwendung der Naturerkenntnis zu Zwecken der Technik, der Schiffahrt, der Heilkunde u. d. m., also die planmäßige Bewältigung und Ausnutzung der Natur durch den Menschen zur Vermehrung seiner Macht, seines Wohlbefindens und seiner Genüsse." (S. 112) Wissenschaft hat dem Menschen zu nutzen, sie ist nicht um ihrer selbst willen da- das ist du Bois-Reymonds Devise. Jeglichen Dualismus lehnt er ab, er vertritt einen materialistischen Monismus, ohne dies ausdrücklich zu betonen. Ist der Materialismus für Helmholtz eine, wenn auch sehr wahrscheinliche Hypothese, so ist er für du BoisReymond unverrückbares Grundprinzip. Aus Unkenntnis des dialektischen Materialismus vertritt du Bois-Reymond einen mechanischen Determinismus. Gesetz und Zufall sind ihm nur andere Namen für mechanische Notwendigkeit. Sehr oft ist du Bois-Reymond, vor allem in Frankreich, des Chauvinismus bezichtigt worden. Diese Vorhaltungen haben vor allem in seiner Rede "Der deutsche Krieg" vom 3. August 1870 ihre Grundlage. Hier wird zunächst Napoleon III. als neuer Catilina bezeichnet, als "Fürst der Finsternis", "Lügner", "Fälscher des allgemeinen Stimmrechts", "Eidbrüchiger", "wüster, verschuldeter Abenteurer", "zehn tausendfacher kalter Menschenschlächter" usw.:l9 Nun weichen diese Bezeichnungen wenig von denen ab, die Karl Marx im "18. Brumaire des Louis Bonaparte" auf den französischen Kaiser anwendet. Du Bois-Reymond geht jedoch weiter. Nach ihm hat Bonaparte einen Mitschuldigen: "Der Verbrecher, den ich meine, gefährlicher als LouisNapoleon selber, weil unabsetzbar und unsterblich, ist das ganze französische Volk ... "t.o Aber gleichzeitig stellt der Rektor der Berliner Universität fest: "Wir

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Deutschen wissen sehr gut, wieviel die Menschheit dem hochbegabten geistreichen Volk der Franzosen verdankt". 41 Wenn auch die Vorwürfe du Bois-Reymonds gegen das französische Volk in dieser Rede nicht zu rechtfertigen sind, so ist doch festzustellen, daß sie kein durchgängiger Zug in seinem Ideengebäude darstellen. Offenbar sind diese Anwürfe Ausfluß der allgemeinen Überzeugung, Frankreich habe Deutschland aus heiterem Himmel überfallen wollen. Von der Fälschung der Emser Depesche durch Bismarck ahnte man damals noch nichts. In seinen anderen Reden hat sich jedenfalls Emil du Bois-Reymond stets gegen Chauvinismus und Nationalismus ausgesprochen. Dafür nur einige Belege. 1869 sagt er: Die Akademie "begreift nicht den Zustand jener Gelehrten des Auslands, für die nicht da ist, was jenseits ihrer Sprachgrenze geschieht, geschweige den Chauvinismus in der Wissenschaft, für den es keine Entdeckungen gibt, als nationale, und keine Form der Anerkennung fremdländischer Entdeckungen, als, wo sie nicht länger totzuschweigen sind, deren irgendwie bewirkte Annektierung".42 Im Jahre 1878 meint du BoisReymond: "Es ist sehr die Frage, ob die erhebende Wirkung, die das Nationalgefühl auf einen Teil des Volkes übt, nicht überwogen wird durch den Schaden, den es stiftet, indem es zur Überschätzung der eigenen, zur Unterschätzung der fremden Vorzüge verleitet ... "43 Und Emil du Bois-Reymond warnt gerade die Deutschen vor diesem übertriebenen Nationalgefühl. Wie der Ahnenstolz könne auch derNationalstolz in lächerliche Aufgeblasenheit ausarten. 1883 sagt er in seiner Rektoratsrede "Die Humboldt-Denkmäler vor der Berliner Universität" über seinen Lehrer Alexander von Humboldt: "Nichts hätte ihn ... mehr angewidert, als das Überhandnehmen des sogenannten Chauvinismus; Nichts ihn mehr betrübt als diese Geisteskrankheit, die einem Rückfall in barbarische Urzustände der Gesellschaft gleichkommt, epidemisch über Europasich ausbreiten und den Fortschritt der Menschheit ernstlicher gefährden zu sehen, als je die Eifersucht der Dynastien es vermochte" .44 Ebenso deutlich wendet sich du Bois-Reymond gegen den Antisemitismus: "Wie aber würden wir vor ihm (A. v. Humboldt - S. W.) bestehen, XXXI

wenn er von der bei uns eingerissenen Rassenverfolgung hörte, er, der Freund des Mendelssohn'schen Hauses, der mit Henriette Herz in jüdischer Kurrentschrift korrespondierte?" 4:> An anderer Stelle heißt es: " ... und worin sonst als in den heute durch den Staat und die allgemeine Gesittung gesetzten Schranken unterscheiden sich die Rassenund Glaubensverfolgungen der letzten Jahre von einem Albingenser Kreuzzug oder von einer mittelalterlichen Judenhetze?" 46 Die Wissenschaft ist Emil du Bois-Reymond "das gemeinsame Arbeitsgebiet der Forscher aller Nationen, offen wie die hohe See jeder Flagge, nur nicht der Piratenflagge der Unwahrheit".47 Seine humanistische Grundhaltung bringt du Bois-Reymond auch in seiner Hochschätzung Voltaires zum Ausdruck. Er und seine Zeitgenossen seien alle "mehr oder weniger Voltaireaner", in dem Sinne nämlich, daß "Duldung, Geistesfreiheit, Menschenwürde, Gerechtigkeit uns gleichsam zum natürlichen Lebenselement wurden".48 Eine kritische Würdigung und Einschätzung Emil du Bois-Reymonds kann an seinen erkenntnistheoretischen Schranken nicht vorübergehen. Sie finden sich am ausgeprägtesten in seinen beiden hier abgedruckten Reden "Über die Grenzen des Naturerkennens" und "Die sieben Welträtsel". In der erstgenannten Rede vom Jahre 1872 gibt er zwei "Welträtsel" an, die er in seiner "Welträtselrede" vom Jahre 1880 auf sieben erweitert. Eigentlich liegt, wie du Bois-Reymond selbst sagt, dabei keine Erweiterung vor. Es geht dem großen Physiologen um das Weltproblem, und nur aus methodischen Gründen wird dieses Problem in 7 Punkte untergliedert. Worum geht es in diesen "Welträtseln", die zu ihrer Zeit einen Sturm von Ablehnungen und Zustimmungen hervorrufen (Arno Holz hat sogar im Anschluß an die beiden "Welträtselreden" du Bois-Reymonds ein Drama "Ignorabimus" geschrieben)? Du Bois-Reymond spricht von sieben Schwierigkeiten, die einer völligen Erkenntnis der Welt entgegenstehen. Dabei schränkt er sie insofern ein, als er nur einige von ihnen, die transzendenten, für absolut unlösbar hält: XXXII

"Transzendent nenne ich darunter (unter den sieben Schwierigkeiten oder Welträtseln - S. W.) die, welche mir unüberwindlich erscheinen, auch wenn ich mir die in der aufsteigenden Entwicklung ihnen voraufgehenden gelöst denke" (S. 168). Transzendente "Grenzen des Naturerkennens" sind nach du Bois-Reymond: 1. Das Wesen von Materie und Kraft; 2. der Ursprung der Bewegung; 3. das Entstehen der einfachsten Sinnesempfindung und - im gewissen Sinne - 4. das Problem der Willensfreiheit. Für nicht transzendent hält du Bois-Reymond 1. die erste Entstehung des Lebens; 2. die scheinbar zweckmäßig eingerichtete Natur; 3. das vernünftige Denken und den Ursprung der damit eng verbundenen Sprache. Es ist nicht unser Geschäft, im Einzelnen den naturwissenschaftlichen Beweis zu führen, daß du Bois-Reymonds "Welträtsel" nur scheinbare Rätsel sind, geboren aus dem Wissensstand der Zeit, daß wir einige der genannten Rätsel völlig gelöst, bei anderen deren Lösung sehr nahe gekommen sind. Uns geht es primär um die philosophisch-erkenntnistheoretische Problematik. Dabei ist zunächst zu betonen, daß du Bois-Reymond mit diesen seinen "Welträtseln" keinerlei Konzessionen an Idealismus und Religion macht. Er betont ausdrücklich: "Ob wir die geistigen Vorgänge aus materiellen Bedingungen je begreifen werden, ist eine Frage, ganz verschieden von der, ob diese Vorgänge das Erzeugnis materieller Bedingungen sind. Jene Frage kann verneint werden, ohne daß über diese etwas ausgemacht, geschweige auch sie verneint würde (S. 75). Du Bois-Reymond ist sich der Konsequenzen seiner "Welträtsel" durchaus bewußt: "In der objektiven Zergliederung der Erscheinungswelt, wie diese Untersuchungen sie sich vorsetzen, sehe ich eine notwendige Ergänzung der Erkenntnistheorie, und die wahre Naturphilosophie. Der Pyrrhonismus in neuem Gewande, auf den sie unausweichlich hinausführt, sagt vielen nicht zu. Mögen sie es doch mit dem einzigen anderen Ausweg versuchen, dem des Supernaturalismus. Nur daß, wo Supernaturalismus anfängt, Wissenschaft aufhört" (vgl. S. 278). Es ist zwar scheinbar paradox, aber doch wahr: der naturwissenschaftliche Materialist du Bois-Reymond flüchtet in einen einge3

Wollgast, Philosophie

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schränkten Agnostizismus, um sich von Idealismus und Religion abzugrenzen! In seinem bekannten Brief an Eugen Dreher, einen idealistischen Gegner seiner Weltanschauung, für den z. B. die Willensfreiheit ein göttliches Geschenk ist, hat du Bois-Reymond sein Anliegen wie folgt zusammengeiaßt: "Die ,Grenzen des Naturerkennens' sowohl wie ,Die sieben Welträtsel' und alles, was ich sonst in diesem Sinne geschrieben habe, gehen aus von dem Grundbestreben, die Welt mechanisch zu begreifen, und sofern das nicht gelingt, den unlösbaren Rest des Exempels bestimmt und klar auszusprechen. Dies glaube ich für meinen Teil befriedigend geleistet zu haben und komme damit zu einem Ruhepunkte des Denkens, ähnlich dem eines Mathematikers, welcher die Unmöglichkeit der Lösung einer Aufgabe bewiesen hat."49 Nebenbei: man sollte auch die "Welträtsel" auch deshalb nicht überbewerten, weil sie z. T. nur das Unvermögen darstellen, über den Wissensstand der Zeit hinauszugehen. Daß dem so ist, bezeugt du BoisReymonds Wort: "Schwerlich wird die Menschheit je fliegen, und nie wird sie wissen, wie Materie denkt." Achtzehn Jahre später, bzw. zwei Jahre nach du Bois-Reymonds Tode, wurde der Flug des Menschen Wirklichkeit. Cnd die erkenntnistheoretischen Auswirkungen der "Revolution in der Physik" zu Beginn des 20. Jahrhunderts wären nicht so gravierend gewesen, wenn nicht das Newtonsehe Weltbild mit der Mechanik der irdischen Körper als seinem Zentrum bislang für unerschütterlich angesehen worden wäre. Auch du Bois-Reymond stand im Banne dieses Weltbildes ... Zweifellos kann man aber Haeckel zustimmen, wenn er zu du Bois-Reymonds "Welträtseln" schreibt: "Zunächst müssen wir nun, wie bereits in dem Vorwort zur Anthropogenie geschehen, entschieden gegen die Unfehlbarkeit Protest erheben, mit der du Bois-Reymond diese beiden Probleme (das Wesen und der Zusammenhang der Kraft sowie das menschliche Bewußtsein - S. W.) nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für alle Zukunft als unlösbar erklärt! Es wird damit einfach die Entwicklungsfähigkeit der Wissenschaft und des Fortschritts der Erkenntnis hinweggeleugnet. Fast alle großen und schwierigen Erkenntnisprobleme galten den meisten oder allen ZeitXXXIV

genossen so lange für unlösbar, solange jeder Weg zur Erkenntnis verschlossen schien, bis endlich der bahnbrechende Genius auftrat, dessen klares Auge den richtigen, bisher verborgenen Weg der Erkenntnis entdeckte. Wir brauchen bloß an unsere heutige Entwicklungslehre selbst zu erinnern." ~o Allerdings ist hier hinzuzufügen, daß "der bahnbrechende Genius" ebenfalls kein deus ex machina ist, sondern Ausdruck, Vollender eines objektiven gesellschaftlichen Bedürfnisses. Erfindungen, Entdeckungen werden getätigt, wenn die objektiven gesellschaftlichen Verhältnisse herangereift sind. Georg Domin stellt zu du Bois-Reymond fest: "Der Agnostizismus, der aus seinen Worten spricht, ist als Nebenprodukt seines Wirkens einzuschätzen, insbesondere als Folge der mechanischen Position im Kampf gegen den Vitalismus und des Unvermögens des mechanischen Materialismus, das qualitative Wesen der Naturprozesse zu erfassen." 51 Dieser Auffassung schließe ich mich an, soweit es um den Agnostizismus als Nebenprodukt des Wirkens von du BoisReymond geht. Aber man muß m. E. noch weiter gehen. Der bürgerliche Materialist du Bois-Reymond ist mit dem mechanischen Materialisten La Mettrie, seinem großen Vorbild, nicht auf eine Stufe zu stellen, wie überhaupt nicht mit den Materialisten des 18. Jahrhunderts. Für diese konnten sich die quälenden Fragen nach den "Welträtseln" gar nicht erheben. Der Mensch war eine Maschine, die ganze vVelt gehorchte mechanischen Gesetzen, Vaucansons Flötenspieler schien eine neue Etappe einzuläuten. Diderot, La Mettrie, Laplace kamen gar nicht auf die Idee, "den unlösbaren Rest des Exempels bestimmt und klar auszusprechen", weil es für sie einen solchen Rest gar nicht gab, alles war ja mechanisch erklärbar! Es war nur eine Frage, wann. Anders du Bois-Reymond! Er kennt und versteht die großen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts, einschließlich der Darwinschen Theorie in ihrer Bedeutung, wenn auch nicht in ihrer dialektischen Konsequenz. Er sieht, daß mit dem Laplaceschen Dämon nicht alles in der Welt lösbar ist. Auf seinen materialistischen Standpunkt will er jedoch nicht verzichten. Jedes Abgleiten in "SupraXXXV

naturalismus" ist ihm verhaßt. Den Erkenntnisoptimismus Haeckels, der ja schließlich - bei aller Polemik gegen du Bois-Reymonds "Welträtsel" auch in einer Art Theologie endigt - vermag er nicht zu teilen. So verbleibt ihm der Agnostizismus als Ausweg, wobei er eine saubere Abgrenzung seiner "Welträtsel" von allen anderen Aufgaben der Wissenschaft vornimmt. Agnostizismus kann als weltanschauliche Haltung reaktionär sein. Diese Linie tritt in den Vordergrund, wenn sie als Teil der Ideologie absteigender, zum Untergang verurteilter Klassen dazu dienen soll, die fortschrittlichoptimistische Überzeugung von der Erkennbarkeit und Veränderbarkeit der Welt durch den Menschen zu untergraben. Das gilt etwa im Altertum für die Philosophie des Pyrrhon von Elis (etwa 360-270 v. u. Z.), für die Wirkung der agnostizistischen Philosophie David Humes (17111776) zu der Zeit, da die englische Bourgeoisie ihre progressive historische Rolle verlor und ein Bündnis mit der Aristokratie einging. Das gilt für das Anknüpfen der heutigen imperialistischen Bourgeoisie an agnostizistische Gedankengänge von Hume und Kant, wobei sie vornehmlich reaktionäre gesellschaftspolitische Ziele verfolgt. Nun ist der Ausdruck "Agnostizismus" erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts von dem namhaften englischen Biologen Thomas H. Huxley (1825-1895), einem engen Freund Charles Darwins, in die neuere philosophische Literatur eingeführt worden. Dieser Ausdruck diente ihm (als Gegensatz zum "Gnostizismus", wie er die religiöse Überzeugung von der Existenz Gottes nannte) zur Bezeichnung seines Standpunktes, daß man in allen dem Verstand zugänglichen Dingen Folgerungen, die weder nachgewiesen noch nachweisbar sind, nicht für sicher ausgeben darf. Nebenbei: du Bois-Reymond geht längst nicht so weit! Aber dieser Agnostizismus im Sinne Huxleys fand im 19. Jahrhundert vor allem bei den Naturwissenschaftlern weite Verbreitung. Diese Richtung des Agnostizismus ist es, die Friedrich Engels wie folgt charakterisiert: "In der Tat, was ist Agnostizismus anderes als verschämter Materialismus? Die Naturanschauung des Agnostikers ist durch und durch materialistisch. Die ganze XXXVI

natürliche Welt wird von Gesetzen beherrscht und schließt jederlei Einwirkung von außen absolut aus."52 Nachdem Engels darauf die agnostizistischen Vorbehalte des Agnostikers gegen einen konsequenten Materialismus behandelt hat, stellt er dazu abschließend fest: " ... soweit er also (der Agnostiker - S. W.) ein wissenschaftlicher Mann ist, soweit er etwas weiß, soweit ist er Materialist; außerhalb seiner Wissenschaft, auf Gebieten, wo er nicht zu Hause ist, übersetzt er seine Unwissenheit ins Griechische und nennt sie Agnostizismus." 53 Nun ist Emil du Bois-Reymond zweifellos ein wissenschaftlicher Mann, der etwas weiß. Aber m. E. ergibt sich sein starres Festhalten an bestimmten Zügen des mechanischen Materialismus, sein Agnostizismus usw. nicht zuletzt aus seinem engen Fachspezialistentum. Anders steht die Sache etwa bei Helmholtz, der den weltanschaulichen Ausweg im Pantheismus sucht.5" Erinnert sei nur an seinen Kampf gegen den Nativismus, den du Bois-Reymond nie ganz zu teilen vermochte.55 Ähnlich steht es selbstverständlich mit Ernst Haeckel. Jedenfalls ist es wohl zu einfach, wenn Friedrich Herneck feststellt: "Der Agnostizismus, in den der bürgerliche Materialismus bei du Bois umschlug(!- S. W.), ist auch und wohl nicht zuletzt ein Ausdruck des beginnenden gesellschaftlichen Niedergangs des deutschen Besitzbürgertums während der Scheinblüte der ,Gründerzeit'. Es ist sicher kein Zufall, daß das ,Ignorabimus' gerade in jenen Jahren verkündet und von der Reaktion bejubelt wurde, in denen Schopenhauer, der reaktionäre Metaphysiker der Welt- und Lebensverneinung, zum Modephilosophen der deutschen Bürgerklasse geworden war." 56 Wenn dem so wäre, so bliebe unerklärlich weshalb der Agnostizismus dieser Richtung gerade in England unter den Naturwissenschaftlern so verbreitet war. Und die Hauptwirkung der Schopenhauerschen Philosophie liegt bekanntlich in Deutschland in den Süer und 60er, nicht in den 70er und SOer Jahren des 19. Jahrhunderts. Neben der oben angeführten Ursache für die Postulierung der "Welträtsel" durch Emil du Bois-Reymond sehe ich eine weitere - mit Friedrich Herneck - in dem UnXXXVII

verständnis der Dialektik. Sein Leben lang ist Emil du Bois-Reymond ein nachgerade fanatischer Gegner der spekulativen Naturphilosophie gewesen. Aber mit der spekulativen Naturphilosophie verwarf er auch deren genialen Keim - die Dialektik, vor allem in der Hegeischen Form. Dialektik ist du Bois-Reymond ein Greuel. Seine geistige Welt ist weitgehend von der Mechanik geformt. Da er damit auch das "transzendente Welträtsel" der Willensfreiheit zu erklären sucht, wirkt sein Bemühen fast rührend hilflos. Es steht mit der Willensfreiheit als "Welträtsel", als Schwierigkeit, "so, daß sie keine ist, sofern man sich entschließt, die Willensfreiheit zu leugnen und das subjektive Freiheitsgefühl für Täuschung zu erklären ... " (S. 186). Es wäre müßig, du Bois-Reymond vorwerfen zu wollen, er habe den Marxismus nicht gekannt. Tatsache aber ist, daß Friedrich Engels zu Wissenschaftlern seiner Provenienz das Nötige in Kürze wie folgt zusammengeiaßt hat: "Was den Herren allen fehlt, ist Dialektik" .57 Daß aber auch schon bei du Bois-Reymond spontane Dialektik wirkt, wird noch zu zeigen sein. Die Weltanschauung Emil du Bois-Reymonds hat schon zu seinen Lebzeiten viel Anerkennung, aber auch viel Kritik erfahren. Mit dem Beginn der nichtklassischen Wissenschaft trat der Streit um die Weltanschauung von du Bois-Reymond, Helmholtz, Hertz u. a. in den Hintergrund. Du-Bois wurde nicht mehr aus seiner Zeit heraus verstanden, sondern höchstens zum Ahnherrn des Positivismus gemacht. Nach Heinrich Borruttau zählt du Bois-Reymond " ... unstreitig zu den Bahnbrechern der neuzeitlichen Richtung, die das Weltproblem (um mit ]osef Petzoldt du Bois-Reymonds Kunstausdruck aufzunehmen) vom relativistisch-positivistischen Standpunkte betrachtet, der einzigen Art des Philosophierens, die heute in der Zeit eines Lorentz, Minkowski und Einstein als diejenige angesehen werden darf, von der eine naturwissenschaftliche Weltanschauung gewonnen werden kann.":;8 Das ist sicherlich nicht haltbar. Aber Borruttau geht es eigentlich auch um etwas anderes. Der Professor für Physiologie an der Berliner Universität will sich dagegen verwenden, daß du Bois-Reymond "als Vertreter einer überlebten. rein XXXVIII

materialistischen allgemeinen Weltanschauung in Vergessenheit" gerät und in einem Atem mit Büchner und Moleschott genannt wird.59 In die Auseinandersetzungen um du Bois-Reymonds Reden und Aufsätze geben uns seine hier abgedruckten Vorträge und die Anmerkungen ihres Verfassers reichhaltigen Einblick. Wir möchten dieses Material noch durch einige weitere Stimmen ergänzen. Der Monist Otto Zacharias wendet sich sehr scharfsinnig gegen du Bois-Reymonds "Ignorabimus" und bemerkt: "Dieses Ignorabimus ist eine Halbheit. Wir sind durchaus nicht im Stande, die Grenzen anzugeben, vor denen sich unser Erkenntnisdrang in Demuth zu bescheiden hat. Um sagen zu können: bis hierher und nicht weiter, muß man das Terrain, dessen Betretung man verbietet, bereits kennen; man muß auch den Grund des Verbotes angeben, wenn es befolgt werden soll. Mit Angabe dieses Grundes überschreitet man aber das Ignorabimus selbst, indem dadurch etwas über das jenseits der Grenze befindliche Terrain ausgesagt wird. Wir haben überhaupt kein Kriterium des Erkennbaren und Unerkennbaren; die Schranke der von uns erreichbaren Erkenntnis liegt in unserem Vermögen, nicht in unserem Bewußtsein. Wir können daher niemals im Voraus sagen, wo die Erkenntniß aufhört und die Ignoranz beginnt." 60 Ungeheures Aufsehen erregte du Bois-Reymonds Rede "Goethe und kein Ende" (1882). Goethes materialistischer Pantheismus mit seinen dialektischen Elementen mußte dem in den Traditionen des französischen Materialismus erzogenen du Bois-Reymond ganz natürlich verdächtig sein. So meinte er, es ließe sich nicht verhehlen, "daß auch ohne Goethe die Wissenschaft überhaupt so weit wäre, wie sie ist, ja die deutsche Wissenschaft vielleicht weiter ... Nicht durch Goethe ... sondern neben ihm und unabhängig von ihm ist die ·Wissenschaft fortgeschritten ... "61 Besonders empörend fand aber der deutsche Spießbürger, der gerade Goethe als Halbgott auf ein tönernes Piedestal gehoben hatte, du Bois-Reymonds folgende Äußerung: "Wie prosaisch es klinge, es ist nicht minder wahr, daß Faust, statt an Hof zu gehen, ungedecktes Papiergeld ausIXL

zugeben, und zu den Müttern in die vierte Dimension zu steigen, besser getan hätte, Gretchen zu heiraten, sein Kind ehrlich zu machen, und Elektrisiermaschinen und Luftpumpe zu erfinden ... "62 Mehrere Gegenschriften erschienen. Darin wird du BoisReymond z. B. bezichtigt, er habe "in autoritativer Stellung für seine chimärische Weltanschauung" Propaganda gemacht, sei "ein Prophet des crassesten Materialismus", er entwickle "phrasenhafte Anschauungen von der ,entgötterten Natur"' und habe mit seinen Auffassungen "in hoher amtlicher Stellung die heiligsten Gefühle von Millionen Christen in - gelinde ausgedrückt - unnobler Manier verhöhnt". Du Bois-Reymonds Weltanschauung schlage "nicht der Theologie allein, sondern jeder Religion überhaupt in's Gesicht" und kennzeichne "die Vertreter der christlichen Weltanschauung als armselige Phantasten oder boshafte Volksverführer." 63 Es ist bezeichnend, daß der stockkonservative Autor sein vernichtendes L'rteil auch aus den beiden "Welträtselreden" ableitet! Adolf Kohut meint, du Bois-Reymond gehöre zu jenen, die "sich nicht scheuen, die äußersten Konsequenzen aus ihren wissenschaftlichen Errungenschaften zu ziehen und die Freiheit der Wissenschaft höher achten als die Rücksicht auf eine mächtige Kamarilla, welche den als Gottesleugner denunziert, der es wagt, gegen geistige Knechtung und Verdummung anzukämpfen."64 Immer wieder wird du Bois-Reymonds Materialismus klar erkannt und z. T. beklagt. So von dem Breslauer Professor Theodor Weber, dem der große Physiologe einige Bemerkungen in den Fußnoten zu seinen "Sieben Welträtseln"widmet (vgl. FN 42, 59, 60), und der darauf gleich mit einem ganzen Buch antwortet. Darin stellt Weber fest: " ... wenn man unter ,Materialismus' diejenige Weltansicht versteht und allein verstehen kann, welche in der Materie als solcher das einzig vorhandene Real- und Kausalprinzip anerkannt, aus welchem alle Lebensvorgänge im Himmel und auf Erden ihre Entstehung haben, so ist die von du Bois gegenwärtig geteilte und in fast zahllosen, von einer Fülle der mannigfaltigsten Detailkenntnisse zeugenden Schriften verbreitete Weltanschauung auch nichts anderes als ein schroffer, mit XL

großer Konsequenz durchgebildeter Materialismus." 65 Kaum jemand von seinen Zeitgenossen sucht du BoisReymond für irgendeinen Idealismus, für irgendeine positive Religion zu reklamieren. Zu diesen wenigen gehört E. von Hartmann. \-Venn man du Bois-Reymond Verrat am Materialismus vorwirft, so nur, um etwa den historisch veralteten Standpunkt zu postulieren, daß "schon jetzt an der Möglichkeit einer Mechanik des menschlichen Geistes nicht mehr gezweifelt werden darf". (E. Langwieser) Für eine idealistische Inanspruchnahme ist du Bois-Reymonds Materialismus zu offen und entschieden. S. S. Epstein spricht du Bois-Reymonds naturwissenschaftlichen Materialismus ganz offen aus: "In de La Mettries L' homme machine und Holbachs Systeme de la nature finden wir auch die Grundsteine zu du Bois-Reymonds Weltanschauung und völlig in Leibniz sah er einen Vorläufer der modernen Erkenntnistheorie. Du Bois-Reymond ist, wie alle Naturforscher, Materialist, d. h. er denkt sich alle Körper unserer Welt und deren Bewegungen in Bewegungen von Atomen aufgelöst, die durch deren konstante Centralkräfte bewegt werden."66 Ähnlich äußern sich J. Classen67 und Erich Metze.68 Der niederdeutsche Dichter Klaus Groth feiert den großen materialistischen Physiologen in seinem Gedicht "An Emil Dubois-Reymond" u. a. mit folgenden Worten: "Leicht ist es, sich mit Schellingschem Gefieder Bis in der Dichtung hohen Äther schwingen, Und sich die Wahrheit aus den Erdendingen Zudüften lassen, wie den Klang der Lieder. Doch die materiell-gemeinen Glieder Zum prompten Dienst der strengen Forschung zwingen, Mit Händen fassend ums Geheimnis ringen: Das ist eine Werk! Das beuget Riesen nieder!" Unter den marxistischen Autoren hat Friedrich Herneck am umfassendsten und als erster Emil du Bois-Reymond gewürdigt. Er hat damit eine echte Pioniertat vollbracht. Wir teilen im Wesentlichen seine Meinung: "Er (du BoisReymond - S. W.) nahm lieber die erkenntnispessimistiXLI

sehen Schlußfolgerungen in Kauf, die sich ihm aus dem mechanistischen Materialismus bei folgerichtigem Denken zu ergeben schienen, als daß er die materialistische Weltauffassung in ihrer Grundlage in Frage gestellt hätte. So bedeutet sein ,Ignorabimus' gegenüber den ,Welträtseln' ... die Abgrenzung des exakt-empirisch vorgehenden Naturforschers gegenüber der spekulativ-mystischen Haltung der idealistischen Schulphilosophen und der Gottesgelehrten seiner Zeit. Da man diese Formel jedoch als Kapitulation der Naturwissenschaft und ihrer Erkenntnismethoden vor den ,letzten Fragen' mißverstanden hat, wurde der Gelehrte von vielen als Wegbereiter einer agnostizistischen Weltauffassung bekämpft."69 Auch für die Vulgärmaterialisten war die Lebenskraft eine Fiktion. Auch sie wandten sich gegen die Teleologie und sahen, daß Materie und Bewegung untrennbar miteinander verbunden sind. Moleschott wie Büchner berufen sich auf du Bois-Reymonds Einleitung zu seinen "Untersuchungen über tierische Elektrizität" in ihrem Kampfe gegen die Lebenskraft als Gewährsmann.'O Du BoisReymond bezieht sich einige Male auf den Zoologen Carl Vogt.7 1 Er geht auch auf das "Sekretionsgleichnis" Vogts einl2, wobei er zu Recht feststellt, daß sich dieses Gleichnis im wesentlichen schon bei Cabanis findet. Du Bois-Reymond meint zu Vogts "kecken Ausspruch" u. a.: "Auch das ist am ,Sekretionsgleichnis' schwerlich zu tadeln, daß darin die Seelentätigkeit als Erzeugnis der materiellen Bedingungen im Gehirn hingestellt wird. Fehlerhaft dagegen scheint, daß es die Vorstellung erweckt, als sei die Seelentätigkeit aus dem Bau des Gehirns ihrer Natur nach so begreiflich, wie die Absonderung aus dem Bau der Drüse." (S. 76) Schon hier sehen wir die Abgrenzung du Bois-Reymonds von den Vulgärmaterialisten. Aber es ist notwendig, diese Abgrenzung etwas weiter zu führen, um den grundsätzlichen Unterschied von Vulgärmaterialismus und dem von du Bois-Reymond vertretenen Materialismus ganz klar vor Augen zu führen. Das ist zugleich ein Ansatz, um die spezifischen Besonderheiten des Materialismus der Naturwissenschaftler in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts herauszuarbeiten. XLII

Die entscheidende Wirkungszeit der kleinbürgerlichen Materialisten lag um 1850. Trotz großer Entdeckungen auf den verschiedensten naturwissenschaftlichen Gebieten war in dieser Zeit der entscheidende Umwälzungsprozeß der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts noch nicht abgeschlossen. Anders steht es um die 70er und 80er Jahre, in denen du Bois-Reymond mit seinen Reden die größte Wirksamkeit erlangte. Erinnern wir daran, daß nur seine Schrift über die Lebenskraft unter den hier abgedruckten vor 1870 liegt. Für den naturwissenschaftlichen Entwicklungsstand der siebziger und achtziger Jahre konnte Friedrich Engels feststellen, daß die "Hauptvorgänge" in der :Natur materialistisch erklärt, "alles" Starre aufgelöst und "alles" Fixierte verflüchtigt sei.73 Der Materialismus hatte sich unter den prominenten Naturwissenschaftlern in ihrem Fachgebiet durchgesetzt. Der fromme Kirchenglaube fand bei ihnen keine Heimstatt mehr. Die neue Lage erforderte aber nicht nur die Negation der alten christgläubigen, sondern die Setzung einerneuen Weltanschauung. Eine Richtung der Naturwissenschaftler flüchtete in einen Pantheismus. So etwa Haeckel. Dieser Pantheismus ist progressiv, aber doch noch mit idealistischen Elementen stark versetzt. So hat bei Ernst Haeckel schon die einfachste Zelle "Beseeltheit" und das menschliche Denken ist nur die graduelle Steigerung dieser "Zellseele" ,74 Wenig wird auch im allgemeinen folgendes beachtet: Auch für Haeckel gibt es noch ein Welträtsel, "ein einziges allumfassendes Universalrätsel ... das Substanz-Problem". Hinsichtlich dieses Welträtsels meint Haeckel: "Wir geben von vornherein zu, daß wir dem innersten Wesen der Natur heute vielleicht noch ebenso fremd und verständnislos gegenüber stehen, wie A naximander und Empedokles vor 2400 Jahren, wie Spinoza und Newton vor 200 Jahren, wie Kant und Goethe vor 100 Jahren."75 Und das in der "Schlußbetrachtung", also als Fazit seiner "Welträtsel"! Ein weiterer Versuch, eine solche neue Weltanschauung zu gewinnen, bot sich im Neukantianismus an, der in den 70er Jahren seinen eigentlichen Siegeszug antrat. Für ihn gilt: "Die aus den grundlegenden Interessen der ... Bourgeoisie erwachsenden philosophischen Be.düdnisse XLIU

zielten auf eine Philosophie, welche die bürgerliche Praxis und Herrschaftsordnung als normal, ewig und ewig fortschreitend bestätigte und die theoretische Grundlage für die politische Konzeption abgeben konnte. Diese Philosophie mußte den Sozialismus mit modernen Mitteln bekämpfen können, damit dem Materialismus aktiv entgegentreten, zugleich aber den stürmischen Aufschwung der Naturwissenschaft auf eine Weise interpretieren, daß dessen Ergebnisse bestätigt und für die Bourgeoisie nutzbar gemacht, zugleich der Einfluß hemmender Spekulationen und Theologie ausgeschaltet wurden, soweit diese die Naturwissenschaft hindern." 7G Daneben bleibt eine Strömung bestehen, die von einem konsequenten bürgerlichen, naturwissenschaftlichen M aterialismus nicht abgeht. Sowohl das Attribut "bürgerlich" als auch das Attribut "naturwissenschaftlich" ist zu betonen. Du Bois-Reymond wie Helmholtz und Ludwig Boltzmann - die uns hier bei allen Unterschieden als Repräsentanten dieser Richtung dienen, sind treue Diener ihres Staates. In den vorliegenden Schriften widerspiegelt sich du Bois-Reymonds Haß gegen die Pariser Kommune, gegen jegliche Revolution, sein Unverständnis der Sozialdemokratie. Gleichzeitig betont er immer wieder seine Loyalität als Untertan. Zugleich ist du Bois-Reymond naturwissenschaftlicher Materialist. Was heißt das? 77 Naturwissenschaftlicher Materialismus ist eine von Naturwissenschaftlern des 19. und des 20. Jahrhunderts bewußt geformte und vertretene spezifische Strömung des materialistischen Denkens innerhalb der Naturwissenschaft, die ohne Kenntnis des dialektischen Materialismus bzw. später in bewußter Abgrenzung vom dialektischen und historischen Materialismus die philosophischen Grundlagen und allgemeinen Methoden des naturwissenschaftlichen Arbeitens sowie die Ergebnisse der Naturwissenschaft mehr oder weniger konsequent materialistisch begründet. Es ist eine besondere, relativ eigenständige, bewußt vertretene materialistische Strömung innerhalb der Naturwissenschaft der genannten Zeit, die auf der in der Naturwissenschaft immer vorhandenen elementaren und spontanen materialistischen GrundXLIV

einstellung des Naturforschers aufbaut, sich aber von ihr durch Bewußtheit unterscheidet. Bewußtheit heißt hier: die Grundeinstellung, daß die Natur, ihre Prozesse und Gesetzmäßigkeiten objektiv real existieren wird theoretisch formuliert, begründet und gegen andere philosophische Auffassungen und Thesen zu verteidigen gesucht. Der naturwissenschaftliche Materialismus verlangt also bewußtes philosophisches Denken. Der naturwissenschaftliche Materialismus ist keine vormarxistische Erscheinungsform des l\Iaterialismus. Es ist ein Materialismus, der aus verschiedenen Gründen nicht bis zum dialektischen Materialismus vordringt. Du Bois-Reymond steht ziemlich am Anfang dieser Entwicklung, Planck, Born usw. bezeichnen ihren bisherigen Höhepunkt. Die naturwissenschaftlichen Materialisten können nicht mehr, wie etwa noch Vogt, Büchner und Moleschott als mechanische Materialisten eingeschätzt werden, selbst wenn sie in wichtigen Fragen noch mechanistische Auffassungen vertreten. Ihre philosophische Position ist vom mechanischen Materialismus unterschieden, sie ist weiterentwickelt. In der Gesellschaftsauffassung sind sie Idealisten. Der naturwissenschaftliche Materialismus ist objektiv in seiner Wirkung Verbündeter des dialektischen Materialismus im philosophischen Kampf zwischen Materialismus und Idealismus, allerdings nur auf diesem Gebiet. Übrigens - und das wird oft übersehen - haben die Klassiker des Marxismus-Leninismus den Begriff des mechanischen Materialismus selbst vornehmlich auf das 18. Jahrhundert angewandt. Die wichtigsten zusammenfassenden Äußerungen dazu finden sich in Engels' "Ludwig Feuerbach", wo die entscheidende Passage mit den Worten beginnt: "Der Materialismus des vorigen Jahrhunderts war vorwiegend mechanisch ... " ~~ Was Engels an gleicher Stelle über den mechanischen Materialismus des vorigen Jahrhunderts sagt, bezieht sich auf Vogt, Büchner, Moleschott und deren Epigonen. Ein genaues Studium der "Dialektik der Natur" und des "Anti-Dühring" ergibt kein anderes Bild. Im "Anti-Dühring" betont Engels das Wirken des "mechanischen, ausschließlich metaphysischen Materialismus" explizit für das 18. Jahrhundert79 und in der XLV

"Dialektik der Natur" heißt es für die Zeit nach 1848: "Um dieselbe Zeit aber nahm die empirische Naturwissenschaft einen solchen Aufschwung und erreichte so glänzende Resultate, daß dadurch ... eine vollständige Überwindung der mechanischen Einseitigkeit des 18. Jahrhunderts möglich wurde ... "80 Wenn Lenin sagt: "Mit dem Entwicklungsprinzip sind im 20. Jahrhundert (ja auch am Ende des 19. Jahrhunderts) ,alle einverstanden'" 81, so ist diese Bemerkung zunächst negativ gefaßt. Sie richtet sich gegen eine Entwicklungsauffassung, die nur das quantitative Wachstum, nicht den qualitativen Sprung in Betracht zieht. Gleichzeitig aber wird damit das Ende des 19. Jahrhunderts (man könnte die Zäsur auch mit der Mitte des vergangeneu Jahrhunderts setzen) gegenüber der voraufgegangenen Zeit, auch gegenüber dem voraufgegangenen Materialismus, abgegrenzt. Im 18. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war keineswegs mit dem Entwicklungsdenken jeder einverstanden. :VI. T. Jowtschuk unterscheidet vier historische Grundformen des Materialismus und der Dialektik: 1. Den naiven Materialismus und die naive Dialektik der .\ntike; 2. den Materialismus vom 16. bis 18. Jahrhundert; 3. die klassische deutsche Philosophie; 4. den dialektischen Materialismus. Er setzt fort: "Außer diesen Grundformen des philosophischen Denkens untersucht die marxistische Philosophiegeschichte Übergangsformen der philosophischen Theorie und der philosophischen Erkenntnismethode (zum Beispiel die philosophischen Lehren der Epoche der Renaissance, die anthropologische Spielart des Materialismus der Neuzeit und die damit verbundene materialistische Philosophie der revolutionären Demokratie des 19. Jh .... und andere)" 82 Zu diesen anderen Übergangsformen gehört m. E. auch der naturwissenschaftliche Materialismus. Den Atheismus der Vogt, Büchner und Moleschott teilt auch der bürgerliche Atheist du Bois-Reymond. Aber er geht in seinem fundierteren naturwissenschaftlichen Materialismus bedeutend weiter. Während Vogt und Moleschott die philosophische Tradition - einschließlich des französischen Materialismus bewußt mißachteten, ist sie für du Bois-Reymond ein XLVI

echtes Leitbild, das er weiterzuführen bemüht ist. Das gilt, wie wir wissen, besonders für Leibniz, Voltaire und La Mettrie, im gewissen Sinne für Diderot. Durchmustert man seine Vorträge und seine zahlreichen Belege, so stößt man auf eine reichhaltige Kenntnis philosophischer Literatur. Mehrfach wird d'Alembert erwähnt83, ebenso der Philosoph Aristoteles84. Du Bois-Reymond bezieht sich auf Francis Bacons Ausspruch "knowledge is power" (vgl. S. 138, 276). Er weiß darum, daß sich Pierre Bayle gegen die prästabilierte Harmonie gewandt hat -eine Kenntnis, die er wohl seinem Leibnizstudium verdankt. Eine Verszeile von Giordano Bruno stellt er seinem Artikel "Über Darwin und Kopernikus" voran (S. 205). Wie schon erwähnt, weiß er, daß das "Sekretionsgleichnis" von Cabanis stammt. Du Bois-Reymond zitiert die "Tusculanen" Ciceros (S. 174). Nach seiner Meinung ruhte "Lackes und Condillacs Empirismus auf subjektiv-psychologischer Grundlage". (S. 96). Condorcet wird der Mißdeutung einer Stelle in Voltaires "Candide" beschuldigt85 und seine literarische Meisterschaft wird gerühmt.S6 Selbstverständlich kennt du BoisReymond auch Rousseaus "Bekenntnisse" und seine andere Arbeiten. Seine Rede "Friedrich II. und JeanJaques Rousseau" wäre sonst ohnehin nicht denkbar. Immer wieder kommt du Bois-Reymond auf Descartes zurück, den er im Originaltext zitiert. Dazu finden sich in der vorliegenden Ausgabe vielfältige Belege. Gleiches gilt für Denis Diderot und die französische "Enzyklopädie". Auch Eugen Dührings "Kritische Geschichte der allgemeinen Prinzipien der Mechanik" wird zitiert (vgl. S. 246), ohne daß dabei allerdings zu Dührings philosophischem System Stellung genommen wird. Von den antiken Philosophen werden neben Aristoteles Empedokles, Epikur, Platon (vor allem mit seinem "Timaios"), Sokrates; Thales, und Zenon von Kition erwähnt. Erwähnung finden auch Fontenelle, Gassendi, Geulincx, Malebranche, Maupertuis, Montesquieu, Pascal, Spinoza und andere Philosophen des 17. und 18. Jahrhunderts. Kant genießt bei du BoisReymond hohes Ansehen. Für du Bois gehört Kaut nicht zur klassischen deutschen, im Sinne der dialektischen Philosophie, die er entschieden ablehnt. John Locke und XLVII

Mandeville hat du Bois-Reymond ebenfalls gelesen. Auf Schopenhauer und andere Modephilosphen geht er nicht ein. Man hat gewisses Verständnis dafür, daß du Bois-Reymond die spekulative Naturphilosophie ablehnte. Trieb sie doch zu seiner Jugend Blüten dieser Art: "In Henrik Steffen's Vorlesungen über Anthropologie schrieb ich im Winter 1837-38 folgendes nach: ,Jedes Organ des menschlichen Körpers entspricht einem bestimmten Tier, ist ein Tier. Beispielsweise die allerwärts bewegliche, feuchtschlüpfrige Zunge, ist ein Tintenfisch, eine Sepie. Denn der Knochen der Zunge, das Zungenbein, hängt mit keinem anderen Knochen des Skeletts zusammen. Nun aber hat die Sepie nur einen Knochen, das bekannte Os sepiae. Folglich hängt dieser Knochen mit keinem anderen Knochen zusammen. Folglich ist die Zunge eine Sepie." 87 Der spekulativen Naturphilosophie sagt der exakte Naturwissenschaftler Emil du Bois-Reymond den entschiedenen Kampf an. Deshalb wendet er sich auch gegen "Hegel's dialektische Luftschlösser" 88 und "die Geisteskrankheit der falschen Naturphilosophie" (S. 212). Dabei läßt er außer acht, daß die dialektische Methode ein äußerst fruchtbares Arbeitsmittel für den Naturwissenschaftler ist. Da du Bois-Reymond den dialektischen Charakter der Natur und der Erkenntnis nicht begreift, endet er bei den "sieben Welträtseln". Er vermag die rationellen Keime im Regelsehen System nicht zu verstehen. Engels stellt dagegen fest: "Die Naturphilosophen verhalten sich zur bewußt-dialektischen Naturwissenschaft wie die Utopisten zum modernen Kommunismus." 89 Es wird nun an einigen Punkten darzustellen sein, worin sich der naturwissenschaftliche Materialismus Emil du Bois-Reymonds vom französischen mechanischen Materialismus, seinem Vorbild, unterscheidet. Dieser Nachweis soll nur skizzenhaft sein, ein aufmerksames Studium der vorliegenden Vorträge erhärtet, vertieft und erweitert diese Aussagen. Im Gegensatz zu La Mettrie und seinen anderen Vorbildern aus dem Bereich des mechanischen französischen Materialismus sieht du Bois-Reymond durchaus einen XLVIII

Unterschied zwischen belebter und unbelebter Welt: "Wenn die Organismen Erscheinungen darbieten, die in der anorganischen Natur nicht vorkommen, sollte dies nicht einfach daher rühren, daß in den belebten Körpern die Sto:ffteilchen, obschon mit den nämlichen Eigenschaften begabt wie außerhalb, doch zueinander in neue Beziehungen treten und neue Verbindungen eingehen?"(S. 20) Diese Fragestellung enthält im Keim die Möglichkeit, die Enge des damaligen Mechanismus zu überwinden. Bei du BoisReymond findet sich auch schon der Gedanke, der später in der Theorie des Fließgleichgewichts ausgearbeitet wurde: "Was das Lebende vom Toten, die Pflanze und das nur in seinen körperlichen Funktionen betrachtete Tier vom Kristall unterscheidet, ist zuletzt dieses: im Kristall befindet sich die Materie in stabilem Gleichgewichte, während durch das Lebewesen ein Strom von Materie sich ergießt, die Materie darin in mehr oder minder vollkommenem Gleichgewichte sich befindet ... " (S. 63 f.). Auch in seiner Rede "Über Neovitalismus" bemüht sich du Bois-Reymond um eine Unterscheidung des Anorganischen und Organischen. Engels schreibt: .,Der Materialismus des vorigen Jahrhunderts war vorwiegend mechanisch, weil von allen Naturwissenschaften damals nur die Mechanik, und zwar auch nur die der - himmlischen und irdischen - festen Körper, kurz die Mechanik der Schwere, zu einem gewissen Abschluß gekommen war. Die Chemie existierte nur erst in ihrer kindlichen, phlogistischen Gestalt. Die Biologie lag noch in den Windeln; der pflanzliche und tierische Organismus war im Groben untersucht und wurde aus rein mechanischen Ursachen erklärt; wie dem Descartes das Tier, war den Materialisten des 18. Jahrhunderts der Mensch eine Maschine. Diese ausschließliche Anwendung des Maßstabes der Mechanik auf Vorgänge, die chemischer und organischer Natur sind und bei denen die mechanischen Gesetze zwar auch gelten, aber von andern, höheren Gesetzen in den Hintergrund gedrängt werden, bildet die eine spezifische, aber in ihrer Zeit unvermeidliche Beschränktheit des klassischen französischen Materialismus."90 4

Wollgast, Pbilosopie

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Bei Emil du Bois-Reymond lag eine andere Situation in den Naturwissenschaften vor, und sie wurde von ihm anders reflektiert. Dazu geben die hier abgedruckten Reden reichhaltige Beweise. Nach du Bois-Reymond ist der Mensch immer von einer Welterkenntnis im Sinne des Laplaceschen Dämon weit entfernt. Also ist der "mechanische" Materialismus nicht allmächtig. Das aber war gerade die Auffassung der französischen Materialisten. Wenn du Bois-Reymond an mehreren Stellen die Einheit der Welt in ihrer Materialität betont, so tut er das auch auf einer höheren Ebene, als dies bei den mechanischen Materialisten der Fall ist. Engels vergleicht die Naturwissenschaft des 18. und des 19. Jahrhunderts und stellt dabei fest: ". . . wenn die Naturwissenscpaft des letzten Jahrhunderts vorwiegend sammelnde Wissenschaft, Wissenschaft von fertigen Dingen war, so ist sie in unserm Jahrhundert wesentlich ordnende Wissenschaft, Wissenschaft von den Vorgängen, von Ursprung und der Entwicklung dieser Dinge, die diese Naturvorgänge zu einem großen Ganzen verknüpft." 91 Es fragt sich nun: konnte die ordnende Wissenschaft sich derselben Methode bedienen wie die sammelnde \Vissenschaft? Unserer Meinung nach ist dies unmöglich. Nun kann man darauf verweisen, daß Engels in der "Dialektik der Natur" mehrfach davon spricht, daß die Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts starr an der mechanischen Denkweise festhielten und die Induktion verabsolutierten. Gleichzeitig stellen aber die Klassiker des MarxismusLeninismus fest, daß sich die Dialektik in der Naturwissenschaft spontan durchsetzt. Nehmen wir Lenins Formulierung: "Von der lebendigen Anschauung zum abstrakten Denken und von diesem zur Praxis - das ist der dialektische Weg der Erkenntnis der Wahrheit, der Erkenntnis der objektiven Realität." 92 Ist dies nicht die Forschungsmethode, die zur Entdeckung der Spektralanalyse durch Bunsen und Kirchhoff führte? Ist nicht gleichzeitig Kirchhoff der Kronzeuge derer, die den naturwissenschaftlichen Materialismus mit dem mechanischen gleichsetzen, weil nach Kirchhoffs eigenen Worten es das Ziel der Wissenschaft ist, sich in Mechanik aufzulösen? L

Wird nicht du Bois-Reymonds oben angeführte Bestimmung der Naturwissenschaft der Feststellung Lenins durchaus gerecht? Arbeitet nicht Helmholtzander Lösung eines "Welträtsels" seines Freundes du Bois-Reymond, am Ursprung der einfachen Sinneserkenntnis? Du Bois sagt selbst von Helmholtz, dieser habe es für das erste Prinzip der Naturforschung gehalten, "daß wir uns die Natur begreiflich vorstellen müssen, da es sonst keinen Sinn hätte, sie erforschen zu wollen." (S. 217) Offenbar hielt also Helmholtz das genannte Welträtsel für begreiflich. Mir scheint, man hat den ganzen Komplex der Abgrenzung vom Materialismus des 18. und der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bisher ungenügend durchdacht. Aber so wie sich der Materialismus den Naturwissenschaftlern zu einer bestimmten Zeit objektiv aufdrängte, so auch die Dialektik. Lenin hebt als ein Element der Dialektik hervor: "unendlicher Prozeß der Vertiefung der Erkenntnis des Dings, der Erscheinungen, Prozesse usw. zum \Vesen und vom weniger tiefen zum tieferen Wesen." 93 Nach diesem Element der Dialektik handelte die überwältigende Mehrheit der Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Sie taten es unbewußt, wie Emil du Bois-Reymond. Sie vermochten ihre spontane dialektische Erkenntnis nicht auf alle Erscheinungen und Prozesse der Welt auszudehnen. Dieses Übrigbleibende, die Grundfragen, wurden von du Bois-Reymond unter den Begriff der "Welträtsel" subsummiert. Engels schreibt zum französischen Materialismus des 18. Jahrhunderts: "Im Gegensatz zur Geschichte der Menschheit, die in der Zeit sich entwickelt, wurde der Naturgeschichte nur eine Entfaltung im Raum zugeschrieben. Alle Veränderung, alle Entwicklung in der Natur wurde verneint."94 Auch in dieser Hinsicht geht du Bois-Reymond anders vor. Grundlage dafür sind wiederum die Entdeckungen der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem aber Darwins Abstammungslehre. Die Entwicklung und Veränderung in der Natur ist für du Bois-Reymond selbstverständlich, wenngleich er Entwicklung fälschlich evolutionistisch faßt, nicht als Entwicklung von Widersprüchen. Wie Lenin ausführte, muß man zwischen zwei grundlegenden Entwick4*

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lungskonzeptionen unterscheiden, zwischen der dialektischen und der metaphysischen. Lenin charakterisiert sie folgendermaßen: .. Die beiden grundlegenden (oder die beiden möglichen? oder die beiden in der Geschichte zu beobachtenden?) Konzeptionen der Entwicklung (Evolution) sind: Entwicklung als Abnahme und Zunahme, als Wiederholung und Entwicklung als Einheit der Gegensätze ... "9:> Wie Lenin weiter feststellt, bleibt bei der erstgenannten Konzeption Quelle und Motiv der Entwicklung im Dunkel, wird nach außen in einen Gott, ein Subjekt usw. verlegt. Erst die dialektische Entwicklungskonzeption vermag die Selbstbewegung der Materie zu erklären. Aber es handelt sich in beiden Fällen um Entwicklungskonzeptionen. Lenin faßt weiter ausdrücklich unter Bewegung .,sowohl das Wachstum als auch die Bewegung", sowohl die metaphysische als auch die dialektische Konzeption der Entwicklung.96 Auch von hier aus läßt sich der richtige Zugang zu den .,Welträtseln" Bois-Reymonds finden. Du Bois-Reymonds Gesamtsystem ist undialektisch. Das ist - um es nochmals zu sagen - die Hauptursache dafür, daß Emil du Bois-Reymonds Auffassungen, die philosophischen Auffassungen eines großen deutschen naturwissenschaftlichen Materialisten und bürgerlichen Atheisten so oft mißverstanden wurden und mißverstanden werden konnten. Du Bois-Reymond meinte, die Philosophie könne aus der Naturwissenschaft lernen, die Naturwissenschaft aber nicht aus der Philosophie (S. 52). Dieses Urteil ist beim Stande der akademischen Philosophie in Deutschland zu seiner Zeit berechtigt. Aber du Bois-Reymond führt auch selbst sein Urteil ad absurdum, indem er als Naturwissenschaftler von den Philosophen Leibniz, La Mettrie usw. lernen will und ihre Lehren für seine Zeit praktikabel zu machen sucht. Er unternimmt den insgesamt untauglichen Versuch, die Philosophie aus naturwissenschaftlichen Spezialdisziplinen heraus zu entwickeln. Auf ihn trifft zu, was Engels sagt: .,Die Naturforscher mögen sich stellen, wie sie wollen, sie werden von der Philosophie beherrscht. Es fragt sich nur, ob sie von einer schlechten Modephilosophie beherrscht werden wollen oder von einer LII

Form des theoretischen Denkens, die auf der Bekanntschaft mit der Geschichte des Denkens und mit deren Errungenschaften beruht." 97 Du Bois-Reymond wollte sich von keiner "schlechten l\Iodephilosophie" beherrschen lassen. Noch im Alter warnt er vor dem neuen philosophischen Pessimismus der spekulativen Philosophen (z. B. v. Hartmann), die den Fortschritt leugnen, ohne etwas zu ihm beizutragen. Da er aber den dialektischen Materialismus, vor allem die materialistische Dialektik nicht kannte, blieb sein materialistisches Denken beschränkt. Aber auch sein Werk bezeugt "die Unausrottbarkeif des naturwissenschaftlichen Materialismus, seine Unvereinbarkeit mit der ganzen offiziellen Professorenphilosophie und -theologie" .98 In diesem Sinne gehört Emil du Bois-Reymond in die progressive Traditionslinie materialistischen Denkens in Deutschland. Die vorliegende Ausgabe der Reden du Bois-Reymonds will einige seiner wichtigsten Arbeiten zu philosophischen, wissenschaftshistorischen und gesellschaftlichen Fragen neu zugänglich machen. Aus Platzgründen wurden eine Reihe weiterer, ebenfalls stark ideologieträchtiger Reden und Vorträge nicht aufgenommen. Dazu zählen u. a.: "Gedächtnisrede auf J ohannes Müller", "Voltaire als Naturforscher", "Darwin versus Galiani", "Über das Nationalgefühl". Als Vorlage fÜr die hier zum Abdruck gebrachten Texte dienten: Reden von Emil du Bois-Reymond in zwei Bänden. Zweite vervollständigte Auflage. Mit einer Gedächtnisrede von Julius Rosenthai herausgegeben von Estelle du Bois-Reymond, Bd. I und II, Verlag von Veit & Comp., Leipzig 1912. Dort sind auch die hier nicht aufgenommenen Reden Emil du Bois-Reymonds zu finden. In dieser Ausgabe wurde bewußt darauf verzichtet, lediglich einzelne Stellen anzuführen -etwa eine Anthologie zu schaffen -, um den Gesamtzusammenhang nicht zu stören. Die Anordnung der Texte erfolgt chronologisch. Die Anmerkungen des Herausgebers zum Text beziehen sich zumeist auf Sacherklärungen, weniger auf philosophische Interpretation. Die Rechtschreibung wurde durchgängig LIII

modernisiert. Satz und Lautstand blieben nach der Vorlage erhalten. Offensichtliche Errata in den benutzten Vorlagen wurden stillschweigend ausgebessert. Herrn Prof. Dr. sc. phil. Rolf Löther danke ich für wertvolle Hinweise. Dresden, im Oktober 1972 Siegfried Wollgast

E. du Bois-Reymond an E. Hallmann im April 1843, in: Jugendbriefe von Emil du Bois-Reymond an Eduard Hallmann, herausgeg. von E. du Bois-Reymond, Berlin 1918, S. 112. Die in folgendem nur mit Seitenangaben versehenen Zitate bezeichnen die Seiten dieser Ausgabe. 2 E. du Bois-Reymond an E. Hallmann am 24. 4. 1840, in: EbendaS. 53. :1 E. du Bois-Reymond an E. Hallmann am 25. 10. 1841, in: Ebenda, S. 102. 4 E. du Bois-Reymond an E. Hallmann am 19. 8. 1840, in: Ebenda, S. 70. 5 E. du Bois-Reymond an E. Hallmann am 17. 10. 1840, in: Ebenda, S. 77. 6 E. du Bois-Reymond an E. Hallmann am 7. 12. 1839, in: Ebenda, S. 35. An anderer Stelle zitiert er zustimmend: .. Schleiermacher soll von Steffens' Kolleg gesagt haben, daß er ,mit den Metallen anfing und mit dem Abendmahl endigte' ... " (Ebenda, S. 154). 7 E. du Bois-Reymond an E. Hallmann im Mai 1842, in: Ebenda, S. 108. 8 Ebenda, S. 109. 9 Zwei große Naturforscher des 19. Jahrhunderts. Ein Briefwechsel zwischen Emil du Bois-Reymond und Karl Ludwig, herausgeg. von E. du Bois-Reymond, Leipzig 1927, S. 26 ( = Brief vom 2. 9. 1848). 10 In: Eben da, S. 11-12 ( = Brief vom 22. 4. 1848). HE. du Bois-Reymond an E. Hallmann am 6. 1. 1849, in: Ebenda, S. 130, S. 131. Wie F. Herneck aus dem AkademieArchiv nachweist, hat die Akademie diesem Verlangen nur bedingt und mit beträchtlichen Einschränkungen stattgegeben (vgl. F. Herneck, Emil du Bois-Reymond und die Grenzen der mechanistischen Naturauffassung, in: For1

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sehen und \,Yirken. Festschrift zur 150-Jahr-Feier der Humboldt-Universität zu Berlin, Bd. I, Berlin 1960, S. 239). 12 E. du Bois-Reymond an E. Hallmann am 6. 1. 1849, in: Ebenda, S. 128. 1:1 F. Herneck, Emil du Bois-Reymond und die Grenzen der mechanistischen Naturauffassung, a. a. 0., S. 239. H V gl. zum folgenden: K. E. Rothschuh, Geschichte der Physiologie, Berlin-Göttingen-Heidelberg 1953. 1:> V gl. E. du Bois-Reymond: Gedächtnisrede auf J ohannes :Müller. In: Reden von Emil du Bois-Reymond in 2 Bänden, Leipzig 1912, Bd. I, S. 135-317. Auch in späteren Schriften kommt du Bois immer wieder auf Müller zurück. 16 J. Müller: Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinns der Menschen und der Thiere, Leipzig 1826, S. 45. 17 V gl. S. L. Rubinstein: Grundlagen der allgemeinen Psychologie, Berlin 1971, S. 243-244. 18 J. Müller: Zur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinns der Menschen und der Thiere, a. a. 0., S. 49f. 19 Vgl. W. I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus, in: Werke, Bd. 14, Berlin 1962, S. 306-307. 20 K. Vogt: Physiologische Briefe für Gebildete aller Stände, 2. Aufl., Gießen 1854, S. 221. 21 Vgl. R. Mocek: Zum Lebenswerk von Hans Driesch, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 12. Jg. Heft 10/1964, S. 1191-1214. 22 B. Bavink, Ergebnisse und Probleme der Naturwissenschaften, 8. Aufl. Leipzig 1944, S. 451. Zum Vitalismusproblem bei den .,kritischen Realisten" vgl.: K. F. Wessel, Kritischer Realismus und dialektischer Materialismus. Zur Kritik einer bürgerlichen Naturphilosophie, Berlin 1971. 23 J. Haas, Biologie und Gottesglaube, Berlin 1961, S. 35ft., 49 ff. V gl. zum Gesamtkomplex des Neovitalismus: R. Mocek, ::\Iechanizismus und Vitalismus, in: Mikrokosmos - Makrokosmos. Philosophisch-theoretische Probleme der Naturwissenschaft, Technik und Medizin, herausgeg. von H. Ley und R. Löther, Bd. II, Berlin 1967, S. 324-372; Moderne Naturwissenschaft und Atheismus, herausgeg. von 0. Klohr, Berlin 1964, S. 134-155. 2~ F. Herneck, Emil du Bois-Reymond und die Grenzen der mechanistischen Naturauffassung, a. a. 0., S. 241. 2;; Vgl. F. Dannemann, Aus Emil du Bois-Reymonds Briefwechsel über die Geschichte der Naturwissenschaften. In: Mitteilungen zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften, XVIII. Jg., Leipzig 1919, S. 272. LV

Vgl. Stenographische Berichte über die Verhandlungen der ... beiden Häuser des Landtages. Haus der Abgeordneten. Berlin 1883, Il, S. 848ff., 917ff. 27 Nach E. Metze: Emil du Bois-Reymond, sein \Virken und seine Weltanschauung, 3. erweiterte Aufl., Bielefeld 1918, S. 40-41. 28 E. du Bois-Reymond, Über die Übung, in: Reden, Bd. Il, s. 100-101. 29 E. du Bois-Reymond, Darwin versus · Galiani, in: Reden, Bd. I, S. 545. 30 F. Mehring, Über den historischen Materialismus, in: F. Mehring, Philosophische Aufsätze, Berlin 1961, S. 324. V gl. auch: H. Delbrück, Über die Bedeutung der Erfindungen in der Geschichte. Ein populärer Vortrag. In: H. Delbrück, Historische und politische Aufsätze, 1. Abtheilung, Berlin 1886, S. 339ff. 31 Vgl. dazu: S. Wollgast, Bemerkungen zum Verhältnis von Philosophiegeschichte, Wissenschaftsgeschichte und sozialistischer Prognostik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2 (19) 1971, S. 204-212. "Vornehmlich folgende Probleme können durch eine historische Betrachtung in ihrer heutigen Erscheinungsform klarer und verständlicher werden: - Wege und Methoden des Überschreitens von historischen Erkenntnisschranken -Das Verhältnis von Produktion und Wissenschaft oder, noch allgemeiner, das Verhältnis von wissenschaftlicher Entwicklung und der jeweiligen Gesellschaftsformation - Erkennen notwendiger und richtiger Denkhaltungen - Die Rolle und Bedeutung von Persönlichkeit in der Geschichte der Naturwissenschaften - Die Herausbildung von Grundhaltungen des Menschen zur \Virklichkeit - Die Wirkung naturwissenschaftlicher Entdeckungen auf die Herausbildung der materialistischen Philosophie" Weltanschaulich-philosophische Bildung und Erziehung im mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht (Beiträge). Herausgeber und Autorenkollektiv unter Ltg. von H. Ley und K. F. Wessel, Berlin 1972, s. 134. 3 2 E. du Bois-Reymond, Über tierische Bewegung, in: Reden, Bd. I, S. 39, S. 40. 33 E. du .Bois-Reymond, Gedächtnisrede auf J ohannes Müller, in: Reden, Bd. I, S. 207-208. 26

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F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, in: MarxjEngels, Werke, Bd. 21, Berlin 1962, S. 280. 35 E. du Bois-Reymond, Darwin versus Galiani, in: Reden, Bd. I, S; 559. 36 Ebenda, S. 544 . .37 Ebenda, S. 560 (hervorgeh. S. W.) 38 Ebenda, S. 563. 39 E. du Bois-Reymond, Der deutsche Krieg, in: Reden, Bd. I, S. 397f. 40 Ebenda, S. 400. 41 Ebenda, S. 401. 42 E. du Bois-Reymond, Aus den Tagen des Norddeutschen Bundes, in: Reden, Bd. I, S. 349. 43 E. du Bois-Reymond, Über das Nationalgefühl, in: Reden, . Bd. I, S. 667. 44 E. du Bois-Reymond, Reden, Bd. II, S. 280. 45 Ebenda. 46 E. du Bois-Reymond, Goethe und kein Ende, in: Reden, Bd. Il, S. 168. Zur grundsätzlichen Stellung du BoisReymonds zum Antisemitismus vgl. seinen Brief.vom 18. 4. 1884, in: J. Singer, Briefe berühmter christlicher Zeitgenossen über die Judenfrage, \Vien 1884, S. 85-86. 47 E. du Bois-Reymond, Aus den Tagen des Norddeutschen Bundes, in: Reden, Bd. I, S. 349. 4fl E. du Bois~Reymond, Voltaire als Naturforscher, in: Reden, Bd. I, S. 321. 49 Zit. nach: E. Dreher, Die Grundlagen der exakten Naturwissenschaft im Lichte der Kritik, Dresden 1900, S. 114. Es ist sachlich unrichtig, wenn der verdienstvolle J oseph Dietzgen in seinem Artikel "Unsere Professoren auf den Grenzen der Erkenntnis" feststellt: "Du Bois-Reymond ... hat bekanntlich nachweisen wollen, daß eine solche unüberschreitbare Grenze (zwischen dem Gebiet des Wissens und dem Gebiet des Glaubens- S. W.) wirklich vorhanden, daß also dem Glauben unter allen Umständen ein eigenes Gebiet übrig bleiben müsse." (V gl. J. Dietzgen, Schriften in drei Bänden, Bd. Il, Berlin 1962, S. 62). so E. Haeckel, Freie Wissenschaft und freie Lehre, in: E. Haekkel, Gemeinverständliche Werke, herausgeg. v. H. SchmidtJena, Bd. V, Leipzig-Berlin 1924, S. 275-276. 5J G. Domin, Einige philosophiehistorische Fragen zu den theoretischen. Auseinandersetzungen Emil du· Bois-Reymonds, in: Naturwissenschaft~ Tradition-Fortschritt, Bei3'

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heft zu NTM - Zeitschrift für Geschichte der Naturwissenschaften, Technik und Medizin, Berlin 1963, S. 115. 52 F. Engels, Einleitung [zur englischen Ausgabe (1892) der "Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft"], in: MarxjEngels, Werke, Bd. 22, Berlin 1963, S. 295. 53 Ebenda, S. 298. 54 Vgl. S. Wollgast, Naturwissenschaftlicher Materialismus und Pantheismus bei Hermann von Helmholtz, in: Wissenschaft!. Zeitschrift d. Humboldt-Universität, Math.-Nat. R. XXII (1973) H. 3, S. 289-292. 55 Vgl. H. v. Helmholtz, Philosophische Vorträge und Aufsätze. EingeL und mit erklärenden Anm. herausgeg. v. H. Hörz und S. Wollgast, Berlin 1971, S. 424. 56 F. Herneck, Emil du Bois-Reymond und die Grenzen der mechanistischen Naturauffassung, a. a. 0., S. 251. 57 F. Engels an C. Schmidt am 27. Oktober 1890, in: Marx/ Engels, Werke, Bd. 37. Berlin 1967, S. 494. 58 H. Borruttau, Emil du Bois-Reymond, \Vien-LeipzigMünchen 1922, S. 101. 59 Ebenda, S. 9. 60 0. Zacharias, Du Bois-Reymond über den Darwinismus, in: Die Gegenwart, Berlin 1876, Bd. X, S. 346. 61 E. du Bois-Reymond, Goethe und kein Ende, in: Reden, Bd. Il, S. 174. ~2 Ebenda, S. 169. 63 G. Gadow, Die Freiheit der Wissenschaft und Herr DuboisReymond, Gießen 1883, S. 20-21. ~ A. Kohut, Emil du Bois-Reymond, in: Westermann's illustrirte deutsche Monatshefte, Bd. 57, 1885, S. 807. 65Th. Weber, Emil du Bois-Reymond. Eine Kritik seiner Weitsicht, Gotha 1885, S. 72f. 66 S. S. Epstein, Emil du Bois-Reymond (1818-1896), in: \Vestermann's illustrirte deutsche Monatshefte, Bd. 82, 41. Jg. 1897, s. 317. 67 J. Classen, Vorlesungen über moderne Naturphilosophen, Harnburg 1908, S. 28. 68 E. Metze, Emil du Bois-Reymond, sein Wirken und seine Weltanschauung, 3. erw. Aufl., Bielefeld 1918, S. 26. 69 F. Herneck, Emil du Bois-Reymond (1818-1896), in: Lebensbilder deutscher Ärzte, Leipzig 1964, 2. Aufl., S. 75. 7~ Vogt, Büchner, Moleschott, Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland. Eine Auswahl in 2 Bänden. Herausgeg. und eingel. von D. Wittich, Berlin 1971, Bd. I, S. 254, S. 256-259; Bd. II, S. 351. LVIII

E. du Bois-Reymond, Reden, a. a. 0., Bd. I, S. 231, 232, 310, 313. 72 ". . . daß alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen der Seelentätigkeiten begreifen, nur Funktionen der Gehirnsubstanz sind; oder, um es einigermaßen grob hier auszudrücken, daß die Gedanken in demselben Verhältnis etwa zu dem Gehirne stehen wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren." (C. Vogt, Physiologische Briefe, in: Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland, Bd. I, S. 17-18). 7:J F. Engels, Dialektik der Natur, a. a. 0., S. 468, S. 320. 7~ Vgl. E. Haeckel, Die WelträtseL Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie. Mit einer Einleitung von 0. Klohr, Berlin 1960, S. 217ff. 75 Ebenda, S. 478. Im biographischen Lexikon "Große Naturforscher", herausgeg. von F. Krafft und A. Meyer-Abich (Frankfurt/M.-Hamburg 1970) verkündet A. Meyer-Abich im Stichwort "Du Bois-Reymond": "In weiteren Kreisen wurde er durch seine berühmte ,lgnorabimus'-Rede aus dem Jahre 1872 bekannt, die von den ,Grenzen der Naturerkenntnis' handelt und Haeckels, ,Welträtsel' scharf bekämpfte." (S. 102). Wie das möglich sein kann, dürfte A. 1\Ieyer-Abich selbst nicht erklären können, denn die "\Velträtsel" erschienen ja erst 1899!! 76 \V. Reise, Aufbruch in die Illusion. Zur Kritik der bürgerlichen Philosophie in Deutschland, Berlin 1964, S. 99-100. 77 Zum Folgenden vgl.: H. Vogel, Bemerkungen zum naturwissenschaftlichen Materialismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 4 (12) 1964, S. 476-482; H. Vogel, Physik und Philosophie bei Max Born, Berlin 1968. 78 F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, a. a. 0., S. 278. 79 F. Engels, Anti-Dühring, in: Marx/Engels, vVerke, Bd. 20, a. a. 0., S. 24. 80 F. Engels, Dialektik der Natur, a. a. 0., S. 467. 81 \V. I. Lenin, Konspekt zu Hegels "Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke, Bd. 38, Berlin 1964, S. 241. 82 1\I. T. Jowtschuk, Leninism, filosofskije tradizii i sovremennonstj Moskau 1970, S. 53 (russ.). 83 E. du Bois-Reymond, Reden, Bd. I, S. 326, 467, 487, 543; Bd. li, S. 240 (4), 291, 294, 592. 84 Vgl. E. du Bois-Reymond, Reden, Bd. I, S. 9, 150, 152, 450, 575. 71

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E. du Bois-Reymond, Reden Bd. II, S. 344f. Ebenda, S. 487. 87 E. du Bois Reymond, Der physiologische Unterricht einst und jetzt, in: Reden, Bd. I, S. 635. 88 E. du Bois-Reymond, Reden, Bd. II, S. 277. 89 F. Engels, Anti-Dühring, Vorwort zu der Auflage von 1885, in: MarxjEngels, ·werke, Bd. 20, a. a. 0., S. 12. 90 F. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, a. a. 0., S. 278. 91 Ebenda, S. 294. 92 W. I. Lenin, Konspekt zu Hegels "Wissenschaft der Logik", in: Werke, Bd. 38, a. a. 0., S. 160. 93 Ebenda, S. 213. 94 F. Engels, Dialektik der Natur, a. a. 0., Bd. 20, S. 315. 95 W. I. Lenin, Zur Frage der Dialektik, in: Werke, Bd. 38, a. a. 0., S. 339. 96 Ebenda, S. 340. 97 F. Engels, Dialektik der Natur, a. a. 0., S. 480. 98 W. I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus, a. a. 0., S. 355. 85 86

EMIL DU BOIS REYMOND

Vorträge über Philosophie und Gesellschaft

Über die Lebenskraft Aus der Vorrede zu den "Untersuchungen über tierische Elektrizität" vom 1lfärz 18481

And now I will unclasp a secret book, And read you matter deep and dangerous, As full of peril, and advent'rous spirit, As to o'erwalk a current, roaring loud, On the unsteadfast footing of a spear. King Henry IV. F. 1.2

In der Tat habe ich an mehreren Stellen nicht vermeiden können, von der mathematischen Darstellung Gebrauch zu machen. Ihre Anwendung in unserer Wissenschaft ist zwar noch sehr neu; aber schon ist von einer gewissen Seite der sträflichste Mißbrauch damit getrieben worden. Nach den Vorgängen, auf welche ich anspiele, wäre es den Fachgenossen nicht zu verdenken, wenn sie von jetzt ab noch lange jeder mathematischen Formel in einer physiologischen Auseinandersetzung mit argwöhnischem Blick begegneten; wenn sie fortdauernd wenig Lust empfänden, mit der Handhabung jenes Werkzeuges der schärfsten Zergliederung sich abzugeben, nachdem das Spielen damit dem neuen Berner Iatromathematiker so übel bekommen. Ein solches Ergebnis würde nicht der kleinste Schade sein, den Valentin der Sache der "exakten Physiologie" zugefügt hätte.3 Ich bin fest überzeugt, daß gerade die physikalisch-mathematische Methode, richtig angewendet, imstande ist, der Physiologie sehr wichtige Dienste zu leisten. Zwar auf den ersehnten Gipfel theoretischer Naturwissenschaft, wo tiefste Rechnung und feinste Beobachtung 3

zu gegenseitiger Bürgschaft sich die Hände reichen, möchte in der Physiologie wohl fast überall zu verzichten sein. Zum Ersteigen jenes Gipfels gehört einerseits, daß man sich im Besitz mathematisch ausdrückbarer Voraussetzungen über den ursächlichen Zusammenhang der Erscheinungen befinde, andererseits, daß letztere der Messung zugänglich seien. Beides ist in unserer Wissenschaft nur selten der Fall. Meist wird man sich damit begnügen müssen, ein Verfahren wie das folgende mehr oder minder vollständig und genau ins Werk zu setzen. Es ist begreiflich nie verwehrt, sich die Größe einer beobachteten Wirkung, welcher Art sie auch sei, als unbekannte Funktion aller der Umstände vorzustellen, welche darauf von Einfluß sind. Man nimmt einen von diesen Umständen vor, läßt ihn nacheinander im Versuch von den möglichen Werten, welche er annehmen kann, eine angemessene Reihe durchlaufen, während die übrigen beständig erhalten werden, und beobachtet, so gut wie es eben angeht, die zugehörigen Werte der Wirkung. Dasselbe tut man nacheinander mit den übrigen Umständen. Die Abhängigkeit der Wirkung von einem jeden Umstande stellt sich unter dem Bilde einer Kurve dar, deren Abszisse die Größe des willkürlich veränderten Umstandes, deren Ordinaten die der beobachteten Wirkung bedeuten. Das genaue Gesetz dieser Kurve bleibt nun zwar unbekannt, ihren Gang im allgemeinen wird man aber beurteilen können. Fast immer läßt sich entscheiden, ob die Funktion mit der untersuchten Veränderlichen wachse oder abnehme; ob sie, für alle Werte der Abszisse, ihr Zeichen behalte oder für bestimmte Werte es ändere. In anderen Fällen vermag man ausgezeichnete Punkte der Kurve, Maxima und Minima, zu ermitteln, was der Sinn ihrer Biegung gegen die Abszisse sei, ob sie sich asymptotisch einem beständigen Wert anschließe u. d. m. Weiter reicht meines Erachtens an den meisten Stellen der Physiologie gegenwärtig die Anwendbarkeit der mathematischen Zergliederung nicht. Auf unserem Gebiete vollends muß sie auf dieser Stufe stehen bleiben. In dieser Form aber wird man ihr in den folgenden Untersuchungen häufig begegnen. Dabei wird sich ja zeigen, wiefern sie bei

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dieser Einschränkung noch imstande se1, Vorteile zu gewähren. Bedenkt man den Abstand zwischen der so erlangten Kenntnis und der durch eine empirische Formel ausgedrückten, und den vergleichsweise geringen Wert solcher Formel, so kann es freilich scheinen, als sei mit der ganzen Bemühung so gut wie nichts gewonnen. Dies Urteil würde voreilig sein. So seltsam es dem Physiker klingen mag, schon das muß ich an und für sich als einen Gewinn ansehen, daß bei dem geschilderten Verfahren der Forscher auch der verwickeltesten Erscheinung gegenüber nie vergessen kann, wie er es in der Größe der betrachteten Wirkung einfach mit einer unbekannten Funktion der bekannten und unbekannten Umstände zu tun hat, welche im Versuche zusammentreffen. Wo einmal diese Einsicht zur zweiten Natur ward, da dürfte sich kaum noch ein Boden finden für das verhaßte Unkraut gewisser physiologischer Erklärungsweisen, welche den Fortschritt der Wissenschaft so bedauerlich gehemmt haben. Sodann ist zwar stets die Möglichkeit da, daß ein erwünschter Zufall oder eine plötzliche Offenbarung dem gemessenen Schritte des methodischen Absuchens mit einem raschen Sprunge zuvorkomme, und es versteht sich von selbst, daß es pedantische Torheit wäre, solche Vorteile, wo sie sich darbieten, von sich zu weisen. Wo indes kein glücklicher Würfel der Art fallen will; wo die freie Kombination entschieden den Dienst verweigert: da streckt unser Verfahren noch immer eine hilfreiche Hand entgegen. Und so sicher ist diese Hand, daß man wohl daran tut, ihre Führung auch dann nicht zu verschmähen, wenn man sich außerdem durch Glücksfälle der bezeichneten Art begünstigt sieht. Man wird bei dieser Führung stets auf kürzestem Wege zu einer möglichst vollständigen Kenntnis des natürlichen Vorganges ganz unfehlbar gelangen. Endlich können die in Gestalt von Kurven gewonnenen Bestimmungen der Abhängigkeit der beobachteten Wirkung von den veränderlichen Umständen höchst unvollkommen sein, und doch zu sehr lehrreichen Wahrnehmungen und Folgesätzen Gelegenheit geben, die auf keine andere Weise zu erlangen gewesen wären. Ja, in Fällen, wo über die Gestalt der Kurven theoretische Vor5

Wollgast, Philosophie

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aussetzungen vorhanden sind, und wo die Kurven nicht bloß auf- oder absteigen, sondern mehr hervorstechende Eigenschaften haben, wird man mit ihrer Hilfe zu fast demselben Grade von Gewißheit gelangen, den man unter günstigeren Verhältnissen bei minder ausgezeichneter Beschaffenheit der Kurven durch Gegenüberstellen berechneter und beobachteter Zahlenwerte erreicht. Natürlich kann es hier nicht meine Absicht sein, eine mehr ins einzelne gehende Anweisung zur Anwendung des empfohlenen Verfahrens zu erteilen. Darüber hat die Sachlage in jedem einzelnen Falle zu entscheiden. Bekanntlich gibt es nichts Schwierigeres, und meist zugleich Nutzloseres, als dergestalt die Regeln einer verwickelten Tätigkeit zu abstrahieren, die man so wenig mit einem Schlage erlernt, wie man sie mit Bewußtsein ausübt. Vielmehr muß jedem überlassen bleiben, sich durch Übung der Vorteile zu bemeistern, zu denen der Weg nur in allgemeinen Zügen vorgezeichnet werden kann. Solche Anweisung würde nicht einmal dazu dienen, den Physiologen ein lockendes Bild von jenen Vorteilen auszumalen. Denn es ist eine geläufige Erfahrung gerade in der Mathematik, der Mechanik, daß noch so fruchtbare Grundsätze, gleich einer Leuchte in unbegrenzter Nacht, ohnmächtig und unbedeutend sich darstellen, bis man sie ihren Schein auf einen bestimmten, genäherten Gegenstand werfen läßt. Somit verweise ich lieber auf die Untersuchung selber, wo, wie ich hoffe, Sinn und Gehalt des hier nur theoretisch Skizzierten an wirklichen Beispielen einleuchten wird. Für den mit sogenannten qualitativen Untersuchungen beschäftigten Physiker bedarf es nicht erst solcher Beweise. Seine Arbeiten bewegen sich unter dem Drucke ähnlicher, wenngleich leichterer Fesseln, wie die unsrigen. Er ist daher längst gewöhnt, innerhalb seiner Grenzen von der physikalisch-mathematischen Forschungsweise einen dem eben geschilderten ähnlichen Gebrauch zu machen, und ihm hat in dem Gesagten nichts Neues begegnen können. Beim Urteil über das Statthafte und Zeitgemäße dieser Auseinandersetzung vergesse er aber nicht, daß sie bezweckt, mathematische Betrachtungen bei den Physiologen einzuführen, welche in diesem Augenblicke teils ein-

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genommen sind gegen diese Art, Aufgaben aus ihrem Gebiete zu behandeln, teils über das Wesen der physikalischmathematischen .Methode, soviel sie auch sie neuerlich im Munde führen, noch sehr im Unklaren verharren. Wie sollte dem anders sein, da sie meist nur die morphologische, ärztliche, höchstens die chemische Bildung erwarben, und ihre Kenntnis jener Methode somit nur zu häufig auf das sich beschränken mag, was sie aus Valentins Lehrbuch entnehmen konnten. Und hier erscheint mir folgende Bemerkung am Platze. Es hat sich, wenn ich nicht irre, bei den Physiologen die Meinung Eingang verschafft, das Wesentliche der physikalisch-mathematischen Methode bestehe darin, alle Beobachtungen sofort in Messungen zu verwandeln und ihre Ergebnisse in Zahlen auszudrücken. Viele glauben, daß schon allein mit der Gewinnung "exakterer numerischer Daten" (um mit der Schule zu reden) hier alles getan sei. Ja es fehlt nicht an solchen, für welche die Flächen- und Kubikinhaltberechnungen, in denen jenes Lehrbuch sich mit so großer Vorliebe ergeht, als vollgültige Muster der Anwendung der Mathematik in der Physiologie dastehen. Etwas Richtiges liegt dem ja zugrunde. Der Wert einer zuverlässigen Zeit-, Ylaß- oder Gewichtsbestimmung kann gehörigen Ortes unschätzbar sein; sie kann unentbehrlich werden, wo es um praktische Zwecke sich handelt. Auch ist es gewiß löblich, zum Besten kommender Geschlechter Konstanten der Natur schon jetzt feszustellen. Der mathematische Physiker unterläßt denn auch nie, wo es irgend angeht, zu messen, zu wägen oder die Zeit zu zählen. Irrtümlich aber ist jene Meinung, sofern sie gerade das Wesen der Methode in diese Besonderheit setzt, welche man mit eben dem Rechte nur für eine zufällige Äußerlichkeit ausgeben kann. Die Gewinnung von Zahlenwerten ist eine natürliche Ergänzung des Verfahrens, deren es bedarf, um seine ganze Macht zu entfalten, aber sein eigentlicher Kern ist sie nicht. Wenn das Streben danach in der Physik, der man nachzueifern wünscht, überall so entschieden hervortritt, so beruht dieser mißleitende Schein nur darauf, daß hier die einfache Natur der Gegenstände die Anwendung der Methode in einer Vollkommenheit zuläßt, wobei sie sich 7

der Maßbestimmung weder zu entschlagen braucht, noch sich ihr ohne Nachteil entziehen kann. Der wahre Keim der Methode also, der Anfang der physikalisch-mathematischen Behandlungsweise, liegt in etwas anderem. Er ist zu suchen in dem Streben, sich den ursächlichen Zusammenhang der natürlichen Erscheinungen unter dem mathematischen Bilde der Abhängigkeit, der Funktion, vorzustellen. Bei den Schwierigkeiten, welche die Natur der Gegenstände in der Physiologie diesem Streben entgegensetzt, nimmt alsdann die Tätigkeit des Forschers notgedrungen die vorher von mir umrissene Gestalt an. Diese Auffassung ist es, welche bisher in den meisten physiologischen Untersuchungen, auch solchen, die sich der höchsten "Exaktität" befleißigen, ganz vermißt wird. Ohne sie bleiben aber auch die genauesten Maßbestimmungen für das Verstehen der Lebensvorgänge vorläufig ebenso unfruchtbar, wie das bloße Ausmessen einer Maschine und ihrer Leistungen für das Durchschauen ihres Spiels. Mit Hilfe jener Auffassung dagegen wird man, ich wiederhole es, die dankenswertesten Aufschlüsse häufig sogar da erhalten, wo nicht einmal an Gewinnung grob angenäherter Zahlenwerte zu denken ist, wie für jetzt in der tierischen Elektrizität. Dem Vorteil aber darf man auch schlimmstenfalls entgegensehen, daß die Aufgabe auf die einfachste Form gebracht, die zu beantwortende Frage in das hellste Licht gestellt wird, genug unser Wissen auf das klarste und übersichtlichste ausgedrückt sich findet . .Möchte es mir gelingen, durch diese Betrachtungen zu bewirken, was ich mir nicht schmeichle, durch meinen Vorgang herbeizuführen. Möchten die Physiologen sich entschließen zur mathematischen Behandlung so vieler dazu geeigneten Aufgaben ihres Gebietes, aber innerhalb der richtigen, vor der Hand durch die Natur der Dinge gegebenen, und nicht so bald zu überspringenden Schranken. Möchten sie sich nicht einschüchtern lassen durch das Mißgeschick Valentins, dessen Irrtümer zu einem guten Teile eben dem Umstande zuzuschreiben sind, daß er sich nicht dergestalt zu bescheiden gewußt, sondern in einer sonst nur zu billigenden Richtung gleich gar zu hoch hinaus gewollt hat. Dieser war, bei allem seinem Formelwesen, 8

des Geistes der physikalisch-mathematischen Methode im Grunde nicht voll und mächtig. Ihm lag es nur im Sinn, sie der Form nach, ihre äußere Erscheinung nachahmend, aus der Physik in die Physiologie zu übertragen. Unwissend, daß ihm sozusagen nur der letzte und höchste Grenzwert der Methode begegnet war, unbekannt mit deren allgemeinem Fall, wollte er nur so gleich überall berechnete und beobachtete Zahlenwerte nebeneinanderstellen, wie er es in physikalischen Schriften gesehen hatte. Dieser Flug war zu kühn. Kein Wunder, daß das aufgeklebte, nicht naturwüchsige Gefieder bald treulos hinwegschmolz und nur dazu diente, aus erschwindelter Höhe einen um so kläglicheren Sturz vorzubereiten, je schimmernder und rauschender die ersten Flügelschläge erschienen waren. Noch von einer anderen Seite her droht den Physiologen Entmutigung auf dem empfohlenen Wege. Allzu leicht läßt sich, wie ich zu wissen glaube, die vornehme Kaste von Forschern, welche die erhabenen Regionen der mathematischen Physik beherrscht, durch den Glanz ihrer Errungenschaften zur völligen Mißachtung von Bestrebungen, wie die angegebenen, verleiten. Es ist zu begreifen, daß ein so matter Widerschein ihrer eigenen Tätigkeit ihnen nur armselig dünkt, daß der Notbehelf der ersten rohen Anschauung, bei dem wir stehenbleiben müssen, ihnen als nichts Besseres vorkommt denn als tiefste Unwissenheit. Wir aber werden uns dadurch nicht irre machen lassen, und jene sollten im stolzenGenuß der Vorzüge, die sie der Natur ihrer Gegenstände verdanken, nicht vergessen, daß im Gebirge schon ein Fußpfad willkommen ist; daß der Bergsteiger auf diesem Pfade dem auf ebenem Schienengeleise Dahinrollenden auch seine Art des Selbstgefühls entgegenzusetzen hat; endlich daß Fußwege den Heerstraßen, Heerstraßen den Eisenbahnen voraufgegangen sind. Mag immerhin, mit der hier auferlegten Entsagung, der physikalisch-mathematischen Methode gleichsam die Spitze abgebrochen sein. Der Nacht gegenüber, welche noch großenteils die Erscheinungen in den organischen \Vesen umfängt, erscheint uns die bezeichnete Stufe der Erkenntnis, wo man sich zu ihr aufzuschwingen vermag, stets schon als ein willkommenes Licht. 9

Ich habe nun noch dem Leser ein Glaubensbekenntnis abzulegen über einen Punkt, der mir sehr am Herzen liegt. Ich meine die allgemeinen Vorstellungen über das Wesen des sogenannten Lebensvorganges und der dabei tätigen Kräfte. Ich weiß zwar, daß ich hier nichts Neues vorzubringen habe. Ich habe auch keine Hoffnung, das Bekannte in eindringlicherer, überzeugenderer Weise wiederzugeben, als es schon viele Male ausgesprochen worden ist. Aber erstens wünsche ich, daß man nicht darüber im Zweifel sei, unter welcher Flagge ich segle. Dies wird an manchen Stellen dienen, den gewählten Kurs wenigstens von meinem Standpunkt aus zu rechtfertigen. Zweitens halte ich es für eines jeden Pflicht, in solchem Kampfe gegen alterheilige Vorurteile, wo nur stets erneutes Rütteln die dumpfe Macht des Widerstandes zu lüften vermag, es nicht an seinem, wenn auch noch so schwachen Arme fehlen zu lassen. Gerade weil Schlagworte wie die V icqd'Azyrs, die ich aus von Humboldt's Werk "Über die gereizte Muskel- und Nervenfaser" als Wahlspruch diesem Bande vorgesetzt habe ;4 weil noch neuerlich Stimmen, wie die von Berzelius,5 Schwann,ü Schleiden,l Lotze8 scheinbar wirkungslos verhallten: gerade deshalb steht mir die Notwendigkeit um so dringender vor Augen, das so oft und zum Teil trefflich Gesagte nochmals auf meine Weise nach Kräften in die Welt hineinzurufen. Betrachtet man die unermeßliche Verwickelung der Lebensvorgänge; hat man die Schwierigkeiten erfahren, welche aus der Natur der organischen Gebilde für jeden Versuch einer strengen Bestimmung erwachsen: so kann man sich des Gedankens nicht erwehren, daß die oben empfohlene Anwendungsart der Mathematik in vielen Teilen der Physiologie die letzte und einzige Stufe der Erkenntnis sein dürfte, welche zu ersteigen uns vergönnt sein wird. Dies ist zu beklagen, da es so viel heißt, wie daß wir hier nie zu dem gelangen werden, was uns zunächst als Verständnis erscheint, nämlich zu einer mechanischen Analysis der Vorgänge. In noch anderen Teilen unserer Wissenschaft aber dürfte nicht einmal zu so~chem Anfange der begreifenden Zergliederung Aussicht sem. 10

Dadurch lassen sich jedoch die, welche mit mir eines Sinnes sind, in der Überzeugung nicht erschüttern, daß, wenn nur unsere Methoden ausreichten, eine analytische Mechanik sämtlicher Lebensvorgänge möglich wäre. Diese Überzeugung beruht auf der Einsicht, die schon Aristoteles besaß, daß es keine anderen Veränderungen in der Körperwelt gibt als Bewegungen. Also auch jene Vorgänge können nichts anderes sein als Bewegungen. Nun aber lassen sich alle Bewegungen schließlich in solche zerlegen, welche nach der zwei vorausgesetzte Stoffteilchen verbindenden Geraden erfolgen, entweder in der einen oder in der anderen Richtung. Also auf solche einfache Bewegungen müssen auch die Vorgänge in den organischen Wesen am letzten Ende zurückführbar sein. Diese Zurückführung würde eben eine analytische Mechanik jener Vorgänge abgeben. Man sieht daher, daß, wenn die Schwierigkeit der Zergliederung nicht unser Vermögen überstiege, die analytische Mechanik im Grunde reichen würde bis zum Problem der persönlichen Freiheit, dessen Erledigung Sache der Abstraktionsgabe jedes einzelnen bleiben muß. Als Ursache der Bewegungen betrachtet man gewöhnlich die Kräfte. Dieser Vorstellung liegt zwar, wie wir bald sehen werden, nichts Wirkliches zugrunde, wir können aber für jetzt dabei stehenbleiben, da das Unzulängliche davon erst bei einem Vorgerückteren Stande der Untersuchung gefährlich zu werden anfängt. Da die Bewegungen selbstverständlich in der Richtung der Kräfte erfolgen, so ist mit dem Vorhergehenden schon ausgesprochen, daß es weder in der unorganischen noch in der organischen Natur Kräfte gebe, deren letzte Komponenten nicht entweder einfach anziehende oder abstoßende, sogenannte Zentralkräfte, seien. Man sieht daher, und bei dieser Bemerkung wollen wir es zunächst bewenden lassen, daß der einzige noch denkbare Unterschied zwischen den Vorgängen der unorganischen und denen der organischen Natur in einer Verschiedenheit der Zentralkräfte zu suchen sein würde, mit welchen die Stoffteilchen in beiden ausgerüstet gedacht werden. Bei einem sehr abweichenden Ergebnis hat sich, bis auf den heutigen Tag, die große Mehrzahl der Physiologen, 11

Ärzte, Philosophen, kurz aller derjenigen beruhigt, die es zu ihrem Geschäft machten, über das Wesen der Lebensvorgänge nachzudenken. Ihre Ansichten sind zu dunkel und zu unbestimmt, um sie mit Klarheit und Schärfe in einen Ausdruck zusammenfassen zu können. Im allgemeinen laufen sie darauf hinaus, eine Lebenskraft als Ursache und obersten Ordner aller Lebenserscheinungen anzunehmen. Diese Kraft bewohnt den ganzen Körper, ihr unbewußtbewußtes Wesen treibend auf dem geheimnisvollen, ja übersinnlichen Hintergrunde eines Schauplatzes, auf dessen äußerster Vorbühne allein alles sinnlich Erreichbare, Erklärliche spielt. Sie ist im Innersten verschieden von den in der unorganischen Natur waltenden physikalischen und chemischen Kräften und den ohnmächtigen .:\'Iethoden unzugänglich, welche deren Wirkungen durchschaut haben. Dennoch vermag sie mit diesen Kräften in Konflikt zu geraten, und sie müssen sich vor ihr beugen. Gesetze kennt sie nicht; ihr ist gegeben, zu binden und zu lösen, wie ihr gefällt. Sie bemächtigt sich der eingeführten Nahrung, macht sie zu belebter Materie, verwendet sie eine Zeitlang zu ihren Zwecken und stößt dann das Untauglichgewordene wieder von sich. Sie widersteht während des Lebens der feindseligen Gefräßigkeit des Sauerstoffs, der nach unserer Kohle lechzt. Sie verbietet der Fäulnis Platz zu greifen, solange sie Herr im Hause ist. Nach dem Tode zieht sie sich bescheiden und ohne daß eine Spur von ihr übrig bliebe, hinter die Kulissen zurück. Bei der Fortpflanzung aber überträgt sie sich, ohne selber etwas einzubüßen, auf den Keim des neuen Geschöpfes, in welchem sie, wie im Samenkorn, im unbebrüteten Ei, lange schlummern kann, wie sie denn auch in Scheintod undNarkoselatent geworden ist. Einerseits dem geheimnisvollen in den Nerven wirksamen Prinzip, der Muskelkraft, auch wohl der tierischen Wärme und der Elektrizität verwandt, oft mit ihnen verwechselt und für den letzten Grund der tierischen Bewegungen ausgegeben, ist sie andererseits mit der bewußten Seele so eng verschwistert, daß sie manchen nur für eine verschiedene Erscheinungsweise derselben gilt. Diese Dienstmagd für alles besitzt übrigens sehr mannigfaltige Kenntnisse und Fertigkeiten. Denn sie leitet die Entwickelung und

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organisiert nach vorbestimmtem Plane; sie baut nach allen Regeln der Mechanik, Physik und Chemie Sinnes-, Bewegungs- und Verdauungswerkzeuge; sie assimiliert, sezerniert, resorbiert und unterscheidet dabei das Heilsame vom Gifte, das Nützliche vom Unbrauchbaren; sie heilt Wunden und Krankheiten und macht Krisen; endlich aus jedem Stücke des zerschnittenen Polypen reproduziert sie ein neues Individuum, ja sie ergänzt das abgesetzte Bein des Salamanders. So dargestellt erscheint die Lehre von der Lebenskraft in der Tat als ein solches Gewebe der willkürlichsten Behauptungen, sie häuft auf ein Phantasiegebilde solche Summe unmöglicher Attribute und undenkbarer Tätigkeiten, daß es schwer hält, sie ernst zu nehmen, und ihrer offenkundigen Abgeschmacktheit nicht einfach mit dem verdienten Spotte zu begegnen. Nun ist freilich richtig, daß sie in dieser vollen Blöße sich nicht mehr so leicht über die Straße wagt. Es sind zu ihrer Verhüllung allerlei Deckmäntelchen erfunden worden. Allein selbst jene "Geißel Gottes", welche in unseren Tagen über die Physiologen verhängt wurde, selbst Liebig, der sich in diesen Dingen gewiß des äußersten Radikalismus schmeichelt, er würde sich nicht weigern dürfen, in dem obigen Gemälde manchen Zug seiner "Lebenskraft" wiederzuerkennen, wie er sie in seiner Abhandlung "Über die Bewegungserscheinungen im Tierorganismus" 9 hoch auf den Schild erhebt. Wie denn überhaupt der Glaube an die Lebenskraft keineswegs den Physiologen und Ärzten eigentümlich ist, sondern auch bei unorganischen Naturforschern gefunden wird. Ja er ist hier vielleicht um so allgemeiner verbreitet und genießt um so unbedingteres Vertrauen, je mehr er äußerlich überkommen ist und je ferner der Anstoß zur eigenen Prüfung liegt. Wie mir scheint, bedarf es nur solcher unumwundenen Schilderung der Lebenskraft, wie sie oben versucht wurde, damit das Unhaltbare der ganzen Anschauung ohne weiteres einleuchte. Ich füge hinzu das Verderbliche. Denn diese Lebenskraft ist die gemütliche Lagerstätte, wo, nach Kants Ausdruck, "die Vernunft zur Ruhe gebracht wird auf dem Polster dunkler Qualitäten" .10 Sie ist der unüber· 13

springbar breite Graben, von dem der Wettrenner auf der Bahn mit Hindernissen fälschlich gehört hat, den er nun hinter jeder Hecke wähnt, und dadurch moralisch gelähmt wird. Dieses Gespenst muß endlich gebannt werden. Und es deucht mir nicht so schwer, denen, welche kein Organ haben für die drastische Wirkung eines Gemäldes wie das obige, eine Zergliederung vorzuhalten, deren bindender Kraft sie sich kaum entziehen dürften. Ein Mangel der Vorstellung von der Lebenskraft liegt erstens sehr an der Oberfläche. Oben sahen wir, daß alle Bewegungen, also auch die Kräfte, welche sie bewirken sollen, am letzten Ende zerlegbar sind in geradlinige Bewegungen und Kräfte zwischen den vorausgesetzten Stoffteilchen. Hierauf ist bei jener Vorstellung nicht die mindeste Rücksicht genommen. Wenn z. B. dem Salamander das abgesetzte Bein wieder hervorsproßt, so sieht die fragliche Lehre darin schlechthin das Werk der Lebenskraft. Sie überlegt nicht, daß der Bau, der hier aufgeführt wird, hinausläuft auf die Bewegung und passende Anordnung unzähliger Stoffteilchen. Alle diese Bewegungen, diese endlichen Gleichgewichtszustände entstehen durch die Zusammensetzung der geradlinigen Bewegungen zwischen den Stoffteilchen oder der Kräfte, denen wir sie zuschreiben. Es kann also in Wahrheit keine bestimmte Vorstellung erwecken, wenn man von einer hier waltenden organisierenden Kraft spricht, welche im Blauen hängt, von keinem bestimmten Punkt ausgeht, auf keinen bestimmten Punkt wirkt. Es ist keine glücklichere Abstraktion, als wenn man von einem kunstreichen Stoffe sagte, er sei das Erzeugnis der webenden Kraft des Stuhles. Nicht um eine Kraft handelt es sich hier, wenn einmal von Kräften die Rede sein soll, sondern um unzählige in unzähligen Richtungen auf die mannigfachste Weise tätige, welche von ebenso unzähligen Stoffteilchen ausgehen, um auf ebenso unzählige Stoffteilchen zu wirken. Also auch nicht eine Lebenskraft dürfte angenommen werden, wenn es einmal Lebenskräfte geben soll, sondern mindestens müßten ihrer unzählige sein. Mit einem Worte, die sogenannte Lebenskraft in der Art, wie sie gewöhnlich auf allen Punkten des belebten Körpers 14

gegenwärtig gedacht wird, ist ein Unding. Wenn die andere Partei darauf besteht, daß in den Organismen Kräfte walten, welche nicht außerhalb gefunden werden, so bleibt ihr nichts anderes übrig, als folgendes zu behaupten. Ein Stoffteilchen, indem es in den Wirbel der Lebensvorgänge gerät, wird zeitweise mit neuen Kräften begabt. Diese Kräfte gehen wieder verloren, wenn der Lebenswirbel, aus unbekannten Gründen des Teilchens überdrüssig, es endlich auswirft an die Küste der toten Natur. Wir sind oben zu der Einsicht gelangt, daß zwischen den Vorgängen der unorganischen und denen der organischen Natur kein anderer Unterschied denkbar sei, als der, daß in beiden die Stoffteilchen mit verschiedenen Kräften ausgerüstet seien. Ob eine solche Verschiedenheit wirklich stattfinde, blieb noch unerörtert. Den Verteidigern der Lebenskräfte erscheint sie als ausgemachte Sache, und sie würde nach ihnen, wenn sie folgerichtig schließen wollen, also zu suchen sein eben in jenen neuen Kräften, mit welchen die Stoffteilchen in den Organismen ausgerüstet werden. Diese Annahme ist unhaltbar. Um dies zu zeigen, muß auf den mit dem Worte ,.Kraft" zu verbindenden Begriff etwas tiefer eingegangen werden. Oben ließen wir für den Augenblick die Bestimmung der Kraft als der Ursache der Bewegung gelten. Es ist dies eine bequeme Redeweise, deren man sich nicht leicht entschlagen kann, und sich ihrer auch immerhin bedienen mag. Nur darf man nie vergessen, daß der Kraft in diesem Sinne keine Wirklichkeit zukommt, sobald man an den Grund der Erscheinungen denkt. Geht man auf diesen Grund, so erkennt man bald, daß es weder Kräfte, noch Materie gibt. Beide sind von verschiedenen Standpunkten aus aufgenommene Abstraktionen der Dinge, wie sie sind. Sie ergänzen einander und sie setzen einander voraus. Vereinzelt haben sie keinen Bestand, so daß unser Denken, indem es das Wesen der Dinge zu zergliedern strebt, keinen Ruhepunkt findet, sondern zwischen beiden Abstraktionen hin und her schwankt. Die Kraft in jenem Sinne ist nichts als eine verstecktere Ausgeburt des uns eigenen unwiderstehlichen Hanges zur Personifikation, gleichsam ein rhetorischer Kunstgriff unseres Intellekts, das zur tropischentt Wendung greift,

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weil ihm zum reinen Ausdruck die Klarheit der Vorstellung fehlt. In den Begriffen von Kraft und Materie kehrt derselbe Dualismus wieder, der in den Vorstellungen von Gott und Welt, von Seele und Leib sich zu erkennen gibt. Es ist, nur verfeinert, immer noch dasselbe Bedürfnis welches einst die Menschen trieb, Busch und Quell, Fels, Luft und Meer mit Geschöpfen ihrer Einbildungskraft zu bevölkern. Was ist gewonnen, wenn man sagt, es sei die gegenseitige Anziehungskraft, wodurch zwei Stoffteilchen sich einander nähern? Nicht der Schatten einer Einsicht in das Wesen des Vorganges. Aber, seltsam genug, es liegt für das uns innewohnende Trachten nach den Ursachen eine Art von Beruhigung in dem unwillkürlich vor unserem inneren Auge sich hinzeichenden Bilde einer Hand, welche die träge :\Iaterie leise vor sich herschiebt, oder von unsichtbaren Polypenarmen, mit welchen die Stoffteilchen sich umklammern, sich gegenseitig an sich zu reißen suchen, endlich in einen Knoten sich verstricken. Fragt man, was denn übrig bleibe, wenn weder Kräfte noch Materie Wirklichkeit besitzen, so antworten die, so sich mit mir auf diesen Standpunkt stellen, folgendermaßen. Es ist dem menschlichen Geiste nun einmal nicht beschieden, in diesen Dingen hinauszukommen über einen letzten Widerspruch. Wir ziehen daher vor, statt uns im Kreise unfruchtbarer Spekulationen zu drehen oder mit dem Schwerte der Selbsttäuschung den Knoten zu zerhauen, uns zu halten an die Anschauung der Dinge, wie sie sind, uns genügen zu lassen, um mit dem Dichter zu reden, an dem "Wunder dessen, was da ist". Denn wir können uns nicht dazu verstehen, weil uns auf dem einen Wege eine befriedigende Deutung versagt ist, die Augen zu schließen über die Mängel einer anderen, aus dem einzigen Grunde, daß keine dritte möglich scheint; und wir besitzen Entsagung genug, um uns zu finden in die Vorstellung, daß zuletzt aller Wissenschaft doch nur das Ziel gesteckt sein möchte, nicht das Wesen der Dinge zu begreifen, sondern begreiflich zu machen, daß es nicht begreiflich sei. So hat sich's schließlich als die Aufgabe der Mathematik herausgestellt, nicht den Kreis zu quadrieren, sondern zu zeigen, daß er nicht zu quadrieren sei; der Mechanik, nicht ein Perpetuum

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mobile herzustellen, sondern die Fruchtlosigkeit dieser Bemühung darzutun. Vor unserem Denken, das vor keiner Folgerung zurückscheut, löst sich das Weltganze daher auf in bewegte Materie, deren Wesen zu begreifen wir nicht für möglich halten. Nicht die Ursachen der Bewegungen, ihre Gesetze zu erkennen, erscheint uns als wahre Aufgabe unseres Strebens. Nun kann das Wort Kraft für uns keine andere Bedeutung haben, als die, in welcher es der analytischen Mechanik gute Dienste geleistet hat. Die Kraft ist uns das Maß, nicht die Ursache der Bewegung. Mathematisch ausgedrückt, sie ist die zweite Ableitung des Weges des in veränderlicher Bewegung begriffenen Körperlichen nach der Zeit. Und es ist wohl zu bemerken, daß Newton, unstreitig den Mißbrauch ahnend, der mit der Anziehungskraft als Ursache des Falles der Körper getrieben werden sollte, gleich anfangs warnend darauf bestand, man möge diesen Sinn des Wortes Kraft als den einzig statthaften festhalten .12 Die Wirkungen sind den Ursachen proportional. Es gehen daher für den gemeinen Sprachgebrauch, und wenn es sich nicht um die letzten Gründe handelt, keine merkbaren Störungen hervor aus der Verwechselung des Maßes der Wirkung mit der Ursache, des richtigen Begriffes der Kraft mit dem irrigen. Deshalb konnten wir uns oben des letzteren bis auf weiteres ohne Nachteil bedienen, und werden unter dem dargelegten Vorbehalt dies auch ferner noch tun. An jener Stelle gelangten wir damit bis an den Punkt, wo wir einsahen, daß zwischen der unorganischen und der organischen Natur kein anderer Unterschied bestehen könne, als daß die Stoffteilchen in beiden mit verschiedenen Kräften ausgerüstet seien. Jetzt aber sind wir imstande, weiterzugehen, und dabei wird sich uns zugleich die ganze Schwäche unseres Gegners enthüllen. Es ist nämlich klar, daß es unter diesen Umständen gar keinen Sinn mehr bietet, wenn die Rede ist von einer Kraft als von einem selbständigen Dinge, welches der Materie gegenüber ein unabhängiges Dasein behaupte; welches außerhalb ihrer befindlich, auf sie wirke, wenn sie zufällig in seinen Bereich gerät; welches ihr ferner zeitweise zuerteilt und wieder von ihr abgelöst werden könne. Nur die

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unerforschliche Zweieinigkeit, in der wir vereint Materie und Kraft erkennen, kann bewegend und bewegt werdend in Wechselwirkung geraten mit ihresgleichen, dem gleich Unerforschlichen. Die Materie ist nicht wie ein Fuhrwerk, davor die Kräfte als Pferde nach Belieben nun angespannt, dann wieder abgeschirrt werden können. Ein Eisenteilchen ist und bleibt ein und dasselbe Ding, gleichviel ob es im Meteoriten den Weltkreis durchfliegt, im Dampfwagenrade auf den Schienen dahinschmettert oder in der Blutzelle durch die Schläfe eines Dichters rinnt. So wenig wie in dem Mechanismus von Menschenhand, ist in dem letzteren Falle irgend etwas hinzugetreten zu den Eigenschaften des Teilchens, irgend etwas davon entfernt worden. Diese Eigenschaften sind von Ewigkeit, sie sind unveräußerlich, unübertragbar.J3 Es kann daher nicht länger zweifelhaft bleiben, ob der von uns als einzig möglich erkannte Unterschied zwischen den Vorgängen der toten und denen der unbelebten Natur auch wirklich bestehe. Ein solcher Unterschied findet nicht statt. Es kommen in den Organismen den Stoffteilchen keine neuen Kräfte zu, keine Kräfte, welche den Namen von Lebenskräften verdienen. Die Scheidung zwischen der sogenannten organischen und der unorganischen Natur ist eine ganz willkürliche. Diejenigen, welche sie aufrecht zu erhalten streben, welche die Irrlehre von der Lebenskraft predigen, unter welcher Form, welcher täuschenden Verkleidung es auch sei, solche Köpfe sind, mögen sie sich dessen für versichert halten, nie bis an die Grenzen unseres Denkens vorgedrungen. Es gibt keine Lebenskraft in ihrem Sinne, weil die ihr zugeschriebenen Wirkungen zu zerlegen sind in solche, welche von Zentralkräften der Stoffteilchen ausgehen. Es gibt keine solche Kraft, weil Kräfte nicht selbständig bestehen, nicht der Materie willkürlich zuerteilt und dann wieder von ihr abgelöst werden können. Es gibt überhaupt keine Kräfte, und wenn man von Kräften reden will, so muß man es wenigstens nur in der Weise tun, daß diese Fiktion auch wirklich die Dienste leiste, zu welchen sie berufen ist, nicht aber den Schein gewähre einer Einsicht, die jedes Grundes entbehrt.

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Aber noch von einem dritten Standpunkt aus läßt sich die Lehre von der Lebenskraft mit Erfolg angreifen. Zwar setzt dies wiederum voraus, daß man keine anderen als Zentralkräfte der Stoffteilchen annehme, und insofern kann er auch als kein neuer betrachtet werden. Indessen stützt er sich doch auf einen ganz besonderen Kreis von Folgerungen aus jener Annahme, wodurch sich die Anhänger der Lebenskraft in eine neue Reihe von Verlegenheiten verwickelt sehen. Ich meine den Grundsatz von der "Erhaltung der Kraft". Gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts erhob Lavoisier die Chemie zu einer Wissenschaft, indem er, die Waage in Händen, die Konstanz der Materie nachwies. Eine nicht minder großartige Errungenschaft steht, als natürliche Ergänzung jener, in unseren Tagen in Aussicht, ja ist schon zu einem guten Teile geborgen. Erst durch sie wird für die Physik ein Anhalt gewonnen, der für letztere die nämliche Bedeutung hat, wie der von Lavoisier getane Schritt für die Chemie. Nachdem Sadi Carnot zuerst die Betrachtung angestellt, daß es ungereimt scheine, anzunehmen, Kraft könne aus nichts entstehen, nachdem Clapeyron, Holtzmann, Pranz Neumann einzelne Anwendungen von dieser Einsicht gemacht, hat sich neuerlich Helmholtz damit beschäftigt, sie vollständig zu begründen, auf alle Zweige der theoretischen Naturwissenschaft auszudehnen, und ihr unermeßliches Gewicht, als eines obersten Führers beim Erforschen des Zusammenhanges der natürlichen Erscheinungen, fühlbar zu machen. Das Ergebnis seiner tiefsinnigen Untersuchungen ist, daß "stets die Summe der vorhandenen lebendigen und Spannkräfte konstant sei". Man sehe das Nähere in seiner Schrift: "Über die Erhaltung der Kraft, eine physikalische Abhandlung usw. Berlin 1847." Die Richtigkeit jenes Gesetzes hat den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit für sich, sofern es "keiner der bisher bekannten Tatsachen der Naturwissenschaft widerspricht, von einer großen Zahl derselben aber in einer auffallenden Weise bestätigt wird". Der Erhaltung der Kraft nun widersprechen offenbar ein paar Hauptzüge der Lehre von der Lebenskraft, wie man sie gewöhnlich vortragen hört. Denn sie soll bei der Fortpflanzung ohne Verlust übertragen und dergestalt ins

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Unbegrenzte vermehr werden. Im Tode soll sie, ohne entsprechende an ihrer Stelle auftretende Wirkung, ein unbedingtes Ende nehmen, um den gemeinen physikalischen und chemischen Kräften das Feld zu räumen. Beides ist, wie man leicht bemerkt, mit der Erhaltung der Kraft unvereinbar. Die Gründe, mit welchen wir von den beiden ersten Gesichtspunkten aus die Lehre von der Lebenskraft bekämpften, scheinen so sehr auf der Hand zu liegen, daß man schwer begreift, wie deren Anhänger bei einigem Nachdenken nicht auch darauf gerieten. Dies erklärt sich indes daraus, daß im allgemeinen ihre Betrachtungen sich gar nicht auf die letzten Fragen dieses Gebietes einließen, sondern um einige an der Oberfläche hervorragende Punkte sich drehten, ohne sich weiter um die Grundbegriffe zu kümmern, bei deren genauerer Bestimmung auch jene Punkte schnell ein anderes Ansehen gewonnen hätten. Ich meine jene Reihe landläufiger Bedenken und Einwendungen: die belebten Wesen böten eine .Menge von Erscheinungen dar, zu denen die tote Natur kein Seitenstück zeige; man könne so viele Lebensvorgänge nicht erklären, ja nicht einmal hoffen, daß dies je gelingen werde; die chemischen Vorgänge im Pflanzen- und Tierkörper könne man im Laboratorium nicht nachahmen, geschweige ein Baumblatt machen; die Zweckmäßigkeit der organischen Natur endlich sei gar zu wunderbar. Das alles könne nicht mit rechten Dingen zugehen, und da es doch notwendig erklärt werden müsse, so bleibe nichts übrig, als es der Lebenskraft zuzuschreiben. Wenn die Organismen Erscheinungen darbieten, die in der unorganischen Natur nicht vorkommen, sollte dies nicht einfach daher rühren, daß in den belebten Körpern die Stoffteilchen, obschon mit den nämlichen Eigenschaften begabt wie außer halb, doch zueinander in neue Beziehungen treten und neue Verbindungen eingehen? Was Wunder, wenn diese Neues zu leisten imstande sind? Wenn wir die neuen Erscheinungen nicht zu erklären vermögen, warum soll dies noch an etwas anderem liegen, als an der grenzenlosen .Mannigfaltigkeit, Verwickelung und Verstecktheit jener neuen Beziehungen? Scheitert unsere Zergliederung nicht schon in viel engerem Kreise, an 20

viel einfacheren Aufgaben? Verstehen wir so ohne weiteres alle Vorgänge der unorganischen Natur? Die Physiologen, welche, um die Lehre von der Lebenskraft zu begründen, sich auf das die Lebensvorgänge umhüllende Dunkel berufen, vergessen, wenn sie sich dessen je bewußt waren, wie nahe Grenzen unserer Erkenntnis auch in der Physik und Chemie gezogen sind. Was sind denn jene Elektrizität, jener Magnetismus, deren Namen, eingeschläfert wie wir sind durch die lange Gewöhnung unserer Unwissenheit, uns so leicht über die Lippen gleiten? Was geht denn vor, wenn Säure und Base zum Salz ihr Bündnis schließen? Ist nicht in der Tat die ganze Chemie, trotzdem Verständnis, mit welchem sie sich brüstet, noch immer nichts Besseres, als eine Buchführung mit den Stoffen, wo aber Soll und Haben einander heben müssen, damit der Kaufmann seine Rechnung finde? Gewiß können wir eine Menge chemischer Prozesse nicht nachmachen, die in den belebten Wesen vor sich gehen, vermutlich aber doch nur, weil wir die dazu nötigen Bedingungen nicht kennen, geschweige sie zu verwirklichen wüßten. Dem Ansinnen, wenn denn nur physikalische und chemische Kräfte in den Organismen walteten, doch einmal, durch solche Kräfte allein, einen neuen Organismus herzustellen, diesem Ansinnen liegt der nämliche Mangel an Überlegung zugrunde. Als ob wir alle Erzeugnisse der unorganischen Natur aus dem Ärmel schüttelten! Als ob es nur so bei uns stände, das ganze Heer der Felsarten und Gesteine aus unseren Laboratorien hervorgehen zu lassen! Warum verfertigen wir so viele nützliche Stoffe nicht, die uns die tote Natur nur spärlich zumaß? Weil, auch wenn man ihre Entstehung kennte, die Armseligkeit unserer Mittel, die Spanne Zeit, über die wir gebieten, es uns nicht verstaUen würden. Weshalb gelingt es uns andere Male verschiedene Kristalle, Individuen der toten Natur, nach Belieben ins Dasein zu rufen? Weil wir die Bedingungen ihres Entstehens kennen und sie nachzuahmen imstande sind. Nun denn, so wird es wohl auch Umstände gegeben haben. unter welchen die organischen Wesen entstanden, und wer darf sagen, daß wir nicht dergleichen zu verfertigen vermöchten, wenn wir jene Umstände herstellen könnten? Gegen solche freilich, die sich die Entstehung der Or6

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ganismen lieber durch einen willkürlichen Eingriff in die Naturgesetze erklären, ist mit Gründen nichts auszurichten. Nur müssen sie sich nicht einbilden, irgend etwas Wissenschaftliches beigebracht zu haben. Was die Zweckmäßigkeit in der organischen Natur anlangt, so begnüge ich mich damit, denen, die nicht über die Vorstellung einer nach Zwecken geschaffenen Welt hinauskommen, die Frage vorzulegen, ob denn die unorganische Natur unzweckmäßig eingerichtet ist? Ist es nicht vorteilhaft, daß unser Weltenschiff keine Gefahr läuft in die Sonne zu stürzen oder in seinem reißenden Fluge mit einem ähnlichen Segler zusammenzustoßen? Sind nicht Mond- und Sonnenschein, der Wechsel der Jahreszeiten, von Tag und Nacht, die Erdwärme, das Maß der Schwere hienieden, der Kreislauf der Gewässer und tausend ähnliche Umstände, gar vortreffliche Dinge? Ist es nicht gut, daß der Luftkreis gerade diese und keine andere Zusammensetzung hat, daß das Eis auf dem Wasser schwimmt? Und hätte amEndein manchen Stücken die organische Natur nicht noch zweckdienlicher eingerichtet werden können, da sie nun einmal, oh des ewigen Anthropomorphismus! nachZwecken verfertigt sein soll? Wie man sieht, diese Art der Begründung der Lehre von der Lebenskraft beruht gleichfalls auf einer Reihe von Mißverständnissen. Alle jene außerordentlichen Eigenschaften, welche der organischen Natur aufgebürdet werden und sie angeblich vor der unorganischen Natur auszeichnen sollen, kommen, auf ihr richtiges Maß zurückgeführt, dieser in größerem oder geringerem Grade ebenfalls zu. Unter diesen Umständen ist der Vorteil wenigstens der Einheit der Weltanschauung, im Vergleich zu den Anhängern der Lebenskraft, unstreitig noch auf Seite derer, welche, wie die weiland naturphilosophische Schule, den ganzen Kreis der unorganischen sowohl wie der organischen Erscheinungen unter eine Falte ihres mystischen Schleiers begraben. Obschon die :vleteorologie noch nicht weiß, wie ein Gewitter zustande kommt und auf das Vorhersagen des Wetters, vollends das Wettermachen, Verzicht geleistet hat, sind doch aus ihr die Götter längst verbannt. Obschon die Chemie noch keine Vorstellung davon hat, was bei dem einfachsten ihrer Versuche vorgeht, hat sie sich doch längst

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ihrer Geister begeben. Sollte die Zeit nie kommen, wo die Physiologie sich ein Herz fassen wird, den Abgott zu zertrümmern, vor dem sie noch immer Opfer bringt? Sollte es nicht angemessen sein, daß sie endlich, in förmlicher Entsagung, ein für allemal mit der Lebenskraft bräche, wie vor hundert Jahren Gottsched zu Leipzig in feierlicher Handlung den Hanswurst von der deutschen Schaubühne trieb? Die Physiologie wird ihr Schicksal erfüllen. Wie man den Verlauf einer Kurve, von der ein Stück gegeben ist, darüber hinaus ins Unbekannte verfolgt, so läßt sich in der Geschichte aus der Vergangenheit die Zukunft am sichersten erschließen. Betrachtet man den Entwicklungsgang unserer Wissenschaft, so ist nicht zu verkennen, wie das der Lebenskraft zugeschriebene Gebiet von Erscheinungen mit jedem Tage mehr zusammenschrumpft, wie immer neue Landstriche unter die Botmäßigkeit der physikalischen und chemischen Kräfte geraten. Es kann daher nicht fehlen, um ein in dem Augenblicke, wo ich dieses schreibe, naheliegendes Gleichnis zu wählen, es kann nicht fehlen, daß dereinst die Physiologie, ihr Sonderinteresse aufgebend, ganz aufgeht in die große Staateneinheit der theoretischen Naturwissenschaften, ganz sich auflöst in organische Physik und Chemie; und es kann sich nur darum handeln, ob sie fortfahren will, eine doch schon verlorene Stellung mit zähem Unverstande zu verteidigen, oder ob sie nicht lieber, das Unvermeidliche erkennend und beizeiten darin sich fügend, dem Gange des Geschicks mit Bewußtsein entgegenkommen soll. Durch meine Untersuchungen wird, wenn ich nicht irre, die Lebenskraft abermals vertrieben aus einer ihrer Verschanzungen, und nicht der am wenigsten hartnäckigen. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich dadurch zur Untergrabung ihres Ansehens bei einigen könnte beigetragen haben. Aber freilich, wenn man die vergeblichen Bemühungen betrachtet, die schon hieran gewendet worden sind, so möchte man fast meinen, der Glaube an die Lebenskraft sei, wie auch andere Dogmen, weniger eine Sache der wissenschaftlichen Überzeugung, als eine des gemütlichen Bedürfnisses für gewisse Organisationen, und daher, gleich jenen Dogmen, im Grunde unvertilgbar. 23

Leibnizische Gedanken in der neueren Naturwissenschaft In der Leibniz-Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 7. Juli 1870 gehaltene Redet

Scilicet inmenso superest ex nomine multum. PharsaJia2

Mit Kant endet die Reihe der Philosophen, die im Vollbesitz der naturwissenschaftlichen Kenntnisse ihrer Zeit sich selber an der Arbeit der Naturforscher beteiligten. Leibniz dagegen steht als mathematischer Physiker noch so groß da, daß man seine Leistungen in der von uns eigentlich so genannten Philosophie verschweigen oder herabsetzen könnte, ohne daß er aufhörte als einer der gewaltigsten Geister zu erscheinen. Und man würde irren, wollte man die Verbindung der mathematisch-physikalischen mit der spekulativ-philosophischen Richtung in Leibniz aus einer polyhistorischen Neigung herleiten, die ihn auch juristischen Erörterungen, diplomatischen Quellenstudien, sprachwissenschaftlichen Forschungen zutrieb. Hätte nur ein äußeres Band, durch Zufall und Laune geknüpft, diese ungleichartigen Dinge in seinem Kopfe zusammengehalten, dann wäre Leibniz nicht der würdige Heros des Kultus, den ihm mit gleicher Inbrunst beide Klassen dieser Akademie weihen. Nicht Vielwisser war er, sondern, soweit der Mensch es kann, All- und Ganzwisser, und sein Erfassen' sein Erkennen war stets zugleich schöpferischer Akt. Dem

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Insekt gleich, das Honig sammelnd den Blütenstaub von Blume zu Blume trägt, hinterläßt sein beweglicher Geist, indem er von Disziplin zu Disziplin schweift, reich befruchtende Spur, auch wo er nur tändelnd sich niederzulassen scheint. \\"ie bei seinem Vorgänger Descartes war daher seine Philosophie mit seinen mathematisch-physikalischen Anschauungen innig verwebt. Die damals neuen mathematischen Begriffe des Unendlichen verschiedener Ordnung und der Stetigkeit, zum Teil seine Erfindung, spielen hinüber in seine Metaphysik, und seine Demonstrationen, Deduktionen, Konstruktionen, die von ihm gewählten Beispiele und Gleichnisse, lassen überall den mathematisch angelegten und geschulten Kopf erkennen. l\Ian hat bemerkt, daß Leibniz' philosophische Schriften trotz der Tiefe, in die sie führen, mehr exoterisch gehalten sind, und als Grund angegeben, daß sie meist Gelegenheitsschriften seien, Briefe oder Darlegungen für hohe Gönner und Gönnerinnen, denen Leibniz gern so verständlich wie möglich war. Die anders entstandenen posthumen Nouveaux Essais sur l' Entendement humain: 1 sind zum Teil wirklich schwerer geschrieben; allein der wahre Grund seiner deutlichen Schreibart dürfte in seiner mathematischen Denkart liegen. Prüft man vom heutigen Standpunkt aus die Frucht dieser Verbindung der Philosophie mit Mathematik und Physik, so kann man bei Leibniz, wie bei Descartes, häufig eines Gefühles von Staunen und Enttäuschung sich nicht erwehren. Seine Schriften sind reich an glücklichen Blicken in die ferne Zukunft der Wissenschaft; aber in solcher Divination zeigt sich mehr sein natürliches Genie, als daß die Stärke seiner Denkmethoden sich daran bewährte. Für diese liegt die Probe in seinen systematischen Entwickelungen, und hier erscheint nicht selten das Ergebnis so unbefriedigend, bei aller formalen Strenge die Schlußfolge so gewagt, der Bau übereinandergetürmter Aufstellungen so willkürlich, daß man zweifelt, ob es sich um die Wahrheit, und nicht bloß um ein Spiel schasfsinnigen Witzes handelt. Man wird irre daran, ob wirklich, wie man glauben könnte, wachsende Entfremdung zwischen Philosophie und Natur-

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wissenschaft die Schuld an ähnlichen Schwächen bei Kants Nachfolgern trage. Bei Descartes und Leibniz lassen sich aber für diese Schwächen zwei Gründe angeben, welche neueren Philosophen nicht in gleicher Weise zur Entschuldigung gereichen. Einmal hatte zu Leibniz', vollends zu Descartes' Zeit, die Erziehung des Menschengeistes durch die experimentelle Beschäftigung mit der Natur erst begonnen, durch welche allein ihm das heilsame Mißtrauen in seine Kraft, die nötige Achtung der Tatsache und Gleichgültigkeit gegen die Deutung, die richtige Ergebung gegenüber unlöslichen Aufgaben eingeflößt wird. Der andere Quell des Übels bei Leibniz ist die seine Zeit noch ganz in ihren Fesseln haltende, ihre Voraussetzungen überall unterschiebende, jedem unbefangenen Urteil in den Weg tretende Theologie. Die geistige Arbeit des achtzehnten Jahrhunderts war noch nötig, um den Menschengeist aus diesem grauen Larvengehäuse zu befreien, in das er über einJahrtausendgebannt gewesen war; und so sind Leibniz' Physik und Metaphysik noch in theologischen Schranken eingeengt. Die Voraussetzungslosigkeit, die erste Voraussetzung unseres Philosophierens, ist, ihm unbewußt, bei ihm so wenig vorhanden wie bei Descartes, in dessen Discours de la M ithode" der ontologische Beweis des Daseins Gottes eine nicht minder schrille Dissonanz wirft, als die so selbstgefällig vorgetragene, merkwürdig falsche Theorie des Blutumlaufes. Zwar stellt Leibniz die großen Prinzipien vom zureichenden Grund und von der Stetigkeit auf; aber der Wille Gottes, der doch frei, d. h. ohne zureichenden Grund handelt, gilt ihm als zureichender Grund, und Schöpfung und Wunder durchbrechen sein Gesetz der Kontinuität. Ein gutes Beispiel des Mißbrauches theologischer Betrachtungsweise bei Leibniz ist sein Beweis der Unmöglichkeit, daß es einen leeren Raum gebe. "Ich nehme an," sagt er, "daß jede Vollkommenheit, welche Gott in die Dinge legen konnte, ohne deren anderen Vollkommenheiten Abbruch zu tun, in die Dinge gelegt worden ist. Stellen wir uns einen ganz leeren Raum vor; Gott konnte Materie hineinbringen, ohne irgend einem anderen Dinge Abbruch zu tun; folglich hat er

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sie hineingebracht; folglich gibt es keinen ganz leeren Raum; folglich ist alles erfüllt." 5 Ähnlich beweist Leibniz die Teilbarkeit der Materie ins Unendliche oder das Nichtvorhandensein von Atomen.'; Der Lehre von der Erhaltung der Kraft, welche unsere Weltanschauung beherrscht, gab Leibniz zuerst den richtigen Ausdruck, und wie treffend ist das Bild, durch welches er die Umwandlung von Massenbewegung in Molekularbewegung erläutert: es sei wie das Umwechseln eines großen Geldstückes in Scheidemünze.7 Aber wie für Descartes ist auch für ihn die Konstanz der Kraft nur ein Ausfluß des göttlichen Willens. Die widernatürliche Verbindung der spekulativen Theologie mit der Mathematik bei Leibniz zeigt sich nirgend greller als in dem Grundgedanken seiner Theodizee. Von Kindheit auf, wie er selber berichtet,s von dem Rätsel gepeinigt, welches der Ursprung des metaphysischen, physischen und sittlichen Übels in der Welt sei - der Unvollkommenheit, des Schmerzes und der Sünde -, da doch Gott, als vollkommen gut und als allmächtig, das Übel anscheinend nicht hätte schaffen dürfen, wird Leibniz durch die Königin Sophie Charlotte von Preußen, der Bayles Schriften dasselbe Bedenken eingeflößt hatten, um Aufklärung gebeten. Bekanntlich verdankte ihm die Theorie der Maxima und Minima der Funktionen durch die Auffindung der Methode der Tangenten den größten Fortschritt. Auch wußte er schon verwandte Aufgaben aus der späteren Variationsrechnung zu behandeln, die Funktion zu finden, welche eine Größe zum Maximum oder Minimum macht. Nun stellt er sich Gott bei Erschaffung der Welt wie einen Mathematiker vor, der eine Maximumaufgabe löst: die Aufgabe, unter unendlich vielen möglichen Welten, die ihm unerschaffen vorschweben, die zu bestimmen, für welche das Verhältnis des Guten zum unumgänglichen Übel ein Maximum würde; wie man den kürzesten Weg zwischen zwei Punkten, den größten Flächenraum bei gleichem Umfange, die Kurve schnellsten Falles bestimmt. Diese bestmögliche Welt hat Gott ins Dasein gerufen: es ist die Welt, in der wir leben. Wenig spekulative Gedanken haben auf die Literatur so unmittelbaren Einfluß geübt, wie dieser. Bis in die zweite

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Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts beschäftigt er die Geister. Während Pope in dem Essay on Man ihm auf seine Weise poetischen Ausdruck gab, machte ihn Voltaire zur Zielscheibe seines zermalmenden Spottes. In seinem philosophischen Roman Candide setzt er dem Leibnizischen Optimismus eine Demonstration entgegen, ähnlich der, durch welche Diagenes den Bewegung leugnenden Sophisten widerlegte.9 Die Behauptung, der Welten beste sei diese, verhöhnt er, indem er den Menschen als Spielball sinnloser Geschicke malt und gräßliches Elend unschuldige Häupter treffen läßt, wovon das Erdbeben von Lissabon ihm ein zeitgemäßes Beispiel bot. Versöhnung und Trost aber lehrte er, ein später von Goethe vielfach ausgeführter Gedanke, statt in Betrachtung des Göttlichen und Hinblick auf eine Zukunft jenseits des Grabes, in Entsagung und Arbeit finden. Ohne mit Voltaire über den theodizeischen Gedanken zu spotten, kann man aller weiteren Erläuterungen ungeachtet nicht darüber hinaus, daß, wie niemand besser als Leibniz wußte, jede Maximum- und Minimumaufgabe stetige Veränderlichkeit des Wertes einer Funktion, oder der Funktion selber, unter gewissen Bedingungen voraussetzt. Die zu lösende Aufgabe hat also nur eine andere Form erhalten, denn wie stimmt es zur unbedingten Natur Gottes, daß ihm irgendwelche, vollends seinem Wesen widerstreitende Bedingungen vorgeschrieben waren, noch ehe es eine Welt gab? Als Urgrund aller Erscheinung gelten Leibniz die Monaden, einfache Substanzen im metaphysischen Sinne, unausgedehnt, doch im Raume vorhanden, selbsttätig, aber nicht nach außen wirkend und äußeren Wirkungen unzugänglich. Die Monaden bilden eine stetige Entwickelungsreihe von Nichts bis zu Gott, der selber die höchste Monade ist, nach Analogie der Ordinaten einer Kurve, die von Null bis Unendlich wachsen. Von einem gewissen Punkte an besitzen die Monaden Bewußtsein, welches in den höheren Gliedern der Reihe zu immer höherer geistiger Tätigkeit sich steigert. Die menschlichen Seelenmonaden nehmen eine mittlere Stellung zwischen denen der Tiere und Engel ein. Übrigens ist, wie wir schon sahen, der Raum nirgend

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leer, sondern in jedem kleinsten Teil unendlich voll von Wesen, daher jeder materielle Punkt, gleichviel ob eines belebten oder unbelebten Körpers, eine Welt von Monaden beherbergt. Da die Monaden als einfache Wesen nicht durch Zusammensetzung entstehen und nicht durch Auflösung vergehen können, schließt Leibniz, daß Gott mit einem Schlage sie ins Dasein gerufen habe, und daß auch er nur ebenso plötzlich sie vernichten könne. Da sie weder eine Einwirkung von außen erfahren noch nach außen wirken, oder, wie er in seiner lebhaften, bildliehen Art sich ausdrückt, da sie keine Fenster haben, durch die etwas in sie eindringen oder sie verlassen könnte,lo so schließt er, daß in den Seelenmonaden ein Fluß der Vorstellungen stattfinde, genau entsprechend den äußeren Umständen, in welche sie geraten. Wenn ich einen bellenden Hund sehe und höre und nach ihm schlage, dringen nicht etwa Botschaften von meinen Sinneswerkzeugen bis zum Sitze meines Bewußtseins und belehren mich, daß ein bellender Hund da sei und mich beißen wolle, und es wirken nicht etwa Willensimpulse meiner Seele auf Nerven und Muskeln, um Arm und Stock zu bewegen. Sondern als Gott meine Seelenmonade schuf, schuf er sie so, daß in demselben Augenblick, wo der Hund sich auf meiner Netzhaut abbildet und sein Gebell mein Labyrinthwasser erschüttert, sie aus inneren Gründen im Fluß ihrer Vorstellungen auch gerade bei der Vorstellung eines bellenden Hundes anlangt, und daß sie sich vorstellt, mein Körper schlage den Hund, in demselben Augenblick, wo er rein mechanisch es wirklich tut. Dies ist Leibniz' berühmte Lehre von der prästabilierten Harmonie, von der uns heute allerdings schwer fällt, uns zu denken, daß er sie allen Ernstes geglaubt habe, durch die er aber mit größter Zuversicht das Rätsel der Verbindung von Körper und Geist gelöst zu haben meinte. Zerhauen hatte er den Knoten wohl, der darin besteht, daß nicht zu begreifen ist, wie die immaterielle Seele auf den materiellen Körper wirkt und umgekehrt, aber längst glaubt niemand mehr, daß er ihn richtig entschürzt habe. Das Wesen der geistigen Vorgänge wird nicht klarer durch die Vorstellung, daß sie von selber in den Monaden sich ab30

wickeln, vielmehr ist an Stelle der gehobenen Schwierigkeit, die in dieser Form doch nur in dem Widerspruch willkürlich gebildeter Begriffe liegt, die andere getreten, daß die geistigen Vorgänge ganz außerhalb aller Kausalität gestellt sind. In der Tat läßt Leibniz in der Monadenwelt keine anderen Bestimmungen zu als durch jene Endursachen, welche aus der Weltanschauung zu verbannen das Ziel theoretischer Naturforscher ist. Und während die geistigen Dinge nach Zwecken geordnet sein sollen, legt er sich nicht einmal die Frage vor, wozu denn nun die ganze Körperwelt, wozu insbesondere der unendlich kunstreiche Bau der Sinnes- und der Bewegungswerkzeuge erschaffen wurde, da doch weder jene irgendwie die Vorgänge in der Geisterwelt zu beeinflussen, noch diese irgendwie ihr zu dienen vermögen. Wenn dieser Fehlgriffe des großen Mannes heute, an seinem Ehrentage, hier gedacht wird, so geschieht dies nicht, um ihn zu verkleinern. Die Betrachtung der Irrwege eines solchen Kopfes ist vielmehr geeignet, uns selber zur Demut zu stimmen. Der sich mit Vorliebe l'Auteur du Systeme de l' Harmonie preetablie nanntet! und nicht erst spät und krankhaft wie Newton, sondern in voller Kraft und mit sichtlichem Behagen in theologischen Spitzfindigkeiten sich erging: es war Newtons Nebenbuhler in der Erfindung eines der mächtigsten Werkzeuge des menschlichen Geistes; es war der, von welchem Diderot, selber der Begabtesten einer, schreibt: "Wenn man auf sich zurückkehrt, und die Talente, die man empfing, mit denen eines Leibniz vergleicht, wird man versucht, die Bücher von sich zu werfen und in irgend einem versteckten Weltwinkel ruhig sterben zu gehen." 12 So werden wir inne, wie die stolze Höhe, auf der wir zu wandeln meinen, nicht unser Verdienst ist, sondern das unserer Zeit, und wie vielleicht unseren Nachfolgern, im Lichte der Erkenntnis ihrer Tage, einst unsere beste Einsicht erscheinen wird. Aber noch in anderer Rücksicht ist es lehrreich, sich dieser Dinge zu erinnern. Wie Bücher, haben auch Philosopheme ihre Schicksale. Nachdem sie das Los menschlicher Meinungen erfuhren, geglaubt und bestritten, gepriesen und verlacht, zuletzt durch ihresgleichen verdrängt und 31

scheinbar vergessen wurden, können sie im Bewußtsein folgender Geschlechter doch noch ein latentes Dasein fristen. Mißverstanden, nur formal noch bestehend und mit anderem Inhalt gefüllt, sieht man sie nach Jahren wieder auftauchen, und wenn das Glück gut ist, zuletzt in so veränderter Gestalt einen dauernden Platz in der Wissenschaft erobern. Unsere heutige Naturwissenschaft läßt mehrere dergleichen Ausläufer Leibnizischer Gedanken erkennen, wenn sie auch in ebenso entstellender Verkleidung auftreten, wie der von Leibniz Ludwig XIV. vorgelegte Plan zur Eroberung Ägyptens in Bonapartes kriegerischem Abenteuer oder in Hrn. de Lesseps' Friedenswerk. Die Lehre von der Erhaltung der Kraft ist nicht ein bloßer Ausläufer zu nennen, und also nicht hierher zu rechnen. Auch wäre es wohl kaum gerechtfertigt, solche Filiation der Ideen, wie die französische Sprache sich schwer übersetzbar ausdrückt, zwischen dem Leibnizischen Optimismus und unserer heutigen Einsicht anzunehmen, daß in Rücksicht auf die gerade stattfindenden äußeren Bedingungen die organische Natur jederzeit möglichst vollkommen ist. Doch lohnt es sich, das gegenseitige Verhältnis beider Lehren festzustellen. Vom Standpunkt der mathematischen Physik gibt es keine größere oder geringere Vollkommenheit. Für diese Betrachtungsweise, der sich alle übrigen theoretischen Naturwissenschaften mehr und mehr zu nähern streben, unterscheiden sich Chaos und Kosmos nur durch andere Verteilung derselben Massen und Kräfte. Aber für eine andere Art der Betrachtung stellen sich Makrokosmos und Mikrokosmen als Ganze dar, deren Teile für gewisse V.-irkungen, die wir als Zwecke auffassen, mehr oder minder passend eingerichtet sind. Da erscheinen bestimmte Tierund Pflanzenformen beim ersten Anblick vollkommener als andere, und lange konnte man urteilen, daß entweder aus inneren Gründen, oder durch erneute Eingriffe einer schaffenden Macht, die organische Natur stufenweise zu immer vollkommneren Formen aufgestiegen sei. Es schien als seien ganze Schöpfungen plumper fremdartiger Gestalten gleichsam als erste rohe Versuche der bildenden Natur zugrunde gegangen und hätten höher entwickelten,

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besser gelungenen Geschöpfen Platz gemacht. Von der Darwinschen Lehre aus läßt sich diese Anschauung ebensowenig billigen, wie die, nach welcher unser Planet einst sollte ein heroisches Zeitalter erlebt und noch mit größerer Zeugungskraft begabt die gewaltigen Gestalten der Vorwelt hervorgebracht haben. Sobald zwischen den Eigenschaften der organischen Wesen und ihren Lebensbedingungen das Verhältnis erreicht ist, welches man Anpassungsgleichgewicht nennen könnte, ist die Welt möglichst vollkommen, und bleibt so, wenn die Bedingungen die nämlichen bleiben. Bei der Langsamkeit, mit der in der Regel die klimatischen und geographisch-physikalischen Bedingungen eines Erdstriches sich ändern, reicht aber für Herstellung des Anpassungsgleichgewichtes die Zeit stets aus. Somit ist in dieser Welt, bezüglich der Organisation der Pflanzen und Tiere, stets und überall das Maximum der Vollkommenheit erreicht; diese Welt ist jederzeit die gerade bestmögliche gewesen und wird es sein, solange es Tiere und Pflanzen gibt und nicht plötzliche Katastrophen über deren Wohnstätten hereinbrechen. Die Unvollkommenheiten der Organismen aber, an denen kein Mangel ist, sind Wahrzeichen des Kompromisses, der zwischen den Bedingungen der Außenwelt und der Organisation einerseits, andererseits den zum Bestande des Organismus nötigen Forderungen stattfand. Sie entsprechen dem Übel in Leibniz' bester der möglichen Welten. Das Ganze dieser Beziehungen läßt sich nicht besser ausdrücken als mit den Worten, in welche Leibniz seine eigene Lehre zusammenfaßt: "Obschon die \Velt stets gleich vollkommen war, wird sie nie ganz (souverainement) vollkommen sein; denn sie ändert sich stets und gewinnt neue Vollkommenheiten, während sie andere einbüßt." 13 So paßt in gewissem Sinne der Leihnizische Optimismus auf die organische Natur, und so führt merkwürdigerweise die mechanische Naturansicht, unter Ausstoßung der Endursachen, schließlich zu demselben Ergebnis wie der mit der Teleologie unzertrennlich verbundene theodizeische Gedanke. Die Monadenlehre, deren Wiederbelebung durch Herbart in mehr geläuterter Gestalt außerhalb des Kreises unserer Betrachtung liegt, hat auf die Naturwissenschaft einen 33

bedeutenden Einfluß geübt, wenn auch nur auf Grund von .Mißverständnissen und falschen Analogien. Ausdrücklich hatte Leibniz davor gewarnt, seine Monaden mit den Atomen anderer philosophischer Systeme zu verwechseln. Doch vermochten Gelehrte und Gebildete des achtzehnten Jahrhunderts diese Unterscheidung unausgedehnter formloser metaphysischer Substanzen im Raum und kleinster materieller Teilchen nicht immer festzuhalten. Die Behauptung, daß jeder Punkt, auch des scheinbar leeren Raumes, vollends jedes Teilchen eines belebten Körpers, eine Welt von .Monaden enthalte, wurde ins Materielle übersetzt. Mancher Ausdruck bei Leibniz selber begünstigte die Verwirrung. So wenn er sagt: "Jeden Teil der l\Ia terie kann man sich vorstellen wie einen Garten voller Pflanzen, oder einen Teich voller Fische. Aber jeder Zweig der Pflanze, jedes Glied des Tieres, jeder Tropfen seiner Säfte ist abermals solch ein Garten oder Teich. Und obschon die Erde und Luft zwischen den Pflanzen des Gartens, oder das Wasser zwischen den Fischen des Teiches, nicht Pflanze oder Fisch ist, enthalten sie deren doch noch, aber meist von unwahrnehmbarer Kleinheit." 14 Was für das geistige Auge gemeint war, wollte das leibliche Auge sehen; und wenn man nicht geradezu versuchte, die Monaden mit dem Mikroskope zu entdecken, so glaubte man doch, sie oder etwas ihnen Ähnliches beobachtet zu haben, als das ~Iikroskop wirklich jeden Tropfen einer Infusion von kleinen, scheinbar einfachsten Wesen wimmelnd zeigte. Daß Otto Friedrich Müller, unter Hrn. Ehrenbergs Vorläufern einer der bedeutendsten, für dergleichen Formen den Namen }'vfonas in die zoologische Nomenklatur einführte, I:> war nur einer jener terminologischen Scherze, wie sie auch bei Linne die Trockenheit des Systems anmutig beleben; allein diese Anspielung deutet auf eine damals vorhandene Richtung der Geister, die bei phantasiereichen Persönlichkeiten zu schweren Irrtümern führte. So erging es Buffon. Er glaubte in Infusorien und Spermatozo!den lebendige, ohne Unterlaß tätige, durch Feuer und Fäulnis unzerstörbare organische Urteilehen zu erkennen. Wie ein Kochsalzwürfel aus unzähligen mikroskopischen Kochsalzwürfelehen bestehe, so sollten bei Entstehung, 34

Ernährung, Wachstum der Tiere und Pflanzen diese Urteilchen ihr Einzelleben aufgebend sich zu den mannigfaltigen Organismen zusammenfügen, deren Gesamtleben die Summe jener Einzelleben sei.Hi Die angeblichen organischen Urteilehen nannte Buffon nicht Monaden, auch erinnert er bei dieser Gelegenheit nicht an Leibniz. Der sozusagen materialisierte Leibnizische Gedanke ist aber in dem seinigen nicht zu verkennen, und vielleicht vermied Buffon, den Ursprung seiner Lehre zu verraten, weil ihr dies damals, wo in Frankreich durch Voltaire das Ansehen der Leibnizischen Philosophie untergraben war, nicht zur Empfehlung gereicht hätte. Aus der Annahme, daß die Monaden im Anfang geschaffen sind, folgte für Leibniz selber unmittelbar die Lehre von der Einschachtelung der Keime, nach der beispielsweise alle Hühner, das eine in den Eierstöcken des anderen, kleiner und kleiner schon in den Eierstöcken des ersten Huhnes vorgebildet waren. Die Prädelineationstheorie, welche an der Entdeckung der SpermatozoYden eine mächtige empirische Stütze erhalten hatte, erlangte so durch Leibniz eine in damaliger Zeit sehr wichtige metaphysische Grundlage, die sicherlich dazu beitrug, den erst ein Jahrhundert später durch Caspar Friedrich Wolf! erfochtenen Sieg der Epigenese zu erschweren. Dagegen führte die Monadenlehre Leibniz folgerichtig dazu, die Möglichkeit einer Urzeugung zu leugnen.l7 In beiden Punkten dachte Buffon anders. Der Embryo bildet sich nach ihm aus den bei der Ernährung überschüssig aufgenommenen organischen Urteilchen, welche gleichsam in einer inneren Form (maule interieur) gegossen werden, wie Gips und Metall in einer äußeren. Auch Buffons Theorie ließ die Urteilehen gegenwärtig nicht mehr entstehen; allein sie verführte ihn, an Needhams 1B fehlerhafte Versuche über Urzeugung in dem Sinne zu glauben, als könnten die Urteilehen sich zu größeren Organismen, Kleisterälchen, zusammenfügen. So ward seine Lehre in den durch Lazzaro Spallanzani bewirkten Untergang der Needhamschen Behauptung verwickelt,19 während zugleich Bannet, den man den Genfer Buffon nennen könnte, als Verteidiger der Prädelineationstheorie wider sie auftrat,20

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obschon seine eigenen Urkeime (germes primitijs) auch nichts anderes waren, als verkappte Leibnizische Monaden.2t Siebzig Jahre später, als Robert Brown die nach ihm genannte Bewegung kleiner in tropfbaren Flüssigkeiten aufgeschwemmter Teilchen entdeckte, tauchte Ruffons Lehre wieder auf, um sogleich wieder zu scheitern. Brown glaubte auf belebte, auch im Feuer unzerstörbare Urteilehen aller organischen und anorganischen Körper gestoßen zu sein, ganz wie Buffon sie sich dachte, den er übrigens so wenig wie die Monaden erwähnt.22 Hr. C. A. Sig. Schultze, damals in Freiburg, spann den geschichtlichen Faden von der Brownschen Vorstellung zur Leibnizischen Monadologie zurück.23 Er bewies zugleich, daß die zitternde Bewegung der Teilchen nicht von diesen ausgehe, sondern nur das Anzeichen einer zitternden Bewegung der tropfbaren Flüssigkeit sei. Hr. Christian Wiener24 und Hr. Sigmund Exner2:> haben neuerdings wahrscheinlich zu machen gesucht, daß diese zitternde Bewegung der Flüssigkeit einerlei sei mit deren Wärmeschwingungen, zu denen die Schwankungen der Teilchen sich verhalten mögen, wie zu kurzen Wellen die langsamen Schwankungen des großen Seeschiffs. Robert Browns Active Molecules waren also auch noch keine belebten Urteilehen der Organismen. Daß ein Mann wie er so irren konnte, zeigt, wie tiefe Wurzeln die Überzeugung geschlagen hatte, es müsse solche Teilchen geben. Dem damals herrschenden Vitalismus schien es, als würde den Lebenskräften, welche man die Wunder der Organisation verrichten ließ, ihr Geschäft erleichtert gleichsam durch Vervielfältigung der Etappen, durch Kleinheit des Bezirkes, in welchem sie feindlichen anorganischen Kräften entgegen die organischen Aufgaben zu erfüllen hätten. Oken2ü, Heusinger,27 Purkine,28 und A. F.]. Carl Mayer29 (in Bonn) behaupteten dergestalt theoretisch das Dasein organischer Urteilchen, in denen eine Entelechie walte, die sie Monaden nannten, und zum Teil, ganz wie Buffon, als Infusorien und Spermatozoiden ein selbständige Leben führen ließen. Ähnlichen Meinungen begegnet man um dieselbe Zeit in Frankreich bei Raspail30 und Dutrochet3f.

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.Man weiß wie, nach den ernsten Arbeiten noch eines Jahrzehnts mit dem verbesserten Mikroskope, schließlich der Gedanke organischer Urteilehen durch Hrn. Schwanns epochemachende "Untersuchungen" verwirklicht ward. Jeder Organismus ist uns nun wirklich ein Aggregat mehr oder minder zahlreicher kleiner Einzelwesen, deren Eigenschaften die Eigenschaften des Gesamtorganismus fast so wiederholen, wie die Eigenschaften der Kristallmolekeln die Eigenschaften des Kristalls; welche auf eigene Hand sich ernähren, umbilden, bewegen, fortpflanzen und durch die Summe ihrer normalen und anomalen Veränderungen die entsprechenden Veränderungen des Organismus bewirken. Wir nennen diese Wesen nach Hrn. Brückes Vorschlag Elementarorganismen, 32 eine Bezeichnung, welche alles Hypothetische und Streitige in ihrer Natur unberührt läßt. Freilich halten wir, mit Hrn. Schwann in seiner, im einzelnen immerhin nicht überall zutreffenden, sonst aber für alle Zeit tief richtig gedachten "Theorie der Zellen", die Veränderungen der Elementarorganismen, bis wir eines Besseren belehrt werden, für gleichartig mit den Vorgängen der anorganischen Natur. Statt von einer Entelechie leiten wir sie von den unveränderlichen Kräften der Atome, und ihre Besonderheit von der besonderen Zusammenfügung der Materie in den Organismen ab. In Hrn. Schwanns Augen hatten die Zellen mit den Monaden nichts mehr zu schaffen. Dennoch dankte die Zellenlehre die Bereitwilligkeit, mit der sie aufgenommen wurde, zum Teil dem Umstande, daß darin für viele der nie wieder ganz vergessene Leibnizische Gedanke gleichsam Fleisch ward; und der diese Lehre am lebhaftesten ergriff und am wärmsten vortrug, johannes Müller, war dieses Zusammenhanges so deutlich sich bewußt, daß er in seinem Handbuch der Physiologie, unter Hinweis auf die Leibniz-Herbartsche Monadologie, für die Zellen den Namen "Organische Monaden" vorschlug.33 Desselben Namens bediente sich auf denselben geschichtlichen Grund hin auch Hr. Henle bei seiner ersten theoretischen Darstellung der Zellenlehre in der "Allgemeinen Anatomie" .34 Die Leibnizische prästabilierte Harmonie stand in geradem Gegensatz zur Aristotelischen oder Lockeschen 7

Wollgast, Philosophie

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Lehre, daß die Seele ursprünglich eine Tabula rasa sei, auf der die Vorstellungen erst allmählich durch die Sinneswahrnehmungen eingetragen werden, ja die Nouveaux Essais waren, wie ihr Titel zeigt, ausdrücklich auf die Kritik des Sensualismus gerichtet. Dies ist von der prästabilierten Harmonie, wie sie Leibniz sich dachte, eine Seite, welche bis heute lebendig und wirksam in der Wissenschaft blieb. Die Physiologie bedient sich jenes Ausdruckes auch, um das unerklärte zweckmäßige Ineinandergreifen der Vorgänge im Tierkörper zu bezeichnen, wie man beispielsweise gezwungen ist, ein solches anzunehmen, um die zweckmäßigen Bewegungen enthirnter Tiere durch Reflexmechanismus zu erklären, wenn man nicht vorzieht, mit Hrn. Pflüger dem Rückenmark sensorische Funktionen zuzuschreiben.J:i Doch wird unter prästabilierter Harmonie schlechthin gewöhnlich die Lehrmeinung verstanden, daß es der Außenwelt entsprechende angeborene Vorstellungen und Verstandeskategorien gebe. Hier wäre weder Ort noch Zeit, den Verlauf des seit Leibniz über diese Lehrmeinung geführten Streites auch nur anzudeuten. Nur die Stellung, welche dazu die neuere Physiologie einnimmt, ist hervorzuheben. Durch die den Physiologen mehr als den spekulativen Philosophen nah liegende Zergliederung der Sinneswahrnehmungen wurden erstere meist dazu geführt, sich Lockes Ansicht anzuschließen. Schon ]ohannes Müller3ü sprach sich in einer lichtvollen Auseinandersetzung wider die angeborenen Kantschen Kategorien und für die Meinung aus, daß das einzige ursprüngliche Vermögen des menschlichen Geistes darin bestehe, aus den durch die Sinne zugeführten Vorstellungen allgemeine Begriffe zu bilden; im Gegensatz zu den Tieren, welche höchstens zur Assoziation gleichzeitig wiederkehrender Eindrücke sich erheben, wie Stock und Schläge, Hutaufsetzen des Herrn und Spazierengehen solche für den Hund sind. Sogar der Kausalitätsbegriff braucht nicht angeboren zu sein, sondern man kann sich denken, daß der verallgemeinernde Verstand ihn aus dem regelmäßigen Zusammentreffen der Vorstellungen ableite. Zu ähnlichen Aussprüchen ist neuerdings Hr. Helmholtz gelangt, als im Verfolg seiner Bearbeitung der physio-

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logischen Optik die altberühmte Frage nach dem Ursprunge der Raumvorstellung ihm entgegentrat.:l7 Hr. Helmholtz setzt die beiden Lehrmeinungen, die der angeborenen und die der erworbenen Vorstellungen, einander gegenüber unter dem Namen der nativistischen und der empiristischen Theorie. Er besteht darauf, daß, bis die Unmöglichkeit bewiesen sei mit dem Empirismus auszukommen, der Nativismus als ein Unerklärliches zurückzuweisen sei. Was insbesondere die Deutung unserer Netzhautbilder betrifft, so lassen seine Ausführungen keinen Zweifel, daß, unter der Voraussetzung des Vermögens allgemeine Begriffe zu bilden, durch das Zusammenwirken der Netzhautbilder mit Tastempfindungen und Bewegungen, die Raumvorstellung entstehen könne. Wie in der nächstfolgenden Lebenszeit Gehen und Sprechen augenscheinlich erlernt werden, so gehen die ersten Monate des Lebens darüber hin; die nicht minder schwierigen Künste des Sehens und Greifens zu erlernen. Molyneux' Problem, ob ein Blindgeborener, sehend gemacht, eine Kugel von einem Würfel unterscheiden würde, die er früher durch den Tastsinn zu unterscheiden wußte, scheint durch mehrere Beobachtungen, namentlich durch den älteren Fall von Cheselden und den etwas neueren von W ardrop, dahin entschieden, daß der Operierte seine Gesichtseindrücke nur mangelhaft zu deuten versteht. 38 Die metamathematischen Untersuchungen von Riemann, Hrn. Helmholtz u. a. über die der Geometrie zugrunde liegenden Tatsachen haben dieser Anschauungsweise eine neue Stütze verliehen. Sie haben gezeigt, daß Größenkomplexe mit den wesentlichen Eigenschaften des Raumes sich logisch denken lassen, die nicht unser gemeiner Raum mit seinen drei Dimensionen sind. Die Vorstellung dieses Raumes, wird daher geschlossen, kann keine angeborene, sie muß eine erworbene sein.:J!J Eine Reihe von Problemen, der Frage nach den angeborenen Vorstellungen verwandt, bieten die durch an sich mehr gleichgültige Sinneseindrücke hervorgerufenen Empfindungen der Lust und Unlust, sowie die instinktmäßigen Strebungen, dar. Auch hier handelt es sich darum ob das Urteil über Schön und Häßlich, über Angenehm und Wider7*

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wärtig, ob der Trieb zu bestimmten Handlungen der Seele ursprünglich eingepflanzt sei, oder ob sich Gründe angeben lassen, welche, wenn auch unbewußt, unser Gefühl und unsere Tätigkeit bestimmen. Ein solches Rätselliegt vor in der Wirkung gleichzeitiger oder einander folgender Töne in Harmonie und Melodie. In seinem erstaunlichen Werk über die Tonempfindungen4o hat Hr. Helmholtz versucht, für den Unterschied, den unser Ohr zwischen Konsonanz und Dissonanz macht, den zureichenden Grund anzugeben. Er hat gezeigt, daß die Obertöne von Tönen, deren Schwingungszahlen in einfachem Verhältnis stehen, miteinander keine, oder nur solche Schwebungen machen, welche noch nicht als widerwärtige Rauhigkeit, unerträglich wie das Flackern eines Lichtes, empfunden werden, und durch Verwirrung der Klangmasse die Seele in peinliche Ungewißheit versetzen. Er hat diese Lösung des alten Pythagoräischen Problems auch auf die Konstruktion der Tonleitern, ja auf die Melodie ausgedehnt, indem er als Bedingung wohlgefälliger Klangfolge die Verwandtschaft der Klänge bezeichnet. Sie besteht darin, daß die einander folgenden Klänge gemeinschaftliche Obertöne besitzen, gleichsam miteinander reimen. Eine melodische Wirkung an Obertönen armer Klänge, wie der Flöte, vollends einfacher Töne ist nach ihm nur dadurch möglich, daß wir die zugehörigen Obertöne in der Vorstellung unbewußt ergänzen. Wir wissen also nun, daß gleichzeitig erklingende Töne von einfachem Schwingungsverhältnis eine unangenehme Nebenwirkung nicht haben, welche Tönen von minder einfachem Schwingungsverhältnis eigen ist. Verstehen wir aber darum, weshalb solche Töne eine angenehme Wirkung üben? Warum entzückt denn mein Ohr jener ruhige Fluß, in welchem konsonierende Töne nebeneinander ablaufen? Was vollends die Melodie betrifft, so wird keine solche Deutung je verständlich machen, weshalb eine bestimmte Tonfolge nach bestimmtem Zeitmaße mein Herz mit schmerzlich süßer Rührung füllt, weshalb eine andere zu todesmutigem Vorstürmen mich entflammt. Die Erklärung der Melodie, welche Diderot Rameaus Neffen in den Mund legt, sie sei eine Nachahmung der Sprache der Leiden40

schaft,4 1 ist nicht abgeschmackt wie die Hallers, welcher meinte, hohe und schnelle Töne erheiterten, tiefe und langsame betrübten uns, weil wir in der Freude schnelle und hohe, in der Trauer langsame und tiefe Töne von uns gäben ;"2 aber sie paßt einigermaßen doch nur auf das Rezitativ, welches keine Melodie ist. Die positiv angenehme Wirkung der Harmonie und Melodie, zu der sich namentlich bei letzterer eine spezifische psychische Wirkung gesellt, sind ein unergründliches Geheimnis, und es ist ziemlich einerlei, ob wir unsere Unwissenheit in dieser Form bekennen, oder indem wir sagen, zwischen den sinnlichen Eindrücken und den Seelenbewegungen herrsche eine prästabilierte Harmonie. Diderots Definition der Melodie, welche auch Rousseaus war, gehört demselben Kreise seichter rationalistischer Erklärungen an, wie die im vorigen Jahrhundert geläufige Erklärung der Liebe aus den Tugenden des geliebten Gegenstandes, die Abbe Prevost durch seine Manon Lescaut widerlegte, der Schönheit durch den gefälligen Schwung der Hogarthschen Wellenlinie, die doch sicher nicht die Schönheit des männlichen Körpers ausmacht, und in der Bewegung, an Aal und Schlange, vielmehr abstößt. So wenig wie für die Wirkung der Melodie, ist eine Erklärung für die Anziehung denkbar, welche die schönen Formen des einen Geschlechtes auf das andere üben, geschweige für die individuellen Neigungen, denen Liebe entspringt. Doch sind dies besonders dunkle Probleme, bei denen es unter anderem schwer fällt, aus den zu erklärenden geistigen Beziehungen den Anteil zu scheiden, der von unserer Bildung, von früheren Eindrücken stammt. Die Begriffe musikalischer und plastischer Schönheit wechseln so sehr vom einen zum anderen, von Volk zu Volk, daß es mißlich wäre, auf Beispiele allein aus dieser Sphäre die Annahme einer prästabilierten Harmonie zu stützen. Sieht man aber zahllose sonst sehr stumpfsinnige Tiere in kürzester Frist den vollständigen Gebrauch ihrer Sinne und Glieder erlangen, Kalb und Füllen neugeboren auf die mütterlichen Zitzen zugehen, gleichviel ob durch das Gesicht, oder, wie Hr. H elmholtz vermutet, durch den Geruch geleitet ;":1 sieht man Schmetterling und Libelle auf kaum fertigem Flügel in

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die Lüfte steigen, Küchlein picken und Entchen schwimmen; erwägt man die mannigfaltigen Kunsttriebe, die bei jedem Individuum einer Spezies zu gewissen Lebenszeiten auch unabhängig von den äußeren Umständen sich einstellen, auf welche sie berechnet scheinen, und die allein sie hervorrufen könnten: so verzweifelt man an Durchführung der empiristischen Ansicht, und fühlt sich widerwillig, doch unausweichlich, auf prästabilierte Harmonie zurückgewiesen."" Gegenüber solch überwältigender Masse des Unerklärlichen verliert man dann die Freude daran, diese Masse um einen verschwindenden Bruchteil dadurch zu verringern, daß man in einem einzelnen Falle, ammenschlichen Kinde, mühsam ausführt, wie es durch eine unbewußt bewußte Tätigkeit wohl dazu gelangen könne, seine Sinneseindrücke richtig zu deuten, den Raum um sich zu entwerfen, seine Glieder passend zu bewegen, und den Satz vom zureichenden Grunde zu finden. Für angeboren im strengen Sinne, d. h. für zur Zeit der Geburt schon vorhanden, braucht man darum diese Kenntnisse und Fähigkeiten nicht zu halten. Sie können in einem gewissen Alter noch fehlen und später plötzlich bemerkt werden, ohne daß das Kind sie in der Weise sich erwarb, wie die empiristische Theorie meint. Das Entstehen des Gedächtnisses, der geschlechtlichen Vorstellungen und Strebungen, das von Goethe beobachtete \Vachsen spezifischer Talente ohne Übung,'•~ und eine Menge ähnlicher Tatsachen scheinen zu lehren, daß im Gehirne die Bedingungen für gewisse geistige Vorgänge mit der Zeit von selber sich herstellen, heraufgeführt durch das Wachstum des Organes, ganz wie dies mit den Entwickelungszuständen und Leistungen anderer Organe zweifellos der Fall ist. Während also beim Kälbchen schon während des Fötallebens eine Gehirnentwickelung geschah, vermöge deren das neugeborene Tier im Raume Bescheid weiß, seine vier Füße in richtiger Folge zu setzen und seinen Schwerpunkt zu unterstützen versteht, geht beim Kind die entsprechende Entwickelung erst nach der Geburt, während der ersten Monate . vor sich. Nach dieser Ansicht wären die Raumvorstellung, die Verstandeskategorien, weder angeboren noch erworben, sondern sie wüchsen dem werdenden 42

Geiste allmählich zur richtigen Zeit von selber zu. Damit aber verständlich werde, warum ein sehend gemachter Blindgeborener seine Gesichtseindrücke mangelhaft deutet, muß freilich hinzugefügt werden, daß zur normalen Entwickelung der Sehsinnsubstanz normale Gesichtseindrücke gehören: wofür es an Analogien nicht fehlt."l' Über die Art, wie die geistigen Vorgänge und die Vorgänge im Gehirne miteinander zusammenhängen, wird hier nichts vorausgesetzt, als daß diese für jene die notwendige Bedingung zu sein scheinen. Die Physiologie ist zwar die Wissenschaft von den näheren Bedingungen des Bewußtseins auf Erden; doch ist leicht zu zeigen, daß es nie gelingen kann, auch nur die ersten Stufen des Bewußtseins, Lust und Unlust, denkend zu begreifen. Das also ist der Sinn, in welchem von einer prästabilierten Harmonie zwischen unseren Vorstellungen und der Welt noch die Rede sein kann. Allein ehe wir uns zu ihrer Annahme auch nur in dieser Gestalt bequemen, wird es angemessen sein zu versuchen, ob ein für unseren Verstand so peinliches Zugeständnis sich nicht noch irgendwie bedingen lasse. Und es scheint allerdings, als ob neuere siegreiche Fortschritte der Wissenschaft uns erlaubten, die Marksteine unserer Erkenntnis weiter hinauszuschieben, und der prästabilierten Harmonie das supernaturalistische Gewand abzustreifen, das ihr noch von Leibniz her anhängt. Eine der Grundtatsachen, auf denen die Darwinsche Theorie ruht, ist die Möglichkeit der Vererbung aller erdenklichen körperlichen und geistigen Besonderheiten und Fähigkeiten, welche durch die Neigung zur Varietätenbildung entstehen. Sie können auf den Keim übergehen, können während langer Entwickelungsabschnitte schlummern und unter geeigneten Umständen, als wären sie durch diese hervorgerufen, plötzlich in aller Stärke sich betätigen, wie dies an gewissen krankhaften Anlagen nur zu oft und deutlich sich zeigt. So hat der große britische Denker und Forscher das Rätsel vieler sonst nur durch prästabilierte Harmonie zu erklärender, d. h. unbegreiflicher Kunsttriebe glücklich gelöst. Sollte man sich nicht denken können, daß auch die sogenannten angeborenen Ideen dergestalt ein natürliches 43

Erbteil unseres Geschlechtes seien? Sollte nicht hierin die wahre Entscheidung des alten Streites zwischen Empirismus und Nativismus liegen, eine Entscheidung, die zugleich eine Versöhnung wäre, da beide Teile recht behielten? Denn indem diese Anschauung die prästabilierte Harmonie für das menschliche Individuum zuläßt, wie in Dingen des Instinktes für die einzelne Biene oder Ameise, läßt sie für das ganze Geschlecht die sensualistische Ansicht gelten. So bietet sie überdies noch einen Vorteil. Die schwierige Arbeit, welche der Sensualismus dem einzelnen Menschenkinde während der ersten drei Lebensmonate zumutet, von denen es noch dazu etwa elf Zwölftel schlafend verbringt, verteilt sie auf eine unermeßliche Reihe von Geschlechtern, die sich, ihre Errungenschaften durch Vererbung steigernd, folgweise an jener Arbeit beteiligten. Abermals trifft hier die Leibnizische Lehre zusammen mit der Lehre Darwins, um durch sie der Form nach bestätigt, dem Inhalte nach aber besiegt zu werden: denn es ist dergestalt die prästabilierte Harmonie gleichsam in den mechanischen Weltprozeß aufgenommen.lo7 In den mittelalterlichen Bauten Italiens sieht man oft Tempeltrümmer einer versunkenen Religion als Werkstücke eingemauert. Seiner Bestimmung entfremdet, kaum kenntlich, fesselt der marmorne Architrav einen Augenblick den sinnigen Wanderer. Achtlos vorüber eilt die Menge. So birgt der unscheinbare, aber sichere Bau heutiger Empirie manche Trümmer einer glänzenden, einst die Wissenschaft beherrschenden Spekulation, in der unsere Zeit das Heil nicht mehr sucht. Von vielem, was wir, des Ursprunges unserer Schätze nicht immer eingedenk, das Unsere nennen, könnte Leibniz, nach zweihundert Jahren wiederkehrend, im sicheren Gefühle geistiger Urheberschaft sagen: Das ist Geist von meinem Geist, und Gedanke von meinem Gedanken.

Über Geschichte der Wissenschaft In der Leibniz-Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 4. Juli 1872 gehaltene Redet

Naturforscher und Transzendentalphilosophen. Feindschaft sei zwischen euch, noch kommt das Bündnis zu frühe, Wenn ihr im Suchen euch trennt, wird erst die Wahrheit erkannt. Xenie.2

Die Sitte unserer Akademie, alljährlich an bestimmten Tagen ihres geistigen Urhebers, Leibniz', und ihres königlichen Neubegründers, Friedrichs des Großen3, lobend zu gedenken, beruht nicht auf Statuten und könnte zu des Spartaners Frage veranlassen, der eine Lobrede auf Herakles hörte: Wer hat sie denn getadelt? Aber indem die Akademie ihren Stiftern fast göttliche Ehren erweist, - denn nur in der Gottheit Lob, der sie unendliche Eigenschaften zuschreiben, können die Menschen sich nicht erschöpfen und brauchen sie Wiederholung nicht zu scheuen, - fühlt sie sich selber geadelt und erhoben. Mit demütigem Stolze lieben wir, alljährlich aus Leibniz' Gedankenmeer einen Trunk zu schöpfen oder an dessen Strand uns zu ergehen und uns zu erinnern, daß von Leibniz zu uns ein wohl hier und da gelockerter, doch nie ganz unterbrochener Faden geschichtlicher Beziehungen läuft. Je weiter und je dichter der Baum der Wissenschaft seine Äste in das lichte Reich der Wahrheit streckt, um so ernster opfern wir am Fuß des Stammes, der Zeiten eingedenk, da mancher heut Schatten spendende Zweig noch schlafendes Auge war.

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Keine Art der Betrachtung scheint uns würdiger, diese öffentlichen Zusammenkünfte einzuleiten. Im allgemeinen ist unsere Zeit wissenschaftlicher Rückschau wenig hold. Im stets wachsenden Drange des Tagewerkes, im Wettkampf mit immer sich mehrenden Scharen von Arbeitern, in der Hast des Hervorbringens, in der Überstürzung eines Ehrgeizes, der mit dem Beifall des Tages vorlieb nimmt, weil er an wahrhaft großen, nur durch langatmige Arbeit zu erringenden Erfolgen verzweifelt: wie bliebe dem heranwachsenden Geschlechte von Forschern noch Zeit und Lust zu künstlerischer Pflege des Erzeugten, vollends zu sinniger Betrachtung der Vergangenheit? Der Weg, den die Vorfahren in der Wildnis wanderten, bis das fruchtbare sichere Land sich öffnete, das wir bewohnen, ihre Irrungen, ihre Mühlsale, ihre Kämpfe werden mehr und mehr vergessen. Kaum daß mit einigen von mythischem Hauch umwitterten Namen noch eine unbestimmte Vorstellung bei der Menge sich erhält, vonwanneneinst der Zug der Halbgötter kam. Aber fragt man, worin akademisches Forschen, Wissen und Lehren von banausischem Treiben sich unterscheide, so ist sicher dies einer der bezeichnenden Punkte. Daß man wahrhaft nur das kenne, was man, wenn auch nur im Geiste, werden sah, ist längst triviale Wahrheit. Gleichviel, ob es um einen Organismus, ein Staatswesen, eine Sprache oder eine wissenschaftliche Lehre sich handle, die Entwickelungsgeschichte erschließt am besten Bedeutung und Zusammenhang der Dinge. Daraus scheint unmittelbar zu folgen, daß die beste Art eine Wissenschaft mitzuteilen, Erzählung ihrer Geschichte sei. Auch liegt Richtiges in dieser Schlußfolge, obschon ihre Anwendung notwendig beschränkt bleibt. In dengeschichtlichen Wissenschaften und den beschreibenden oder vorzugsweise auf Beobachtung angewiesenen Naturwissenschaften tritt die aus inneren Gründen vor sich gehende Entwickelung zu sehr zurück gegen den Einfluß äußerer Umstände. Der Bau der mathematischen Wissenschaften verwächst auf jeder Stufe zu einem so innigen Gedankengefüge, daß die Spuren seiner Entstehung fast ganz verschwinden. Weder dort noch hier dürfte die geschichtliche Methode des Vortrages am Platze sein. 46

Wohl aber kann diese Methode in den auf Induktion beruhenden Zweigen der theoretischen Naturwissenschaft, wie beispielsweise in der Physiologie, von großem und eigentümlichem Vorteil werden. Für die richtige Art Physiologie vorzutragen, und zwar gleichviel ob im Lehrbuch oder im Hörsaal, halte ich zunächst die induktive Darstellung, im Gegensatz zu der in Lehrbüchern nicht selten gebrauchten dogmatischen Darstellung. Dogmatisch nenne ich den Vortrag, der die Wissenschaft Satz für Satz scheinbar fertig mitteilt, als ein nach so und so viel Ober- und Unterabteilungen geordnetes System von Tatsachen; der das Ergebnis der Untersuchung in Gestalt eines Lehrsatzes voraufschickt, und die begründenden Tatsachen gleichsam als Bedeckung hinterdrein sendet; der die Wissenschaft zu einem toten Fachwerk erstarren läßt, statt daß sie als ein in lebendiger Entfaltung begriffener Organismus erscheinen sollte. Dem Stümper, der zum Zweck einer Prüfung rasch auswendig lernen, oder dem Praktiker, der Vergessenes nachsehen will, mag mit solcher Darstellung gedient sein. Eben darum ist sie handwerksmäßig, und sie wird der Forschung keine Jünger erwecken. Dem Lernenden sollen nicht nur die schon gewonnenen Ergebnisse vorgeführt werden, die beziehungslos ihm entgegentretend leicht ohne Sinn und Bedeutung bleiben. Da er die Frage nicht kennt, was kann die Antwort ihm frommen? Da er nicht weiß, was es zu suchen galt, wie kann der Fund ihn interessieren? Das richtige Verfahren ist vielmehr, der Erscheinung gegenüber den Kausalitätstrieb des Schülers zu erwecken; ihm die Möglichkeit der Aufdeckung des zureichenden Grundes in Gestalt von Hypothesen zu zeigen; diese Hypothese in der Idee durch Beobachtung und Versuch zu prüfen, um nach gehöriger Experimentalkritik zwischen ihnen zu entscheiden; von der gewonnenen neuen Grundlage aus einen ähnlichen Schritt weiter zu tun, und so an der Hand der Erfahrung von Stufe zu Stufe mit dem Schüler zur Theorie sich zu erheben, die dann durch Proben und Gegenversuche noch Bestätigung erhält. Führt die Untersuchung, wie dies in der Physiologie oft geschieht, nicht zu diesem

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Ziele, so bleibt der Lehrer mit dem Schüler, was diesem nicht minder nützlich ist, auf dem Punkte stehen, wo es augenblicklich eben nicht weiter geht, und wo der Geist naturwissenschaftlicher Forschung erheischt, daß man mit ruhiger Entsagung vorläufig am möglichst reinen und vollständigen Ausdruck des Tatbestandes sich genügen lasse. Bei dieser Darstellung gewinnt die Wissenschaft ein spannendes Interesse, welches zu dem Interesse bei dogmatischer Darstellung etwa so sich verhält, wie das eines Epos zu dem eines Lehrgedichtes, und oft auch auf stumpfere Naturen seine Wirkung nicht verfehlt. Der forschende Menschengeist erscheint wie im siegreichen Kampf begriffen mit der hartnäckig Aufschluß verweigernden, oft tückische Fallstricke legenden Natur, ähnlich dem Menelaos, da er den ägyptischen Proteus zum Enthüllen verborgener Weisheit zwang." Indem von Anfang an das Ergebnis der Untersuchung mit Bewußtsein verfolgt wird, kann über dessen Sinn und Tragweite der Schüler nie im Zweifel sein. In so verwickelten Dingen, wo die Wahrheit nicht unmittelbar einleuchtet, ist es wichtig, nicht nur das Richtige zu beweisen, sondern auch das Falsche vorweg zu widerlegen, auf das einer verfallen könnte. Beim dogmatischen Vortrage bietet sich dafür kaum ein natürlicher Platz. Dem induktiven Vortrage dagegen steht es wohl an, durch Ausschließung aller irrigen Möglichkeiten zum Rechten gleichsam sich hindurchzuarbeiten. Dieser Vortrag zeigt unmittelbar, was an jeder Stelle noch zu tun übrig bleibt. Endlich je seltener das Lesen von Originalabhandlungen der Meister ward, welche wie des Wissens wahrer Quell, so auch des angehenden Forschers wahre Schule sind, und je mehr die wissenschaftliche Jugend sich daran gewöhnt, aus dürftigen, matten Berichten zweiter Hand ihre Kenntnisse zu schöpfen: um so wünschenswerter ist es, daß sie von vornherein Unterricht darin erhalte, wie Naturwahrheiten gesucht und gefunden werden. Wer wiederholt im Geiste jenen Weg induktiver Forschung geführt wurde, wird vor einem Problem sich selbst überlassen, sei es im Laboratorium, sei es am Krankenbett, bewußt oder unbewußt ihn wieder einschlagen. 48

Doch läßt sich dem induktiven Lehrvortrage leicht noch höherer Wert und noch lebhaftere Färbung erteilen. Es ist vielleicht bisher nicht hinlänglich beachtet worden, daß der geschichtliche Gang induktiver Wissenschaften meist nahe derselbe ist wie der Gang der Induktion selber. Heget lehrte bekanntlich, daß die Geschichte der Philosophie im allgemeinen ein Abbild der logischen Begriffsentwickelung im menschlichen Geiste sei, welche sich wiederholend immer höhere Stufen erklomm, bis sie in seinem Systeme gipfelte. Etwas Ähnliches trifft in der induktiven Naturwissenschaft zu, nur daß dem Naturforscher die Überhebung freind bleibt, seine Einsicht für die letzte erreichbare Stufe der Erkenntnis zu halten. Wie bei einer einzelnen Versuchsreihe eines und desselben Forschers der Gang der Versuche und die logische Entwickelung der gesuchten Wahrheit sich decken, und zwar um so genauer, je geschickter die Untersuchung geführt wurde," so ist dies auch im großen und ganzen der Fall mit den Arbeiten der begabten Männer, die im Laufe der Zeit, der eine auf des anderen Schultern stehend, dem Ausbau einer besonderen Disziplin ihre Kräfte widmeten. Bis in ihre Irrtümer schließen nach innerer Notwendigkeit die einzelnen Experimentatoren auf ihrem Standpunkte so, wie der die Untersuchung in Gedanken wiederholende Kopf an der entsprechenden Stelle zu schließen geneigt ist. Natürlich bedingen die unvermeidlichen Zufälligkeiten des Entdeckungsgeschäftes - unerwartet sich darbietende Wahrnehmungen und gleichsam divinatorische Einfälle - Abweichungen von diesem regelrechten Gange.n Schwerlich aber sind in der Geschichte induktiver Wissenschaften solche Abweichungen größer und häufiger, als in der Geschichte der Spekulation die Abweichungen von dem durch Heget behaupteten Entwickelungsgesetze. Wenn nun die induktive Darstellung, wie ich zu zeigen versuchte, in der Physiologie die beste ist, und wenn häufig der geschichtliche Gang der einzelnen Untersuchungen dem induktiven Gang entspricht, so liegt es nah, und ist in solchen Fällen auch möglich, der induktiven Darstellung zugleich den geschichtlichen Charakter zu geben. Dadurch erreicht man einen namhaften Vorteil. Wie man eine eigene 49

Experimentaluntersuchung am lebendigsten und eindringlichsten mitteilt, indem man erzählt, was man suchte und was man fand; welche Möglichkeiten man sich dachte und was davon eintraf, was nicht; welche Fehler man machte und wie man von der Natur zurechtgewiesen wurde, bis zuletzt der wahre Sachverhalt wie von selber ans Licht springt: so kann man eine induktive Wissenschaft, die Kollektivarbeit aller folgweise daran beteiligten Geschlechter von Forschern, oft nicht besser darlegen, als indem man deren Wachstum schildernd die einzelnen Schritte der Untersuchung durch die Männer tun läßt, die sie einst wirklich zurücklegten. Man lehrt so zugleich die Wissenschaft und ihre Geschichte. Auch dem minder Begabten und geringeres Erstrebenden nützt diese Art des Vortrages, indem sie Tatsachen und Meinungen an Persönlichkeiten knüpft. Anstatt einer Belastung des Gedächtnisses erwächst daraus vielmehr eine mnemonische Hilfe. Freilich muß dazu die Verknüpfung nachdrücklicher geschehen, als durch einen bei der Jieinung oder Tatsache eingeklammerten Namen. Für empfänglichere Gemüter aber wird so der Reiz der Wissenschaft vervielfacht. Für diese liegt meist ein hinreißender Zauber in dem geistigen Umgang mit den großen Gestalten der entschwundenen Meister. An ihnen richtet der Jünger sich auf, und gewinnt er das Maß der eigenen Kraft. Sie irren zu sehen, erweckt nicht seinen Hochmut, sondern lehrt ihn unterscheiden zwischen unvergänglichen Tatsachen und vergänglichen Meinungen. Wer die Wissenschaft als ein Werdendes überliefert erhielt, fühlt sich gleichsam aufgefordert, selber an deren Ausbau sich zu beteiligen. Es liegt etwas Ermutigendes in dem Anblick, wie die Natur jedes wahre Bestreben, und die gelehrte Nachwelt jeden noch so geringen Dienst belohnt. Endlich die nationale Unparteilichkeit und geschichtliche Gerechtigkeit, welche diese Art des Vortrages voraussetzt, machen sie des deutschen Charakters in der Wissenschaft besonders würdig. Von der politischen Geschichte heißt es, sei sei da, damit man aus ihr lerne, daß man aus ihr nichts lernt. Es wäre schlimm, könnte man von der Geschichte der Wissenschaft

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das gleiche sagen. Denn auch ihr fehlt es nicht an dunklen Seiten. Für die deutscheNaturwissenschaftwar bekanntlich die Zeit zu Ende des vorigen Jahrhunderts bis ziemlich tief in dieses hinein, abgesehen von einzelnen hervorragenden Erscheinungen, solch eine dunkle Phase. Ähnlich einem hochbegabten, aber unreifer Schwärmerei hingegebenen Jüngling, noch taumelnd vom ästhetischen Trunk aus dem Zauberborn seiner großen Literaturperiode, ließ der deutsche Geist durch poetisch-philosophisches Blendwerk sich irren, und verlor er den in der Naturforschung einzig sicheren Pfad. Eine falsche Naturphilosophie beherrschte die Katheder und drang bis in die Akademien; die Spekulation verdrängte die Induktion aus dem Laboratorium, ja fast vom Seziertisch. Diese Scharte ist ausgewetzt, und mit denselben Gaben, welche ihm einst verderblich wurden, hat der deutsche Geist die ihm gebührende Stelle unter den ersten auch in derNaturwissenschaftvollauf wieder eingenommen. Mittlerweile hat die spekulative Philosophie, ihrer eigenen Aussage nach, die Höhe erreicht. In Eklektizismus aufgelöst, hat sie dann, einige Jahrzehnte hindurch, dem Aufschwung der Naturwissenschaft mit ungewisser Haltung zugeschaut und in dieser kritischen Stimmung nicht viel Teilnehmer um sich versammelt. Neuerlich ist ihr die Hoffnung zu weiteren Fortschritten erwacht, und mit ihrem Glauben an sich wuchs auch wieder die Zahl ihrer Anhänger. Die Naturforschung ihrerseits ist an mehreren Punkten bis an die Grenze ihres Gebietes gelangt. Die Physiologie der Sinne führt so unmittelbar in die Erkenntnistheorie; die Lehre von der Erhaltung der Kraft, die Kritik des Vitalismus, die Entstehungsgeschichte der Welt und der Organismen bieten so vielfach und so natürlich Gelegenheit zu metaphysischen Meinungsäußerungen, daß es den Anschein gewinnen konnte, als strecke die Naturwissenschaft der Spekulation zu erneutem Bunde eine Hand entgegen. In dem philosophischen Lager ist dies von einigen wirklich so verstanden worden, als denke die deutsche Naturforschung daran, ihrer Methode untreu zu werden, auf ihrem Weg umzukehren und wieder zu philosophieren. Sie ist dafür belobt worden, auch hat es an Ratschlägen nicht

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gefehlt, wie sie mit philosophischen Gedanken durchtränkt besser ihr Ziel erreichen werde. Dies ist ein Mißverständnis, und es kann nicht schaden, wenn es beizeiten als solches bezeichnet wird. Wir denken im Gegenteil, es war an der einen Erfahrung um den Anfang des Jahrhunderts genug. Wir glauben, daß die Philosophie an manchen Stellen Vorteil aus der naturwissenschaftlichen Methode ziehen kann, nicht aber umgekehrt die Naturforschung aus der Methode der Philosophie. Der Naturforschung ist ihr Ziel und der Weg dazu mit zweifelloser Klarheit und Gewißheit vorgezeichnet: Erkenntnis der Körperwelt und ihrer Veränderungen und mechanische Erklärung der letzteren, durch Beobachtung, Versuch und Rechnung. Wie Hugo von Mahl richtig bemerkt, ist damit nicht gesagt, daß die Naturforschung nicht auch spekuliere. Sie tut es aber im Bereich ihrer Herrschaft, und mit dem Vorbehalt, daß ihre Vermutungen, denen sie bis dahin keinen Wert beilegt, in der Erfahrung sich bestätigen.7 Wie ohnmächtig Philosophieren an sich auch in den Händen des gewaltigsten Denkers bleibt, wo es gilt, Gesetze der Körperwelt zu erraten, geht deutlicher wohl aus nichts hervor, als aus folgender Tatsache. Wenn es eine Einsicht gibt, die beim Philosophieren über die Körperwelt a priori gefunden werden konnte, so ist es die an der Grenze von Physik und Metaphysik stehende Lehre von der Erhaltung der Kraft. Auch ist diese Lehre ursprünglich von Descartes als Philosophem hingestellt, aber falsch formuliert und nur theologisch begründet worden. Nachdem dann H ~tygens sie als mechanisches Theorem Galileis Pendelgesetzen entnommen hatte, gab ihr Leibniz 1686 in der Brevis Demonstratio Erroris memorabilis Cartesii zuerst einen richtigeren allgemeinen Ausdruck. Seitdem durchdringt sie seine Weltanschauung, wie heute die unsrige, als das oberste die Körperwelt beherrschende Prinzip. Diese Lehre war allen Mathematikern und Philosophen der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ganz geläufig. Dem Physiologen Albrecht von Haller war sie 1762 in seinen Eiementa Physiologiae Corporis humani noch vollkommen gegenwärtig.S Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, was sich der Mühe wohl verlohnte, infolge

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welcher Umstände ein Gedanke, der unserer Zeit wieder so bedeutend ward, damals aus dem allgemeinen Bewußtsein in dem Maße schwand, daß er neuerlich geradezu wiedergefunden werden mußte. Wie dem auch sei, ist es nicht vielsagend, daß Kant, der doch sonst in diesem Gebiete zu Hause war und 1746 sogar eine Schrift über das Cartesische und Leibnizische Kräftemaß verfaßt hatte, 1786, ein volles Jahrhundert nach Leibniz' Brevis Demonstratio, in den "Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" die Lehre von der Erhaltung der Kraft weder erwähnt, noch selber sie wiederfindet? 9

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Wollgast, Philosophie

Über die Grenzen des N aturerkennens In der zweiten allgemeinen Sitzung der 45. Versammlung Deutscher Naturforscher und Arzte zu Leipzig am 14. August 1872 gehaltener Vortrag.l

In Nature's infinite book of secrecy A little I can read. Antony and Cleopatra.~

Wie es einem Welteroberer der alten Zeit an einem Rasttag inmitten seiner Siegeszüge verlangen konnte, die Grenzen seiner Herrschaft genauer festgestellt zu sehen, um hier ein noch zinsfreies Volk zum Tribut heranzuziehen, dort in der Wasserwüste ein seinen Reiterscharen unüberwindliches Hindernis, und somit eine wirkliche Schranke seiner Macht zu erkennen: so wird es für die Weltbesiegerin unserer Tage, die Naturwissenschaft, kein unangemessenes Beginnen sein, wenn sie bei festlicher Gelegenheit von der Arbeit ruhend die wahren Grenzen ihres Reiches einmal klar sich vorzuzeichnen versucht. Für um so gerechtfertigter halte ich dies Unternehmen, als ich glaube, daß über die Grenzen des Naturerkennens zwei Irrtümer weit verbreitet sind, und als ich für möglich halte, solcher Betrachtung, trotz ihrer scheinbaren Trivialität, auch für die, welche jene Irrtümer nicht teilen, einige neue Seiten abzugewinnen. Ich setze mir also vor, die Grenzen des Naturerkennens aufzusuchen, und beantworte zunächst die Frage, was Naturerkennen sei.

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Naturerkennen- genauer gesagt naturwissenschaftliches Erkennen oder Erkennen der Körperwelt mit Hilfe und im Sinne der theoretischen Naturwissenschaft - ist Zurückführen der Veränderungen in der Körperwelt auf Bewegungen von Atomen, die durch deren von der Zeit unabhängige Zentralkräfte bewirkt werden oder Auflösen der Naturvorgänge in Mechanik der Atome. Es ist psychologische Erfahrungstatsache, daß, wo solche Auflösung gelingt, unser Kausalitätsbedürfnis vorläufig sich befriedigt fühlt. Die Sätze der Mechanik sind mathematisch darstellbar und tragen in sich dieselbe apodiktische Gewißheit wie die Sätze der Mathematik. Indem die Veränderungen in der Körperwelt auf eine konstante Summe von Spannkräften und lebendigen Kräften, oder von potentieller und kinetischer Energie zurückgeführt werden, welche einer konstanten .Menge von Materie anhaftet, bleibt in diesen Veränderungen selber nichts zu erklären übrig. Kants Behauptung in der Vorrede zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft, "daß in jeder besonderen Naturlehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen sei" :J- ist also vielmehr noch dahin zu verschärfen, daß für Mathematik Mechanik der Atome gesetzt wird. Sichtlich dies meinte er selber, als er der Chemie den Namen einer Wissenschaft absprach, und sie unter die Experimentallehren verwies. Es ist nicht wenig merkwürdig, daß in unserer Zeit die Chemie, indem die Entdeckung der Substitution sie zwang, den elektrochemischen Dualismus aufzugeben, sich von dem Ziel, eine Wissenschaft in diesem Sinne zu werden, scheinbar wieder weiter entfernt hat. Denken wir uns alle Veränderungen in der Körperwelt in Bewegungen von Atomen aufgelöst, die durch deren konstante Zentralkräfte bewirkt werden, so wäre das Weltall naturwissenschaftlich erkannt. Der Zustand der Welt während eines Zeitdifferentiales erschiene als unmittelbare Wirkung ihres Zustandes während des vorigen und als unmittelbare Ursache ihres Zustandes während des folgenden Zeitdifferentiales. Gesetz und Zufall wären nur noch andere Namen für mechanische Notwendigkeit. Ja es läßt eine Stufe der Naturerkenntnis sich denken, auf

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welcher der ganze Weltvorgang durch eine mathematische Formel vorgestellt würde, durch ein unermeßliches System simultaner Differentialgleichungen, aus dem sich Ort, Bewegungsrichtung und Geschwindigkeit jedes Atoms im Weltall zu jeder Zeit ergäbe. "Ein Geist", sagt Laplace, "der für einen gegebenen Augenblick alle Kräfte kennte, welche die Natur beleben, und die gegenseitige Lage der Wesen, aus denen sie besteht, wenn sonst er umfassend genug wäre, um diese Angaben der Analyse zu unterwerfen, würde in derselben Formel die Bewegungen der größten Weltkörper und des leichtesten Atoms begreifen: nichts wäre ungewiß für ihn, und Zukunft wie Vergangenheit wäre seinem Blick gegenwärtig. Der menschliche Verstand bietet in der Vollendung, die er der Astronomie zu geben gewußt hat, ein schwaches Abbild solchen Geistes dar."" In der Tat, wie der Astronom nur der Zeit in den Mondgleichungen einen gewissen negativen Wert zu erteilen braucht, um zu ermitteln, ob, als Penkles nach Epidaurus sich einschiffte, die Sonne für den Piräus verfinstert ward, so könnte der von Laplace gedachte Geist durch geeignete Diskussion seiner Weltformel uns sagen, wer die eiserne Maske war oder wie der "President" zugrunde ging.5 \Vie der Astronom den Tag vorhersagt, an dem nach Jahren ein Komet aus den Tiefen des Weltraumes am Himmelsgewölbe wieder auftaucht, so läse jener Geist in seinen Gleichungen den Tag, da das Griechische Kreuz von der Sophienmoschee blitzen oder da England seine letzte Steinkohle verbrennen wird. Setzte er in der Weltformel t = - oo, so enthüllte sich ihm der rätselhafte Urzustand der Dinge. Er sähe im unendlichen Raume die Materie schon entweder bewegt, oder ruhend und ungleich verteilt, da bei gleicher Verteilung das labile Gleichgewicht nie gestört worden wäre. Ließe er tim positiven Sinn unbegrenzt wachsen, so erführe er, nach wie langer Zeit Carnots Satz das Weltall mit eisigem Stillstande bedroht.ß Solchem Geiste wären die Haare auf unserem Haupte gezählt, und ohne sein Wissen fiele kein Sperling zur Erde. Ein vor- und rückwärts gewandter Prophet, wäre ihm, wie d'Alembert, Laplaces Gedanken im Keime hegend, in der Einleitung

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zur Enzyklopädie sich ausdrückte, "das Weltganze nur eine einzige Tatsache und eine große Wahrheit" .7 Auch bei Leibniz findet sich schon der Laplace'sche Gedanke, ja in gewisser Beziehung weiter entwickelt als bei Laplace, sofern Leibniz jenen Geist auch mit Sinnen und mit technischem Vermögen von entsprechender Vollkommenheit ausgestattet sich denkt. Pierre Bayle hatte gegen die Lehre von der prästabilierten Harmonie eingewendet, sie mache für den menschlichen Körper eine Voraussetzung ähnlich der eines Schiffes, das durch eigene Kraft dem Hafen zusteuere. Leibniz erwidert, dies sei gar nicht so unmöglich, wie Bayle meine. "Es ist kein Zweifel," sagt er, "daß ein Mensch eine Maschine machen könnte, fähig einige Zeit in einer Stadt sich umher zu bewegen und genau an gewissen Straßenecken umzubiegen. Ein unvergleichlich vollkommener, obwohl beschränkter Geist könnte auch eine unvergleichlich größere Anzahl von Hindernissen vorhersehen und ihnen ausweichen. So wahr ist dies, daß wenn, wie einige glauben, diese Welt nur aus einer endlichen Anzahl nach den Gesetzen der Mechanik sich bewegender Atome bestände, es gewiß ist, daß ein endlicher Geist erhaben genug sein könnte, um alles, was zu bestimmter Zeit darin geschehen muß, zu begreifen und mit mathematischer Gewißheit vorherzusehen; so daß dieser Geist nicht nur ein Schiff bauen könnte, das von selber einem gegebenen Hafen zusteuerte, wenn ihm einmal die gehörige innere Kraft und die Richtung erteilt wäre, sondern er könnte sogar einen Körper bilden, der die Handlungen eines Menschen nachahmte."ll Es braucht nicht gesagt zu werden, daß der menschliche Geist von dieser vollkommenen Naturerkenntnis stets weit entfernt bleiben wird. Um den Abstand zu zeigen, der uns sogar von deren ersten Anfängen trennt, genügt eine Bemerkung. Ehe die Differentialgleichungen der Weltformel angesetzt werden könnten, müßten alle Naturvorgänge auf Bewegungen eines substantiell unterschiedslosen, mithin eigenschaftslosen Substrates dessen zurückgeführt sein, was uns als verschiedenartige Materie erscheint, mit anderen Worten, alle Qualität müßte aus Anordnung und Bewegung solchen Substrates erklärt sein.

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Daß es in Wirklichkeit keine Qualitäten gibt, folgt aus der Zergliederung unserer Sinneswahrnehmungen. Nach unseren jetzigen Vorstellungen findet in allen Nerven, welche Wirkung sie auch schließlich hervorbringen, derselbe, nach beiden Richtungen sich ausbreitende, nur der Intensität nach veränderliche Molekularvorgang statt. In den Sinnesnerven wird dieser Vorgang eingeleitet durch die für Aufnahme äußerer Eindrücke verschiedentlich eingerichteten Sinneswerkzeuge; in den Muskel-, Drüsen-, elektrischen, Leucht-Nerven durch unbekannte Ursachen in den Ganglienzellen der Zentren. Der Idee nach müßte ein Stück Sehnerv mit einem Stück eines elektrischen Nerven, sogar ohne Rücksicht auf oben und unten, vertauscht werden können; nach Einheilung der Stücke würden Sehnerv und elektrischer Nerv richtig leiten. Vollends zwei Sinnesnerven würden einander ersetzen. Bei übers Kreuz verheilten Sehund Hörnerven hörten wir, wäre der Versuch möglich, mit dem Auge den Blitz als Knall, und sähen mit dem Ohr den Donner als Reihe von Lichteindrücken.!J Die Sinnesempfindung als solche entsteht also erst in den Sinnsubstanzen, wie ]ohannes Müller die zu den Sinnesnerven gehörigen Hirnprovinzen nannte, von welchen jetzt Hr. Hermann Munk einen Teil in der Großhirnrinde als Seilsphäre, Hörsphäre usw. unterschied.IO Die Sinnsubstanzen sind es, welche die in allen Nerven gleichartige Erregung überhaupt erst in Sinnesempfindung übersetzen, und als die wahren Träger der "spezifischen Energien" ]ohannes Müllers je nach ihrer Natur die verschiedenen Qualitäten erzeugen. Das mosaische: "Es ward Licht", ist physiologisch falsch. Licht ward erst, als der erste rote Augenpunkt eines Infusoriums zum erstenmal hell und dunkel unterschied. Ohne Seh- und ohne Gehörsinnsubstanz wäre diese farbenglühende, tönende \V elt um uns her finster und stumm. Und stumm und finster an sich, d. h. eigenschaftslos, wie sie aus der subjektiven Zergliederung hervorgeht, ist die Welt auch für die durch objektive Betrachtung gewonnene mechanische Anschauung, welche statt Schall und Licht nur Schwingungen eines eigenschaftslosen, dort zur wägbaren, hier zur unwägbaren Materie gewordenen Urstoffes kennt.

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Aber wie wohlbegründet diese Vorstellungen im allgemeinen auch sind, zu ihrer Durchführung im einzelnen fehlt noch so gut wie alles. Der Stein der Weisen, der die heute noch unzerlegten Stoffe ineinander umwandelte und aus einem höheren Grundstoff, wenn nicht dem Urstoff selber, erzeugte, müßte gefunden sein, ehe die ersten Vermutungen über Entstehung scheinbar verschiedenartiger aus in Wirklichkeit unterschiedsloser Materie möglich würde. Der oben geschilderte Geist - er heiße fortan kurz der Laplacesche Geist 11 - würde dagegen diese Einsicht vollendet besitzen und danach könnte es scheinen, als sei zwischen ihm und uns kein Vergleich möglich. Doch ist der menschliche Geist vom Laplaceschen Geiste nur gradweise verschieden, etwa wie eine bestimmte Ordinate einer von Null ins Unendliche ansteigenden Kurve von einer zwar ausnehmend viel größeren, jedoch noch endlichen Ordinate derselben Kurve: Wir gleichen diesem Geist, denn wir begreifen ihn. Ja es ist die Frage, ob ein Geist wie Newtons von dem Laplaceschen Geiste sich viel mehr unterscheidet, als vom Geiste Newtons der Geist eines Australnegers, der nur bis drei, eines Buschmannes, der nur bis zwei zählt, oder eines Chiquitos, der gar keine Zahlwörter besitzt.12 Mit anderen Worten, die Unmöglichkeit, die Differentialgleichungen der Weltformel aufzustellen, zu integrieren und das Ergebnis zu diskutieren, ist keine in der Natur der Dinge begründete, sondern beruht auf der Unmöglichkeit, die nötigen tatsächlichen Bestimmungen zu erlangen, und, auch wenn dies möglich wäre, auf deren unermeßlicher, vielleicht unendlicher Ausdehnung, Mannigfaltigkeit und Verwickelung. Das Naturerkennen des Laplaceschen Geistes stellt somit die höchste denkbare Stufe unseres eigenen N aturerkennens vor, und bei der Untersuchung über die Grenzen dieses Erkennens können wir jenes zugrunde legen. Was der Laplacesche Geist nicht zu durchschauen vermöchte, das wird vollends unserem in so viel engeren Schranken eingeschlos~ senen Geiste verborgen bleiben. Zwei Stellen sind es nun, wo auch der Laplacesche Geist vergeblich trachten würde weiter vorzudringen, vollends wir 5tehen·zu bleiben. gezwungen sind. sg:

Erstens nämlich ist daran zu erinnern, daß das Naturerkennen, welches vorher als unser Kausalitätsbedürfnis vorläufig befriedigend bezeichnet wurde, in Wahrheit dies nicht tut und kein Erkennen ist. Die Vorstellung, wonach die Welt aus stets dagewesenen und unvergänglichen kleinsten Teilen besteht, deren Zentralkräfte alle Bewegung erzeugen, ist gleichsam nur Surrogat einer Erklärung. Sie führt, wie bemerkt, alle Veränderungen in der Körperwelt auf eine konstante Menge von Materie und ihr anhaftender Bewegungskraft zurück und läßt an den Veränderungen selber also nichts zu erklären übrig. Bei dem gegebenen Dasein jenes Konstanten können wir, der gewonnenen Einsicht froh, eine Zeitlang uns beruhigen; aber bald verlangen wir tiefer einzudringen, und es seinem Wesen nach zu begreifen. Da ergibt sich denn bekanntlich, daß zwar die atomistische Vorstellung für den Zweck unserer physikalisch-mathematischen Überlegungen brauchbar, ja mitunter unentbehrlich ist, daß sie aber, wenn die Grenzen der an sie zu stellenden Forderungen überschritten werden, als Korpuskularphilosophie in unlösliche Widersprüche führt. Ein physikalisches Atom, d. h. eine im Vergleich zu den Körpern, die wir handhaben, verschwindend klein gedachte, aber trotz ihrem Namen in der Idee noch teilbare Masse, welcher Eigenschaften oder ein Bewegungszustand zugeschrieben werden, wodurch das Verhalten einer aus unzähligen solchen Atomen bestehenden Masse sich erklärt, ist eine in sich folgerichtige und unter Umständen, beispielsweise in der Chemie, der mechanischen Gastheorie, äußerst nützliche Fiktion. In der mathematischen Physik wird übrigens deren Gebrauch neuerlich möglichst vermieden, indem man, statt auf diskrete Atome, auf Volumelemente der kontinuierlich gedachten Körper zurückgeht.13 Ein philosophisches Atom dagegen, d. h. eine angeblich nicht weiter teilbare Masse trägen wirkungslosen Substrates, von welcher durch den leeren Raum in die Ferne wirkende Kräfte ausgehen, ist bei näherer Betrachtung ein Unding. Denn soll das nicht weiter teilbare, träge, an sich unwirksame Substrat wirklichen Bestand haben, so muß es 60

einen gewissen noch so kleinen Raum erfüllen. Dann ist nicht zu begreifen, warum es nicht weiter teilbar sei. Auch kann es den Raum nur erfüllen, wenn es vollkommen hart ist, d. h. indem es durch eine an seiner Grenze auftretende, aber nicht darüber hinaus wirkende abstoßende Kraft, welche alsbald größer wird, als jede gegebene Kraft, gegen Eindringen eines anderen Körperlichen in denselben Raum sich wehrt. Abgesehen von anderen Schwierigkeiten, welche hieraus entspringen, ist das Substrat alsdann kein wirkungsloses mehr. Denkt man sich umgekehrt mit den Dynamisten als Substrat nur den Mittelpunkt der Zentralkräfte, so erfüllt das Substrat den Raum nicht mehr, denn der Punkt ist die im Raume vorgestellte Negation des Raumes. Dann ist nichts mehr da, wovon die Zentralkräfte ausgehen, und was träg sein könnte, gleich der Materie. Durch den leeren Raum in die Ferne wirkende Kräfte sind an sich unbegreiflich, ja widersinnig, und erst seit Newtons Zeit durch Mißverstehen seiner Lehre und gegen seine ausdrückliche Warnung, den Naturforschern eine geläufige Vorstellung geworden.14 Denkt man sich mit Descartes und Leibniz den ganzen Raum erfüllt und alle Bewegung durch Übertragung in Berührungsnähe erzeugt, so ist zwar das Entstehen der Bewegung auf ein unserer sinnlichen Anschauung vertrautes Bild zurückgeführt, aber es stellen sich andere Schwierigkeiten ein. Unter anderem war es bei dieser Vorstellung bisher nicht möglich, die verschiedene Dichte der Körper aus verschiedener Zusammenfügung des gleichartigen Urstoffes zu erklären. Es ist leicht, den Ursprung dieser Widersprüche aufzudecken. Sie wurzeln in unserem Unvermögen, etwas anderes, als mit den äußeren Sinnen entweder, oder mit dem inneren Sinn Erfahrenes uns vorzustellen. Bei dem Bestreben, die Körperwelt zu zergliedern, gehen wir aus von der Teilbarkeit der Materie, da sichtlich die Teile etwas Einfacheres und Ursprünglicheres sind, als das Ganze. Fahren wir in Gedanken mit Teilung der Materie immer weiter fort, so bleiben wir mit unserer Anschauung in dem uns angewiesenen Geleise, und fühlen uns in unserem Denken unbehindert. Zum Verständnis der Dinge tun wir

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keinen Schritt, da wir in der Tat nur das im Bereiche des Großen und Sichtbaren erscheinende auch im Bereiche des Kleinen und Unsichtbaren uns vorstellen. Wir kommen so zum Begriffe des physikalischen Atoms. Hören wir nun aber willkürlich irgendwo mit der Teilung auf, bleiben wir stehen bei vermeintlichen philosophischen Atomen, die nicht weiter teilbar, vollkommen hart und doch an sich wirkungslos und nur Träger von Zentralkräften sein sollen: so verlangen wir, daß eine Materie, die wiruns unterdemBilde der Materie denken, wie wir sie handhaben, neue, ursprüngliche, ihr eigenes Wesen aufklärende Eigenschaften entfalte, und dies ohne daß wir irgendein neues Prinzip einführten. So begehen wir den Fehler, der durch die vorher bloßgelegten Widersprüche sich äußert.t:> Niemand, der etwas tiefer nachgedacht hat, verkennt die transzendente Natur des Hindernisses, das hier sich uns entgegenstellt. Wie man es auch zu umgehen versuche, in der einen oder anderen Form stößt man darauf. Von welcher Seite, unter welcher Deckung man ihm sich nähere, man erfährt seine Unbesiegbarkeit. Die alten ionischen Physiologen standen davor nicht ratloser als wir. Alle Fortschritte der Naturwissenschaft haben nichts dawider vermocht, alle ferneren werden dawider nichts fruchten. Nie werden wir besser als heute wissen, was, wie Paul Erman zu sagen pflegte, "hier", wo Materie ist, "im Raume spukt". Denn sogar der Laplacesche über den unseren so weit erhabene Geist würde in diesem Punkte nicht klüger sein als wir, und daran erkennen wir verzweifelnd, daß wir hier an der einen Grenze unseres Witzes stehen. Übrigens böte die materielle Welt diesem Geiste noch ein unlösbares Rätsel. Zwar würde, wie wir sahen, seine Formel ihm den Urzustand der Dinge enthüllen. Träfe er aber die Materie vor unendlicher Zeit im unendlichen Raume ruhend und ungleich verteilt an, so wüßte er nicht, woher die ungleiche Verteilung; träfe er sie schon bewegt an, so wüßte er nicht, woher die Bewegung, welche ihm nur als zufälliger Zustand der Materie erscheint. In beiden Fällen bliebe sein Kausalitätsbedürfnis unbefriedigt. Vielleicht, ja wahrscheinlich, ist die schon von Aristoteles erörterte Frage nach dem Anfang der Bewegung einerlei mit 62:

der nach dem Wesen von Materie und Kraft. Weder läßt sich dies beweisen, noch wäre dem Laplaceschen Geist damit geholfen, da eben das Wesen von Materie und Kraft ihm verschlossen bleibt. Sehen wir aber von dem allen ab, setzen wir die bewegte Materie als gegeben voraus, so ist in der Idee, wie gesagt, die Körperwelt verständlich. Seit unendlicher Zeit geht im unendlichen Raume Verdichtung der scheinbar sich anziehenden Materie vor sich. Als verschwindender Punkt irgend wo im Weltall ballt sich da bei auch der kreisende Ne bei zusammen, aus welchem die von Hrn. Helmholtz mittels der mechanischen Wärmetheorie weitergeführte Kantsche Hypothese unser Planetensystem mit seiner erschöpfbaren, nie wiederkehrenden Wärmemitgift werden läßt.W Schon sehen wir unsere Erde als feurig flüssigen Tropfen, umhüllt mit einer Atmosphäre von unvorstellbarer Beschaffenheit, in ihrer Bahn rollen. Wir sehen sie im Lauf unermeßlicher Zeiträume mit einer Rinde erstarrenden Urgesteines sich umgeben, Meer und Feste sich scheiden, den Granit, durch heiße, kohlensaure Wolkenbrüche zerfressen, das Material zu kalihaltigen Erdschichten liefern und schließlich Bedingungen entstehen, unter denen Leben möglich ward. \\'o und in welcher Form es auf Erden zuerst erschien, ob als Protoplasmaklümpchen im Meer, oder an der Luft unter Mitwirkung der noch mehr ultraviolette Strahlen entsendenden Sonne bei noch höherem Kohlensäuregehalt der Atmosphäre; ob von anderen Weltkörpern her Lebenskeime zu uns herüberflogen;i' wer sagt es je? Aber der Laplacesche Geist im Besitze der Weltformel könnte es sagen. Denn beim Zusammentreten unorganischen Stoffes zu Lebendigem handelt es sich zunächst nur um Bewegung, um Anordnung von Molekeln in mehr oder minder festen Gleichgewichtslagen und um Einleitung eines Stoffwechsels, teils durch von außen überkommene Bewegung, teils durch Spannkräfte der mit Molekeln der Außenwelt in Wechselwirkung tretenden Molekeln des Lebewesens. Was das Lebende vom Toten, die Pflanze und das nur in seinen körperlichen Funktionen betrachtete Tier· vom Kristall unterscheidet, ist zuletzt dieses: im Kristall be-

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findet sich die Materie in stabilem Gleichgewichte, während durch das Lebewesen ein Strom von Materie sich ergießt, die Materie darin in mehr oder minder vollkommenem dynamischen Gleichgewichte 18 sich befindet, mit bald positiver, bald der Null gleicher, bald negativer Bilanz. Daher ohne Einwirkung äußerer Massen und Kräfte der Kristall ewig bleibt was er ist, dagegen das Lebewesen in seinem Bestehen von gewissen äußeren Bedingungen, den integrierenden oder Lebensreizen der älteren Physiologie, 19 abhängt, in sich potentielle Energie in kinetische verwandelt und umgekehrt, und einem bestimmten zeitlichen Verlauf unterliegt. Ohne grundsätzliche Verschiedenheit der Kräfte im Kristall und im Lebewesen erklärt sich so, daß beide miteinander inkommensurabel sind, wie ein bloßes Bauwerk inkommensurabel ist mit einer Fabrik, in welche hier Kohle, Wasser, Rohstoffe, aus welcher dort Kohlensäure, Wassergas, Rauch, Asche und Erzeugnisse ihrer Maschinen strömen. Das Bauwerk kann man sich aus lauter dem Ganzen ähnlichen Teilen so gefügt vorstellen, daß es gleich dem Kristall in ähnliche Teile spaltbar ist; die Fabrik ist gleich dem Organismus, wenn wir von dessen Aufbau aus Elementarorganismen und der Teilbarkeit mancher Organismen absehen, ein Individuum. Es ist daher ein Mißverständnis, im ersten Erscheinen lebender Wesen auf Erden oder auf einem anderen Weltkörper etwas Supernaturalistisches, etwas anderes zu sehen, als ein überaus schwieriges mechanisches Problem. Von den beiden Irrtümern, auf die ich hinweisen wollte, ist dies der eine, und ich halte nicht für geboten, von Ewigkeit her gleichsam eine kosmische Panspermie anzunehmen. Nicht hier ist die andere Grenze des Naturerkennens; hier nicht mehr als in der Kristallbildung. Könnten wir die Bedingungen herstellen, unter denen einst Lebewesen entstanden, wie wir dies für gewisse, nicht für alle Kristalle können, so würden nach dem Prinzipe des Aktualismus2o wie damals auch heute Lebewesen entstehen. Sollte es aber auch nie gelingen, Urzeugung zu beobachten, geschweige sie im Versuch herbeizuführen, so wäre doch hier kein unbedingtes Hindernis. Wären uns Materie und Kraft verständlich, die Welt hörte nicht auf begreiflich zu sein, wenn wir uns die 64

Erde (um nur sie zu nennen) von ihrem äquatorialen Smaragdgürtel bis zu den letzten flechtengrauen Polarklippen mit der üppigsten Fülle von Pflanzenleben überwuchert denken, gleichviel welchen Anteil an der Gestaltung des Pflanzenreiches man organischen Bildungsgesetzen, welchen der natürlichen Zuchtwahl einräume. Nur die zur Befruchtung vieler Pflanzen als unentbehrlich erkannte Beihilfe der Insektenwelt müssen wir aus Gründen, die bald einleuchten werden, in dieser Betrachtung beiseite lassen. Sonst bietet das reichste von Bernardin de St. Pierre, Alexander von Humboldt oder Pöppig entworfene Gemälde eines tropischen Urwaldes dem Blicke der theoretischen Naturforschung nichts dar, als bewegte Materie. Allein es tritt nunmehr, an irgendeinem Punkt der Entwickelung des Lebens auf Erden, den wir nicht kennen und auf dessen Bestimmung es hier nicht ankommt, etwas Neues, bis dahin Unerhörtes auf, etwas wiederum, gleich dem Wesen von Materie und Kraft, und gleich der ersten Bewegung, Unbegreifliches. Der in negativ unendlicher Zeit angesponnene Faden des Verständnisses zerreißt, und unser Naturerkennen gelangt an eine Kluft, über die kein Steg, kein Fittig trägt: wir stehen an der anderen Grenze unseres \Vitzes. Dies neue Unbegreifliche ist das Bewußtsein. Ich werde jetzt, wie ich glaube, in sehr zwingender Weise dartun, daß nicht allein bei dem heutigen Stand unserer Kenntnis das Bewußtsein aus seinen materiellen Bedingungen nicht erklärbar ist, was wohl jeder zugibt, sondern daß es auch der Natur der Dinge nach aus diesen Bedingungen nicht erklärbar sein wird. Die entgegengesetzte Meinung, daß nicht alle Hoffnung aufzugeben sei, das Bewußtsein aus seinen materiellen Bedingungen zu begreifen, daß dies vielmehr im Laufe der Jahrhunderte oder Jahrtausende dem alsdann in ungeahnte Reiche der Erkenntnis vorgedrungenen Menschengeiste wohl gelingen könne: dies ist der zweite Irrtum, den ich in diesem Vortrage bekämpfen will. Ich gebrauche dabei absichtlich den Ausdruck "Bewußtsein", weil es hier nur um die Tatsache eines geistigen Vorganges irgendeiner, sei es der niedersten Art, sich handelt.

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Man braucht nicht Watt sein Parallelogramm erdenkend, nicht Shakespeare, Raphael, M ozart in der wunderbarsten ihrer Schöpfungen begriffen sich vorzustellen, um das Beispiel eines aus seinen materiellen Bedingungen und erklärbaren geistigen Vorganges zu haben. In der Hauptsache ist die erhabenste Seelentätigkeit nicht unbegreiflicher aus materiellen Bedingungen, als das Bewußtsein auf seiner ersten Stufe, der Sinnesempfindung. Mit der ersten Regung von Behagen oder Schmerz, die im Beginn des tierischen Lebens auf Erden ein einfachstes Wesen empfand, oder mit der ersten Wahrnehmung einer Qualität, ist jene unübersteigliche Kluft gesetzt, und die Welt nunmehr doppelt unbegreiflich geworden. Über wenig Gegenstände wurde anhaltender nachgedacht, mehr geschrieben, leidenschaftlicher gestritten, als über Verbindung von Leib und Seele im Menschen. Alle philosophischen Schulen, dazu die Kirchenväter, haben darüber ihre Lehrmeinungen gehabt. Die neuere Philosophie kümmert sich weniger um diese Frage; um so reicher sind deren Anfänge im siebzehnten Jahrhundert an Theorien über die Wechselwirkung von Materie und Geist. Descartes selber hatte sich die Möglichkeit, diese \Vechselwirkung zu begreifen, durch zwei Aufstellungen Yorweg abgeschnitten. Erstens behauptete er, daß Körper und Geist verschiedene Substanzen, durch Gottes Allmacht vereinigt, seien, welche, da der Geist als unkörperlich keine Ausdehnung habe, nur in einem Punkt, und zwar in der sogenannten Zirbeldrüse des Gehirnes, einander berühren.21 Er behauptete zweitens, daß die im Weltall vorhandene Bewegungsgröße beständig sei.22 Je sicherer daraus die Unmöglichkeit zu folgen scheint, daß die Seele Bewegung der Materie erzeuge, um so mehr erstaunt man, wenn nun Descartes, um die Willensfreiheit zu retten, die Seele einfach die Zirbeldrüse in dem nötigen Sinne bewegen läßt, damit die tierischen Geister, wir würden sagen, das Nervenprinzip, den richtigen Muskeln zuströmen. Umgekehrt die durch Sinneseindrücke erregten tierischen Geister bewegen die Zirbeldrüse, und die mit dieser verbundenen Seele merkt die Bewegung.:!3

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Descartes' unmittelbare Nachfolger, Clauberg,24 Malebranche,25 Geulincx,26 bemühen sich, einen so offenbaren Mißgriff zu verbessern. Sie halten fest an der Unmöglichkeit einer Wechselwirkung von Geist und Materie, als von zwei verschiedenen Substanzen. Um aber zu verstehen, wie dennoch die Seele den Körper bewege, und umgekehrt von ihm erregt werde, nehmen sie an, daß das Wollen der Seele Gott veranlasse, den Körper jedesmal nach Wunsch der Seele zu bewegen, und daß umgekehrt die Sinneseindrücke ihn veranlassen, die Seele jedesmal in Übereinstimmung damit zu verändern. Die Causa efficiens der Veränderungen des Körpers durch die Seele und der Seele durch den Körper ist also stets nur Gott; das Wollen der Seele und die Sinneseindrücke sind nur die Causae occasionales für die unaufhörlich erneuten Eingriffe seiner Allmacht. Leibniz endlich pflegte dies Problem mittels des von Geulincx zuerst darauf angewandten Bildes zweier Uhren zu erläutern, die gleichen Gang zeigen sollen.27 Auf dreierlei Art, sagt er, könne dies geschehen. Erstens können beide Uhren durch Schwingungen, die sie einer gemeinsamen Befestigung mitteilen, einander so beeinflussen, daß ihr Gang derselbe werde, wie dies Huygens beobachtet habe.~~' Zweitens könne stets die eine Uhr gestellt werden, um sie in gleichem Gange mit der anderen zu erhalten. Drittens könne von vornherein der Künstler so geschickt gewesen sein, daß er beide Uhren, obschon ganz unabhängig voneinander, gleichgehend gemacht habe. Zwischen Leib und Seele sei die erste Art der Verbindung anerkannt unmöglich. Die zweite, der occasionalistischen Lehre entsprechende, sei Gottes unwürdig, den sie als Deus ex machina mißbrauche. So bleibe nur die dritte übrig, in der man Leibniz' eigene Lehre von der prästabilierten Harmonie wiedererkennt.29 Allein diese und ähnliche Betrachtungen sind in den Augen der neueren Naturforschung entwertet und der Wirkung auf die heutigen Ansichten beraubt durch die dualistische Grundlage, auf welche sie, gemäß ihrem halb theologischen Ursprunge, gleich anfangs sich stellen. Ihre Urheber gehen aus von der Annahme einer vom Körper unbedingt verschiedenen geistigen Substanz, der Seele, 67

deren Verbindung mit dem Körper sie untersuchen. Sie finden, daß eine Verbindung beider Substanzen nur durch ein Wunder möglich ist, und daß, auch nach diesem ersten \Vunder, ein ferneres Zusammengehen beider Substanzen nicht anders stattfinden kann, als wiederum durch ein entweder stets erneutes oder seit der Schöpfung fortwirkendes Wunder. Diese Folge nun geben sie für eine neue Einsicht aus, ohne hinreichend zu prüfen, ob nicht sie selber vielleicht sich die Seele erst so zurechtgemacht haben, daß eine Wechselwirkung zwischen ihr und dem Körper undenkbar ist. Mit einem Wort, der gelungenste Beweis, daß keine Wechselwirkung von Körper und Seele möglich sei, läßt dem Zweifel Raum, ob nicht die Prämissen willkürlich seien, und ob nicht Bewußtsein einfach als Wirkung der ~Iaterie gedacht und vielleicht begriffen werden könne. Für den Naturforscher muß daher der Beweis, daß die geistigen Vorgänge aus ihren materiellen Bedingungen nie zu begreifen sind, unabhängig von jeder Voraussetzung über den Urgrund jener Vorgänge geführt werden. Ich nenne astronomische Kenntnis eines materiellen Systems solche Kenntnis aller seiner Teile, ihrer gegenseitigen Lage und ihrer Bewegung, daß ihre Lage und Bewegung zu irgend einer vergangeneu und zukünftigen Zeit mit derselben Sicherheit berechenet werden kann, wie Lage und Bewegung der Himmelskörper bei vorausgesetzter unbedingter Schärfe der Beobachtungen und Vollendung der Theorie. Dazu gehört, daß man kenne 1. die Gesetze, nach welchen die zwischen den Teilen des Systemes wirksamen Kräfte sich mit der Entfernung ändern; 2. die Lage der Teile des Systemes in zwei durch ein Zeitdifferential getrennten Augenblicken, oder, was auf dasselbe hinausläuft, die Lage der Teile und ihre nach drei Achsen zerlegte Geschwindigkeit zu einer bestimmten Zeit.30 Astronomische Kenntnis eines materiellen Systemes ist bei unserer Unfähigkeit, Materie und Kraft zu begreifen, die vollkommenste Kenntnis, die wir von dem System erlagen können. Es ist die, wobei unser Kausalitätstrieb sich zu beruhigen gewohnt ist, und welche der Laplacesche Geist selber bei gehörigem Gebrauche seiner Weltformel von dem System besitzen würde.

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Denken wir uns nun, wir hätten es zur astronomischen Kenntnis eines Muskels, einer Drüse, eines elektrischen oder Leuchtorgenes in Verbindung mit den zugehörigen gereizten Nerven, einer Flimmerzelle, einer Pflanze, des Eies in Berührung mit dem Samen oder auf irgendeiner Stufe der Entwicklung gebracht. Alsdann besäßen wir also von diesen materiellen Systemen die vollkommenste uns mögliche Kenntnis, unser Kausalitätstrieb wäre soweit befriedigt, daß wir nur noch verlangten, das Wesen von Materie und Kraft selber zu begreifen. Muskelverkürzung, Absonderung in der Drüse, Schlag des elektrischen, Leuchten des Leuchtorganes, Flimmerbewegung, Wachstum und Chemismus der Zellen in der Pflanze, Befruchtung und Entwickelung des Eies: alle diese jetzt fast hoffnungslos dunklen Vorgänge wären uns so durchsichtig, wie die Bewegungen der Planeten. Machen wir dagegen dieselbe Voraussetzung astronomischer Kenntnis für das Gehirn des Menschen, oder auch nur für das Seelenorgan des niedersten Tieres, dessen geistige Tätigkeit auf Empfinden von Lust und Unlust oder auf Wahrnehmung einer Qualität sich beschränken mag, so wird zwar in bezug auf alle darin stattfindenden materiellen Vorgänge unser Erkennen ebenso vollkommen sein und unser Kausalitätstrieb ebenso befriedigt sich fühlen, wie in bezug auf Zuckung oder Absonderung bei astronomischer Kenntnis von Muskel und Drüse. Die unwillkürlichen und nicht notwendig mit Empfindung verbundenen Wirkungen der Zentralteile, Reflexe, Mitbewegung, Atembewegungen, Tonus, der Stoffwechsel des Gehirnes und Rückenmarkes u. d. m. wären erschöpfend erkannt. Auch die mit geistigen Vorgängen der Zeit nach stets, also wohl notwendig zusammenfallenden materiellen Vorgänge wären ebenso vollkommen durchschaut. Und es wäre natürlich ein hoher Triumph, wenn wir zu sagen wüßten, daß bei einem bestimmten geistigen Vorgang in bestimmten Ganglienzellen und Nervenfasern eine bestimmte Bewegung bestimmter Atome stattfinde. Es wäre grenzenlos interessant, wenn wir so mit geistigem Auge in uns hineinblickend die zu einem Rechenexempel gehörige Hirnmechanik sich abspielen sähen wie die Mechanik einer 9

Wollgast, Philosophie

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Rechenmaschine; oder wenn wir auch nur wüßten, welcher Tanz von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff, Phosphor- und anderen Atomen der Seligkeit musikalischen Empfindens, welcher Wirbel solcher Atome dem Gipfel sinnlichen Genießens, welcher Molekularsturm dem wütenden Schmerz beim Mißhandeln des N. trigeminus31 entspricht. Die Art des geistigen Vergnügens, welche die durch Hrn. F echner geschaffenen Anfänge der Psychophysik oder Hrn. Donders' Messungen der Dauer einfacherer Seelenhandlungen uns bereiten, läßt uns ahnen, wie solche unverschleierte Einsicht in die materiellen Bedingungen geistiger Vorgänge uns erbauen würde. Was aber die geistigen Vorgänge selber betrifft, so zeigt sich, daß sie bei astronomischer Kenntnis des Seelenorgans uns ganz ebenso unbegreiflich wären, wie jetzt. Im Besitze dieser Kenntnis ständen wir vor ihnen wie heute als vor einem völlig Unvermittelten. Die astronomische Kenntnis des Gehirnes, die höchste, die wir davon erlangen können, enthüllt uns darin nichts als bewegte Materie. Durch keine zu ersinnende Anordnung oder Bewegung materieller Teilchen aber läßt sich eine Brücke ins Reich des Bewußtseins schlagen. Bewegung kann nur Bewegung erzeugen, oder in potentielle Energie zurück sich verwandeln. Potentielle Energie kann nur Bewegung erzeugen, statisches Gleichgewicht erhalten, Druck oder Zug üben. Die Summe der Energie bleibt dabei stets dieselbe. Mehr als dies Gesetz bestimmt, kann in der Körperwelt nicht geschehen, auch nicht weniger; die mechanische Ursache geht rein auf in der mechanischen Wirkung. Die neben den materiellen Vorgängen im Gehirn einhergehenden geistigen Vorgänge entbehren also für unseren Verstand des zureichenden Grundes. Sie stehen außerhalb des Kausalgesetzes, und schon darum sind sie nicht zu verstehen, so wenig, wie ein Jl obile perpetuum es wäre. Aber auch sonst sind sie unbegreiflich. Es scheint zwar bei oberflächlicher Betrachtung, als könnten durch die Kenntnis der materiellen Vorgänge im Gehirn gewisse geistige Vorgänge und Anlagen uns verständlich werden. Ich rechne dahin das Gedächtnis, den Fluß und die Assoziation der Vorstellungen, die Folgen der 70

Übung, die spezifischen Talente u. d. m. Das geringste Nachdenken lehrt, daß dies Täuschung ist. Nur über gewisse innere Bedingungen des Geisteslebens, welche mit den äußeren durch die Sinneseindrücke gesetzten etwa gleichbedeutend sind, würden wir unterrichtet sein, nicht über das Zustandekommen des Geisteslebens durch diese Bedingungen. Welche denkbare Verbindung besteht zwischen bestimmten Bewegungen bestimmter Atome in meinem Gehirn einerseits, andererseits den für mich ursprünglichen, nicht weiter definierbaren, nicht wegzuleugnenden Tatsachen: "Ich fühle Schmerz, fühle Lust; ich schmecke Süßes, rieche Rosenduft, höre Orgelton, sehe Rot" und der ebenso unmittelbar daraus fließenden Gewißheit: "Also bin ich"? :12 Es ist eben durchaus und für immer unbegreiflich, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen nicht sollte gleichgültig sein, wie sie liegen und sich bewegen, wie sie lagen und sich bewegten, wie sie liegen und sich bewegen werden. Es ist in keiner Weise einzusehen, wie aus ihrem Zusammensein Bewußtsein entstehen könne. Sollte ihre Lagerungsund Bewegungsweise ihnen nicht gleichgültig sein, so müßte man sie sich nach Art der Monaden schon einzeln mit Bewußtsein ausgestattet denken. Weder wäre damit das Bewußtsein überhaupt erklärt, noch für die Erklärung des einheitlichen Bewußtseins des Individuums das Mindeste gewonnen.33 Es ist also grundsätzlich unmöglich, durch irgendeine mechanische Kombination zu erklären, warum ein Akkord Königscher Stimmgabeln mir wohl-,34 und warum Berührung mit glühendem Eisen mir wehtut. Kein mathematisch überlegender Verstand könnte aus astronomischer Kenntnis des materiellen Geschehens in beiden Fällen a priori bestimmen, welcher der angenehme und welcher der schmerzhafte Vorgang sei. Daß es vollends unmöglich sei, und stets bleiben werde, höhere geistige Vorgänge aus der als bekannt vorausgesetzten Mechanik der Hirnatome zu verstehen, bedarf nicht der Ausführung. Doch ist, wie schon bemerkt, gar nicht nötig, zu höheren Formen geistiger Tätigkeit zu greifen, um das Gewicht unserer Betrachtung 71

zu vergrößern. Sie gewinnt gerade an Eindringlichkeit durch den Gegensatz zwischen der vollständigen Unwissenheit, in welcher astronomische Kenntnis des Gehirnes uns über das Zustandekommen auch der niedersten geistigen Vorgänge ließe, und der durch solche Kenntnis gewährten ebenso vollständigen Enträtselung der höchsten Probleme der Körperwelt. Ein aus irgendeinem Grunde bewußtloses, z. B. ohne Traum schlafendes Gehirn, astronomisch durchschaut, enthielte kein Geheimnis mehr, und bei astronomischer Kenntnis auch des übrigen Körpers wäre die ganze menschliche Maschine, mit ihrem Atmen, ihrem Herzschlag, ihrem Stoffwechsel, ihrer Wärme usf., bis auf das Wesen von Materie und Kraft völlig entziffert. Der traumlos Schlafende ist begreiflich, so weit wie die Welt, ehe es Bewußtsein gab. Wie aber mit der ersten Regung von Bewußtsein die Welt doppelt unbegreiflich ward, so wird auch der Schläfer es wieder mit dem ersten ihm dämmernden Traumbild. Der unlösliche \;v"iderspruch, in welchem die mechanische Weltanschauung mit der Willensfreiheit und dadurch unmittelbar mit der Ethik steht, ist sicher von großer Bedeutung. Der Scharfsinn der Denker aller Zeiten hat sich daran erschöpft, und wird fortfahren, daran sich zu üben. Abgesehen davon, daß Freiheit sich leugnen läßt, Schmerz und Lust nicht, geht dem Begehren, welches den Anstoß zum Handeln und somit erst Gelegenheit zum Tun oder Lassen gibt, notwendig Sinnesempfindung voraus. Es ist also das Problem der Sinnesempfindung, und nicht, wie ich einst sagte, das der Willensfreiheit, bis zu dem die analytische Mechanik reicht.3:> Damit ist die andere Grenze unseres Naturerkennens bezeichnet. Nicht minder als die erste ist sie eine unbedingte. Nicht mehr als im Verstehen von Kraft und l\Iaterie hat im Verstehen der Geistestätigkeit aus materiellen Bedingungen die Menschheit seit zweitausend ] ahren, trotz allen Entdeckungen der Naturwissenschaft, einen wesentlichen Fortschritt gemacht. Sie wird es nie. Sogar der Laplacesche Geist mit seiner Weltformel gliche in seinen Anstrengungen, über diese Schranke sich fort72

zuheben, einem nach dem :\Ionde trachtenden Luftschiffer. In seiner aus bewegter 1\-Iaterie aufgebauten Welt regen sich zwar die Hirnmolekeln wie in stummem Spiel. Er übersieht ihre Scharen, er durchschaut ihre Verschränkungen, und Erfahrung lehrt ihn ihre Gebärde dahin auslegen, daß sie diesem oder jenem geistigen Vorgang entspreche; aber warum sie dies tue, weiß er nicht. Zwischen bestimmter Lage und Bewegung gewisser Atome eigenschaftsloser Materie in der Sehsinnsubstanz und dem Sehen ist so wenig Beziehung wie zwischen einem ähnlichen Hergang in der Gehörsinnsubstanz und dem Hören, einem dritten in der Geruchsinnsubstanz und dem Riechen, usw., und darum bleibt, wie wir vorhin sahen, die objektive Welt des Laplaceschen Geistes eigenschaftslos.36 An ihm haben wir das Maß unserer eigenen Befähigung oder vielmehr unserer Ohnmacht. Unser Naturerkennen ist also eingeschlossen zwischen den beiden Grenzen, welche einerseits die Unfähigkeit, Materie und Kraft, andererseits das Unvermögen, geistige Vorgänge aus materiellen Bedingungen zu begreifen, ihm ewig stecken. Innerhalb dieser Grenzen ist der Naturforscher Herr und Meister, zer" gliedert er und baut er auf, und niemand weiß,. wo die Schranke seines Wissens und seiner Macht liegt; über diese Grenzen hinaus kann er nicht, und wird er niemals können. Je unbedingter aber der Naturforscher die ihm gesteckten Grenzen anerkennt, und je demütiger er in seine Cnwissenheit sich schickt, um so tiefer fühlt er das Recht, mit voller Freiheit, unbeirrt durch Mythen, Dogmen und alterstolze Philosopheme, auf dem Wege der Induktion seine eigene Meinung über die Beziehung zwischen Geist und Materie sich zu bilden.37 Er sieht in tausend Fällen materielle Bedingungen das Geistesleben beeinflussen. Seinem unbefangenen Blicke zeigt sich kein Grund zu bezweifeln, daß wirklich die Sinneseindrücke sich der sogenannten Seele mitteilen. Er sieht den menschlichen Geist gleichsam mit dem Gehirne wachsen und, nach der empiristischen Theorie, die wesentlichen Formen seines Denkens sogar erst durch äußere Wahrnehmungen sich aneignen. In Schlaf und Traum; in der Ohnmacht, dem Rausch und der Narkose; in der

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Epilepsie, dem Wahn- und Blödsinn, dem Kretinismus und der .Mikrocephalie; in der Inanition:l!', dem Fieber, dem Delirium, der Entzündung des Gehirns und seiner Häute, genug in unzähligen teils noch in die Breite der Gesundheit fallenden, teils krankhaften Zuständen zeigt sich dem Naturforscher die geistige Tätigkeit abhängig von der dauernden oder vorübergehenden Beschaffenheit des Seelenorgans. Kein theologisches Vorurteil hindert ihn wie Descartes, in den Tierseelen der Menschenseele verwandte, stufenweise minder vollkommene Glieder einer und derselben Entwickelungsreihe zu erblicken. Vielmehr halten bei den Wirbeltieren die Hirnteile, in welche auch physiologische Versuche und pathologische Erfahrungen den Sitz höherer Geistestätigkeit verlegen, ihrer Entwickelung nach gleichen Schritt mit der Steigerung dieser Tätigkeit. Wo von den anthropoiden Affen zum Menschen die geistige Befähigung den durch den Besitz der Sprache bezeichneten Sprung macht, findet sich ein entsprechender Sprung der Hirnmasse vor. Die verschiedene Anordnung derselben Elementarteile, Ganglienzellen und Nervenfasern, bei Wirbeltieren und Wirbellosen belehrt aber den Naturforscher, daß es hier wie bei anderen Organen weniger auf die Architektur, als auf die Strukturelemente ankommt. Mit ehrfurchtsvollem Staunen betrachtet er das mikroskopische Klümpchen Nervensubstanz, welches der Sitz der arbeitsamen, baulustigen, ordnungliebenden, pflichttreuen, tapferen Ameisenseele ist.39 Endlich die Deszendenztheorie im Verein mit der Lehre von der natürlichen Zuchtwahl drängt ihm die Vermutung auf, daß die Seele als allmähliches Ergebnis gewisser materieller Kombinationen entstanden sei und vielleicht gleich anderen erblichen, im Kampf ums Dasein dem Einzelwesen nützlichen Gaben durch eine zahllose Reihe von Geschlechtern sich gesteigert und vervollkommnet habe.t.o Wenn nun die alten Denker jede Wechselwirkung zwischen Leib und Seele, wie sie diese sich vorstellten, als unverständlich und unmöglich erkannten, und wenn nur durch prästabilierte Harmonie das Rätsel des dennoch stattfindenden Zusammengehens beider Substanzen zu lösen ist, so wird wohl die Vorstellung, die sie, in Schul-

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begriffen befangen, von der Seele sich machten, falsch gewesen sein. Die Notwendigkeit einer der Wirklichkeit so offenbar zuwiderlaufenden Schlußfolge ist gleichsam ein apagogischer4t Beweis gegen die Richtigkeit der dazu führenden Voraussetzung. Um bei dem "Uhrengleichnis" stehen zu bleiben, sollte nicht die einfachste Lösung der Aufgabe die von Leibniz vorweg verworfene"2 vierte Möglichkeit sein, daß die beiden Uhren, deren Zusammengehen erklärt werden soll, im Grunde nur eine sind? Ob wir die geistigen Vorgänge aus materiellen Bedingungen je begreifen werden, ist eine Frage, ganz verschieden von der, ob diese Vorgänge das Erzeugnis materieller Bedingungen sind. Jene Frage kann verneint werden, ohne daß über diese etwas ausgemacht, geschweige auch sie verneint würde. An der oben angeführten Stelle sagt Leibniz, der dem menschlichen Geist unvergleichlich überlegene, aber endliche Geist, dem er Sinne und technisches Vermögen von entsprechender Vollkommenheit zuschreibt, könnte einen Körper bilden, der die Handlungen eines Menschen nachahmte. Daß er einen Menschen bilden könnte, sagt er nicht, weil in seinem Sinne dem Automaten von Fleisch und Bein, den er, wie Descartes die Tiere, sich seelenlos vorstellt, zum Menschen noch die mechanisch unfaßbare Seelenmonade fehlt. Der Unterschied zwischen der Leibnizschen und unserer Anschauung wird hieran besonders klar. ~Ian denke sich alle Atome, aus denen Caesar in einem gegebenen Augenblick, am Rubicon etwa, bestand, durch mechanische Kunst mit einem Schlage jedes an seinen Ort gebracht und mit seiner Geschwindigkeit im richtigen Sinne versehen. Nach unserer Anschauung wäre dann Caesar geistig wie körperlich wieder hergestellt. Der künstliche Caesar hätte im ersten Augenblick dieselben Empfindungen, Strebungen, Vorstellungen wie sein Vorbild am Rubicon und teilte mit ihm seine Gedächtnisbilder, ererbten und erworbenen Fähigkeiten usf. Man denke sich das gleiche Kunststück im gleichen Augenblicke mit einer gleichen Zahl anderer Kohlenstoff-, Wasserstoff- usw. Atome ein-, zwei-, mehreremal ausgeführt. Worin sonst unterschieden sich im ersten Augenblick der neue Caesar und seine Doppelgänger, als in dem Ort, an dem sie wären

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zusammengesetzt worden? Aber der von Leibniz gedachte Geist, der den neuen Caesar und seine mehreren Sosia gebildet hätte, verstände gleichwohl nicht, wie die von ihm selber richtig angeordneten und im richtigen Sinne mit der richtigen Geschwindigkeit fortgeschnellten Atome deren Seelentätigkeit vermitteln. Man erinnert sich Hrn. Carl Vogts kecken Ausspruches, der in den fünfziger Jahren zu einer Art von Turnier um die Seele Anlaß gab: "daß alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen Seelentätigkeiten begreifen, nur Funktionen des Gehirns sind, oder, um es einigermaßen grob auszudrücken, daß die Gedanken etwa in demselben Verhältnisse zum Gehirn stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren. "43 Die Laien stießen sich an diesem Vergleiche, der im wesentlichen schon bei Cabanis sich findet,44 weil ihnen die Zusammenstellung der Gedanken mit der Absonderung der Nieren entwürdigend schien. Die Physiologie kennt indes solche ästhetischen Rangunterschiede nicht. Ihr ist die Nierenabsonderung ein wissenschaftlicher Gegenstand von ganz gleicher Würde mit der Erforschung des Auges oder Herzens oder sonst eines der gewöhnlich sogenannten edleren Organe. Auch das ist am "Sekretionsgleichnis" schwerlich zu tadeln, daß darin die Seelentätigkeit als Erzeugnis der materiellen Bedingungen im Gehirn hingestellt wird. Fehlerhaft dagegen erscheint, daß es die Vorstellung erweckt, als sei die Seelentätigkeit aus dem Bau des Gehirns ihrer Natur nach so begreiflich, wie die Absonderung aus dem Bau der Drüse. Wo es an den materiellen Bedingungen für geistige Tätigkeit in Gestalt eines Nervensystems gebricht, wie in den Pflanzen, kann der Naturforscher ein Seelenleben nicht zugeben, und nur selten stößt er hierin auf Widerspruch. Was aber wäre ihm zu erwidern, wenn er, bevor er in die Annahme einer Weltseele willigte, verlangte, daß ihm irgendwo in der Welt, in Neuroglia45 gebettet, mit warmem arteriellem Blut unter richtigem Drucke gespeist und mit angemessenen Sinnesnerven und Organen versehen, ein dem geistigen Vermögen solcher Seele an Umfang entsprechendes Konvolut von Ganglienzellen und Nervenfasern gezeigt würde?

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Schließlich entsteht die Frage, ob die beiden Grenzen unseres Naturerkennens nicht vielleicht die nämlichen seien, d. h. ob, wenn wir das Wesen von Materie und Kraft begriffen, wir nicht auch verständen, wie die ihnen zugrunde liegende Substanz unter bestimmten Bedingungen empfindet, begehrt und denkt. Freilich ist diese Vorstellung die einfachste, und nach bekannten Forschungsgrundsätzen bis zu ihrer Widerlegung der vorzuziehen, wonach, wie vorhin gesagt wurde, die Welt doppelt unbegreiflich erscheint. Aber es liegt in der Natur der Dinge, daß wir auch in diesem Punkte nicht zur Klarheit kommen, und alles weitere Reden darüber bleibt müßig. Gegenüber den Rätseln der Körperwelt ist der Naturforscher längst gewöhnt, mit männlicher Entsagung sein "Ignoramus" auszusprechen. Im Rückblick auf die durchlaufene siegreiche Bahn trägt ihn dabei das stille Bewußtsein, daß, wo er jetzt nicht weiß, er wenigstens unter Umständen wissen könnte und dereinst vielleicht wissen wird. Gegenüber dem Rätsel aber, was Materie und Kraft seien, und wie sie zu denken vermögen, muß er ein für allemal zu dem viel schwerer abzugebenden Wahrspruch sich entschließen:

"Ignorabimus".

La Mettrie In der Friedrichs-Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 28. Januar 1875 gehaltene Redet

Wir haben allen Glanz der Heiligkeit Hin weggeworfen, Wir haben jegliche Verstellung weit Hinweggeworfen ... \Vir haben, der Narzisse deines Aug~ Die See!' empfehlend, All anderer Hoffnung Trost und Süßigkeit Hin weggeworfen. Hafis von Daumer2

Außerordentliche Menschen sind nicht nur selber unerschöpfliche Gegenstände der Betrachtung, sondern die Teilnahme, welche sie erregen, erstreckt sich auch auf die Gestalten, die sie in engeren oder weiteren Kreisen umgaben und gleichsam ihr geschichtliches Gefolge bilden. Als ich das erste Mal die Ehre hatte, Friedrich den Großen an diesem Gedenktage zu feiern, wagte ich, in Verbindung mit Friedrich die Erinnerung an Voltaire zu erneuern.:J Angesichts der Geringschätzung, der Voltaire bei uns anheimgefallen war, lag hierin damals eine gewisse Kühnheit. Auch stieß meine Auffassung auf manchen Widerspruch; aber mein Vorgehen zugunsten Voltair es wurde seitdem glänzend gerechtfertigt. Bald darauf unternahm es David Friedrich Strauß, im Dienst einer erleuchteten Fürstin, die in Deutschland lange verkannte literarische, philosophische und kulturgeschichtliche Bedeutung V oltaires wieder zur Geltung zu bringen, 4 und von diesem Zeitpunkt her schreibt sich bei uns eine richtigere Würdigung des großen Franzosen. 79

Ähnliches, nicht Gleiches; setze ich mir heute vor. Voltaire war der geistige Beherrscher seines Zeitalters, in gewissem . Sinne Friedrich ebenbürtig, und ich durfte Friedrich und Voltaire Zwillingssonnen eines Doppelsternes nennen. Der Mann, von dem ich heute reden will, muß im Vergleich zu Voltaire sich mit dem Rang eines lichtschwachen Kometen begnügen, der in der Nähe der Sonne wohl an Glanz gewinnt, zugleich aber in ihren Strahlen verschwindet. Ich würde nicht erstaunen, wenn bei manchen eine Bewegung des Befremdens die Nennung seines einst allgemein bekannten, seitdem fast vergessenen Namens begleitete. Ich meine La ]fettrie, den Verfasser des berüchtigten Homme machine. Seit hundertzwanzig Jahren ist es Sitte, auf La 11,{ ettrie als auf ein räudiges Schaf in Friedrichs Freundeskreise, als auf eine verfehlte Wahl des sonst so richtig urteilenden Königs hinzuweisen. Die Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, wie sie gewöhnlich dargestellt \Yird, kennt La JJ ettrie nur als frechsten Vertreter einer verabscheuungswürdigen Zeitrichtung. Rousseau und Voltaire, Diderot und d' Alembert mögen ihr gefährlicher erscheinen; um so verächtlicher ist ihr La M ettrie. Rohester Materialismus, dreistester Atheismus, schamloseste Verneinung aller Grundlagen, auf denen Sittenlehre und Gesellschaft ruhen, werden ihm als Schriftsteller vorgeworfen, während man ihn im Leben als einen der gröbsten sinnlichen Genüssen ergebenen Wüstling schildert, dem Völlerei frühen Tod zuzog. Schon in dieser Rücksicht scheint es angemessen, bei einer Friedrich gewidmeten wiederkehrenden Betrachtung auch einmal La Mettries zu gedenken, um die in seiner \"erdammung enthaltene stillschweigende Anklage wider seinen königlichen Gönner auf ihr richtiges Maß zurückzuführen. Ohnehin wird mein Vorhaben dadurch gerechtfertigt, daß La M ettrie Mitglied dieser Akademie war, und daß nach seinem Tode Friedrich das von ihm, dem Könige, verfaßte Eloge La Jfettries in einer der heutigen entsprechenden öffentlichen Sitzung der Akademie, am 19. Januar 1752, verlesen ließ ..> Ein ~Iann, den so zu ehren Fried#ich für gut befand, kann kein so unbedeutender, auch kein so ver80

worfener Mann gewesen sein, wie Leute versichern, die nie eine Zeile von ihm lasen. Im gewaltigen Geisteskampfe des achtzehnten Jahrhunderts gebührt vielmehr La M ettrie ein bestimmter Platz, den näher zu bezeichnen wohl der Mühe lohnt. Wie seine Lebensgeschichte mit der mehrerer seiner bedeutendsten Zeitgenossen verflochten ist, so greift die Geschichte seiner Lehrmeinungen tief ein in die der französischen Aufklärung und Philosophie. Überdies einer der durch Hrn. Menzels Pinsel so wunderbar wiedererweckten geistsprühenden Tafelrunde von Sanssouci,6 versetzt uns La Mettrie in jene schöne Lebenszeit Friedrichs zwischen dem zweiten Schlesischen und dem Siebenjährigen Kriege, von der zu hören nun schon vier Menschenalter nicht müde wurden, da Friedrich, selber noch jung und umgeben von den Freunden seiner Jugend, aber schon mit kriegerischem und literarischem Lorbeer geschmückt, gleich der Sonne an einem Sommermorgen strahlte, ehe noch das heraufziehende Unwetter seine finsteren Schatten über die Landschaft deckt. Ja noch mehr, hier ist eine Pflicht geschichtlicher Gerechtigkeit zu erfüllen. Die lange allgemein verbreitete 1\Ieinung über La Mettrie enthält wohl ein Stück Wahrheit. Allein zum größeren Teil ist sie falsch, nachweislich gefälscht durch persönliche Leidenschaft und durch Parteivorurteile. Es ist sehr an der Zeit, diese Meinung gemäß der heutigen wissenschaftlichen Einsicht zu berichtigen, damit die Geschichte der Naturforschung und Philosophie aufhöre, hier durch Gouvernantenmoral und Priesterfanatismus sich ihr Urteil vorschreiben zu lassen. Und es kann nicht schaden, daß auch an dieser Stelle solche Ehrenrettung stattfinde. Denn, wie es zu gehen pflegt, es wendet sich jetzt mit einem Male von mehreren Seiten die geschichtliche Betrachtung diesem Punkte zu. Das Verdienst, zuerst La M ettrie richtiger beurteilt und sein Hauptwerk halber Vergessenheit entrissen zu haben, gebührt meines Wissens Hrn. ]ules Assezat in Paris, der 1865 L'Homme machine als zweites Bändchen einer Singularites physiologiques betitelten Reihe herausgab und in einer Einleitung die Stellung deutlich hervorhob, welche La J1 ettrie in der Geschichte der Wissenschaft zukommt. 7 81

Nur ein Jahr später wies auch bei uns Hr. Friedrich Albert Lange, damals in Zürich, jetzt in Marburg, in seiner "Geschichte des Materialismus" La Mettrieseinen richtigen Platz an und reinigte mit großem Nachdruck sein Gedächtnis von der daran haftenden Schmach.B Es ist auffallend, daß in Frankreich 1870 Hr. Gustave Desnoiresterres in seinem sonst mit soviel Sachkenntnis geschriebenen Buche Voltaire et Frideric über La M ettrie, dem er eine umfängliche Studie widmet, wieder ganz den alten Ton anstimmt.9 Dagegen gab 1873 Hr. Neree Quepat in Paris über La Mettries Leben und Werke eine eigene Schrift heraus, die ich zwar nicht überall unterschreiben möchte, die aber in der Hauptsache Recht hat, und deren Ergebnis mit Hrn. Assezats und Hrn. Langes Urteilen zusammentrifft.lO Diese wiederholten Bearbeitungen des Gegenstandes sind einer längst von mir gehegten Absicht in so umfassender und gründlicher Art zuvorgekommen, daß es schwer hielte, über La .l1ettrie neue Tatsachen von Belang beizubringen. Aber je weniger in diesem Sinne uns zu tun blieb, um so mehr Veranlassung, uns mit ihm zu beschäftigen, liegt in seiner besonderen Beziehung zu unserer Körperschaft und zu diesem Gedenktage. Ein jüngerer Landsmann unseres berühmten Präsidenten ""Iaupertuis ist julien Offray de La Mettrie am 25. Dezember 1709 zu St. Malo am Kanal geboren, wo die atlantische Salzflut täglich zweimal an den Klippen von Cancale turmhoch aufschwillt und die Sandflächen um .:\Iont St . .:\lichel mit Rossesschnelle überströmt. Es ist bezeichnend für jene von der Betrachtung des Wirklichen noch so weit abgewandte Zeit, daß man, trotz der literarischen Neigungen beider Männer, in ihren Schriften kaum eine Erinnerung an die großartigen Naturszenen findet, in deren Mitte sie aufwuchsen, und die in einer späteren Kulturepoche bei einem anderen Sohne der Bretagne, bei Chateaubriand, so mächtig nachhallen. Übrigens ist zwischen M aupertuis und La M ettrie eine gewisse geistige Ähnlichkeit. Beiden geht die Einbildungskraft leicht mit dem Verstand durch, und in ihrem Urteil und Geschmack zeigen sie eine Unsicherheit, welche sich Voltaire, in seinem

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mörderischen Angriff auf .Maupertuis, nur zu geschickt zunutze machte. Gleich vielen ausgezeichneten Naturforschern und Ärzten begann La Mettrieseine Laufbahn mit der Theologie. Von seinem Vater, einem wohlhabenden Kaufmanne, zum Geistlichen bestimmt, erhielt er eine angemessene gelehrte Erziehung. In den Colleges, die er folgweise besuchte, zeichnete er sich in hohem Grad aus. Unter die Jansenisten11 geraten, ergriff der fünfzehnjährige Schüler deren Lehre mit solchem Eifer, daß er eine Schrift verfaßte, die sich bei der Partei eines gewissen Ansehens erfreut haben soll. Allein das Studium der Physik, mit welchem er 1725 im College d'Harcourt, dem jetzigen Lycee St. Louis in Paris, bekannt wurde, brachte ihn auf andere Gedanken, und ein gelehrter und geistvoller Arzt seiner Vaterstadt, Hunauld, wies ihm in der Medizin den richtigen Weg der Erkenntnis. Nachdem er zwei Winter emsig seziert hatte, erwarb er 1728 zu Reims den Doktorhut. Über die folgenden fünf Jahre seines Lebens fehlen Nachrichten; allem Anschein nach widmete er sich in St. Malo der Praxis in regem Verkehre mit Hunauld. Nach dieser Zeit, 1733, faßt La Metrrie einen Entschluß, den wir ihm hoch anrechnen müssen; er geht nach Leiden, um seine Studien unter dem großen Boerhaave fortzusetzen, welcher, obgleich hochbejahrt, gegenüber der stockenden französischen Medizin damals Fortschritt und echte Wissenschaftlichkeit vorstellte. In Leiden begann La M ettrie seine schriftstellerische Tätigkeit, indem er Boerhaaves Schriften, zu dessen Füßen er mit Begeisterung saß, ins Französische übersetzte. Ein Zusatz zu einer dieser Schriften erregte das Mißfallen Austrucs, Mitgliedes der Pariser medizinischen Fakultät, und der hieraus entsprungene gelehrte Streit, in welchem La M ettrie anfangs, aber vergeblich, sehr bescheiden und nachgiebig auftrat, wurde der Keim einer Fehde zwischen ihm und der Fakultät, die so lange dauerte wie sein Leben und verhängnisvoll für ihn ward. Nach St. Malo zurückgekehrt, lebte La Mettrie dort als fruchtbarer medizinischer Schriftsteller bis zu Hunaulds Tod im Jahre 1742. Anstatt sich der Erbschaft von Hu-

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naulds Praxis behaglich zu erfreuen, verließ La M ettrie einen Aufenthalt, der ohne seinen Lehrer und Freund ihm reizlos geworden war, und ging nach Paris. Er muß um diese Zeit mit einflußreichen Kollegen sich noch gut gestanden haben, denn bald erhielt er, im Gefolge des Herzogs von Grammont, eine ihm viel beneidete Stelle als Arzt bei dem Regimente Gardes-jranfaises. Als solcher wohnte er der Schlacht bei Dettingen (27. Juni 1743), der Belagerung von Freiburg im Breisgau im Herbste 1744 und der Schlacht bei Fontenoy (11. Mai 1745) bei, wo eine englische Kanonenkugel Grammont tötete. Dieser Verlust wurde für La M ettrie um so folgenschwerer, als er neben dem Groll der Pariser Fakultät damals noch den Haß der Geistlichkeit, der Philosophen und vieler Gebildeten auf sich lud. Im Lager vor Freiburg befiel ihn ein Fieber, in welchem er den Fluß seiner Phantasien beobachtete. Beim Nachdenken darüber befestigte sich in ihm die Überzeugung, daß geistige Tätigkeit Folge körperlicher Zustände sei. Diese Überzeugung sprach er mit furchtloser Unverblümtheit in seiner Histoire naturelle de l'Ame12 aus, und nun war es um ihn geschehen. Obschon vom Offizierskorps der Gardes-franfaises persönlich hochgeschätzt, mußte er seinen Abschied vom Regimente nehmen, erhielt indes durch Gönner, deren er immer noch einige besaß, zur Entschädigung die Oberaufsicht über die französischen Kriegslazarette in Lille, Gent, Brüssel, Antwerpen und Worms. La Mettries Streitigkeiten mit der Pariser Fakultät wurden inzwischen immer erbitterter. Zuletzt schlug er in seiner Politique du M edecin de M achiavel, seiner Komödie "La F aculte vengee'' und seinem Ouvrage de Penelope13 einen Ton so schonungsloser Satire an, daß von Versöhnung die Rede nicht mehr sein konnte. Die Fakultät antwortete mit jener damals beliebten Art von Zensur, der wenige ] ahre später Voltair es Docteur Akakia auf dem Gensdarrneumarkte zum Opfer fiel, und der auch Rousseaus Emile nicht entging: La Mettries Schriften wurden vom Henker verbrannt. Der ihm drohenden Verhaftung - es war die Zeit, wo Reaumur Diderot in Vincennes und Voltaire La Beaumette in die Bastille einsperren ließ - entzog er sich auf den 84

Rat vornehmer Freunde durch freiwillige Verbannung erst nach Gent, von wo er als Spion ausgewiesen wurde, dann nach Leiden. In dieser Zeit, 1746, fällt La Mettries Verheiratung mit einer Mlle. Dreauno. Aus dieser Ehe entsprang nur eine Tochter. Der Sohn, dem er im Ouvrage de Penetope guten Rat erteilt, wie er als Arzt reussieren könne, ist keine wirkliche Person. Selbst in dem freisinnigen und gastfreundlichen Holland, der Zuflucht vieler der besten und kühnsten Köpfe Frankreichs, duldete es La Mettrie nur kurz. Im Verfolg seiner Untersuchungen über die Seele schrieb er 1748 in Leiden sein berühmtestes und auch am meisten getadeltes Werk, L'Homme machine. Ein Sturm brach gegen ihn los, zu welchem katholische Priester und protestantische Geistliche aller Bekenntnisse sich verbanden. Bei Nacht und Nebel, auf ungebahnten Wegen, an allem Mangel leidend, aber jedem Mißgeschick mit unverwüstlicher Heiterkeit trotzend, wurde er durch einen befreundeten Buchhändler in Sicherheit gebracht. Hier reiht sich ein Zwischenfall an, der La M ettrie wenig zur Ehre gereicht, ja ihn uns von seiner schlimmsten Seite zeigt. Er erdreistete sich, den namenlos erscheinenden Homme machine Albrecht von Haller, dem großen Göttinger Physiologen, mit dem er keine Verbindung hatte, als seinem Lehrer und Freunde zu widmen: wohl in der Absicht, die Anonymität besser zu wahren. Die Widmung enthält übrigens nur überschwengliche Lobreden auf Haller und auf die geistigen Genüsse, und nirgend ist darin unmittelbar gesagt, daß Haller La Mettries Lehren huldige. Haller hätte natürlich am besten getan, sich in der Stille zu ärgern. Seine spiritualistischen Überzeugungen, seine Rechtgläubigkeit waren zu offenkundig, um bei irgend jemand, an dessen Meinung ihm liegen konnte, den Verdacht aufkommen zu lassen, daß er mit dem Verfasser des Buches etwas gemein habe. Aber Haller fand für nötig, diese Gemeinschaft im Journal des Syavans in einer für La M ettrie nicht gerade schmeichelhaften Form ausdrücklich zu leugnen. Nun konnte füglieh La Mettriesich die Sache gesagt sein lassen. Statt dessen rächte er sich an Haller, indem er in einer 10

Wollgast, Philosophie

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Flugschrift Le petit homme a longue queuesich auf Hallers Kosten in nicht sehr feiner Weise lustig machte. Unter anderem erzählt er, wie er zur Zeit seines Studiums in Göttingen (wo er nie war) mit Haller einem Nachtessen in möglichst schlechter weiblicher Gesellschaft beigewohnt habe und legt Haller bei dieser Gelegenheit die empörendsten (zum Teil sehr belustigenden) Reden über Gott und die Welt in den Mund. Abermals hatte Haller nicht hinreichende Gewandtheit, um diesen ruchlosen Spott durch verächtliches Schweigen zu entwaffnen. Vielmehr führte er seinem Gegner erst recht die Lacher zu, indem er in einem weitschweifigen Schreiben an M aupertuis sich ausführlich von den ihm zur Last gelegten Scheußlichkeiten reinigte, und insbesondere sich feierlich deswegen rechtfertigte, daß er als junger Mensch, vier Monate vor der Hochzeit, ein Liebesgedicht an seine verlobte Braut - als Doris - gerichtet habe.14 Mittlerweile hatte sich in La Mettries Geschick ein so glücklicher wie unerwarteter Umschwung vollzogen. Jf aupertuis lenkte zufällig Friedrichs Aufmerksamkeit auf seinen verfolgten Landsmann. Es genügte, um diesem des Königs Mitgefühl zu sichern, daß La M ettrie ein Opfer der Unduldsamkeit war. Maupertuis erhielt den Auftrag, Verhandlungen mit La Mettrie anzuknüpfen.!;; So kam dieser im FebruarlG 1748 nach Potsdam, gefiel Friedrich, der ihn zum Mitglied dieser Akademie und zu seinem Vorleser ernannte, und wurde fortan des Königs fast täglicher Gesellschafter. Nun hatte er an einem Hof, auf den die Blicke der ganzen Welt gerichtet waren, eine ehrenvolle Stellung erlangt, in einem geistig verwandten Kreise, wo seine Meinungen, wenn nicht geteilt, doch geduldet, und seine Witzworte belacht wurden, eine Heimstätte gefunden. In diesem Kreise gaben La Mettries ausgebreitete, auf Anschauung beruhende Kenntnisse in Anatomie, Physiologie und Medizin ihm eine bestimmte Überlegenheit, nicht nur gegenüber oberflächlichen Schöngeistern, wie d' Argens und Algarotti, sondern auch gegenüber Maupertuis, dessen Stärke in anderer Richtung lag. Sogar Voltaire, als bald darauf auch er, im Juli 1750, seinen Einzug in Potsdam

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hielt, mochte, trotz seiner allumfassenden Bildung, diese Überlegenheit zuweilen empfinden. Auch als Arzt wurde der ehemalige französische Generalarzt - so darf man La Mettries Stellung an der Spitze von fünf großen Kriegsspitälern wohl bezeichnen - in Berlin und Potsdam viel zu Rate gezogen. Es gehört zu seinem Charakterbild, daß er sich so wenig von diesem Glück' berauschen, wie vormals vom Unglück niederdrücken ließ. Unentwegt und rastlos fuhr er fort in seiner medizinischen und philosophischen Polemik, während er in der Gesellschaft mit der ihm eigenen stürmischen Heiterkeit, mit schlagfertigem Witz und sprudelnder Fülle des Ausdruckes seine Überzeugungen an den Mann brachte und sich dadurch um so zahlreichere Feinde erwarb, je weniger ~an ihm die rasch eroberte Gunst des Königs verzieh. Der redselige Thiebault, der beiläufig erst dreizehn Jahre nach seinem Tode nach Berlin kam und freilich eine sehr verschiedene Natur war, erzählt mit Schaudern von Freiheiten, die La Mettrie in Gegenwart des Königs sich genommen haben soll.17 Im Falle der Wahrheit bewiese dies doch nur zweierlei: erstens, daß La Mettrie an Friedrichs Hofe sein Unabhängigkeitsgefühl bewahrte und sich, immerhin bis zur Unschicklichkeit, demgemäß betrug, zweitens, daß er Eigenschaften besaß, die Friedrich, der sonst hierin keinen Spaß verstand, bei ihm darüber fortseben ließen. Armer La M ettrie! Sein Glück sollte nicht lange dauern. Eines Tages bittet der erkrankte französische Gesandte, Lord Tyrconnel, um seinen Besuch. Friedrich, gleichsam Böses ahnend, läßt ihn nur sehr ungern los.lB La Mettrie kommt von Potsdam herüber ins Gesandtschaftshotel vor dem damaligen Königstore, wo heut das Viktoriatheater steht,l9 wie eben Lady Tyrconnel mit einigen Gästen sich zu Tische setzt. Scheinbar völlig wohl, nimmt er an der Mahlzeit teil; es wird eine Fasanenpastete mit Trüffeln aufgetragen; er allein ißt da von sehr viel; gleich nach Tische fühlt er sich so unwohl, daß er im Gesandtschaftsilotel zu Bette gebracht wird; er verfällt in heftiges Fieber, verordnet sich anfangs selber Aderlaß und warme Bäder, stirbt aber, trotz Cothenius' und Lieberkühns Beistand, drei Tage darauf, am 11. November 1751, nicht JO•

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ganz 42 Jahre alt,2o bis zum letzten Hauche seinen Überzeugungen und seiner Art, sie zu äußern, getreu. Voltaire erzählt, bei aller Ausgelassenheit habe La M ettrie oft vor Heimweh geweint-21 Bat er deshalb vielleicht, man möge ihn im Garten des Gesandtschaftshotels begraben, damit er nach Völkerrecht, gleichsam in heimischer Erde ruhe? 2 2 La Mettries Tod wurde immer als unmittelbare Folge seiner Unmäßigkeit dargestellt. Schon Hr. Lange bemerkte, daß diese Todesursache nicht so feststehe, wie man anzunehmen pflege. Hr. Quepat fragt, ob nicht La Mettrie, als er angeblich des Guten zu viel tat, den Keim schwerer Krankheit schon in sich trug? Vom heutigen ärztlichen Standpunkte läßt sich aus den Nachrichten über La Mettries Leiden kein verständliches Krankheitsbild zusammensetzen. Nach Voltaire kam die Pastete von fern her und es war darin vordorbener Speck.2~1 Danach wäre nicht undenkbar, daß sich Gift darin entwickelt hätte. Wie dem auch sei, mit Recht fügt Hr. Lange hinzu, nichts habe La Mettrie und seiner Sache so geschadet, wie die angebliche Art seines Todes. Nun konnten die Ärzte, die sein Spott gegeißelt hatte, ihr M edice te ipsum rufen, die beschränkten Köpfe und Heuchler, denen er so unbequem gewesen war, die schwächlichen Splitterrichter, die an seinem kecken Lebemut, seiner derben Gerrußfähigkeit sich ärgerten, konnten auf des heillosen Materialisten häßliches, unbußfertiges Ende mit Fingern weisen; und leider stimmten diesen auch solche bei, die sehr wenig Recht hatten, einen Stein wider ihn zu erheben. Unter Friedrichs ausländischen Günstlingen herrschte, wie man sich denken kann, nicht eben die aufrichtigste Freundschaft. Man weiß, wie Voltaire kurz darauf über JVI aupertuis zerfleischend herfiel. La M ettrie haßte er aus mindestens zwei Gründen. Erstens steht in dem Homme machine, daß die Züge eines berühmten Dichters den Ausdruck eines Gauners mit prometheischem Feuer verbänden, und La Mettrie hatte, seit er Voltaire persönlich begegnete, dazu bemerkt, dieser Ausspruch sei nur zur Hälfte wahr. Zweitens war es La M ettrie gewesen, der Voltaire Friedrichs bekannte Äußerung von der Orangenschale24 hinterbrachte, welche nicht bloß Voltaire das Unsichere seiner Lage an Friedrichs Hof ent-

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hüllte, sondern ihm auch zeigte, daß La J1 ettrie dem Vertrauen des Königs näher stand als er. Nun erging er sich in lieblosem Spott über den Tod des jüngeren, scheinbar so viel rüstigeren Mannes, und leid tat ihm nur, daß er ihn nicht noch einmal, in articulo mortis, wegen der Orangenschale hatte befragen können.2:> ]faupertuis, d'Argens, Algarotti waren schwerlich sehr entzückt, als ein so unruhiger Geist wie La Mettrie ihnen eines schönen Tages beigesellt und schnell zum gefährlichen Nebenbuhler wurde. Kein Wunder, daß man ihn jetzt mit schlecht verhehlter Schadenfreude so früh und unverhofft wieder das Feld räumen sah. Nur einer blieb La Mettrie auch im Tode treu, Friedrich selbst. Die deistisch und spiritualistisch gesinnten Kollegen La M ettries, unsere damaligen Vorgänger auf diesen Sesseln, deren achtbare, aber nicht allzu tiefe Bestrebungen in Metaphysik und Moralphilosophie Christian Bartholmess geschildert hat, hörten mit betroffenem Schweigen und finsteren Mienen dem königlichen Eloge zu2fi - einem Eloge de main de maitre, wie Voltaire spöttelte,2i der an jenem Tag unter nichtigem Vorwand seinen Platz an diesem Tische leer ließ.28 In dem ihm oft vorgeworfenen Eloge de La Mettriebeschränkt sich Friedrich darauf, die Erzählung des bewegten Lebens seines Schützlings mit geistvollen allgemeinen Betrachtungen und mit beißenden Ausfällen gegen dessen Verfolger zu begleiten. Auf La Mettries Lehren, deren verneinende Seite wohl allein ihm zusagte, geht er nicht näher ein. Er schließt ziemlich farblos: "Die Natur hatte La Mettrie zum Redner und Philosophen geschaffen; aber eine noch köstlichere Gabe, die er ihr verdankte, waren ein reines Herz und ein dienstfertiges Gemüt. Wer nicht durch der Theologen fromme Schmähungen sich beirren läßt, beklagt in Hrn. La Mettries Verlust den eines redlichen Mannes und gelehrten Arztes." La Mettries Schwächen sollen nicht verkleinert werden. Ihm fehlte im Leben Ernst, Haltung und Würde, seinen Schriften, deren mehrere ohne weiteres preiszugeben sind, methodische Entwickelung, dialektische Schärfe, gründliche Vertiefung. Sein Ton ist mehr der des leidenschaftlich überzeugten Redners, welcher den Leser bestürmt und ihn im

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Flug hinreißen möchte, als der des sorglich abwägenden Denkers, der ihn Schritt für Schritt den beschwerlichen aber sicheren Weg zur Wahrheit führt. Witze und Anekdoten treten leicht bei ihm an Stelle von Beweisen. Hinter hohler Schwulst, pathetischen Apostrophen verberge11- sich Lücken im Gedankengange. La Mettries Geist wetterleuchtete mehr, als daß er bis zu befriedigender Helle stetig wachsendes Licht über die Gegenstände ergoß; höchstens blitzte er einmal. Allein La M ettrie war besser als sein Ruf, und dasselbe gilt, wenigstens zum Teil, von seinen Büchern. Das gegen vierzig Nummern umfassende Verzeichnis der Schriften, die er im Lauf von nur achtzehn Jahren druckte,2!J während er praktizierte, Feldzüge mitmachte, Hospitäler inspizierte und in der Welt herumgeworfen wurde, zeigt schon, daß er nicht der rohe Schwelger war, für den seine Feinde ihn ausgaben, sondern ein lebhaft tätiger, geistige Zwecke unverwandt verfolgender Mann: auch wenn man in Rechnung zieht, daß bei ihm, wie öfter, Leichtsinn mit Leichtigkeit im Hervorbringen sich verband. Sein Entschluß, nach Leiden zu gehen, um das medizinische Studium gleichsam von vorn anzufangen, das Aufgeben seiner Praxis in St. Malo nach Hunaulds Tode, lassen sich nur auf ideale Beweggründe zurückführen. Besaß La M ettrie wenig Pietät, so war ihm auch jede Menschenfurcht fremd, und wiederholt ward er der Märtyrer seiner Überzeugungen. An seine Sitten lege man billig den Maßstab seiner Zeit. Übrigens hat er, wie Hr. Lange bemerkt, .,weder seine Kinder ins Findelhaus geschickt, wie Rousseau, noch zwei Bräute betrogen, wie Swijt, er ist weder der Bestechung für schuldig erklärt, wie Baco, noch ruht der Verdacht der Urkundenfälschung auf ihm, wie auf Voltaire. In seinen Schriften wird allerdings das Verbrechen wie eine Krankheit entschuldigt, aber nirgendwo wird es, wie in Mandevilles berüchtigter Bienenfabel, empfohlen . . . . Es ist in der Tat zu verwundern, daß bei dem ungeheuren Ingrimm, der sich überall gegen La M ettrie erhob, nicht einmal eine einzige positive Beschuldigung gegen sein Leben ist vorgebracht worden".30 Man kann hinzufügen, daß zwar unter seinen Schriften eine Ars amandi (L' Art de jouir) sich 90

befindet, und daß sie oft durch widrige Schlüpfrigkeit entstellt sind, daß sie jedoch kaum etwas so witzlos Gemeines enthalten, wie manche Sachen Diderots, welche dieser, nach seiner eigenen Tochter Erzählung, sein Talent schnöde mißbrauchend, in wenig Tagen schrieb, um seiner Geliebten Geld zu schaffen.3l Das Geheimnis des wütenden auf La Mettriegehäuften Hasses ist zugleich der Schlüssel zu seinen wahren Verdiensten. Ich gehe hier nicht auf nähere Betrachtung seiner medizinischen Streitschriften ein. Der allgemeine Eindruck, den man bei deren Durchblättern erhält, ist, daß es darin zum Teil freilich um heute ziemlich schale Persönlichkeiten, zum Teil aber auch um sehr ernst gemeinte Bekämpfung verderblicher Irrtümer und tief eingewurzelter Schäden sich handelt. Das beste Bild dieser Gattung La Jf ettriescher Schriften liefert das Ouvrage de Penelope ou le Jfachiavel en Medecine. Dies Buch ist gleichsam eine Amplifikation des kräftigen Wörtchens, welches Goethe später Mephisto dem Schüler von der Medizin sagen ließ. In einer Reihe von Kapiteln, überschrieben: Inutilite de l'Anatomie; Inutilite de la Botanique; Inutilite de la Chymie; Inutilite de la Physique; .... Necessite du Bel Esprit; N ecessite du Babil; N ecessite de la Galanterie . . . . belehrt La Jf ettrie den früher erwähnten fiktiven Sohn über das, was ein Arzt nicht zu verstehen brauche, und das, was er verstehen müsse, um des Beifalls der leidenden Menschheit gewiß zu sein; und auch heute sind seine Vorschriften nicht veraltet. Die ironische Form verlassend, welche auf die Länge ermüdet, erhebt sich La M ettrie am Schlusse des Werkes in dem Anti-Machiavelisme zu einer wahrhaft großartigen Schilderung seines in Boerhaave verwirklichten Ideals eines Arztes. Diese medizinischen Satiren La Mettries sind eine Fortsetzung der MolillreschenAngriffe auf die Fakultät; aber statt eines Dichters ist es diesmal ein Jünger Äskulaps selber, der, neuen wissenschaftlichen Weines voll, mit einem oft an Rabelais erinnernden Humor den strafenden Thyrsos32 schwingt. Daß La M ettrie bei einer mächtigen Körperschaft, die er in ihrem innersten Heiligtum ohne alles Ansehen der Person angriff, nicht auf Gerechtigkeit im Leben, und höchstens auf Vergessenheit im Tode rechnen konnte, ist klar.

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La Mettries philosophische Hauptwerke, die Histoire naturelle de l'Ame, L'Homme machine, - von denen beiläufig ersteres, wenn auch minder bekannt, das bedeutendere ist - werden jedem, der sie heute liest, zuerst ein Gefühl der Enttäuschung erwecken. Ist das die himmelstürmende Frechheit, die frevle Verhöhnung allen Sittengesetzes, der schamlose Spott über alles Heilige, die seit einem Jahrhundert ein Greuel allen Edlen waren? Ist das der Gottesleugnung und der Apotheose des Fleisches angeblich nackter Ausdruck, letztes Wort? Aber dies ist ja nichts, als in oft sehr würdige und maßvolle Sprache gekleidet, was heute jeder Philosoph und Naturforscher als eine, gleich jeder anderen, zweifelhafte, doch von gewissem Standpunkt aus berechtigte Weltanschauung gelten läßt, nichts als was man neuerlich, im Gegensatz zur dualistischen Weltansicht, als monistische Lehre oder als Monismus schlechthin zu bezeichenen begann. Diese Lehre wird jetzt täglich in vielen Schriften ausdrücklich vorgetragen, noch öfter stillschweigend vorausgesetzt, auf Lehrstühlen und in öffentlichen Vorträgen erörtert, ohne daß ihre erklärten Anhänger irgendeiner Unannehmlichkeit ausgesetzt wären. Zum Teil allerdings, weil denen, die ihnen schaden möchten, die Macht fehlt, Giordano Brunos Scheiterhaufen anders als in ihren Wünschen wieder zu entzünden. Zum größeren Teil aber, weil man einsehen lernte, daß Monismus so gut wie jede andere Welttheorie mit Menschensitte und Bürgertugend sich verträgt, während es kein Verbrechen gibt, das nicht schon bei dualistischen Überzeugungen, ja im Namen der Orthodoxie begangen wurde; und weil man begriff, daß die Gefahr, welche dem Eindringen jener angeblich das Sittengesetz unterwühlenden Lehre in rohe Massen entspringen könnte, nicht von ihr, sondern von der Rohheit der Massen herrührt, welche auch bei dualistischer Weltanschauung oft genug gefährlich wurde. Was tut La Mettrie? Bei Betrachtung der Seele geht er, statt von deren scholastischem Lehrbegriff, von den zahllosen Tatsachen aus, welche schließen lassen, daß geistige Tätigkeit die Wirkung gewisser, im Hirne vor sich gehender Veränderungen ist. Er verfolgt Entwickelung und Abnahme der Geisteskräfte bei Entwickelung und Altern des Körpers,

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und ihre mit der Ausbildung des Hirnes gleichen Schritt haltende, stufenweise höhere Ausbildung in der Wirbeltierreihe von den Fischen bis zu den anthropoiden Affen. Er erinnert daran, wie in gesunden und krankhaften Zuständen das Bewußtsein der Spielball der Organe ist, wobei er unter anderem auf das heute so genannte Gesetz der peripherischen Erscheinung der Gefühlsempfindungen sich beruft.33 Mit dem Schwindel und dem Doppelsehen bei unwillkürlichen Bewegungen des Auges hatte er sich schon früher eingehend beschäftigt.34 Das Gehirn Blöd- und Wahnsinniger zeige zwar oft keine dem unbewaffneten Auge sichtbaren Bildungsfehler. Beweise dies wohl, daß nicht irgendein mikroskopisches Fäserchen von der Norm abweiche, und genüge nicht vielleicht schon solche Abweichung, um die größte geistige Störung zu ermöglichen? Er beobachtet den Einfluß von Fasten und Fleischkost, von Wein, Kaffee und Opium auf die Vorstellungen. Er zergliedert die denkbaren mechanischen Bedingungen des Gedächtnisses. Die Physiognomik und die Lehre von Hirnprovinzen, wo bestimmte geistige Fähigkeiten hausen, finden sich angedeutet. La M ettrie verwirft Stahls Animismus, wonach die Seele unbewußt sich den Leib erbaue und die unwillkürlichen Bewegungen hervorbringe. Nicht einmal alle scheinbar willkürlichen Bewegungen seien unmittelbarer Ausfluß dessen, was wir Seele nennen. So gut wie der damalige Zustand der Physiologie es erlaubte, führt er solche Erscheinungen auf reine Mechanismen im Tierleibe zurück. Er zeigt, wie Muskeln und Herz sich am Frosche noch nach Trennung vom Organismus bewegen. Er erinnert an die bekannte Erfahrung, die er selber bestätigen könne, daß im vollen Laufe geköpfte Vögel noch eine Zeitlang geordnete Ortsbewegungen ausführen.3;; Der Organismus ist ihm schließlich eine aus unzähligen Teilen zusammengesetzte Uhr, die der neue Chylus aufziehe. Der menschliche Organismus unterscheide sich von dem des Affen nur wie Huygens' astronomische Uhr von einer gemeinen, oder wie V aucansons Flötenspieler von einer einfacheren Maschine.3G Der wesentliche Unterschied zwischen Menschen und Affen liege in der Sprache. Da nun der mechanische Teil der Sprache nichts dem Menschen

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Eigentümliches sei (so wenig, daß es keine grundsätzliche Schwierigkeit hätte, eine Sprechmaschine zu bauen), so solle man doch einmal versuchen, ob man nicht einen Orang-Utan nach der Ammanschen Methode des Taubstummenunterrichtes sprechen lehren könne. Wem dieser Vorschlag heute fremdartig, nicht zu sagen töricht erscheint, der erinnere sich, wie neu und unvollkommen die Kunde von den Anthropomorphen damals noch war und vergleiche La Mettries Versuchsplan mit den verwandten Einfällen M aupertuis', über die sich Voltaire im Docteur Akakia lustig macht. Um den Ausdruck 'Homme machine' gehörig zu verstehen, muß man sich erinnern, daß Descartes die Tiere für reine Maschinen ausgegeben hatte, denen Empfindung, \V ollen und Denken abgehen. Der Mensch, auch solche :.Vlaschine, sollte vor den Tieren durch den Besitz einer Seele sich auszeichnen, welche eine von der Materie verschiedene Substanz sei und in ihm empfinde, wolle, denke: eine so handgreiflich verkehrte Lehre, daß La M ettrie behauptet, Descartes habe sie aufgestellt, damit man um so sicherer seine wahre Meinung errate, daß Menschen- und Tierseele nur gradweise verschieden seien. Für La M ettrie gibt es nur eine Substanz, das ewig rätselhafte Grundwesen von Materie und Geist, welches durch verschiedene Anordnung und Bewegung verschiedene Erscheinungsweisen annimmt. Die Seele ohne Leib sei undenkbar, ein wesenloser Begriff, daher ein guter Kopf sich des Wortes "Seele" nur als kurzen Ausdruckes bedienen dürfe, um das unbekannte, in uns denkende Etwas zu bezeichnen. Auf diesem Standpunkte lacht er der abgeschmackten Vermutungen, in welche Creatianer, Traducianer und Präexistianer über den Ursprung der einzelnen Menschenseele sich verloren.37 Er selber hat im ganzen sehr verständige Ansichten über Zeugung. Trembleys damals neue Versuche über Teilbarkeit der Hydren38sind Wasser auf seine Mühle. Übrigens schwebt ihm die organische Natur als ein durch Pflanze, Tier, :.Vlensch zusammenhängendes einheitliches Ganze vor. Er wagt sogar den Versuch einer Schöpfungsgeschichte: }leer und Erde hätten ursprünglich minder, dann mehr vollkommene Wesen hervorgebracht. 94

}lit besonderem Nachdruck bekämpft La Afettrie die Lehre von den Endursachen. "Hören wir," heißt es bei ihm, "die Naturforscher: sie werden uns sagen, daß dieselben Ursachen, die in eines Chemikers Händen und durch zufällige Mischung den ersten Spiegel erzeugten, in den Händen der Natur auch den Wasserspiegel schufen, dessen sich die Schäferin bedient; daß die Bewegung, welche die Welt erhält, auch die Ursache ihrer Entstehung sein konnte; daß jeder Körper den Platz einnahm, den seine Natur ihm anwies; daß die Luft mit derselben Notwendigkeit die Erde umgeben mußte, womit in deren Eingeweide Eisen und andere Metalle entstanden; daß die Sonne eine Naturerscheinung sei wie die Elektrizität; daß sie nicht mehr gemacht wurde, um die Erde zu erwärmen, welche sie manchmal ausdörrt, als der Regen, um die Saat zu befruchten, welche er manchmal ersäuft; daß Spiegel und Wasser nicht mehr gemacht wurden, um sich darin zu spiegeln, als alle anderen polierten Körper, welche dieselbe Eigenschaft haben; daß zwar das Auge ein Spiegel ist, in welchem die Seele das Bild der Gegenstände betrachtet, daß es aber unerwiesen sei, daß dies Organ wirklich zum Zweck dieser Betrachtung gemacht und seiner Höhle eingepflanzt wurde; daß es endlich wohl möglich wäre, daß Lucrez, der Arzt Lamy, und alle alten und neuen Epikuräer Recht hätten mit der Behauptung, daß das Auge nur sehe, weil es so gebaut und angebracht ist, wie es dies ist: und daß, wenn einmal die Bewegungsgesetze gegeben sind, welche die Natur bei Erzeugung und Entwickelung der Körper befolgt, es unmöglich war, daß dies wunderbare Organ anders gebaut und angebracht würde." 39 }ian sieht, dies sind dieselben Gedanken, die gerade jetzt die Wissenschaft lebhaft bewegen, und es bestätigt sich einmal wieder, daß in dem was man eben brauchte, aber nicht weiß, die Denker jederzeit wesentlich gleich weit waren. Nach hundertundzwanzig Jahren der tiefsten Forschungen können natürlich diese Gedanken in bessere Form gekleidet und auf breitere tatsächliche Grundlage gestellt werden. Hrn. Darwins Genie ist eine Synthese gelungen, welche die Endursachen am sichersten beseitigen würde, indem sie sie entbehrlich machte. Um so entschie95

dener erscheint das Verdienst des Mannes, der zuerst nach langer kimmerischer Nacht der Scholastik auch mit deren letzten Überlieferungen brach, und es wagte, wie einst Demokrit, Epikur und Lucrez, sich die Welt rückhaltlos als System von Ewigkeit her bewegter Atome vorzustellen. Der durch La .~.ilyfettrie gemachte Fortschritt wird erst ganz einsichtlich, wenn man sich den Zustand der Metaphysik zur Zeit vergegenwärtigt, wo er auftrat. Halb theologischen U rsprungcs, an die Voraussetzungen des Dogmas gebunden, wand sich diese Metaphysik hilflos in den Schlingen eines unlöslichen Widerspruchs. Seele und Leib mußten zwei verschiedene Substanzen sein, und die Mittel, welche um dennoch deren Wechselwirkung zu erklären Descartes, Malebranche und Leibniz folgweise vorschlugen, dienten nur, die verzweifelte Lage, in welche die dogmatisch-spekulative Methode geführt hatte, um so klarer zu zeigen.40 Spinozas erhabener Pantheismus ließ die Forderungen des gemeinen Menschenverstandes unbefriedigt. Lockes und Condillacs Empirismus ruhte auf subjektiv-psychologischer Grundlage. Gassendis und Hobbes noch sehr verhüllte Versuche einer Wiederbelebung der antiken Weltweisheit waren wesentlich spekulativer Natur, und bei mangelnder Entschiedenheit fruchtlos geblieben. Es fehlte eine neue Methode der Forschung über die Seele. Diese Methode fand La Mettrie, man könnte sagen in der Einfalt seines Herzens, indem er, ein wahrer Naturforscher, induktiv zu Werke ging. Die philosophischen Systeme, neuere wie ältere, sofern sie mit der Natur des Menschengeistes sich beschäftigen, leiden fast alle an dem Erbfehler, daß sie den Menschengeist nur aus ihm heraus, und nur in seiner höchsten Tätigkeitsform, als selbstbewußt denkendes Wesen zu erkennen streben. Sie gehen aus von Tatsachen des inneren Sinnes, und berücksichtigen die Erscheinungswelt höchstens, um deren Dasein zuzugeben, um zu beweisen, daß die äußeren Sinne uns davon keine sichere Kunde bringen, und um zu erörtern, wie viel von seinen Einsichten der Geist dieser Kunde verdanke. Ohne die Wichtigkeit mancher auf diesem Weg erlangter Aufschlüsse zu verkennen, wird der Naturforscher sich nicht dabei beruhigen. Viel-

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mehr wird er auch hier die Methoden anwenden, die sich ihm anderswo so fruchtbar erwiesen. Er wird die geistigen Erscheinungen wohl als ganz besondere Klasse der ihn umgebenden Erscheinungen auffassen, sonst aber bei deren Zergliederung und Ergründung so verfahren, wie gegenüber jeder anderen neu hervortretenden Tätigkeitsäußerung der Materie, beispielsweise der Elektrizität. Er wird streben, durch Versuch und Beobachtung die Bedingungen dieser Äußerung festzustellen, und wie er dabei dem ersten Dämmerschein geistiger Tätigkeit in der Tierreihe nachspüren wird, so wird er freilich auch, wiederum an der Hand der Erfahrung, in den Schacht des eigenen Bewußtseins niedersteigen. Nachdem er, wie Faust, die Reihe der Lebendigen an sich vorbeiziehen sah, und seine Brüder in Luft und Wasser kennen lernte, öffnen sich ihm die geheimen tiefen Wunder der eigenen Brust. Dies ist der dem subjektiven Idealismus gerade entgegengesetzte objektiv realistische Weg der Forschung über die Seele, der bisher viel zu wenig betreten wurde, der aber in der Gegenwart mehr und mehr zu Ehren kommt, und dem unstreitig die Zukunft gehört. Fragen wir, wen man im Laufe der geschichtlichen Entwickelung an dessen Eingange zweifelnd sich umschauen, dann mit der freudigen Sicherheit des Pfadfinders vorangehen sieht, so ist es La Mettrie. Fort aus dem Studierzimmer, von den staubigen Pergamenten der Philosophen und Theologen (was konnten sie viel von der Seele wissen?), hat er die Forschung auf die Erfahrungen der Ärzte, die Entdeckungen der Naturforscher als auf den wahren Quell der Erkenntnis in diesem Gebiete verwiesen. Mit einem Wort, in der Lehre von der Natur der Seele zuerst mit Bewußtsein und folgerecht auf objektiver Grundlage induktiv verfahren zu sein, das ist, wenn ich nicht irre, La .11 ettries bezeichnende Tat: eine so kühne Tat, daß sie vielleicht nur von einem so leichtsinnigen und übermütigen Manne ausgehen konnte. Dabei muß bemerkt werden, daß im Grunde La Mettrie sehr vorsichtig sich ausspricht. Keineswegs leugnet er ein höchstes \Vesen, er gibt nur zu verstehen, daß mit dualistischer Auffassung der Welt auch nicht viel gewonnen 97

sei. Mit der aufrichtigen Bescheidenheit des Naturforschers bezeichnet er die beiden Grenzen des menschlichen Erkennens. Nie werden wir, sagt er, das Wesen dessen begreifen, was wir Materie und Kraft nennen und nie werden wir begreifen, wie Materie denkt. La M ettrie war also zurückhaltender in seinen Schlüssen, als in unseren Tagen David Friedrich Strauß, der an dereinstiger Lösung dieser Probleme durchaus nicht verzweifelte.4t Vollends Hr. Haeckel, für dessen jugendlich kühne Phantasie ja auch die Schöpfungsgeschichte kaum mehr ein Rätsel hat, kann nach einer neueren Äußerung, da La 111ettrie Grenzen unseres Wissens anerkennt, folgerichtig in ihm, wie in mir, nur einen Finsterling und verkappten Jesuiten sehen."2 La 1VJ.ettries Lehren standen mit denen seiner Zeit in tieferem Widerspruch, als daß die in diesem Punkte bewiesene Mäßigung ihm irgend hätte nützen können. Die protestantische Unduldsamkeit ging damals in mancher Beziehung vielleicht noch weiter als die katholische. :\Ian kennt Wolffs Schicksale. Wurde nicht der große johann Bernoulli von den Groninger Theologen als Socinianerr.:: verketzert, weil er durch Berechnung der Zeit, innerhalb welcher vermöge des Stoffwechsels die Materie des Körpers eine andere wird, der Lehre von der Auferstehung des Fleisches Schwierigkeiten bereitet hatte? 44 Danach ist nicht zu verwundern, daß La M ettrie durch seine C ntersuchungen über die Seele den Abscheu der Rechtgläubigen aller Bekenntnisse erregte. Ebenso leicht erklärt sich das Verdammungsurteil, welches Deisten und Spiritualisten über ihn fällten. Voltaire insbesondere, als personifizierter gemeiner Menschenverstand, legte das größte Gewicht auf teleologische Betrachtungen, und sein Deismus ruhte vornehmlich auf dem bekannten Schluß aus der Uhr auf den Uhrmacher ..Man sah, wie La M ettrie dieser natürlichen Theologie den Boden unter den Füßen fortzuziehen strebte. Dagegen kann unbegreiflich scheinen, daß auch die Enzyklopädisten, Diderot, d' Alembert, Holbach, anstatt in La M ettrie einen Kampfgenossen und kühnen Plänkler zu begrüßen, ihn mit Heftigkeit verleugneten, und jede Gemeinschaft mit ihm ablehnten; um so unbegreiflicher, als zwanzig

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Jahre später Holbach im Systeme de la Nature eigentlich nur La Mettries Lehre methodischer ausführte. Vielleicht verdroß es sie, daß La Mettrie so früh und unumwunden die gefährlichen Meinungen aussprach, zu denen man im Stillen auch im Grandval und in der Chevrette sich bekannte, und sie mochten fürchten, daß sein anstößiges Benehmen auch ihnen das Spiel verderbe. Doch kommt, das Verhalten der Enzyklopädisten zu erklären, sicher noch etwas anderes hinzu. Man weiß, einen wie übertriebenen Wert das vorige ] ahrhundert, und in ihm besonders die französische philosophische Schule, der Moral beilegten. Dies hing zusammen mit der rationalistischen und radikalen Richtung, die nach Lösung der Glaubensfesseln durch einen natürlichen Rückschlag sich der Geister bemächtigte. Noch hatte man nicht gelernt, gegenüber unerklärbaren, aber darum nicht minder unverbrüchlichen Naturgesetzen sich zu bescheiden. Wie man Schönheit, Liebe, Melodie und Dichtung auf rationelle Formeln zurückführen zu können glaubte,45 so meinte man auch im Leben, vom Staate bis zur Kinderstube, alles nach Regeln des Verstandes ummodeln und bessern zu können, ohne auf die vielfach eigentümliche Natur der Menschen und Dinge Rücksicht zu nehmen. Helvetius hielt die Erziehung für allmächtig. Man ahnte oder man gestand sich nicht, daß sie nichts vermag, als bestenfalls Maß und Verhältnis zu bestimmen, in welchem die in uns schlummernden Eigenschaften und Fähigkeiten sich entfalten; daß sie so wenig N eues in uns hineinträgt, wie sie in uns liegende Keime tilgt; daß übrigens alle wahre Erziehung und Besserung auf der natürlichen Macht von Gewohnheit und Beispiel ruht, und daß die herrlichsten Reden über Tugend aus einem geborenen Schurken nie einen edlen Menschen machen werden. Auch stand bei den verschiedenen Völkern die Lasterhaftigkeit jederzeit ziemlich im geraden Verhältnis zur Häufigkeit des Redens über Tugend. Das Tugendgeschwätz der Enzyklopädisten ertönte aus Frankreichs entsetzlicher Fäulnis unter Ludwig XV. hohl und langweilig wie Froschgesang aus giftigem Moor. Die Monthyonschen Tugendpreise sind ein Zeichen derselben Zeit wie die Liaisons dangereuses, und im Namen der

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Tugend sandten Robespierre und seine Mordgesellen ihre Opfer auf das Blutgerüst.46 Der neueren Wissenschaft ist das durch ihren unermeßlichen Umfang gebotene Divide et impera zu einem heuristischen Kunstgriff geworden. Dieselbe Aufgabe wird von verschiedenen Seiten in ganz unabhängiger Weise angegriffen und spitzt sich nicht selten in dem Widerspruch zu, in welchen die verschiedenen Lösungen miteinander geraten. Beispielsweise dem Problem der Organisation nähern sich, jeder auf seine Hand, mit anderen, ihm eigentümlichen Hilfsmitteln, der Histologe, der Chemiker, der Physiker, der Vivisektor, unbekümmert zunächst darum, wie ihre Ergebnisse miteinander stimmen werden. In diesem Sinne scheint uns heut erlaubt, ja nützlich, auch das Weltproblem von verschiedenen Standpunkten aus anzugreifen, und demgemäß eine mechanische Welttheorie aufzustellen und in sich zu begründen, unbekümmert zunächst darum, wie Ethik, Rechtslehre und hergebrachte menschliche Vorstellungen damit fertig werden. Diese Spaltung der wissenschaftlichen Interessen kannte die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts noch nicht. Der geringe Umfang der einzelnen Disziplinen erlaubte noch und gebot dann auch, deren Gesamtheit polyhistorisch zu umfassen. La Mettrie war zu sehr Kind seiner Zeit, um nicht gern ins ethische Gebiet zu schweifen. Wie zu erwarten, leugnet er den absoluten Tugendbegriff. Er leitet die Grundsätze der Sittenlehre aus dem Nutzen her, welchen Befolgung ihrer Vorschriften dem Einzelnen bringt. Diese Vorschriften sind ihm nur das Mittel, dem Einzelnen die größte Summe von Glück zu sichern, zu der seine Organisation ihn befähigt, und die sich mit dem Bestehen der menschlichen Gesellschaft, d. h. mit den gleichberechtigten Ansprüchen aller anderen Menschen auf die ihrer Organisation entsprechende größte Summe von Glück verträgt. Die ursprüngliche Organisation des Menschen, in Verbindung mit zahllosen äußeren Umständen, welche im Laufe des Lebens auf ihn einwirken, bestimme, was aus dem Menschen werde. Aber auch in den praktischen Schlußfolgen aus seiner Lehre zeigt sich La M ettrie gemäßigter als mancher 100

neuere, um nur einen zu nennen, als David Friedrich Strauß. Zwar führt er in dem Homme machine einen "abscheulichen Menschen" redend ein, welcher behauptet, daß, wären alle Menschen Atheisten, es keine Religionskriege mehr gäbe. Doch sagt La Mettrie nicht, daß er diesen Zustand für möglich oder auch nur für wünschenswert in jeder Hinsicht halte. La Mettrie war Arzt und kannte das menschliche Leben. Ihm wäre nicht eingefallen, Dichtung und Musik als Trösterinnen statt Religion zu empfehlen.4i Er hätte empfunden, daß gegenüber wahrem menschlichen Elend, sagen wir einmal, in einem Saale voll krebskranker Frauen, dies ein Vorschlag sei, in welchem das Grausame an das Lächerliche grenze. Als Arzt redet La M ettrie einer milderen Gerechtigkeitspflege das Wort, indem er, auch hierin seiner Zeit vorauf, die Beziehung zwischen Verbrechen und Wahnsinn hervorhebt, und in manchen Verbrechern nur unzurechungsfähige Unglückliche sieht, die zwar unschädlich, nicht aber verantwortlich zu machen sind. Von diesen La Mettrieschen Gedanken sind einige heute Gemeingut und längst praktisch geworden. Andere, wie seine Ableitung der Sittenlehre aus dem Kompromiß zwischen dem Glückseligkeitstrieb der Einzelnen und den Bedingungen der menschlichen Gesellschaft, werden Gegenstand hin- und herflutender Meinungen bleiben, so lange es ~Ienschen gibt. Keinem Wohldenkenden aber fällt es mehr ein, die Anhänger solcher und ähnlicher Lehren, beispielsweise der von Hrn. Darwin entwickelten,48 als moralische Scheusale zu brandmarken. Anders damals. La Mettries ethische Theorien wurden von seinen Feinden hämisch entstellt und mit einer Art von Wut gegen ihn ausgebeutet. Je mehr man die beliebte Sittenlehre der Zeit überschätzte, für um so verworfener erklärte man den, der ohne sie auszukommen glaubte, gleichviel ob er dasselbe Ziel anders zu erreichen gedachte. Obschon wenigstens Diderot mit Atheismus und Materialismus nur mehr kokettierte, und immer noch mit einem Fuß in der Teleologie und dem darauf sich gründenden Deismus stand, hätten die Enzyklopädisten gegen La Mettries Weltanschauung an sich wohl soviel nicht einzuwenden gehabt. Aber sie verziehen 11

Wollgast, Pbilosopbie

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ihm nicht, daß er in seinen Schriften weniger Tugend verbrauchte, als in den ihrigen zu tun ihnen für das Gedeihen der menschlichen Gesellschaft nötig schien. Diderot insbesondere hat sich hier schreiender Ungerechtigkeit schuldig gemacht. Daß er, der sich nachsagen lassen muß, er habe vergeblich bei Katharina die Rolle V oltaires bei Friedrich zu spielen versucht, 49 La M ettrie einen Hofschranzen schilt, ist schon widrig genug. Unerträglich aber ist es, während Diderots eigene Moral zwischen theatralischer Römertugend, tränenreicher Sentimentalität, und sich selber aufgebendem Determinismus schwankt, ihn in seiner deklamatorischen Studie über Seneca drei Seiten voll entrüsteter Schmähungen auf den toten La M ettrie häufen zu sehen, der, wie tief er auch an Begabung unter Diderot stand, an unverstellter Geradheit des Charakters ihm sicher gleichkam, an Folgerichtigkeit des Denkens ihn weit übertraf. Diderot nennt schließlich La M ettrie l' apologiste d~t vice et le detracteur de la vertu.50 Friedrich sprach nicht viel von Tugend, denn in seinem Staate regierte die Pflicht. Doch ist kaum glaublich, daß er zu seinem täglichen Umgang einen Menschen sollte gewählt haben, der die sittlichen Grundlagen der Gesellschaft absichtlich untergrub. Wir brauchen uns also fortan nicht mehr mit Widerwillen abzuwenden, wenn wir im Geist auf der Terrasse von Sanssouci, nach aufgehobener Tafel, bei länger werdenden Schatten, Friedrich mit seinen Gästen lustwandeln sehen, und aus dem wohlanständigen Geflüster der Hofleute ein unbändig lautes Lachen die Gegenwart des unverbesserlichen La Mettrie verrät. Seien wir nicht peinlicher, als der König selber, der sich vielleicht stirnrunzelnd umsieht, sogleich aber lächelnd im Gespräch mit Voltaire fortfährt. La Mettrie hat nun einmal schlechte .Manieren, aber Friedrich weiß, daß in ihm das heilige Feuer lodert, und von den verneinenden Geistern um ihn her ist ihm dieser Schalk am wenigsten zur Last. Man mag La 1l1ettries Meinungen verdammen; nur darf man ihn nicht stärker tadeln, als die heutigen Monisten. Oder will man ihn deshalb stärker tadeln, weil der heutige Monismus auf ihn sich zurückführen läßt, so gönne man ihm

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auch die Bedeutung, die ihm als oberstem, wenn gleich etwas trübem Quell eines so mächtigen Stromes zukommt. Nach alledem haben wir uns La Mettries, als eines unserer Vorgänger, nicht so arg zu schämen. Ein schulgerechter Philosoph, in dessen Kopfe die Welt paragraphenweise sich spiegelt, wie sie sein könnte und sollte, war er nicht. Dem Hajis näher verwandt als der Stoa, folgte er, ein Jahrhundert vor Heinrich Heine, dessen kecker "Doctrin": Schlage die Trommel und fürchte Dich nicht, Und küsse die Marketenderin! Das ist die ganze Philosophie, Das ist der Bücher tiefster Sinn. Trommle die Leute aus dem Schlaf, Trommle Reveille mit Jugendkraft, Marschiere trommelnd immer voran. Das ist die ganze Wissenschaft! Dies Verfahren ist nicht streng akademisch; doch dem Menschengeiste lassen sich seine Wege nicht vorschreiben, und das dem Apostel niedergelassene Tuch barg auch minder reines Getier.

!1•

Kulturgeschichte und Naturwissenschaft Im Verein für wissenschaftliche Vorlesungen zu Köln am 24. März 1877 gehaltener V ortragl

Knowledge is power Francis Bacon 2

I. Die Urzeit als Zeitalter der un bewußten Schlüsse

Die Stellung, welche der Mensch gegenüber der Natur zuerst einnahm und im wilden Zustande noch einnimmt, ist bekanntlich sehr verschieden von der, welche Dichter und Philosophen einst träumten. An den lieblichen Bildern, in denen ihre Phantasie sich erging, war nichts Wahres. Die idyllischen Zustände, in welchen sie die noch junge Menschheit sich vorstellten, sind nie und nirgend da~ gewesen. Nicht mit dem goldenen, mit dem steinernen Zeitalter hat überall die Geschichte des Menschen begonnen. Anstatt der edlen Hirten und anmutigen Hirtinnen, die unter gesegnetem Himmelsstrich, in reicher Landschaft, unschuldsvoll vom Ertrag ihrer Herden leben und mit wohlanständiger Sitte des reinsten Glückes genießen sollten, zeigt uns die Wirklichkeit häßlich rohe Horden im Kampfe mit Hunger, mit wilden Tieren, mit den Unbilden der Witterung, versunken in Schmutz, gedankenlose Un~ wissenheit und tückische Selbstsucht, das Weib geknechtet, das Alter verstoßen, Menschenfresserei durch Mangel geboten und geheiligt durch abergläubischen Brauch.

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In die Seelenzustände solcher Menschen können wir uns so wenig hineindenken; .wie in die von Kindern. Wir können nicht absehen von den Errungenschaften der Geschlechter, auf deren Schultern wir· stehen und deren un.e~meLHiche Arbeitshäufu.qg, uns zugute kommt. W~nn na8 137

So ward des weit in die Zukunft schauenden Bacons Wort erfüllt: Wissen ist Macht.59 Alle Völker Euröpas, die alte und die neue Welt, wetteifern in dieser Bahn. Ein namhafter Kunstkritiker stellte unlängst den Satz auf, das Maß der von der Menschheit zu gegebener Zeit erreichten Höhe sei die Entwickelung der bildenden Künste. Dann hätten also die Zeit von Phidias bis Lysipp und das Cinquecento die höchste bisher erreichte und schwerlich wiederkehrende Blüte der Menschheit gesehen; höchstens ein leichtes Aufflackern von Kultur wäre wegen der Cornetz:usschen Kartons unserer Zeit nicht abzusprechen! '~ 1 Einer einzigen Seite menschlicher Tätigkeit so das Kennzeichen zu entnehmen, wonach die Höhe menschlicher Entwickelung zu messen sei, ist gewiß bedenklich; gibt es aber ein Merkmal, welches für sich allein den Fortschritt der .:\Ienschheit anzeigt, so scheint dies vielmehr der erreichte Grad von Herrschaft über die Natur zu sein. Den zeitlichen Verlauf der Kunst beeinflussen Zufälligkeiten, wie Talent, Geschmack, Wohlstand, Gunst. In Naturforschung und -beherrschung allein gibt es keinen Stillstand, wächst stetig der Besitz, zeugt unablässig weiter die schaffende Kraft. Hier allein steigt sicher jedes neue Geschlecht auf des vorigen Schultern. Hier allein entmutigt kein nec plus ultra den Schüler, drückt ihn keine Autorität, findet auch Mittelmäßigkeit einen ehrenvollen Platz, wenn sie nur emsig und aufrichtig die Wahrheit sucht. Endlich nicht die Kunst schützt die Zivilisation vor erneutem Untergange. Die Kunst mit aller ihrer Herrlichkeit würde unter denselben Umständen, wie schon öfter, noch heute hilflos der Barbarei weichen, verliehe nicht die Naturwissenschaft unserem Dasein eine Sicherheit, über deren Ursachen wir gar nicht mehr nachdenken: so sehr sind wir gewöhnt, sie als natürliche Voraussetzung des Lebens der modernen Kulturmenschheit anzusehen. Man kennt M acaulayslii düstere Prophezeiung von dem Touristen aus Neuseeland, der, wenn die römische Kirche noch in ungeschwächter Kraft bestehe, vielleicht auf einem gesprengten Bogen von London Bridge Platz nehmen werde, um die Trümmer von St. Paul zu skizzieren. Bei diesem Phantasiestück hat M acaulay der pessimisti138

sehen 'Weltansicht gehuldigt, welche den Geschichtsforschern im steten Umgange mit den Wechselfällen der bürgerlichen Geschichte eigen wird. Der große Rhetor hat aber bei seinem ~ Emn:rat ijp,ar/' denselben Fehler begangen, wie gleich darauf bei dem Urteile, daß die Grundlag.en der natürlichen Theologie heut die nämlichen seien wie zu jeder früheren Zeit; daß, beim Philosophieren über die letzten Gründe, ein heutiger Denker nicht besser daran sei als Thales und Simonides; und daß in der Frage nach der Unsterblichkeit der Seele ein gebildeter Europäer, auf menschliche Einsicht beschränkt, d. h. ohne Offenbarung~ nicht mehr Anwartschaft habe, das Rechte zu treffen, al ein Schwarzfußindianer. In beiden Fällen hat M acaulay die ihm als Geschiehtschreiber überhaupt, und persönlich, wie es scheint, besonders fern liegende Änderung in der Lage der Menschheit übersehen, welche die Naturwissenschaft neuerlich bewirkt hat und mit beschleunigter Geschwindigkeit zu bewirken fortfährt. Die moderne Menschheit ward eine andere als die mittelalterliche und antike Menschheit: die Zustände, Einsichten, und Aussichten jetzt und damals sind durch das hinzugetretene Moment der Naturwissenschaft unvergleichbar gemacht. Auf dem Boden der Induktion und Technik ruht unsere Wissenschaft und Kultur so sicher, wie auf dem Boden der Spekulation und Ästhetik schwankend aufgebaut und Einsturz drohend uns vorher antike Wissenschaft und Kultur erschien.ti2 VII. Die der heutigen Kultur drohenden Gefahren Was kann der modernen Kultur etwas anhaben? Wo ist der Blitz, der diesen babylonischen Turm zerschmettert? Man schwindelt bei dem Gedanken, wohin die gegenwärtige Entwickelung in hundert, in tausend, in zehntausend, in hunderttausend und in immer noch mehr Jahren die Menschheit führen werde. Was kann ihr unerreichbar sein? Sollte sie, wie sie maulwurfsähnlich durch Gebirge, unter der See fort Wege bahnt, nicht noch den Vogelflug nachahmen? Sollte sie, wie die Rätsel der Mechanik, nicht noch die Rätsel des Geistes lösen?

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Ach, es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Schwerlich wird die Menschheit je fliegen, und nie wird sie wissen, wie Materie denkt.li~ In diese Schranken sich zu finden ist leichter, als in die ewige Eiszeit, welche die Naturwissenschaft uns unerbittlich als Schlußbild aller menschlichen Dinge zeigt. Sonderbares Geschick, daß, indem sie der Kultur durch Sicherung gegen Barbaren ewige Dauer zu verleihen schien, die Naturwissenschaft diese Hoffnung wieder vereiteln und uns das Vertrauen auf dauernde Bewohnbarkeit der Erde rauben sollte! Ein Tag wird kommen, wo die Menschheit nicht mehr sagen kann: Und die Sonne Homers, siehe, sie lächelt auch uns; ein Tag, wo die Erde nur noch als Eisball träge um die nur noch kirschrot glühende Sonne rollt; ein Tag, wo, wie einst Licht ward, weil das erste Auge sich öffnete, Finsternis wird, weil das letzte Auge sich schließt. Allein von diesem Schicksale trennen die Menschheit noch Millionen Jahre. Ein Jüngling läßt sich durch den Gedanken an die auch seiner wartenden Beschwerden des Alters und den unvermeidlichen Tod nicht in Genuß und Streben irren. So kümmert uns wenig das unseren unvorstellbar fernen Enkeln angedrohte Verhängnis. Sollen wir uns mehr um die ungleich nähere Gefahr grämen, welche der Kultur in ihrer heutigen Gestalt aus Erschöpfung der Kohlenflöze in berechenbarer Zeit erwachsen wird? 'Ver die Schwierigkeit versteht, die Kohle durch einen anderen Kraftquell zu ersetzen, kann nicht ohne Bangigkeit unseres frevlen Raubbaues Zeuge sein. Das augenblickliche Ver~ langen der Industrie ist gewiß nicht leicht zu zügeln, schließlich "der Lebende hat Recht", und spätere Geschlechter mögen sehen, wie sie ohne Kohle das Weltmeer befahren; Mittel zu suchen, der besonders in England üblichen Kohlevergeudung zu steuern, wäre indes wohl eine verständigere Aufgabe für das englische Parlament gewesen, als sich in die Methoden der Experimentalphysiologie zu mischen, womit es nichts erreicht hat, als dem Fortschritt der Wissenschaft und seinem eigenen Ansehen zu schaden.

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Noch in anderer Art ist die Kultur bedroht. Vor einer neuen Völkerwanderung darf sie sich sicher fühlen; aber im Schoß der großen Städte, in den Ameisenhaufen der Industrie erzog sie selber ein Geschlecht, welches, verblendet durch wahnwitzige oder verworfene Führer, ihr durch Unwissenheit und Rohheit gefährlicher werden kann, als der antiken Zivilisation Hunnen und Vandalen. So schrieb Macaulay, und Macaulay hatte das Jahr 1871 nicht erlebt. Abermals sah er zu schwarz. Naturgemäß bleibt diese Gefahr in Zeit und Raum auf einzelne Punkte beschränkt. Die Kultur im großen und ganzen hat auch von der roten Internationalen nichts zu fürchten. Sklavenkrieg, Bauernkrieg, das Treiben der Wiedertäufer waren der heutigen verwandte Volksklassenpsychosen. Wie wir auf diese, werden spätere Zeiten auf Junischlacht und Kommune zurückblicken und in anderer Erscheinungsweise dieselbe Krankheit bekärnpfen.6" Die Gefahr, von der hier die Rede sein soll, ist keine den Bestand der Kultur gewaltsam bedrohende, sondern sie liegt in der bedenklichen Form, welcher die Kultur, nach der Richtung ihrer gegenwärtigen Entwickelung zu urteilen, zustrebt. Sie ist schwer zu bezeichnen, weil tausend kleine Umstände dazu beitragen, in deren Mitte wir leben, und deren Wirkung so allmählich uns beschleicht, daß es einer gewissen Abstraktion und geschärfter Beobachtung bedarf, um sich ihrer bewußt zu werden. Diese Gefahr wurde übrigens schon oft mit Besorgnis angezeigt, ja man pflegt die Sachlage, aus der sie hervorgeht, sehr allgernein als Krankheit unserer Zeit zu beschreiben, ohne sich immer klare Rechenschaft davon zu geben, daß es um einen notwendigen Folgezustand aus dem Gange der Kulturgeschichte sich handelt, wie wir im vorigen ihn erkannten. Einseitig betrieben, verengt Naturwissenschaft, gleich jeder anderen so geübten Tätigkeit, den Gesichtskreis. Die Naturwissenschaft beschränkt dabei den Blick auf das Nächstliegende, Handgreifliche, aus unmittelbarer Sinneswahrnehmung mit scheinbar unbedingter Gewißheit sich Ergebende. Sie lenkt den Geist ab von allgemeineren, minder sicheren Betrachtungen und entwöhnt ihn davon, im Reiche des quantitativ Unbestimmbaren sich zu bewegen.

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In gewissem Sinne preisen wir dies an ihr als unschätzbaren Vorzug; aber wo sie ausschlit~ßend herrscht, verannt, wie nicht zu verkennen, leicht der Geist an Ideen, die Phantasie an Bildern, die Seele an Empfindung, und das Ergebnis ist eine enge, trockene und harte, von Musen und Grazien verlassene Sinnesart. Der Naturwissenschaft ist ferner eigen, daß sie einerseits zu den höchsten Strebungen des }ienschengeistes in Beziehung steht, andererseits durch eine Reihe unmerklicher Abstufungen in handwerksmäßiges, nur auf Erwerb gerichtetes Tun überführt. Bei den täglich sich steigernden Ansprüchen an das Leben kann stetige Abweichung im letzteren Sinne nicht ausbleiben. Die technische Seite der naturwissenschaftlichen Tätigkeit tritt unvermerkt immer weiter in den Vordergrund; Geschlecht um Geschlecht sieht sich immer mehr auf Wahrnehmung materieller Interessen hingewiesen. Auch die allgemeine Teilnahme an dem so sehr überschätzten politischen Leben zieht vom Kultus der Idee ab. In der Unruhe, welche sich der gesamten Kulturmenschheit bemächtigte, leben die Geister nur noch aus der Hand in den .:\Iund. Wer hat noch Zeit und Lust, in den tiefen Schacht der Wahrheit niederzusteigen, zum Zauberborn des ewig Schönen den verwachsenen Pfad zu suchen? Aus fertigen, von der Wurzel gelösten Ergebnissen, nützlichen, aber dürren Tatsachen, grobsinnlichen Anschauungen baut sich heutige Bildung nur zu oft als unorganisches Stückwerk auf. Wenige kümmert noch die Art, wie die Wahrheit gefunden wurde, der nur im Werden erkennbare Zusammenhang der Dinge, geschweige der Reiz vollendeter Form. Kunst und Literatur sinken herab zu Buhlerinnen des rohen, wechselnden Geschmackes der Menge, den der Hauch der Tagespresse leicht hier- und dorthin lenkt. Wo es nur noch Tagesberühmtheit gibt, hört eine der edelsten Triebfedern der menschlichen Natur, der Gedanke an Nachruhm, zu wirken auf. So versiegt die geistige Produktion, welche nur in weltvergessener Hingebung und geduldiger Treue Unvergängliches schafft; und insofern die Industrie die sie belebenden Anstöße vorzüglich der reinen Wissenschaft verdankt, ist sogar sie durch Verhältnisse gefährdet, welche zum Teil ihr Werk sind. Mit einem Wort, der 142

IdealismUs erliegt im Kampfe mit dem Realismus, und es kommt das Reich der materiellen Interessen. Kein Wunder, daß diese Gestaltung der modernen Kultur am deutlichsten in dem Lande sich ausprägt, wo Schöpfung materieller Hilfsquellen und Bewältigung natürlicher Hindernisse lange das erste Gebot des Tages waren, wo eine eingewanderte Bevölkerung in Masse ein neues Leben begann, die zum großen Teile ihre geistigen Schiffe hinter sich verbrannt hatte und wo geschichtliche Erinnerungen und literarische Überlieferungen am wenigsten die überwiegend der Technik und dem Erwerbe zugewandte Strömung des Volkslebens hemmten. Kein Wunder, daß Amerika die vornehmste Heimstätte des Utilitarianismus~>:> ward. Neben Zuständen, wo die ersten Bedingungen der menschlichen Gesellschaft in Frage stehen, springen vornehmlich hier jene Existenzen ins Dasein, deren Reichtum, Üppigkeit und äußerer Schliff im Gegensatz zu ihrer Unwissenheit, Beschränktheit und inneren Rohheit den Begriff der Neobarbarei erwecken. Im Hinblick auf diese von Sealsjield bis Bret Harte in tausend Bildern uns vorgeführte Seite des amerikanischen Lebens gewöhnte man sich, die gefürchtete Überwucherung und Durchdringung der europäischen Kultur mit Realismus und das reißend wachsende Übergewicht der Technik als Amerikanisierung zu bezeichnen. Seitdem wehte das Sternenbanner voran im Kampf für eine Idee, ein Ruhm, den die Trikolore für sich allein beanspruchte, und sich nachher, landsknechtsmäßig, für geleistete Kriegsdienste bezahlen ließ. Noch ein anderes Sternenbanner darf das Land der Zukunft solcher Verunglimpfung entgegenhalten, das Banner seiner jungen literarischen Ehren, auf welchem jeder Stern ein ruhmgekrönter Name in Wissenschaft, Dichtung oder Geschichtsschreibung ist. Dennoch bürgerte sich jener Ausdruck ein, und die nicht amerikanisierten Amerikaner werden wohl nichts dawider haben, daß man sich seiner bediene, da sie meist gern bereit sind, die damit gemeinte schwache Seite in der Erziehung des jungen Riesen zu beklagen. Aber wie? Sehen wir nicht, indem wir über amerikanische Kultur uns erheben, den Splitter in unseres Bruders Auge, und werden nicht gewahr des Balkens in unserem Auge? 143

Wie steht es mit dem Widerstande, den die im Vergleich zur amerikanischen so altgesicherte, so festgegründete deutsche Kultur jenen bedrohlichen Strebungen entgegensetzt? \V ollen wir uns nicht einer der neuerlich bei uns beliebt gewordenen Selbsttäuschungen hingeben, so müssen wir gestehen, daß wir in der Amerikanisierung schon beunruhigende Fortschritte machten. Deutschland ward einig und stark, und erfüllt ist unser Jugendwunsch, den deutschen Namen wieder geachtet zu sehen auf Land und Meer. \Ver mäkelte gern an solchen Errungenschaften? Versetzen wir uns aber in Gedanken zurück in das zerrissene, ohnmächtige, arme, kleinbürgerliche Deutschland unserer Jugend - aus der kalten Pracht der Kaiserstadt zwischen die gedrückten, traulichen Giebel eines wein- und epheuumrankten mitteldeutschen Städtchens -, fehlt uns da nicht etwas in der uns glänzend und betäubend umrauschenden Gegenwart? Müssen wir nicht, wie im Schwalbenlied, seufzen: "Oh, wie liegt so weit, was mein einst war?" Wurde nicht vielleicht bei Deutschlands Umgestaltung während des letzten Menschenalters das Kind mit dem Bade verschüttet? Ging nicht mit der unbestimmten Sehnsucht, dem unbefriedigten Streben, dem nagenden Zweifel am eigenen Können dem deutschen Volk auch viel verloren von seiner Begeisterung für Ideale, seinem uneigennützigen Streben nach Wahrheit, seinem stillen und tiefen Gemütsleben? Traumähnlich entschwunden ist die kurze Blüte unserer Literatur. Wie Politik und Naturwissenschaft mit ihren harten Wirklichkeiten das anmutige Geplauder der Pariser Salons zum Schweigen brachten, so haben sie bei uns den Epigonen der klassischen und romantischen Heroen übel gebettet. Goethe selber, wenn er heute jung würde, ließe vermutlich Götz, Werther und Faust ungeschrieben, und übte lieber im Reichstage die von Gall an ihm diagnostizierte, damals nur an den Vögeln von Malcesine erprobte Volksrednergabe.f>G Bei allem Glanz, in welchem die deutsche \Vissenschaft zur Stunde noch strahlt, vermissen wir an dem aufwachsenden Geschlechte schmerzlich. die edle Leidenschaft, welche allein für fortgesetzte geistige Großtaten bürgt. Die in jüngster Zeit wiedererwachte Neigung der Deutschen für philosophische Speku-

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lation beweist nur die Wahrheit des Natur' expelles furc(l etc., und ist nicht geeignet, uns über die sehr allgemein verbreitete und rasch wachsende Gleichgültigkeit der Jugend gegen alles zu beruhigen, wo man nicht Wo und Wie sieht, was nichts ein- und nicht vorwärts bringt. VIII. Die preußische Gymnasialbildung im Kampfe mit der vorschreitenden Amerikanisierung Wie ist solcher banausischen Verflachung der Jugend vorzubeugen? Die Antwort scheint leicht und ist schon oft gegeben. Halten wir der die Ideale zergliedernden, was sie nicht in nüchternes Licht zu setzen vermag, verächtlich beiseite schiebenden, die Geschichte ihrer ergreifenden .Macht, die Natur selber des reizenden Schleiers beraubenden Naturwissenschaft das Palladium des Humanismus entgegen. Wie er die Menschheit aus dem Verließe der scholastischen Theologie errettete, so trete er jetzt in die Schranken wider den neuen Feind harmonischer Kultur. Die von unvergänglichem Zauber umwitterten Menschenund Göttergestalten des Altertums, jene Sagen und Geschichten der mittelländischen Völker, in welchen fast alles Schöne und Gute wurzelt, der geistige Umgang mit der hochgestimmten antiken Gesellschaft, die zwar der Naturwissenschaft entbehrte, aus deren Mitte aber bevorzugte Männer zu kaum wieder erreichter Größe aufstiegen: sie sind es, von deren Einwirkung auf das jugendliche Gemüt am sichersten Heil im Kampfe gegen die mit eisernem Arm heute nur noch locker, bald jedoch enger und enger uns umschnürende Neobarbarei zu hoffen ist. Der Hellenismus halte den Amerikanismus von unseren geistigen Grenzen fern. Allein kann denn die Jugend mit dem klassischen Altertume noch inniger und dauernder in Berührung gebracht werden, als schon geschieht? Sind nicht hierfür in unseren altbewährten Gymnasien alle Anstalten auf das sorgfältigste getroffen? Welches Land darf sich rühmen, einem so großen Teile seiner Jugend, auch dem weniger bemittelten, einen so gründlichen klassischen Unterricht zu erteilen? 145

Vortreffliche Universitätsprofessoren besitzen auch andere europäische Nationen; der oft tiefgelehrte, anspruchslose, arbeitsfreudige Oberlehrer ist ein deutscher Typus, auf welchen wir mit Recht stolz sind. Wir stehen nicht nur obenan im klassischen Gymnasialunterrichte, sondern nach allem Ermessen auch an der Grenze des .Möglichen, und wenn es gegen Sinken des deutschen Idealismus keine andere Hilfe gibt, als auf den Gymnasien noch mehr Latein und Griechisch zu treiben, so ist die Hoffnung, dies Sinken aufzuhalten, zu klein. Es wird paradox erscheinen, wenn nun hier behauptet wird, daß freilich durch mehr Griechisch und Latein dieser Erfolg kaum zu erzielen sein möchte, vielleicht aber durch etwas weniger. In der Tat, sollen nicht unsere Gymnasien der Amerikanisierung Vorschub leisten, anstatt ihr entgegenzuarbeiten, so halte ich gewisse Reformen ihres Lehrplanes für dringend geboten. Die Gymnasialerziehung der deutschen Jugend übt, der Heerverfassung vergleichbar, einen ungeheuren Einfluß auf das deutsche Leben. Das Gymnasium hat es nach und nach zu wahrhaft despotischer Herrschaft über die Familie gebracht. Für jeden gebildeten Bürger, vollends wenn er selber das Gymnasium durchmachte und Söhne auf das Gymnasium zu schicken hat, besteht also Recht und Pflicht, sich um Gymnasialeinrichtungen zu kümmern. Doppelt berechtigt ist er dazu, wenn er, den gelehrten Ständen angehörig, noch sonst Gelegenheit hatte, die Früchte der Gymnasialerziehung zu beobachten. In dieser Lage befinde ich mich. Nicht allein bin ich als Universitätslehrer in steter Berührung mit Studierenden der ersten Semester, und zwar, durch meine öffentlichen Vorlesungen, vielfach auch mit anderen als Medizinern, sondern ich habe auch seit über einem Vierteljahrhundert als Examinator in den medizinischen Staats- und Fakultätsprüfungen das Wissen und den Bildungsgrad von etwa dreitausend jungen Männern mehr oder minder genau kennen gelernt, welche zwei bis vier Jahre vorher das Zeugnis der Reife erwarben. Ich habe aber noch besonderen Anlaß mich über Gymnasialeinrichtungen zu äußern. Im Jahr 1869 wurden Rektoren und Senate der preußischen Universitäten vom vor-

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geordneten Ministerium zu einem Gutachten über die Frage aufgefordert: "ob und wie weit die Realschulabiturienten zu den Fakultätsstudien an den Universitäten zugelassen werden können?" Als damaligem Rektor der Universität zu Berlin fiel die Abfassung des von deren Senat abzugebenden Gutachtens mir zu. Nicht bloß im Auftrage des Senates, sondern mit der Wärme innerer Überzeugung sprach ich mich gegen Zulassung der Realschul-Abiturienten aus, und bemühte ich mich auf jede Weise, den durch nichts zu ersetzenden Wert klassischer Studien ins Licht zu setzen. Ich hob übrigens schon damals in Übereinstimmung mit dem Senat hervor, daß, weil man die Partei des Gymnasiums gegenüber der Realschule nehme, man ersteres keineswegs für vollkommen, d. h. für nicht der Verbesserung im einen oder anderen Punkte fähig und bedürftig halte.ü7 Wenn ich jetzt ein Gutachten über dieselbe Frage in demselben Sinne abzufassen hätte, wäre ich verlegen. Meine Überzeugung von der durch klassische Bildung erteilten Überlegenheit ist noch die nämliche. Meine Abneigung, die Abiturienten von Realschulen denen von Gymnasien gleichzustellen, ward nicht geringer. Dagegen ward seitdem in mir die Überzeugung immer lebhafter, daß die gegenwärtige Gymnasialerziehung keine genügende Vorbildung für das medizinische Studium bietet, während ich mich leider auch zur Meinung bekennen muß, daß sie überhaupt nicht ganz das leistet, was sie sich vorsetzt. Ich könnte daher Fernhaltung der Realschul-Abiturienten wenigstens von den medizinischen Fakultätsstudien nicht mehr für gerechtfertigt ansehen, würden nicht gewisse Reformen des Gymnasiallehrplanes zugestanden. Da ich einst an hervorragender Stelle eine andere Ansicht verfocht, fühle ich jetzt die Verpflichtung, öffentlich zu erklären, daß ich meine Meinung geändert habe, und die Gründe dafür anzugeben. Sollte bei den bevorstehenden Verhandlungen über das der Landesvertretung dem Vernehmen nach in nächster Zeit vorzulegende Unterrichtsgesetz jenes Gutachten zur Sprache kommen, so möchte ich für meinen Teil nicht mehr dafür einstehen. Übrigens brauche ich wohl kaum zu sagen, daß ich hier nicht etwa eine nach meinen

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Kräften gründliche Behandlung des Gegenstandes im Sinne habe, sondern nur kurz die Richtung andeuten will, in welcher ich den Lehrplan der Gymnasien umgestaltet sehen möchte. Ich bedaure, zunächst den Eindruck mitteilen zu müssen, den ich im Laufe der Zeit immer stärker erhalte, daß die humanistische Bildung des mittleren Mediziners bei uns viel zu wünschen übrig läßt. Die Unsicherheit in der lateinischen Formenlehre, die Beschränktheit des lateinischen und griechischen Wortschatzes, die Unfähigkeit griechische Kunstausdrücke herzuleiten, sind bei vielen unserer ..Vlediziner wenige Jahre nach bestandener Reifeprüfung so groß, daß die dadurch verratene mangelhafte Schulung zur Zeit der Prüfung wohl nur durch mechanische Abrichtung übertüncht war. Bis zu welchem Grade diese jungen Männer in der Personen-, Gedanken- und Formenwelt des Altertums heimisch waren, ob sie das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit den Alten und der geistigen Herkunft von ihnen hatten, welches eigentlich den Humanismus ausmacht: das zu beurteilen bot sich mir natürlich weniger Gelegenheit. Auch vom geschichtlichen Wissen der Mediziner erhielt ich nicht regelmäßig Kenntnis. Ihre Gleichgültigkeit gegen allgemeine Begriffe und geschichtliche Herleitung machte es mir aber schwer zu glauben, daß sie mit antikem Geiste getränkt seien und eine gute historische Bildung genossen hätten. Dazu kommt ein anderer beklagenswerter Umstand . ..Vleist sprachen und schrieben die jungen Leute fehlerhaftes, geschmackloses Deutsch. Wegen der Unsicherheit der deutschen Rechtschreibung, Wort- und Satzbildung ist der Unterricht in der Muttersprache bei uns schwieriger als bei Völkern mit festgestelltem Sprachgebrauch. Allein die jungen Leute hatten gewöhnlich nicht einmal den Begriff, daß man auf Reinheit der Sprache und Aussprache, Gewähltheit des Ausdruckes, Kürze und Schärfe der Rede bedacht sein könne. Man schämt sich als Deutscher solcher Barbarei, wenn man den liebevollen Fleiß kennt, den Franzosen, Engländer, andere Völker auf Ausbildung in ihrer Muttersprache wenden, deren Regeln zu verletzen ihnen als Entweihung erscheint. Dieser Mangel in der Er148

ziehung unserer Studenten hängt mit einem tief gelegenen Nationalfehler der Deutschen zusammen, dem ich bei anderer Gelegenheit eine Betrachtung gewidmet habe.68 Um so mehr wäre zu wünschen, daß das Gymnasium ihn erfolgreich bekämpfte. Mit der Vernachlässigung in der Muttersprache geht bei der jetzigen Jugend Hand in Hand eine oft erstaunlich geringe Belesenheit in den deutschen Klassikern. Es gab in Deutschland eine Zeit, wo man aus dem ersten Teile des "Faust" nicht mehr zitierte, weil das Zitat zu Tode gehetzt war. Gehen wir wirklich einer Zeit entgegen, wo man nicht mehr daraus zitieren kann, weil die Anspielung nicht verstanden wird? Was die mathematische Ausbildung der Mediziner betrifft, so sehe ich davon ab, daß nur wenig Lehrer es dahin bringen, allen ihren Schülern gleichmäßig fortzuhelfen. Es gibt offenbar in anderer Beziehung sehr brauchbare Köpfe, denen Mathematik ein Buch mit sieben Siegeln bleibt. Hier richten sich meine Ausstellungen vielmehr auf das für die Prima unserer Gymnasien durch Überlieferung und Übereinkunft festgestellte mathematische Pensum. Dies Pensum heißt in einem offiziösen Lehrplane: "Körperliche Geometrie nebst Oberflächen- und Körperberechnung; geometrische und stereometrische Aufgaben. Algebraische Aufgaben, insbesondere unter Anwendung der Algebra auf Geometrie. Unbestimmte Gleichungen; Kettenbrüche; binomischer Lehrsatz." Obschon mit "algebraischen Aufgaben, insbesondere unter Anwendung der Algebra auf Geometrie" analytische Geometrie gemeint sein könnte, ist diese durch eine ältere, aber noch gültige Entscheidung des Ministeriums vom Lehrplan unserer Gymnasien ausgeschlossen, und der mathematische Lehrplan der Realschule erster Ordnung geht hierin über den des Gymnasiums hinaus.69 Dies halte ich für einen ernsten Fehler. Das Studium der Mathematik entfaltet seine bildende Kraft vollauf erst mit dem Übergange von den elementaren Lehren zur analytischen Geometrie. Unstreitig gewöhnt schon einfachste Geometrie und Algebra den Geist an scharfes quantitatives Denken sowie daran, nur Axiome oder schon Bewiesenes für richtig zu nehmen. Die Darstellung von Funktionen in 14

Wollgas t, Philosophie

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Kurven oder Flächen aber eröffnet eine neue Welt von Vorstellungen und lehrt den Gebrauch einer der fruchtbringendsten Methoden, durch welche der menschliche Geist seine eigene Leistungsfähigkeit erhöhte. Was die Erfindung dieser Methode durch V iete und Descartes der Menschheit ward, das wird Einführung in sie noch heute jedem für diese Dinge nur einigermaßen Begabten: ein für das Leben epochemachender Lichtblick. Diese Methode wurzelt in den letzten Tiefen menschlicher Erkenntnis und hat dadurch an sich ganz andere Bedeutung, als der sinnreichste, einem besonderen Falle dienende analytische Kunstgriff. Zwar ist Trigonometrie analytische Geometrie; wie sie auf dem Gymnasium getrieben wird, hat sie es, gleich der Stereometrie, wie beider Name sagt, mehr nur mit Ausmessen zu tun, und ihre Anwendung bleibt auf einen gewissen Kreis von Aufgaben beschränkt. Dagegen ist zwischen irgendwelchen zwei Größen, deren eine als von der anderen abhängig aufgeiaßt werden kann, keine noch so verwickelte Beziehung denkbar, die nicht durch eine Kurve darstellbar wäre, wovon Quetelet lehrreiche Proben gab, indem er Neigung zum Verbrechen, literarisches Talent u. d. m. als Funktion des Alters des Individuums durch Kurven darstellteJO Diese Art, den Zusammenhang der Dinge sich vorzustellen, ist daher dem Verwaltungsbeamten, dem Nationalökonomen so dienlich wie dem Physiker und Meteorologen. Vollends die Medizin kann diese Methode nicht entbehren. In der vom März 1848 gezeichneten Vorrede zu meinen "Untersuchungen über tierische Elektrizität", empfahl ich sie als die Art, Mathematik in der Physiologie anzuwenden, auch wo die Verwickelung zu groß ist, um erfolgreich zu messen, zu wägen, oder die Zeit zu zählen. Ich zuerst legte damals eine Abszissenachse in den Nerven, während Ludwig den Blutstrom selber seine Druckschwankungen, Helmholtz den Muskel seine Zusammenziehung in Kurven aufzeichnen ließen. Heute gibt es, namentlich durch M areys Bemühungen, kaum ein Gebiet der Experimentalphysiologie und -pathologie, wo nicht die autographische Methode wichtige Aufschlüsse lieferte. Da aber die Mediziner das Gymnasium verlassen haben

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können, ohne von einem Koordinatensysteme zu hören, muß ich alljährlich, am Anfang meiner Vorlesungen über Physiologie, den Zuhörern erst noch die Grundbegriffe der analytischen Geometrie beibringen. Aus den Motiven der oben angeführten Entscheidung des Ministeriums, durch welche Kegelschnitte vom Gymnasiallehrplan ausgeschlossen werden, erhellt, daß deren Verfasser schwerlich eine Vorstellung von der allgemeinen Bedeutung der von ihm mit dem Bann belegten Lehre hatte, und daß er sie als zu schwer für die Prima ansah. Letzteres ist irrig. Vielmehr gibt es Köpfe, denen, bei tieferer Begabung und mehr philosophischer Anlage, die untergeordnete Art von Aufmerksamkeit abgeht, welche nötig ist, um eine weitläufige trigonometrische Rechnung durchzuführen, und denen analytische Geometrie viel leichter wird. Daß analytische Geometrie durch Differentialund Integralrechnung den Weg zu den letzten und höchsten Zielen der Mathematik, also auch zu deren schwierigsten Teilen bahnt, kann doch nur einen Grund mehr abgeben, schon auf dem Gymnasium damit anzufangen. Um ein gegen mich geäußertes Bedenken nicht unerledigt zu lassen, sei noch erwähnt, daß bei dem glänzenden Zustand, in welchem der mathematische Unterricht auf den deutschen Universitäten schon seit längerer Zeit sich befindet, die augenblicklich in den oberen Klassen der Gymnasien angestellten Lehrer der Mathematik dem Unterricht in analytischer Geometrie wohl ausnahmslos gewachsen sind und die Ermächtigung, sie vorzutragen, sogar freudig begrüßen würden; wie denn auch einige der ersten lebenden Autoritäten in diesem Gebiet die hier vorgetragene Ansicht teilen. Übrigens wird in mehreren deutschen, nicht preußischen Gymnasien, und in den Realgymnasien, analytische Geometrie erfolgreich gelehrt. Ich rede nicht davon, daß die angehenden :Mediziner, welche bei ihrem Studium und nachmals bei Ausübung ihrer Kunst wesentlich auf den Gebrauch ihrer Sinne angewiesen sind, vom Gymnasium hierin nur ausnahmsweise kümmerliche Schulung mitbringen. Ich lasse dies beiseite, weil der Mediziner hier nicht als solcher, sondern nur als Probe des Studierenden im allgemeinen oder insofern uns

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angeht, als ich vorzüglich an ihm meine Erfahrungen über die Früchte des Gymnasiums sammelte. Jetzt entsteht die Frage, ob das Gymnasium bei Studierenden anderer Fakultäten vielleicht besser sein Ziel erreiche. Bis zu einem gewissen Grade wohl: bei denen, welche später . Geisteswissenschaften sich widmen, werden Naturanlage und häusliche Umgebung humanistische Studien oft mehr begünstigen, als bei denen, welche erblicher Realismus Medizin und Naturforschung zutreibt. Übrigens sind Theologen und Juristen in besserer Lage, um sich ihre humanistische Bildung zu erhalten, als die Mediziner, welche vom ersten Semester an eine Welt von Dingen packt, die mit den klassischen Studien höchstens durch Terminologie zusammenhängen. Eben darum ist der bei Medizinern durchschnittlich vorhandene Grad humanistischer Bildung besonders geeignet, zu zeigen, wie weit das Gymnasium imstande sei, das Überhandnehmen des Realismus zu bekämpfen. Allein auch wenn man die Jünglinge der verschiedensten Richtungen betrachtet, welche Gymnasialbildung erhielten, findet man nicht, daß bei ihnen hinreichend lebhafte Teilnahme für den Inhalt der klassischen Studien hinterblieb, um davon Rückwirkung im idealistischen Sinn ernstlich erwarten zu können. Sieht man von den hier nicht in Frage kommenden Philologen ab, so ist die Zahl derer, welche später einmal einen alten Schriftsteller aufschlagen, verschwindend klein. Statt mit begeisterter Anhänglichkeit, denken die meisten mit Gleichgültigkeit, nicht wenige mit Widerwillen an die Klassiker. Sie erinnern sich ihrer nur als der Drillwerkzeuge, an welchen ihnen grammatische Regeln eingeübt wurden; wie Auswendiglernen unbedeutender Jahrzahlen der Begriff ist, der ihnen von Weltgeschichte bleibt. Und dazu saßen diese jungen Männer bis zu ihrem achtzehnten, zwanzigsten Jahre dreißig Stunden wöchentlich auf der Schulbank? Dazu trieben sie vorwiegend Latein, Griechisch und Geschichte? Zu so kläglichem Ende malt das Gymnasium das Leben des deutschen Knaben erbarmungslos grau in grau, und entläßt es zwei Drittel seiner Abiturienten als Brillenträger? 71 Dieser Sachlage gegenüber fragt man sich denn doch,

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ob alles in Ordnung, ob es nicht an der Zeit sei und der Mühe lohne, einen Reformversuch zu machen. Hier, wie überall, ist es freilich, besonders für Außenstehende, leichter zu tadeln, als zu sagen, wie dem Fehler abzuhelfen sei. Hier, wie so oft in verwickelten Fragen der Verwaltung und des menschlichen Lebens überhaupt, gilt der Satz von den vielen Ursachen. Man trifft die eine, und zehn andere nicht minder wirksame entschlüpfen unberücksichtigt. Doch will ich, auf die Gefahr hin, mich bloßzustellen, mit meinen Gedanken nicht zurückhalten. Ohne den ausgezeichneten Männern, welche an der Gestaltung unseres Gymnasialwesens sich beteiligten oder noch daran arbeiten, zu nahe treten zu wollen, kann ich meine Überzeugung nicht verbergen, daß der Geist des Gymnasiums nicht gehörig Schritt hielt mit der Entwickelung des modernen Geistes der Menschheit. Wie aus dem Vorigen hervorgeht, habe ich ein offenes Auge für die Gefahren, mit denen zu weit getriebener Realismus unsere geistige Kultur bedroht. Aber die neue Gestalt, welche die Naturwissenschaft dem menschlichen Dasein erteilte, ist doch auch nicht wegzuleugnen. Es hieße den Kopf in den Sand stecken, wie der Vogel Strauß, wollte man den gewaltigen, vorher geschilderten Umschwung verkennen, und es wäre vergeblich und gefährlich, dem rollenden Rade solcher weltgeschichtlichen Entwickelung in die Speichen zu fallen. Bis jetzt hat aber das Gymnasium dieser Entwickelung nicht gebührend Rechnung getragen. Trotz einigen mehr scheinbaren als wirklichen Zugeständnissen ist es im Innersten noch immer die aus der Zeit der Reformation, wo es noch keine Naturwissenschaft gab, stammende gelehrte Schule, welche wesentlich auf Vorbereitung für Geisteswissenschaften bedacht ist. In diesem Zurückbleiben des Gymnasiums hinter den Forderungen der Zeit liegt die Stärke der Realschule. Auf die verwickelte Frage nach den Befugnissen beider Arten von Anstalten einzugehen, kann hier nicht meine Absicht sein. Übrigens bekenne ich mich zur Ansicht derer, welche nur eine Art höherer Schule wollen, die ihre Zöglinge gleich vorbereitet und gleich berechtigt zur Universität, zur Gewerbe- und zur Bauakademie, zum Heer usw. entlasse.

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Selbstverständlich müßte dies das zweckmäßig umgestaltete humanistische Gymnasium sein. Um ohne jede weitere Verwaltungsmaßregel der Nebenbuhlerschaft der Realschule ein Ende zu machen, scheint nur nötig, daß das Gymnasium den Zeitbedürfnissen etwas von seinen ehrwürdigen, aber überlebten Ansprüchen opfere und etwas mehr den Strebungen der modernen Welt sich anpasse. Sobald das Gymnasium bona fide mit neuem Geiste sich tränkt und geeignete Vorbildung auch solchen gewährt, welche anderen als Geisteswissenschaften sich widmen, wird jene Nebenbuhlerschaft von selber aufhören. Die viel erörterte Frage nach Zulassung der Realschul-Abiturienten zu Fakultätsstudien wäre dadurch aus der Welt geschafft, daß die Realschule auf das ursprünglich ihr zugedachte Maß einer in ihrem Kreise sehr nützlichen Gewerbeschule zurückginge. Was ich denn vom Gymnasium verlangen würde, damit es mir den Forderungen der Zeit zu entsprechen scheine? Im Grunde äußerst wenig. Ein erstes ist klar. Ich verlange mehr Mathematik. Der mathematische Lehrplan des Gymnasiums müßte die Diskussion der Gleichung zweiten Grades und einige andere ebene Kurven umfassen, wie auch durch die Tangententheorie den Blick in die Differentialrechnung eröffnen. Hierzu müßten freilich der Mathematik mehr Stunden, statt vier sechs bis acht, eingeräumt werden. Bei den Versetzungs- und Reifeprüfungen müßte Mathematik den alten Sprachen und der Geschichte wirklich gleichstehen. Die Gleichberechtigung der Mathematiklehrer mit den Lehrern jener Fächer würde dann auch eine Wahrheit werdel}. Man erwartet nun vielleicht, daß ich vom Gymnasium auch noch eine große Erweiterung des naturwissenschaftlichen Unterrichtes zu fordern im Sinne habe. Aber ich beabsichtige gar nicht, aus dem Gymnasium eine naturwissenschaftliche Bildungsanstalt zu machen. Alles, was ich will, ist, daß es den Bedürfnissen des künftigen Arztes, Baumeisters, Offiziers so gerecht werde, wie denen des künftigen Richters, Predigers, Lehrers der klassischen Sprachen. Ich wünsche also nur soviel Naturbeschreibung in den unteren Klassen, daß der Sinn für Beobachtung 154

geweckt werde, und daß sich Gelegenheit biete, die Knaben mit der gleichfalls in den Tiefen der Erkenntnis wurzelnden Klassifikationsmethode vertraut zu machen, deren erziehende Kraft Cuvier so eindringlich schildert.72 Der Darwinismus, dem ich sonst huldige, bleibe dem Gymnasium fern. In den höheren Klassen wünsche ich aus den in meinem Gutachten73 angegebenen Gründen nicht etwa Physik und Chemie mit Versuchen, sondern Mechanik, die Anfangsgründe der Astronomie, der mathematischen und physikalischen Geographie, wofür ohne Schaden eine Stunde mehr als bisher ausgeworfen werden könnte. Wie aber Zeit gewinnen für diese Neuerungen? In der Prima wären durch Aufhebung des Religionsunterrichtes zwei Stunden einzubringen. Man begreift nicht, was dieser solle in einer Klasse, deren protestantische Schüler alle schon eingesegnet sind: daher denn auch in dem vorher erwähnten offiziösen Lehrplan über eine halbe Seite engen Druckes darauf verwendet ist, das Pensum dieses Unterrichtes zu erläutern, während für das mathematische Pensum fünf Zeilen genügten. Wenn man jene halbe Seite, und die entsprechende für Obersekunda, liest, glaubt man, den Lehrplan eines theologischen Seminars vor sich zu haben. Beim besten Willen bleibt dunkel, wie ,.Lesen der Augustana, woran die Unterscheidungslehren geknüpft werden"74 zur allgemeinen Bildung gehöre, welche das Gymnasium seinen Zöglingen mitgeben soll. Mein anderer Vorschlag, um für Mathematik und Naturwissenschaft Luft zu schaffen, wird vermutlich noch mehr, wenigstens in noch weiterem Kreise anstoßen, als der erste. Kaum wage ich es auszusprechen: ich wünsche die formale Beschäftigung mit dem Griechischen einzuschränken. Meine Begeisterung für die Schönheiten der griechischen Literatur gibt gewiß der keines deutschen Schulmannes etwas nach. Allein ich täusche mich sehr, oder das, was eigentlich Zweck des griechischen Studiums ist: Kenntnis griechischer Sage, Geschichte und Kunst, Durchdrungensein mit griechischen Idealen und Ideen, kann auch ohne die unsägliche und meist für das Leben verlorene Mühe erreicht werden, welche es kostet, ein paar griechische Sätze auch nur auf das Notdürftigste zusammenstümpern zu

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lernen. Als Goethe "Iphigenie" dichtete, Thorwaldsen den Alexanderzug modellierte, konnten sie sicher nicht ein griechisches Extemporale in Untersekunda eines unserer Gymnasien schreiben.75 Wenn es einen griechischen Schriftsteller gibt, den fast alle Schüler mit Verständnis, ja Begeisterung lesen, viele auswendig und lieb behalten, so ist es Vater Homer. Und doch weicht seine Mundart von der, in welcher die Externparalien geschrieben werden, so ab, daß die durch diese gewährte Übung für ihn so gut wie nicht da ist. Es gelingt also auch ohne schriftliche Exerzitien, eine tote Sprache so weit zu bewältigen, wie es für das Lesen der Autoren nötig ist; und wie Homer könnten auch die attischen Musterschriftsteller gelesen werden, indem die schriftliche Arbeit dabei auf Vorbereitung und Übersetzung sich beschränkte. Ich habe schon früher einmal meine ketzerische Meinung entwickelt, daß zu viel Beschäftigung mit dem Griechischen der deutschen Schreibart nachteilig gewesen sei.76 Uniraglieh ist Latein mit seiner durchsichtigen Klarheit, seiner knappen Bestimmtheit und sicheren Auslegbarkeit ein besserer Lehrgegenstand, um daran den Verstand zu üben und den Sinn für die grundlegenden Erfordernisse einer guten Schreibart, Richtigkeit, Schärfe und Kürze des Ausdruckes zu wecken und zu bilden, als Griechisch mit seinen vielen Formen und Partikeln, deren Bedeutung mehr künstlerisch geahnt, als logisch zergliedert werden kann. Seit der Zeit, wo der Gymnasialunterricht wesentlich seine heutige Gestalt erhielt, wandelte sich unsere Kenntnis des Altertums fast völlig um: die dürre Philologie ward lebendige Kunde jener untergegangenen Welt, und noch täglich vermehren glückliche Ausgrabungen unseren Schatz antiker Lebensbilder. Den Laien in der Pädagogik will es bedünken, als müßte hier, wie beim naturwissenschaftlichen Unterricht, die Demonstratio ad oculos Wunder tun, und als ließe sich durch Vorzeigen von Abbildungen den Schülern in wenig Stunden mehr echter Hellenismus einflößen, als durch noch so langes Reden über die Aoriste, den Konjunktiv und Optativ, und die Partikeldv. Im Geschichtsunterricht wünschte ich den oft in unersprießliche Einzelheiten der bürgerlichen Geschichte -

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beispielsweise der römischen Parteikämpfe oder der mittelalterlichen Zänkereien zwischen Kaiser und Papst - sich versteigenden Lehrgang reichlicher, als zu geschehen pflegt, mit umfassenden Kulturgemälden durchflochten zu sehen, auf denen die Gestalten wissenschaftlicher, literarischer und künstlerischer Heroen sich abhöben. Die Menge sehr nutzloser Jahrzahlen, welche man die jungen Leute auswendig lernen läßt, fällt um so peinlicher auf, wenn man sich erinnert, daß ihnen die wichtigsten Konstanten der Natur, selbst ihrem Dasein nach, unbekannt sein dürfen. Gehört es wirklich mehr zur allgemeinen Bildung, das ] ahr eines agrarischen Gesetzes oder des Regierungsantrittes eines salisch-fränkischen Kaisers auswendig zu wissen, als die Verbrennungswärme des Kohlenstoffs oder das mechanische Wärmeäquivalent? Die Zeit erlaubt mir nicht, auf die Frage nach dem Gymnasialunterricht in den neueren Sprachen mich einzulassen. Wichtiger und schwieriger erscheint mir übrigens die Frage, wie bessere Ausbildung der Gymnasialschüler in der Muttersprache zu erreichen sei. Ich erwähnte schon, daß es meiner Meinung nach dabei um Bekämpfung eines deutschen Nationalfehlers sich handelt; diesen Punkt genauer zu erörtern, würde vollends uns hier zu weit führen. Ich sprach bisher immer nur von meinen Wünschen. Allein ich stehe damit nicht allein. Eine große Zahl ansehnlicher Männer jeden Faches weiß ich mit mir in Übereinstimmung. Unter der Fahne:

"Kegelschnitte! Kein griechisches Skriptum mehr!" getraue ich mir, ein durch die Summe der darin vertretenen Intelligenz formidables Gymnasialreform-Meeting zusammenzubringen. Lebhaft freue ich mich, mit meinem Fachgenossen, Hrn. Prof. Adolph Fick in Würzburg, welcher unlängst "Betrachtungen über die Gymnasialbildung" 77 veröffentlichte, in fast allen wesentlichen Punkten mich zu begegnen. Es wäre vermessen, in so verwickelten Dingen die Zukunft durchschauen zu wollen. Um aber schließlich den

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allgemeinen Gedanken wieder aufzunehmen, welcher auf diese besondere praktische Frage führte, so scheint mir in einer Reform des Gymnasiums, wie ich sie anzudeuten wagte, immerhin die beste Sicherung zu liegen, welche gegen Überflutung unserer geistigen Kultur mit Realismus sich finden läßt. Das verjüngte Gymnasium, wieder in Übereinstimmung mit den Forderungen der Zeit, wird dem Kampfe mit dem Realismus erst wahrhaft gewachsen sein. Anstatt seine Zöglinge mit klassischen Studien bis zum Ekel zu übersättigen, sie gegen den Zauber des Hellenismus abzustumpfen, durch pedantische Formenquälerei sie gegen den Humanismus zu verstimmen, und durch die ihnen gewaltsam eingeprägte Richtung sie mit der umgebenden Welt in Widerspruch zu versetzen, wird es ihnen eine nach neueren Begriffen harmonische Durchbildung gewähren, welche, auf geschichtlicher Grundlage ruhend, auch die modernen Kulturelemente im richtigen Maß in sich aufnahm. Indem das Gymnasium selber dem Realismus innerhalb gewisser Grenzen eine Stätte bereitet, waffnet es sich am besten zum Kampf wider seine Übergriffe. Indem es ein kleines Stück aufgibt, verstärkt es das Ganze und erhält so vielleicht ein hohes ihm anvertrautes Gut der Nation: wenn er überhaupt noch zu retten ist, den deutschen Idealismus.

Die sieben Welträtsel In der Leibniz-Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 8. Juli 1880 gehaltene Redet

Je ratifie aujourd'hili cette confessionc avec d'autant plus d'empressement, qu'ayant depuis ce temp sbeaucoup plus lu, beaucoup plus meditc, et etant plus instruit, je suis plus en etat d'affirmer que je ne sais rien. Dictionaire philosophique2 j'ose dire pourtant que je n'ai merite Ni cet exces d'honneur, ni cette indignite. Britannicus1

Als ich vor acht Jahren übernommen hatte, in öffentlicher Sitzung der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte einen Vortrag zu halten, zögerte ich lange bis ich mich entschloß, die Grenzen des Naturerkennens zu meinem Gegenstande zu wählen. Die Unmöglichkeit, einerseits das \Vesen von Materie und Kraft zu begreifen, andererseits das Bewußtsein auch auf niederster Stufe mechanisch zu erklären, erschien mir eigentlich als trivitale Wahrheit. Daß man mit Atomistik, Dynamistik, stetiger Ausfüllung des Raumes in gleicher Weise in die Brüche gerate, ist eine alte Erfahrung, an welcher keine Entdeckung der Naturwissenschaft bisher etwas zu ändern vermochte. Daß durch keine Anordnung und Bewegung von Materie auch nur einfachste Sinnesempfindung verständlich werde, haben längst vortreffliche Denker erkannt. Wohl wußte ich, daß über letzteren Punkt falsche Begriffe weit verbreitet seien; fast aber schämte ich mich, den deutschen Naturforschern so abgestandenen Trunk zu schenken, und nur durch die Neuheit meiner Beweisführung hoffte ich Teilnahme zu erwecken.

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Der Empfang, der meiner Auseinandersetzung wurde, zeigte mir, daß ich mich in der Sachlage getäuscht hatte. Dem anfangs kühl aufgenommenen V ortrage widerfuhr bald die Ehre, Gegenstand zahlreicher Besprechungen zu werden, in denen eine große Mannigfaltigkeit von Standpunkten sich kundgab. Die Kritik schlug alle Töne vom freudig zustimmenden Lobe bis zum wegwerfendsten Tadel an, und das Wort "Ignorabimus", in welchem meine Untersuchung gipfelte, ward förmlich zu einer Art von naturphilosophischem Schiboleth.4 Die durch meinen Vortrag in der deutschen Welt hervorgebrachte Erregung läßt die philosophische Bildung der Nation, auf welche wir gewohnt sind, uns etwas zugute zu tun, in keinem günstigen Licht erscheinen. So schmeichelhaft es mir war, meine Darlegung als Kantsche Tat gepriesen zu sehen, ich muß diesen Ruhm zurückweisen. Wie bemerkt, meine Aufstellungen enthielten nichts, was bei einiger Belesenheit in älteren philosophischen Schriften nicht jedem bekannt sein konnte, der sich darum kümmerte. Aber seit der Umgestaltung der Philosophie durch Kant hat diese Disziplin einen so esoterischen Charakter angenommen; sie hat die Sprache des gemeinen :Menschenverstandes und der schlichten Überlegung so verlernt; sie ist den Fragen, die den unbefangenen Jünger am tiefsten bewegen, so weit ausgewichen, oder sie hat sie so sehr von oben herab als unberufene Zumutungen behandelt; sie hat sich endlich der neben ihr emporwachsenden neuen Weltmacht, der Naturwissenschaft, lange so feindselig gegenübergestellt: daß nicht zu verwundern ist, wenn, namentlich unter Naturforschern, das Andenken selbst an ganz tatsächliche Ergebnisse aus früheren Tagen der Philosophie verloren ging. Einen Teil der Schuld trägt wohl der Umstand, daß die neuere Philosophie zur positiven Religion meist in einem negierenden, mindestens in keinem klaren Verhältnis sich befand, und daß sie, bewußt oder unbewußt, vermied, sich über gewisse Fragen unumwunden auszusprechen, wie dies beispielsweise Leibniz konnte, welcher vor keinem Kirchentribunal etwas zu verbergen gehabt hätte. Die Philosophie soll hier dafür weder gelobt noch getadelt werden; aber so

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kommt es, daß bei den Philosophen von der Mitte des vorigen Jahrhunderts an die packendsten Probleme der Metaphysik sich nicht unverhohlen, wenigstens nicht in einer dem induktiven Naturforscher zusagenden Sprache, aufgestellt und erörtert finden. Auch das möchte einer der Gründe sein, warum die Philosophie so vielfach als gegenstandslos und unersprießlich beiseite geschoben wird und warum jetzt, wo die Naturwissenschaft selber an manchen Punkten beim Philosophieren angelangt ist, oft solch ein Mangel an Vorbegriffen, solche Unwissenheit im wirklich Geleisteten sich zeigt. Denn während von der einen Seite mein Verdienst weit überschätzt wurde, rief man von der anderen Anathema über mich, weil ich dem menschlichen Erkenntnisvermögen unübersteigliche Grenzen zog. Man konnte nicht begreifen, warum nicht das Bewußtsein in derselben Art verständlich sein sollte, wie Wärmeentwickelung bei chemischer Verbindung, oder Elektrizitätserregung in der galvanischen Kette. Schuster verließen ihren Leisten und rümpften die Nase über "das fast nach konsistorialrätlicher Demut schmeckende Bekenntnis des ,Ignorabimus', wodurch das Nichtwissen in Permanenz erklärt werde". Fanatiker dieser Richtung, die es besser wissen konnten, denunzierten mich als zur schwarzen Bande gehörig und zeigten aufs neue, wie nah beieinander Despotismus und äußerster Radikalismus wohnen.5 Gemäßigtere Köpfe verrieten doch bei dieser Gelegenheit, daß es mit ihrer Dialektik schwach bestellt sei. Sie glaubten etwas anderes zu sagen als ich, wenn sie meinem "Ignorabimus" ein "Wir werden wissen" unter der Bedingung entgegensetzten, daß "wir als endliche Menschen, die wir sind, uns mit menschlicher Einsicht bescheiden". Oder sie vermochten nicht den Unterschied zu erfassen zwischen der Behauptung, die ich widerlegte: Bewußtsein kann mechanisch erklärt werden, und der Behauptung, die ich nicht bezweifelt, vielmehr durch zahlreiche Gründe gestützt hatte: Bewußtsein ist an materielle Vorgänge gebunden. Schärfer sah David Friedrich Strauß. Der große Kritiker hatte spät die Wandlung durchgemacht, welche gewisse Naturen früher nicht selten in der Jugend rasch durch-

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liefen, vom theologischen Studium zur Naturwissenschaft. Der Naturforscher von Fach mag von den Auseinandersetzungen zweiter Hand gering denken, in denen der Verfasser "des alten und des neuen Glaubens" sich vielleicht etwas zu sehr gefällt. Dem Ethiker, Juristen, Lehrer, Arzte mag die gewaltsame Folgerichtigkeit bedenklich scheinen, mit welcher Strauß seine Weltanschauung ins Leben einzuführen versucht. Wenn ich selber einmal an dieser Stelle mich in diesem Sinn gegen ihn wandte,u so bewundere ich nicht minder die Geisteskraft und Charakterstärke, welche diesen zugleich künstlerisch so begabten Meister des Gedankens in die Mitte der alten Welträtsel trugen, die er freilich auch nicht löst, aber doch ohne jede irdische Scheu beim Namen nennt. Strauß entging es nicht, daß ich mich den geistigen Vorgängen gegenüber durchaus auf den Standpunkt des induktiven Naturforschers gestellt hatte, der den Prozeß nicht vom Substrat trennt, an welchem er den Prozeß kennen lernte, und der an das Dasein des vom Substrat gelösten Prozesses ohne zureichenden Grund nicht glaubt. Etwas erfahrener in verschlungenen Gedankenwegen und an abstraktere Ausdrucksweise gewöhnt, verstand er natürlich den Unterschied zwischen jenen beiden Behauptungen. Strauß und Lange, der zu früh der vVissenschaft entrissene Verfasser der "Geschichte des Materialismus", überhoben mich der Mühe, den Jubel derer, welche in mir einen Vorkämpfer des Dualismus erstanden wähnten, mit dem Spruche niederzuschlagen: "Und wer mich nicht verstehen kann, der lerne besser lesen." Aber auch Strauß tadelte merkwürdigerweise meinen Satz von der Unbegreiflichkeit des Bewußtseins aus mechanischen Gründen. Er sagt: "Drei Punkte sind es bekanntlich in der aufsteigenden Entwickelung der Natur, an denen vorzugsweise der Schein des Unbegreiflichen haftet. Es sind die drei Fragen: wie ist das Lebendige aus dem Leblosen, wie das Empfindende aus dem Empfindungslosen, wie das Vernünftige aus dem Vernunftlosen hervorgegangen? Der Verfasser der ,Grenzen des Naturerkennens' hält das erste der drei Probleme, A, den Hervorgang des Lebens, für lösbar. Die Lösung des dritten Problems, C, der

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Intelligenz und Willensfreiheit, bahnt er sich, wie es scheint, dadurch an, daß er es im· engsten Zusammenhange mit dem zweiten, die Vernunft nur als höchste Stufe des schon mit der Empfindung gegebenen Bewußtseins faßt. Das zweite Problem, B, das der Empfindung, hält er dagegen für unlösbar. Ich gestehe, mir könnte noch eher einleuchten, wenn mir einer sagte: unerklärlich ist und bleibt A, nämlich das Leben; ist aber einmal das gegeben, so folgt von selber, d. h. mittels natürlicher Entwickelung, B und C, nämlich Empfinden und Denken. Oder meinetwegen auch umgekehrt: A undBlassen sich noch begreifen, aber an C, am Selbstbewußtsein, reißt unser Verständnis ab. Beides, wie gesagt, erschiene mir noch annehmlicher, als daß gerade die mittlere Station allein die unpassierbare sein soll." 7 So weit Strauß. Ich bedauere es aussprechen zu müssen, aber er hat den Nerven meiner Betrachtung nicht erfaßt. Ich nannte astronomische Kenntnis eines materiellen Systemes solche Kenntnis, wie wir sie vom Planetensystem hätten, wenn alle Beobachtungen unbedingt richtig, alle Schwierigkeiten der Theorie völlig besiegt wären. Besäßen wir astronomische Kenntnis dessen, was innerhalb eines noch so rätselhaften Organes des Tier- oder Pflanzenleibes vorgeht, so wäre in bezug auf dies Organ unser Kausalitätsbedürfnis so befriedigt, wie in bezug auf das Planetensystem, d. h. soweit es die Natur unseres Intellektes gestattet, welches von vornherein am Begreifen von Materie und Kraft scheitert. Besäßen wir dagegen astronomische Kenntnis dessen, was innerhalb des Gehirnes vorgeht, so wären wir in bezug auf das Zustandekommen des Bewußtseins nicht um ein Haar breit gefördert. Auch im Besitze der Weltformel jener dem unsrigen so unermeßlich überlegene, aber doch ähnliche Laplacesche Geist wäre hierin nicht klüger als wir; ja nach Leibniz' Fiktion mit solcher Technik ausgerüstet, daß er Atom für Atom, Molekel für Molekel, einen Homunculus zusammensetzen könnte, würde er ihn zwar denkend machen, aber nicht begreifen, wie er dächte.S Die erste Entstehung des Lebens hat an sich mit dem Bewußtsein nichts zu schaffen. Es handelt sich dabei nur

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um Anordnung von Atomen und Molekeln, um Einleitung gewisser Bewegungen. Folglich ist nicht bloß astronomische Kenntnis dessen denkbar, was man Urzeugung, Generatio spontanea seu aequivoca, neuerlich Abiogenese oder Heterogenie nennt, sondern diese astronomische Kenntnis würde auch in bezug auf die erste Entstehung des Lebens unser Kausalitätsbedürfnis ebenso befriedigen, wie in bezug auf die Bewegungen der Himmelskörper. Das ist der Grund, weshalb, um mit Strauß zu reden .,in der aufsteigenden Entwickelung der Natur" der Hiat für unser Verständnis noch nicht am Punkte A eintrifft, sondern erst am Punkte B. Übrigens habe ich keineswegs behauptet, daß mit gegebener Empfindung jede höhere Stufe geistiger Entwickelung verständlich, das Problem C ohne Weiteres lösbar sei. Ich legte auf die mechanische Unbegreiflichkeit auch der einfachsten Sinnesempfindung nur deshalb so großes Gewicht, weil daraus die Unbegreiflichkeit aller höheren geistigen Prozesse erst recht, durch ein Argttmentum a fortiori, folgt. Zwar erscheint die erste Entstehung des Lebens jetzt in noch tieferes Dunkel gehüllt, als da man noch hoffen durfte, Lebendiges aus Totem im Laboratorium, unter dem Mikroskop, hervorgehen zu sehen. In Hrn. Pasteurs Versuchen ist die Heterogenie wohl für lange, wenn nicht für immer, der Panspermie unterlegen: wo man glaubte, daß Leben entstehe, entwickelten sich schon vorhandene Lebenskeime. Und doch haben die Dinge so sich gewendet, daß, wer nicht auf ganz kindlichem Standpunkte verharrt, logisch gezwungen werden kann, mechanische Entstehung des Lebens zuzugeben. Dem geologischen Aktualismus und der Deszendenztheorie gegenüber wird sich kaum noch ein ernster Verfechter der Lehre von den Schöpfungsperioden finden, nach welcher die schaffende Allmacht stets von neuem ihr Werk vernichten sollte, um es, gleich einem stümperhaften Künstler, stets von neuem, in einem Punkte besser, in einem anderen schlechter, von vorn wieder anzufangen. Auch wer an Endursachen glaubt, wird eingestehen, daß solches Beginnen wenig würdig der schaffenden Allmacht erscheine. Ihr geziemt, durch supernaturalistischen Eingriff in die Weltmechanik höchstens einmal

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einfachste Lebenskeime ins Dasein zu rufen, aber so ausgestattet, daß aus ihnen, ohne Nachhilfe, die heutige organische Schöpfung werde. Wird dies zugestanden, so ist die weitere Frage erlaubt, ob es nun nicht wieder der schaffenden Allmacht würdiger sei, auch jenes einmaligen Eingriffes in gegebene Gesetze sich zu entschlagen, und die Materie gleich von vornherein mit solchen Kräften auszurüsten, daß unter geeigneten Umständen auf Erden, auf anderen Himmelskörpern, Lebenskeime ohne Nachhilfe entstehen mußten? Dies zu verneinen gibt es keinen Grund; damit ist aber auch zugestanden, daß rein mechanisch Leben entstehen könne, und nun wird es sich nur noch darum handeln, ob die Materie, die sich rein mechanisch zu Lebendigem zusammenfügen kann, stets da war, oder ob sie, wie Leibniz meinte, erst von Gott geschaffen wurde. Daß astronomische Kenntnis des Gehirnes uns das Bewußtsein aus mechanischen Gründen nicht verständlicher machen würde als heute, schloß ich daraus, daß es einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff- usw. Atomen gleichgültig sein müsse, wie sie liegen und sich bewegen, es sei denn, daß sie schon einzeln Bewußtsein hätten, womit weder das Bewußtsein überhaupt, noch das einheitliche Bewußtsein des Gesamthirnes erklärt würde. Ich hielt diese Schlußfolgerung für völlig überzeugend. David Friedrich Strauß meint, am Ende könne doch nur die Zeit darüber entscheiden, ob dies wirklich das letzte Wort in der Sache sei. Das ist es nun freilich nicht geblieben, sofern Hr. Haeckel die von mir behufs der Reductio ad absurdum gemachte Annahme, daß die Atome einzeln Bewußtsein haben, umgekehrt als metaphysisches Axiom hinstellte. "Jedes Atom", sagt er, "besitzt eine inhärente Summe von Kraft, und ist in diesem Sinne ,beseelt'. Ohne die Annahme einer ,Atomseele' sind die gewöhnlichsten und allgemeinsten Erscheinungen der Chemie unerklärlich. Lust und Unlust, Begierde und Abneigung, Anziehung und Abstoßung müssen allen Massenatomen gemeinsam sein; denn die Bewegungen der Atome, die bei Bildung und Auflösung einer jeden chemischen Verbindung stattfinden müssen, sindnur erklärbar, wenn wir ihnen Empfindung und Willen beilegen .... Wenn der ,Wille' des Menschen und 15

Wollga•t, Philosophie

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der höheren Tiere frei erscheint im Gegensatz zu dem ,festen' Willen der Atome, so ist das eine Täuschung, hervorgerufen durch die höchst verwickelte Willensbewegung der ersteren im Gegensatze zu der höchst einfachen Willensbewegung der letzteren." Und ganz im Geist der einst von derselben Stätte aus der deutschen Wissenschaft verderblich gewordenen falschen Naturphilosophie fährt Hr. Haeckel fort in Konstruktionen über das "unbewußte Gedächtnis" gewisser von ihm als "Plastidule" bezeichneter "belebter Atomkomplexe" .9 So verschmäht er den uns von La 1'lrfettrie gewiesenen Weg des induktorischen Erforschens, unter welchen Bedingungen Bewußtsein entstehe.fO Er sündigt wider eine der ersten Regeln des Philosophierens: "Entia non sunt creanda sine necessitate," denn wozu Bewußtsein, wo Mechanik reicht? Und wenn Atome empfinden, wozu noch Sinnesorgane? Hr. Haeckel übergeht die doch genügend von mir betonte Schwierigkeit zu begreifen, wie den zahllosen "Atomseelen" das einheitliche Bewußtsein des Gesamthirnes entspringe. Übrigens gedenke ich seiner Aufstellung nur um daran die Frage zu knüpfen, warum er es für jesuitisch hält, die Möglichkeit der Erklärung des Bewußtseins aus Anordnung und Bewegung von Atomen zu leugnen, wenn er selber nicht daran denkt, das Bewußtsein so zu erklären, sondern es als nicht weiter zergliederbares Attribut der Atome postuliert? Einem mehr in Anschauung von Formen geübten Morphologen ist es zu verzeihen, wenn er Begriffe wie Wille und Kraft nicht auseinanderzuhalten vermag. Aber auch von besser geschulter Seite wurden ähnliche Mißgriffe begangen. Anthropomorphische Träumereien aus der Kindheit der Wissenschaft erneuernd, erklärten Philosophen und Physiker die Fernwirkung von Körper auf Körper durch den vermeintlich leeren Raum aus einem den Atomen innewohnenden Willen.H Ein wunderlicher Wille in der Tat, zu welchem immer zwei gehören! Ein Wille, der, wie Adelheids12 im Götz, wollen soll, er mag wollen oder nicht, und das im geraden Verhältnis des Produktes der Massen und im umgekehrten des Quadrates der Entfernungen! Ein Wille der das geschleuderte Subjekt im

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Kegelschnitt bewegen muß! Ein Wille fürwahr, der an jenen Glauben erinnert, welcher Berge versetzt, aber in der Mechanik bisher als Bewegungsursache noch nicht verwertet wurde. Zu solchem Widersinn gelangt, wer, anstatt in Demut sich zu bescheiden, die Flagge an den Mast nagelt und durch lärmende Phraseologie bei sich und anderen den Rausch zu unterhalten sucht, ihm sei gelungen, woran Newton verzweifelte. In welchem Gegensatze zu solchem Unterfangen erscheint die weise Zurückhaltung des Meisters, der als Aufgabe der analytischen Mechanik hinstellt, die Bewegungen der Körper zu beschreiben.J:J Auf alle Fälle zeigt der heftige und weitverbreitete Widerspruch gegen die von mir behauptete Unbegreiflichkeit des Bewußtseins aus mechanischen Gründen, wie unrecht die neuere Philosophie daran tut, diese Unbegreiflichkeit als selbstverständlich vorauszusetzen. Mit Feststellung dieses Punktes, also mit irgend einer der meinigen entsprechenden Argumentation, scheint vielmehr alles Philosophieren über den Geist anfangen zu müssen. Wäre Bewußtsein mechanisch begreifbar, so gäbe es keine Metaphysik; für das Unbewußte allein bedürfte es keiner anderen Philosophie als der Mechanik. Wenn ich hier einen Versuch der Neuzeit anreihe, die andere Schranke des Naturerkennens weiter hinauszurücken und Licht auf die Natur der Materie zu werfen, um auch ihn als unbefriedigend zu bezeichnen, so ist meine Meinung nicht, ihn mit der Beseelung der Atome gleich niedrig zu stellen. Dieser Versuch ging aus von der Schottischen mathematisch-physikalischen Schule, von Sir William Thomson und jenem Professor Tait, dessen Chauvinismus den Streit über Leibniz' Anteil an der Erfindung der Infinitesimal-Rechnung wieder anfachte, und der sich nicht scheut, Leibniz einen Dieb zu schelten,14 daher die Ehre, heut in diesem Saal genannt zu werden, ihm eigentlich nicht gebührt. Sir William Thomson und Professor Tait glauben, daß sich aus den merkwürdigen Eigenschaften, welche Hr. Helmholtz an den Wirbelringen der Flüssigkeiten entdeckte, mehrere wichtige Eigentümlichkeiten herleiten lassen, die wir den Atomen zuschreiben

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müssen. Man könne sich unter den Atomen außerordentlich kleine, von Ewigkeit her fort und fort sich drehende, verschiedentlich geknotete Wirbelringe denken.t:i Nichts kann ungerechter sein, als, wie in Deutschland geschah, diese Theorie für eine bloße Wiederbelebung der Cartesischen Wirbel auszugeben. Obwohl in den Wirbelringen die wägbare Materie nicht, wie in den die Eisenteilchen umgebenden Strömehen die Elektrizität, parallel der zum Ringe gebogenen Achse, sondern um diese Achse kreist, fühlt man sich durch die Amperesehe Theorie doch günstig für die Thomsonsche gestimmt. Aber so vorschnell es wäre, Sir William Thomsons sinnreiche Spekulation leichthin abweisen zu wollen, weil sie in vielen Stücken zu kurz kommt, eines kann man schon sicher behaupten: daß sie, so wenig wie irgend eine frühere Vorstellung, die Widersprüche schlichtet, auf welche unser Intellekt bei seinem Bestreben stößt, das Wesen der Dinge zu begreifen. Denn gelänge es ihr auch, bei der ihr zugrunde liegenden Annahme stetiger Raumerfüllung die verschiedene Dichte der Materie abzuleiten, sie müßte doch die Wirbelbewegung entweder von Ewigkeit her bestehen, oder durch supernaturalistischen Anstoß entstehen lassen, da sie denn vor der zweiten dem Begreifen der Welt sich widersetzenden Schwierigkeit, dem Problem vom Ursprung der Bewegung, alsbald wieder ratlos stände. Dieser Schwierigkeiten lassen sich im ganzen sieben unterscheiden. Transzendent nenne ich darunter die, welche mir unüberwindlich erscheinen, auch wenn ich mir die in der aufsteigenden Entwickelungihnen voraufgehenden gelöst denke. Die erste Schwierigkeit ist das Wesen von Materie und Kraft. Als meine eine Grenze des N aturerkennens ist sie an sich transzendent. Die zweite Schwierigkeit ist eben der Ursprung der Bewegung. Wir sehen Bewegung entstehen und vergehen; wir können uns die Materie in Ruhe vorstellen; die Bewegung erscheint uns an der Materie als etwas Zufälliges, wofür in jedem einzelnen Falle der zureichende Grund angegeben werden muß. Versuchen wir daher uns einen Urzustand zu denken, in welchem noch keine Ursache auf die Materie eingewirkt hat, so daß in bezug auf Bewegung unserem Kausalitätsbedürfnis keine weitere Frage übrig bleibt, so

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kommen wir dazu, uns vor unendlicher Zeit die Materie ruhend und im unendlichen Raume gleichmäßig verteilt vorzustellen. Da ein supernaturalistischer Anstoß in unsere Begriffswelt nicht paßt, fehlt es dann am zureichenden Grunde für die erste Bewegung. Oder wir stellen uns die Materie als von Ewigkeit bewegt vor. Dann verzichten wir von vornherein auf Verständnis in diesem Punkte. Diese Schwierigkeit erscheint mir transzendent. Die dritte Schwierigkeit ist die erste Entstehung des Lebens. Ich sagte schon öfter und erst eben wieder, daß ich, der hergebrachten Meinung entgegen, keinen Grund sehe, diese Schwierigkeit für transzendent zu halten. Hat einmal die Materie angefangen sich zu bewegen, so können Welten entstehen; unter geeigneten Bedingungen, die wir so wenig nachahmen können, wie die, unter welchen eine Menge unorganischer Vorgänge stattfinden, kann auch der eigentümliche Zustand dynamischen Gleichgewichtes der Materie, den wir Leben nennen, geworden sein. Ich wiederhole es und bestehe darauf: sollten wir einen supernaturalistischen Akt zulassen, so genügte ein einziger solcher Akt, der bewegte Materie schüfe; auf alle Fälle brauchen wir nur einen Schöpfungstag. Die vierte Schwierigkeit wird dargeboten durch die anscheinend absichtsvoll zweckmäßige Einrichtung der Natur. Organische Bildungsgesetze können nicht zweckmäßig wirken, wenn nicht die Materie zu Anfang zweckmäßig geschaffen wurde; so wirkende Gesetze sind also mit der mechanischen Naturansicht unverträglich. Aber auch diese Schwierigkeit ist nicht unbedingt transzendent. Hr. Darwin zeigte in der natürlichen Zuchtwahl eine Möglichkeit, sie zu umgehen, und die innere Zweckmäßigkeit der organischen Schöpfung sowohl wie ihre Anpassung an die unorganischen Bedingungen durch eine nach Art eines Mechanismus mit Naturnotwendigkeit wirkende Verkettung von Umständen zu erklären. Welcher Grad von Wahrscheinlichkeit der Selektionstheorie zukomme, erwog ich schon früher einmal bei gleicher Gelegenheit an dieser Stelle. "Mögen wir immerhin," sagte ich, "indem wir an diese Lehre uns halten, die Empfindung des sonst rettungslos Versinkenden haben, der an eine ihn nur eben über Wasser tragende Planke

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sich klammert. Bei der Wahl zwischen Planke und Untergang ist der Vorteil entschieden auf seiten der Planke." tG Daß ich die Selektionstheorie einer Planke verglich, an der ein Schiffbrüchiger Rettung sucht, erweckte im jenseitigen Lager solche Genugtuung, daß man vor Vergnügen beim Weitererzählen aus der Planke einen Strohhalm machte. Zwischen Planke und Strohhalm aber ist ein großer Unterschied. Der auf einen Strohhalm Angewiesene versinkt, eine ordentliche Planke rettete schon manches Menschenleben; und deshalb ist auch die vierte Schwierigkeit bis auf weiteres nicht transzendent, wie zagend ernstes und gewissenhaftes Nachdenken auch immer wieder davor stehe. Erst die fünfte ist es wieder durchaus: meine andere Grenze des Naturerkennens, das Entstehen der einfachen Sinnesempfindung. Soben wurde an die Art erinnert, wie ich die hypermechanische Natur dieses Problems, folglich seine Transzendenz, bewies. Es ist nicht unnütz zu betrachten, wie dies Leibniz tut. An mehreren Stellen seiner nicht systematischen Schriften findet sich die nackte Behauptung, daß durch keine Figuren und Bewegungen, in unserer heutigen Sprache, keine Anordnung und Bewegung von Materie, Bewußtsein entstehen könne.tl In den sonst gerade gegen den Essay on Human Untersfanding gerichteten Nouveaux Essais sur l' Entendement humain läßt Leibniz den Anwalt des Sensualismus, Philalethes, fast mit Lackes \Vorten1B sagen: .. Vielleicht wird es angemessen sein, etwas Nachdruck auf die Frage zu legen, ob ein denkendes 'A'esen von einem nicht denkenden Wesen ohne Empfindung und Bewußtsein, wie Materie, herrühren könne. Es ist ziemlich klar, daß ein materielles Teilchen nicht einmal vermag, irgend etwas durch sich hervorzubringen und sich selber Bewegung zu erteilen. Entweder also muß seine Bewegung von Ewigkeit, oder sie muß ihm durch ein mächtigeres Wesen eingeprägt sein. Aber auch wenn sie von Ewigkeit wäre, könnte sie nicht Bewußtsein erzeugen. Teilt die Materie, wie um sie zu vergeistigen, in beliebig kleine Teile; gebt ihr was für Figuren und Bewegungen Ihr wollt; macht daraus eine Kugel, einen Würfel, ein Prisma, einen Zylinder u. d. m., deren Dimensionen nur ein Tausendmillionstel 170

eines philosophischen Fußes, d. h. des dritten Teiles des Sekundenpendels unter 45° Breite betragen. Wie klein auch dies Teilchen sei, es wird auf Teilchen gleicher Ordnung nicht anders wirken, als Körper von einem Zoll oder einem Fuß Durchmesser es untereinander tun. Und man könnte mit demselben Recht hoffen, Empfindung, Gedanken, Bewußtsein durch Zusammenfügen grober Teile der }laterie von bestimmter Figur und Bewegung zu erzeugen, wie mittels der kleinsten Teilchen in der Welt. Diese stoßen, schieben und widerstehen einander gerade wie die groben, und weiter können sie nichts. Könnte aber :Materie, unmittelbar und ohne Maschine, oder ohne Hilfe von Figuren und Bewegungen, Empfindung, Wahrnehmung und Bewußtsein aus sich selber schöpfen: so müßten diese ein untrennbares Attribut der Materie und aller ihrer Teile sein." Darauf antwortet Theophil, der Vertreter des Leibnizschen Idealismus: "Ich finde diese Schlußfolgerung so fest begründet wie nur möglich, und nicht bloß genau zutreffend, sondern auch tief, und ihres Urhebers würdig. Ich bin ganz seiner Meinung, daß es keine Kombination oder Modifikation der Teilchen der Materie gibt, wie klein sie auch seien, welche Wahrnehmung erzeugen könnte; da, wie man klar sieht, die groben Teile dies nicht vermöchten, und in den kleinen Teilen alle Vorgänge denen in den großen proportional sind." 19 In der später für Prinz Eugen verfaßten "Monadologie" sagt Leibniz kürzer und mit ihm eigener, charakteristischer Wendung: "Man ist gezwungen zu gestehen, daß die Wahrnehmung, und was davon abhängt, aus mechanischen Gründen, d. h. durch Figuren und Bewegungen unerklärlich ist. Stellt man sich eine Maschine vor, deren Bau Denken, Fühlen, Wahrnehmen bewirke, so wird man sie sich in denselben Verhältnissen vergrößert denken können, so daß man hineintreten könnte, wie in eine Mühle. Und dies vorausgesetzt wird man in ihrem Inneren nichts antreffen als Teile, die einander stoßen, und nie irgend etwas woraus Wahrnehmung sich erklären ließe." 20 So gelangt Leibniz zu demselben Ergebnis wie wir, doch ist dazu zweierlei zu bemerken. Erstens verlor Lockes von Leibniz angenommene Beweisführung an Bündigkeit

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durch die Fortschritte der Naturwissenschaft. Denn vom heutigen Standpunkt aus könnte eingewendet werden, daß bei immer feinerer Zerteilung der Materie allerdings ein Punkt kommt, wo sie neue Eigenschaften entfaltet. Es fällt sogar sehr auf, daß weder Locke noch Leibniz daran dachten, wie es keineswegs gleichgültig ist, ob fußgroße Klumpen Kohle, Schwefel und Salpeter neben- und aufeinander ruhen, oder ob diese Stoffe in bestimmtem Verhältnis zu einem Mischpulver verrieben und zu Klümpchen von einer gewissen Feinheit gekörnt sind. Nicht einmal die mechanische Leistung einander ähnlicher Maschinen ist ihrer Größe proportional. Wenn so die Materie nach dem Grad ihrer Zerteilung andere und andere mechanisch verständliche Wirkungen äußert, warum sollte sie bei noch feinerer Zerteilung nicht auch denken, ohne daß diese neue Wirkung aufhörte, mechanisch verständlich zu sein? Um zu dieser nur scheinbar berechtigten, doch vielleicht manche irreleitenden Frage nicht erst Gelegenheit zu geben, ist es besser, Lockes fortschreitende Zerkleinerung der Materie, Leibniz' Gedankenmühle aus dem Spiel zu lassen, und sogleich von der in Atome zerlegten Materie zu beweisen, daß durch keine Anordnung und Bewegung von Atomen das Bewußtsein je erklärt werde. Die zweite Bemerkung ist, daß wir zwar bis hierher mit Leibniz gehen, aber vorläufig nicht weiter. Aus der Unbegreiflichkeit des Bewußtseins aus mechanischen Gründen schließt er, daß es nicht durch materielle Vorgänge erzeugt werde. Wir begnügen uns damit, jene Unbegreiflichkeit anzuerkennen, der ich gern den drastischen Ausdruck gebe, daß es ebenso unmöglich ist zu verstehen, warum Zwicken des N. trigeminus Höllenschmerz verursacht, wie warum die Erregung gewisser anderer Nerven wohltut.2L Leibniz verlegt das Bewußtsein in die dem Körper zuerteilte Seelenmonade und läßt durch Gottes Allmacht darin eine den Erlebnissen des Körpers entsprechende Reihe von Traumbildern ablaufen. Wir dagegen häufen Gründe dafür, daß das Bewußtsein an materielle Vorgänge gebunden sei. Übrigens wurde gegen meinen Beweis der Unmöglichkeit, Bewußtsein mechanisch zu begreifen, von keiner Seite ein

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Wort vorgebracht; man begnügte sich mit kontradiktorischen Behauptungen. Nach Hrn. Haeckel wäre mein Leipziger Vortrag "im wesentlichen eine großartige Verleugnung der Entwickelungsgeschichte", indem ich nicht berücksichtige, daß die Menschheit mit der Zeit eine Organisation erreichen werde, die über der jetzigen so hoch stehe, wie diese über der unserer Progenitoren in irgendeiner früheren geologischen Periode.2~ Inzwischen scheint etwa seit Homer unsere Spezies ziemlich stabil; seit Epikur, der schon die Konstanz von Materie und Kraft kannte, ward das Wesen der Körperwelt, seit Platon und Aristoteles das des Geistes nicht verständlicher, und ehe Hrn. H aeckels Vorhersage sich erfüllt, dürfte die Erde unbewohnbar werden. Allein wenn hier einer an der Entwickelungsgeschichte sich versündigte, ist es der Jenenser Prophet. Wie rasch oder langsam auch das menschliche Gehirn fortschreite, es muß innerhalb des gegebenen Typus bleiben, dessen höchstes Erzeugnis das unerreichbare Ideal des Laplaceschen Geistes wäre. Da nun meine Grenzen des Naturerkennens auch für diesen gelten, wird auch durch Entwickelung die Menschheit nie sich darüber fortheben, und wenn Hr. Haeckel gegen meine Argumentation nichts einzuwenden weiß, als die Möglichkeit paratypischer Entwickelung, werde ich wohl Recht behalten. Nicht mit voller Überzeugung stelle ich als sechste Schwierigkeit das vernünftige Denken und den Ursprung der damit eng verbundenen Sprache auf. Zwischen Amöbe und Mensch, zwischen Neugeborenem und Erwachsenem ist sicher eine gewaltige Kluft; sie läßt sich aber bis zu einem gewissen Grade durch Übergänge ausfüllen. Die Entwickelung des geistigen Vermögens in der Tierreihe leistet dies objektiv bis zu den anthropoiden Affen; um beim Einzelwesen von der einfachen Empfindung zu den höheren Stufen geistiger Tätigkeit zu gelangen, bedarf die Erkenntnistheorie wahrscheinlich nur des Gedächtnisses und des Vermögens der Verallgemeinerung.2:l Wie groß auch der zwischen den höchsten Tieren und den niedrigsten Menschen übrig bleibende Sprung und wie schwer die hier zu lösenden Aufgaben seien, bei einmal gegebenem Bewußtsein ist deren Schwierigkeit ganz anderer Art als die, welche

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der mechanischen Erklärung des Bewußtseins überhaupt entgegensteht: diese und jene sind inkommensurabel. Daher bei gelöstem Problem B, um wieder Strauß' Notation anzuwenden, das Problem C mir nicht transzendent erscheint. Wie Strauß richtig bemerkt, hängt aber das Problem C eng zusammen mit einem anderen, welches in unserer Reihe als siebentes und letztes auftritt. Dies ist die Frage nach der Willensfreiheit. Zwar liegt es in der Natur der Dinge, daß alle hier aufgezählten Probleme die Menschheit beschäftigt haben, so lange sie denkt. Über Konstitution der Materie, Ursprung des Lebens und der Sprache ist jederzeit, bei allen Kulturvölkern gegrübelt worden. Doch waren es stets nur wenige erlesene Geister, die bis zu diesen Fragen vordrangen, und wenn auch gelegentlich scholastisches Gezänk um sie sich erhob, reichte doch der Hader kaum über akademische Hallen hinaus. Anders mit der Frage, ob der Mensch in seinem Handeln frei, oder durch unausweichlichen Zwang gebunden sei. Jeden berührend, scheinbar jedem zugänglich, innig verflochten mit den Grundbedingungen der menschlichen Gesellschaft, auf das Tiefste eingreifend in die religiösen Überzeugungen, hat diese Frage in der Geistesund Kulturgeschichte eine Rolle unermeßlicher Wichtigkeit gespielt, und in ihrer Behandlung spiegeln sich die Entwickelungsstadien des Menschengeistes deutlich ab. Das klassische Altertum hat sich nicht sehr den Kopf über das Problem der Willensfreiheit zerbrochen. Da für die antike Weltanschauung im allgemeinen weder der Begriff unverbrüchlich bindender Naturgesetze, noch der einer absoluten Weltregierung vorhanden war,2" so lag kein Grund vor zu einem Konflikt zwischen Willensfreiheit und dem herrschenden Weltprinzip. Die Stoa glaubte an ein Fatum, und leugnete demgemäß die Willensfreiheit, die römischen Moralisten stellten diese aber aus ethischem Bedürfnis auf naiv subjektiver Grundlage wieder her. "Sentit animus se moveri": - heißt es in den "Tusculanen"25 - "quod quum sentit, illud una sentit se vi sua, non aliena moveri"; und der stoische Fatalismus wurde durch Anekdoten verspottet, wie die von dem Sklaven des Zenon von Kition, der den begangenen Diebstahl durch das Fatum 174

entschuldigend zur Antwort erhält: Nun wohl, so war es auch dein Fatum geprügelt zu werden.26 Eine Geschichte, welche heute noch am Bosporus spielen könnte, wo das türkische Kismet an Stelle der stoischen 'EtfW(!flEV1J trat. Der christliche Dogmatismus (gleichviel wieviel semitische und wieviel hellenistische Elemente zu ihm verschmolzen) war es, der durch die Frage nach der Willens-. freiheit in die dunkelsten, selbstgegrabenen Irrwege geriet. Von den Kirchenvätern und Schismatikern, von Augustinus und Pelagius, durch die Scholastiker Scotus Erigena und Anselm von Canterbury, bis zu den Reformatoren Luther und Calvin und darüber hinaus, zieht sich der hoffnungslos verworrene Streit über Willensfreiheit und Prädestination. Gott ist allmächtig und allwissend; nichts geschieht, was er nicht von Ewigkeit wollte und vorhersah. Also ist der .Mensch unfrei; denn handelte er anders als Gott vorherbestimmt hatte, so wäre Gott nicht allmächtig und allwissend gewesen. Also liegt es nicht in des Menschen Willen, daß er das Gute tue oder sündige. Wie kann er dann für seine Taten verantwortlich sein? Wie verträgt es sich mit Gottes Gerechtigkeit und Güte, daß er den Menschen straft oder belohnt für Handlungen, welche im Grunde Gottes eigene Handlungen sind? Das ist die Form, in welcher das Problem der Willensfreiheit dem durch heiligen Wahnsinn verfinsterten Menschengeiste sich darstellte. Die Lehre von der Erbsünde, die Fragen nach der Erlösung durch eigenes Verdienst oder durch das Blut des Heilandes, durch den Glauben oder durch die Werke, nach den verschiedenen Arten der Gnade, verwuchsen tausendfältig mit jenem an Spitzfindigkeiten schon hinlänglich fruchtbaren Dilemma, und vom vierten bis zum siebzehnten Jahrhundert widerhallten durch die ganze Christenheit Klöster und Schulen von Disputationen über Determinismus und Indeterminismus. Vielleicht gibt es keinen Gegenstand menschlichen Nachdenkens, über welchen längere Reihen nie mehr aufgeschlagener Folianten im Staube der Bibliotheken modern. Aber nicht immer blieb es beim Bücherstreit. Wütende Verketzerung mit allen Greueln, die der herrschenden Religionspartei gegen Andersdenkende freistanden, hing sich an solche abstruse

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Kontroversen um so lieber, je weniger damit Vernunft und aufrichtiges Streben nach Wahrheit zu tun hatten. Wie anders faßt unsere Zeit das Problem der Willensfreiheit auf. Die Erhaltung der Energie besagt, daß, so wenig wie Materie, jemals Kraft entsteht oder vergeht. Der Zustand der ganzen Welt, auch eines menschlichen Gehirnes, in jedem Augenblick ist die unbedingte mechanische Wirkung des Zustandes im vorhergehenden Augenblick und die unbedingte mechanische Ursache des Zustandes im nächstfolgenden Augenblick. Daß in einem gegebenen Augenblick von zwei Dingen das eine oder andere geschehe, ist undenkbar. Die Hirnmolekeln können stets nur auf bestimmte Weise fallen, so sicher wie Würfel, nachdem sie den Becher verließen. Wiche eine Molekel ohne zureichenden Grund aus ihrer Lage oder Bahn, so wäre das ein Wunder so groß als bräche der J upiter aus seiner Ellipse und versetzte das Planetensystem in Aufruhr. Wenn nun, wie der Monismus es sich denkt, unsere Vorstellungen und Strebungen, also auch unsere Willensakte, zwar unbegreifliche, doch notwendige und eindeutige Begleiterscheinungen der Bewegungen und Umlagerungen unserer Hirnmolekeln sind, so leuchtet ein, daß es keine Willensfreiheit gibt; dem Monismus ist die Welt ein Mechanismus, und in einem Mechanismus ist kein Platz für Willensfreiheit. Der erste, dem die materielle Welt in solcher Gestalt vollkommen klar vorschwebte, war Leibniz. Wie ich an dieser Stelle schon öfter bemerklich machte, war seine mechanische Weltanschauung durchaus dieselbe, wie die unsrige. Wenn er die Erhaltung der Energie auch noch nicht wie wir durch verschiedene Molekularvorgänge zu verfolgen mochte, er war von dieser Erhaltung überzeugt. Er befand sich sämtlichen Molekularvorgängen gegenüber in der Lage, in welcher wir uns noch einzelnen gegenüber befinden. Da nun Leibniz eben so fest an eine Geisterwelt glaubte, die ethische Natur des Menschen in den Kreis seiner Betrachtungen zog, ja sich mit der positiven Religion trefflich abfand, so lohnt sich zu fragen, was er von der Willensfreiheit hielt, insbesondere wie er sie mit der mechanischen Weltansicht zu verbinden wußte.

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Leibniz war unbedingter Determinist und mußte es seiner ganzen Lehre nach sein.27 Er nahm zwei von Gott geschaffene Substanzen an, die materielle Welt und die Welt seiner Monaden. Die eine kann nicht auf die andere wirken; in beiden laufen mit unabänderlich vorherbestimmter Nötigung, vollkommen unabhängig voneinander, aber genau Schritt haltend, miteinander harmonierende Prozesse ab: das mathematisch vor- und rückwärts berechenbare Getriebe der Weltmaschine, und in den zu jedem beseelten Einzelwesen gehörigen Seelenmonaden die Vorstellungen, welche den scheinbaren Sinneseindrücken, Willensakten und Vorstellungen des Wirtes der Monade entsprechen. Der bloße Name der prästabilierten Harmonie, den Leibniz seinem Systeme gibt, schließt Freiheit aus. Da die Vorstellungen der Monaden nur Traumbilder ohne mechanische Ursache, ohne Zusammenhang mit der Körperwelt sind, so hat es Leibniz leicht, die subjektive Überzeugung von der Freiheit unserer Handlungen zu erklären. Gott hat einfach den Fluß der Vorstellungen der Seelenmonade so geregelt, daß sie frei zu handeln meint.21l Bei anderer Gelegenheit schließt sich Leibniz mehr der gewöhnlichen Denkweise an, indem er dem Menschen einen Schein von Freiheit läßt, hinter welchem sich geheime zwingende Antriebe verbergen. Durch den Artikel "Buridan" in seinem Dictionnaire historique et critique29 hatte Pierre Bayle wieder die Aufmerksamkeit auf das vielbesprochene, fälschlich jenem Scholastiker zugeschriebene, schon bei Dante,30 ja bei Aristoteles vorkommende Sophisma gelenkt von " ....... dem grauen Freunde, Der zwischen zwei Gebündel Heu ... " elendiglich verhungert, da beiderseits alles gleich ist, er aber als Tierdasfranc arbitre entbehrt. "Es ist wahr," sagt Leibniz in der" Theodizee", "daß, wäre der Fall möglich, man urteilen müßte, daß er sich Hungers sterben lassen würde: aber im Grunde handelt es sich um Unmögliches; es sei denn, daß Gott die Sache absichtlich verwirkliche. Denn durch eine den Esel der Länge nach hälftende senkrechte

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Ebene könnte nicht auch das Weltall so gehälftet werden, daß beiderseits alles gleich wäre; wie eine Ellipse oder sonst eine der von mir amphidexter genannten ebenen Figuren, welche jede durch ihren Mittelpunkt gezogene Gerade hälftet. Denn weder die Teile des Weltalls, noch die Eingeweide des Tieres sind auf beiden Seiten jener senkrechten Ebene einander gleich und gleich gelegen. Es würde also immer viele Dinge im Esel und außerhalb des Esels geben, welche, obschon wir sie nicht bemerken, ihn bestimmen würden, eher der einen als der anderen Seite sich zuzuwenden. Und obschon der Mensch frei ist, was der Esel nicht ist, erscheint doch auch im Menschen der Fall vollkommenen Gleichgewichtes der Bestimmungsgründe für zwei Entschlüsse unmöglich, und ein Engel, oder wenigstens Gott, würde stets einen Grund für den vom Menschen gefaßten Entschluß angeben können, wenn auch wegen der weit reichenden Verkettung der Ursachen dieser Grund oft sehr zusammengesetzt und uns selber unbegreiflich wäre." 31 Über die Frage, wo beim Determinismus die Verantwortlichkeit des Menschen, die Gerechtigkeit und Güte Gottes bleiben, hilft sich Leibniz mit seinem Optimismus hinweg. Am Schluß der "Theodizee", von der ein großer Teil diesem Gegenstandegewidmet ist, führt er, eine Fiktion des Laurentius Valla fortspinnend,32 aus, wie es für den Sextus Tarquinius:l3 freilich schlimm war, Verbrechen begehen zu müssen, für welche ihm die Strafe nicht erspart werden konnte. Zahllose Welten waren möglich, in denen Tarquinius eine mehr oder minder achtungswerte Rolle gespielt, mehr oder minder glücklich gelebt hätte, darunter solche sogar, wo er als tugendhafter Greis, von seinen Mitbürgern geehrt und beweint, hochbejahrt gestorben wäre: allein Gott mußte vorziehen, diese Welt zu erschaffen, in welcher Tarquinius ein Bösewicht ward, weil voraussichtlich sie die beste, das Verhältnis des Guten zum unumgänglichen Übel für sie ein Maximum war.3'< Es braucht nicht gesagt zu werden, daß dem Monismus mit diesen immerhin in sich folgerichtigen, aber, um das Geringste zu sagen, höchst willkürlichen und das Gepräge des Unwirklichen tragenden Vorstellungen nicht gedient

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sein kann, und so muß er denn selber seine Stellung zum Problem der Willensfreiheit sich suchen. Sobald man sich entschließt, das subjektive Gefühl der Freiheit für Täuschung zu erklären, ist es auf monistischer Grundlage so leicht, wie bei Leibniz' extremem Dualismus, die scheinbare Freiheit mit der Notwendigkeit zu versöhnen. Die Fatalisten aller Zeiten, worin auch ihre Überzeugung wurzelte, Zenon, Augustinus und die Thomisten, Calvin, Leibniz, Laplace,35- Jacques und seinen Hauptmann nicht zu vergessen36 - fanden darin keine Schwierigkeit. Mit mäßiger dialektischer Gewandheit läßt sich einem jenes von Cicero beschriebene Gefühl wegdisputieren. Auch im Traume finden wir uns frei, da doch die Phantasmen unserer Sinnsubstanzen mit uns spielen. Von vielen scheinbar mit Überlegung ausgeführten, weil zweckmäßigen Handlungen wissen wir jetzt, daß sie unwillkürliche Wirkungen gewisser Einrichtungen unseres Nervensystemes sind, der Reflexmechanismen und der sogenannten automatischen Nervenzentren. Wenn wir auf den Fluß unserer Gedanken achten, bemerken wir bald, wie unabhängig von unserem Wollen Einfälle kommen, Bilder aufleuchten und verlöschen. Sollten unsere vermeintlichen Willensakte in der Tat viel willkürlicher sein? Sind übrigens alle unsere Empfindungen, Strebungen, Vorstellungen nur das Erzeugnis gewisser materieller Vorgänge in unserem Gehirn, so entspricht der Molekularbewegung, mit der die Willensempfindung zum Heben des Armes verbunden ist, auch der materielle Anstoß, der die Hebung des Armes rein mechanisch bewirkt, und es bleibt also beim ersten Blick gar kein Dunkel zurück. Das Dunkel zeigt sich aber für die meisten Naturen, sobald man die physische Sphäre mit der ethischen vertauscht. Denn man gibt leicht zu, daß man nicht frei, sondern als Werkzeug verborgener Ursachen handelt, so lange die Handlung gleichgültig ist. Ob Caesar in Gedanken die rechte oder linke Caliga37 zuerst anlegt, bleibt sich gleich, in beiden Fällen tritt er gestiefelt aus dem Zelt. Ob er den Rubicon überschreitet oder nicht, davon hängt der Lauf der Weltgeschichte ab. So wenig frei sind wir in gewissen kleinen Entschließungen, daß ein Kenner der

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menschlichen Natur mit überraschender Sicherheit vorhersagt, welche Karte von mehreren unter bestimmten Bedingungen hingelegten wir aufnehmen werden. Aber auch der entschlossenste Monist vermag den ernsteren Forderungen des praktischen Lebens gegenüber die Vorstellung nur schwer festzuhalten, daß das ganze menschliche Dasein nichts sei als eine Fable convenue, in welcher mechanische Notwendigkeit dem Cajus die Rolle des Verbrechers, dem Sempronius die des Richters erteilte, und deshalb Cajus zum Richtplatz geführt werde, während Sempronius frühstücken gehe. Wenn Hr. Stephan uns berichtet, daß auf hunderttausend Briefe jahraus, jahrein so und so viel entfallen, welche ohne Adresse in den Kasten geworfen werden,38 denken wir uns nichts besonderes dabei. Aber daß nach Quetelet unter hunderttausend Einwohnern einer Stadt jahraus, jahrein naturnotwendig so und so viel Diebe, Mörder und Brandstifter sind,39 das empört unser sittliches Gefühl; denn es ist peinlich denken zu müssen, daß wir nur deshalb nicht Verbrecher wurden, weil andere für uns die schwarzen Lose zogen, die auch unser Teil hätten werden können. Wer gleichsam schlafwandelnd durch das Leben geht, ob er in seinem Traum die Welt regiere oder Holz hacke; wer als Historiker, Jurist, Poet in einseitiger Beschaulichkeit mehr mit menschlichen Leidenschaften und Satzungen, oder wer naturforschend und -beherrschend eben so beschränkten Blickes nur mit Naturkräften und -gesetzen verkehrt: der vergißt jenes Dilemma, auf dessen Hörner gespießt unser Verstand gleich der Beute desNeuntötersschmachtet; wie wir die Doppelbilder vergessen, welche Schwindel erregend uns sonst überall verfolgen würden. In um so verzweifelteren Anstrengungen, solcher Qual sich zu entwinden, erschöpft sich die kleine Schar derer, die mit dem Rabbi von Amsterdam das All sub specie aeternitatis anschauen: es sei denn, daß sie wie Leibniz getrost die Selbstbestimmung sich absprechen. Die Schriften der Metaphysiker bieten eine lange Reihe von Versuchen, Willensfreiheit und Sittengesetz mit mechanischer Weltordnung zu versöhnen. Wäre ihrer einem, etwa Kant, diese Quadratur wirklich gelungen, so hätte wohl die Reihe ein Ende. 180

So unsterblich pflegen nur unbesiegbare Probleme zu sein.4o Minder bekannt als diese metaphysischen sind die neuerlich in Frankreich hervorgetretenen, auf dasselbe Ziel gerichteten mathematischen Bestrebungen. Sie knüpfen an Descartes' verunglückten Versuch an, die Wechselwirkung zwischen Seele und Leib, der von ihm angenommenen geistigen und materiellen Substanz zu erklären. Obschon nämlich Descartes die Quantität der Bewegung in der Welt für konstant hielt, und obschon er nicht glaubte, daß die Seele Bewegung erzeugen könne, meinte er doch, daß die Richtung der Bewegung durch die Seele bestimmt werde.41 Leibniz zeigte, daß nicht die Summe der Bewegungen, sondern die der Bewegungskräfte konstant ist, und daß auch die in der Welt vorhandene Summe der Richtkräfte oder des Fortschrittes nach irgend einer im Raume gezogenen Achse dieselbe bleibt. So nennt er die algebraische Summe der jener Achse parallelen Komponenten aller mechanischen Momente. Nach letzterem von Descartes übersehenen Satze könne auch die Richtung von Bewegungen nicht ohne entsprechenden Kraftaufwand bestimmt oder verändert werden. Wie klein man auch solchen Kraftaufwand sich denke, er mache einen Teil des Naturmechanismus aus und könne nicht der geistigen Substanz zugeschrieben werden.42 Eine Einsicht, zu welcher es wohl kaum des von Leibniz herangezogenen Apparates bedurfte, da der Hinweis auf Galileis Bewegungsgesetze genügt. Der verstorbene Mathematiker Cournot in Dijon,43 Hr. Boussinesq, Professor in Lille,44 und der durch seine Arbeiten über Elastizität rühmlich bekannte Pariser Akademiker Hr. de Saint-Venant45 haben sich nacheinander die Aufgabe gestellt, die Bande des mechanischen Determinismus durch den Nachweis zu sprengen, daß, Leibniz' Behauptung entgegen, ohne Kraftaufwand Bewegung erzeugt oder die Richtung der Bewegung geändert werden könne. Cournot und Hr. de Saint-Venant führen dazu den der deutschen physiologischen Schule längst geläufigen4G Begriff der Auslösung (decrochement) ein. Sie glauben, daß die zur Auslösung der willkürlichen Bewegung nötige Kraft 16

Wollgast, Philosophie

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nicht nur verhältnismäßig sehr klein, sondern Null sein könne. Hr. Boussinesq seinerseits weist auf gewisse Differentialgleichungen der Bewegung hin, deren Integrale singuläre Lösungen der Art zulassen, daß der Sinn der weiteren Bewegung zweideutig oder völlig unbestimmt wird. Schon Poisson hatte auf diese Lösungen als auf eine Art mechanischen Paradoxons aufmerksam gemacht.4i Nach Hrn. Boussinesq würde dahin auch folgender Fall gehören, der seine Meinung, wenn ich nicht irre, am besten versinnlicht. In waagerechter Ebene denke man sich einen Hügel, etwa in Gestalt einer Kirchenglocke, wie er entstände, wenn um eine senkrechte Achse eine S-förmige Kurve sich drehte, deren unterer gegen die Grundebene konvexer Abschnitt sich der Ebene asymptotisch anschlösse, während ihr oberer, gegen die Ebene konkaver Abschnitt mit waagerechter Tangente an die Achse stieße. Irgend wo auf der reibungslosen Fläche werde in einer die Achse schneidenden Tangente an der Fläche einem schweren Punkte die Geschwindigkeit auf die Achse zu erteilt, welche er, vom Gipfel des Hügels frei herabfallend, in derselben Höhe über der Grundebene erlangen würde. Mit dieser Anfangsgeschwindigkeit läuft der Punkt den Hügel hinan und kommt zum Stillstand auf dem Gipfel, den er, je nachdem dessen Krümmung unendlich oder endlich ist, in endlicher oder unendlicher Zeit erreicht. Diesem Cuterschiede legt Hr. Boussinesq keine praktische Bedeutung bei. Auf dem Gipfel bleibt der Punkt liegen, bis es, nach Hrn. Boussinesqs Annahme, einem daselbst hausenden Principe directeur gefällt, ihm in beliebiger waagerechter Richtung einen Stoß zu erteilen, der, obschon gleich Null, imstande sein soll, ihn den Hügel wieder herabgleiten zu lassen. Einen Punkt einer gekrümmten Bahn oder Fläche, wo sich dies ereignen kann, nennt Hr. Boussinesq Point d'arret. Cournot glaubt der auslösenden Kraft gleich Null, Hr. Boussinesq der Integrale mit sigulären Lösungen schon zu bedürfen, um dadurch, in Verbindung mit dem "lenkenden Prinzipe", die Mannigfaltigkeit und Unbestimmtheit der organischen Vorgänge zu erklären. Die deutsche physiologische Schule, längst gewöhnt, in den Organismen

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nichts zu sehen als eigenartige Mechanismen, wird sich mit dieser Auffassung schwerlich befreunden, und trotz den gegenteiligen Versicherungen, trotz der von Hrn. Boussinesq angerufenen Autorität Claude Bernards,4B hinter dem "lenkenden Prinzipe" die in Frankreich stets, unter der einen oder anderen Gestalt und Benennung, wieder auftauchende Lebenskraft fürchten. Cournots vitalistische Denkweise liegt völlig am Tage. Dabei sei bemerkt, daß Hr. Boussinesq mich mißversteht, wenn er mich in den "Grenzen des Naturerkennens" sagen läßt, ein Organismus unterscheide sich von einer Kristallbildung, etwa von Eisblumen oder dem Dianabaum, nur durch größere Verwickelung. Ich lege im Gegenteil Wert darauf, den Umstand genau bezeichnet zu haben, in welchem mir alle die sinnfälligen Unterschiede zu wurzeln scheinen, die jederzeit und überall die Menschheit trieben, in der lebenden und der toten Natur zwei verschiedene Reiche zu erkennen, obschon, unserer jetzigen Überzeugung nach, in beiden dieselben Kräfte walten. Dieser Umstand ist der, daß in den unorganischen Individuen, den Kristallen, die Materie sich in stabilem Gleichgewicht befindet, während in den organischen Individuen, den Lebewesen, mehr oder minder vollkommenes dynamisches Gleichgewicht der Materie herrscht, bald mit positiver, bald mit negativer Bilanz. Während der das Tier durchrauschende Strom von Materie der Umwandlung potentieller in kinetische Energie dient, erklärt er zugleich die Abhängigkeit des Lebens von äußeren Bedingungen, den integrierenden oder Lebensreizen der älteren Physiologie, und die Vergänglichkeit des Organismus gegenüber der Ewigkeit des bedürfnislos in sich ruhenden Kristalls.49 Unseres Bedünkens kann die Theorie des unbewußten Lebens ohne sich gabelnde Integrale und ohne "lenkendes Prinzip" auskommen. Andererseits ist zu bezweifeln, daß mit diesen Hilfsmitteln oder mit der Auslösung, in dem Streit zwischen Willensfreiheit und Notwendigkeit irgend etwas auszurichten sei. Hrn. Paul ] anets empfehlender Bericht an die Academie des Seiences moraleset politiques,50 dessen lichtvolle Schönheit ich höchlich bewundere, läßt 16•

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auf die Verantwortung der drei Mathematiker hin die Möglichkeit eines mechanischen Indeterminismus gelten. Indem aber diese Lehre von der Behauptung, die auslösende Kraft könne unendlich klein sein, übergeht zu der, sie könne auch wirklich Null sein, scheint sie von einem in der Infinitesimalrechnung unter ganz anderen Bedingungen üblichen Verfahren unstatthaften Gebrauch zu machen. Erstere Behauptung will doch nur sagen, daß die auslösende Kraft im Vergleich zur ausgelösten Kraft verschwindend klein sein könne. So verschwindet die Kraft des Flügelschlages einer Krähe, welcher die Lavine zu Fall bringt, gegen die Kraft der schließlich zu Tal stürzenden Schneemassen, d. h. wir können eine der ersteren gleiche Kraft bei Messung der letzteren vernachlässigen, weil sie bei keiner ziffermäßigen Erwägung merklichen Einfluß übt, auch weit innerhalb der Grenzen der Beobachtungsfehler fällt. Aber wie winzig, vom Tal aus betrachtet, neben der rasenden Gewalt der Lavine der Flügelschlag hoch oben erscheint, in der Nähe bleibt er ein Flügelschlag, dem ein bestimmtes Gewicht auf bestimmte Höhe gehoben entspricht. Im Wesen der Auslösung liegt, daß auslösende und ausgelöste Kraft von einander unabhängig, durch kein Gesetz verknüpft sind; nach Jul. Rob. Mayers treffendem Ausdruck ist die Auslösung überhaupt kein Gegenstand mehr für die Mathematik.51 Daher es mindestens ungenau ist zu sagen, "das Verhältnis der auslösenden zur ausgelösten Kraft strebe der Grenze Null zu,"~2 ohne hinzuzufügen, daß dies nur auf einem im Sinne der auslösenden Kraft zufälligen Wachsen der ausgelösten Kraft beruhe, also in unserem Beispiel bei sich gleich bleibendem Flügelschlag auf immer größerer Höhe, Steilheit, Glätte der Bergwand, immer mächtigerer Anhäufung von Schnee, u. d. m. So wenig kann die auslösende Kraft an sich wahrhaft Null sein, daß, soll nicht die Auslösung versagen, sie nicht einmal unter einen gewissen, von den Umständen abhängigen "Schwellenwert" sinken darf; und es ist also nicht daran zu denken, mit Hilfe der Auslösung zu erklären, wie eine geistige Substanz materielle Änderungen bewirke. Was die von Hrn. Boussinesq vorgeschlagene Lösung betrifft, so ist der schwere Punkt im Point d' arret einfach

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in labilem Gleichgewicht liegen geblieben, und um die Folgen dieser Lagerung zu erwägen, war nicht nötig, ihn erst durch Integration hinaufzubefördern. In der Tat unterscheidet sich der Fall nur durch abstrakte Ausdrucksweise und mathematische Einkleidung von dem Dantes oder Buridans, der sich auch so formulieren läßt, daß das hungernde Geschöpf sich "Intra duo cibi, distanti e moventi D'un modo ... ," in labilem Gleichgewicht befinde. Kein "lenkendes Prinzip" immaterieller Natur vermag den schweren Punkt auf dem Gipfel des Hügels um die kleinste Größe zu verschieben; auch auf bis zur Reibungslosigkeit polierter Unterlage gehört dazu eine wenn auch noch so kleine mechanische Kraft. Könnte dies eine Kraft gleich Null, so verschwände zugleich unsere zweite transzendente Schwierigkeit, Entstehung der Bewegung bei gleichmäßiger Verteilung der Materie im unendlichen Raum: da es an einem Anstoß gleich Null ja nirgend fehlt. :;3 Hr. Boussinesq bringt auch die bekannte Frage zur Sprache, was die Folge der Umkehr aller Bewegungen in der Welt wäre. Denkt man sich den Weltmechanismus nur aus umkehrbaren Vorgängen bestehend und in einem gegebenen Augenblick die Bewegungen aller großen und kleinen Teile der Materie mit gleicher Geschwindigkeit in gleicher Richtung umgekehrt, wie die eines zurückgeworfenen Balles, so müßte die Geschichte der materiellen Welt sich rückwärts wieder abspielen. Alles, was je sich ereignet, trüge sich in umgekehrter Ordnung nach gemessener Frist wieder zu, das Huhn würde wieder zum Ei, der Baum wüchse rückwärts zum Samen, und nach unendlicher Zeit hätte des Kosmos wieder zum Chaos sich aufgelöst."" Welche Empfindungen, Strebungen, Vorstellungen begleiteten nun wohl die verkehrten Bewegungen der Hirnmolekeln? Wären die geistigen Zustände nur an Stellungen von Atomen geknüpft, so würden mit denselben Stellungen dieselben Zustände wiederkehren, was zu wunderlichen Folgerungen, im allgemeinen zu der führt,

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daß stets einen Augenblick, ehe wir etwas beabsichtigten, davon das Gegenteil geschähe. Wir können uns aber die Erwägung der hier denkbaren Möglichkeiten sparen. Nicht nur, wie Hr. Boztssinesq ausführt, wegen der sich gabelnden Integrale, sondern auch sonst ist die Annahme falsch, daß so die Kurbel der Weltmaschine auf "Rückwärts" gestellt werden könnte. Unter anderem würde die durch Reibung in Wärme umgewandelte Massenbewegung nicht wieder in denselben Betrag mit verändertem Vorzeichen gleichgerichteter Massenbewegung zurückverwandelt werden. Die verkehrte Welt bleibt ein unmögliches mechanisches Phantasiestück, aus welchem über Zustandekommen von Bewußtsein und über Willensfreiheit nichts sich folgern läßt. Mit unserer siebenten Schwierigkeit also steht es so, daß sie keine ist, wofern man sich entschließt, die Willensfreiheit zu leugnen und das subjektive Freiheitsgefühl für Täuschung zu erklären, daß aber anderenfalls sie für transzendent gelten muß; und es ist dem Monismus nur ein schlechter Trost, daß er den Dualismus in das gleiche Netz in dem Maß hilfloser verstrickt sieht, wie dieser mehr Gewicht auf das Ethische legt. In diesem Sinne schrieb ich einst, in der Vorrede zu meinen "Untersuchungen über tierische Elektrizität", die Worte, auf welche jetzt Strauß gegen mich sich berief:;;~, "Die analytische Mechanik reicht bis zum Problem der persönlichen Freiheit, dessen Er-. ledigung Sache der Abstraktionsgabe jedes Einzelnen bleiben muß."5r. Es kam aber später, ich mache daraus kein Hehl, für mich der Tag von Damaskus. Wiederhaltes Nachdenken zum Zweck meiner öffentlichen Vorlesung "Über einige Ergebnisse der neueren Naturforschung" führte mich zur Überzeugung, daß dem Problem der Willensfreiheit mindestens noch drei transzendente Probleme vorhergehen; nämlich außer dem schon früher von mir erkannten des \Vesens von Materie und Kraft, das der ersten Bewegung und das der ersten Empfindung in der Welt. Daß die sieben Welträtsel hier wie in einem mathematischen Aufgabenbuch hergezählt und numeriert wurden, geschah wegen des wissenschaftlichen Divide et impera.

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Man kann sie auch zu einem einzigen Problem, dem Weltproblem, zusammenfassen.57 Der gewaltige Denker, dessen Gedächtnis wir heute feiern, glaubte dies Problem gelöst zu haben: er hatte sich die Welt zu seiner Zufriedenheit zurechtgelegt. Könnte Leibniz, auf seinen eigenen Schultern stehend, heut unsere Erwägungen teilen, er sagte sicher mit uns:

"Dubitemus".

Über die wissenschaftlichen Zustände der Gegenwart In der Sitzung der Akademie der Wissenschaften zur Geburtstagsfeier des Kaisers und Königs am 23. März 1882 gehaltene Redel

Cognata ad sidera tendit. Sigill. Reg. Academia Boruss.

Wenn Friedrichs des Großen und Leibniz' Gedenktag die Akademie in die Zeiten ihrer ersten Entstehung und ihrer Wiedergeburt versetzen, so lenkt die heutige Feier den Blick auf die Gegenwart. Wer, seiner Natur nach ein Akademiker alten Schlages, am liebsten fern vom Lärm des Marktes, vom Hader der Agora, ja vom erfreulichen Gedränge des Hörsaales ein beschauliches Leben führte, nur bedacht auf Häufung von Wissensschätzen, Lösung geistiger Aufgaben, Erweiterung des inneren Gesichtskreises: der sehnt sich jetzt wohl manchmal nach der ungestörten Ruhe, dem behaglichen Halbdunkel einer mittelalterlichen Benediktinerzelle. Glückliche Mönche von Monte Casino, von Montserrat! Wohlgeborgen im trüben Gewoge der Völkerflut, saht ihr aus eurer stillen Höhe herab auf die Welt, deren Kampf und Qual Euch nicht anfocht. Aber längst sind die Pforten gesprengt, gefallen die Mauern. Mißtönig bescheint der grelle Tag Gerümpel und Staub in Fausts Studierzimmer. Das unerbittliche Heute duldet kein friedseliges Traumleben mehr. Wir brauchen

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keinen Mephisto, uns ins wirkliche Leben zu locken: mtt tausend bald derben, bald schmeichelnden H.~nden packt es uns, und statt des Zaubermantels ist uns das Dampfroß genug. Wir haben nur Mühe, diesen Forderungen zu widerstehen; im Strudel, der uns mit sich reißt, unsere Besinnung zu behalten; .die uns auferlegte äußere Arbeh iu verrichten und doch der inneren Arbeit treu zu bieibtm, welche unser eigenster Beruf ist: Wir können nicht mehr, wie Unseresgleichen in früherer Zeit, frei persönlichen Neigungen folgen, nur die Gaben pflegen, die etwa ein Gott uns verlieh. Von Kindheit an gehören wir dem Staat. Jede .\usnahmsstellung schwand. Prüfungen, Kriegsdienst, Bürgerpflichten sind allen gemein; und sogar der Politik sich nicht ganz zu entziehen erscheint als Gebot, mag man auch den unverhältnismäßigen Platz tadeln, den ihre unfruchtbaren Aufregungen, ihre Eintagstriumphe, ihr widriges Parteigezänk im heutigen Kulturleben einnehmen. Cnd wie wenig erquicklich ist, in mancherlei Hinsichten, dieses Lebens jüngste Gestaltung! Die Hydra krankhaft gereizten Nationalgefühles erhebt rings Haupt um Haupt und entzweit sogar die bisher als Glieder einer Gemeinde sich fühlenden Gelehrten verschiedener Länder. Völker, die für ihren Ruhm noch nichts taten, als gelegentlich sich wacker schlagen, machen laut prahlend den Vorrang solchen streitig, die ein Jahrtausend geistigen Schaffens hinter sich haben. Statt dynastischer, drohen ungleich gräßlichere Rassenkriege; kaum daß Religionskriege viel anders als dem Namen nach aufhörten. Wurden nicht die beiden letzten Jahre Zeugen einer Bewegung, deren Schmach wir bei uns für so unmöglich hielten, wie Folter, Hexenprozesse und Menschenhandel? Dabei unterfängt sich sentimentale Ignoranz, deren immerhin wohlmeinendes Treiben sich von verleumderischer Angeberei und sträflichem Hetzen in seiner Wirkung nicht unterscheidet, wissenschaftliche Untersuchungsmethoden als frevelhaft zu brandmarken, welcheRobert H ooke im Schoße der alten Royal Society, der gottesfürchtige Haller unbedenklich übten. Aber auch die neuere Entwickelung des wissenschaftlichen Lebens selber läßt wenig ansprechende Züge erkennen. Bis zum Verschwinden selten ward beim nach-

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wachsenden Geschlecht langatmiges, idealen Zielen aufopfernd zugekehrtes Streben. Auf hohen Ruhm verzichtend bringen tausend emsige Arbeiter täglich zahllose Einzelheiten hervor, unbekümmert um innere und äußere Vollendung, nur bemüht, einen Augenblick die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und den besten Preis für ihre Ware zu erschwingen. An Stelle edler Hetärien trat in oft sehr gehässiger Form rücksichtsloser Kampf ums Dasein. Die einen blicken auf die anderen mit den Empfindungen von Goldgräbern, jedoch mit weniger Vertrauen, denn in den Diggings herrscht eine Art Recht. Wer einen reichen Claim erwarb, kann ihn ruhig ausbeuten, ohne daß andere sich in den Mitbesitz drängen. Der Strom der Erkenntnis spaltet sich in immer zahl~ reichere, immer unbedeutendere Rinnsale und läuft Gefahr, in Sand und Sumpf sich zu verlaufen. In der vorwärts jagenden Hast gilt jeder Stillstand zum Überoder Rückblick für Zeitverlust. Mit der geschichtlichen Betrachtung ging einer der fruchtbarsten Keime des Großen verloren, der Trieb den erhabenen Vorbildern der Vergangenheit nachzueifern; mit der zusammenfassenden Übersicht die Möglichkeit, die einzelnen Zweige der Wissenschaft miteinander zu vergleichen, den einen den anderen erhellen und befruchten zu lassen. An Stelle gesunder Verallgemeinerung aber regt sich wieder in Deutschland die erbliche Neigung zu ungezügelter Spekulation. Im Abscheu der falschen Naturphilosophie erwachsen, müssen wir erleben, daß das uns folgende Geschlecht, welches wir strenge geschult zu haben glaubten, in Fehler zurückfällt, von denen das Geschlecht vor uns sich zürnend abwandte. Allgemein endlich klagt man, daß, je freigebiger Laboratorien und Seminare ausgestattet seien, je reichlicher Mittel zu wissenschaftlichen Reisen und Unternehmungen aller Art fließen, um so gleichgültiger verhalte sich die Jugend gegenüber Schätzen und Spenden, die zu unserer Zeit, ach! uns so hoch beglückt hätten; und um so seltener werden Erscheinungen, die über die Mittelmäßigkeit hinausragen. Zu diesen bedenklichen Zeichen in der Wissenschaft selber tritt noch die Umgestaltung des menschlichen 191

Daseins durch die neuere Entwickelung der Technik, welche die durch die Entdeckung Amerikas, die Erfindung des Schießpulvers und der Buchdruckerkunst herbeigeführte weit übertrifft. Die Fülle der dabei ins Spiel kommenden Mittel und Kräfte wirkt durch unzählige Yerkettungen auf alle Kreise und Schichten der Gesellschaft zurück, und der endliche Sieg des Utilitarismus, dessen Lehren ohnehin der Menge stets einleuchteten, scheint nah. So sieht man für die reine Wissenschaft mit Besorgnis einer schlimmen Zeit entgegen, ohne bestimmte Hoffnung auf baldigen günstigen Umschwung. Fast ist es, als wohnte man einer allmählich unaufhaltsam sich vollziehenden Wandlung bei, wie die Erdoberfläche sie in geologischen Urzeiten erfuhr, wo im Gefolge geographisch-physikalischer und klimatischer Änderungen eine sogenannte Schöpfungsperiode einer anderen wich, - und die Rolle der untergehenden Schöpfung fiele uns zu. Die Akademien wären gleichsam aus der früheren in die neue Schöpfung vereinzelt herüberragende Gestalten von fortan zweifelhafter Berechtigung zum Dasein, wie Tier- und Pflanzenwelt einige bieten. In der Tat, man braucht kein sehr feines Ohr, um die mißgünstigen Fragen zu vernehmen: Wozu diese starren Formen inmitten eines achtlos daran vorbeirauschenden Lebensstromes? Inmitten allgemeiner Demokratisierung, wozu ein goldenes Buch? Oder, um das epidemische Wort auszusprechen, wozu ein Gelehrtenring? Das sind die Betrachtungen, in denen heut einer der modernen Heraklite sich ergehen könnte, ein Adept jener zum Pessimismus sich zuspitzenden Weltweisheit, welche man als neueste Phase des deutschen Philosophierens preist.~ Uns Berliner Akademikern wird es vielleicht gestattet sein, bei unseres Stifters Optimismus zu bleiben. Um den heutigen Zustand der Wissenschaft, des einzelnen Forschers, der gelehrten Körperschaften richtig zu beurteilen, muß man sich gleichsam aus dem Gewühl der Einzelkämpfe auf eine Höhe begeben, von der man den Gang der Schlacht, den Zusammenhang der fortschreitenden Massen, den sich schließenden siegreichen Kreis, den sich verwirklichenden Plan übersieht; und eine moderne Völkerschlacht ist schwerer mit dem Blick zu umfassen als

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ein Homerisches Scharmützel. Vom richtigen Standpunkte zeigt sich dann das tröstliche, ja erhebende Gegenteil dessen, was bei engem Gesichtskreise zum Teil schief und unvollständig erfaßt, im vorigen beklagt wurde. Nie war die \Vissenschaft entfernt so reich an den erhabensten Verallgemeinerungen. Nie stellte sie in ihren Zielen, ihren Ergebnissen eine großartigere Einheit dar. Nie schritt sie rascher, zweckbewußter, mit gewaltigeren Methoden voran und nie fand zwischen ihren verschiedenen Zweigen lebhaftere Wechselwirkung statt. Endlich nie hatten Akademien überhaupt einen so offenbaren Beruf, und übte wenigstens die unsrige größeren Einfluß. So ungerecht ist die Anschuldigung, die heutige Wissenschaft zersplittere sich in Einzelheiten, daß man bis auf .Vewtons Zeit zurückgehen muß, um einem Beispiel einer ähnlichen Erweiterung unserer theoretischen Vorstellungen zu begegnen, wie sie der Lehre von der Erhaltung der Energie und von der Bewegung, die wir Wärme nennen, entsprang. Wie damals der Fall der Körper, die Bewegung der Gestirne, Brechung und Beugung des Lichtes, Kapillarität, Ebbe und Flut als Äußerungen derselben Eigenschaften der Materie erkannt wurden, so umfaßt, durch die Arbeiten unserer Generation von Forschern, jetzt ein Prinzip die Gesamtheit der dem Versuch, der messenden Beobachtung und der Rechnung zugänglichen Erscheinungen: }lechanik, Akustik, Optik, den Proteus Elektrizität, die Wärme und die spannkräftigen Phänomene der Gase und Dämpfe. Dies Prinzip ist nicht nur, wie die allgemeine Schwere, ein gegebener Erfahrungssatz, es trifft zusammen mit der letzten Grundbedingung unseres Intellekts. Daher sein heuristischer Wert; deshalb reicht es weit über den Bereich seiner strengen Bewährung hinaus. Es erlaubt den Äther zu wägen und die Atome zu messen. Der durch die Sonnenstrahlung unterhaltene Kreislauf der Gewässer auf Erden gehorcht ihm wie der durch dieselbe Strahlung bewirkte Kreislauf der Materie durch Pflanze und Tier. Vor- und rückwärts den "Korridoren der Zeit" 3 entlang führt es den Weg, und beantwortet jene für den Denker sehr praktischen Fragen nach Anfang und Ende der Welt, mit Angabe der Fehlergrenzen, als handelte es sich um

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Messung im Laboratorium. Aber dieselbe Zauberformel läßt sich auch zu praktischer Auskunft im gewöhnlichen Sinn herbei und zeigt dem Maschinenbauer, wie er mit der kleinsten Menge Kohle den verlangten Erfolg in Gestalt mechanischer Kraft, elektrischen Stromes oder Lichtes erzielt. Anorganische und organische Chemie, von Anbeginn geschieden, erkennen jetzt in der Quantivalenz der Atome einen alles beherrschenden Grundgedanken an. Wie Mechanik und Physik in der Erhaltung der Energie, die Chemie in der Wertigkeitslehre ihren Leitstern fanden, so wurde das Gebiet des Lebens durch die Deszendenztheorie zu einem Bilde zusammengefaßt, welches die unermeßliche Gestaltenfülle der Gegenwart mit den unscheinbaren Spuren entlegenster Vergangenheit in einem Rahmen vereint. Der Bann der Cuvierschen Anschauungen, dem noch ]ohannes Müller widerstrebend sich fügte, ist gebrochen. An Stelle des leblosen Systemes der älteren Schule schwebt uns jener Darwinsche Baum vor, in dessen immergrüner Krone der Mensch selber nur ein Zweig ist. Wie zu Sammlungen ausgestopfter oder in Weingeist bewahrter Tiere zoologische Gärten und Stationen, zu Herbarien botanische Gärten, so verhält sich zur älteren Wissenschaft die neue Kunde von Pflanze und Tier, die Biologie. Eine höhere Entwickelungsgeschichte führt sie durch Paläontologie und Geologie zurück bis zur feurig flüssigen Jugend unseres Planeten, und reicht hier in der Nebularhypothese der Lehre von der Erhaltung der Energie die Hand, während Anthropologie, Ethnographie, Urgeschichte den Übergang vermitteln zur Linguistik, der Erkenntnistheorie und den historischen Wissenschaften. Die Lehre von den Lebensvorgängen an sich, die Ph.ysiologie schlechthin nach heutigem Sprachgebrauch, hat wenigstens bei uns die Larvenhülle des Vitalismus abgestreift und sich als augewandte Physik und Chemie entpuppt. Während der ersten Hälfte des Jahrhunderts gaben sich die Physiologen in Deutschland, wie in England und Frankreich zum Teil noch heute, nur mit :Morphologie und höchstens Tierversuchen ab; seit einem Menschenalter sind bei uns alle geistigen und instrumentalen Hilfs194

mittel des Physikers, alle Künste des Chemikers im physiologischen Laboratorium eingebürgert, ja sie erhielten daraus manchen Zuwachs. Nichts beweist besser die rege Wechselwirkung der verschiedenen Wissenszweige in der Gegenwart, als daß Versuche über Urzeugung der Chirurgie zum größten Fortschritt verhalfen, der ihr seit Ambroise Pare" gelang, der Pathologie zur Einsicht in das Wesen der verheerendsten Infektionskrankheit, der Lungentuberkulose. Auch Wissenschaften, deren Kreise früher kaum je sich schnitten, näherten sich einander. Die Spektralanalyse schlug eine Brücke zwischen Astronomie und Chemie. Die Siege der induktiven Methode machten Historiker und Sprachforscher, wie Thomas Buckle und Max Müller, begierig, sich derselben Vorteile zu bemeistern, da sich denn ergab, daß zwischen ihrer Tätigkeit und der des Naturforschers im Grunde kein so großer Unterschied ist; natürlich nicht, denn Induktion ist in der Praxis nur scharfsinnig angewendeter gesunder Menschenverstand. Dem Ineinandergreifen archäologischer und naturwissenschaftlicher Bemühungen verdanken wir eine grundlegende Errungenschaft der Neuzeit, die von den dänischen Gelehrten Forchhammer, Steenstrup, Thomsen, Worsaae im Verein geschaffene Lehre von den Urzuständen der Menschheit, welche oft reizvoller ist, als wirkliche Geschichte. Es wäre überflüssig, dies Bild weiter auszumalen. Wie es ist, genügt es zum Beweise, daß nur trüglicher Anschein uns die heutige Wissenschaft in lauter einseitig geführte, gegeneinander abgegrenzte Einzeluntersuchungen aufgelöst zeigt, und daß die Behauptung, ihr fehle es an allgemeinen Gedanken, den Wald vor Bäumen nicht sieht. Aber freilich, daß in den nächsten Jahrzehnten nicht gleich wieder Theorien solcher Tragweite ans Licht treten werden, wie Erhaltung der Energie und Abstammungslehre ist schon deshalb wahrscheinlich, weil kaum eine dritte gleich folgenschwere Theorie denkbar ist. Daher mag sich wohl wiederholen, was Dove etwa von der Mitte des vorigen Jahrhunderts sagt: "Dem Impulse, welchen die Naturwissenschaften zur Zeit Newtons durch das Zusammenwirken jener großen Talente erhielten, entspricht nicht ein

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ebenso rascher Fortschritt in der folgenden Periode. Es bedurfte einer Zeit, jene Gedanken, welche in den verschiedenen Gebieten auf eine so großartige Weise angeregt worden waren, zu verarbeiten, sie im Detail der Erscheinungen zu rechtfertigen, das skizzierte Schema durch den Inhalt zu erfüllen, welchen schärfere Beobachtungen in immer größerem Reichtume darboten. "5 Zugleich mit den zu verarbeitenden allgemeinen Gedanken entstanden nun auch noch Untersuchungsmethoden wie Spektralanalyse und Chronoskopie, welche ehedem ganz ungeahnte Aufschlüsse ermöglichen. Den beobachtenden Wissenschaften führen nicht nur der gleichfalls über jeden früheren Begriff gesteigerte Weltverkehr, die so viel häufigeren wissenschaftlichen Reisen eine überschwengliche Fülle neuen Stoffes zu, sondern auch in den zoologischen Stationen erschloß sich ihnen eine für lange Zeit unerschöpfliche Fundgrube. Die in großem Stil auf den verschiedensten Punkten des alten Kulturbodens methodisch betriebenen Ausgrabungen überschütten die Altertumsforscher mit einem Übermaß von Funden, welches den Fleiß von Generationen herausfordert. Was kann da erwünschter sein, als daß Scharen von Arbeitern, die sich an Lösung beschränkter Aufgaben genügen lassen, mit rastloser Geschäftigkeit alle Plätze besetzen? Warum soll es nicht im Betriebe der Wissenschaft, wie in dem einer Fabrik, Leuteam Schraubstock geben, die vortreffliche Dienste leisten, wenn sie auch nicht wissen, was aus dem Stücke wird, an dem sie feilen, Werkführer, die es einzufügen verstehen, doch über die Bestimmung des Ganzen noch im unklaren sind, und noch weiter blickende, tiefer eingeweihte Meister? Was Wunder sodann, daß in der erstaunlich angewachsenen Menge der Berufenen nicht alle auserwählet und gleich reines Herzens, nicht alle Gäste der Hochzeit wert sind? Über Mangel an hervorragenden Talenten bei gehobenem allgemeinen Stande der Bildung klagt auch die Kunst; abgesehen von Zufälligkeiten in der Erzeugung der Talente liegt vielleicht nur Täuschung vor durch die unmerkliche Abstufung so vieler Mitbewerber. Der Überfluß an dargebotenen Hilfsmitteln entwertet diese naturgemäß

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nach bekannten Gesetzen der Statik der Leidenschaften. Endlich wenn bei bedenklichen gesellschaftlichen Zuständen nicht bloß absolut ,sondern auch relativ mehr junge Leute sich finden als sonst, denen Wissenschaft nicht die hohe, die himmlische Göttin ist, sondern eine milchende Kuh: so verschlägt das dem großen Ganzen wenig. Hier, wie in vielen anderen menschlichen Dingen, sprechen ethische und ästhetische Forderungen leider erst in zweiter Linie mit. Vielmehr kommt alles darauf an, daß etwas, weniger darauf, wie es geleistet werde. Je fleißiger und an je mehr Stellen aus irgendwelchen Beweggründen geschafft wird, um so schneller geht die scheinbare Stockung vorüber, um so sicherer und breiter wird für neue große Aufstellungen der Grund gelegt. Mag es Jahre dauern oder Jahrzehnte, der Tag erscheint, wo nicht mehr zerstreut durch einen Schwarm vor allem Erledigung heischender Fragen die Forschung ihre Kräfte zum Angriff auf die höchsten uns jetzt vorschwebenden Aufgaben sammelt: Was ist Schwere? Was Elektrizität? Was der Mechanismus chemischer Verbindung? Und was die Zusammensetzung der bisher unzerlegten Stoffe? Sie wird sie lösen, denn je unbedingter wir Grenzen des Naturerkennens setzen, um so zuversichtlicher bauen wir auf die Möglichkeit des Erkennens innerhalb dieser Grenzen. Jenseits jener Aufgaben türmen sich dann andere; und so wiederholt sich ins Unbestimmte der periodische Wechsel im Entwickelungsgange der menschlichen Erkenntnis. Das unvergleichliche Schauspiel, zu welchem Paris die gebildete Welt im vorigen Herbste lud,6 zeigte nicht nur, daß trotz dem Völkerzwist die Wissenschaft ihre verbindende Kraft noch übt, sondern es lehrte zugleich besser als alle Worte, daß, wenn die blendende Entfaltung der Technik in der Neuzeit den Sinn für reine Wissenschaft abstumpft, sie anderweitig diesen Schaden tausendfach vergütet. Die elektrischen Apparate von vor dreißig Jahren faßte ein mäßig geräumiges Zimmer; die heutigen füllten ein Weltausstellungsgebäude. Zu Hrn. Wiedemanns "Lehre vom Galvanismus und Elektromagnetismus" bemerkte Eilhard M itscherlich, nichts zeuge beredter von der Macht des 17

Wollgast, Philosophie

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Menschengeistes, als dies mit lauter Tatsachen, welche Physiker schufen, erfüllte Buch. Tief in Gedanken durchwandelte man, dies Wort erwägend, den von elektrischem Licht durchblitzten, von elektrischen Triebwerken durchsausten Zauberpalast der Elysäischen Felder. Man spricht von Amerikanismus in unfreundlichem Sinne, indem man damit den zynisch auf den Schild gehobenen Utilitarianismus meint. Aber wer empfand nicht "patriotische Beklemmungen" für das alte Europa bei den Wundern des Telefons, des Phonographen? oder bei der Kunde von der durch Asaph Hall mit Alvan Clarks Objektiven bestätigten Entdeckung der Astronomen von Laputa? 7 Fast kein Jahr vergeht, ohne daß uns die Zeitungen von einerneuen großartigen Stiftung für Zwecke der reinen Wissenschaft Nachricht geben, welche amerikanischer Bürgersinn durch Privatmittel, wie sie diesseit des Wassers nur England kennt, ins Leben rief. Die Namen amerikanischer Geschichtsschreiber, Denker und Sprachforscher werden mit den besten genannt und sind besonders dieser Akademie wert und teuer. Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, daß, wie der volkswirtschaftliche Schwerpunkt der zivilisierten Welt wohl schon jetzt, nach Art des Schwerpunktes eines Doppelsternes, zwischen altem und neuem Kontinent im Atlantischen Ozean liegt, so auch der wissenschaftliche Schwerpunkt mit der Zeit sich stark nach West verschieben werde. Genug, Europa mag sich hüten, daß seiner Wissenschaft der ihm durch die Chauvins aller Nationalitäten aufgezwungene Militarismus nicht gefährlicher werde, als der amerikanischen der Utilitarianismus. In einem Punkte indes, darauf können wir wohl rechnen, wird uns die Hegemonie so bald nicht entwunden. Das Zusammenwirken einer in festen Formen stets zur Vollzähligkeit ergänzten, die Gesamtheit des Wissens möglichst vertretenden, vom Staate getragenen Körperschaft, deren Alter und ruhmvolle Vergangenheit ihren Entscheidungen Gewicht verleihen, ist ein auch durch die größten Mittel und Anstrengungen nicht über Nacht zu schaffendes Moment. Geniale Erfinder, einzelne noch so verdienstvolle Gelehrte und Forscher vermögen im wissen-

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schaftliehen Leben einer Nation eine Akademie nicht zu ersetzen. Natürlich war die Hauptsache, daß das Telefon erfunden wurde; bezeichnend ist doch, daß dessen Erklärung Mitgliedern unserer Akademie vorbehalten blieb.S Zur Zeit der Gründung der älteren Akademien machten diese fast allein die wissenschaftliche Welt aus. In den Universitäten hatten die sogenannten professionellen Fakultäten noch ganz die Oberhand über die philosophische, in welcher klassische Philologie vorwog. Die Akademien verkehrten wohl unter sich, wirkten aber kaum anders als durch Preisaufgaben auf die ihnen sehr fremd gegenüberstehende Außenwelt. Auch noch bei den vergleichsweise idyllischen Zuständen der ersten Hälfte des Jahrhunderts durften sie mehr auf Erfüllung ihres inneren Berufes, ihre eigenen wissenschaftlichen Arbeiten sich beschränken. Bei dem massenhaften Zudrange von Kräften aller Art und jeden Ranges, der atomisierenden Zersplitterung der Arbeit um uns her, bei den ungeregelten Anmaßungen, dem kurzen Gedächtnis, dem überhandnehmenden banansieben Treiben des heutigen Geschlechtes, ward den Akademien neben dem inneren noch ein wichtiger äußerer Beruf. Ihres Amtes ist es, in der Teilung der Arbeit den Zusammenhang, in der Flucht der Tageserscheinungen die Einsicht in das Werden der Erkenntnis zu wahren. Gegenüber den Verlockungen der Technik sollen sie den Reiz der reinen Wissenschaft zur Geltung bringen. Deren Heiligtum, die Methode, ist in ihrer Hut; in Deutschland aber, wo die falschen Götter verworrener Spekulation immer wieder willige Baalsdiener finden, liegt ihnen noch besonders ob, diese Götzen, wo sie eingeschmuggelt werden sollten, aus dem Tempel zu werfen und deren Priester von sich zu stoßen. Die notwendige Ergänzung einer Wirkung der Akademien nach außen ist nicht minder lebendige Rückwirkung von außen auf die Akademien, eine Wechselwirkung, zu der es schneller und schlagfertiger Organe bedarf. Solchen Anforderungen "dieser raschen wirbelfüß'gen Zeit" genügten die altehrwürdigen, etwas schwerfälligen Formen nicht, in denen unsere Körperschaft sich seit Jahrzehnten

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behaglich bewegte. Es versagten den Dienst unsere träg und unregelmäßig erscheinenden "Monatsberichte", welche im Kampf mit zahllosen um Luft und Licht ringenden Fachzeitschriften erstickten. Die Akademie hat daher in ihren Einrichtungen und ihrem Geschäftsgange ziemlich eingreifende Änderungen getroffen, welche im vorigen Jahre die Sanktion ihres unmittelbaren Beschützers, Seiner Majestät des Kaisers und Königs, erhielten. Sie hat unter anderem die Zahl ihrer Klassensitzungen auf Kosten der Gesamtsitzungen verdoppelt, und um mit der Entstehung neuer Zweige der Wissenschaft einigermaßen Schritt zu halten, die Zahl ihrer ordentlichen Mitglieder um vier erhöht. Dem schon länger bewährten Beispiel ihrer berühmten Pariser Schwester folgend entschloß sie sich sodann, nicht ohne Widerstreben, zu einer Art der Veröffentlichung ihrer Verhandlungen, welche durch wöchentliche "Sitzungsberichte" dem Bedürfnis schnellster Bekanntwerdung der Mitteilungen sowohl von Mitgliedern der Akademie wie von Fremden genügt. Doch bleibt bei unserer Einrichtung die Möglichkeit gewahrt, im gleichen Rahmen auch wie früher ausführlicheren und minder dringlichen Darlegungen einen Platz zu gewähren. Das Äußere der neuen "Berichte" soll, wie hoffentlich ihr Gehalt, der ersten wissenschaftlichen Körperschaft des Reiches sich würdig zeigen; und um dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Leserkreise den ihn näher angehenden Teil des Stoffes der "Sitzungsberichte" in bequemerer Form darzubieten, beschloß die physikalischmathematische Klasse, einen Auszug aus diesen Berichten unter dem Titel: "Mathematische und naturwissenschaftliche Mitteilungen" zu veranstalten. Nicht leicht bleiben gegenwärtig, wenigstens in der Naturwissenschaft, irgend bedeutende und zugängliche Fragen länger unbearbeitet. Stellung von Preisfragen und Krönung der besten Antwort passen daherweniger für unsere Zeit, als die in England immer schon übliche Belohnung hervorragender, schon veröffentlichter Leistungen. Teils wegen des Wortlautes der Vermächtnisse, denen sie die Mittel zu mehreren ihrer Preise verdankt, teils aus anderen Gründen, hat indes die Akademie im wesentlichen die erste

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Art der Preiserteilung beibehalten. Nur wird sie fortan in größeren Zwischenräumen höhere Preise ausschreiben, und wenn eine Preisfrage nicht befriedigend beantwortet wurde, steht es in ihrer l\Iacht, dem Urheber einer nicht über drei Jahre alten hervorragenden Leistung auf gleichem Gebiet die Preissumme als Ehrengabe zu überweisen. Für das Wesen der Akademie ist es entscheidend, daß sie unter dem Schutze des Staates, daß seine Autorität hinter der ihrigen steht, soviel dies in wissenschaftlichen Dingen denkbar und wünschenswert ist. Der Staat bekundet so den Anteil, den er an der Wissenschaft als solcher, an idealen Bestrebungen nimmt. Er drückt dies zunächst durch die Mittel aus, die er der Akademie zu wissenschaftlichen Zwecken zur Verfügung stellt. Im Getöse der großen Zeitereignisse fand es zu wenig Beachtung, daß eine der ersten Anwendungen, welche der preußische Staat von seinen erweiterten Hilfsquellen machte, eine Erhöhung der jährlichen Dotation der Akademie war. Von dem dadurch bewirkten Umschwung in den Verhältnissen der Akademie zeugen die Werke, welche nun fast jährlich auf allen Wissensgebieten mit unserer Unterstützung erscheinen; die Untersuchungen aller Art, von epigraphischen unddiplomatischen bis zu mikrographischen und paläontologischen Studien, zu denen wir die Mittel hergeben; das Dampfschiff der zoologischen Station in Neapel, in dessen Kosten wir uns mit dem Staate teilen. Um die Akademie kristallisiert sind mehrere literarische Unternehmungen, deren Ruhm auf sie zurückfällt, wie auch Stiftungen und Institute, deren Mittel ihr zugute kommen, sofern sie mehr oder minder frei darüber verfügt. Fast nie sind wir ohne mehrere Reisende, die in entfernten Weltteilen in unserem Namen und Auftrage teils sammeln, teils an Ort und Stelle die Natur oder Denkmäler des Altertums befragen. Die Namen der Reisenden der Humboldt-Stiftung, um nur von dieser zu reden, Hensel, Schweinfurth, Buchholz, Hildebrandt, Sachs, Finsch, Fritsch9 sind im Munde aller Kundigen und zum Teil mit äußerst wichtigen Erfolgen verknüpft. Die Akademie wird sogleich die Berichte hören, welche ihr über den Fortgang jener Unternehmungen und die Tätigkeit eines Teiles der ihr verbundenen Stiftungen und 201

Institute nach unserer neuen Geschäftordnung heute zu erstatten sind. Die Behauptung, daß ihr Einfluß nie größer war als in diesem Augenblick, wird durch die stattliche Reihe dieser Berichte vollauf bestätigt. Die erste aller Akademien, jene platonische, von der unlängst Hr. Curtius an dieser Stelle ein beredtes Bild entwarf,IO entstand in einem Freistaat. Seitdem brachte kein republikanisches Gemeinwesen eine dauernde und bedeutende Schöpfung der Art hervor. Nach Hrn. de Candolles Statistik stellte von Mitte zu Mitte des vorigen und dieses ] ahrhunderts die Schweiz das relativ größte Kontingent zu den auswärtigen und korrespondierenden Mitgliedern der Pariser und Berliner Akademien und der Royal Society ;1 f sie selber gründete keine Akademie. Der Ursprung der Royal Society verliert sich in die Stürme der Commonwealth;12 doch waren es nicht Cromwells Puritaner, welche menschlichem Wissen eine Stätte bereiteten, und der Name der jungen Gesellschaft, der auf die anderen gelehrten Vereine Englands, sogar die Göttinger Gesellschaft überging, verrät das Bestreben, sich an monarchische Institutionen anzulehnen. Daß Volksherrschaft Akademien nicht fromme, davon zeugen Baillys und Lavoisiers blutige Häupter, Condorcets düsteres Ende. Vollends im sozialdemokratischen Staat, der nur das gemeine Nützlichkeitsprinzip kennt, wäre für sie kein Platz.13 Nicht bloß weil in Preußen Staat und Krone stets eins waren, führt unsere vom Staat unterhaltene, beschützte und gestützte Körperschaft den Titel einer Königlichen mit besserem Recht als mehrere so sich nennende gelehrte Gesellschaften. Keine von diesen hatte zum Herrscherhause ihres Landes so stetige innige Beziehungen. Der Robenzollern eigenste Schöpfung, durch gute und böse Zeiten von Preußens Königen auf Händen getragen, zählte der Berliner Akademie sogar deren größten zu ihren Mitarbeitern. Oft schon wurde hier diesen Erinnerungen freudig dankender Ausdruck gegeben, heut erscheint ein Wort am Platze, welches auszusprechen unser stolzes Vorrecht ist. In Kaiser Wilhelm den sieghaften Helden, den Wiederhersteller des Reiches deutscher Nation, den Schiedsrichter des \Veltteils, den mächtigsten Kriegsherrn und

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wahren Friedensfürsten, eine der wunderbarsten Gestalten zu preisen, von welchen einst die Geschichte erzählt, ist anderer Beruf. An uns ist es zu sagen, was geringeren Widerhall in der Welt findet, aber in den Augen derer, die an Dingen des Geistes teilnehmen, doch auch ein Lorbeerblatt in seinem Kranze bedeutet,- daß auf solcher Höhe des Daseins, im Drange so gewaltiger Staatsaktionen, unter dem Druck so verzehrender Sorgen, in der Spannung so weltbewegender Fragen, Kaiser Wilhelm, im Geiste seines Hauses, für seine Akademie der Wissenschaften stets ein freundlich offenes Ohr gehabt hat.14

Darwin und Copernicus Ein Nachruf Aus dem in der Friedrichs-Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 25. Januar 1883 statutenmäßig verlesenen Bericht über die seit der letzten gleichnamigen Sitzung eingetretenen Personalveränderungenl

Cieco error Sord' invidia, vil rabbia, iniquo zelo, Crudo cor, empio ingegno, strano ardire Non bastaranno a farmi l'aria bruna, Non mi porrann' avanti gl'occhi il velo, Non faran mai ch'il mio bei so! non mire. Giordano Bruno 2

Ungewöhnlich schwere Verluste erlitten während des verflossenen Jahres die physikalisch-mathematischen Wissenschaften. Ein fruchtbarer und erfindungsreicher Mathematiker, der als Herausgeber einer der bedeutendsten Zeitschriften seines Faches ein Menschenalter lang eine leitende Stellung in der französischen Wissenschaft einnahm; der Chemiker, welcher durch die erste organische Synthese das Trugbild der Lebenskraft zerstreuen half; der Physiologie, der ein uraltes Rätsel der Menschheit löste, solcher Männer Verschwinden hinterläßt tief empfundene, nicht sobald auszufüllende Lücken. Aber den Glanz der Namen Liouville, Wähler, Bisehoffüberstrahlt der des erste Namens auf unserer Totenliste, Charles Darwin. Fast alle gelehrten Gesellschaften der Welt widmeten ihm einen Nachruf. Diese Akademie fand dazu noch keine Gelegenheit. Es scheint geboten, der Erwähnung seines Ablebens einige Worte hinzuzufügen, zum Zeichen, daß auch wir von der Größe des Mannes und von der Trauer über sein Hinscheiden durchdrungen sind.

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Neues über ihn zu sagen, wird erst nach längerer Zeit wieder möglich sein, nachdem der Fortschritt der Wissenschaft neue Gesichtspunkte eröffnete. Besonders dem Redner, der sich an dieser Stelle schon öfter über Darwin äußerte, wird es schwer, nicht in frühere Gedankenwege zurückzufallen: um so mehr, als notwendig das Urteil über seine Lehre jetzt noch subjektiv gefärbt bleibt. Für mich ist Darwin der Copernicus der organischen Welt. Im sechzehnten Jahrhundert machte Copernicus der anthropozentrischen Weltanschauung ein Ende, indem er die Ptolemäischen Sphären vernichtete, und die Erde zum Rang eines unbedeutenden Planeten herabdrückte. Er widerlegte so zugleich den Wahn von einem Aufenthalt himmlicher Geister jenseit der siebenten Sphäre, vom sogenannten Empyreum, wenn auch erst Giordano Bruno diese Folgerung zog. Noch aber blieb der Mensch abseits von den Tieren stehen; nicht bloß, wie natürlich, über ihnen, sondern als besonderes, mit ihnen inkommensurables Wesen. Hundert Jahre später erklärte noch Descartes die Tiere für Maschinen; eine Seele habe nur der Mensch. Trotz den unermeßlichen Arbeiten der Naturbeschreiber seit Linne, trotzder Wiedererweckung der untergegangenen Tiergeschlechter durch Cuvier, herrschte noch vor fünfundzwanzig Jahren über Entstehung und Zusammenhang der Lebewesen eine Theorie, welche an Willkür, Künstlichkeit und Widersinn es mit jenen Epizyklen aufnahm, die dem König Aljons von Castilien den Ausruf entlockten: "Hätte Gott bei Erschaffung der Welt mich zurate gezogen, ich hätte sie besser eingerichtet" .3 "Ajjlavit Darwinius et dissipata est" wäre mit Hinblick auf diese Theorie eine passende Umschrift für eine Denkmünze zu Ehren der Origin of Species. Nun entwickelte sich alles stetig aus wenigen einfachsten Keimen; nun bedurfte es keiner schubweisen Schöpfungen mehr, nur noch eines Schöpfungstages, an welchem bewegte Materie ward; nun war die organische Zweckmäßigkeit durch eine neue Art von Mechanik ersetzt, als welche man die natürliche Zuchtwahl auffassen kann; nun endlich nahm der Mensch den ihm gebührenden Platz an der Spitze seiner Brüder ein.

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:\Ian könnte des Copernicus Lehrjahre in Bologna, sein darauffolgendes Stilleben in Frauenburg mit Darwins Weltreise auf dem "Beagle", seiner nachmaligen Zurückgezogenheit bis zum Augenblick vergleichen, wo Mr. W allaces" Hervortreten ihn bewog, sein Schweigen zu brechen. Hier aber endet, zum Glück für Darwin, die Ähnlichkeit. :\Iehrere Umstände verbanden sich, um seine Tat zu ermöglichen, und deren Erfolg zu sichern. Botanik und Zoologie, Morphologie und Entwicklungsgeschichte, Tierund Pflanzengeographie waren so weit gediehen, daß sie allgemeinere Schlüsse verstatteten. Lyells gesunder Sinn hatte die Geologie von den sie entstellenden Hypothesen gesäubert und den Grundgedanken des Aktualismus in der Wissenschaft eingebürgert. Die alte Lehre von der Erhaltung der Energie war auf neuer Grundlage so gefördert worden, daß an ihrem Faden, wie an dem astronomischer Betrachtung, frühere Zustände des Weltalls in der Idee wiederhergestellt werden konnten, über dessen Dauer man zu ganz anderen Vorstellungen gelangte. Die Lehre von der Lebenskraft war bei näherer Prüfung haltlos in sich zusammengesunken. Zwei ] ahre vor dem Erscheinen von Darwins Buch hatte der ungewöhnlich niedrige Wasserstand eines Schweizer Sees zur Entdeckung der Pfahlbauten geführt, aus welcher eine längst im Keime vorhandene Disziplin sich rasch entwickelte, die Urgeschichte. Fehlt auch noch manches Glied der Kette, die Kunde vom Urmenschen ist doch wohl der Anfang der gesuchten Verbindung zwischen ihm und den Anthropomorphen einerseits, andererseits ihren gemeinschaftlichen Progenitoren. Mit einem Wort, die Zeit war reif für Verkündung der Abstammungslehre; daher die massenhafte, schnelle Bekehrung zu einer Meinung über die Natur des Menschen, die von der bisherigen mindestens so sehr abwich, wie vom Ptolemäischen das Copernicanische System, zu welchem sie die Ergänzung bildet. Wie anders die Copernicanischen Geschicke. "Kopernicus", sagt Poggendorff, "ist und bleibt ein helleuchtendes Gestirn am Firmament der Wissenschaft; allein es ging zu einer Zeit auf, wo der Horizont noch mannigfach von 207

Nebel umdüstert war ... Das Ptolemäische Weltsystem war zu alt und stand zu sehr in Ansehen, um auf einmal verdrängt werden zu können" .5 Die Copernicanische Lehre machte daher in den ersten fünfzig Jahren bei den Astronomen wenig Glück, und sogar Tycho Brahe warf sich zu ihrem Gegner auf. Dürfen wir uns wundern, wenn auch Luther sie ablehnte, der Nolaner deren Erweiterung auf dem Scheiterhaufen büßte, Galilei, minder standhaft, gezwungen wurde, sie abzuschwören? Trotz dem Pessimismus unserer spekulativen Philosophen, welche den Fortschritt leugnen, zu dem sie nicht beitragen, war Darwins Los ein besseres als das des astronomischen Reformators. Während Copernictts nur mit brechendem Auge noch ein Exemplar seines Buches sah, weil er es, obschon längst vollendet, nicht herauszugeben gewagt hatte, überlebte Darwin das Erscheinen des seinigen um fast ein Vierteljahrhundert. Er war Zeuge der Kämpfe, die anfangs sich um seine Lehre erhoben, ihres wachsenden Erfolges, ihres Triumphes, dem er, glücklich tätig bis zum letzten Tage, durch eine lange Reihe sorgfältig gezeitigter Arbeiten zu Hilfe kam. Während das hl. Offizium des Copernictts Anhänger mit Feuer und Kerker verfolgte, ruht Charles Darwin in Westruinster Abbey unter seinen Peers Newton, ]ames Watt und Faraday.c.

Über Neo-Vitalismus Zur Feier der Leibniz-Sitztmg der Akademie der Wissenschaften am 28. Juni 1894 gehaltene Rede

Descartes, von welchem sonst so viel Großes ausging, behauptete bekanntlich, die Tiere seien, im Gegensatz zum Menschen seelenlose Geschöpfe, mit einem Wort, Maschinen; was um so schwerer zu begreifen ist, als man nicht recht weiß, was für einigermaßen .tierähnliche, also doch wohl automatische Maschinen ihm seinerzeit bekannt sein und bei jenem Vergleich vorschweben mochten. Leibniz, zu dessen Andenken wir versammelt sind, schrieb zwar den Tieren eine Seelenmonade zu, dehnte aber diese Vorstellung auch auf den Menschen aus, indem nach seiner Lehre alle Vorgänge im menschlichen Körper rein mechanisch ablaufen, und die entsprechenden Seelenzustände, Sinnesempfindungen und Willensäußerungen, ohne ursächlichen Zusammenhang mit den gleichzeitigen körperlichen Vorgängen, gleich diesen durch Gott beim Schaffen der zugehörigen Seelenmonade im voraus geregelt wurden. So glaubte er das Problem der scheinbaren Wechselwirkung einer immateriellen Seele und eines materiellen Körpers durch eine prästabilierte Harmonie beider lösen zu können; eine Theorie, welche, nicht viel

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glücklicher erdacht als der Okkasionalismus der Cartesianer, außer ihrem Urheber selber, der darauf den größten \Vert legte, wohl kaum noch jemand befriedigt hat. Eine Seite seiner Lehre verdient aber, wie sich zeigen wird, noch heute Berücksichtigung. Sichtlich läßt er die ganze organische \Velt mit allen ihren Wundern, ihrer äußeren Anpassung und inneren Zweckmäßigkeit, rein mechanisch zustande kommen. Bei Leibniz ist von keiner Lebenskraft, keinem Hippokratischen ivoettwv oder Boerhaaveschen Impetum jaciens, keinem van Helmonischen Areheus influus die Rede.t Die zweckwidrigen Einrichtungen, an denen es in der organischen Natur, in unserem eigenen Körper, ja nicht fehlt, boten ihm keine Schwierigkeit, da diese Welt ihm nur die bestmögliche war, für welche unter unendlich vielen möglichen Welten das Verhältnis der Summe des Guten zur Summe des Übels von Gott wie durch :\faximalrechnung als das Maximum erkannt, und welche deshalb von ihm gewählt und ins Dasein gerufen sei. Da Leibniz die Willensfreiheit leugnete, erwuchs ihm auch daraus kein Hindernis. Diese Aufstellungen lagen indes dem gewöhnlichen Menschenverstande zu fern, um einen großen Einfluß auf die Meinungen der Naturforscher und Ärzte zu üben. Voltaire verspottete sie im Candide, die Gelehrten von Fach ließen sie abseits liegen und fuhren fort, sich über die Lebenserscheinungen ihre eigenen Theorien zu bilden. Die Wissenschaft im ganzen war noch von den Fesseln der Theologie umstrickt, das Licht der großen N ewtonschen Entdeckungen warf nur spärliche Strahlen in das biologische Gebiet. Sie erweckten wohl das Streben nach ähnlichen Fortschritten in der Physiologie, wie sie der geniale Landgeistliche Stephen H ales in seiner V egetable Staticks und Hemastaticks2 experimentell, die Iatromechaniker und -mathematiker von Montpellier, über die sich d'Alembert lustig macht, theoretisch versuchten. Doch blieb in der Frage nach den in der organischen Natur waltenden Grundkräften ein halb spiritualistischer Dualismus herrschend, wie er dem menschlichen Hange zur Personifikation unbekannter Ursachen am meisten zusagte. Das schlagendste Beispiel davon liefert der merkwürdige 210

Mann, der seine Unsterblichkeit dreien von ihm ausgegangenen Irrlehren verdankt, der Lehre vom Phlogiston, der vom Muskeltonus, und der von der Anima inscia, als der die körperlichen Verrichtungen besorgenden Seele. Nicht alle aber dachten mit so klarer Bestimmtheit wie, wenn auch in unrichtigem Sinne, Georg Ernst Stahl. Zum Verständnis der organischen Natur, die Leibniz rein mechanisch werden ließ, riefen die meisten unfaßbar dunkle Mächte an, bei denen sich so wenig etwas denken ließ, wie einst bei Platons "bewegenden Ideen" und für welche sich allmählich der Name "Lebenskraft" einbürgerte. Wer diesen in Deutschland zuerst gebrauchte, ist wohl kaum auszumachen. Haller, der doch die Meinungen Descartes' und Leibnizens für, Newtons gegen Erhaltung der Kraft zu des letzteren Gunsten abwägt, schlägt sich dabei noch mit dem schwierigen Begriff der Aristotelischen Entelechie herum; nach der Lebenskraft suchte ich vergeblich bei ihm. In Frankreich wird von Milne Edwards das zweifelhafte Verdienst, eine Force vitale erdacht und benannt zu haben, Barthez zugeschrieben, der sich übrigens, wie ich finde, immer nur des Ausdruckes Principe vital bedient.3 Vollends wäre es untunlich, durch das ganze achtzehnte Jahrhundert die verschiedenen Definitionen zu verfolgen, welche die Autoren von ihren Lebenskräften gaben. Im allgemeinen sah man die Lebenskraft als ein der Seele verwandtes, neben ihr im Körper hausendes Wesen an, andererseits vermischte man auch deren Begriff vielfach mit dem des sogenannten Nervenprinzips oder gar der tierischen Wärme, später der Elektrizität, wie denn Prochaska ohne weiteres das Leben einen galvanischen Prozeß nennt. "Die Mythen von imponderablen Stoffen und von eigenen Lebenskräften in jeglichem Organismus verwickeln und trüben die Ansicht der Natur"- sagtim "Kosmos" Alexander von Humboldt, der in der Jugend selber in diesen Wahnvorstellungen befangen gewesen war, und sie sogar in dem Apolog vom Rhodisehen Genius für Schillers Horen poetisch verklärt hatte. Nur kurze Zeit darauf machte er in seinem Werk über die gereizte Muskel- und Nervenfaser auf eine noch heute lesenswerte lichtvolle Auseinandersetzung Vicq-d' Azyrs aufmerksam, wodurch, wie man meinen sollte, die Lebens211

kraft für immer aus der ernsten Wissenschaft hätte verbannt werden können. Zwar eröffnete noch Reit sein "Archiv für die Physiologie", welches bald sein hundertjähriges Jubiläum feiern wird,4 mit einem gewichtigen Artikel über die Lebenskraft, doch sieht er verständig genug in ihr nur den Ausdruck der Form und Mischung der Materie in den Lebewesen. Gleichzeitig suchte Brandis in einem eigenen Buche die Lebenskraft zu dem, wie er es nennt, phlogistischen Prozeß in der tierischen Faser, d. h. Atmung, in Beziehung zu setzen." Blumenbach sprach dem Blute Lebenskraft ab, dagegen schrieb er dem, was wir heute die verschiedenen Gewebe nennen würden, verschiedene Lebenskräfte zu.6 Die unermeßlichen Aufgaben, welche damals in Frankreich der Forschung durch Cuvier in der vergleichenden Morphologie, durch Eiehat in der Histologie gestellt wurden, während in Deutschland die Geisteskrankheit der falschen Naturphilosophie traurige Verheerungen anrichtete, lenkten dann wohl längere Zeit von dem Streit über Vitalismus und Mechanismus ab, wenn sie nicht ersterem von vornherein ein siegreiches Übergewicht sicherten. Nur in Magendie' entstand noch ein schneidiger Antivitalist. Wir lassen nichts Wesentliches aus, wenn wir jetzt sofort zu johannes Müllers auch in dieser Richtung bahnbrechender und grundlegender Tätigkeit übergehen. Als er nach Ablauf seiner subjektiv-physiologischphilosophischen Periode als objektiver Forscher ersten Ranges auftrat und durch sein gewaltiges "Handbuch der Physiologie" sich als Herrscher auf diesem Gebiete ankündigte, stellte er sich zugleich unverhohlen an die Spitze der entschiedensten Vitalisten. ] a, wie ich es früher schon einmal in meiner Gedächtnisrede ausführte, er erwarb sich auch hier ein charakteristisches Verdienst, indem er die Vorstellung der Lebenskraft, wie man sie sich zu denken habe, wenn sie das ihr Zugeschriebene sollte vollbringen können, so scharf durchdachte und ausgestaltete, daß er denen den wesentlichsten Vorschub leistete, die berufen waren, das von ihm hingestellte Trugbild zu entlarven. Die Lebenskraft war ihm die einheitliche Ursache und der oberste Ordner aller Lebenserscheinungen, wesentlich

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verschieden von den anorganischen Kräften, mit denen sie jedoch in Konflikt gerät. Alle Geheimnisse der Physik und Chemie waren ihr von Anfang an enthüllt, so daß sie dem Wunderbau der Sinnes- und Bewegungswerkzeuge, des Atmungs- und Verdauungsapparates, mit einem Worte der Organisation, gewachsen war. Sie kannte das Brechungsgesetz vor Snell, den Luftdruck vor Torricelli, den elektrischen Schlag vor Kleist und M usschenbroek, die Vierwertigkeit des Kohlenstoffes vor Kekute, die Obertöne vor Helmholtz. Sie schuf alle Tierspezies nach einem unendlich umfangreichen, auf das Feinste gegliederten Plane, so zwar daß in allen Tieren derselben Art die Lebenskräfte im Einverständnis handeln, in denen verschiedener Art ihre Wirkungen nie sich verwirren. Trotz der Stahlsehen Seele besorgt sie alle Entwickelung, als Naturheilkraft alle nötigen und möglichen Ausbesserungen des kranken oder verstümmelten Körpers. Einen bestimmten Sitz im Körper hat sie nicht, sie ist überall zugegen, und wirkt auf keinen bestimmten Punkt. Sie bemächtigt sich der eingeführten Nahrungsmittel, belebt die belebungsfähige Materie, die dadurch selber Sitz von Lebenskraft wird, und stößt die Materie wieder von sich, welche aufgehört hat, für Lebenszwecke tauglich zu sein, denn die Belebbarkeit der Materie ist begrenzt. Wozu dieser Stoffwechsel diene, bleibt unerklärt. Wie dem auch sei, im Weizenkorn aus der Mumienhand wie im vertrockneten Rädertier, im Scheintod wie in der Narkose ist die Lebenskraft latent; im Tode verschwindet sie spurlos, den physisch-chemischen Kräften das Feld räumend, da dann der Graus der Fäulnis Platz greift, dem während des Lebens nur sie wehrte. Bei der Zeugung aber, was das Merkwürdigste ist, geht sie über auf den Keim des neuen Geschöpfes, ohne daß die Erzeuger etwas davon einbüßen, und da die Abkömmlinge eine ins Unendliche divergierende Reihe bilden, ist sie also ohne Schwächung in unendlich viele gleichwertige Teile teilbar. Zu den gewöhnlich aufgezählten Unterschieden zwischen der organischen und der anorganischen Natur fügte Müller noch einen seiner Meinung nach grundlegenden hinzu in der Bemerkung, daß in der anorganischen Natur ein Körper dem anderen Bewegung mitteile - mechanische Ein18

Wollgast, Philosophie

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wirkung -, oder zwei Körper ihre Qualitäten in einem Produkt zu einer dritten verschmelzen - chemische Einwirkung-, während in der organischen Natur eine Art der Reaktion sich offenbare, zu der dort kein Seitenstück zu finden sei, die der Reizung, wobei die mannigfaltigsten mechanischen und chemischen Veränderungen stets nur dieselbe Wirkung, der spezifischen Energie des Organs entsprechend, hervorbringen. Kein Wunder, daß Müller in diesen Gedankenwegen sich sicher fühlte, da er darauf nicht bloß mit eigentlichen Fachgenossen, wie Rudolph W agner'O, sondern auch mit Meistern im naturwissenschaftlichen Denken, wie Liebig und Wähler, zusammentraf, von denen der letztere doch unlängst durch die Synthese des Harnstoffes gezeigt hatte, daß die chemischen Erzeugnisse des Tierkörpers auch außerhalb des Bereiches der Lebenskraft, im Laboratorium, nachgeahmt werden können. Andererseits fehlte es freilich nicht an Kundgebungen im entgegengesetzten Sinne von Männern wie Berzelius, Schleiden, Schwann, Eschricht, Latze. Besonders Schwann war es, der durch seine Entdeckung der Zusammensetzung aller Lebewesen aus selbständig, obwohl nach gemeinsamem Prinzip, sich entwickelnden Gebilden dazu gelangte, die Vorstellung einer den Gesamtorganismus beherrschenden Lebenskraft zu verwerfen. Sogar die Möglichkeit einer physikalischen Theorie der Zellbildung durch eine Art von Kristallisation imbibitionsfähiger Stoffe, also von Urzeugung, hatte er ins Auge gefaßt, wobei freilich die Gewebe der später von Reichert und Hrn. Virchow unterschiedenen Bindesubstanzen und die Nerven- und Muskelfasern zu kurz kamen. In dem nachmals von mir veröffentlichten merkwürdigen Briefe, in welchem Schwann mir auf meine Bitte sein Verhältnis zu Müller eingehend schilderte,9 wiederholt er nicht bloß sein Verdammungsurteil über die Lebenskraft, sondern gibt sich auch, wie früher mündlich gegen mich in Neuß, als echten Cartesianer, indem er nur beim Menschen (seiner Freiheit wegen) ein von der Materie substantiell verschiedenes Prinzip anerkennt, wodurch sein System sich scharf von dem der Materialisten trenne.

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In dem bald nach Schwanns Untersuchungen erschienenen zweiten Bande seiner .,Physiologie" erkannte zwar Müller das selbständige Leben der Zellen an, hielt aber an seiner Idee der Lebenskraft fest, wodurch seine Anschauungen in dem Maße verdunkelt wurden, wie sie an Folgerichtigkeit verloren hatten. Doch war damals, wie es schien, für den Vitalismus der letzte Tag nahe. Zufälligerweise fand sich in Müllers nächster Nähe eine Gruppe seiner Schüler, welche besonders physikalisch geschult und mit besserer Einsicht in die Grundprinzipien der theoretischen Naturforschung als sie JfiUler auf seinem Bildungsgange erreichbar gewesen war, das Unhaltbare in seinen Glaubenssätzen durchschauten und deren einer, bei aller Verehrung für ihn als Lehrer und Forscher, es doch nicht lassen konnte, seinen Vitalismus mit rücksichtsloser Schärfe zu bekämpfen und dessen Blößen aufzudecken. Von gewissen Seiten als physikalische Schule in den Bann getan, hatten diese jungen Männer, welche übrigens durch ihre eigenen Erfolge als Forscher ihre Berechtigung, hier das Wort zu nehmen, wohl dartaten, die Genugtuung, daß sich ihnen aus der Ferne in Hrn. Ludwig ein Talent hohen Ranges anschloß, welcher mit Unrecht stets mit ihnen zusammen als Schüler Müllers genannt wird.JO Ihm kommt im Gegenteil das Verdienst zu, ohne solche Schule und solche Genossenschaft selbständig das Befreiungswerk aus dem Vitalismus unternommen zu haben. Durch die Einführung der autographischen Methode hat er wichtigen Zweigen der Experimentalphysiologie einen strengen physikalischen Charakter verliehen. Der große Unterschied zwischen dem von Müllers Schülern gegen den Vitalismus eröffneten Feldzug und allen übrigen und früheren ähnlichen Angriffen bestand darin, daß sie von ihrem physikalisch-mathematischen Standpunkt aus das newrov 1peiJÖor; der Lehre von der Lebenskraft zu erkennen, und dadurch die ganze Angelegenheit auf eine andere Grundlage zu stellen vermochten. Jener Grundfehler ist die falsche Auffassung des Begriffes Kraft. Die Kraft ist nichts Wirkliches, wie der Vitalismus es sich denkt, nicht ein mit dem materiellen Substrat zusammengefügtes, die Materie, wie sie unseren 18•

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Sinnen erscheint, ausmachendes Wesen, welches auch von der Materie getrennt selbständig fortbestehen kann. Sie ist nichts als eine, zur scheinbaren Befriedigung unseres Kausalbedürfnisses eingebildete Ursache von Veränderungen, welche selber das einzig Wirkliche sind, das wir wahrnehmen. Sie ist, wenn man auf den Grund geht, wie schon Newton es sagt, nichts als ein mathematischer Begriff, die zweite Ableitung des Weges des in veränderlicher Bewegung begriffenen Körperlichen nach der Zeit. Um nach fast einem halben Jahrhundert das Gleichnis zu wiederholen, die Atome sind nicht wie ein Fuhrwerk, davor die Kräfte als Pferde nun vorgespannt, dann davon abgeschirrt werden können; ihre Eigenschaften sind von Ewigkeit, unveräußerlich, unübertragbar. Wie die Spektralanalyse lehrt, sind sie die nämlichen im entferntesten Sonnensystem, wie hier auf Erden in einer Denkzelle unseres Gehirns, gleichviel, wie ich Liebig antworten durfte, ob man dabei an die uns heute noch als Grundstoffe erscheinenden Atome, oder an deren uns noch verborgene Urbestandteile denkt. In F irdusis Heldensage vom überstarken Rostern heißt es: "Im Melme sank ihm ein der Fuß bis an den Knöchel; Da lachte neben ihm der Berggeist mit Geröchel. Wer, fragte Rastern, lacht? Dumpf sprach der Berggeist: Ich! \\"orüber? Weil ich seh im Grund einsinken dich. Die dir die l\Iutter gab, die Kraft ist lästig dir, Du bist zu schwach für sie, gib sie zu tragen mir! Und brauchst du sie einmal, wenn matt sind deine Glieder, So komm und ruf! so geb ich deine Kraft dir wieder. Da gab der Pehlewan dem Berggeist in Verwahr Den Überschuß der Kraft, die ihm beschwerlich war. Jetzt aber kam er her, um, ehr im Berge modern Er ließe seine Kraft, sie nun zurück zu fodern. Denn gegen Suhrab war der Sieg ihm zweifelhaft, Wenn er nicht nähme ganz zusammen seine Kraft." H Bei Firdusi ist es übrigens, wie Rückert mir sagte, nicht der von ihm erfundene Berggeist, sondern Gott selber,

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welcher die Kraft in Verwahr nimmt. Gott oder Berggeist, wir lassen uns die tragische Mär trotz ihrer physikalischen Ungeheuerlichkeit gern gefallen. Wenn aber in den Träumen der Vitalisten mit der Lebenskraft in derselben Weise verfahren wird, wie bei Firdusi mit Rostems Kraft, so wenden wir uns mit ungläubigem Lächeln ab. Das erste Prinzip der Naturforschung ist, wie von H elmholtz bemerkt, daß wir uns die Natur begreiflich vorstellen müssen, da es sonst keinen Sinn hätte, sie erforschen zu wollen. Was aber soll man sich denken unter einer Kraft, vor welcher alle Rätsel der Natur offen liegen; welche wie ein bewußtes Wesen denkt und handelt; unter einer Kraft, welche ohne bestimmten Sitz im Körper auf keinen bestimmten Punkt wirkt, sondern Millionen von Atomen nach allen erdenklichen Richtungen verschiebt, und doch Eine sein soll; unter einer Kraft, die im Tode ohne Gegenwirkung verschwindet, da doch der Leichnam, statt zu erkalten, dabei eine angemessene Temperaturerhöhung zeigen, vielleicht Selbstverbrennung erfolgen müßte; unter einem Dinge zuletzt, welches ohne Verminderung des ursprünglichen Ganzen in unendlich viele gleichwertige Teile geteilt werden kann. Wie in der Gedächtnisrede auf ] ohannes Müller gesagt wurde: indem er sich gezwungen sah, seiner Lebenskraft diese Attribute beizulegen, lieferte er unvermerkt den apagogischen Beweis für deren Nichtexistenz. Die ältere Biologie hatte sich vielfach bemüht, Merkzeichen organischer und anorganischer Bildung, der Lebewesen und der Kristalle aufzufinden. Ernst Heinrich Weber besonders hatte mit vielem Scharfsinn auf eine Reihe solcher Unterschiede aufmerksam gemacht, wie daß eine und dieselbe chemische Substanz immer dieselbe Kristallform zeige, aber nicht dieselbe organische Form; daß die äußere Gestalt der Kristalle variiere bei gleicher innerer Textur, die innere Textur der organischen Gebilde bei gleicher äußerer Gestalt u. d. m. Es ist auffallend, daß der wahre und grundlegende Unterschied der beiden Klassen von Gebilden noch nicht allgemein und ausdrücklich anerkannt ist. Er besteht darin, daß in den Kristallen, oder den toten Körpern überhaupt, die Materie in sta-

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tischem Gleichgewichte, sei es nun stabil, indifferent, oder labil, in den Lebewesen in dynamischem Gleichgewichte sich befindet. Dynamisches Gleichgewicht hat Willem Smaasen den Zustand der Elektrizität in einer Querscheibe eines von einem stationären Strome durchflossenen Leiters genannt, wobei die Querscheibe von der einen Seite soviel Elektrizität erhält, wie sie nach der anderen Seite hin abgibt. Dasselbe gilt von der Wärme, ja nach Hrn. Ad. Fick von einem gelösten Körper im einfachsten Falle der Hydrodiffusion. In diesem Sinne kann man aber auch vom dynamischen Gleichgewichte des Wassers in einer Querscheibe eines Flusses oder eines durchströmten Sees reden, welche weder steigen noch fallen, oder der Bevölkerung einer Stadt innerhalb eines Zeitraumes, in welchem ebenso viele Kinder geboren werden und Menschen zuziehen, wie Menschen sterben und fortziehen. Ist der elektrische oder Wärme- oder Diffusionsstrom nicht stationär, steigt oder fällt das Wasser im Flusse oder See, schwankt die Bevölkerungszahl der Stadt, so ist das dynamische Gleichgewicht gestört, kaufmännisch zu reden die Bilanz ist nicht Null, sondern positiv oder negativ. Die :VIaterie in den Lebewesen verhält sich nun ebenso, insofern deren Substanz in fortwährendem Wechsel begriffen ist. Sie bestehen in jedem Augenblick aus zum Teil anderer Substanz, im idealen Falle mit der Null gleicher, sonst mit positiver oder negativer Bilanz. Dies ist der allgemeinste Ausdruck des Stoffwechsels, welcher den Vitalisten stets eine so unüberwindliche Schwierigkeit bot, weil sie den Grund dafür, geschweige seine Notwendigkeit, nicht einzusehen vermochten. Allerdings gehört noch dazu die Einsicht in das große Prinzip der Erhaltung der Kraft. Wärme und Muskelarbeit, Wimperbewegung und amöboide Bewegungen, nicht zu vergessen Elektrizität, sie können im Tiere nicht anders erzeugt werden als durch Umwandlung von potentieller in kinetische Energie, durch Oxydation von Kohlenstoff und Wasserstoff. Dazu sind jene Bedingungen unerläßlich, welche ] ohannes Müller mit der älteren Physiologie als "integrierende Reize" bezeichnete, nämlich Nahrungsstoffe, Luft, Wärme, Feuchtigkeit, für die Pflanzen auch Belichtung. Bei der verschwindenden Wahr-

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scheinlichkeit einer der Null gleichen Bilanz ergibt sich ferner daraus der zeitliche Verlauf, dem die Lebewesen unterliegen, im Gegensatze zu dem, wenn nicht äußere Kräfte zerstörend eingreifen, in Ewigkeit bedürfnislos in sich ruhenden Kristall. Es ist eine der erhabensten Anschauungen, zu denen die Naturforschung gelangte, daß dem dynamischen Gleichgewicht im einzelnen Lebewesen ein solches in der ganzen organischen Natur entspricht, jener von Priestley bis zu ]ulius Robert Mayer erkannte Kreislauf der organischen Materie durch Pflanzen und Tiere hindurch, dessen ungeheures Getriebe das Sonnenlicht, Müller könnte sagen, als integrierender Reiz, im Gang erhält. Aber nicht bloß dynamisches Gleichgewicht ist bezeichnend für die Organismen, es überwiegt auch in ihnen labiles Gleichgewicht. Denn dies ist die einfache Erklärung jener besonderen Form der Reaktion, welche Müller ihnen im Gegensatz zu toten Gebilden zuschrieb: der Reizbarkeit. Daß die verschiedensten physikalischen und chemischen Einflüsse in den Lebewesen stets dieselbe Veränderung erzeugen, ihre spezifische Energie zum Vorschein bringen, beruht sichtlich auf nichts anderem als darauf, daß darin, zur Tätigkeit bereit, schwach gehemmte Mechanismen sich befinden, welche bei jeder Art sie auszulösen, d. h. die Hemmung zu entfernen, in gleicher Weise tätig werden. Nichts ist leichter als mit anorganischen Hilfsmitteln Entsprechendes zu verwirklichen. Eine Repetieruhr kann so eingerichtet werden, daß sie wie ein Muskel durch Zug oder Druck, durch Wärme oder Kälte, durch Feuchtigkeit oder Trocknis, durch Elektrizität oder Chemismus zum Schlagen veranlaßt wird. Wie der Muskel reagiert sie auf die Reizung stets mit ihrer spezifischen Energie, dem Stundenschlage. Aus alledem geht hervor, daß in der ihm von unserem hohen Meister erteilten Gestalt der Vitalismus aufzugeben ist. Vergeblich riefe man zu seiner Stütze die althergebrachten Argumente an, wie die Unbegreiflichkeit, die Wunderbarkeit, die Unnachahmlichkeit der organischen Natur. Unbegreiflich ist auch die anorganische Natur, da weder Materie noch Kraft noch erste Bewegung begreiflich sind, und insbesondere die scheinbar einfachste der Kräfte,

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die Schwerkraft, bisher allen Versuchen zu ihrer Konstruktion widerstand. In dem Augenblick, wo durch Heinrich Hertz' unsterbliche Tat die Fernwirkungen elektrischer Ströme auf Ätherwellen zurückgeführt sind, wäre es wohl verfrüht, meines Bruders mathematischen Beweis, wonach die Schwerkraft durch Ätherstöße nicht erklärbar sei, hier schon für das letzte Wort gelten zu lassen.t2 Was dann die Wunderbarkeit der organischen Natur betrifft, so fragt zwar der tiefsinnige Hafts: Sind nicht, sage, Suleimas holde Gebärden wunderbar? Doch besinnt er sich alsbald, und ihm dünket am Ende alles auf Erden wunderbar.13 Und sind denn nicht der gestirnte Himmel, Sonne und Mond auch wunderbar? Endlich die Forderung, Erzeugnisse der organischen Natur nachzumachen, beruht auf einem vollkommenen Mißverständnis. Mit der Pinzette die dazu nötigen Molekeln Stück für Stück aus ihren Schachteln unter der Lupe hervorholend und aneinanderfügend können wir allerdings kein Baumblatt machen, aber auch keinen Kristall. Allein werden sie so von der Natur gemacht? So wie die Natur sie macht, können wir sie auch entstehen lassen. Wir müssen dazu nur die Bedingungen ihrer Entstehung kennen, und imstande sein diese zu verwirklichen, um alsbald den Kristall aus seiner Mutterlauge, Pflanze und Tier aus Samen und befruchtetem Ei hervorgehen zu sehen. Und so ist es auch mit der vielumstrittenen Urzeugung, welche hier immer als letzter Trumpf ausgespielt zu werden pflegt. Wer kann behaupten, daß sie nicht in unseren Laboratorien zustande käme, wenn wir über Atmosphäre, Gewässer, Sonnenstrahlung von der urweltlichen Beschaffenheit verfügten? Freilich, ein ernsteres Bedenken erweckt nun die Zweckmäßigkeit der organischen Natur. Die Zweckmäßigkeit auch der anorganischen, die Zweckwidrigkeiten auch der organischen Natur haben nur geringes Gewicht angesichts der beim ersten Blick sinnfälligen Unmöglichkeit, die Entstehung der organischen Natur mechanisch zu erklären, wie sie schon Panaetios und Cicero durch die Ungereimtheit der Annahme versinnlichten, daß durch Ausschütten eines Schriftkastens ein Gedicht zustande kommen könnte. Wenigstens war dies der Stand der Dinge bis zu Müllers

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Tode. Wie Cuvier und wie Louis Agassiz glaubte er daher an die schubweisen Schöpfungen oder Schöpfungsperioden, während er natürlich zugleich die Urzeugung verwarf. Die Entoconcha mirabilis versetzte ihn eine Zeitlang in die qualvollste Ungewißheit, da er ganz nahe daran war, in dem Parasitismus von verlarvten hermaphroditischen Schnecken in einer Synapta einen Fall von Heterogenie zu erblicken, welcher die vormals geglaubte Entstehung von Eingeweidewürmern im Darm der Tiere an beweisender Kraft noch weit übertroffen hätte.14 Da trat die Origin of Species ans Licht, und vermaß sich zu halten, was einst Lamarck zu früh gewagt hatte. Schade, daß Müller deren Aufgang nicht mehr erlebte. Nun schien alles in Ordnung. Die Gründe gegen die Erzeugung neuer Spezies durch Kreuzung der alten waren als hinfällig erkannt; durch die Unvollständigkeit des paläontologischen Archives, an der Hand von Lyells geologischem Aktualismus, waren die schubweisen Schöpfungen überflüssig geworden, und die natürliche Zuchtwahl schien in Darwins sinnreich verführerischer Darstellung vollauf genügend, um die Zweckmäßigkeit der bestehenden Organismen verständlich zu machen, denn das Unzweckmäßige war ja mit wenigen Ausnahmen im Kampf ums Dasein zugrunde gegangen. So war der Vitalismus aus seiner mächtigsten Verschanzung getrieben und in die Flucht geschlagen. Wohl noch nie hat eine wissenschaftliche Schrift von rein theoretischem Interesse so schnell und in so weitem Umkreise die gesamte gebildete Welt ergriffen und uralte Überzeugungen zum Wanken gebracht und entwurzelt. Besonders in England selber und in Deutschland feierte der Darwinismus seine Triumphe, bei den dort so mächtigen kirchlichen Einflüssen ein doppelt hoch anzuschlagender Erfolg. Sogar eine politische Partei sah sich bei uns bemüßigt von dem ihr gefährlich scheinenden Umschwung Notiz zu nehmen, und ein in diesem Saale gelesener Nachruf an Darwin wurde der Gegenstand gehässiger Beurteilung, welche bis auf die Rednerbühne des Abgeordnetenhauses ihren Weg fand. Dies ist im wesentlichen die Geschichte des Vitalismus, wenigstens in Deutschland, während des letzten halben

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Jahrhunderts bis zu unseren Tagen gewesen. Aber ich höre die Frage, warum wurde diese Geschichte des Vitalismus jetzt hier erzählt, da doch die Sache als abgetan zu betrachten, Neues dabei kaum zur Sprache zu bringen war. Die Antwort lautet: weil, trotzdem, wie man meinen sollte, endgültigen Sturze des Vitalismus, in neuester Zeit diese Lehre wieder auftaucht und in gewissen Schichten der biologischen Wissenschaften festen Fuß zu fassen droht. Diesem Neo-Vitalismus, wie er mit Emphase verkündigt wird, beizeiten entgegenzutreten, dürfte natürliche Aufgabe, ja Pflicht derjenigen sein, welchen es bis jetzt als ein Teil ihrer Lebensarbeit angerechnet wurde, zur Niederkämpfung jener Irrlehre beigetragen zu haben. Dazu war es gut, sich diese ins Gedächtnis zu rufen. Der Neo-Vitalismus, der schon eine ansehnliche Literatur aufweist, geht nicht von den eigentlichen Physiologen aus. Wenn Hr. Heidenhain durch eine lange Reihe der schwierigsten und sorgfältigsten Versuche den Beweis geführt hat, daß die Resorption im Darm und die Lymphbildung in den interkapillaren Räumen nicht allein durch Transfusion und Diffusion bedingt sein können, sondern daß dabei noch unbekannte physikalische und chemische Wirkungen der Gewebe im Spiele sind, so gab dies nur durch ein gröbliches Mißverständnis zu der Meinung Anlaß, er sei ins vitalistische Lager übergegangen. Ähnliches war längst von der Harnund Speichelsekretion durch Hrn. Ludwig nachgewiesen, ohne daß jemand daran dachte ihn deshalb des Vitalismus zu verdächtigen, und Hr. Heidenhain hat es denn auch nicht an der energischen Versicherung fehlen lassen, daß nichts ihm ferner liege, als auf der von ihm erreichten Höhe seine Abkunft aus der physikalischen Schule verleugnen zu wollen. Es liegt in der Natur der Dinge, daß die vitalistische Reaktion vorzüglich auf morphologischem Gebiet erwuchs. Wie vorher in Erinnerung gebracht wurde, hatte Schwann auf die Selbständigkeit der Zelle seine antivitalistische Überzeugung gegründet. Seine Anschauung der Zelle als eines imbibitionsfähigen Kristalls war unhaltbar und sein sogenanntes Zellenschema wich im Lauf der Jahre besonders durch 1\1ax Schultzes und Brückes Bemühungen

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dem Begriff des Elementarorganismus. Die Zelle, deren unrichtig gewordener Name doch nicht verbannt werden kann, wurde mehr und mehr als mit einem einzelligen Tiere gleichwertig erkannt, da dann aus dem Fortfall des Schwannschen Zellenschemas seine Lehre von der selbständigen Natur der Zelle sich gerade mit verdoppelter Kraft wiedergebar. Sie gipfelte in Hrn. Virchows Zellularpathologie und in seinem der Schwannschen Urzeugung von Zellen im interzellularen Kytoblastem entgegengesetzten: Omnis cellula a cellula.l':> Die den ganzen Organismus eines vielzelligen Tieres erfüllende Lebenskraft trat nun zwar in den Hintergrund, dagegen wurden in die einzelnen Elementarorganismen Lebenskräfte verlegt, teils um in deren Innerem allerlei Prozesse anzuregen und zu leiten, wie etwa die von Hrn. Flemming entdeckten Wunder der Pyrenokinesie, teils um die Beziehungen der Elementarorganismen zu einander und zu ihrer sonstigen Umgebung zu beherrschen. }littlerweile war auch die Entwickelungsgeschichte aus einer bloß formbeschreibenden Disziplin eine experimentelle geworden. Durch verschiedene äußere Einwirkungen mechanischer, thermischer, chemischer Art war es gelungen, den Gang der Entwickelung mannigfach zu beeinflussen. In diesem Sinne war in den Versuchen von Hrn. Pflüger, Hrn. Wilhelm Roux, Hrn. Hans Driesch, unserem Kollegen Hrn. 0. Hertwig eine Entwickelungsmechanik, wie man es nennen kann, entstanden, während Hr. Herbst den Entwickelungsgang eines Echinus1!i durch eine geringe :Menge dem Seewasser zugesetzten Lithiumsalzes in völlig andere Bahnen lenkte, ohne daß das Tier, wie man etwa denken könnte, vergiftet zugrunde ging. Ob die Lebenskräfte der einzelnen Zellen den Neo-Vitalisten genügen, um sowohl diese Erscheinungen wie die der normalen Entwickelung abzuleiten, oder ob sie mit Hinblick darauf außer jenen Kräften nicht noch wie vormals Müller eine gemeinsame Lebenskraft walten lassen, steht dahin; wer vitalistisch zu denken gewohnt ist, wird sich diese kleine Hilfe schwerlich versagen. Unter den neo-vitalistischen Kundgebungen nimmt eine Rektoratsrede von Hrn. Rindfleisch in Würzburg vom

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2. Januar 1888 eine hervorragende Stelle ein. Hr. Rindfleisch empfiehlt unter dem Namen Neo-Vitalismus auf das Angelegentliebste eine Auffassung der Lebenserscheinungen, welche er auf Hrn. Virchows Lehren in \Vürzburg in den fünfziger Jahren zurückführt. Er sagt: "Ganz unabhängig von jenen älteren vitalistischen Theorien hat sich der Neo-Vitalismus entwickelt, welcher die Lebenskraft nur in der innigsten Verbindung mit einem zu ihr gehörigen Lebensstoff kennt und beide gleichzeitig zum Gegenstande wissenschaftlicher Forschung macht. Derselbe ist redlich bemüht, die Erscheinungen des Lebens aus der chemisch-physikalischen Beschaffenheit des Lebensstoffes zu erklären .... Er verhehlt sich aber nicht, daß es auch abgesehen von den Erscheinungen des Bewußtseins Tatsachen gibt, welche der Forschung vielleicht unübersteigliche Hindernisse bieten werden .... " Und Hr. Rindfleisch schließt mit dem Rat, uns "ernster, aufrichtiger und bewußter Zurückhaltung gegenüber dem Unerforschlichen und unverdrossener Arbeit in der Erforschung dessen zu befleißigen, was wir messen und wägen können" .17 Nun freilich, anders glauben wir es, nach besten Kräften, auch bisher nicht gehalten zu haben. Nur daß wir nichts von einer Kraft wissen, zu deren Wesen es gehört, daß man sie nur in Verbindung mit einem Stoffe kenne. Wir meinten, das sei das gleiche für alle Kräfte, und fragen daher, worin unterscheidet sich denn die neo-vitalistische Lebenskraft von physisch-chemischen Kräften? Neuerlich hat Hr. Driesch in Jena es unternommen, aus den in unübersehbarer Fülle vorliegenden Tatsachen der Physiologie, Histiologie, Zellularbiologie und Entwickelungsgeschichte allgemeine Schlußfolgerungen zu ziehen in einer kleinen Schrift unter dem Titel: "Die Biologie als selbständige grundwissenschaft. Eine kritische" - wir können hinzufügen, philosophisch - "kritische Studie" (Leipzig 1893). Dieser Titel läßt den Grundgedanken der Schrift schon deutlich genug durchblicken, daß die Biologie auf anderen Füßen stehe als Physik und Chemie, denen sie koordiniert, nicht subordiniert sei. Hr. Driesch, welcher seine eigenen verdienstvollen empirischen Arbeiten entwickelungsmechanische Studien nennt, sagt von der Ent224

wickelungsmechanik, daß sie diesen Namen nicht verdiene, wenn es sich herausstellen sollte, daß ein dem Nisus formativus älterer Autoren ähnlicher, unfaßbarer Regulator gleichsam über der Formbildung schwebe, worüber wir aber nichts wüßten. Er betont, wie beschränkt jene Ansicht sei, die im "Leben" ein Problem sehe, welches nicht nur mechanistisch, sondern sogar physikalisch-chemisch, d. h in unserer Physik-Chemie prinzipiell auflösbar sei. Er sieht kein Bedenken, auch teleologische Betrachtungen zur Naturforschung zu zählen, womit er nicht etwa deren auch uns geläufige heuristische Anwendung meint, sondern die Zweckmäßigkeitsgründe für organische Bildungen und Einrichtungen. Er hat nichts dagegen, daß man sage, wo Kausalität aufhöre, höre auch Naturforschung auf. "Nur vergesse man nicht, daß dann dort etwas anderes sich an die teleologische Beurteilungsform Anschließendes anfängt" .tB Wenn er so mit erhobenem Finger in gesperrtem Druck vielleicht vor dem Supernaturalismus zu warnen beabsichtigt, so kann er ruhig sein, den vergessen wir nicht. Hr. Driesch beruft sich zuletzt auf einen Ausspruch Kants in seiner "Dialektik der teleologischen Urteilskraft", wonach es für Menschen ungereimt sei, die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloß mechanischen Prinzipien erklären zu wollen, oder zu hoffen, daß noch dereinst ein Newton erstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde. HJ Allein wie groß auch sonst Kants Autorität anzuschlagen sei, der ja zuerst die Entstehung des Planetensystems verstand, so ist er doch auf naturwissenschaftlichem Gebiete nicht für unfehlbar zu achten. Man erinnere sich, wie er in seinen "Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" der Lehre von der Erhaltung der Kraft mit keiner Silbe gedenkt; in seinen "Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte" diese Lehre bekämpft, ja Folgerungen daraus gleichfalls für ungereimt erklärt. Weit hinaus über das noch etwas schüchterne Eintreten für den Neo-Vitalismus bei Hrn. Rindfleisch und Hrn. Driesch ist merkwürdigerweise schon vor einigen Jahren der Professor der physiologischen Chemie, Hr. Bunge in

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Basel, gegangen. Er eröffnet ein Lehrbuchseiner Wissenschaft (Leipzig 1887) mit einem Vortrage über Vitalismus und Mechanismus, in dessen Eingang es heißt: "Wenn die Gegner des Vitalismus behaupten, daß in den lebenden \Vesen durchaus keine anderen Faktoren wirksam seien, als einzig und allein die Kräfte und Stoffe der unbelebten Natur, so muß ich diese Lehre bestreiten. Daß wir an den lebenden Wesen nichts anderes erkennen, das ... liegt einfach daran, daß wir zur Beobachtung der belebten und der unbelebten Natur immer nur ein und dieselben Sinnesorgane benutzen, welche gar nichts anderes perzipieren, als einen beschränkten Kreis von Bewegungsvorgängen ... Zu erwarten, daß wir mit denselben Sinnen in der belebten Natur jemals etwas anderes entdecken könnten, als in der unbelebten, - das wäre allerdings eine Gedankenlosigkeit. Aber wir besitzen ja zur Beobachtung der belebten Natur einen Sinn mehr: es ist der innere Sinn zur Beobachtung der Zustände und Vorgänge des eigenen Bewußtseins . . . . Der tiefste, der unmittelbarste Einblick, den wir gewinnen in unser innerstes Wesen, zeigt uns etwas ganz anderes, zeigt uns Qualitäten der verschiedensten Art, zeigt uns Dinge, die nicht räumlich geordnet sind, zeigt uns Vorgänge, die nichts mit einem Mechanismus zu tun haben . . . . Daß die physiologische Forschung mit dem kompliziertesten Organismus, dem menschlichen beginnt, rechtfertigt sich aus dem Grunde, daß dieser der einzige ist, bei dessen Erforschung wir nicht bloß auf unsere Sinne angewiesen sind, in dessen innerstes Wesen wir gleichzeitig noch von einer anderen Seite her eindringen - durch die Selbstbeobachtung, den inneren Sinn, um der von außen vordringenden Physik die Hand zu reichen." 20 Ich muß gestehen, daß es mir unmöglich ist, mit dieser Auseinandersetzung einen Sinn zu verbinden. Hr. B1mge führt dann weiter aus, daß "je eingehender, vielseitiger, gründlicher wir die Lebenserscheinungen zu erforschen streben, desto mehr kommen wir zur Einsicht, daß Vorgänge, die wir bereits geglaubt hatten, physikalisch und chemisch erklären zu können, weit verwickeltererNatursind und vorläufig jeder mechanischen Erklärung spotten." Er erläutert dies an der Resorption im Darm, welche man auf

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"Diffusion und Endosmose" (soll wohl heißen Diffusion und Transfusion) zurückführen zu können glaubte, während man jetzt den Epithelzellen und den Leukozyten einen Anteil zuzuschreiben genötigt ist, wobei letztere sogar eine Wahlanziehung erkennen lassen. Schließlich kommt Hr. Bunge zu dem Ausspruch: "In der Aktivität - da steckt das Rätsel des Lebens drin." Gewiß, und diese "Aktivität", Hrn. Virchows "immanente Bewegung", ist eben das, was vorher als dynamisches Gleichgewicht in den Lebewesen und als der grundlegende Unterschied zwischen ihnen und den toten Körpern bezeichnet wurde, also etwas ganz physikalisch Vorstellbares. Hr. Bunge übersieht, daß diese Aktivität Nahrungsstoffe, Luft, Wärme und Feuchtigkeit, die integrierenden Reize der älteren Physiologie, voraussetzt; daß sie aufhört, wenn diese fehlen, daß folglich, was er Aktivität nennt und worin in der Tat das Rätsel des Lebens steckt, nichts ist, als ein durch den von ihm verschmähten Chemismus unterhaltener Stoffwechsel, wodurch potentielle in kinetische Energie umgewandelt wird. Wiederum tritt hier, bei Hrn. Driesch und bei Hrn. Bunge, nur in etwas veränderter Gestalt, dasselbe ngwrov 1pEi5bo~ zutage, welches wir vorher dem alten Vitalismus vorwerfen mußten. Sie stellen sich vor, daß in den Lebewesen, in einer Zelle, andere Kräfte tätig seien als die, welche die Atome der Zellen, Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Phosphor usw. außerhalb der Zelle entfaltet haben würden, aber sie bleiben den Beweis dafür schuldig. Haben die Atome keine anderen Kräfte entfaltet, so sind eben alle Vorgänge in der Zelle physisch-chemischer Art wie in einem Reagierglase. Mit diesem einfachen Schluß ist der Neo-Vitalismus gerichtet, wie sein Vorgänger mit der Bemerkung, daß ein Atom kein Fuhrwerk sei. Dabei ist es vollkommen gleichgültig, ob es sich um die verhältnismäßig einfacheren Probleme handle, über welche unsere Vorgänger vor fünfzig Jahren sich den Kopf zerbrachen, oder um die mehr verwickelten, welche Hr. Bunge mit einem: 'Ibov P6bo~ uns vorhält; gleichgültig, ob um die Zellen als Elementarorganismen im bisherigen Sinne, oder ob um deren feinere Bestandteile, heißen sie nun Micellen,

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Plasome oder Granula; gleichgültig endlich, ob um die Atome als Grundstoffe der heutigen Chemie, wie sie in Hrn. M endelejews System ihre natürliche Ordnung fanden, oder um deren noch unbekannte, wahrhaft letzten Elemente. Ich bin es wahrlich nicht, der sich weigert, vor Grenzen unseres Naturerkennens halt zu machen. Bewahren wir aber doch unser Ignorab~mus für Punkte auf, wo es wirklich am Platze ist. Hr. Bunge scheint übrigens nicht abgeneigt zu Kompromissen. Die Wissenschaft schrickt ihm vor keiner selbstgesteckten Grenze zurück. Selbst die Beschränktheit unserer Geistesgaben vermöge ihren Siegeslauf nicht aufzuhalten. Nicht der leiseste Vernunftgrund sei dafür vorhanden, daß nicht eine Zeit kommen werde, wo die alsdann lebenden Menschen uns in ihren geistigen Gaben ebenso hoch überragen, wie wir mit unserem Verstande die Infusorien des Urmeeres. Ich habe indessen schon Hrn. Haeckel bemerklich machen müssen, daß auf diesem Wege, ohne paratypische Entwickelung, höchstens das unter dem Namen des Laplaceschen Geistes bekannte Ideal zu erreichen wäre, für den aber unser Ignorabimus erwiesenermaßen auch geschrieben steht. Was den Einwand der Neo-Vitalisten betrifft, daß die Elementarorganismen zu klein, die Verwickelung der Vorgänge darin zu groß seien, um mechanisch vorgestellt werden zu können, daß besonders die Vererbung der väterlichen Eigenschaften dabei unbegreiflich bleibe, so fällt dieser Einwand gegenüber der von der modernen Molekulartheorie erlangten Einsicht in die freilich, wie die Entfernung der Gestirne, unvorstellbare Kleinheit der letzten Teile der Materie. Wenn wir so über diese uns in den Weg gelegten Hindernisse leichten Fußes hinwegschreiten, so wartet unser beim Verteidigen der mechanistischen Weltansicht doch noch eine ernstere Schwierigkeit. Nachdem die Darwinsche Lehre den oben geschilderten Triumphzug gehalten hatte, verflog nach einiger Zeit der Rausch. Von verschiedenen Seiten her erhoben sich lauter und immer lauter Zweifel an der Strenge von Darwins Beweisführungen. In einem großen Werke des verstorbenen Albert W1gand2t wurden

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sie früh zusammengestellt, zu früh insofern damals die allgemeine Meinung Darwin noch so günstig, der Dank für seine befreiende Tat so lebendig war, daß man sich gern über diesen oder jenen fragwürdigen Punkt fortsetzte, um so eher, als deren mehreren von Darwzn selbst mit großem Geschick zuvorgekommen war. Ich kann, beiläufig gesagt, dazu nicht den rechnen, den ich selbst einmal an dieser Stelle hervorhob, nämlich daß nicht einzusehen sei, wie gewisse Organe schon in ihrem ersten Werden einem Individuum im Kampf ums Dasein nützen konnten. Darwin hatte sich selbst darauf entgegnet, daß man nicht wissen könne, zu welchem anderen Zweck als dem später zu erfüllenden sie dienlich sein mochten. Man versteht aber nicht, wozu einem Zitterfisch seine Batterien, einer Schlange ihr Giftzahn nützen konnten, ehe das Organ stark genug schlug, das Gift wirksam genug war, um als Schutz- und Trutzwaffe zu dienen. Doch es wäre nicht gut möglich, die allmählich sich steigernde und ausbreitende Polemik wider den Darwinismus hier im einzelnen zu verfolgen. Dies bedeutete nichts Geringeres als Berichterstattung über eine ganze umfangund beziehungsreiche Literatur. Die darin enthaltenen Angriffe betreffen weniger die Abstammungslehre an sich, obschon auch diese immer wieder die Klagen wegen der vermißten Mittelformen und beweisenden Beispiele, wegen der Unausführbarkeit von Versuchen in absehbarer Zeit zu hören bekommt. Hrn. M arshs Entdeckungen, offenbar einer der bedeutendsten Fortschritte der Paläontologie, haben dieser Art von Einwendungen viel von ihrem Gewichte genommen.22 Ungleich bedenklicher steht es um den anderen Teil der Darwinschen Lehre, um die Vererbung vorteilhafter Eigenschaften als Mittel zur Vervollkommnung der Tiere und zur Herstellung zweckmäßig eingerichteter Organe. Der Zustand der Theorie in bezughierauf läßt sich nicht besser darlegen, als durch Hinweis auf die beiden Männer, welche in England und Deutschland als Kritiker des Darwinismus die Führung übernommen haben, auf Mr. Herbert Spencer und Hrn. Weismann. Ersterer hat sich neuerlich in der Contemporary Review "über die Unzulänglichkeit der 19

Wollgast, Philosophie

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natürlichen Zuchtwahl" ausgelassen, vorzüglich auf den Grund hin, daß diese Art, die Entstehung zweckmäßiger Einrichtungen zu erklären, auf die Fälle nicht passe, in denen eine geringere Vollkommenheit eines Organs noch nicht Zugrundegehen ·der benachteiligten Tierform nach sich ziehen könnte; wie beispielsweise geringere Feinheit des Ortsinnes an der Zungenspitze. Dagegen würde es nach ihm leicht sein, die Vervollkommnung dieses Sinnes durch Vererbung einer durch Übung erworbenen feineren Ausbildung verständlich zu machen. Hr. W ezsmann seinerseits hat mit unermüdlichem Nachdenken und staunenswertem dialektischem Scharfsinn eine an die Pangenesis des Hzppokrates anknüpfende Reihe von Theorien entwickelt, welche in der Kontinuität, ja Ewigkeit seines "Keimplasmas" gipfelt, woraus die Vererbung elterlicher Eigenschaften überhaupt erst verständlich wird, während diejenige erworbener Eigenschaften so gut wie ausgeschlossen scheint. Also sowohl die natürliche Auslese der durch Varietätenbildung entstandenen Zweckmäßigkeiten, wie die Vererbung erworbener Vorzüge, werden jede von einem der berufensten Ergründer dieser schwierigen Probleme in Zweifel gezogen.2:l Bei früheren Gelegenheiten habe ich selber schon zu diesen Dingen Stellung genommen und will heute nicht darauf zurückkommen. Ich will vielmehr, ohne dadurch etwas in betreff meiner jetzigen Meinungen zu präjudizieren, einmal von der Annahme ausgehen, welche Hr. Dnesch als Vorkämpfer des Neo-Vitalismus mit unbedingter Schärfe ausspricht, daß der Darwinismus nichts gewesen sei, als eine leichtgläubig hingenommene, blendende Täuschung, und will untersuchen, welche Weltanschauung alsdann dem Naturforscher übrig bleibe. Es ist klar, wir stehen nach wie vor gegenüber jenen unüberwundenen Rätseln, der ersten Entstehung der Organismen, ihrer Zweckmäßigkeit, der Schöpfungsgeschichte mit ihren Abenteuern. Es scheint keine andere Auskunft übrig, als sich dem Supernaturalismus in die Arme zu werfen. Es muß eine schaffende Allmacht gewesen sein, welche als die Erde hinreichend abgekühlt war, ein erstes Mal Lebewesen ins Dasein rief; sie dann in einem Augenblick der Gleichgültigkeit oder des Über230

drusses zum Untergang verurteilte; dann eines •besseren sich l:Jesinnend, es mit einer neuen Schöpfung versuchte, um nach einiger Zeit, vielleicht nach Millionen Jahren; dasselbe Spiel zu wiederholen. So kann man es zur Not sich denken; doch ist dazu folgendes zu bemerken. Jenes erste, von Helmholtz an die Spitze gestellte, schon vorher von uns in Anspruch genommene Prinzip ist dabei außer acht gelassen: daß die Wissenschaft, deren Zweck es ist, die Natur zu begreifen, von der Voraussetzung ihrer Begreiflichkeit ausgehen müsse. Nun muß man doch gestehen, daß, eine Schwierigkeit, eine Unwahrscheinlichkeit .für die andere, und abgesehen von allem mythisch Hergebrachten, die obige Art, die Entstehung der organischen Welt zu erklären, im entschiedensten Nachteil ist gegen die Abstammungslehre, wie lückenhaft auch die Phylogenie, wie dunkel die Teleologie, wie scheinbar rettungslos verloren augenblicklich die Abiogenese. Könnte es nötig sein, das physisch Unmögliche noch auszumalen, daß ein Willensakt eines immateriellen Wesens hier, wo nichts ist, im Nu einen Walfisch oder auch nur eine Mücke entstehen ließe? Ist dies denkbarer als das Zustandekommen von Schillers "Glocke" durch das Ausschütten eines Schriftkastens, in dem doch wenigstens die Lettern schon vorrätig sind? Gibt es irgend einen Ausweg aus dieser Enge, so muß er versucht werden. Und in der Tat, die Sache hat noch eine andere Seite. Kann es etwas der göttlichen Allmacht, die wir hier zu Hilfe rufen, Unwürdigeres geben, als solches Beginnen? Erst die Welt unbelebt zu schaffen, dann unter Durchbrechung der von ihr selbst gegebenen physikalischchemischen Gesetze die Lebewesen nach anderen Gesetzen entstehen zu lassen; dann sie wiederholt zu vernichten und neu zu schaffen, in gewissen Punkten vollkommener, als habe sie es das vorige Mal noch nicht recht verstanden, in anderen wenigstens nicht besser, als habe sie nichts gelernt? Sie sich vorzustellen als gebunden an von ihr selbst geschaffene Typen, wie die vier Extremitäten der Wirbeltiere, da es ihr doch ein Leichtes gewesen wäre, den Versuch zu machen mit einem sechsgliedrigen Wirbeltiere, wenn es auch kein Pegasus hätte werden können. Wäre es 19·

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nicht praktischer gewesen, wenn statt jenes wiederholten Eingriffes in die Naturgesetze, statt der Vernichtung ihres früheren Werkes, sie nur ein für allemal den Keim des Lebens in die abgekühlte See, auf die am Fuß der Urgebirge mit feuchter Ackerkrume überzogene Erdoberfläche geworfen hätte, so vorgerichtet, daß daraus die heutige organische Natur werden mußte? Aber nicht genug. Auch dies wäre ihrer noch nicht völlig würdig gewesen. Ihrer würdig allein ist sich zu denken, daß sie vor unvordenklicher Zeit durch einen Schöpfungsakt die ganze Materie so geschaffen habe, daß nach den der Materie mitgegebenen unverbrüchlichen Gesetzen da, wo die Bedingungen für Entstehen und Fortbestehen von Lebewesen vorhanden waren, beispielsweise hier auf Erden, einfachste Lebewesen entstanden, aus denen ohne weitere Nachhilfe die heutige organische Natur, von einer Urbazille bis zum Palmenwalde, von einem Urmikrokokkos bis zu Suleimas holden Gebärden, bis zu Newtons Gehirn ward. Daß in unseren Versuchen im Laboratorium nie Abiogenese stattfindet, erklärt sich, wie schon erwähnt wurde, aus dem biologischen Aktualismus. So kämen wir mit einem Schöpfungstage aus und ließen, ohne alten und neuen Vitalismus, die organische Natur rein mechanisch entstehen. Denn hier schließt sich unerwartet unsere Betrachtung zum in sich selbst zurückkehrenden Kreise. Dies war die Seite von Leibnizens Weltanschauung, von der ich eingangs sagte, daß sie noch heute Berücksichtigung verdiene. Er dachte sich ja, wie wir jetzt dazu gelangt sind, die Welt nur einmal geschaffen, und mechanisch sich zum Kosmos entwickelnd. Man kann noch einen Schritt darüber hinausgehen, aber freilich dann aus dem Supernaturalismus in den Materialismus, indem man sich denkt, daß die unendliche Materie, mit ihren heutigen Eigenschaften, von Ewigkeit her im unendlichen Raume sich bewegte. Wiedem auch sei, auf alle Fälle sieht man, daß dem NeoVitalismus aus dem vonseinen Anhängern schon laut verkündeten Untergange des Darwinismus kein Vorteil erwachsen würde.

Anmerkungen zu den Vorträgen von E. du Bois-Reymond

Emil du Bois-Reymond hat seine Reden sehr reichlich mit Anmerkungen versehen. Sie wurden ungekürzt übernommen; die Literaturangaben wurden dabei nicht erneut geprüft. Längeren fremdsprachigen Zitaten wurde vom Herausgeber die deutsche Übersetzung beigegeben, Da sich du Bois-Reymonds Verweise auf andere Reden stets auf die 2. Auflage seiner Reden vom Jahre 1912 beziehen, wurden die Seitenzahlen erforderlicherweise geändert und nach unserer Ausgabe gegeben. In einigen wenigen Fällen hat der Herausgeber, ohne dabei die inhaltliche Aussage zu verändern, die du Bois-Reymondschen Fußnoten mit eigeJWR \Vorten wiedergegeben. Die Anmerkungen des Herausgebers bzw. seine Zusätze zu Anmerkungen E. du Bois-Reymonds sind als "Anm. d. llerausg." gekennzeichnet.

Über die Lebenskraft ' Ich entspreche einem öfter gegen mich geäußerten Wunsche, indem ich aus der Vorrede zu den "Untersuchungen über tierische Elektrizität", welche nur Physiologen von Fach zu sehen bekommen, die darin eingeflochtene kleine Abhandlung

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über Lebenskraft hi.er abdrucke. Sie hat in der Geschichte der deutschen Wissenschaft eine gewisse Bedeuti.mg erlangt, sofern sie die letzte gegen den Vitalismus gerichtete ausdrückliche Kundgebung geblieben ist, ,welcher heute bei uns, wie ich es verlangt und vorhergesagt hatte, wirklich von der Bühne verschwand: sei's weil er durch frühere Angriffe schon so erschüttert war, daß es zu seinem Sturze nur noch einen Stoßes bedurfte; sei's weil die rücksichtslose Kühnheit und aufsehenerregende Heftigkeit meines Vorgehens gegen eine von den ersten Männern, wie J ohannes Müller und Liebig, verteidigte Stellung entscheidend wirkte; sei's endlich weil meine Gründe tiefer geschöpft und schwerer beiseite zu setzen waren als die meiner Vorgänger. Xiemand vor mir war meines \Vissens in dieser Untersuchung bis zum Quellder ganzen vitalistischen Irrlehre vorgedrungen: bis zu der darin mit dem \Vort Kraft verbundenen falschen Vorstellung; wozu einige Bekanntschaft mit den Grundbegriffen der analytischen Mechanik gehörte, wie sie bis zu jener Zeit unter Physiologen selten war. \Venn ich dies für mich in Anspruch nehme, bin ich doch weit entfernt davon, mit meiner damaligen Darlegung so zufrieden zu sein, daß ich unaufgefordert sie hier wieder vorgebracht hätte. ·Es wäre wohLzum Verwundern, wenn ich nach fast vierzig Jahren an: jenem noch etwas rohen -Erzeugnis meiner Sturm-, ,und Drangperiode nichts zu bessern und nichts zu ergänzen fände und wenn der Fortschritt der \Vissenschaft nicht auch auf diesem Gebiete neue Gesichtspunkte eröffnet hätte. In .der Hauptsache richtig, eFscheint mir meine Erörterung jetzt nach einer Richtung fehlerhaft und nach mehreren Richtungen unvollständig. Das Irrige darin, wozu ich schon wiederholt mich bec kannte, liegt in den \Vorten: "Man sieht, daß, wenn die Schwierigkeit der Zergliederung nicht unser Vermqgen überstiege,, die analytische Mechanik im Grunde bis, zum Problem .der persönlichen Freiheit reichen würde, dessen Erledigung Sache der Abstraktionsgabe j:edes einzelnen bleiben muß" (s. oben, S. 11). \~'ie ich in den ... Reden "Über die Grenzen des Naturerkennens" und über "Die sieben Welträtsel''· gezeigt habe, ~st diese Meinung falsch. ,Nicht nur bleibt der Ursprung der Bewegung im Dunkeln, sondern auch das :Bewußtsein, selbst auf niederster, S:tufe, ist mechanisch ·nicht erklärbar. . , , ::.: Unvollständig erscheint mir jet..zt die Erör;terung ii.~r rlie Lebenskraft, ,indem darin,Betrachtungen" f.eh.l~n; ., ~ll;;he

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Licht auf sonst rätselhafte ·Eigenschaften der Lebewesen werfen, ohne der unorganischen Natur fremde Kräfte zu Hilfe zu nehmen. Eine dieser Betrachtungen ist, daß der fi:iiher unverständliche Stoffwechsel durch die Lehre von der Erhaltung der Kraft verständlich ward, ja in deren Sinn sogar die unedäßliche Bedingung für Erzeugung kinetischer Energie in den Lebewesen abgibt. Eine andere, nah ·verwandte Betrachtung leitet alle scheinbaren Unterschiede zwischen Lebewesen und Kristallen daraus ab, daß· ill den Kristallen die Materie in stabilem, in den Lebewesen: in mehr oder minder vollkommenem dynamischem Gleichgewicht sich befindet (vgl. vorliegende Ausgabe S. 63f., sonst Bd. I, 451; und S. 183, sonst Bd. li, S. 89}. Das ist der wahre und grundlegende Unterschied zwischen beiden Klassen von Wesen, demgegenüber die von Ernst Heinrich Weber im ersten Bande des Hildebrandtschen "Handbuches der .\natomie des Menschen" (Stuttgart 1833, S. 116ft.) aufgezählten Verschiedenheiten, wie sinnreich sie auch ausgedacht seien, als unbedeutende Äußerlichkeiten sich darstellen. Eine dritte Betrachtung betrifft die von J ohannes lvl üller ·hervorgehobene angebliche Besonderheit der lebenden Gewebe, unabhängig von der Natur des Reizes stets in derselben Art zu reagieren, worin er ihre "spezifische Energie" erblickte. Dies erklärt sich dadurch, daß in den Organen ein zur Tätigkeit bereiter, aber gehemmter Mechanismus durch den physikalischen oder chemischen Einfluß, welchen wir Reiz nennen, freigegeben, ausgelöst wird (vgl. die Fortschritte der Physik im Jahre 1847 usw., Berlin 1850, S. 414; - sowie die folgende Rede "Über tierische Bewegung" [In unsere Ausgabe nicht aufgenommen. Vgl. Reden von E. du Bois-Reymond, a. a. 0., Bd. I, S. 27-50d. Herausg.]- und auch in der Gedächtnisrede auf ]ohannes Müller den Abschnitt: "Müller als Reformator in der Physiologie"). (In unsere Ausgabe nicht aufgenommeiL Vgl. Reden von E. du Bois-Reymond, a. a. 0., Bd. I, S, 135317 - d. Herausg.) .. Diese und noch mehrere derartige Betrachtungen hätte ich füglieh schon z.ur Zeit anstellen können, wo ich die Vorrede schrieb, und meine Schlüsse wären dadurch nod). bündiger geworden. Daß ich die aus der Zweckmäßigkelt . de,r organisc;hen ~atur entnommenen Gründe für eine Lebenskraft nicht besser zu bekämpfen wußte als durch Hinweis auf die Zweckmäßigkeit auch der unorganischen Natur und auf die hier und da: in den Lebewesen bemerkbare Zweckwidrigkeit,

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wird mir eher nachzusehen sein, da die Origin of Species erst elf Jahre später ans Licht trat. Die Anleitung zur Darstellung von Lebensvorgängen in Kurven hängt zwar nicht unmittelbar mit der Erörterung über die Lebenskraft zusammen, doch bahnt sie den Weg dazu, wie sie umgekehrt die mechanische Ansicht von den Lebensvorgängen voraussetzt. Bedenkt man die unübersehbare Reihe von Anwendungen, welche von dieser Methode seitdem gemacht wurden, so ist es sicher des Aufbewahrens wert, daß es damals noch nötig scheinen konnte, sie den Physiologen auseinanderzusetzen und zu empfehlen. Auch in dieser Darlegung sind Lücken, auf welche ich schon in den Nachträgen zu den "Untersuchungen" hinwies (Bd. li, Abt. li, Berlin 1884, S. 505). Namentlich wäre zu erwähnen gewesen, daß durch Hrn. Ludwig das Jahr vorher die autographische Aufzeichnung des zeitlichen Verlaufes von Vorgängen in den physiologischen Versuch eingeführt worden war. Angesichts solcher Unvollkommenheiten hätte ich gern die ganze Auseinandersetzung umgearbeitet, wobei auch die jetzt gegenstandslose Polemik gegen Valentin ausgefallen wäre, welche in den vorliegenden Text zu tief eingewebt ist, um sie herauszutrennen. Doch sagte ich mir, daß es sich hier weniger darum handle, eine nach dem heutigen Stande meiner Einsichten möglichst zutreffende und vollständige Widerlegung des Vitalismus nebst einer Anleitung zur mathematisch-physikalischen Behandlung physiologischer Probleme zu geben, als darum, meine früheren, noch immer ein gewisses Interesse erweckenden Äußerungen darüber allgemeiner zugänglich zu machen; und so beschränkte ich mich darauf, Rauhigkeiten abzuschleifen, Längen zu kürzen und kleinere Sprünge auszufüllen. Nach der Schlegel-Tiecksehen Übersetzung lautet diese Stelle (W. Shakespeare: König Heinrich der Vierte, 1. Teil, 1. Akt, 3. Szene: "Und nun will ich ein heimlich Buch Euch öffnen Und Eurem schnell begreifenden Verdruß Gefährliche und tiefe Dinge lesen, So voll Gefahr und Unternehmungsgeist, Als über einen Strom, der tobend brüllt, Auf eines Speeres schwankem Halte schreiten." Anm. d. Herausg.

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Gabriel Gustav Valentin (1810-1883), Physiologe; 1836 Professor in Bern. Arbeitete über die Physiologie der Ver-

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dauung, des Stoffwechsels, des tätigen Muskels usw. Er schrieb ein "Lehrbuch der Physiologie des Menschen" (2 Bände, 1844; 2. Auft. 1847-1850), einen "Grundriß der Physiologie des Menschen" (1846, 4. Auft. 1854) und eine Reihe von anderen Arbeiten. Von 1836 bis 1843 gab er das "Repertorium für Anatomie und Physiologie" heraus. (Anm. d. Herausg.) ' Die Stelle ist jetzt noch lesenswert; sie lautet: •Pour dtkouvrir Je mecanisme du systeme vivant, il faut rechercher parmi ses effets quels sont ceux qui se rapportent aux lois bienetablies de la chimie ou de la physique et les distinguer soigneusement des effets qui n'ont point avec ces lois de Iiaison immediate ou au moins connue, et dont la cause nous est cachee. Ce sont ces derniers que van Helmont et Stahl ont fait dependre d'une archee ou de l'äme, sans reftechir que leur nature n'etant point approfondie, cequ'ilsattribuaient a un seul agent dependait peut-etre de plusieurs. En recourant a des causes imaginaires, ne semble-t-il pas que ces grands hommes aient voulu cacher leur ignorance sous Je voile de Ia philosophie, et qu'ils n'aient pu se resoudre a marquer jusqu'ou s'etendaient leurs connaissances positives? Ils ont sans doute eu raison de dire, et nous pensons comme eux, que certains phenomenes se rencontrent seulement dans les corps organises, et qu'un ordre particulier de mouvements et de combinaisons en forme Ia base et en constitue le caractere. On se trompait, sans doute, en leur assignant des causes hypothetiques dont on a enfin devoile l'insuffisance: mais quelqu'etonnantes qu'elles nous paraissent, ces fonctions ne sont-elles pas des effets physiques plus ou moins composes dont nous devons examiner la nature par tous les moyens que nous fournissent l'observation et l'experience, et non leur supposer des principes sur lesquels l'esprit se repose, et croit avoir tout fait lorsqu'illui reste tout a faire. ~ (Discours sur 1' Anatomie in den reuvres de Vicq-d'Azyr etc., Paris 1805, t. IV, p. 14). Es ist sehr merkwürdig, daß nach einem wissenschaftlichen Kulturzustande, aus welchem eine so lichtvolle Auseinandersetzung hervorging, in Frankreich Bichats seichter Vitalismus hat zur Herrschaft gelangen und sie bis in unsere Tage behaupten können. Alexander von Humboldt, welcher noch 1795 die Lehre von der Lebenskraft durch den Apolog vom Rhodisehen Genius dichterisch verklärt hatte, sagte sich schon zwei Jahre später in seinen "Versuchen über die gereizte Muskel- und Nervenfaser" davon los, wobei er die Worte von

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Vicq-d' Acyr anführt (Bd. U, Posen und Berlin 1797; S. 49). Als hochbetagter: Greis hat· er von neuem sich irt. diesem Sinne ausgesprochen und diesmal mir die Ehre el"Wiesen, auf meine obige: Darlegurtg sich zu berufen (Ansichten der Xatur, mit wissenschaftlichen 'Erläuterungen. Dritte Ausgabe. Stuttgartund Tübingen 1849, Bd. II, S. 314). Anm. d. Herausg.: die deutsche Übersetzung der Worte von: Vicq d'Azyr lautet: "Will. man den Mechanismus des Lebenssystems aufdecken, muß. ·man aus seinen \Virkungen ·diejenigen aussuchen, die sich auf die durch die Chemie oder Physik zu• Recht aufgestellten Gesetze stützen, und man muß sie sorgfältig von denjenigen \Virkungen unterscheiden, die mit diesen Gesetzen einer unmittelbaren Bindung oder einer wenigstens bekannten Bindung überhaupt nichts zu tun haben und deren Ursache· uns verborgen ist. Uni. diese letztgenannten handelt es. sich, die van Helmont und ..Stahl von einem Lebensprinzip oder von einer Seele abhängig machen, ohne daran zu denken, daß ihr Wesen gar nicht gründlich erforscht isL Sie schreiben dies einem vielleicht von mehreren abhängigen Agens zu. Geht man auf imaginären Ursachen zurück, scheint es da nicht so zu sein; daß diese bedeutenden Leute ihre Unkenntnis unter dem Mantel der Philosophie verbergen wollten? Und konnten sie sich vielleicht nicht entschließen anzugeben, wie weit ihre positiven Kenntnisse gingen? Mit Recht konnten sie sagen und wir sind ihrer Meinung-, daß bestimmte Erscheinungen lediglich in organisierten Körpern vorkommen und daß eine bestimmte besondere Ordnung von Bewegungen und Kombinationen dafür die Basis bildet und ihren Charakter bestimmt. Zweifellos täuschte man sich, wenn man ihnen hypothetische Ursachen beimaß, deren Ungenügen· man schließlich offenbar gemacht hat. Wie erstaunlich es uns auch scheinen mag, sind diese Funktionen nicht physikalische Wirkungen mehr oder minder zusammengesetzter Art, deren \Vesen wir mit Hilfe aller uns durch Beobachtung und Experiment gegebenen Mittel erforschen müssert, statt Prinzipien unterzuschieben, auf die der Geist sich verläßt und glaubt alles getan zu' haben, da ihm noch alles zu tun bleibt." :; Poggendorffs Annalen der Physik und Chemie, 1839; Bd. XL VII, S. 290. 6 Mikroskopische Untersuchungen über die Übereinstimmung in ·der Struktur urid dem ·Wachstum der Tiere und Pftanzen,:Berlin 1839; S. 220; · :·. · .•. ,

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'Grundzüge der' wissenschaftlichen Botanik usw:,,·.BVissenschaft eingeflößt hat. Seine Schilderung der Verdienste Humboldts um die Meteorologie in der (kurz nachdem ich diese Rede hielt) erschienenen Biographie des gefeierten Altmeisters eröffnet Hr. Dove mit den Worten: "Es gibt physikalische Disziplinen, deren Geschichte eine so systematische Entwicklung zeigt, daß man über die unbewußte Konsequenz der sich allmählich läuternden Vorstellungen erstaunen muß." Nachdem dies an dem Beispiel der Elektrizitätslehre nachgewiesen worden ist, heißt es: "Solch systematisches Fortschreiten tritt aber vorzugsweise nur in den eigentlich experimentellen Untersuchungen hervor, viel weniger in den Disziplinen, welche überwiegend auf Beobachtungen gegründet sind. Hier ergänzt oft ein glücklicher Zufall eine lange gefühlte Lücke" (Al. von Httmboldt, Eine wissenschaftliche Biographie usw., Leipzig 1872, Bd. III, S. 90). 7 Rede gehalten bei der Eröffnung der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Tübingen, Tübingen 1863, s. 26. e Vgl. S. 325-327, 341-343, 676 (12), Bd. li, S. 82, 83,96 (34). 9 [Dieselbe Bemerkung hat in etwas anderem Zusammenhange ungefähr zur selben Zeit auch Hr. Dühring gemacht. In seiner "Kritischen Geschichte der allgemeinen Prinzipien der Mechanik" (Berlin 1873) sagt er S. 421 bei Besprechung von Kants "Metaphysischen Anfangsgründen": "Vom heutigen Standpunkt ist es bemerkenswert, daß sich das kategorische Urteil nebst dem zugehörigen Begriff der Substanz und dem metaphysischen Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz damals nur in ein Erhaltungsprinzip der Qualität der Materie, aber nicht im entferntesten in ein Erhaltungsprinzip der Kraft verwandelt haben."]

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Über die Grenzen des Naturerkennens 1

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"Die Grenzen des ~aturerkennens" erschienen 1872 bei Veit & Comp. in Leipzig in erster und zweiter, 1873 in dritter, 1876 in vierter Auflage; 1881 sodann in fünfter Auflage zusammen mit der Rede über "Die sieben Welträtsel", endlich 1884, 1891 und 1907 abermals in derselben Verbindung. Eine französische Übersetzung brachte die Revue scientifique de la France et de l'Etranger. Revue des Cours scientifiques etc., 2e Serie, t. XIV, 1874, p. 337 et suiv; eine englische The popular Science Monthly, N ew Y ork 1874, vol. V, p. 17 sq. - Eine serbische Übersetzung erschien 1873 in Belgrad. Der Leser, welcher den Gegenstand weiter zu ergründen wünscht, wird ersucht, nach gegenwärtigem Vortrage den über "Die sieben Welträtsel" zur Hand zu nehmen. Beide Vorträge sind Gegenstand zahlreicher günstiger und ungünstiger Besprechungen geworden. Ein Teil der gegen die von mir versuchte Grenzberichtigung erhobenen Einwände findet sich in der Rede über "Die sieben \Velträtsel" berücksichtigt; einige der mir zugedachten Geschosse waren andere Gelehrte so freundlich, an meiner Statt aufzufangen. So sprach kürzlich Hr. ]ürgen Bona Meyer ein beschwichtigendes und klärendes Wort in dem "Ignorabimus-Streit" (Zeitschrift für die gebildete Welt, Braunschweig 1884, Bd. V, S. 168ff.). Ich selber muß im allgemeinen zu jener Polemik schweigen, soll nicht aus den beiden Vorträgen ein Buch und deren ursprünglicher Text in Kritik und Antikritik verschwemmt werden (vgl. das Vorwort zur Auflage von 1884). Anm. d. Herausg.: Die \Vorte des Wahrsagers in Shakespeares "Antonius und Cleopatra (1. Aufzug, 2. Szene): "In der Natur unendlichem Geheimnis Les' ich ein wenig."

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Diese Stelle lautet bei Kant wörtlich: "Ich behaupte aber, daß in jeder besonderen Nahwiehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist." (Vgl. I. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, Zweyte Aufl., Riga 1787, S. VIII). Vgl. zur Bedeutung dieser Stelle im Kautischen System: M. Buhr, Immanuel Kant, Leipzig 1968, S. 74ff. (Anm. d. Herausg.). Essai philosophique sur les Probabilites. Seconde Edition, Paris 1814, p. 2 et suiv. - Die merkwürdige Stelle lautet:

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Tous les evenements, ceux meme qui par lehr petitesse sembleut ne pas tenir aux grandes lois de la nature, en sont une suite aussi necessaire que les revolutions du soleiL Dans l'ignorance des liens qui les unissent au systeme entier de l'univers, on les a fait dependre des causes finales, ou du hasard, suivant qu'ils -arrivaient et se succedaient avec regularite, ou sans ordre apparent; mais ces causes imaginaires ont ete successivement reculees avec les bornes de nos connaissances, et disparaissent entierement devant la saine philosophie qui ne voit en elles, que l'expression de l'ignorance ou nous sommes des veritables causes. Les evenements actuels ont avec les precedents, une liaison fondee sur le principe evident, qu'une chose ne peut pas commencer d'etre, sans une cause qui la produise. Cet axiome connu sous le nom de principe de Ia raison sujftsante, s'etend aux actions meme les plus indifferentes. La volonte la plus libre ne peut sans un motif determinant, leur donner naissance; car si toutes les circonstances de deux positions etant exactement les memes, elle agissait dans l'une et s'abstenait d'agir dans l'autre, son choix serait un effetsans cause ... L'opinion contraire est une illusion de l'esprit 4.ui, perdarrt de vue les raisons fugitives du choix de la volonte dans les choses indifferentes, se persuade qu'elle s'est determinee d'elle-meme et sans motifs. Nous devons dorre envisager l'etat present de l'univers, comme I'effet de son etat anterieur, et comme la cause de celui qui va suivre. Une intelligence qui pour un instant donne, connaitrait toutes les forces dorrt la nature est animee, et la situation respective des etres qui la composent, si d'ailleurs eUe etait assez vaste pour soumettre ces donnees a l'analyse, embrasserait dans la meme formule, les 11101;rvements des plus grands !::Orps de l'univers et ceux du plus leger atome: rien ne serait incertain pour elle, et l'avenir comme le passe, serait present a ses yeux. r:esprit humain offre' dans la perfection qu'il a su donner a l'astronomie, une faible · esquisse · de cette intelligence. Ses decouvertes en mecanique et en geometrie, jointes a celle de la pesanteur universelle, l'ont mis a portee de comprendre dans les memes expressions analytiques, les etats passes et futurs- du systeme du monde. En appliquant la meme methode a quelques ailtres objets de ses connaissances, il est parvenu a ramener a des lois generales, les phenomenes observes, et a prevoir• ceux· que des circonstances donnees doivent ·faire eclore: Toils :SeS·. efiorts dans la r:echerche de la verite, > (Anm. d. Herausg.: Vgl. P. S. de Laplace, Philosophischer Versuch über die Wahrscheinlichkeit, Leipzig 1932, S. 1ff.). ;; Anspielungen auf Zeitereignisse (Anm. d. Herausg.). G Über die Frage nach dem \Veltstillstande s. W. Thomson im Philosophical Magazine etc., 4th Series, vol. IV, 1852, p. 304; Helmholtz, Über die Wechselwirkung der Naturkräfte usw., Königsberg 1854, S. 22ff. (auch in: Populäre ·wissenschaftliche Vorträge, 2. Heft, Braunschweig 1876, S. 115ff.) - Clausius in Poggendorffs Annalen usw., 1865, Bd. CXXV, S. 398 (auch in: Abhandlungen über die mechanische \Värmetheorie, Zweite Abteilung, Braunschweig 1867, S. +1); derselbe, über den zweiten Hauptsatz der mechanischen Wärmetheorie. Vortrag gehalten in einer ·allgemeinen Sitzung der 41. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu Frankfurt a. M. usw., Braunschweig 1867, S. 15. In den drei ersten Auflagen hieß es · hier: "Ließe er (der Laplar:esche Geist) t im positiven Sinn · unbegrenzt wachsen, so erführe er, ob Carnots Satz erst nach unendlicher oder schon nach endlicher Zeit·das \Yeltall mit eisigem Stillstande bedroht." Die Antwort auf diese Frage hängt aber davon ab, ob die Summe der Massen der ·.die Welt zusammensetzenden Atome endlich oder- unendlich ist, Dies müßte der Laplacesche Geist schon vor Aufstellung der Weltformel wissen, und er brauchte sie also nicht, um zu erfahren, ob jener Zustand nach endlicher oder nach un. endlicher Zeit bevorstehe. Übrigens muß, bei beliebiger Anzahl und Masse der einzelnen Atome,' die· Summe ihrer Massen endlich sein, soll nicht; bei unendlich viel- Atomen, · • und dann auch simultanen Differentialgleichungen, deren Integration nicht nur in der Ausübung; sondern auch in der ·.Idee unmöglich sein. Daher Leibniz mit erstaunlichem Tiefblick die Aufsteilbarkeit der Weltformel sogleich davon ab: hängig macht, daß die Anzahl der Atome endlich s·ei. Dem · :Texte -liegt also jene Anschauung· zugrunde. Die Bedenken gegen Endlichkeit der Materie im unendlichen Raum und die durch die metamathematischen Untersuchringen von Rie.·. :mann•u. a. übel' den Ral:lrri hier' gesetzte Verwickluhg sind mir wohlbekannt; :doch ist dies nicht der Ort;darauf einzugehen.

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Encyclopedie. Discours preliminaire, Paris 1751, Fol. t. I, p. IX. « L'Univers, pour qui sauroit l'embrasser d'un seul point de vue, ne seroit, s'il.est permis de le dire, qu'un fait unique et une grande verite •> (Anm. d. Herausg.: "Das Universum wäre für den, der es mit einem Blick umfassen könnte, nur- wenn es erlaubt ist, es zu sagen- eine einzige Tatsache und eine große Wahrheit"). - In einer lesenswerten "Vürdigung des "Discours preliminaire" sagt August Boecklt: "[eh betrachte als den Gipfel und die Krone der ganzen Abhandlung den Satz, zu dem er" - D'A.lembert "auf sehr methodische Weise gelangt: das All würde dem, welcher es unter einem einzigen Blick umfassen könnte, nur eine einzige Tatsache, eine große Wahrheit sein. "Vie klein ist von da der Schritt zur Monas modanum des Leibniz, oder um den späteren Ausdruck zu gebrauchen, zum Absoluten! Und ich weiß nicht, ob die zugefügte Verwahrung, wenn es erlaubt ist, es zu sagen, nicht aus dem Gefühl entstanden sei, daß er mit diesem Gedanken die Grenze der herrschenden .-\nsichten verwegen überscheite oder auch gegen den positiven Glauben verstoße, welchen er übrigens weit mehr als sein Schüler Friedriclt mit großer Umsicht schont" (Monatsberichte der Berliner Akademie, 1858, S. 82, 83). - Sollte einem mathematischen Kopfe wie D'Alembe1·t nicht eher die Vorahnung des Laplaceschen Gedankens als die des Hegetsehen zuzutrauen sein? 8 Replique aux Reflexions contenues dans la seconde Edition du Dictionnaire critique de Mr. Bayle, etc. - In: G. G. Leibnitii Opera philosophica etc., Ed. J. E. Erdmann, Berolini 1840, 4°, p. 183, 184. « ll n'y a pas de doute qu'un homme pourroit faire une-achine, capable de se promener durant quelque temps par une ville, et de se tourner justement aux coins de certaines rues. Un esprit incomparablement plus parfait, quoique borne, pourroit aussi prevoir et eviter un nombre incomparablement plus grand d'obstacles; ce qui est si vrai, que si ce monde, selon l'hypothese de quelques uns, n'etait qu'un compose d'un nombre fi.ni d'atomes, qui se remuassent suivant les lois de la mecanique, il est sur, qu'un esprit fi.ni pourroit etre assez releve pour comprendre et prevoir demonstrativement tout ce qui y doit arriver dans un temps determine; desorte que cet esprit pourroit non seulement fabriquer un vaisseau, capable d'aller tout seul a un port nomme en lui donnant d'abord le tour, la direction, et les ressorts qu'il faut; mais il pourroit encore former un corps capable de contrefaire un 7

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homme » (Anm. d. Herausg.: deutsch in: G. W. Leibniz, Entgegnung auf die in der zweiten Auflage des Bayleschen \Vörterbuchs enthaltenen Bemerkungen über das System der vorherbestimmten Harmonie, in: G. \V. Leibniz, Kleinere philosophische Schriften, Leipzig 1944, S. 103104). !>Diese schöne Art, die Grundwahrheit der Lehre von den Sinnen zu erläutern, verdanke ich Hrn. Donders. Es ändert nichts an dem im Text Gesagten, daß die Lehre von den spezifischen Energien der Nerven in der dort vorausgesetzten Form bei einigen Sinnen, insbesondere dem Gefühlssinn, noch auf Schwierigkeiten stößt. Vgl. Alfred Goldscheider, Die Lehre von den spezifischen Energien der Sinnesorgane. Inaugural-Dissertation usw., Berlin 1881. lll Über die Funktionen der Großhirnrinde. Gesammelte :Mitteilungen usw. 1881. 11 Er sollte eigentlich der Leibnizsche Geist heißen, indessen war die Bezeichnung "Laplacescher Geist" schon durch mich eingebürgert, als ich denselben Gedanken bei Leibniz fand, und es schien nicht zweckmäßig, eine Änderung darin vorzunehmen. 12 Friedrich Müller, Grundriß der Sprachwissenschaft, Bd. I, 2, Wien 1877, S. 26; Bd. II, 1, 1882, S. 23, 31, 37, 43, 58, 70, 85, 407. t.3 Vgl. Helmholtz, Gedächtnisrede auf Gustav Magnus. Abhandlungen der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Aus dem Jahre 1871, Berlin 1872,4°, S. llff.; auch in den Populären wissenschaftlichen Vorträgen, 3. Heft, Braunschweig 1876, S. 12, 13. u Vgl. Isenkrahe, das Rätsel von der Schwerkraft. Kritik der bisherigen Lösungen des Gravitationsproblems usw., Braunschweig 1879; Kritische Beiträge zum Gravitationsproblem. In Kleins Gaea, 1880, Bd. XVI, S. 472, 544, 600, 647, 745; Euters Theorie von der Ursache der Gravitation. In Schlönzilchs und Cantars Zeitschrift für Mathematik und Physik. Historisch-literarische Abteilung, 1881, Bd. XXVI, I, S. 1. 15 Es versteht sich, daß es meine Absicht nicht sein konnte, innerhalb des Rahmens dieses Vortrages eine vollständige Kritik der Theorien über Materie und Kraft zu geben. Ich wollte nur andeuten, daß hier unlösliche Widersprüche versteckt sind. Ausführliche Auseinandersetzungen des Gegenstandes aus neuerer Zeit findet man in: G. Th. Feckner, Über die physikalische und philosophische Atomen-

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lehre, Leipzig 1855, und in: F. Harms, Philosophische Ein. · leitung in die Enzyklopädie der Physik, im 1. Bd. von G. Karstens Allgemeiner Enzyklopädie der Physik, Leipzig 1869, s. 307 ff. 16:Über die \Vechselwirkung der Naturkräfte usw., Königsberg 1854, S. 44 ; Populäre wissenschaftliche Vorträge, · a. a. 0., S. 120. 17 Sir William Thomson,:in: Report of the Forthy-first Meeting öf the British Association for the Advancement of Science held at Edinburgh in August 1871. The Presidents Address, p. CIII: Helmholtz in der Vorrede zum zweiten Teil des ersten Bandes der deutschen Übersetzung des Handbuches ·der J'heoretischen Physik von \V. Thomson und P. G. Tait, S. X.Iff. (1873). -18 Vgl. Smaasen, in Poggendorfs Annalen der Physik und Chemie, 1846, Bd. LXIX, S. 161. ~9 Joh. Müller, Handbuch der Physiologie des Menschen usw., Bd; I, 4. Aufl., Koblenz 1844, S. 28. _20Vgl. J, Rothin den Abhandlungen der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Aus dem Jahre 1871, Berlin 1872, Physikalische Klasse 4°, S. 169. Anm. d. Herausg.: Zur marxistisch-leninistischen Auffassung des Aktualismus vgl.: .M.: Guntau, Der Aktualismus in den geologischen \\"issenschaften. Freiherger Forschungshefte D 55, Leipzig 1966. 21 .CEuvres de Descartes; publiees par Viktor Cousin, Paris · 1824; t. I; Discours de la Methode, p. 158, 159; Meditation ;. sixieme, p. 344; Objektions et Reponses; p. 414 et suiv.; Ibidem, t. III; Les Principes de la Philosophie, p. 102. 22 Ibidem. Les Principes etc., p. 151. Vgl. oben S. 326, 342. 2J:Ibidem, t. IV; Les Passions de l'Ame, p. 66,. 67, 72, 73; L'Homme, p. 402 et suiv. 2-\ Dittionaire des, Seiences philosöphiques par une Societe de ·. professeurs de Philosophie, Paris 1844, t. I, p. 523~ 25.l\falebranche, De la Recherche de la Verite. CEuvres completes, par. MM. de Genoude et de Lourdoueix, Paris 1837, 4°,: t. I, ·p. 220 et suiv.; De la' Premotion physique, Ibidem, t. II, p. 392 et suiv . .:JS'H. Ritter, Geschichte der Philosophie. Harnburg 1852, ·. T.·XI, S. 104ff.; Harms, a. a. 0.,: s, ·235, 236; Schwegler, :. Geschü;hte der Philosophie im Umriß, 7. Aufl., Stuttgart · • 187.0;.:S. 144 . .2·7'Seco\}d: Eclairissement. du Systeme de la Communication des. Substances, 1696. G. G. Leibnitii. Opera philosophiac · etc.,: p; 133:; . Ttoisieme ·Edaircissement, :1696;·-lbidem.,

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p. 134; Lettre a.' Rasnage etc., lbidem, p. 152.' (Anm. d. Herausg.: vgl. G. W. Leibniz, Kleinere philosophische Schriften ,a. a. 0., S. 67ff.) Das Uhrengleichnis steht auch in Arn. Geulincx rNQSI!EAYTON sive Ethica etc. Ed. Philaretus. Amstelod 1709, 12°, p. 124" Nota 19. Seit Ritter hierauf aufmerksam machte (a. a. 0., S. 140), pflegt man es· Geulincx zuzuschreiben. Da aber jenes 40 Jahre nach Geulincx' Tod und dreizehn J a'.hre nach dem Second Eclair. cissement erschienene Buch nicht wörtlich Geulincx' \Verk ist, vielmehr manche fremde Zutat enthält, so ist auch das · : Uhrengleichnis, nachdem Leibniz es erfunden und wiederholt gebraucht, als allgemein bekanntes Bild nachträglich darin aufgenommen. Um es Geulincx sicher zuzuschreiben, müßte man es in einer der vor 1696 erschienenen Ausgabe der "Ethik" nachweisen. In Berlin war deren·keineaufzutreiben. [Diese Anmerkung veranlaßte einen tiefen und geistvollen Kenner der Geschichte der Wissenschaft, Hrn. Dr. G. Berthold in· Ronsdorf, zu erneuter gründlicher Untersuchung über den Ursprung des Uhrengleichnisses. Es ergab sich, daß an und für sich, ohne Beziehung a:uf die Verbindung zwischen Leib und Seele, das Bild zweier Uhren, welche gleichen Gang zeigen, von Descartes herrührt, daß es aber wirklich zuerst von ..Geulincx zur Erläuterung der Ver, · bindung zwischen Körper und Geist benutzt wurde. Hr. Dr. Berthold wies es schon in einer in seinem Besitze befindlichen · 'Ausgabe der "Ethik" vom Jahre 1683 nach: Monatsberichte · usw., 1874, S. 561-567. Hier ist auch, S. 567, Anm .. 2, das ··. Verzeichnis der Stellen. vervollständigt, an welchen Leibniz das Uhrengleichnis anwendet, Anm. zur 4. Auflage] Weitere · .Erörterungen über den Gegenstand finden. sich in dem Dekanatsprogramm der Tübinger Philosophischen Fakultät: Dr. Eqmund· Pfleiderer, Leibniz und Geulincx mit besonderer Beziehung ·auf ihr .beiderseitiges Uhrengleichhis, Tübingen 1884, 4°.(vgL auch desselben:Verfassers Notiz: Leibniz und : Geulincx,· in den philosophischen Monatsheften, 1884, · s, 423, 424), sowie· in 'Hrn. Zellers Abhandlung: Über die erste· Ausgabe von · Geulincx'· Occasionalistnus, in den , Sit~ngsberichten der Akademie; 1884, Bd. ·li, S. 673. 28:Leibniz gibt· nicht an, aus. welchem. Quell er Huygens' Be AlaxvJ.ov lleof.liYJDcvr; IJca,u.!>TrJr;, v. 442 segg. Anm. d. H era1tsg. : V gl.: Aischylos, der gefesselte Prometheus, m: Aischylos, Tragödien und Fragmente, herausgeg. und übers. von Oskar \Verner (griechisch-deutsch), 2. verb . .\uflage, München 1969, S. 438ft. (Vers. 443-506). Hi Zweiter Abdruck, Wien 1860. I i llEQl nüv U(!Ea)t6vrwv roir; qJtAoa6qJotr;. Über die zweifelhafte Vaterschaft der Schrift vgl. Monatsberichte usw., 1874, S. 485. IH Journal des Savants, Paris 1849, 4, p. 500. 19 Vgl. Helmholtz, Die physiologischen Ursachen der musikalischen Harmonie, in: Populäre wissenschaftliche Vorträge, Heft 1, 2. Aufl., Braunschweig 1876, S. 81, 82; Du BoisReymond verweist weiter hier auf seine Rede "Über eine Kaiserliche Akademie der deutschen Sprache" (Reden von Emil Du Bois-Reymond, a. a. 0., Bd. I, S. 490). 2o Bussola (ital.) Kompaß mit Kreisteilung und Ziellinie, zum Bestimmen von Richtungen im Gelände und unter Tage (Anm. d. Herausg.). 21 Whewell, History of the Inductive Seiences from the earliest to the present time. A new Edition etc., London, 1847, vol. I, p. 130. 22 Vgl. die Übersetzung des Arateischen Lehrgedichtes von Cicero, in M. T. Ciceronis Opera Quae supersurrt omnia etc., Ed. Orellius, Turici 1828, Vol. IV, P. li, p. 531. 2:: "Quae septem dici, sextarnen esse solent."- Ovid teilt zwei mythologische Hypothesen mit, weshalb die siebente Plejade verschwunden sei. Fastorum Lib. IV, v. 170-178. 2'> Vgl. Lord Byron's Beppo, XIV. Stanze. 2.> Minder abfällig über das Sehen der Plejaden durch ·die .\lten äußert sich Al. v. Humboldt (Kosmos usw., Bd. III, Stuttgart und Tübingen 1850, S. 65). Aus dem Vorwort zum ersten Sonderabdruck der Rede, vom April 1878, muß hier folgendes aufgenommen werden: "Der Direktor ·der Königlichen Sternwarte, Hr. Professor Wilhelm Foerster, war so freundlich, unter Hinweis auf seinen leider von mir übersehenen Vortrag ,Die Astronomie des Altertums und des Mittelalters im Verhältnis zur neueren Entwicklung' (Sammlung wissenschaftlicher Vorträge, Berlin 1S76,

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S. 1-29) mir seine Überzeugung brieflich darzulegen, daß die von mir aus Littrows Rektoratsrede entlehnten Angaben über mangelhafte Beobachtung des Sternhimmels bei den Alten irrig seien und daß, wenigstens in der Astronomie, die Alten schon auf dem richtigen Weg induktiver Forschung sich befanden. Wäre ich so glücklich gewesen, mich früher mit Hrn. Foerster hierüber zu unterhalten, so hätte ich Littrows Angaben wohl aus Vorsicht weggelassen. Sie nachträglich hier zu streichen hielt ich mich bei der Rolle, die sie im Gefüge der Rede spielen, nicht für berechtigt. Selbst wenn Littrow im einzelnen sich irrte, bliebe übrigens sein L'rteil über die ='Jaturwissenschaft der Griechen im allgemeinen, wie ich glaube, bestehen: wie weit sie es auch gebracht haben mögen in einer Disziplin, wo ihnen schon eine ansehnliche Erbschaft zufiel, wo sehr einfache Beobachtungen genügten, um zu den wichtigsten Schlüssen zu gelangen, und wo Spekulation am ehesten etwas vermochte, während zugleich die Natur des Gegenstandes ihr heilsame Schranken zog." 2 6 Salvage, Anatomie du Gladiateur combattant applicable aux Beaux-Arts etc., Paris 1812, fol. p. IV. 2 7 Prescott, History of the Conquest of Mexico etc., London 1843, vol. I, 124, 125, vol. II, p. 60, 108, 109. 2 ~ Vgl. Mommsen, Römische Geschichte, 6. Aufi., Bd. III, Berlin 1875, S. 627. 19 Die Philosophie der Griechen usw., 3. Aufi., 3. T., I. Abt., Leipzig 1880, S. 135. Anm.; Zeller. Vorträge und Abhandlungen. Dritte Sammlung, Leipzig 1884, S. 50, Anm. I. Die merkwürdige Stelle heißt bei Cicero: "Hoc qui existimat fieri potuisse, non intelligo, cur non idem putet, si innumerabiles unius et viginti formae litterarum vel aureae vel quales libet aliquo coniiciantur, passe ex his in terram excussis annales Ennii, ut deinceps legi possint, effici: Quod nescio an ne in uno quidem versu possit tantum valere fortuna" (De Natura Deorum, L. II, c. XXXVII, 93. - M. T. Ciceronis Opera etc., Ed. Orellius, Turici 1828, vol. IV, P. II, p. 68, 69). 30 Akrolein: Propenal: Farblose Flüssigkeit mit stechendem Geruch, CH 2 : CH: CHO, deren Dämpfe bei der Hitzezersetzung der Fette entstehen (Anm. d. Herausg.). 31 Eine ähnliche Betrachtung findet sich doch auch schon bei Gibbon. Er sagt: "Europe is secure from any future irruption of Barbarians; since before they can conquer, they must cease to be barbarous." General Observations on the Fall

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of the Roman Empire in the West, III, am Schluß des 38. Kapitels, Chandos-Ausgabe, vol. II, p. 429. Jl Die Chemie in ihrer Anwendung auf Agrikultur und Physiologie, 7. Aufl., Braunschweig 1862, Einleitung in die Naturgesetze des Feldbaues, S. 86ft. :Jj Liebigs Ansicht von der Bodenerschöpfung und ihre geschichtliche, statistische und national-ökonomische Begründung, kritisch geprüft usw., Jena 1864. j 4 Aquiae Sextiae (jetzt Aix-en-provence). Im Jahre 102 v. u. Z. vernichtete das römische Heer unter Marius bei Aquiae Sextiae die Teutonen (Anm. d. Herausg.). J:> Die Geringschätzung des "Mittelalters" übernimmt du BoisReymond von den Humanisten und den französischen Aufklärern. In Wirklichkeit stellt auch diese Epoche einen Fortschritt in der Menschheitsentwicklung dar. Vgl.: F. Engels, Dialektik der Natur, Berlin 1952, S. 202-205 (Annz. d. Herausg.). :- Cfr., p. 108, 429, 430, 520, 645, 702, 711, 723. Anm. d. Herausg.: Die deutsche Übersetzung der zitierten Stelle lautet: " ... es erhält sich nämlich nicizt bloß die gleiche lVIenge der bewegenden Kraft, sondern auch die gleiche jVfenge ihrer Richtung, nach welcher Seite in der Welt man sie auch annehmen mag. Das heißt mit anderen \V orten: \Venn man eine beliebige gerade Linie zieht und beliebig viele beliebige Körper annimmt, so findet man, wenn man alle diese Körper zusammen betrachtet, ohne einen von denen außer acht zu lassen, die auf irgendeinen der angenommenen Körper einwirken, daß in allen Parallelen zu den angenommenen geraden Linien immer die gleiche Menge von Fortbewegung nach der nämlichen Seite hin stattfindet, wobei jedoch zu beachten ist, daß nur die Summe der Fortbewegung nach Abzug der Summe der Bewegung jener Körper, die in einer der angenommenen entgegengesetzten Richtung laufen, in Rechnung gestellt werden darf" (G. \V. Leibniz, Erläuterung des Neuen Systems über den Verkehr zwischen den Substanzen als Antwort auf die Abhandlung Fouchers, in: G. W. Leibniz, Kleinere philosophische Schriften, a. a. 0., S. 66-67). Traite de l'enchainement des idees fondamentales dans les Seiences et dans l'Histoire, 1861, t. I, p. 364 et suiv. Conciliation du veritable Determinisme mecanique avec l'existence de la Vie et de la Liberte morale (Extrait des Memoires de la Societe des Sciences, de 1' Agriculture et des Arts de Lille, Annee 1878, t. VI, 4e serie), Paris 1878. Siehe auch Comptes rendus etc., 19. Fevrier 1877, t. LXXXIV, p. 362.

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Accord des lois de la Mecanique avec la liberte de l'homme dans son action sur la matiere. Comptes rendus etc., 5 Mars 1877, t. LXXXIV, p. 419 et suiv. r.G Man sehe meine Auseinandersetzungen, in: Die Fortschritte der Physik im Jahre 1847, dargestellt von der physikalischen Gesellschaft zu Berlin, Bd. III, Berlin 1850, S. 415. Du Bois-Reymond verweist hier weiter auf seine Vorträge "Über tierische Bewegung" (Reden von Emil du Bois-Reymond, Bd. I, a. a. 0., S. 44, 45.) und die "Gedär;htnisrede auf Johannes Müller" (ebenda, S. 206). r,7 Journal de l'Ecole Polytechnique, XIIIe Cahier, t. VI, 1806, p. 63, 106. r.s Claude Bernard, Rapport sur les progres et la marche de la Physiologie generale en France, Paris 1867, p. 223, 233, Note. 4!J Du Bois-Reymond verweist auf seinen Vortrag "Über die Grenzen des Naturerkennens" (Bd. I, S. 451, in unserer Ausgabe, S. 63f.). 50 Comptes rendus de l'Academie des Seiences morales et politiques, 187R, t. IX, p. 696 et suiv. Abgedruckt bei Boussinesq, I. c., p. 3 et suiv. 51 ]. R. j\;Jayer, die Torricellische Lehre und über Auslösung, Stuttgart 1876, S. 11. 52De Saint-Venat, l.c., p.422: >Die kursiv gedruckten \Vorte habe ich hervorgehoben. Anm. d. Herausg.: Die deutsche Übersetzung der zitierten Stelle lautet: ""'ir sagten, daß die Erzeugung von \Virkungen riesiger Ausmaße nur einen adäquaten Austausch der beiden Energiearten erfordert" - potentielle und tatsächliche oder kinetische Energie- "und daß der Anteil der Arbeit, die für den Beginn dieses Austausches bestim'mend ist, nach einem Grenzwert Null strebt. Es steht also dem nichts im \Vege, zu vermuten, daß die völlig mysteriöse Vereinigung des Subjektes mit seinem Organ dergestalt erfolgt, daß sie, ohne mechanische Arbeit, daraus den Beginn ähnlicher Austauschvorgänge determinieren kann." 45

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Hr.]. Delboeuf in Lüttich hat seitdem einen neuen Versuch gemacht, mechanischen Determinismus und \\"illensfreiheit zu versöhnen, welchen auseinanderzusetzen indes die hier gesetzten Schranken nicht erlauben. Bulletins de I' Academie royale des Seiences etc., de Belgique, 3 me Serie, 1881, t. I, p. 463 et sniv (La liberte et ses effets mecaniq ues), 1882, t. IJ I, p. 145 et suiv (Determinisme et liberte. - La liberte demontree par Ia mecanique). 51 Hr. Boussinesq führt über diesen Gegenstand eine Schrift von dem Ingenieur en chef Philippe Breton an unter dem Titel: La Reversion ou le monde a l'envers, Paris 1876, welche ich mir nicht verschaffen konnte. Eine ähnliche Vorstellung wurde schon vor Jahren von Hrn. Fechner drastisch vorgeführt unter dem Titel ,.Verkehrte \Velt" (Dr. Mises, kleine Schriften, Leipzig 1875, S. 399). 5;; A. a. 0., 267. 5t; Du Bois-Reymond verweist auf seine Rede ,.Über die Grenzen des Naturerkennens" (Bd. I, S. 458-459, in unserer .\usgabe, S. 70f.). :.-;In der Anm. 16 zu seiner Bd. I, S. 565 angeführten Rede sagt Hr. Haeckel: ,.Außerdem nimmt unser monistisches Bekenntnis nur ein einziges ,\Velträtsel' an, während Du Bois-Reymond deren damals schon zwei annahm, neuerdings aber sogar sieben! Vermutlich wird bei dieser rückläufigen Entwicklung die Zahl derselben beständig steigen." Am Schluß der Grenzen des Naturerkennens (s. Bd. I, S. 464) heißt es ausdrücklich: ,.Schließlich entsteht die Frage, ob die beiden Grenzen unseres Naturerkennens nicht vielleicht die nämlichen seien ... Freilich ist diese Vorstellung die einfachste usw.", -und an der der gegenwärtigen Anmerkung entsprechenden Stelle des Textes wird ebenso deutlich gesagt, daß die sieben ·welträ tsel im Grunde eines seien, das Weltproblem; nur der bequemeren Behandlung wegen empfehle sich's, sie getrennt aufzuführen und herzuzählen. Sich einzubilden, man habe alles zuerst gedacht, gehört bekanntlich zum Baccalaureus. Doch ist wenig Aussicht, daß sich bei Hrn. Haeckel noch die von Mephisto gehoffte \Vandlung vollziehe. Man sieht aber, wie erstaunlich leichtfertig, bis zur Entstellung der Wahrheit, Hr. Haeckel bei seiner Kritik zu Werke geht (aus den Anmerkungen zur Sonderausgabe der Rede: Goethe und kein Ende). 5.1

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Über die wissenschaftlichen Zustände der Gegenwart Die Rede erschien zuerst in den Sitzungsberichten usw., 1882, 1. Hlbbd, S. 307; dann in der Deutschen Rundschau, 1882, Bd. XXXI, S. 267; und auch noch als besondere Schrift in Ferd. Dümmlers Verlagsbuchhandlung, 1882. :.! Möglicherweise bezieht sich E. du Bois-Reymond hier auf Eduard von Hartmann (1842-1906). Hartmann war ein Schüler Schopenhauers und vertrat dessen Pessimismus. Die Begründung seiner irrationalistischen und pessimistischen Philosophie erfolgte in seinem 1869 erschienenen 'vVerk "Philosophie des Unbewußten". Dieses Werk brachte Hartmann große Popularität bei der Bourgeoisie ein, die etwa 20 Jahre anhielt (Anm. d. Herausg.). :lAus Langfellows "The day is done" hat der Königliche Astronom von Irland diese kühne Metapher in unser Gebiet übertragen (Robcrt S. Ball, A Glimpse through the Corridors of Time. Lecture delivered at the Midland Institute, Birmingharn, October 24, 1881, in: The Popular Science Monthly, Kew York 1882, vol. XX, p. 479). 4 .\mbruise Pare (1510-1590) gilt als der Reformator der abendländischen Medizin. Bis zu seiner Zeit wurden die als giftig geltenden Schußwunden mit Öl ausgegossen. Er stellt fest, daß \Vunden zur Heilung Ruhe brauchen, und verurteilte in seiner klassischen Abhandlung "Über die Behandlung der Schußwunden" (1545) allen überlieferten Anschauungen entgegen die grausame und sinnlose Ölbehandlung. Auch die isolierte Gefäßligatur bei Amputationen statt des dafür bisher benutzten Glüheisens setzte er wieder durch. Sein Hauptwerk "Cinq livres de Chirurgie" erschien 1572 (Amn. d. Hcrausg.). 5 Dieneuere Farbenlehre mit anderen chromatischen Theorien verglichen, Programm vom Kgl. Friedrich-WilhelmsGymnasium, Berlin 1836, 4, S. 4. ~ Gemeint ist die Internationale Elektrizitätsausstellung. Sie wurde am 10. 8. 1881 in Paris durch den französischen Präsidenten eröftnet und zeigte für die damalige Zeit unvergleichliche Resultate (z. E. Anwendung des Telefons, elektrische Beleuchtungssysteme usw.) (Anm. d. Hcrausg.). 7 Asaph Hall entdeckte im August 1877 mit dem WashingtonRefraktor zwei Marsmonde, durch Madan in Eton Phobos und Deimos getauft, von denen Phobos, etwa 11:1 Marsdurchmesser vom Mittelpunkt des Planeten entfernt, ihn in etwa 7•( 2 Stunden umkreist, während der etwa 3•/z Durcht

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messer entfernte Deimos etwa 30 Stunden braucht. Man erinnerte sich sogleich in England, daß durch den seltsamsten Zufall Swift in Gullivers Reisen die Astronomen der schwebenden Insel Laputa, bei deren Schilderung er sich übrigens als rohen Utilitarier gibt, zwei Marsmonde entdecken läßt, deren einem 3 Durchmesser entfernten er 10, dem anderen 5 Durchmesser entfernten er 21'/z Stunden Umlaufszeit zuschreibt (Gullivers Travels etc., P. III, Chap. III, in: The Works of Dr. ]ona.than Swijt etc., Edinburgh 1768, vol. V, p. 102, 103). 8 E. du Bois-Reymond, in den Verhandlungen der Berliner physiologischen Gesellschaft, Sitzung vom 30. November 1877 (Archiv für Physiologie, 1877, S. 573, 582); Helmholtz in den Monatsberichten der Berliner Akademie, 1878, S. 488. 9 Das "Statut der Humboldt-Stiftung für Naturforschung und Reisen" wurde am 16. 12. 1860 vom Preußischen König bestätigt. Auch E. du Bois-Reymond gehört zu den Unterzeichnern der Stiftungsurkunde. Text des Status vgl. in: Geschichte der Königlich-Preußischen Akademie der \Vissenschaften. Im .-\.uftrage der Akademie bearbeitet von Adolf Harnack, 2. Bd., Berlin 1900, S. 462-467. Seinem Schüler Carl Sachs, der nach einer Forschungsreise nach Südamerika bei einer alpinistischen \Vandcrung tödlich verunglückte (1878), widmete E. d 11 Bois-Reymond seinen Artikel ",Aus den Llanos', Anzeige und Nekrolog" in: Reden, Bd. II, S. 46-64 (Anm. d. Herausg.). IO Sitzungsberichte der Akademie, 1882, 1. Hlbbd, S. 13. H Histoire des Seiences et des Savants depuis deux Siecles, Geneve 1873, p. 186. u Arabella B. Buckley, A short History of Natural Science etc., London 1876, p. 124. lJ Gleich seinem Freunde Hermann von Helmholtz, gleich Virchow und Haeckel steht du Bois-Reymond der neuen Klasse, dem Proletariat, und dem \Vollen ihrer Partei, der damals noch revolutionären Sozialdemokratie, völlig verständnislos gegenüber. Da E. du Bois-Reymond eine fast panische Furcht vor jeder revolutionären Umwälzung empfindet, ist diese Abneigung nur noch um so stärker. In der revolutionären Bewegung des modernen Industrieproletariats sah der große Physiologe nichts weiter als eine Art von bedauernswerter Massenerkrankung, die allerdings seiner Meinung nach vergänglich sei. Ein Zeichen mehr, wie unrealistisch .-selbst große Naturwissenschaftler ohne Kenntnis

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H

der objektiven gesellschaftlichen Gesetze hinsichtlich der Einschätzung der Gesellschaft sein können (Anm. d. Herausg.). Es sei daran erinnert, daß du Bois-Reymond den .,Kartätschenprinzen" \Vilhelm I. 1848 noch als .,Volksmörder" bezeichnet hatte. Zur marxistischen Einschätzung \Viihelms I. vgl.: Biographisches Lexikon zur deutschen Geschichte, 2. erweiterte Aufl., Berlin 1970, S. 741-742 (Anm. d. Herausg.).

Darwin und Copernicus t

Der .,Nachruf" erschien zuerst als Teil des in der Überschrift genannten Berichtes in den Sitzungsberichten der Akademie, 1883, 1. Hlbbd, S. 108-110, dann zusammen mit den Reden .. Über Friedrich I 1. in englischen Urteilen" und .,Über die Humboldt-Denkmäler" in besonderer Schrift bei Veit & Comp. in Leipzig. Die folgende, an letzterer Stelle dem Nachruf beigefügte Anmerkung dient, indem sie einen Beitrag zur deutschen Kulturgeschichte im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts liefert, zugleich zur Rechtfertigung, daß der Nachruf hier nochmals aufgenommen wird . .,Ich habe geglaubt, diesen Nachruf, obgleich er neues kaum enthält, hier abdrucken zu sollen, teils. wegen des Aufsehens, das er sehr unverdienter \Veise erregte, teils damit es nicht heiße, ich hätte ihn infolge der dawide.r gerichteten Angriffe unterdrückt. Der ,Reichsbote' war es, der in einem Bericht über die Friedrichs-Sitzung der Akademie zuerst Lärm schlug, weil ich das seit fünfundzwanzig Jahren unzählige Mal und auch von mir selber schon öfter Gesagte wiederholt hatte: daß Darwin der Abstammungslehre zum Siege verhalf und zuerst angab, wie allenfalls ohne Endursachen auszukommen sei. Der Rabenflügelschlag des ,Reichsboten' löste in einem Teile der Tagespresse eine Lawine von Schmähungen aus, womit ich wochenlang überschüttet wurde. Von Hrn. Haeckel unlängst für einen Gegner Danvins ausgegeben, galt ich plötzlich den reaktionären und klerikalen Organen für den vornehmsten Vertreter der Darwinschen Lehre in Deutschland, und sie umbellten mich mit wütendem Haß. Es bljeb aber nicht bei Zeitungsartikeln. Anonyme Briefe oft .. voU. gemeiner Schimpfreden liefen von nah und fern

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tagtäglich bei mir ein. Ein bekannter geistlicher Agitator, der wie einst die V\iiedertäufer Sozialismus und Christentum zu verbinden weiß und nebenher den Rassenhaß schürt, trug die Denunziation gegen mich bis in das Haus der Abgeordneten, wo er, obschon von ultramontaner Seite unterstützt, freilich erfuhr, daß in Preußen die Zeit für Einführung der Inquisition noch nicht gekommen sei (Verhandlungen des Hauses der Abgeordneten, 34. und 35.Sitzung am 23. und 26. Februar 1883). (Anm. d. Hcrausg.: "Mit dem bekannten geistlichen Agitator" ist Adolf Stöcker (1835-1909) gemeint; Stöcker war evangelischer Hofprediger, Gründer der Christlich-Sozialen Partei. Von 1881 bis 1908 warer-mit Gnterbrechungen- auch Mitglied des Reichstags.) Keines jener Blätter nahm sich die Mühe, den Wortlaut meiner ordnungsmäßig nach acht Tagen erschienenen Rede nachzusehen, sondern auf bloßes Hörensagen, und indem eines dem anderen nachschrieb, gaben sie mich dem Abscheu ihrer Leser preis. Gleich der ,Reichsbote' setzte anstatt: ,Nun bedurfte es nur noch eines Schöpfungstages, an welchem bewegte Materie ward'- ,Nun bedarf es keines Schöpfungstages mehr'. Der mit der wissenschaftlichen Sprache minder vertraute Tagesschreiber ahnte wohl nicht, wie er meinen Sinn änderte, als er hier, und in den parallelen Sätzen, statt des weislich von mir gewählten Präteritums mir das Präsens unterschob. Aber selbst der ,Reichsbote' konnte doch nicht im Zweifel sein über den Unterschied zwischen ,nur noch einem Schöpfungstag' und ,keinem Schöpfungstag mehr'. Dies war indes erst der Anfang einer langen Reihe ähnlicher Entstellungen und Verleumdungen, welche sogar auf der Rednerbühne des Landtages laut wurden und, wenn auch kräftig zurückgewiesen, dadurch weite Verbreitung fanden. Die Darwinsche Lehre gegennicht ebenbürtige \Vidersacher zu verteidigen, dabei mein Verhältnis zu ihr nochmals darzulegen, wäre der \Vissenschaft, meiner selber nicht würdig. Auch haben sich öffentlich so viele und gewichtige Stimmen für mich erhoben, und ich habe neben jenen Schmähbriefen so viele beifällige Zuschriften erhalten, daß ich die Gegner ruhig ihrem ohnmächtigen Grimm überlassen kann. Doch bin ich als Schriftsteller zu eitel, um einen mehr die Form betreffenden Irrtum nicht zu erwähnen, in welchen damals fast alle Zeitungen verfielen. Da sie, wie gesagt, den Hergang nur vom Hörensagen kannten, schreiben sie mir

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~

die literarische U ngcheuerlichkeit zu, daß ich den Nachruf in die Festrede , Über Friedriclt I I. in englischen Urteilen' eingeflochten habe, ja die mir feindseligen Blätter wiesen hierauf als auf einen besonders erschwerenden Umstand hin, weil Friedrich, für seine Person leider Freigeist, es doch nicht an Achtung vor der nun durch Darwin bedrohten Religion habe fehlen lassen!" Seiner Schrift "Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen" stellt G. Bruno einige Gedichte voraus. Hier finden sich auch diese Verse (in der Übersetzung von Paul Seliger): "Xicht blinder Irrtum, nicht die gier'ge Zeit, Xicht feindliches Geschick, nicht schmutz'ge Mißgunst, Xicht feige Wut, nicht ungerechter Haß, Xicht Roheit, Frevelsinn noch Übermut Vermögen mir die Luft je zu verdunkeln, ::\Iir vor den Augen Schleier auszubreiten Und zn verhindern, daß die Sonne strahlt."

(G. Bruno, Von der Ursache, dem Prinzip und dem Einen, Leipzig 1947, S. 26) (Anm. d. Herausg.). 3 Alfons X. (1223-1284) war ab 1252 König von Kastilien. Seine großzügige Förderung der Künste und \Vissenschaften trug ihm den Ehrennamen "der \V eise" ein. Koch als Kronprinz berief er eine Kommission von Astronomen, die neue Tafeln der Planetenbewegungen aufstellen sollten. Die Tafeln erhielten den Namen "Alphonsinische Tafeln", galten einige Jahrhunderte lang als astronomisches Meisterwerk und faßten die Ergebnisse der sarazenischen Wissenschaft des "Mittelalters" zusammen. Alfons X. wurde 1282 wegen angeblicher Gotteslästerung abgesetzt. (Anm. d. Herausg.). 4 Ch. Darwin hatte bereits 1842 bzw. 1844 seine Theorie niedergeschrieben. Anfang 1856 riet ihm Lyell, sein Material zu veröffentlichen. Anfang des Sommers 1858 schickte ihm A. R. \Vallace, der sich damals im l\Ialayischen Archipel befand, die Abhandlung zu "Über die Neigung der Varietäten, in unbestimmter Weise von dem ursprünglichen Typus abzuweichen". Sie enthielt dieselbe Theorie wie Darwins. Die Abhandlung erschien zusammen mit einem Brief Darwins im "Journal of the Proceedings of the Linnean Society" (1858), fand aber wenig Beachtung. Das gab aber für Darwinden Anstoß, seine "Entstehung der Arten" im N ovember 1859 herauszubringen. Vgl. dazu: Ch. Darwin, Autobiographie, Leipzig-Jena 1959, S. lOOff. (Anm. d. Herausg.).

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:, Geschichte der Physik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin usw., Leipzig 1879, S. 147. 1; Nachdem in Nr. 702 der "Nature" (A weekly illustrated Journal of Science, vol. XXVII, April12, 1883, p. 557, 558) eine Übersetzung des Nachrufs erschienen war, machte in Nr. 706 (vl. XXVIII, Mai 10, 1883, p. 42, 43) ein Korrespondent darauf aufmerksam, daß Faraday nicht, wie am Schluß des Nachrufes angenommen werde, in \Vestminster Abbey begraben liege, sondern in ungeweihter Erde (unconsecrated ground) zu Highgate. Ich hätte mich dessen erinnern sollen, da auf der letzten Seite des vVerkes meines Freundes Bence J ones (The Life and Letters of Faraday, 1870, vol. II, p. 486) sogar Faradays Grabmal auf Highgate (Faradays tomb in Highgate Cemetery) abgebildet ist. An der Sache selber wird dadurch nichts geändert. \Venn Faraday nicht in \'lestminster ruht, so liegt dies an seiner eigenen letztwilligen Verfügung über sein Begräbnis (1. c., p. 482). Gern hätte mit der ganzen englischen Nation lJean :'tanley dem größten physikalischen Entdecker aller Zeiten die Pforten des englischen Pantheons geöffnet; er selber äußerte sich in diesem Sinne gegen meinen Freund Prof. Tyndall. Ich ließ deshalb oben den Fehler stehen, da ich Grund hatte, jede Anderung des angeschuldigten Textes zu vermeiden.

Über Neo-Vitalismus Jean Baptist van Helmont (1577·-1644), ein Paracelsusschüler, unterschied im menschlichen Organismus die "Archai insiti", die er den einzelnen Teilen des Körpers ab Träger der Regelung der partiellen Abläufe zuschrieb, vom ".\rchaeus influus", in dem er den höchsten Regulator des Physischen und Psychischen und zugleich eine göttliche Einflußnahme auf das Individuum erblickte. Eine ähnliche Funktion haben die genannten Begriffe des Hippakrates und Boorhaaves (Anm. d. Herausg.). 2 Stephen Haies (1677-1761) führte als einer der ersten pflanzen- und tierphysiologische Untersuchungen durch. Er hatte die Aufnahme und Abgabe von Luft und \Vasser durch Pflanzen gemessen, den Wurzeldruck bestimmt undwie den Saftstrom - auch den Blutdruck der Tier.e gemessen. Seine "pneumatische Wanne" (sie wurde von ihm eriunden) diente auch den anderen englischen Chemikern 1

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zum Auffangen und Messen der Gase. Er veröffentlichte 1727 seine "Statical Essays" (Bd. I: Vegetable Staticks, Bd. II: Haemostaticks) (Anm. d. Herausg.). :; Paul Joseph Barthez (1734-1806) war ein französischer Mediziner, Vertreter der vitalistischen Schule von Montpellier. Er veröffentlichte: Nouvelle mecanique des monuments de l'homme et des animaux (1798 - deutsch 1800) und Traite des maladies goutteuses (1802 - deutsch 1803) (Anm. d. Herausg.). "Johann Christian Reil (1759-1813) verfolgte in dem von ihm 1796 begründeten "Archiv für Physiologie" das Bestreben, der praktischen Medizin durch enge Verbindung mit der Physiologie eine wissenschaftliche Grundlage zu schaffen. Die einleitende Abhandlung, die sein Programm enthält, stellt den Satz auf, daß alle Erscheinungen entweder Materie oder Vorstellungen sind und daß, soweit die sinnliche Wahrnehmung reicht, alle im tierischen Körper vorhandenen Erscheinungen auf der Verschiedenheit der tierischen Grundstoffe und auf der Mischung und Form derselben beruhen. "Kraft ist das Verhältnis der Erscheinungen zu den Eigenschaften der Materie, durch welche sie erzeugt werden." Die Äußerungen der "Lebenskraft" beruhen ebenfalls auf materiellen Zuständen, welche sich allerdings irrfolge der Unvollkommenheit der organischen Chemie und der Lehre von den Imponderabilien der sinnlichen Wahrnehmung entziehen. Da jedes Organ Erscheinungen darbietet, die nur ihm eigentümlich sind, besitzt ein jedes von ihnen seine besondere Lebenskraft (Anm. d. Herausg.). :, J oachim Dietrich Braudis (1762-1846) war seit 1803 ordentlicher Professor der Medizin an der Kieler Universität. Er siedelte 1810 als königlicher Leibarzt nach Kopenhagen über, wo er auch verstarb. Er ist Vertreter der naturphilosophischen Schule und schrieb 1795 seinen "Versuch über die Lebenskraft" (Anm. d. Herausg.). t Gemeint ist Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840), Professor der Naturgeschichte und vergleichenden Anatomie in Göttingen (Anm. d. Herausg.). 'Der französische Physiologe Franyois Magendie (1783-1855) war Vertreter der physiologischen Richtung, die sich auf Experiment und exakte Beobachtung stützte. Daher gelang es ihm, zahlreiche anatomische und physiologische Entdeckungen zu machen, so das Bell-Magendiesehe Gesetz, das Magendiesehe Zeichen (bei Krankheitsherd im Kleinhirnbrückenschenkel weicht das Auge der erkrankten Seite nach

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unten, das der Gegenseite nach oben ab) u. a. Auch erforschte er die Aufsaugung von in \Vasser gelösten Sto1fen durch die Blutgefäße. Der entschiedene Antivitalist schrieb u. a.: .,Precis elementaire de physiologie" 1816 (4. Aufl., 1836 (dtsch. 1820), 4. Aufl. 1836) . .,Le~ons sur les phenomenes de Ia vie" 1836-1838 (dtsch. 1837); .. Le~ons sur les fonctions et les maladies du systeme nerveaux" 1835-1838 (dtsch. 1841) (Anm. d. Herausg.). ß Rudolph ·wagner (1805-1864) war durch sein .. Handwörterbuch der Physiologie" in der Fachwelt bekannt geworden. Xoch bekannter aber wurde er durch seine Auseinandersetzung mit dem Vulgärmaterialisten Carl Vogt. In seiner Schrift .,Köhlerglaube oder Wissenschaft" (1855) setzte sich Vogt mit \Vagners christlich-idealistischen Auffassungen auseinander. Zum Streit von Vogt und \Vagner vgl. Einleitung zu: Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland. Herausgegeben und eingeleitet von D. Wittich, Bd. I, Berlin 1971, S. XLIIIff. (Anm. d. Herausg.). g Vgl. Reden von Emil du Bois-Reymond, Bd. I, a. a. 0., S. 288-290. 10 Carl F. W. Ludwig (1816-1895) bereicherte die Physiologie in vielfältiger \Veise. Er wandte als erster die graphischen Methoden in der experimentellen Physiologie an, führte den Kymographen ein und beschäftigte sich mit der Hydrodynamik und dem Verhalten des Blutdrucks im Blutkreislauf, mit der Diffusion, der Endosmose und der Sekretion. 1850 entdeckte er die sekretorischen ::'\rerven der Speicheldrüse. Er befaßte sich mit der Physiologie der Atmung, des Blutes (Blutgaspumpe) und der Blutgcfäßinnervation. Seit 1865 war Ludwig Ordinarius für Physiologie in Leipzig. Auch Pawlow hat dort bei ihm gearbeitet. In seinem Institut wurden viele Entdeckungen gemacht. .,Ein großes Verdienst Ludwigs ist es, physikalisch-chemische Methoden in die Forschung der Physiologie eingeführt und die Bedeutung des Experiments nachdrücklich betont zu haben" (Geschichte der Medizin, Einführung in ihre Grundzüge, herausgeg. von A. Mette und I. Winter, Berlin 1968, S. 287) (Anm. d. Herausg.). 11 Vgl. F. Rückert, Rostern und Suhrab. Ein Heldengedicht, in: Friedrich Rückert's gesammelte Poetische \\" erke, 12. Bd., FrankfurtjM. 1869, S. 230 (Anm. d. Herausg.). 12 Paul du Bois-Reymond (1831-1889) arbeitete besonders über die Integration der partiellen Differentialgleichungen und die Fouriersehen Reihen (Anm. d. Herausg.).

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Häfez (Hafis) (um 1325-1390) war der bedeutendste Lyriker der persischen Klassik. In seinen Gedichten besingt er die Lebensfreude, vor allem \\7ein und Liebe, und stellt Frömmlerturn und Heuchelei bloß. Trotz des mystischen Gewandes wirken seine Gedichte deutlich gesellschaftskritisch und freisinnig, was schon Goethe erkannte (Anm. d. Herausg.). 1" Ausführlicher schildert du Bois-Reymond "die qualvollste Ungewißheit" Müllers in seiner "Gedächtnisrede auf ]ohannes Müller", in: Reden, Bd. I, S. 248ft. (Anm. d. Herausg.). 1:. Zur materialistischen Einschätzung der Zellularpathologie Rudolf Virchows, vgl.: R. Löther, Medizin in der Entscheidung. Eine Einführung in philosophische Probleme der medizinischen Wissenschaft, Berlin 1967, S. 106ft. (Anm. d. Herausg.). 16 Die Klasse der Seeigel (Echinoidea) gehört zu den Stachelhäutern (Echinodermata). Die Leichtigkeit, mit der man die Befruchtung und die Entwicklung der Seeigeleier verfolgen kann, macht sie schon im 19. Jahrhundert zu einem Lieblingsgegenstand für mannigfaltige Untersuchungen. Viele Forscher untersuchten die künstlich angeregte Entwicklung der Seeigeleier und konnten nachweisen, daß verschiedene physikalische und chemische Mittel das Ei auch ohne Befruchtung zur Entwicklung bringen (Anm. d. Herausg.). 17 Vgl. G. E. Rindfleisch. Ärztliche Philosophie. Festrede zur Feier des Dreihundert und sechsten Stiftungstages der König!. Julius-Maximilians-Universität, gehalten am 2. Januar 1888, Würzburg 1888, S. 10, S. 20 (Anm. d. Herausg.). 18 Vgl. H. Driesch, Die Biologie als selbständige Grundwissenschaft. Eine kritische Studie. Leipzig 1893, S. 58. Zur marxistischen Einschätzung des Lebenswerkes von Hans Driesch vgl. u. a. R. Mocek: Zum Lebenswerk von Hans Driesch, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Heft 10/ 1964 (12), S. 1191-1214; R. Mocek: Engagement für Frieden und Humanismus. Gedächtniskolloquium anläßlich des 100. Geburtstages von Hans Driesch, in: Deutsche Zeitschritt für Philosophie, Heft 3/1968 (16), S. 353-360; R. Mocek: Hans Driesch als politischer Denker (Zum 100. Geburtstag von Hans Driesch), in: NTM - Schriftenreihe für Geschichte der Naturwissenschaften, Technik und Medizin, 4. Jahrg., Heft 10, Leipzig 1967, S. 138-150 (Anm. d. Herausg.). 19 "Es ist für Menschen ungereimt, zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die tJ

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Erzeugung eines Grashalmes nach Naturgesetzen, die eine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde" (I. Kant, Kritik der Urteilskraft, Leipzig 1902, S. 277) (Anm. d. Hcrausg.). 20 Gustav Bunge (1844-1920) war seit 1882 in Dorpat Dozent, seit 1885 Professor für Physiologie in Basel. In weiten Kreisen wurde er durch seinen Kampf gegen den Alkoholismus bekannt. Er ist Vertreter des Neovitalismus, den er auch in seinem Hauptwerk "Lehrbuch der physiologischen und phathologischen Chemie in einundzwanzig Vorlesungen für Ärzte und Studierende" (2. vermehrte und verb. Auft., Leipzig 1889)bekämpfte. Auf dieses Buch- seine erste Vorlesung ist überschrieben "Vitalismus und Mechanismus" bezieht sich hier E. du Bois-Reymond (Anm. d. Hcrausg.). 21 Albert Wigand (1821-1886) war ein Schüler Schleidensund später Professor der Botanik in Marburg. Er entfaltete eine umfangreiche publizistische Tätigkeit. In zahlreichen Schriften polemisierte er gegen den Darwinismus, den er mit seiner streng christlichen Auffassung nicht vereinbaren konnte. Er suchte dabei den Darwinismus vom Standpunkt des Naturwissenschaftlers zu bekämpfen. Sein Hauptwerk gegen den Darwinismus -er arbeitete daran 10 Jahre -war das 3 bändige Buch "Der Darwinismus und die Katurforschung Newton's und Cuvier's. Beiträge zur Methodik der Katurforschungund zur Speziesfrage" (1874-72). Außerdem veröiientlichte er zahlreiche, auch anonyme Artikel gegen den Darwinismus. Du Bois-Reymond meint hier wohl Wigands Hauptwerk gegen die Darwinismus (Anm. d. Herausg.). 22 Der nordamerikanische Paläontologe Ohmiel Charles Marsh (1831-1899) machte zahlreiche paläontologische Funde in den Rocky Mountains und beschrieb mehr als 400 neue fossile Arten. Zu seinen wichtigsten \\"erken gehören: "New Mosasauroid Reptiles" (1869); "New Fossil Birds from the Cretaceous and Tertiary of the United States" (1890); "American Jurassie Dinosauros" (1890); ,.Odontornithes Dinocerata" (1884) u. a. (Anm. d. Hcrausg.). 23 Zur marxistischen Einschätzung von August Weismann und Herbert Sperrcer vgl.: K. Gebhardt, August Weismann ein bedeutender Darwinist des 19. Jahrhunderts, in: Naturphilosophie - von der Spekulation zur Wissenschaft. Herausgeg. von H. Hörz, R. Löther, S. \Vollgast, Berlin 1969, S. 341-353; G. Pawelzig, H. Sperrcers Entwicklungsphilosophie und die Naturwissenschaften, in: ebenda, S. 291-303 (Anm. d. Herausg.).

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Auswahlliteratur zu Emil du Bois-Reymond

Die nachstehende Literatur beschränkt sich auf solche Arbeiten, die sich primär auf den Lebensweg E. du BoisReymonds sowie auf sein gesellschaftliches und philosophisches Schaffen beziehen. Zu den wissenschaftlichen Arbeiten des Gelehrten vgl.: Gesamtregister über die in den Schriften der Akademie von 1700-1899 erschienenen wissenschaftlichen Abhandlungen und Festreden. Bearb. von 0. Köhnke, Berlin 1900 (III. Band der Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin), S. 61-64. Damit wird allerdings nur ein Teil der fachwissenschaftlichen Publikationen des großen Naturwissenschaftlers und Materialisten erfaßt. Eine gewisse Zusammenstellung der wichtigsten fachlichen Arbeiten E. du Bois-Reymonds geben auch seine "Abhandlungen zur allgemeinen Muskel- und Nervenphysik", Bd. I, Leipzig 1875, Bd. II, Leipzig 1877. Diese beiden insgesamt 1151 Seiten umfassenden Bände enthalten Aufsätze, die vorher in verschiedenen Fachzeitschriften, z. T. auch in den Abhandlungen der Berliner Akademie, erschienen waren. Ansprache an Herrn Emil du Bois-Reymond zur Feier seines fünfzigjährigen Doctor-Jubiläumsam 11. Februar 1893. In: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der 24

Wollgast, Philosophie

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Wissenschaften zu Berlin, Jahrgang 1893, 1. Halbband, Berlin 1893, S. 93-97. Berger; •AÜred Freiherr von: Goethe's Faust urid die Grenzen des Naturerkennens. Wider Goethe und kein Ende von Emil du Bois-Reymond, Wien 1883. Bernstein, Julius: Emil du Bois-Reymond t. Nachruf. In: Naturwissenschaftliche Rundschau, herausgegeben von W. Sklarek, XII. Jahrg., Braunschweig 1897, S. 87-92. Bölsche, \Vilhelm: Die Grenzen des N aturerkennens. In: Reclams Universum. XXXV. Jahrg., H. 5, 31. Okt. 1918, S. 79-80. Borruttau, Heinrich: Emil du Bois-Reymond. Wien-LeipzigMünchen 1922 (Meister der Heilkunde, Band 3). Borrutau, Heinrich: Emil du Bois-Reymond als Physiologe und Historiker der Naturwissenschaft. In: Klinisch-therapeutische Wochenschrift, Bd. 26 (1919), ?\r. 5J6. Zwei große Naturforscher des 19. Jahrhunderts. Ein Briefwechsel zwischen Emil du Bois-Reymond und Kar! Ludwig. Herausgegeben von Estelle du Bois-Reymond. Vorwort, Anmerkungen und Register von Paul Diepgen, Leipzig 1927. Classen, Johannes: Vorlesungen über moderne Naturphilosophen. Zweite Vorlesung: Der wissenschaftliche Materialismus. Du Bois-Reymond. F. A. Lange, Harnburg 1908, S. 12-34. Cohn, Max: Emil du Bois-Reymond's Weltanschauung und die Entwicklung der Wissenschaft. In: Klinisch-therapeutische Wochenschrift, Bd. 26 (1919) Nr. 25/28, S. 216-220,234-239. Domin, Georg: Einige philosophiehistorische Fragen zu den theoretischen Auseinandersetzungen Emil du Bois-Reymonds. In: Naturwissenschaft - Tradition - Fortschritt. Beiheft zu NTM. - Zeitschrift für Geschichte der Naturwissenschaften, Technik und Medizin. Berlin 1963, S. 112118. Epstein, S. S.: Emil du Bois-Reymond (1818-1896). In: \Vestermanns Illustrierte Deutsche Monatshefte. Ein Familienbuch für das gesamte geistige Leben der Gegenwart. 82. Bd., 41. Jahrg., Braunschweig 1897, S. 303-319. Gadow, G.: Die Freiheit der Wissenschaft und Herr du BoisReymond. Eine zugleich an die Adresse des Herrn M ax :::ipangenbcrg, ehemaligen Vorsitzenden der "Freien wissenschaftlichen Vereinigung" a. d. Universität Berlin, gerichtete, aber nicht "im Auftrage" herausgegebene Betrachtung. Giessen 1883. .

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Groth; .Klaus: An Emil Dubois-Reymond. In: Klaus Groth's gesammelte Werke, Kiel-Leipzig 1904, S. 222. ·Haberling, \Vilhelm: Du Bois-Reymond in Paris 1850. In: Deutsche medizinische Wochenschrift. 52. Jahrg., 1926, Leipzig 1926, S. 251-252. Haeckel, Ernst: Freie \\iissenschaft und freie Lehre (1878), in: E. Haeckel, Gemeinverständliche ·werke, herausgeg. v. H. Schmidt-Jena, V. Band, Leipzig-Berlin 1924, Abschnitt: Ignorabimus et Restringamur (S. 274-290). Herneck, Friedrich: Emil du Bois-Reymond. In: Von Liebig zu Laue. Ethos und ·weltbild großer deutscher Naturforscher und Ärzte. Herausgegeben von 0. Finger und F. Herneck, 2. Aufl., Berlin 1963, S. 86-110. Herneck, Friedrich: Emil du Bois-Reymond 1818-1896. In: Lebensbilder deutscher Ärzte. Herausgegeben von E. Koch, H. Schüler, I. Winter, Leipzig 1964, 2., unveränderte Aufl., S. 71-76. Herneck, Friedrich: Emil du Bois-Reymond und die Grenzen der mechanistischen Naturauffassung. In: Forschen und Wirken. Festschrift zur 150-Jahr-Feier der HumboldtUniversität zu Berlin 1810-1960. Band I. Berlin 1960, S. 229-251. Hodenberg, Freiherr von: Voltaire und Friedrich II. Du BoisReymond und Droysen. Kein Widerspruch, sondern Fortschritt. 2., verb. Aufl., Altona 1871. lfa'hCTJm lfMepaTopcKofi AKap;eMHH HayK'h 1897 Bd. VI, Nr. 2, St. Petersburg 1897, S. V-VI (Nekrolog auf E. du BoisReymond). Jugendbriefe von Emil du Bois-Reymond an Eduard Hallmann, herausgeg. von Estelle du Bois-Reymond, Berlin 1918. Kalischer, S.: Goethe als Naturforscher und Herr du BoisReymond als sein Kritiker. Eine Antikritik, Berlin 1883. Kloppe, \Volfgang: Du Bois-Reymond und Goethe ( = Mensch, Natur und Wissenschaft, Bd. 1), Berlin (West) 1958. Kloppe, Wolfgang: Du Bois-Reymonds Rhetorik im Urteil einiger seiner Zeitgenossen, in: Deutsches Medizinisches Journal, Berlin (West) Bd. 9 (1958), Heft 2, S. 80-82. Kohut, Adolph: Emil du Bois-Reymond. In: Moderne Geisterheroen. Biographisch-kritische Charakterbilder und PorträtSkizzen aus der Gegenwart. Berlin 1886, S. 3-30. Kohut, Adolph: Emil du Bois-Reymond. In: \\l"estermanns Illustrierte Deutsche Monatshefte für das gesamte geistige Leben der Gegenwart. Bd. 57, Braunschweig 1885, S. 803819. 24*

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Lange, Friedrich Albert: Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. 2. Buch: Geschichte des Materialismus seit Kant. 2. Abschnitt: Die ~aturwissenschaften, Leipzig o. J., S. 185ff. Langwieser, Carl: Du Bois-Reymond's "Grenzen des Naturerkennens", Wien 1873. Lorenz, Ottokar: Die Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben kritisch erörtert. III. Abschnitt: Die naturwissenschaftliche Geschichte (du Bois-Reymond). Berlin 1886, S. 133-170. Metze, Erich: Emil du Bois-Reymond, sein \.Virken und seine Weltanschauung. 3. erweiterte .