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German Pages 276 Year 2001
ALEXANDER SCHAAL
Strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Gremienentscheidungen in Unternehmen
Strafrechtliche Abhandlungen . Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser em ord. Professor der Rechte an der Universität Hamburg
und Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensburg
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtsiehrem der deutschen Universitäten
Band 134
Strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Gremienentscheidungen in Unternehmen
Von
Alexander Schaal
Duncker & Humblot . Berlin
Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Ulrich Weber, Tübingen
Die Deutsche Bibliothek - C1P-Einheitsaufnahme
Schaal, Alexander: Strafrechtliche Verantwortlichkeit bei Gremienentscheidungen in Unternehmen I von Alexander Schaal. Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Strafrechtliche Abhandlungen; N .F., Bd. 134) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss., 1999 ISBN 3-428-10061-1
D21 Alle Rechte vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-10061-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend [SO 97069
Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Arbeit lag der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen im Sommersemester 1999 als Dissertation vor. Sehr herzlich bedanke ich mich bei meinem Doktorvater Prof. Dr. Ulrich Weber für die wohlwollende Betreuung der Arbeit und die vielfältige Förderung, die ich während meiner Tätigkeit an seinem Lehrstuhl erfahren habe. Darüber hinaus danke ich Herrn Prof. Dr. Fritjof Haft für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Herrn Prof. Dr. Eberhard Schmidhäuser und Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. FriedrichChristi an Schroeder danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Schriftenreihe. Besonderen Dank schulde ich meinen früheren Kollegen an der juristischen Fakultät der Universität Tübingen, die in zahlreichen fruchtbaren, oft auch kontroversen Gesprächen zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben. Besonders hervorheben möchte ich meine Lehrstuhlkollegen Dr. Jörg EiseIe und Privatdozent Dr. Bernd Heinrich, sowie die gegenwärtigen und ehemaligen Assistenten "benachbarter Lehrstühle", die Herren Dr. Karsten Altenhain, Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf und Prof. Dr. Joachim Renzikowski. Des weiteren danke ich unserer Lehrstuhlsekretärin Frau Heidi Alexi für Ihre Unterstützung. Meinen Freunden, die ich hier nicht alle nennen kann und in unvollständiger Aufzählung nicht nennen will, danke ich abgesehen vom Korrekturlesen vor allem für die moralische Unterstützung und die Geduld beim Zuhören. Kirchheim unter Teck, im Oktober 2000
Alexander Schaal
Inhaltsverzeichnis Einführung ...........................................................................
15
Teil A: Die KausaIitätsproblematik bei der Gremienentscheidung .................
22
I. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens eines Gremiumsmitglieds bei aktivem Tun. . . .
22
1. Lösung nach der Äquivalenztheorie in Verbindung mit der conditio-sine-quanon-Formel ....................................................................
22
a) Der Erfolg in seiner konkreten Gestalt als Bezugspunkt der Kausalitätsprüfung ...................................... ............ ..................
24
b) Die conditio-sine-qua-non-Formel und das Problem der Reserveursachen ...
30
c) Das Vorliegen von Doppelkausalität I alternativer Kausalität ................
31
aa) Lösung der "Standardfälle" alternativer Kausalität. . . . ... . . . . . .. . . . . . . . .
33
(I) Ansatz von Traeger ................................................
33
(2) Ansatz von Tarnowski ..............................................
35
(3) Der Ansatz von Traeger und Tarnowski und die Lehre vom Erfolg in seiner konkreten Gestalt .........................................
37
(4) Die differenzierende Lösung der Alternativfälle von Spendei.......
39
bb) Übertragung der bisherigen Überlegungen auf die Gremiumskonstellation ....................................................................
42
(I) Ansatz von Spendel ................................................
42
(2) Ansatz von Traeger und Tarnowski .................................
44
2. Lösung nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung .....................
46
a) Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung. Der Versuch, die Unzulänglichkeiten der conditio-sine-qua-non-Formel zu beheben. . . . . .. . . . . . . . . . ... .
46
aa) Die Kritik an der conditio-sine-qua-non-Formel ........................
46
bb) Die Feststellung der Kausalität nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung .............................................................
49
b) Anwendung der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung auf die Gremiumsproblematik ................................................................
52
aa) Ansatz von Engisch ....................................................
53
bb) Die Konzeption von Puppe .............................................
54
10
Inhaltsverzeichnis 3. Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse ...................... . ...........
60
4. Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung als zutreffende Beschreibung des strafrechtlichen Kausalzusammenhangs? .......................................
63
a) Anwendbarkeit der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung in Bereichen, in denen detaillierte deterministische Gesetzmäßigkeiten bekannt sind ......
63
b) Anwendbarkeit der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung in Bereichen, in denen ausformulierte al1gemeine Gesetze noch nicht bekannt sind. . . . . . . .
66
c) Anwendbarkeit der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung in Bereichen, in denen nur probabilistische Gesetzmäßigkeiten formuliert werden können
69
d) Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung und psychische Kausalität ....
73
e) Die Lösung von Beweisproblemen nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung und der conditio-sine-qua-non-Formel ..........................
77
aal Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
bb) Die conditio-sine-qua-non.Formel ......................................
81
f) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
5. Auswirkung der bisher gefundenen Ergebnisse auf die Lösung des Gremiumsproblems ......................................................................
91
a) Alternativfäl1e, bei denen zwei oder mehrere Personen unabhängig voneinander Bedingungen setzen, die geeignet sind, den Erfolg herbeizuführen ... .
92
b) Übertragung des Ergebnisses auf die Gremiumssituation ....................
96
11. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens eines Gremiumsmitglieds bei Unterlassen ....
99
1. Die Kausalität des Unterlassens ... . ............................................ 102 2. Anwendung der abgewandelten conditio-sine-qua-non-Forme1 auf das Unterlassen im Gremium - Darstel1ung der Problematik ............................. 105 3. Die Lösung des Bundesgerichtshofes in der Lederspray-Entscheidung .......... 107 a) Der zugrundeliegende Sachverhalt......................... . ................ 107 b) Die Argumentation des Bundesgerichtshofes ............................... 108 cl Kritik ...................................................................... 109 aal Kumulative Kausalität des Unterlassens? ............................... 11 0 bb) Mehrfachkausalität (alternative Kausalität) des Unterlassens? ........... 114 4. Lösung nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung (ohne Rückgriff auf die modifizierte conditio-sine-qua-non-Formel) ................................ 118 a) Unterlassenskausalität wegen Verantwortlichkeit für das Fehlen einer "negativen Bedingung" des Erfolges? ............................................ 119
Inhaltsverzeichnis b) Kritik
11
121
aa) Kausalität bei hinreichenden Bedingungen? ............................ 121 bb) Anwendung der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung auf das Unterlassen .................................................................. 122 5. Die Sonderbehandlung von Rettungsgeschehen unter Beteiligung Dritter....... 125 a) Der Zusammenhang zwischen kumulativer Kausalität von Unterlassungen und drittvermitteltem Rettungsgeschehen ................................... 125 b) Die Ansicht von Puppe..................................................... 127 c) Der von Kahlo vorgeschlagene Lösungsweg ................................ 128 d) Kritik ........................................................ . ............. 129 6. Unterlassenskausalität und Garantenpflicht .................................... 133 7. Die Risikoerhöhungslehre als Zurechnungsgrundlage beim unechten Unterlassungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 137 a) Die Entwicklung der Risikoerhöhungslehre im Zusammenhang mit dem sogenannten Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen (Begehungs-)Erfolgsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 b) Die Übertragung des Risikoerhöhungsgedankens auf das Unterlassungsdelikt ....................................................................... 140 c) Die Anwendung der Risikoerhöhungslehre auf die Gremiumskonstellation. Ex ante- und ex post-Betrachtung........................................... 143 aa) Die Bestimmung der Risikoerhöhung ex ante ........................... 145 bb) Die Bestimmung der Risikoerhöhung ex post ........................... 146 d) Die Integration der Risikoerhöhungslehre in das wissenschaftstheoretische Kausalitätsmodell - Risikoerhöhung als Subsumption unter probabilistische Gesetzmäßigkeiten ......................................................... 148 aa) Anwendungsbereich der Risikoerhöhungslehre beim Unterlassungsdelikt 150 (1) Wahrscheinlichkeitsaussagen bei lückenhaften Sachverhaltsfeststel-
lungen ............................................................. 150 (2) Wahrscheinlichkeitsaussagen bei Vorgängen, über die deterministische Zusammenhänge nicht bekannt sind........................... 151 bb) Abgrenzbarkeit von Bereichen, in denen prinzipiell nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind ............... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 152 cc) Der Risikoerhöhungsgedanke als adäquate Lösung von Zurechnungsfragen .................................................................. 155 (1) Das Arbeiten mit probabilistischen Zusammenhängen beim Bege-
hungsdelikt ........................................................ 156 (2) Die Anwendung probabilistischer Gesetzmäßigkeiten beim Unterlassensdelikt ....................................................... 158
12
Inhaltsverzeichnis dd) Folgerungen aus den bisher gefundenen Erkenntnissen: Die Ablehnung der Risikoerhöhungslehre .............................................. 159 8. Zusammenfassung und Ergebnis............................................... 161
Teil B: Mittäterschaftliche Zurechnung des EinzelverhaItens im Gremium........ 164 I. Problemstellung: Mittäterschaftliche Zurechnung zur Lösung der Schwierigkeiten
bei der Einzelverantwortlichkeit der Gremiumsmitglieder für die Folgen ihres Verhaltens im Gremium .............................................................. 164 I. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des einzelnen Gremiumsmitglieds für sein Verhalten im Gremium - Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse.... 164 2. Begründung weitergehender strafrechtlicher Verantwortlichkeit durch mittäterschaftliche Zurechnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 167 3. Differenzierte Behandlung der Mittäterschaftsfragen nach Vorsatz I Fahrlässigkeit sowie BegehungsdeliktlUnterlassungsdelikt .............................. 167 11. Mittäterschaftliches Zusammenwirken bei vorsätzlichem Verhalten der Gremiumsmitglieder ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
1. Mittäterschaft bei aktivem Tun................................................. 169 a) Problemdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 b) Ist Kausalität des einzelnen Beteiligten Voraussetzung für das Vorliegen von Mittäterschaft? ............................................................. 173 aa) Die Ausführungshandlung des Mittäters als Anknüpfungspunkt seiner Ursächlichkeit für den Erfolg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 174 (I) Die Fälle additiver Mittäterschaft .................................. 175 (2) Die Fälle alternativer Mittäterschaft ................................ 177 (3) Arbeitsteilige Verwirklichung zusammengesetzter Delikte. . . . . . . . .. 177 bb) Die psychische Kausalität des Mittäters für die Mitwirkung des Tatgenossen als Anknüpfungspunkt des Kausalerfordernisses bei mittäterschaftlichem Handeln .................................................. 178 (I) Fälle fraglicher psychischer Kausalität bei additiver Mittäterschaft 180 (2) Die sukzessive Mittäterschaft ...................................... 180 (3) Die sogenannte "parallele Mittäterschaft" .......................... 182 (4) Dogmatische Einwände gegen das Erfordernis psychischer Kausalität des Mittäters für das Verhalten seiner Komplizen .............. 184 c) Lösungsansätze zur Begründung der additiven Mittäterschaft ... . ........... 186 aa) Die Ansicht Herzbergs ................................................. 186 bb) Der Ansatz Roxins ..................................................... 188
Inhaltsverzeichnis ce) Der Ansatz Gössels
13 189
dd) Der Ansatz Denckers ................................................... 190 ee) Zusammenfassung ..................................................... 191 d) Die Lösung der Gremiumssachverhalte .................. . .......... . ....... 192 aa) Fälle abgesprochenen Abstimmungsverhaltens ....................... . . 192 bb) Fälle nicht im Vorfeld abgesprochenen Abstimmungsverhaltens ........ 193 e) Die Bewältigung der Mehrheitsentscheidung durch den Bundesgerichtshof in der Lederspray-Entscheidung ............................................ 196 2. Mittäterschaft bei Unterlassen ................................................. 20 I a) Die bei den Grundkonstellationen der Mittäterschaft beim Unterlassungsdelikt ....................................................................... 201 aa) Mittäterschaft von mehreren Garanten, die alleine zur Erfolgsabwendung in der Lage wären ................................................ 201 bb) Mittäterschaft von Garanten, die nur durch gemeinschaftliches Handeln zur Erfolgsabwendung in der Lage sind. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 202 (I) Die Begründung des BGH ............................. . ............ 203
(2) Pflichtdeliktslehre ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 204 (3) Tatherrschaftsgesichtspunkte ................... . ................... 206 b) Kausalität als Voraussetzung der Mittäterschaft? ............................ 207
III. Mittäterschaftliches Zusammenwirken bei fahrlässigem Verhalten der Gremiumsmitglieder .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . .. . . .. 209 1. Mittäterschaft bei fahrlässigem aktiven Tun.................................... 210
a) Die Ablehnung der Mittäterschaft durch die h.M. ........................... 210 aa) Das Argument, fahrlässige Mittäterschaft sei im Fahrlässigkeitsbereich wegen des Einheitstäterprinzips überflüssig ............................ 210 bb) Das Argument, Mittäterschaft erfordere einen gemeinsamen Tatplan und damit Vorsatz...................................................... 211 b) Die Möglichkeiten Mittäterschaft im Fahrlässigkeitsbereich konstruktiv zu begründen .................................................................. 213 aa) Die Zurechnung durch das Prinzip "Gesamttat" - Die Ansicht Denckers
213
bb) Der von Struensee vertretene subjektive Tatbestand des Fahrlässigkeitdelikts als Anknüpfungspunkt für die Begründung von Mittäterschaft... 215 ce) Die von 0110 vertretene Ansicht zur Begründung fahrlässiger Mittäterschaft .................................................................. 218 dd) Die Begründung fahrlässiger Mittäterschaft mit der Pflichtdeliktslehre Die Ansicht Roxins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 220
14
Inhaltsverzeichnis c) Die sachliche Berechtigung mittäterschaftlicher Zurechnung im Fahrlässigkeitsbereich ................................................................ 221 aa) Mittäterschaft nur bei auf den Erfolg gerichtetem Verhalten? ........... 221 bb) Das Problem der uferlosen Haftungsausdehnung durch fahrlässige Mittäterschaft ...... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 223 cc) Die Gremiumskonstellation im besonderen............................. 228 d) Gesetzliche Anhaltspunkte einer mittäterschaftlichen Verantwortlichkeit für einen fahrlässig herbeigeführten Erfolg ..................................... 229 aa) Mittäterschaft beim erfolgsqualifizierten Delikt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 229 bb) Mittäterschaft bei den "eigentlichen" Vorsatz-Fahrlässigkeitskombinationen .................................................................. 236 cc) Die Übertragbarkeit der beim erfolgsqualifizierten Delikt und bei der Vorsatz-Fahrlässigkeitskombination vorgefundenen Grundsätze auf das fahrlässige Erfolgsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 239 e) Die Lösung der Gremiumsproblematik mit der Figur der fahrlässigen Mittäterschaft .................................................................. 242 aa) Anwendung der herausgearbeiteten Lösungsmöglichkeiten auf die Gremiumskonstellation .................................................... 242 bb) Argumente für fahrlässige Mittäterschaft in der Lederspray-Entscheidung des Bundesgerichtshofs ........................................... 244 2. Mittäterschaft bei fahrlässigem Unterlassen.................................... 248 a) Die gemeinsame Untätigkeit aufgrund eines Unterlassungsbeschlusses ...... 248 b) Untätigkeit der Mitglieder eines Gremiums, ohne daß es zu einem Gremi ums beschluß kommt ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 250 aa) Die praktische Relevanz der nicht ausdrücklich abgesprochenen Untätigkeit von Gremiumsmitgliedern ..................................... 252 bb) Begründung mittäterschaftlicher Haftung, die nicht von der Absprache der Gremiumsmitglieder abhängt ....................................... 253 (l) Die rein "normative Begründung" der Mittäterschaft ............... 253
(2) Begründung mittäterschaftlicher Zurechnung durch die Annahme einer besonderen gemeinschaftlichen Garantenpflicht .............. 255 (3) Begründung der Gemeinschaftlichkeit durch die Besonderheiten der Aufgabenwahmehmung in Gremien ................................ 256 Zusammenfassung und Ergebnis ......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 259 Literaturverzeichnis ...................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 264 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 273
Einführung In der vorliegenden Abhandlung soll untersucht werden, unter welchen Voraussetzungen einem einzelnen ein Erfolg zugerechnet werden kann, der letztlich auf dem Gesamtverhalten eines aus mehreren gleichberechtigten Mitgliedern bestehenden Kollektivorgans (Gremium) beruht. Hierbei stellen sich der Strafrechtsdogmatik besondere Probleme, da das Strafrecht herkömmlich die Frage zu beurteilen hat, wann einer einzelnen Person ein Erfolg als ihr rechtswidrig und schuldhaft verursachtes Werk zuzurechnen ist!. Der vom Gesetz vorausgesetzte "Normalfall" strafbaren Verhaltens ist die Tatbestandsverwirklichung durch den Einzeltäter, was durch die sprachliche Fassung (Singular) der Tatbestände des BT zum Ausdruck kommt. Das Zusammenwirken mehrerer Personen wird vom Gesetz durch besondere Beteiligungsvorschriften (§§ 25 ff. StGB) geregelt. Bei arbeitsteiligern Zusammenwirken gleichrangiger Tatbeteiligter, wie es bei Gremiumsentscheidungen typischerweise vorliegt, kommt vor allem Mittäterschaft nach § 25 II StGB in Betracht. Die Rechtsfigur der Mittäterschaft ist aber nach h.M. 2 nur bei Vorsatzdelikten, nicht aber bei Fahrlässigkeitsdelikten anwendbar und ist für solche Fälle entwickelt, in denen sich mehrere Personen gezielt zur Begehung einer Straftat zusammenschließen. Als problematisch erweist sich die Anwendung mittäterschaftlicher Regeln auf Formen arbeitsteiligen Zusammenwirkens dort, wo die Arbeitsteilung nicht im Hinblick auf die Erreichung eines strafrechtlich relevanten Erfolges hergestellt wird, sondern bereits für normale alltägliche Entscheidungsfindungen eingerichtet ist. Solche arbeitsteiligen Strukturen der Entscheidungsfindung durch Gremien mit gleichgeordneten Mitgliedern, die Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip treffen, finden sich durchaus nicht selten 3 . Als Beispiele mögen Gemeinderäte 4 ,
1 Zu den grundsätzlichen Problemen der Anwendung des Strafrechts mit seiner auf den "Individual täter" zugeschnittenen Dogmatik auf menschliches Verhalten innerhalb komplexer Organisationen vgl. Heine, Günter, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Unternehmen, 1995, insbes. S. 27 ff. 2 Vgl. S/S/Cramer, Vor § 25 Rn. 112ff.; LK-Roxin, § 25 Rn. 217ff.; Lackner/Kühl, Vor § 25 Rn. 2; Tröndle, § 25 Rn. 5a, jeweils m. w. N. 3 Vgl. dazu Franke, Blau-FS 1985,227. 4 Vgl. dazu Scholl, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 208 ff.; Nappert, Strafrechtliche Haftung, S. 49 ff.
16
Einführung
Kollegialgerichte 5 , Redakteurskollektive im Pressebereich6 oder Geschäftsführungsgremien in Unternehmen 7 dienen. Typisch für die Konstellation der Gremienentscheidung ist, daß hier mehrere Personen mit organisatorisch beschränkter Wirkungsmacht nach bestimmten Regeln (Mehrheitsprinzip) einen Beschluß fassen, der dann durch nachgeordnete Organe umgesetzt wird und auf diese Weise zu bestimmten Folgen, auch strafrechtlich erheblichen Erfolgen, führen kann. Fraglich ist nun, wann und unter welchen Voraussetzungen das einzelne Gremiumsmitglied für die Folgen eines Beschlusses einzustehen hat, der unter seiner Mitwirkung oder während seiner Mitgliedschaft im Gremium zustande gekommen ist. Entsprechend stellt sich das parallel gelagerte Problem im Bereich der Unterlassungsdelikte, wenn das Gremium einer Pflicht zur Verhinderung nachteiliger Erfolge nicht durch Herbeiführung einer erfolgsabwendenden Entscheidung nachgekommen ist. Die hier angesprochene Fragestellung stellt ein zentrales Problem der sog. Lederspray-Entscheidung des Bundesgerichtshofes 8 dar. Dieser Entscheidung lag verkürzt folgender Sachverhalt zugrunde: Eine GmbH befaßte sich unter anderem mit der Herstellung von Schuh- und Lederpflegeartikeln, zu denen auch in Treibgasdosen abgefüllte Ledersprays gehörten. Diese Ledersprays wurden über zwei Tochtergesellschaften vertrieben. Im Spätherbst 1980 häuften sich Schadensmeldungen im Anschluß an die Benutzung der Ledersprays. Die betroffenen Verbraucher klagten über Husten, Übelkeit, Schüttelfrost und Fieber. Vielfach mußten sie sich in ambulante oder stationäre medizinische Behandlung begeben. Teilweise war sogar eine intensivmedizinische Behandlung erforderlich. Die Betroffenen litten unter Wasseransammlungen in den Lungen (sog. Lungenödeme). Firmeninterne Untersuchungen ergaben keinen Fabrikationsfehler, aber trotz Änderungen an der Rezeptur setzten sich die Schadensmeldungen Anfang des Jahres 1981 fort. 5 Vgl. dazu Binding, GS 1904, 1 ff. (l7f.); Dencker, Kausalität, S. 182ff.; LK-Spendel, § 336 Rn. 109f.; Seebode, Rechtsbeugung, S. 113 f. 6 Dazu Franke, JZ 1982,579. 7 Dazu Neudecker, Kollegialorgane, S. 193 ff.; Weißer, Kollegialentscheidungen, S. 162 ff. 8 BGHSt37, 106=NJW 1990,2560=StV 1990, 446 =JuS 1991,253=MDR 1990,1025= NStZ 1990, 588 = wistra 1990, 342. Die Entscheidung kann wohl als Grundsatzentscheidung zum "Unternehmens- und Produkthaftungsstrafrecht" angesehen werden, wie auch das umfangreiche Echo im Schrifttum belegt. Vgl. zu dieser Entscheidung: Kuhlen, NStZ 1990,566; Schmidt- Salzer, NJW 1990,2966; Samson, StV 1991, 182; Brammsen, Jura 1991,533; Puppe, JZ 1992, 30; Beulke / Bachmann, JuS 1992, 737; Meier, NJW 1992, 3193; Hilgendorf, NStZ 1994,561; Deutscher/Körner, wistra 1996,292 und 327; Amelung, Der Bundesgerichtshof als "Gesetzgeber", S. 65 ff.; Eidam, Straftäter Unternehmen, S. 1 ff., sowie die in Fn. 7 genannten.
Einführung
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Am 12. Mai 1981 fand eine Sondersitzung der Geschäftsführung statt, deren einzigen Gegenstand die Schadensfalle im Zusammenhang mit der Benutzung der Ledersprays bildeten. Hierbei wurde beschlossen, Warnhinweise auf den Dosen anzubringen und eine externe Institution mit weiteren Untersuchungen zu beauftragen. Einigkeit bestand darüber, daß ein Vertriebsstop, eine Rückruf- oder auch Wamaktion nur in Betracht zu ziehen sei, wenn die ausstehenden Untersuchungen einen "echten Produktfehler" oder ein "nachweisbares Verbraucherrisiko" ergeben sollten. Erst im September 1983 wurde auf Intervention der Gesundheitsbehörden die Produktion eingestellt und eine Rückrufaktion gestartet. Die Geschäftsführer wurden in den Fällen, die vor der Sondersitzung am 12. Mai 1981 aufgetreten waren, wegen fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen verurteilt. In den danach aufgetreten Fällen wurden sie wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt, und zwar soweit die schadensursächlichen Sprays schon im Handel, aber noch rückrufbar waren, unter dem Gesichtspunkt des Unterlassens, soweit die Sprays nach der Geschäftsführersitzung erst ausgeliefert wurden, wegen aktiven Tuns. Diese Entscheidung wirft eine ganze Reihe von Problemen auf. Im Rahmen dieser Abhandlung interessieren aber allein die Fragen der Erfolgszurechnung, die durch die Besonderheiten der Gremienentscheidung aufgeworfen werden: Wann muß ein einzelnes Gremiumsmitglied für die Folgen des "Gesamtverhaltens" (Mehrheitsbeschluß) des Gremiums einstehen? Insoweit ist darauf hinzuweisen, daß nach der firmeninternen Aufgabenverteilung das Geschäftsführungsgremium der Muttergesellschaft insgesamt, also ohne Rücksicht auf Ressortverteilungen, sowohl für eine etwaige Rückrufaktion als auch für den weiteren Vertrieb zuständig war 10. Damit lag die Konstellation einer "echten Gremienentscheidung" vor, bei der die Gremiumsmitglieder nur gemeinsam nach den im Gremium zur Entscheidungsfindung dienenden Regelungen (Mehrheitsprinzip) handeln konnten. Entgegen den Ausführungen des Landgerichts betont der BGH II , daß die allen Geschäftsführern gemeinsam obliegende Rückrufsverptlichtung von der Handlungsptlicht des einzelnen Geschäftsführers zu unterscheiden sei. Da innerhalb einer GmbH mit mehreren Geschäftsführern Gesamtgeschäftsführung bestehe, könne der einzelne Geschäftsführer Entscheidungen, die in die Verantwortung der Geschäftsführung insgesamt gestellt sind, nicht alleine treffen. Deshalb war der einzelne Geschäftsführer nur dazu verpflichtet, unter vollem Einsatz seiner Mitwirkungsrechte das ihm Mögliche und ZumutVgl. dazu die Literaturnachweise in Fn. 8. BGHSt 37, 106 (123 ff.): "All zuständigkeit" des GeschäftsIeitungsgremiums in Krisensituationen. Zu der Bedeutung dieser Entscheidung für die Verantwortungszuschreibung in arbeitsteilig organisierten Unternehmen vgl. Schmidt-Salzer. NJW 1990,2966; Eidam. Unternehmen und Strafe, S. 152 ff. (164 ff.); Neudecker. Kollegialorgane, S. 33 ff.; Weißer. Kollegialentscheidungen, S. 70 ff. II BGHSt 37, 106 (125 f.). Anders LG Mainz in Schmidt-Salzer. Produkthaftung Strafrecht, IY.3.22., S. 31 f. 9
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Einführung
bare zu tun, um einen Beschluß der Gesamtgeschäftsführung über Anordnung und Vollzug des gebotenen Rückrufs zustandezubringen 12. Dabei soll im folgenden davon ausgegangen werden, daß die übrigen Strafbarkeitsvoraussetzungen entsprechend den Ausführungen in der genannten Entscheidung gegeben waren. Dies sind im einzelnen die Kausalität zwischen der Verwendung des Ledersprays und den aufgetretenen Gesundheitsschäden 13 , die GarantensteIlung der Geschäftsführer des Unternehmens aus vorangegangenem Gefährdungsverhalten mit der Pflicht zum Rückruf bereits ausgelieferter Ledersprays 14 sowie in den Fällen der Unterlassungsstrafbarkeit die (Quasi-)Kausalität zwischen nicht erfolgtem Rückruf und Verwendung der Sprays durch die Verbraucher l5 . Unter diesen Prämissen konzentriert sich die Untersuchung auf die Fragestellung, inwiefern die einzelnen Mitglieder des Geschäftsführergremiums für den Beschluß des Gremiums vom 12. Mai 1981 sowie für dessen Untätigkeit in der Zeit davor einzustehen haben. Der BGH unterscheidet zwischen den Schadensfällen vor und nach der genannten Krisensitzung. Nach diesem Zeitpunkt nimmt er (bedingt) vorsätzliches Handeln (nach §§ 223, 224 (= § 223a a.F.) StGB) der Geschäftsführer an 16, davor nur Fahrlässigkeit. Im Bereich vorsätzlicher Begehungsweise unterscheidet er zwischen den Fällen, in denen die Ledersprays nach der Sitzung vom 12. Mai 1981 ausgeliefert wurden - aktives Tun - und den Fällen, in denen bereits ausgelieferte Sprays zu diesem Zeitpunkt noch hätten mit Erfolg zurückgerufen werden können _ Unterlassen 17. Soweit Schadensfälle auf den Gebrauch früher ausgelieferter, am 12. Mai 1981 nicht mehr rückrufbarer Produkte beruhten, nahm der BGH in 4 Fällen fahrlässiges Unterlassen an 18. 12 Entsprechend gilt wohl für den Fall aktiven Tuns, den Weitervertrieb von Ledersprays aufgrund des Beschlusses vom 12. Mai 1981, daß eine Verantwortlichkeit der Geschäftsführer nur insoweit in Betracht kommt, wie der Erfolg auf ihren Beitrag zu der Gremiumsentscheidung zurückzuführen ist. A.A. OLG Stuttgart NStZ 1981, 27 für die Entscheidung eines Redakteurskollektivs. Vgl. zur Individualisierung der Rückrufpflicht der Geschäftsleitung Schmidt- Salzer, NJW 1990, 2966 (2969 ff.); Beulke / Bachmann, JuS 1992,737 (741). 13 BGHSt 37, 106 (111 ff.). Hier handelt es sich um ein Problem der "generellen Kausalität". Es stellt sich die Frage, wie und mit welcher Sicherheit (natur-)gesetzmäßige Zusammenhänge, die einem strafrechtlichen Kausalurteil zugrundegelegt werden sollen, festzustellen sind. Vgl. dazu Puppe, JR 1992,30; BeulkeiBachmann, JuS 1992,737 (738); Kuhlen, NStZ 1990,566; Samson, StV 1991, 182 (183); Deutscher/Körner, wistra 1996,292 (295). 14 BGHSt 37, 106 (l14ff.). Vgl dazu Beulke/Bachmann, luS 1992,737 (739); Samson, StV 1991, 182 (184); Meier, NlW 1992, 1393 (1396); Kuhlen, NlW 1990,566 (567); Deutscher/ Körner, wistra 1996,292 (299 ff.). 15 BGHSt 37, 107 (l27f.). Vgl. dazu Kuhlen, NStZ 1990,566 (569); Puppe, lR 1992,30 (31 ). 16 BGHSt 37, 106 (110). 17 BGHSt 37,106 (114). 18 BGHSt 37,106 (114).
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Für die Lösung des Problems der Erfolgszurechnung innerhalb des Gremiums beschritt der BGH für den Bereich von Vorsatz und Fahrlässigkeit unterschiedliche Wege. Da den Geschäftsführern Erfolgsdelikte (§§ 223, 224 (223a a.F.); 229 (230 a.F.) StGB) zur Last gelegt wurden, wäre es naheliegend gewesen, zunächst in allen Fällen die Frage der Kausalität zwischen dem Verhalten der Geschäftsführer und dem "Gesamtverhalten" des Gremiums aufzuwerfen, durch weIches die strafrechtlichen Enderfolge (Gesundheitsbeeinträchtigungen) kausal bedingt waren. Denn wenn das Gremium als Ganzes den Rückruf beschlossen und den Weitervertrieb gestoppt hätte, wären alle Verletzungserfolge vermieden worden. Demgegenüber stellt der BGH in den Fällen der gefahrlichen Körperverletzung (vorsätzliche Begehungsweise) die Verursachungsfrage hinsichtlich der EinzeIpersonen gar nicht, sondern prüft, ob die Geschäftsführer Mittäter sind und ihnen somit ihr Verhalten in der Sitzung vom 12. Mai 1981 wechselseitig zuzurechen ist. Da diese Frage bejaht wird, hält er die Feststellung der Einzelkausalität für entbehrlich; die Geschäftsführer haften als Mittäter für ihr gemeinschaftliches Verhalten, d. h. für das Gremiumsverhalten insgesamt und die dadurch verursachten Erfolge 19 • Die Lösung des BGH über die Figur der Mittäterschaft ist jedoch nicht unumstritten. Zum einen wird gegen sie vorgebracht, daß Mittäterschaft Kausalität voraussetze 20 • Zum zweiten wird bezweifelt, daß überhaupt Mittäterschaft zwischen den Geschäftsführern vorliegt. Das Unterlassen einer gebotenen mittäterschaftlichen Rettungsaktion begründe noch nicht die Mittäterschaft des Unterlassens 21 . Erst bei der Prüfung fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen stellt sich dem BGH die Kausalitätsfrage in bezug auf das Verhalten der einzelnen Geschäftsführer, da bei der fahrlässigen Tat nach h.M. keine mittäterschaftliche Zurechnung möglich ist. Der BGH gelangt zu dem Ergebnis, daß die Beiträge der Geschäftsführer (Unterlassungen) jeweils im Zusammenwirken mit den Beiträgen der anderen ursächlich gewesen seien. Er sieht insoweit eine Parallele zu den Fällen kumulativer Kausalität bei den Begehungsdelikten. Dort sei Kausalität auch dann gegeben, wenn mehrere Beteiligte unabhängig voneinander den Erfolg erst durch die Gesamtheit ihrer Tatbeiträge herbeiführten. Diesen Ansatz könne man auf den Fall des Unterlassens übertragen. Wenn eine schadensabwendende Maßnahme nur durch das Zusammenwirken mehrerer zustande kommen könne, werde jeder ursächlich, der seinen Beitrag hierzu nicht leiste. Der einzelne könne sich nicht damit entlasten, daß sein Bemühen, die gebotene Kollegialentscheidung herbeizuführen, am Widerstand der 19 BGHSt 37,106 (128 ff.). Zustimmend Kuhlen, NStZ 1990,566 (570); Hilgendorf, NStZ 1994, 561 (563); Schumann, StV 1994, 106 (110); Beulke/Bachmann, JuS 1992, 737 (742 f.); Weißer, JZ 1998, 230 ( 237 f.). Dazu ausführlich unten Teil B. 20 So Puppe, JR 1992,30 (32); Samson, StV 1991, 182 (184). Dazu unten Teil B 11.1. b). 21 So Samson, StV 1991, 182 (184).
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anderen gescheitert wäre. Nur dieses Ergebnis werde der gemeinsamen und gleichstufigen Verantwortung der Geschäftsführer gerecht, da sich ansonsten jeder mit der ebenso pflichtwidrigen Untätigkeit der anderen freizeichnen könnte. Daß dies nicht rechtens sein könne, liege auf der Hand 22 . Diese Begründung des BGH steht in einem Spannungsverhältnis zu der von ihm selbst für die Ursächlichkeit von Unterlassungen aufgestellten Kausalitätsformel 23 . Danach liegt Ursächlichkeit bei den Unterlassungsdelikten dann vor, wenn bei Vornahme der pflichtgemäßen Handlung der tatbestandsmäßige Schadenserfolg ausgeblieben wäre, dieser also entfiele, wenn jene hinzugedacht würde. Wendet man diesen Maßstab im vorliegenden Fall auf das gleichgerichtete Verhalten der Geschäftsführer an, so müßte die Kausalität verneint werden, da bei Hinzudenken des gebotenen Verhaltens des einzelnen immer noch ein ,.Mehrheitsverhältnis" von 3: 1 gegen den Rückruf bestanden hätte, der gebotene Rückruf also nicht zustande gekommen wäre. Es liegt auch kein Sonderproblem des Unterlassungsdelikts vor, da dieselbe Problematik auch beim Begehungsdelikt auftritt. Beschließen vier Geschäftsführer, das gefährliche Lederspray weiterzuvertreiben, so führt die Prüfung der Kausalität nach der von der Rechtsprechung verwendeten conditio-sine-qua-non-Formel ebenfalls zu einem negativen Ergebnis, wenn der Beschluß mit 4:0 Stimmen erfolgt. Jede Einzelstimme kann bei im übrigen gleichen Bedingungen hinweggedacht werden, ohne daß die Mehrheit für den Beschluß entfällt und die daraus resultierenden Erfolge durch den Vertrieb des schädlichen Produkts eintreten. Im Fall des positiven Tuns liegt folglich kein Fall kumulativer Kausalität vor. Kumulative Kausalität ist dann gegeben, wenn die Tatbeiträge mehrerer Beteiligter erst in ihrer Gesamtheit einen Erfolg verursachen. Fälle der kumulativen Kausalität lassen sich mit der conditio-sine-qua-non-Formel problemlos lösen. Denn wenn man den Teilbeitrag eines der kumulativ handelnden Täter hinwegdenkt, reichen die übrigen Beiträge zur Erfolgsverwirklichung nicht mehr aus. Dies ist bei Gremienentscheidungen nur der Fall, wenn die Mehrheit für ein bestimmtes Verhalten gerade mit der mindestens erforderlichen Stimmenzahl zustande kommt, wenn also beispielsweise in einem aus drei Personen bestehenden Gremium eine Entscheidung mit 2: 1 Stimmen gefällt wird. Liegt aber ein Fall kumulativer Kausalität bei einer größeren als der erforderlichen Mehrheit im Falle des aktiven Tuns nicht vor, so kann diese Konstruktion auch nicht auf den entsprechenden Fall des Unterlassens übertragen werden 24 . SGHSt 37,106 (132). Zustimmend SISILenckner; Vor § 13 Rn. 83a m. w. N. Conditio-sine-qua-non-Formel in der Fassung für das Unterlassungsde1ikt ("Hinzudenken" im Unterschied zum "Wegdenken"). Vgl. SGHSt 37, 106 (126). Dazu Meier; NJW 1992, 3193 (3197). Dazu ausführlich unten Teil A 11. I. 24 So auch Puppe. JR 1992.30 (32); Kuhlen. NStZ 1990.566 (570); BeulkelBachmann. JuS 1992,737 (743); Samson. StV 1991,182 (185); Meier. NJW 1992.3193 (3197). 22
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Obwohl der BGH mit seiner Entscheidung im Ergebnis weitgehend Zustimmung gefunden hat 25 , zeigen die oben dargestellten Probleme in der Begründung und die an der Lösung des BGH geübte Kritik 26 , daß die Probleme der Zurechnung im Gremium keineswegs abschließend geklärt sind. Gegenstand der hier vorliegenden Abhandlung soll es sein, hierzu beizutragen und die verschiedenen Lösungsansätze auf ihre Tauglichkeit für eine angemessene Problemlösung zu untersuchen. Im folgenden soll zunächst untersucht werden, inwieweit und mit welcher Begründung das Verhalten des einzelnen Gremiumsmitglieds als ursächlich für die Folgen des Gesamtverhalten eines Gremiums angesehen werden kann (Teil A). Dabei wird zunächst die Fallkonstellation des aktiven Tuns (Teil A 1.) und anschließend des Unterlassens (Teil All.) geprüft. Hinsichtlich der Unterlassungskonstellation soll auch überprüft werden, ob mit dem Gedanken der Risikoerhöhung eine sachgemäße Lösung gefunden werden kann (Teil A 11. 7.). Zuletzt wird der Frage nachgegangen, ob eine Lösung der Problematik durch mittäterschaftliche Zurechnung möglich ist (Teil B). Dabei wird zunächst auf Fälle vorsätzlicher Tatbestandsverwirklichung durch aktives Tun (Teil B 11. 1.) und Unterlassen (Teil B 11. 2.) eingegangen. Anschließend wird danach gefragt, ob sich die Figur der Mittäterschaft auch im Bereich fahrlässigen Verhaltens nutzbar machen läßt (Teil BIll.).
25 Vgl. S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 83a; Lackner/Kühl, Vor § 13 Rn. 11; SK-Rudolphi, Vor § 13 Rn 16; NK-Puppe. Vor § 13 Rn. 109; Goll/Winkelbauer, Produkthaftungshandbuch. § 47 Rn. 55; Kühl. AT, § 4 Rn. 20b und § 18 Rn. 39a ff .• jeweils m. w. N. Kritisch zur Kausalität Rotsch. Großunternehmen. S. 118 ff. (128). und Schwartz. Produkthaftung, S. 65 ff. Siehe auch die Literaturangaben oben Fn. 7 und 8. 26 Vgl. Brammsen. Jura 1991.533; Samson. StV 1991. 182; Puppe. JR 1992, 30; Hassemer, Produktverantwortung. S. 59 ff.; Dencker, Kausalität. S. 17 ff.; NK-Seelmann. § 13 Rn. 61a; Amelung, Der Bundesgerichtshof als "Gesetzgeber", S. 67 ff.
Teil A
Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung I. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens eines Gremiumsmitglieds bei aktivem 10n Bei der Prüfung der Kausalität des Einzelverhaltens des Gremiumsmitglieds für das erfolgsverursachende Gesamtverhalten des Gremiums soll zunächst die Situation für den Fall des positiven Tuns untersucht werden. Dieses liegt dann vor, wenn die Mitglieder in einer Abstimmung einen Beschluß fassen, welcher dann im Unternehmen umgesetzt wird und zu strafrechtlich relevanten Erfolgen führt. Anknüpfungspunkt ist dann das Abstimmungsverhalten des einzelnen Mitglieds (Handzeichen, Abgabe eines Stimmzettels bei geheimer Abstimmung, verbale Abstimmung). Dieses stellt die Handlung dar, die auf ihre Ursächlichkeit für den späteren Erfolg zu überprüfen ist '.
1. Lösung nach der Äquivalenztheorie in Verbindung mit der conditio-sine-qua-non-Formel Die Äquivalenztheorie geht davon aus, daß alle Bedingungen, die den Erfolg mitverursacht haben, gleichwertig (äquivalent) sind und damit strafrechtlich als Ursachen zu betrachten sind. Jede Bedingung des Erfolges ist gleich wesentlich oder doch nur relativ ungleich wesentlich und damit eben notwendig für diesen 2 . 1 BGHSt 37, 106 (114) rechnet den Geschäftsführern einer GmbH Produktion und Vertrieb von Produkten im Rahmen des Gesellschaftszwecks als eigenes Handeln zu. Zustimmend Kuhlen, WiVerw 1991, 181 (245). Bestätigt in BGH NJW 1995, 2933 (2934) - Weinverschnitt. Kritisch dazu Dencker, Kausalität, S. 14; Puppe, JR 1992, 30; Ransiek, Untemehmensstrafrecht, S. 43 ff.; Samson, StV 1996, 93 f.; Winkelbauer, Lenckner-FS 1998, 645 (646). Das Problem soll hier nicht vertieft werden. Wo die Geschäftsleitung allein die nötigen Informationen über die Gefährlichkeit des Produkts hat, dürfte bei Vorsatz mittelbare Täterschaft durch überlegenes Wissen vorliegen. Im Fahrlässigkeitsbereich liegt Nebentäterschaft vor, wenn Unternehmensmitarbeiter ebenfalls fahrlässig handeln. Dazu Meier, NJW 1992, 3193 (3199); Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 59. 2 Spendei, Kausalitätsformel, S. 10; v. Buri, Zur Lehre von der Teilnahme an dem Verbrechen und Begünstigung, 1860, S. 2.
I. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei aktivem Tun
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In dieser Grundaussage der Gleichwertigkeit aller Bedingungen entspricht die
Äquivalenztheorie heute der ganz h.M. 3 Weniger klar ist die Frage, nach welchem Verfahren zu ermitteln ist, ob ein menschliches Verhalten als Bedingung für einen Erfolg anzusehen ist. Die Rechtsprechung 4 und eine verbreitete Auffassung in der Literatur5 verwendet hierbei die conditio-sine-qua-non-Formel. Nach dieser ist eine Handlung dann für den Erfolg kausal, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß auch der Erfolg entfiele. Zur Prüfung des Kausalzusammenhangs ist also ein hypothetisches Eliminationsverfahren erforderlich. Würde der eingetretene Erfolg entfallen, wenn man sich die auf ihre Kausalität zu prüfende Handlung wegdenkt, so ist die Handlung kausal 6 . Wendet man diese Formel auf den Fall der Mehrheitsentscheidung in einem Gremium an, so kommt man zu dem Ergebnis, daß Kausalität nur dann vorliegt, wenn die Entscheidung mit der Mehrheit von einer Stimme erfolgt. Nur dann kann man keine der die Mehrheit tragenden Stimmen wegdenken, ohne daß damit zugleich die Mehrheit und damit auch der Beschluß mit den von ihm ausgehenden Folgen entfiele. Kommt die Entscheidung aber mit mehr Stimmen zustande, als für die einfache Mehrheit erforderlich sind, so kann man jede beliebige Stimme isoliert wegdenken, ohne daß der Erfolg entfiele. Die conditio-sine-qua-non-Formel führt also zu dem befremdlichen Ergebnis, daß bei Hinzutreten weiterer Stimmen zu einer gerade ausreichenden Mehrheit alle Stimmen nicht mehr kausal sind, wogegen bei einer knappen Abstimmung (kumulative) Kausalität gegeben wäre. In diesem Zusammenhang ist aber zu beachten, daß die conditio-sine-qua-nonFormel in der oben genannten einfachsten Form heute nicht mehr als abschließendes Prüfungsmerkmal für das Vorliegen eines Kausalverlaufs angesehen wird 7 • Es 3 Vgl. S/S/Lenckner; Vor § 13 Rn. 76; SK-Rudolphi, Vor § I Rn. 40; Lackner/Kühl, Vor § 13 Rn. 9; Tröndle, Vor § 13 Rn. 16; Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 14 Rn. 19ff.; Kühl, AT, § 4 Rn. 7 ff.; Maurach/ Zipf, AT / I, § 18 Rn. 18, 55; Roxin, AT I, § 11 Rn. 6 ff., jeweils
m.w.N. 4 BGHSt I, 332; 2, 20 (24); 7, 112 (114); 24, 31 (34); 33, 322; BGH NJW 1993, 1723. 5 Arzt, JA 1980,553; Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 14 Rn. 19ff.; Golt/Winkelbauer; Produkthaftungshandbuch, § 47 Rn. 54; Gropp, AT, § 5 Rn. IOff.; Maurach/Zipf, AT I, § 18 Rn. 17 ff.; Kohlrausch/ Lange, Systematische Vorbemerkungen, 1.; Lackner/ Kühl, Vor § 13 Rn. 9; Preisendanz, Vorbemerkungen zum AT, IV 2.; Tröndle, Vor § 13 Rn. 16; Welzel, LB, S. 43 f.; Schlüchter; JuS 1976, 312 ff., 382 ff.; Dencker; Kausalität, S. 24 ff.; Toepel, Kausalität, S. 95 f. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 522, empfiehlt die kombinierte Verwendung der conditio-sine-qua-non-Formel und der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung. Ähnlich Lorenz Schulz, Kausalität, S. 54. Für das Zivilrecht vgl. Köc/c, Kausalität, S. 11; Lange, Schadensersatz, § 3 111. 6 Damit ist nicht zwingend gesagt, daß auch die Umkehrung dieses Satzes, welche Spendei, Kausalitätsformel, S. 14,31 ff., die negative Formel nennt, gilt. Ob die Aussage, "wenn die Handlung weggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfällt ist die Handlung nicht kausal" stets gilt, ist Gegenstand der nachfolgenden Erörterungen. 7 Vgl. dazu Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 14 Rn. 13ff. und 38ff.; Kühl, AT, § 4 Rn. 8ff.; Lackner/Kühl, Vor § 13 Rn. IOff. Ausführlich zur conditio-sine-qua-non-Formel Spendei, Die Kausalitätsformel der Bedingungstheorie für die Handlungsdelikte, 1948.
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
ist zum einen anerkannt, daß bei Anwendung des hypothetischen Eliminationsverfahrens dadurch Probleme auftauchen, daß im Falle bereitstehender, aber nicht verwirklichter Reserveursachen, Kausalität an sich zu verneinen wäre, obwohl feststeht, daß es die vom Täter gesetzte Bedingung war, die den Erfolg bewirkt hat s. Zum anderen ist die Fallgruppe der sogenannten alternativen Kausalität problematisch 9 . Zur Lösung dieser Probleme wurden von der Rechtsprechung und der Literatur zusätzliche Anwendungsregeln für das Arbeiten mit der conditio-sine-qua-nonFormel entwickelt lO . a) Der Erfolg in seiner konkreten Gestalt als Bezugspunkt der Kausalitätsprüfung Nach h.M. ist Bezugspunkt der Kausalitätsprüfung der Erfolg in seiner konkreten Gestalt 11. Die Erfolgskonkretisierung dient vor allem dem Zweck, Reserveursachen, die über einen hypothetischen Kausalverlauf den Erfolg ebenfalls bewirkt hätten, auszuschließen. Je gen au er der zu erklärende Erfolg bestimmt wird, desto weniger hypothetische Kausalverläufe kommen in Betracht, die gerade diesen Erfolg ebenfalls erklären können. Der weiteren Erörterung seien zwei Beispielsfälle vorangestellt: (I) Der Täter (T) erschießt sein Opfer beim Besteigen eines Flugzeugs, welches kurz danach abstürzt, ohne daß auch nur eine Überlebenschance für die Passagiere bestand.
(2) Ein Arzt (A) spritzt einern unter quälenden Schmerzen leidenden Patienten (P) eine hohe Dosis Morphium, so daß dieser nicht nur ohne Schmerzen, sondern auch früher stirbt.
In bei den Fällen ist die Kausalität der Handlung für den Erfolg nicht deshalb zu verneinen, weil das Opfer ohnehin bald gestorben wäre, weil es sozusagen schon todgeweiht war. Nach der heute h.M. unter den Befürwortern der conditio-sinequa-non-Formel ist dies damit zu begründen, daß der Ursachenzusammenhang nicht abstrakt auf den im Tatbestand beschriebenen Erfolg (die Erfolgskategorie), sondern auf den tatsächlich geschehenen Erfolg in seiner konkreten Gestalt zu 8
Dazu unten a) und b).
Dazu unten c). Statt von alternativer Kausalität wird auch von Doppelkausalität oder Mehrfachkausalität gesprochen. 10 Vgl. dazu Kühl, AT, § 4 Rn. 11 ff.; BaunumnlWeberlMitsch, AT, § 14 Rn. 11 ff. und 30ff. 11 Dies gilt unabhängig davon, ob Kausalität mittels der conditio-sine-qua-non-Forrnel oder mittels der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung festgestellt wird. Vgl. z. B. SI SI Lenckner, Vor § 13 Rn. 79; SK-Rudolphi, Vor § I Rn. 44; Lackner 1 Kühl, Vor § 13 Rn. 9; Tröndle, Vor § 13 Rn. 16; BaunumnlWeberlMitsch, § 14 Rn. 11 ff.; Roxin, AT 1, § 11 Rn. 20ff.; Kühl, AT, § 4 Rn. 12ff.; Sofos, Mehrfachkausalität, S. 21. 9
I. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei aktivem Tun
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beziehen ist l2 . In Fall (1) ist also nur zu fragen, ob das Handeln des T nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß der konkrete Tod - Erschießungstod - entfällt. Im Fall (2) ist die Ursächlichkeit zu bejahen, weil A mit der Gabe des Morphiums eine Bedingung für den zeitlich früheren Tod des P gesetzt hat. Entscheidend für die Beschreibung des Erfolges ist also nach h.M. 13 dessen "individuelle zeitlich räumliche Gestalt" 14. Dazu zählen nicht nur Ort und Zeit des Erfolges, sondern alle Modifikationen in der äußeren Erscheinung. Darüberhinaus wird teilweise vertreten, auch der zum konkreten Erfolg führende Geschehensablauf sei Teil des Erfolges 15. Für die Kausalitätsproblematik im Gremium ist nun zu fragen, ob die Kausalität des einzelnen Gremiumsmitglieds für den letztendlich eingetretenen Erfolg mit der Lehre vom konkreten Erfolg begründet werden kann. Als Beispiel sei hier von einem aus drei Personen bestehenden Gremium ausgegangen, bei dem alle Mitglieder dem Beschluß zustimmen; Stimmenverhältnis 3:0. Die Umsetzung des Beschlusses im Unternehmen führt zur Auslieferung von gefährlichen Produkten, die bei ihren Benutzern Gesundheitsschäden verursachen.
Man könnte hier wie folgt argumentieren: Zwar wäre auch bei Fehlen einer der drei Stimmen ein inhaltsgleicher Beschluß zustande gekommen. Jedoch hätte es sich dann um einen 2: I-Beschluß und nicht um einen 3:0-Beschluß gehandelt. Damit hätte es sich um eine andere konkrete Erfolgsgestalt gehandelt, für die auch die dritte Stimme conditio sine qua non gewesen sei l6 , 17. 12 M. L. Müller, Kausalzusammenhang, S. IOff. (14); BaumannlWeberlMitsch, AT, § 14 Rn. IOff.; MaurachlZipf, AT I, § 18 Rn. 17. Vgl. dazu ausführlich Hilgendoif, GA 1995, 515, und Sofas, Mehrfachkausalität, S. 64ff. 13 Vgl. z. B. SISILenckner, Vor § 13 Rn. 79; SK-Rudolphi, Vor § 1 Rn. 44; Tröndle, Vor § 13 Rn. 16, jeweils m. w. N.; Lacknerl Kühl, Vor § 13 Rn. 10; LK-Jescheck, Vor § 13 Rn. 54. 14 Definition nach Schlüchter, JuS 1976, 378 (381). Ähnlich BaumannlWeberlMitsch, AT, § 14 Rn. 11. 15 So ausdrücklich Ranft, NJW 1984, 1425 (1427). Ebenso BaumannI Weberl Mitsch, AT, § 14 Rn. 11; Schlüchter, JuS 1976, 378 (381); Roxin, AT I, § 11 Rn. 20. 16 So Weber, BayVwBI. 1989, 166 (169); BaumannlWeberlMitsch, AT, § 14 Rn. 37. Ebenso für das rechtsbeugende Kollegialgericht LK-Spendel, § 336 Rn. 110. Ähnlich Binding, GS 1904, der jede Stimme als "Bedingung" ansieht, weil sie notwendiger Bestandteil des Gesamtvotums sei (Gleichwohl sei diese Bedingung aber nicht Ursache des Urteils). Seebade, Rechtsbeugung, S. 113 f. verneint Kausalität desjenigen Richters, der einer bereits bestehenden Mehrheit zustimmt. Die Ausführungen betreffen die Kausalität wegen des Inhalts der abgegebenen Stimme. Eine andere Frage ist die Ursächlichkeit aller Richter wegen der Teilnahme an Urteilsberatung und -verkündung. Nach Ansicht Denckers, Kausalität, S. 183, ist auf die bestehende Mitursächlichkeit dieser Akte abzustellen. Auf die konkrete Stimmabgabe für oder gegen das Urteil kommt es nicht an. A.A. LK-Spendel, § 336 Rn. 109; Seebade, Rechtsbeugung, S. 113f.: Die Kausalität durch Beteiligung an der Abstimmung und der Urteilsverkündung reicht für den Tatbestand der Rechtsbeugung nicht aus. Der Richter muß selbst inhaltlich unrichtig abgestimmt haben. So auch BGH GA 1958,241; BGH NJW 1968, 1339 (1340) - Fall Rehse.
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
Dieser Lösung wird in der Literatur teilweise widersprochen l8 , und auch der BGH hat in der oben angesprochenen Lederspray- Entscheidung diesen Lösungsansatz nicht berücksichtigt. Puppe 19 wendet sich grundsätzlich gegen die Erfolgskonkretisierung, weil es unmöglich sei, anzugeben, welche Tatsachen zum Erfolg in seiner konkreten Gestalt gehörten. Die Annahme, daß diese Tatsachen in ihrer konkreten Bestimmtheit vorgegeben seien, sei falsch. Vielmehr sei es in das freie Belieben des Betrachters gestellt, wie genau er einen Erfolg beschreibe. Von der Genauigkeit der Erfolgsbeschreibung hänge es aber ab, ob eine Person, die den Erfolg in bestimmter Hinsicht (auch nur unwesentlich) modifiziert hat, eine Bedingung für den Erfolg gesetzt habe. Es lasse sich je nach dem Interesse des Betrachters die Kausalitätsfrage bestimmter Handlungen manipulieren. Puppe sieht in der Lehre vorn Erfolg in seiner konkreten Gestalt ein Instrument, die Schwächen der conditio-sine-qua-nonFormel, welche nicht die eigentliche Kausalitätsbeziehung angebe, zu verdecken. Es werde mit einern Scheinbegriff und einern Zirkelschluß argumentiert 20 • Die Probleme ließen sich nur mit einer verbesserten Fassung der von Engisch entwickelten Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung erfassen, bei der auf die Figur des Erfolgs in seiner konkreten Gestalt zu verzichten sei 21 • Hilgendorf2 stimmt der Ansicht von Puppe zu, daß eine konkrete Erfolgsgestalt nicht natürlich vorgegeben sei, sondern daß es einer Wertung bedürfe, wie konkret ein Erfolg zu beschreiben sei. Welche Aspekte des Erfolges beschrieben werden, bestimme sich nach dem Interesse des Beschreibenden. Die Bedeutung der Erfolgskonkretisierung besteht nach seiner Ansicht darin, die versteckten Schwächen der conditio-sine-qua-non-Formel bei der Beschreibung des Kausalzusammenhanges zu verdecken.
Aber auch er hält eine Konkretisierung des Erfolges für notwendig, wobei man sich aber bewußt sein müsse, daß die Kausalitätsprüfung dadurch keine rein logische, quasi mechanisch ablaufende Operation sei, sondern eigene Wertungen des Rechtsanwenders voraussetze und sich nicht allein auf die Fassung des gesetzlichen Tatbestandes stützen könne 23 . 17 Zur Erfolgskonkretisierung allgemein vgl. Kühl, AT § 4 Rn. 16; Ranft, NJW 1984, 1425 ff.; Schlüchter, JA 1984, 673 (679); JuS 1976, 518 (519); Toepel, Kausalität, S. 95 f.; Hilgendorf, Jura 1995,515. 18 Vgl. Hilgendorf, NStZ 1994,561 (566); Schumann, StV 1994, 106 (109 f.). 19 Vgl. ZStW 92 (1980),863 (870ff., 873); ZStW 99 (1987), 595 (597f.); GA 1994,297 (299 ff.); NK-Puppe, StGB, Vor § 13 Rn. 67 ff. Ihr folgend Sofos, Mehrfachkausalität, S. 69 ff. 20 So auch Schumann, StV 1994, 106 (110); Dencker, Kausalität, S. 86 ff., 105. 21 A.A. insoweit aber Engisch, Kausalität, S. 9ff., der für die Lehre vom Erfolg in seiner konkreten Gestalt eingetreten ist. So auch die h.M. unter den Vertretern der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung. Vgl. S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 79 m. w. N. 22 GA 1995, 515ff. (520). 23 Hilgendorf, GA 1995, 515ff. (528ff.); ders., NStZ 1994,561 (566). Ebenso Roxin, AT I, § 11 Rn. 18.
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Die Lehre vom Erfolg in seiner konkreten Gestalt läuft also Gefahr durch extensive Definition des Erfolges die Kausalitätsprüfung zu manipulieren 24 • Dies kann dadurch geschehen, daß rechtlich unbeachtliche Aspekte des Erfolges 25 oder Teile des vor dem Erfolg liegenden Geschehensablaufes zum Erfolg in seiner (ganz) konkreten Gestalt gerechnet werden und in der Folge die Bedingungen für den Eintritt dieser Nebenaspekte als tatbestandsmäßige Ursachen angesehen werden. Auch Vertreter eines konkretisierenden Erfolgsbegriffs 26 wenden sich aus diesem Grund gegen eine uferlose Erfolgskonkretisierung und halten bestimmte Grenzfälle nicht mit dieser Figur für lösbar. Dazu zunächst zwei Beispielsfalle27 : (3) A, der gerade den sich wehrenden B verprügelt, ruft seinen beiden Freunden C und D zu, sie möchten ihm den in der Ecke stehenden Stock reichen. C und D greifen beide zu, aber nur der C erwischt unter gleichzeitigem Zurückstoßen des D den Stock und reicht ihn dem A, der damit auf Beinschlägt. (4) Zu einer Hinrichtung ist auch der Vater (V) des Opfers zugelassen. Er bringt es fertig, sich in die Nähe des Schafotts zu schleichen und drückt im entscheidenden Augenblick an Stelle des von ihm uno actu zurückgestoßenen Scharfrichters auf den Knopf, um selbst sein Kind zu rächen. In diesen beiden Fällen stellt sich die Frage, ob C oder V für den Erfolg in seiner konkreten Gestalt ursächlich geworden sind, in besonderer Zuspitzung. Denn in bei den Fällen wäre der strafrechtliche Erfolg auch bei Hinwegdenken der Handlung von C oder V zum gleichen Zeitpunkt am gleichen Ort auf dieselbe Weise eingetreten. Der konkrete Erfolg wurde durch C und V in seiner Erscheinung nicht modifiziert. In solchen Fällen kann man mit der Lehre vom Erfolg in seiner konkreten Gestalt nur dann zur Bejahung der Kausalität gelangen, wenn man Teile des Verlaufs der Ereignisse zur Beschreibung des konkreten Erfolges mitverwendet. Beschreibt man im Fall (3) den Erfolg als das "Verprügeln mit dem von C gereichten Stock", so ist auch der C nicht hinwegzudenken, ohne daß der so beschriebene konkrete Erfolg wegfallt. Entsprechend kommt man im Fall (4) dann zur Bejahung der Kausalität des Handelns des V, wenn man als Erfolg den "Tod durch Knopfdrücken des V" ansieht. Bereits Engisch 28 hat zu diesen von ihm besprochenen Fällen überzeugend dargelegt, daß sie durch Einbeziehung des dem Erfolg vorgelagerten GeschehensDazu Kühl, AT, § 4 Rn. 15 ff. "Begleitumstände" dürfen nicht berücksichtigt werden. SI SI Lenckner, Vor § 13 Rn. 79; SK-Rudolphi, Vor § I Rn. 44. Dazu Hilgendorf, GA 1995,515 mit dem instruktiven "Vasenfall" (S. 517 ff.). 26 Engisch, Kausalität, S. 11 f.; Spendei, Kausalitätsformel, S. 10, 14.; Hilgendorf, GA 1995,515 ff.; ders., NStZ 1994,561 (566); Kühl, AT, § 4 Rn. 15. 27 Nach Engisch, Kausalität, S. 15 f. 28 Kausalität, S. 16. 24
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ablaufes in den Erfolg in seiner konkreten Gestalt nicht lösbar seien. Denn wenn man so vorgehe, werde "gerade das bereits als kausal vorausgesetzt, was als kausal allererst erwiesen werden soll,,29. Die conditio-sine-qua-non-Formel solle ja gerade Antwort geben auf die Frage, ob Kausalität zwischen Handlung und Erfolg vorliegt. Nehme man nun Teile der kausalen Zwischenglieder in den Erfolgsbegriff auf, so stelle das eine "unzulässige Gedankenfolge" dar 3o . Nach Ansicht Engischs zeigen diese Fälle das Versagen der conditio-sine-quanon-Formel, welche gar nicht den wirklichen Kausalzusammenhang erfasse. - Daß C und V im Ergebnis als kausal anzusehen sind, bezweifelt auch er nicht. Auf der Basis dieser Erkenntnis entwickelt er dann die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung als zutreffende Beschreibung des Kausalzusammenhangs 3). Auch Spendel 32 , der die auf den konkreten Erfolg bezogene conditio-sine-quanon-Formel als das richtige Mittel zur Feststellung eines Kausalzusammenhangs ansieht, hält die Einbeziehung des konkreten Kausalverlaufs in den Erfolgsbegriff für unzulässig: "Bei dieser Erwägung (Einbeziehung des konkreten Geschehensablaufs in die Erfolgsbeschreibung; der Verf.) wird aber bereits das als kausal vorausgesetzt, was als kausal allererst erwiesen werden soll,,33. Demnach ist der zum Erfolg führende Geschehensablauf kein Merkmal, mit dem der Erfolg definiert werden darf. Wendet man die Lehre vom Erfolg in seiner konkreten Gestalt unter Berücksichtigung der eben dargestellten Kritik auf das Problem der Kausalität im Gremium an, so kommt man zu dem Ergebnis, daß die Ursächlichkeit nicht mit der Figur des Erfolgs in seiner konkreten Gestalt zu lösen ist. Wollte man dies tun, so müßte man behaupten, zum Erfolg in seiner konkreten Gestalt gehören auch die Abstimmungsverhältnisse im Gremium 34 . In den Produkthaftungsfällen kommen als ,,konkreter Erfolg" nur die in den angewandten Tatbeständen des BT umschriebenen Folgen in Betracht. Im wesentlichen sind dies die Einwirkung auf Leib (§§ 223 ff., 229), Leben (§§ 211,212,222) oder Sachwerte (§ 303). Eine konkretisierende Erfolgsbeschreibung kann sich also nur auf die Modalitäten dieser Merkmale beziehen. Diese sind aber unabhängig von den Abstimmungsverhältnissen stets absolut gleich. 29 Engisch, Kausalität, S. 16. Zustimmend Sofos, Mehrfachkausalität, S. 66 ff. Ähnlich Erb, JuS 1994,449 (450). 30 Engisch, Kausalität, S. 16. Zustimmend Toepel, Kausalität, S. 77. 31 Dazu näher unten 2. 32 Kausalitätsformel, S. 32 f. 33 Spende I, Kausalitätsformel, S. 32; Ebenso Roxin, AT 1, § 11 Rn. 20, Fn. 36; Kühl, AT, § 4 Rn. 15. 34 So Weber, BayVwBI 1989, 166 (189); Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 14 Rn. 37. Für das rechtsbeugende Kollegialgericht ebenso LK-Spendel, § 336 Rn. 110.
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Wird beispielsweise aufgrund eines entsprechenden Beschlusses der Geschäftsführer ein Produkt vertrieben, das zu einem bestimmten Zeitpunkt, an einem bestimmten Ort und auf eine bestimmte Art und Weise zu einem Körperverletzungserfolg (= konkreter Erfolg) führt, so bleibt es ohne jede Auswirkung auf die Gestalt dieses Erfolges, ob der davor liegende Beschluß mit 3:0 oder 2: 1 Stimmen gefaßt wurde. Das Abstimmungsverhalten modifiziert die Gestalt des letztlich eingetretenen Erfolges (Lungenödem) in keiner Weise 35 . Will man dagegen den Erfolg in seiner konkreten Gestalt als "Körperverletzung durch 3:0-Beschluß" beschreiben, so ist das gleichbedeutend mit der Beschreibung als "durch die Stimmen von A und Bund C gefaßter Beschluß". Daß für den so definierten Erfolg A, Bund C ursächlich sind, ergibt sich allein aus der Erfolgsdefinition und stellt wie in den oben besprochenen Fällen einen Zirkelschluß dar, der keinerlei Erkenntniswert besitzt. Wenn man überprüfen will, ob A oder B oder C für die Erfolge (Körperverletzungen durch Lungenödeme) ursächlich geworden sind, darf ihr Verhalten nicht schon zur Definition des Erfolges verwendet werden. Zum Streit über die Lehre vom Erfolg in seiner konkreten Gestalt kann damit gesagt werden, daß unabhängig davon, wie man grundsätzlich zu dieser Rechtsfigur steht, der konkrete Geschehensablauf, der als möglicher Kausalverlauf Gegenstand der Untersuchung ist, nicht in den Erfolgsbegriff mitaufgenommen werden darf. Ob die Lehre vom Erfolg in seiner konkreten Gestalt für den Fall echter Erfolgsmodifikationen (unter Ausschluß des zum Erfolg führenden Geschehensablaufs) ein taugliches Kriterium zur Ausscheidung von nicht zu berücksichtigenden Reserveursachen darstellt, kann bei der hier zu bearbeitenden Problematik dahingestellt bleiben 36 .
35 So auch Dencker. Kausalität, S. 175; Hilgendorf, NStZ 1994,561 (566); Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 67f.; Scholl, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 212, Fn. 931; Schumann, StV 1994, 106 (\ 10); Weißer. Kollegialentscheidungen, S. 108. 36 Der Erfolg in seiner konkreten Gestalt dient vor allem bei Tötungsdelikten zur Ausschaltung von Reserveursachen. Der konkrete Erfolg "Tod" wird im Einzelfall auch unter dem zeitlichen Aspekt bestimmt. Der konkrete Todeserfolg ist also der Tod zu einem bestimmten Zeitpunkt. Andere Umstände, die den Tod ebenfalls nur kurzfristig später herbeigeführt hätten, werden dadurch von der Kausalbetrachtung ausgeschlossen. Somit ist also auch die Tötung des Sterbenden (z. B. im Wege der Euthanasie) kausal im Sinne der conditio si ne qua non-Fonnel, weil der konkrete (= zeitlich bestimmte) Erfolg ohne die Handlung nicht eingetreten wäre, diese also nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß auch der Erfolg entfiele. Vgl. dazu Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 14 Rn. IOff.; S/S/Lenckner. Vor § 13 Rn. 79; SK-Rudolphi, Vor § I Rn. 44. Zur Erfolgsbeschreibung vgl. auch Sofos, Mehrfachkausalität, S. 92 ff.
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b) Die conditio-sine-qua-non-Formel und das Problem der Reserveursachen Folgt man der oben dargestellten Ansieht, daß die Lehre vom Erfolg in seiner konkreten Gestalt entweder gar niehe 7 oder nur in bestimmten Fallgruppen 38 geeignet sei, hypothetische Kausalverläufe bei Anwendung der conditio-sine-quanon-Formel mit schlüssiger Argumentation auszuscheiden, so bleibt das Problem des Ausschlusses von nicht verwirklichten Reserveursachen bestehen 39 . Spendel 40 schlägt zur Lösung des Problems vor, die Anwendung des hypothetischen Eliminationsverfahrens durch das Verbot des Hinzudenkens von tatsächlich nicht verwirklichten Umständen zu ergänzen41 . Er formuliert wie folgt: "eine Handlung gilt dann als notwendige Bedingung (kausal), wenn bei ihrem Ausscheiden aus dem historischen (Wirklichkeit gewordenen) Geschehen - unter Außerachtlassung aller (wahrscheinlich oder sicher) ersatzweise eintretenden oder auch nur verhinderten, tatsächlich jedoch nicht verwirklichten Umstände! - der konkrete Erfolg entfiele, oder kürzer: eine Handlung gilt dann als kausal, wenn ohne sie - unter alleiniger Berücksichtigung der dann übrigbleibenden, tatsächlich auch verwirklichten Umstände! - der konkrete Erfolg nicht eingetreten wäre."
Nach dieser abgewandelten conditio-sine-qua-non-Formel lassen sieh nun die Fälle (3) - Stockreichungsfall- und (4) - Scharfrichterfall-lösen. Denn in beiden Fällen ist das andere Verhalten, das am Bedingungsverhältnis zweifeln läßt, tatsächlich nicht eingetreten42 • In Fall (3) hätte auch der D dem A den Stock gereicht, tatsächlich kam es aber nicht dazu, weil C ihn zurückgestoßen hat. 37 Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (870ff.); NK-Puppe, Vor § 13 Rn 67ff. Vgl. auch Hilgendorf, GA 1995,515. 38 Engisch, Kausalität, S. 16 und Spendei, Kausalitätsformel, S. 32, die jedenfalls eine Einbeziehung des konkreten Kausalverlaufs in den Erfolgsbegriff für unzulässig halten. 39 Engisch, Kausalität, S. 17, und die ihm folgenden Vertreter der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung sehen hierin ein Versagen der conditio si ne qua non-Formel und wollen statt des hypothetischen Eliminationsverfahrens eine andere Methode zur Bestimmung des Kausalzusammenhangs anwenden. Vgl. dazu unten 2. 40 Kausalitätsformel, S. 3; ders., Engisch-FS 1969, 509 (514 f.); ders., JuS 1964, 14 (15 mit Fn. 3); ders., Eb. Schmidt-FS 1961, 183 (187 mit Fn. 14). S. auch Toepel, Kausalität S. 59, 62ff. 41 Vgl. dazu auch Kühl, AT, § 4 Rn. 16; ders., JR 1983,33; Wessels, AT, Rn. 160; Tröndle, § 18 Rn. 18. 42 Gegen dieses von Spendei vorgeschlagene Verfahren wird wiederum vorgebracht, es sei inkonsequent. Man könne nicht einerseits die Ursächlichkeit durch ein hypothetisches Eliminationsverfahren bestimmen und dann bei der hypothetischen Betrachtung Geschehnisse, die an Stelle der weggedachten Handlung getreten wären - willkürlich - nicht berücksichtigen. So Puppe, ZStW 92 (1980),863 (869); Roxin, AT 1, § 11 Rn. 13; S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 74. Kritisch auch Kühl, AT, § 4 Rn. 16, 18 mit dem weiteren Gesichtspunkt, daß die Widersprüchlichkeit noch durch das Hinzudenken rettender Kausalverläufe erhöht werde.
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In Fall (4) war es eben V der den Knopf gedrückt hat und nicht der bereitstehende Scharfrichter, der nicht zum Handeln gekommen ist.
Bei den Gremiumssachverhalten zeigt sich jedoch, daß das Versagen der conditio-sine-qua-non-Formel nicht auf dem Hinzudenken eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden hypothetischen Geschehensablaufs beruht. In dem oben gebildeten Fall eines aus drei Mitgliedern bestehenden Gremiums, das mit 3:0 Stimmen einen Beschluß faßt, sind alle 3 Stimmen gleichermaßen real gegeben. Die Probleme bei Anwendung des hypothetischen Eliminationsverfahrens ergeben sich daraus, daß man aufgrund der künstlich geschaffenen Mehrheitsregelung im Gremium weiß, daß eine dieser Stimmen überflüssig war, d. h. daß ein gleichlautender zum selben Enderfolg führender Beschluß auch zustandegekommen wäre, wenn man sich jede Stimme isoliert wegdenkt. Die anderen beiden ..im historischen Geschehen tatsächlich Wirklichkeit gewordenen" Stimmen hätten alleine ausgereicht, um den Erfolg zu bewirken. Die dritte Stimme ist damit überflüssig und kann hinweggedacht werden. Es handelt sich bei der hier besprochenen Problematik demnach nicht um ein bei der Anwendung der conditio-sine-qua-non-Formel häufiger auftretendes Problem des Ausschlusses einer Reserveursache (hypothetischen Kausalverlaufs), weIche die am realen Geschehen zu orientierende Kausalitätsfeststellung stört. Der störende Faktor (eine überflüssige Stimme) ist vielmehr real gegeben 43 .
c) Das Vorliegen von Doppelkausalität/alternativer Kausalität44 Abgesehen von den eben erörterten Problemen mit dem Ausschluß hypothetischer Kausalverläufe (Reserveursachen) bereitet die Kausalitätsfeststellung mit der conditio-sine-qua-non-Formel auch dann Schwierigkeiten, wenn der konkrete Erfolg außer durch die auf ihre Kausalität zu untersuchende Handlung gleichzeitg noch durch andere Umstände erklärt werden kann, die nicht hypothetisch an die Stelle der Handlung getreten wären, sondern ebenfalls tatsächlich verwirklicht sind. In diesem Zusammenhang wird von alternativer Kausalität, Doppelkausalität oder Mehrfachkausalität gesprochen. Zur Verdeutlichung dieser Konstellation seien zwei Beispielsfälle vorangestellt. (5) Die Köchin gibt in Mordabsicht ein beim Genuß sofort tödlich wirkendes Gift (20 Tropfen) in die Teetasse ihrer Herrin. Während des Servierens schüttet kurz darauf die Zofe, ohne vom Tun der Köchin etwas zu wissen, ebenfalls die gleiche Dosis desselben Giftes in den schon vergifteten Trank. Die Herrin, die die Tasse in einem Zuge 43 Ob die Lösungsansätze für die Reserveursachenproblematik nicht auch für die Alternativproblematik fruchtbar gemacht werden können, wird noch zu untersuchen sein. Vgl. dazu unten 5. 44 Wenn mehr als zwei ..Altemativtäter" beteiligt sind, spricht man auch von Mehrfachkausalität. Vgl. NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 88, 108 ff.; Dencker, Kausalität, S. 50 ff.
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung austrinkt, stirbt auf der Stelle. Jede Giftdosis war allein für sich ausreichend für eine sofortige tödliche Vergiftung45 . (6) In einer Varietevorstellung feuern - ohne vom Vorhaben des anderen etwas zu ahnen zwei Kunstschützen aus Eifersucht gleichzeitig auf ihre Partnerin, wobei der eine das Herz, der andere den Kopf tödlich trifft46 .
In beiden Fällen führt die Anwendung der conditio-sine-qua-non-Fonne1 zu dem Ergebnis, daß jede Handlung für sich genommen nicht kausal ist. Denn denkt man sich nur die eine der beiden unabhängig voneinander vorliegenden Handlungen weg, so bliebe der Erfolg bestehen. Jeweils läßt sich auch keine der Handlungen als Reserveursache identifizieren. Im Giftbeispiel ist sowohl die Giftdosis der Köchin als auch die der Zofe in den Körper der Herrin gelangt und hat dort ihre tödliche Wirkung entfaltet. Im Schußbeispiel haben beide Kugeln einem bei ihrem Auftreffen noch lebendigen Menschen jeweils eine tödliche Verletzung beigebracht. Bei genauerer Betrachtung besteht eine Parallelität zwischen den als Fällen alternativer Kausalität behandelten Beispielen und der hier zu untersuchenden Gremiumsproblematik. Denn auch bei einem Gremiumsbeschluß, der mit größerer als erforderlicher Mehrheit gefaßt wird, besteht zwischen den Stimmen ein Verhältnis der Alternativität. Endet eine Abstimmung mit 3:0 Stimmen (einfache Mehrheit - 2: 1 - war ausreichend), so stellt die dritte Stimme einen Umstand dar, der real genauso gegeben ist, wie die anderen beiden (kein Problem hypothetischer Geschehensabläufe), und der genauso geeignet ist, mit einer weiteren Stimme den Beschluß und den daraus resultierenden strafrechtlichen Erfolg zu erklären. Die dritte Stimme stellt daher zu jeder anderen Stimme eine Alternative dar, ist insoweit "doppelt". Allerdings sei schon hier auch auf den Unterschied zu den oben als Beispiele alternativer Kausalität angeführten Fällen hingewiesen. Während in Fall (5) und (6) jeder der doppelt vorhandenen, von verschiedenen Tätern gesetzten Umstände allein ausgereicht hätte, den Erfolg zu bewirken, ist im Gremiumsfall die eine doppelt vorhandene Stimme unter keinen Umständen geeignet, den Beschluß allein herbeizuführen47 • Es handelt sich insoweit um eine Mischung kumulativer Kausalität mit alternativer Kausalität, wobei einer der kumululativ erforderlichen Um45 Beispiel nach Traeger, Kausalbegriff, S. 45 f. und Spendei, Kausalitätsformel, S. 77. Der Fall wird bei vielen Autoren zur Behandlung des Problems alternativer Kausalität herangezogen. Vgl. Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 14 Rn. 38; Kühl, AT, § 4 Rn. 19; Wesseis, AT, Rn. 157; Roxin, AT I, § 11 Rn. 21; Dencker, Kausalität, S. 50; S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 82; Wehet, LB, S. 44 f. 46 Spendet, Kausalitätsformel, S. 78. V gl. zu einer ähnlichen Konstellation - Mehrfachkausalität - auch den Beispielsfall bei Baumann/Weber/Mitsch, § 14 Rn. 42, wo alle Soldaten eines Erschießungskomrnandos das Opfer zur gleichen Zeit tödlich treffen. 47 Vgl. dazu Franke, B1au-FS 1985, 227 (241 mit Fn. 75); ders., JZ 1982, 579 (582); Scholl, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 225 f.; Weißer, Kollegialentscheidungen, S. 106ff.
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stände (2 Stimmen sind für Mehrheit notwendig) doppelt (alternativ) durch die dritte überflüssige Stimme gegeben ist. In der weiteren Darstellung soll zunächst die Lösung des Problems der alternativen Kausalität anhand der diskutierten Standardfälle (Fall (5) und (6» untersucht werden. Anschließend ist zu untersuchen, ob die hierbei gefundenen Ergebnisse auch zur Lösung des Gremiumsproblems dienen können.
aa) Lösung der "Standardfälle" alternativer Kausalität (I) Ansatz von Traeger
Für die Konstellation der alternativen Kausalität hat bereits Traeger48 auf der Grundlage einer abstrakten Erfolgsbeschreibung eine Modifikation der conditiosine-qua-non-Fonnel vorgeschlagen. Nach Traeger kommt es bei der Frage, ob ein Antecedens Bedingung eines Erfolges ist, nicht auf den Erfolg in seiner konkreten Bestimmtheit an. Dieser interessiere den Juristen nicht 49 . Gegenstand der Untersuchung sei der Erfolg nur in einer gewissen Verallgemeinerung, bei der von allen Einzelheiten abzusehen sei, die in juristischer Beziehung bedeutungslos seien. Folglich seien nur diejenigen kausalen Antecedentien als Bedingungen anzusehen, die den Erfolg für die juristische Würdigung anders gestalten. Bei der Erfolgsbeschreibung sei ein juristisches Werturteil erforderlich 5o . Maßgeblich für die in juristischer Hinsicht wesentliche Seite des konkreten Erfolges sei der gesetzliche Tatbestand. Jeder Umstand, dessen Wegfall zur Folge habe, daß der dann eingetretene Zustand überhaupt nicht mehr in die durch den gesetzlichen Tatbestand gebildete Wirkungskategorie W (Tod, Körperverletzung, Sachbeschädigung) falle, sondern in deren Gegensatz, das ist die Kategorie NichtW (Nicht- Tod, Unversehrtheit des Körpers, der Sache usw.), sei demnach sicherlich Bedingung des juristischen Erfolges. Eine solche Bedingung, deren Wegfall dazu führt, daß der dann vorhandene Zustand nicht mehr in die Erfolgskategorie fällt, nennt Traeger "entscheidende Bedingung": Conditio si ne qua non ist "stets jeder Umstand, der nicht weggedacht werden kann, ohne daß der dann vorhandene Zustand überhaupt nicht mehr in die betreffende juristische Erfolgskategorie W fällt (sog. entscheidende conditio sine qua non),,51
Der Kausalbegriff im Straf- und Zivilrecht, 1904. Traeger. Kausalbegriff, S. 41. 50 Ähnlich Hilgendorj. GA 1995. 515; Roxin. AT I, § II Rn. 21; S/S/ Lenckner, Vor § 13 Rn. 79. 51 Traeger, Kausalbegriff. S. 46. 48
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Darüberhinaus erkennt er aber an, daß auch solche Umstände Bedingungen sein können, deren Wegfall den nachfolgenden Zustand nicht aus der Erfolgskategorie entfallen lassen, aber innerhalb der Kategorie verändern. Insoweit sind Modifikationen der Zeit, des Ortes, der Größe der Verletzung oder Beschädigung usw. in juristischer Hinsicht erheblich. ,,Also ist conditio si ne qua non auch derjenige Umstand, der zwar dafür nicht entscheidend ist, daß der Erfolg überhaupt in die bestimmte Kategorie W fällt, der aber den konkreten Erfolg innerhalb dieser Kategorie für die juristische Würdigung erheblich verändert, z. B. das Eintreten des Erfolges erheblich beschleunigt, den Grad der Verletzung erhöht (nicht entscheidende conditio sine qua non) ... 52
Die conditio-sine-qua-non-Formel mit dem so verstandenen Erfolgsbegriff ergänzt er dann noch für die Fälle der Doppelkausalität um eine weitere modifizierte Formel: ,,Ferner muß von zwei oder mehreren Umständen, trotzdem sie einzeln weggedacht den juristisch relevanten Erfolg zwar gänzlich unverändert lassen, jeder Umstand als Bedingung im Rechtssinne gelten, wenn die beiden oder die mehreren Umstände selbständig entscheidende Bedingungen im Verhältnis zueinander sind, wenn sie also insgesamt nicht weggedacht werden können, ohne daß der juristisch bedeutsame Erfolg entfiele ...53
Nach dieser Formel lassen sich dann die oben angeführten Beispielsfälle lösen. Denn denkt man im Fall (5) beide Giftgaben, im Fall (6) beide Schüsse hinweg, so würde auch jeweils der Erfolg entfallen. Auch sind die jeweils vom einzelnen Handelnden gesetzten Umstände (ein Schuß, eine Giftdosis) alleine ausreichend, um den Erfolg (Tod) herbeizuführen, so daß "selbständig entscheidende Bedingungen" im Sinne Traegers vorliegen. Eine tragfähige Begründung dieser inhaltlich einschneidenden Ergänzung der üblichen conditio-sine-qua-non-Formel liefert Traeger nicht. Er lehnt seine Argumentation an die von ihm gegebene Begründung für die wertende Erfolgskonkretisierung in bestimmten Fällen an. Als beachtliche Erfolgsmodifikation, die der kausalen Erklärung bedarf, sieht er nicht schon jede zeitliche oder räumliche Veränderung oder geringfügige Intensivierung an. Wer beispielsweise das Leben eines Sterbenden durch eine zu hohe Morphiumgabe um Minuten verkürze, setze keine Bedingung zum juristischen Erfolg 54 • Anders, wenn er ihm kurz vor dem krankheitsbedingten Tod den Schädel spalte, oder wenn der Täter den das Schafott besteigenden Verurteilten vor der Hinrichtung mit dem Messer töte. Der Grund für die unterschiedliche Beurteilung liege darin, daß der Erfolg in den zuletzt genannten Fällen durch eine in Wahrheit selbständig entscheidende Bedingung herbeigeführt werde.
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Traeger. Kausalbegriff, S. 47. Traeger; Kausalbegriff, S. 47 f. Traeger; Kausalbegriff, S. 45. Weitere Beispiele für Unbeachtlichkeit S. 44f.
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Derselbe Grund trifft nach Trägers Ansicht auch im Fall der Doppelkausalität zu, weil zwei selbständig - unabhängig voneinander - Handelnde den Erfolg verursacht hätten und zwar dergestalt, daß die Handlung eines jeden für sich allein den Erfolg herbeigeführt haben würde. - Beide selbständig entscheidenden Bedingungen müssen als kausal angesehen werden. Abgesehen von dem Ansatzpunkt Trägers, der heute nicht mehr vertretenen abstrakten Erfolgsdefinition, begegnet seine Argumentation zwei weiteren Einwänden. Zum einen ist die von ihm durchgeführte Unterscheidung in den Fällen, in denen das todgeweihte Opfer durch eine Überdosis Morphium im Gegensatz zum "Schädelspalten" stirbt, unschlüssig, da in beiden Fällen die Lebensverkürzung durch eine "selbständig entscheidende Bedingung" herbeigeführt wird. Denn auch bei der Morphiumgabe stirbt das Opfer ja nicht an seiner Krankheit, sondern an deren Behandlung durch den Täter. Es liegt lediglich ein "etwas engerer Zusammenhang" mit der Krankheit vor als beim "Schädelspalten", was aber nichts daran ändern kann, daß die Differenzierung willkürlich ist und nicht einmal den eigenen Kriterien genügt. Entscheidender ist aber, daß die Frage unbeantwortet bleibt, aus welchem Grund Kriterien, welche bei der Erfolgsbeschreibung entwickelt wurden, zur Umstellung der Kausalitätsformel (Beschreibung des Kausalzusammenhangs) für bestimmte Sonderfalle verwandt werden. Die von Traeger entwickelte Formel stellt sich nach der von ihm selbst gegebenen Begründung als rein wertendes, ergebnisorientiertes Anhängsel der conditiosine-qua-non-Formel dar55 . (2) Ansatz von Tarnowski Im Anschluß an Traeger unternimmt Tarnowski 56 den Versuch, eine schlüssige Begründung für die abgewandelte conditio-sine-qua-non-Formel zu finden. Seiner Ansicht nach folgt das von Traeger gefundene Ergebnis aus der abstrakten Erfolgsbetrachtung. Da der Erfolg abstrakt sei, gebe es auch eine Mannigfaltigkeit von Bedingungskombinationen, die ihn auslösen könnten. Ein Glied a, das mit einem bestimmten Bedingungskomplex (b + c + d) die Kausalkette bilde, die den abstrakten Erfolg W herbeiführe, könne durch eine Reihe anderer Umstände (a', a" ... ) ersetzt werden, ohne daß der Erfolg dadurch ein anderer werde. Die sämtlich sich gegenseitig vertretenden Umstände a, a!, a" usw. bildeten die abstrakte Bedingungskategorie A. Es sei zwar jeweils nur der Hinzutritt eines der zur Kategorie A 55 Ein Begründung allein aus dem Rechtsgefühl findet sich auch bei Baumgarten, ZStW 37 (1916), 517 (522). Dagegen Dencker. Kausalität, S. 63; Toepel, Kausalität, S. 74 (,,Formelzauber"). 56 Die systematische Bedeutung der adäquaten Kausalitätstheorie für den Aufbau des Verbrechensbegriffs, 1927.
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gehörenden Umstände zu dem übrigen Bedingungskomplex (b + c + d ... ) erforderlich, damit die Kausalkette K sich schließe und der Erfolg eintrete. Seien aber zugleich zwei oder mehrere dieser Umstände nebeneinander verwirklicht, so sei das für den Bedingungscharakter des einzelnen Umstandes ohne jede Bedeutung. Es komme für die Erklärung des abstrakten Erfolges nur darauf an, daß zu dem konstanten Komplex die abstrakte Kategorie A hinzutrete, gleichgültig wieviel einzelne Umstände a, a', a" verwirklicht seien. Aber auch diese Begründung begegnet Bedenken. Zum einen tritt das Problem alternativer Kausalität nicht nur dann auf, wenn man den Erfolg abstrahiert. Das mag in den ohen genannten Fällen (5) und (6) so sein. In heiden Fällen kann die Erfolgskonkretisierung so weit getrieben werden, daß beide Handlungen zur Erklärung nötig sind~7. Bezieht man im Giftfall das Ausmaß der Vergiftung in den Erfolgsbegriff ein, so könnte man beide Giftgaben für ursächlich halten. Dasselbe gilt, wenn man im Varietefall die Art der Verwundung (2 Einschüsse) in die konkrete Erfolgsbeschreibung aufnimmt. Jeweils hängt das Bestehen einer Alternativprohlematik davon ab, wie konkret der Erfolg beschrieben wird, wie detailliert die wertende Erfolgsbeschreibung durchgeführt wird. Es sind aber auch Fälle denkbar, in denen da~ Prohlem alternativer Kausalität nicht durch Erfolgskonkretisierung umgangen werden kann. Dazu folgender Fall: (7) 0 steht auf einem Schrottplatz unter einem schweren Schrottpaket, das von einem
großen Elektromagneten gehalten wird. In der Stromversorgungsleitung sind zwei Schalter an verschiedenen Stellen derart in "Reihe" angehracht, daß beim Betätigen jedes Schalters der Stromkreis unterbrochen und die Wirkung des Magneten aufgehoben wird. Unabhängig von einander hetätigen PI und P2 gleichzeitig die beiden Schalter, so daß das Schrottpaket herabfällt und den 0 tötet ~R.
Hier kann nichl gesagt werden, daß sich die Handlungen der heiden Personen irgendwie im konkreten Erfolg niedergeschlagen haben s9 . Die Gestalt des konkreten Erfolges, nämlich Zeit, Ort, Art und Weise des Todes von 0 hängt nicht davon ab, ob ein Schalter oder beide betätigt werden. Trotzdem taucht das Problem alternativer Kausalität auf. Damit kann gesagt werden, daß das Problem unabhängig von einer abstrakten Erfolgsbetrachtung auftritt, so daß der Ausgangspunkt in Tarnowskis Argumentation nicht gegeben ist. Darüberhinaus bleibt auch Tarnowski den Nachweis schuldig, mit welchen Gründen ein - seiner Ansicht nach - auf der abstrakten Fassung der Erfolgsbeschreibung beruhendes Problem durch Veränderung der conditio-sine-qua-nonFormel behoben werden kann. Es kommt nicht zum Ausdruck, aus welchen Erwägungen oder Wertungen heraus er die Ausnahme von der gängigen conditio57
V gl. dazu auch unten (3).
Nach Joerden, Dyadische Fallsysteme, S. 152. Daß man hier nicht den konkreten Kausalverlauf in den konkreten Erfolgsbegriff einbeziehen darf, wurde bereits oben am "Scharfrichterfall" und am "Knüppelfall" gezeigt. Vgl. dazu auch Kühl, AT, § 4 Rn. 15. 58
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sine-qua-non-Formel rechtfertigen will. Warum wird die Formel grundsätzlich als Beschreibung des strafrechtlichen Kausalzusammenhangs anerkannt, im Grenzfall aber beiseite geschoben? Letztlich ist auch bei ihm das ansonsten als unbefriedigend empfundene Ergebnis ausschlaggebend für seine Lösung. (3) Der Ansatz von Traeger und Tamowski und die Lehre vom Erfolg in seiner konkreten Gestalt
Obwohl Traeger und Tamvwski im Untersdlied zur heutigen h.M. die modifizierte Formel auf der Basis einer abstrahierenden Erfolgsbestimmung entwickelt haben und trotz der eben aufgezeigten Bedenken gegen die Begründungen, wird die von ihnen vorgeschlagene Ergänzung der conditio-sine-qua-non-Formel bis heute weitgehend (gerade auch von Vertretern der Lehre vom Erfolg in seiner konkreten Gestalt) zur Lösung des Prohlems der alternativen Kausalität eingesetzt6(). Zur Begründung wird vorgetragen, daß die Kausalität ein Rechtshegriff sei, dessen Inhalt allein durch die Rechtsordnung hestimmt werde. Die conditio-sine-qua·nonFormel sei nur ein Hilfsmittel bei der Ermittlung der Kausalität, so daß von ihr klare Ausnahmen gemacht und Moditikationen vorgenommen werden könnten 61 . Bevor jedoch hierzu Stellung genommen wird, ist zunächst anhand der angeführten Beispielsfälle zu untersuchen, ob die Ergänzung der conditio-sine-quanon-Formel überhaupt notwendig ist. Schon im Giftbeispiel, der als Standardfall zur hier behandelten Problematik gelten kann, ergeben sich Bedenken. Denn hetrachtet man das Geschehen genau, so könnte man bestreiten, daß hier üherhaupt Alternativität der zwei Umstände (Giftdosis I und 2) vorliegt. Werden die Giftdosen in denselben Becher gegeben, so vermischen sie sich dort. Wenn also das Opfer den Trank zu sich nimmt, so wirken sich beide Giftdosen (teilweise) aus, und zwar so lange und in solcher Menge, bis der Tod eintritt. Die Restmenge beider Dosen, die zum Todeseintitt nichts mehr beitragen kann, kann dann als - nicht wirksam gewordene - Reserveursache angesehen werden, die nicht hinzugedacht werden darf. Denkt man aus der wirksam gewordenen Menge Gift (aus bei den Dosen) die Teilmenge des einzelnen Taters weg, so entfallt der konkrete Erfolg 62 Es liegt dann ein Fall kumulativer Kausalität vor. 60 M. L. Müller, Kausalzusammenhang, S. 17f.; BaumannlWeberlMitsch, AT, § 14 Rn. 41; Kühl, AT, § 4 Rn. 19; Wesseis, AT, Rn. 157; MaurachlZipf, AT I, § 18 Rn. 56; Welzel, LB, S. 43 f.; Gropp, AT, § 5 Rn. 25. Dagegen Toepel, Kausalität, S. 74; Dencker. Kausalität, S. 63 ff., 116. Kritisch auch Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 69 mit Fn. 275 (zur Gremiumsentscheidung). 61 Baumann/WeberIMitsch, AT, § 14 Rn. 6f., 41. 62 So Samson, StR I, S. 22 f.; Kühl, AT, § 4 Rn. 20; Jakobs, AT, 7/21; ders., Lackner-FS 1987,53 (67f., Fn. 18); Dencker. Kausalität, S. 50. Vgl. auch SISILenckner, Vor § 13 Rn. 82.
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Mit dieser Argumentation ist aber noch nichts über die grundsätzliche Problemlösung bei Fällen alternativer Kausalität gesagt, es wird lediglich bestritten, daß der klassische Giftfall zu dieser Fallgruppe zählt63 . Dies wird bestätigt, wenn man den Fall (6) betrachtet. Denn hier läßt sich nicht mehr sagen, daß jeder TeUer jeweils mit einem Teil seiner Handlung kumulativ den Erfolg verursacht hat und der Rest Reserveursache geblieben ist. Die bei den im gleichen Zeitpunkt das Opfer treffenden Kugeln sind nicht "teilbar". Fall (6) stellt jedenfalls einen echten Fall alternativer Kausalität dar, da die Kugeln ohne Zusammenwirken für sich genommen die Eigenschaft hatten, das Opfer im selben Zeitpunkt zu töten. In beiden Fällen stellt sich aber die Frage, ob die Problematik nicht auch mit der Lehre vom ErfoLg in seiner konkreten GestaLt zu lösen ist, wie sie von der h.M. vertreten wird 64 . Schon oben wurde darauf hingewiesen, daß Traeger und Tarnowski, die die abgewandelte conditio-sine-qua-non-Formel für die Fälle der alternativen Kausalität entwickelt haben, dabei von einer abstrahierenden Erfolgsbetrachtung ausgingen. Für sie war also der Lösungsweg über eine konkrete Erfolgsbetrachtung nicht gangbar. Betrachtet man die oben genannten Beispielsfälle (5) und (6) unter diesem Aspekt, so läßt sich feststellen, daß sich die bei den alternativ zum Erfolg führenden Kausalverläufe auch in der Erfolgsgestalt selbst niedergeschlagen haben. Im Fall (5) findet sich im Körper des Opfers nicht nur eine tödliche Dosis Gift, sondern die doppelte Menge, die im Körper eine entsprechende Zerstörung der inneren Organe bewirkt hat. Im Fall (6) hat die Leiche des Opfers zwei Schußwunden.
Folglich könnte man in beiden Fällen argumentieren, daß beide - "alternative" Handlungen sich im konkreten Erfolg ausgewirkt haben und somit jeweils für sich kausal sind65 , ohne daß es der Zusatzformel nach Traeger bedarf. Dies stellt jedoch keinen grundsätzlichen Einwand gegen die Zusatzformel dar, da es auch Fälle alternativer Kausalität gibt, die nicht mit der Erfolgskonkre63 Kuhlen, NStZ 1990, 566 (570, Fn. 70). Siehe schon M. L. Müller, Kausalzusammenhang, S. 14f., der den Giftfall (5) und den Varietefall (6) nicht als Alternativfälle auffaßt, Alternativkonstellationen aber dennoch für möglich hält. Dagegen aber Mumumn, Nebentäterschaft, S. 151 f., der die Behauptung aufstellt, daß in den Fällen alternativer Kausalität, die alternativen Bedingungen stets - teilweise - zusammenwirken und daher in Wirklichkeit kumulative Kausalität vorliegt (ausdrücklich für den Giftfall (5) und den Schrottplatzfall (7». Siehe auch Murmann/Rath, NStZ 1994,215 (217) in einer Anm. zu BGH NStZ 1993, 386 (= BGHSt 39,195). 64 Vgl. S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 79; Tröndle, Vor § 13 Rn. 16; SK-Rudolphi, Vor § I Rn. 44; LK-Jescheck, Vor § 13 Rn. 54; Lackner/Kühl, Vor § 13 Rn. 10. A.A. NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 67ff. 6S SO Schlüchter, JuS 1976,518 (520). Dieses Ergebnis hält auch Tarnowski, Kausalitätstheorie, S. 45, auf der Basis der von ihm abgelehnten konkreten Erfolgsbetrachtung für folgerichtig. Dagegen zu Recht Ebert/ Kühl, Jura 1979,561 (568).
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tisierung zu lösen sind, wie am oben besprochenen "Schrottplatzfall,,66 gezeigt wurde. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß die Problematik alternativer Kausalität nicht mit der Figur des Erfolgs in seiner konkreten Gestalt zu bewältigen ist. Kausalität läßt sich nur durch eine Modifikation der conditio-sine-qua-non-Fonnel begründen. Neben der von Traeger und Tarnowski vorgeschlagenen modifizierten Fonnel 67 , ist dabei noch die von Spendet vorgeschlagene differenzierte Lösung von AlternativfaUen zu betrachten. (4) Die differenzierende Lösung der Alternativfälle von Spendet
Einer Lösung von Alternativfällen durch Erfolgskonkretisierung widerspricht auch Spendet 68 . Seiner Ansicht nach ist für den Juristen eine rein konkrete Erfolgsbetrachtung unbrauchbar. Wenn er grundsätzlich bei Anwendung der conditiosine-qua-non-Fonnel auf den konkreten Erfolg abstellt 69 so versteht er darunter einen konkreten juristischen Erfolg 7o . Er sieht selbst keinen "wesentlichen Unterschied, ob man von einem konkreten, durch den gesetzlichen Tatbestand ausgewählten und abgegrenzten Erfolg sprechen will, oder von einem abstrakten Erfolge in dem Sinne, daß der Jurist immer einen spezifisch ,juristischen" und insoweit bis zu einem gewissen Grade verallgemeinerten Wirkungsbegriff, wie: Tod durch Vergiftung (zu einem bestimmten Zeitpunkt), Überschwemmung, Sachbeschädigung usw. im Auge hat 71 ". Auf der Basis seiner juristischen Erfolgskonkretisierung vertritt Spendet die Ansicht, daß in den Fällen der alternativen Kausalität keine Veränderung des juristischen Erfolgs gegeben sei. Zur Erläuterung wandelt er den Giftfall dahingehend ab, daß nun drei Bedienstete jeweils 10 Tropfen eines Giftes in einen Trank geben, wobei 20 Tropfen tödlich seien. ,,Die letzte Dosis ist zwar für die konkrete chemische Wirkung, wie sie tatsächlich eingetreten ist, notwendig (die Zerstörung des Organismus dadurch größer), nicht jedoch für den konkreten juristischen Erfolg zu einem bestimmten Zeitpunkt"n. Denn der zuletzt handelnde Täter habe den Tee zwar noch konzentrierter gemacht, juristisch gesehen aber an der Situation nichts 66
Beispiel (7) unter (2).
67 Vgl. vorstehend (1). 68
Kausalitätsfonnel, S. 82 f.
69 Vgl. seine Fonnulierung der conditio-sine-qua-non-Fonnel in Spendet, Kausalitäts-
fonnel, S. 38. 70 Spendet, Kausalitätsfonnel, S. 82. 71 Spendet, Kausalitätsfonnel, S. 82. Insoweit zustimmend Hilgendorf, GA 1995, 515 (520), der bei der Erfo1gskonkretisierung eine juristische Wertung für unumgänglich hält. 72 Spendet, Kausalitätsfonnel, S. 83.
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mehr geändert. Ein sofort tödliches Gift könne man nicht "tödlicher" machen. Dies müsse auch gelten, wenn zwei Personen nacheinander eine allein tödliche Dosis verabreichen (Konstellation des Falles (5)). Entsprechend kann auch im Schußbeispiel (6) nicht darauf abgestellt werden, daß die Leiche zwei Schußverletzungen hat. Man wird nach dieser Auffassung sagen können, daß das Opfer durch die zweite Kugel nicht "toter" werden kann 73. Spende! entwickelt für die von ihm besprochenen Fälle ohne Anwendung der conditio-sine-qua-non-Formel eigene Lösungen. Dies ist seiner Ansicht nach bei einer richtig verstandenen Auffassung vom Geltungsbereich der conditio-sine-quanon-Formel ohne Widerspruch möglich. Denn seiner Ansicht nach ist die conditiosine-qua-non-Formel keine abschließende Definition der Kausalität in dem Sinne, daß nur dann, wenn die Formel greift, Kausalität vorliegt und sonst nicht 74 . Die Formel habe nur den Aussagewert, daß wenn sich bei ihrer Anwendung - positiv die Kausalität bejahen lasse, dies für deren Feststellung ausreichend sei. Ergebe sich nach der Formel noch keine positive Feststellung, so könne dennoch Kausalität vorliegen. Die Aufgabe, eine allen Sachlagen genügende Formel aufzustellen, dürfte seiner Ansicht nach nicht zu lösen sein 75. Die Lösung müsse demnach in wertender Betrachtung des Einzelfalls gefunden werden.
Zunächst setzt er sich hierbei mit der von Traeger entwikelten und von Tarnowski neu begründeten Formel auseinander, derzufolge Kausalität auch vorliegen kann, wenn zwei oder mehrere Handlungen zwar alternativ, nicht aber kumulativ hinweggedacht werden können, ohne daß der Erfolg entfällt. Diese Formel geht nach Spendeis Ansicht zu weit, was er an einer Abwandlung des Giftbeispiels (Fall (5)) erläutert: (8) Die Bediensteten A, Bund C geben nacheinander und unabhängig voneinander in Mordabsicht je eine Dosis des gleichen Giftes (10 Tropfen) in den Tee ihrer Herrin, die nach dem Austrinken der Tasse tot zu Boden sinkt. Jede Dosis allein hätte nicht zur unmittelbar tödlichen Vergiftung hingereicht, dagegen wären bereits 2 Dosen (20 Tropfen) ausreichend gewesen.
Hier ist es nach Ansicht Spende!s "ungerecht,,76 den zuletzt handelnden C wegen vollendeten Delikts zu bestrafen, da er nur als letzter ein nicht tödlich wirkendes Giftquantum in den bereits eine tödliche Giftdosis enthaltenden Tee schüttete. 73 Es kann dahinstehen, ob die Einordnung der Fälle als echte Alternativkonstellationen richtig ist, oder ob bei hinreichender Erfolgskonkretisierung bereits mit conditio-sine-quanon-Formel ohne Modifikation Kausalität nachgewiesen werden kann. Wesentlich ist, daß bei Anwendung der Formel Alternativkonstellationen auftauchen (Schrottplatzfall !), die einer Lösung zugeführt werden müssen. 74 Spendet, Kausalitätsformel. S. 36 ff. 75 Spendet, Kausalitätsformel, S. 84. 76 Spendel, Kausalitätsformel, S. 82.
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Wende man auf diesen Fall die Traegersche Formel an (alle als alternativ betrachtete Beiträge von A, Bund C sind kausal 77 ), führe dies zu einem ungerechten Ergebnis. Spendel bemerkt selbst, daß die kritisierte Formel den von ihm gebildeten Fall nicht trifft. Denn nach der von Traeger und Tarnowski vertretenen Fassung sind nur solche Handlungen in die Alternativbetrachtung einzustellen und damit kausal, welche jeweils alleine bei Hinzutreten zu einem feststehenden Bedingungskomplex den Erfolg herbeiführen. Dies ist aber in Beispiel (8) nicht der Fall, da jede Dosis (10 Tropfen) allein (anders als bei Fall (5): 20 Tropfen) nicht für eine tödliche Vegiftung ausgereicht hätte. Die so verstandene abgewandelte Formel gibt dann keine Antwort auf den fraglichen Fall. Dadurch wird für ihn eine differenzierende Betrachtung nötig.
Dabei geht er von dem Fall aus, daß zwei Täter (A und B) unhabhängig voneinander jeweils 10 Tropfen Gift in den Tee des Opfers geben, wobei 20 Tropfen tödlich sind. In diesem Fall liege nach der conditio-sine-qua-non-Formel eindeutig Kausalität beider Täter vor78 . Da die Giftdosen erst in ihrer Vereinigung den Tod ausgelöst hätten, seien beide für den chemisch- physiologischen (d. h. ganz konkreten; der Verf.) wie für den juristischen Erfolg notwendige Bedingungen gewesen. Komme zu diesen beiden Dosen noch das Gift eines dritten Nebentäters (10 Tropfen von C) hinzu (Konstellation des Falles (8)), so sei die für sich allein nicht tödliche Dosis des zuletzt handelnden Täters wohl für die konkrete chemische Wirkung, nicht jedoch für den konkreten juristischen Erfolg 79 , den Tod eines Menschen durch Vergiftung zu einem bestimmten Zeitpunkt notwendig: "Die Handlungsweise dieses dritten Täters war also im Hinblick auf die beiden vor ihm getätigten Handlungen "überflüssig", unwesentlich, sie war für den verbrecherischen Erfolg in keiner Weise notwendig!"so. Diesen Gedankengang, der zur Ablehnung der Kausalität für den zuletzt handelnden Täter führt, überträgt Spendel dann auch auf den Giftfall in der Ausgangskonstellation (Fall (5): zwei Täter, jeder 20 Tropfen). Auch hier müsse gelten, daß der zuletzt handelnde Täter nicht mehr kausal werde. "Das durch die ersthandelnde Täterin heraufbeschworene Unheil "droht" schon in dem bereitstehenden Trank; das an einem Faden hängende Damoklesschwert schwebt bereits über dem Opfer; ob es von der zweiten Täterin (unbewußt) noch "schärfer" gemacht wird, ist für den bevorstehenden Erfolg völlig gleichgültig"sl. S. oben Teil Al.l. c) aal (I). Spende!, Kausalitätsforme1, S. 83 und 27. Er spricht von "Kollateralmitwirksamkeit". In der Literatur werden derartige Fälle unter dem Begriff kumulative Kausalität behandelt. 79 Hier ist aber wieder zu beachten, daß man auch auf das Vennischen des Giftes im Tee abstellen kann und so kumulative Kausalität eines Teils jeder Giftdosis der Beteiligten anzunehmen ist. Vgl. dazu oben 1. c) aal (3). 80 Spende!, Kausalitätsformel, S. 83. 81 Spende!, Kausalitätsformel, S. 83 f. 77
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Diese Überlegung sei berechtigt, weil objektiv die beiden zunächst unabhängig voneinander gesetzten Bedingungsreihen sich zu einer einheitlichen vereinigten und so zu einer "übermächtigen" würden. Die zeitlich später gesetzte Bedingung ginge in der bereits in Lauf gebrachten ersten Kausalkette aufl 2 . Nur die erste, nicht aber die zweite Bedingung sei kausal. Anders sei es dagegen bei dem Schußbeispiel (Fall (6». Hier seien die beiden objektiv unabhängig voneinander in Lauf gesetzten, für sich allein zur Erfolgsauslösung hinreichenden Bedingungsreihen auch bis zur Wirkung unabhängig voneinander und selbständig geblieben. Hier habe nicht eine erste Bedingungsreihe eine zweite verstärkt, sondern beide Bedingungsreihen begründeten nebeneinander und selbständig die entscheidende Situation und fielen erst in der Wirkung zusammen. In diesem Fall sei Kausalität mit Tarnowski zu bejahen 83 . bb) Übertragung der bisherigen Überlegungen auf die Gremiumskonstellation (l) Ansatz von Spendel
Betrachtet man nun die oben 84 angesprochene Gremiumskonstellation (Dreiergremium) im Lichte dieser Argumentation, so stellt man fest, daß sie der Fallkonstellation in dem von Spendel gebildeten Fall (8) vergleichbar ist. Dort war jeder von den Bediensteten gesetzte Umstand (10 Tropfen Gift) jeweils geeignet, mit schon einem weiteren Beitrag eines anderen Beteiligten den Erfolg herbeizuführen, da die tödliche Dosis 20 Tropfen betrug. Bei der Betrachtung aller drei Handlungen war jedoch wahlweise eine Giftdosis überflüssig. Des weiteren läßt sich sagen, daß jede Handlung alleine den Tod des Opfers nicht bewirken konnte. Ebenso liegt es bei dem als Beispiel herangezogenen Dreiergremium, das einstimmig entscheidet. Die einzelne Stimme allein kann einen Beschluß und damit den daraus resultierenden Erfolg nicht bewirken. Andererseits ist bei einem 3:0Beschluß eine Stimme überflüssig (sie läßt sich hinwegdenken, ohne daß der Erfolg entfällt), eine Feststellung die sich aus dem im Gremium herrschenden Mehrheitsprinzip ergibt85 . Damit könnte es sich bei der dritten Stimme um einen Umstand handeln, der in der bereits in Lauf gebrachten Kausalkette (durch die anderen zwei Stimmen) aufSpendet, Kausalitätsformel, S. 83. Spendet, Kausalitätsformel, S. 84. 84 Vgl. I. c). 85 In diesem Fall kann auch nicht mehr behauptet werden, die drei Stimmen hätten durch teil weises Zusammenwirken den Erfolg kumulativ verursacht. Vgl. zu dieser Argumentation im Giftbeispiel oben I. c) aa) (3). Die Stimmen sind unteilbar. Man kann nicht sagen, eine Stimme, die als Einheit abgegeben wird, habe sich zu 2/3 ausgewirkt und sei zu 1/3 Reserveursache geblieben. 82
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ging, mit SpendeIs Worten um einen "hinzustoßender flußarm" zu einem auf den Erfolg hinzielenden Strom, der zwar, in dessen Richtung verlaufend, günstig und somit "förderlich" gewesen ist, nicht aber eben von "entscheidendem oder notwendigen" Einfluß86 . Problematisch ist aber im Gremiumsbeispiel die Frage, weIche Stimme den "hinzustoßenden flußarm" und welche beiden Stimmen den "auf den Erfolg hinzielenden Strom" darstellen. In dem von Spendel zugrundegelegten Beispielsfall (8) erfolgten die Handlungen der Beteiligten zeitlich nacheinander. Die überflüssige, nicht notwendige Bedingungsreihe, die in der bereits in Lauf gesetzten Kausalkette aufgeht, ist seiner Ansicht nach die, weIche durch die letzte hinzutretende Handlung ausgelöst wird. Überträgt man diesen Ansatz auf die Gremienentscheidung so wäre zu fragen, in welcher Reihenfolge die Stimmen abgegeben wurden. Jedes Mitglied, das seine Stimme für oder gegen einen Beschluß abgibt, wäre dann nicht mehr kausal, wenn es dies nach Erreichen der Mehrheit durch bereits vorher abgegebene Stimmen tut. Diese Lösung der Gremiumsproblematik stößt aber auf Bedenken87 • Zum ersten sind auch hier Fälle denkbar, bei denen die einzelnen Mitglieder absolut zeitgleich abstimmen 88 • Dies mag zwar konstruiert und lebensfremd erscheinen, ist aber durchaus vorstellbar und daher als Testfall für die angebotene Lösung in die Betrachtung einzubeziehen. Zum zweiten stellt sich die Frage, ob im GremiumsfaIl die zeitliche Reihenfolge ein angemessenes Abgrenzungskriterium ist89. Ausgangspunkt der Überlegungen zur Kausalität im Gremium war ja, daß jedes Mitglied dafür einzustehen hat, daß es seine Mitwirkungskompetenz im Gremium richtig ausübt. Die einzelnen Mitglieder trifft eine gleichstufige, anteilige Verantwortung an der Gesamtentscheidung 90 . Die Aufteilung der Gremiumsmitglieder nach dem zufalligen zeitlichen Ablauf der Abstimmung in zwei Gruppen, von denen eine - die "Schnellabstimmer" - als kausal anzusehen sind, während die anderen - die "Langsamabstimmer" - nicht wegen vollendetem Delikt belangt werden können, erscheint wenig überzeugend. Dem Hinweis, daß die nicht mehr ursächlichen Mitglieder, "die ja genauso viel getan haben", wegen Versuchs mit gleicher Strafe belangt werden können (§ 2311 StGB), ist zum einen mit dem Hinweis auf die Fahrlässigkeitsstrafbarkeit zu begegnen, bei der es keinen Versuch gibt. Gerade im Bereich der Spendel. Kausalitätsformel, S. 83 f. Vgl. dazu Suarez. Madrid-Symposium für Klaus Tiedemann, S. 49 (54 f.). 88 Z. B. mittels einer elektrischen Vorrichtung, bei der die Stimmabgabe durch gleichzeitigen Knopfdruck erfolgt. 89 So Seebode. Rechtsbeugung, S. 113 f. zum rechtsbeugenden Kollegialgericht. Der Richter, der sich einer bestehenden Mehrheit anschließt, kann nur noch wegen Versuchs belangt werden. 90 Dies betont zu Recht auch BGHSt 37, 106 (132). 86
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strafrechtlichen "Produkthaftung", bei der sich das Gremiumsproblem gestellt hat, wie auch bei anderen Kollegialorganen (z. B. Gemeinderäten) dürften ein Großteil der in Frage kommenden Delikte Fahrlässigkeitstaten sein. Zum anderen entstünden bei solchen vorsätzlichen Erfolgsdelikten erhebliche Strafbarkeitslücken, bei denen der Versuch nicht strafbar ist. Die Bestrafung würde davon abhängen, ob man seine Stimme am Anfang der Abstimmung oder am Ende abgibt. Wenn es darum geht, zur Vermeidung von Rechtsgutsverletzungen unangenehme und wirtschaftlich nachteilige Maßnahmen zu treffen, vermeidet gerade der verantwortungsscheue Mitläufer, der U.U. bewußt abwartet und sich der bestehenden Mehrheit anschließt, seine Verantwortlichkeit. Zum dritten dürfte die zeitliche Abgrenzung auch praktisch nicht durchführbar sein. Nicht allein der Umstand, daß in der Praxis kaum rekonstruierbar sein dürfte, in welcher Reihenfolge abgestimmt wurde, ist hier zu berücksichtigen. Insoweit mag man einwenden, daß Beweisprobleme auch in anderen Bereichen auftreten. Entscheidender dürfte sein, daß spätestens nach der ersten Verurteilung die Praxis in den Gremien dahin gehen dürfte, gleichzeitig abzustimmen, so daß die Differenzierungsmöglichkeit entfällt und dann wohl niemand als kausal ermittelt werden kann. Nach dem eben Gesagten erscheint es nicht möglich, die von Spendet für den Giftfall (8) entwickelte wertende Lösung auf die Gremiumskonstellation zu übertragen 91 . (2) Ansatz von Traeger und Tarnowski Im folgenden soll nun untersucht werden, ob die für Alternativfälle modifizierte conditio-sine-qua-non-Formel zur Lösung der problematischen Gremiumssachverhalte verwandt werden kann. In diesem Zusammenhang wurde bereits darauf hin91 Ob in dem von Spendei, Kausalitätsformel, S. 83 f., besprochenen Giftfall (Fall 8) die zeitliche Differenzierung überzeugend ist, kann dahinstehen, da bei einer wertenden Lösung die Besonderheiten der Gremiumssituation zu berücksichtigen sind. Für die Argumentation im Beispiel Spendeis spricht, daß das zeitliche Moment auch bei der Abgrenzung von tatsächlich gegebenen und nur hypothetischen, nicht zu berücksichtigenden Reserveursachen eine Rolle spielt. Denn von zwei Handlungen, die geeignet sind, den Erfolg herbeizuführen, sich aber nacheinander auswirken, bleibt die später wirksame nur Reseveursache und wird nicht kausal. Diese Überlegung ist unter dem Begriff überholende Kausalität auch für die Fälle anerkannt, in denen eine spätere Handlung früher als eine zuvor schon in Gang gesetzte, sich auf das Opfer .. zu bewegende" Kausalkette den Erfolg herbeiführt. Gegen Spendeis Ansicht spricht schon beim Giftfall (8), daß die von den Beteiligten gesetzten Bedingungen das Opfer gleichzeitig getroffen haben und nach ihrem Gewicht und ihrer Gefährlichkeit gleichartig waren, so daß eine Ungleichbehandlung wenig überzeugend ist. Spendet selbst lehnt wohl eine Übertragung seiner Überlegungen zu den Giftfällen auf GremiumssachverhaIte ebenfalls ab. Die Fälle rechtsbeugender Kollegialgerichte will er durch die konkrete Erfolgsgestalt lösen. Vgl. LK-Spendel, § 336 (§ 339 n.F.). Dagegen die Ausführungen oben a).
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gewiesen, daß die Modifikation der Formel in der Fassung, in der sie ursprünglich entwickelt wurde, nicht auf den Fall der Gremienentscheidung paßt92 . Schon Traeger, der die Formel aufgestellt hat, berücksichtigt bei den Umständen, die zwar nicht einzeln, aber dafür insgesamt nicht hinweggedacht werden können, ohne daß der Erfolg entfällt und die deshalb alle als kausal anzusehen sind, nur solche, die als selbständig entscheidende Bedingungen anzusehen sind93 . Die Formel ist damit nicht anwendbar, wenn die einzelne in die Formel eingesetzte Handlung für sich alleine nicht ausreichend ist, um den Erfolg herbeizuführen, wie das bei der einzelnen Stimme im Gremium der Fall ist 94 . Nach Tarnowski muß der Umstand, der in der Formel zu berücksichtigen ist, zu einer Bedingungskategorie A gehören, die aus den "sich gegenseitig vertretenden Umständen" a, a', a' usw. besteht95 . Gegenseitig vertreten können sich aber die Umstände nur, wenn sie schon für sich allein geeignet sind, den Erfolg herbeizuführen. Somit muß die abgeänderte Formel, um auf den Gremiumsfall anwendbar zu sein, wiederum abgeändert werden: Auch Handlungen, die in Kumulation mit anderen geeignet sind, den Erfolg herbeizuführen, sind als kausal anzusehen, wenn mehr kumulative Beiträge real gegeben sind als notwendig. Auf das Merkmal, daß die Handlung allein zumindest geeignet gewesen wäre, den Erfolg herbeizuführen (mit den Worten Traegers eine selbständig entscheidende Bedingung) müßte verzichtet werden. Die Formel wäre dann allgemeiner zu fassen: Ursächlich ist jede Bedingung, die zwar alternativ, nicht aber kumulativ (mit anderen gleichartigen, aber jeweils einzeln nicht hinreichenden Bedingungen) hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfallt.
Nach dieser weiteren, allgemeineren Fassung wäre dann auch das Abstimmungsverhalten des einzelnen Gremiumsmitglieds, soweit es mit der Mehrheit stimmt, als kausal für den Beschluß und die daraus resultierenden Erfolge anzusehen. Dies gilt auch dann, wenn die Mehrheit größer als erforderlich ist96 . Ob diese weitere Modifikation der conditio-sine-qua-non-Formel zulässig ist, bedarf aber noch der Begründung. Vgl. dazu oben 1. c) und 1. c) aal (I). Traeger; Kausalbegriff, S. 47 f. Vgl. auch oben Teil A I. I. c) aal (I). 94 Auf diesen Unterschied zu den "klassischen" Alternativfällen verweisen auch Beulke/ Bachmann, JuS 1992, 737 (763); Deutscher/Körner; wistra 1996, 327 (334); Scholl, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 214. 95 Tarnowski, Kausalitätsbegriff, S. 46 f. Vgl dazu auch oben Teil A I. I. c) aal (2). 96 So Meyer; NJW 1992, 3193 (3198), der aber den Unterschied zur Formel von Traeger und Tarnowski nicht anspricht. Ähnlich Kuhlen, NStZ 1990, 566 (570), nach dessen Ansicht es "ebenso wie bei der Doppelkausalität um eine Ausnahme von der Formel der Äquivalenztheorie" geht; Beulke/Bachmann, JuS 1992, 737 (743); Deutscher/Körner; wistra 1996, 327 (334). Kritisch Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 69 (Fn. 275). Grundsätzlich a.A. Dencker; Kausalität, S. 116; Toepel. Kausalität, S. 74 und 95 f. 92
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Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, daß mit der Lehre von der conditio-sinequa-non, die insbesondere von der Rechtsprechung angewandt wird, für die Fälle überbedingter Erfolge im Gremium mit dem Bestand an anerkannten Anwendungsregeln und Modifikationen keine allseits überzeugende Lösung gefunden werden kann97 .
2. Lösung nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung a) Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung. Der Versuch, die Unzulänglichkeiten der conditio-sine-qua-non-Formel zu beheben
aa) Die Kritik an derconditio-sine-qua-non-Formel
Die in der Literatur verbreitete Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung98 steht wie die conditio-sine-qua-non-Formel auf der Basis der Äquivalenztheorie, geht also von der Gleichwertigkeit (Äquivalenz) aller Bedingungen eines Erfolges aus. Jedoch lehnt sie bei der Ermittlung des Kausalzusammenhangs die conditiosine-qua-non-Formel ab 99 . Das hypothetische Eliminationsverfahren der conditio-sine-qua-non-Formel sei ungeeignet, die Frage der Kausalität zu beantworten. Vielmehr setze es die Kenntnis des Kausalzusammenhangs logisch voraus, denn nur wenn man bereits wisse, daß zwischen der Ursache und der Folge ein ursächlicher Zusammenhang bestehe, ließe sich sagen, daß ohne die Ursache die Folge nicht eingetreten wäre. Sei die Wirkungsweise der Ursache dagegen unbekannt, so könne auch das "Wegdenken" nach der conditio-sine-qua-non-Formel keine Antwort auf die Frage nach dem Ursachenzusammenhang geben 100. Die conditio-sine-qua-non-Formel habe daher allenfalls kontrollierende Bedeutung 101 oder diene als Hilfsmittel 102 . 97 Nach Weißer, Kollegialentscheidungen, S. l06ff., ist das Problem mit der conditio-sinequa-non-Formel und den dazu entwickelten Anwendungsregeln nicht zu lösen. Ebenso Franke, B1au-FS 1985,227 (241 mit Fn. 75); ders., JZ 1982,579 (582); Scholl, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 225 f. Vgl. dazu näher unten 5. 98 Begründet von Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931. Vgl. S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 73ff.; Jescheck/Weigend, AT, § 28 II; Jakobs, AT, 7/5 ff.; LK-Jescheck, Vor § 13 Rn. 55 f.; SK- Rudolphi, Vor § 1 Rn. 39 ff.; Roxin, AT 1, § 11 Rn. 14f.; NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 89ff.,jeweils m. w. N. 99 Einen Überblick über neuere Arbeiten zum Kausalbegriff im Strafrecht bietet Hilgendorf, ARSP 1995, 272 (Literaturbericht). Aus zivilrechtlicher Sicht vgl. Schulin, Kausalitätsbegriff, S. 99 ff. !OO Engisch, Kausalität, S. 13ff.; Arthur Kaufmann, Eb. Schmidt-FS 1961,200 (209); Jescheck/Weigend, AT, § 28 II 3. und 4.; LK-Jescheck, Vor § 13 Rn. 55; S/S/ Lenckner, Vor § 13 Rn. 74; SK-Rudolphi, Vor § 1 Rn. 40; NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 87; Jakobs, AT, 7/8 ff.; Otto, AT, § 6 Rn. 28; Roxin, AT 1 § 11 Rn. 11; Schmidhäuser, AT, 8/59; Fincke, Arzneimittelprüfung, S. 36. Vgl. auch Schulin, Kausalitätsbegriff, S. 113 f.
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Darüber hinaus führe die conditio-sine-qua-non-Formel in die Irre, wenn Reserveursachen bereitstünden, die in gleicher Weise und zum gleichen Zeitpunkt zum selben Erfolg geführt hätten, oder wenn der Erfolg von mehreren unabhängig voneinander wirksamen Bedingungen (alternative Kausalität; der Verf.) herbeigeführt worden sei 103: - Die Lehre vom Erfolg in seiner konkreten Gestalt könne nicht in allen Fällen Reserveursachen ausschließen. Immer dann, wenn die Reserveursache (durch einen hypothetischen Kausalverlauf) genau denselben konkreten Erfolg, d. h. einen Erfolg in derselben "individuellen zeitlich räumlichen Gestalt"I04, herbeigeführt hätte 105, könne der Ausschluß der nicht verwirklichten Reserveursache nicht mehr durch Erfolgskonkretisierung erfolgen 106 • Der zum Erfolg führende "konkrete Kausalverlauf' dürfe dabei zur Erfolgsbeschreibung nicht verwendet werden 107. - In der von Spendel 108 vorgeschlagenen Ergänzung der conditio-sine-qua-nonFormel durch das Verbot des Hinzudenkens nicht verwirklichter Umstände sehen die Vertreter der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung einen Widerspruch zum hypothetischen Eliminationsverfahren. Denn wenn man insoweit nicht mehr frage, was bei Hinwegdenken der auf ihre Ursächlichkeit zu untersuchenden Handlung passiert wäre, sondern statt dessen auf die tatsächlich verwirklichten Umstände abstelle, sei die Formel in Wahrheit aufgegeben 109. Darüber hinaus zeige sich das Versagen der conditio-sine-qua-non-Formel darin, daß sie die Fälle alternativer Kausalität nicht zu lösen vermöge. Gerade aus dem Umstand, daß auch ihre Befürworter sich gezwungen sähen in diesen Fällen eine klare Ausnahme von der conditio-sine-qua-non-Formel zu machen 110, ergebe 101 lescheck/Weigend, AT, § 28 11 4.; SK-Rudolphi, Vor § I Rn. 40; Amelung, Der Bundesgerichtshof als "Gesetzgeber", S. 68. 102 Vgl. Lackner/Kühl, Vor § 13 Rn. 10; S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 74; Fincke, Arzneimittelprüfung, S. 37 ("Gegenprobe"); Hilgendorf, Lenckner-FS 1998,699 (701, 705). 103 S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 74; lescheck/Weigend, AT, § 28 11 4., der statt von alternativer Kausalität (= Doppelkausalität) von kumulativer Kausalität spricht; SK-Rudolphi, Vor § I Rn. 40, 51; WesseIs, AT, Rn 157. 104 Definition nach Schlüchter, JuS 1976,378 (381). 105 Vgl. dazu die Fallbeispiele (3) - Stockfall- und (4) - Scharfrichterfall- oben 1. b). 106 So NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 91; Engisch, Kausalität, S. 15; Sofos, Mehrfachkausalität, S.73ff. 107 Dazu oben 1. a). Engisch, Kausalität, S 13 ff.; Roxin, AT I, § 1I Rn. 20, Fn. 36; Kühl, AT, § 4 Rn. 15; S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 74. So auch SpendeI, Kausalitätsformel, S. 32, für die Anwendung der conditio-sine-qua-non-Formel. 108 SpendeI, Kausalitätsformel, S. 38. 109 So Roxin, AT I, § 11 Rn. 13; Arthur Kaufmann, Eb. Schmidt-FS 1961,200 (209); NKPuppe, Vor § 13 Rn. 97; lescheck/Weigend, AT, § 28 11 4; LK-lescheck, Vor § 13 Rn. 56 (Fn. 77); S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 74; Fincke, Arzneimittelprüfung, S. 37.
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
sich die Schlußfolgerung, daß die Formel den strafrechtlichen Kausalbegriff nicht zutreffend wiedergebe 111 • Bei der Untersuchung der Kausalität des Verhaltens einzelner Gremiumsmitglieder für einen Gremiumsbeschluß und die daraus resultierenden strafrechtlichen Erfolge 112 hat sich gezeigt, daß eine befriedigende Lösung (Bejahung der Kausalität)"3 nur durch eine weitere Ergänzung der conditio-sine-qua-non-Formel möglich ist l14 . Es liegt eine Kombination alternativer mit kumulativer Kausalität vor" 5 . Anhand der hier zu untersuchenden Gremiumsproblematik drängt sich erneut die Frage auf, ob nicht die conditio-sine-qua-non-Formel durch eine andere, leistungsfähigere Kausalitätsformel zu ersetzen ist. Aus den genannten Schwierigkeiten bei der Anwendung der conditio-sine-quanon-Formel ziehen die Anhänger der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung den Schluß, daß die conditio-sine-qua-non-Formel zur Beschreibung des strafrechtlichen Kausalzusammenhangs ungeeignet sei 116. Engisch 117 hat daher bereits 1931 vorgeschlagen, die conditio-sine-qua-non-Formel durch die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung zu ersetzen. Die entscheidende Formulierung lautet wie folgt: lIO Vgl. dazu oben I. c) mit den Beispielsfällen (5) - Giftfall -, (6) - Schußfall - und (7) - Schrottplatzfall -. A.A., d. h. Ablehnung von Kausalität: Mezger. LB, S. 116; Toepel, Kausalität, S. 74 f.; Dencker. Kausalität, S. 52 ff.; Joerden, Dyadische Fallsysteme, S. 35 ff. III SO NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 88; Jescheck/Weigend, AT, § 28 II 3. und 4.; Roxin, AT I, § 11 Rn. 13; SK-Rudolphi, Vor § I Rn. 40; S/ S/ Lenckner. Vor § 13 Rn. 74. 112 Vgl. oben I. 113 Was dieses Ergebnis angeht, ist die überwiegende Mehrheit in der Literatur mit der Rechtsprechung einig. Vgl. Kuhlen, NStZ 1990,566 (570); Meier. NJW 1992,3193 (3198); Beulke / Bachnumn, JuS 1992, 737 (743); Puppe, JR 1992, 30 (32); Hilgendorj. NStZ 1994, 561 (565f.); Deutscher/Körner. wistra 1996, 327 (334); S/S/Lenckner. Vor § 13 Rn. 83a; NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 109; Lackner/Kühl, Vor § 13 Rn. 11; Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 14 Rn. 37; Kühl, AT, § 4 Rn. 20b; Hoyer. AT I, S. 37; Roxin, AT I, § 11 Rn. 18; A.A. Samson, StV 1991, 182 (185f.), der auf Kausalität durch Verbreiten von Resignation abstellen will, also versucht die "Meinungsmacher" unter den Geschäftsführern ausfindig zu machen, die durch Beeinflussung der anderen (in Kombination mit dem eigenen Stimmverhalten) für den Beschluß ursächlich seien. 114 Vgl dazu oben I I. c), wo die Gremiumskonstellation als Mischung kumulativer mit alternativer Kausalität beschrieben wurde, auf die auch die für Fälle alternativer Kausalität abgewandelte Formel von Traeger und Tarnowski (oben I. I. c) bb) (2» nicht ohne weitere Modifikation paßt. Für eine Lösung mit Hilfe dieser abgewandelten Formel Meier. NJW 1992, 3193 (3198); Beulke/Bachmann, JuS 1992, 737 (743); Deutscher/Körner. wistra 1996,327 (334). 115 Vgl. dazu oben I. c). 116 Engisch, Kausalität, S. 13 ff.; Jescheck/Weigend, AT, § 28 II 3. und 4.; LK-Jescheck, Vor § 13 Rn. 55; S/S/ Lenckner. Vor § 13 Rn. 74f.; SK-Rudolphi, Vor § I Rn. 40; NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 89; Jakobs, AT, 7/8 ff.; Roxin, AT I, § 11 Rn. 11 ff.; Wesseis, AT, Rn. 156 ff.; Hoyer. GA 1996, 160ff. ll7 Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931.
I. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei aktivem Tun
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,,Ein Verhalten erweist sich dann als ursächlich für einen nach einem bestimmten strafgesetzlichen Tatbestand abgegrenzten konkreten Erfolg, wenn sich an jenes Verhalten als zeitlich nachfolgend Veränderungen in der Außenwelt angeschlossen haben, die mit dem Verhalten und untereinander in ihrer Aufeinanderfolge (natur-) gesetzmäßig verbunden waren und die ausgemündet sind in irgendeinen Bestandteil des konkreten Sachverhalts, der dem Strafgesetze gemäß als Erfolg abgegrenzt ist." 118
In Anschluß an Engisch hat Jescheck die Fonnel kürzer fonnuliert. Es soll für die Frage der Kausalität nach der Bedingungstheorie allein darauf ankommen, "ob sich an eine Handlung zeitlich nachfolgende Veränderungen in der Außenwelt angeschlossen haben, die mit der Handlung gesetzmäßig verbunden waren und sich als tatbestandsmäßiger Erfolg darstellen." 119
bb) Die Feststellung der Kausalität nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung
Wesentlich für das Vorliegen von Kausalität ist also das Bestehen eines gesetzmäßigen Zusammenhangs. Es ist daher zunächst zu untersuchen, wann ein solcher Zusammenhang vorliegt und wie er im Einzelfall methodisch festzustellen ist. Nach Engisch ist die exakte Methode zur Ennittlung von Gesetzen das Experiment. Dabei untersuche man einen Tatsachenkomplex (K) bald in, bald außer Verbindung mit einem hinsichtlich seiner Vrsachenqualität interessierenden Moment V auf seine Folgen. Soweit sich die Folgeerscheinungen (F) nur in Verbindung mit V anschließen, nennt man V ursächlich. Bei dieser Vorgehensweise sei aber folgendes zu beachten 120: Die Aussage Fist (K vorausgesetzt) nicht ohne V, bedeute nicht, daß V der einzige Vmstand sei, der in Verbindung mit K die Folgeerscheinung F nach sich ziehe. Es ließen sich noch andere Momente VI, V2, V3 u.s.w. denken, die ebenfalls in Verbindung mit dem Tatsachenkomplex (K) zu der Folgeerscheinung (F) führen. Die Aussage "K bewirkt F nur in Verbindung mit V" bedeute zu ihrer negativen Seite hin nicht, daß K in keiner anderen Verbindung als mit V zu F führe, sondern nur, daß der Komplex (K), wie er im Experiment vor Einführung von V angesetzt ist, nicht alleine zu F führe. Daraus ergebe sich weiter, daß mit der experimentellen Aussage "F ist unter Voraussetzung von K nicht ohne V" a priori der Sinn verbunden sei, daß K so beschaffen sei, daß darin weder V noch etwaige in gleichem Sinne wirksamen VI, V2, ... enthalten oder angelegt seien. Hier liege der wesentliche Vnterschied zur conditio-sine-qua-non-Fonnel, da beim Wegdenken des als Vrsache interessierenden Verhaltens nicht auszuEngisch. Kausalität, S. 21. Jescheck/Weigend. AT, § 28 11 4.; LK-Jescheck, Vor § 13 Rn. 56. so auch Roxin. AT I, § 11 Rn. 14; S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 75 m. w. N. 120 Vgl. Engisch. Kausalität, S. 24ff. 118
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schließen sei, daß im Tatsachenkomplex K noch weitere Ux stecken, die die gleiche Wirksamkeit wie U besäßen und damit fälschlich zur Leugnung des Ursachenzusammenhangs führten. - Die im Experiment gewonnene Feststellung, "K bewirkt nur in Verbindung mit U die Erscheinung P', beziehe sich nicht auf einzelne hic et nunc beobachtete Vorgänge, sondern auf die Gattung dieser Vorgänge, drücke also ein Gesetz aus. Deshalb habe der Rückgang von dem zu beurteilenden konkreten Fall auf das abstrakte Gesetz ("F ist nicht ohne U") die Bedeutung einer Subsumtion. Ein konkretes Verhalten sei also dann Ursache bestimmter Folgeerscheinungen, wenn es von der Art des im Experiment eingeführten Moments sei und zu einem Komplex von der Art des im Experiment vorausgesetzten hinzugetreten ist und die konkreten Folgeerscheinungen von der Art der im Experiment ermittelten sind. Der wesentliche Gegensatz zur conditio-sine-qua-non-Formel bestehe darin, daß die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung nur nach der Subsumierbarkeit des konkreten Vorgangs unter die Naturgesetze frage, nicht aber danach, was in concreto geschehen wäre, wenn man sich das interessierende Verhalten wegdenke. Durch das von Engisch vorgeschlagene Verfahren lassen sich nun Reserveursachen (hypothetische Kausalverläufe) bei der Kausaluntersuchung wirksam ausblenden. Da die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung nur danach fragt, ob das Verhalten des Täters und die nachfolgenden zum Erfolg hinführenden Veränderungen in der Außenwelt als Unterfall einer vorher empirisch ermittelten Gesetzmäßigkeit aufzufassen sind (Subsumtionsvorgang), stören andere Umstände, die an Stelle des untersuchten Täterverhaltens ebenfalls den Erfolg bewirkt hätten (ebenfalls subsumierbar wären), die Kausalitätsfeststellung durch Subsumtion des wahren (tatsächlich vorliegenden) Ablaufs der Dinge unter (Natur-)Gesetze nicht. Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung erreicht so bereits durch ihren Ansatzpunkt das, was Spende/ 121 auf der Basis der conditio-sine-qua-non-Formel erst durch das ausdrückliche Verbot des Hinzudenkens nicht verwirklichter (hypothetischer) Umstände erreicht: nämlich, daß der Kausalitätsfeststellung nur das reale, Wirklichkeit gewordene Geschehen und nicht hypothetische Geschehensabläufe zugrundegelegt werden dürfen 122. Als Beispiel kann insoweit der oben dargestellte "Scharfrichterfall" (Fall 4 123 ) dienen. Hier steht naturgesetzlich gesichert fest, daß die Betätigung des Auslösemechanismus' eines Schafotts zum Herabfallen des Fallbeiles und zum Tod eines dort festgebundenen Menschen führt. Diese Gesetzmäßigkeit ist in ihrem Gesamtablauf experimentell überprüfbar und kann auch aus anderen wissenschaftlich gefestigten Gesetzen (Fallgesetze, medizinische Kenntnisse über tödliche VerletzunKausalitätsformel, S. 38. So auch S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 80; SK-Rudolphi, Vor § I, Rn. 45; Kühl, AT, § 4 Rn. 24; Jescheck/Weigend, AT, § 28 II 4; Roxin, AT I, § 11 Rn. 22. 123 Siehe I. I. a). 121
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gen) hergeleitet werden. Dabei sind das Vorhandensein des Schafotts, des Hinrichtungsopfers 0 und weitere Randbedingungen nach der Terminologie Engischs der Tatsachenkomplex K, zu dem noch der Umstand U (Betätigung des Auslösemechanismus') hinzutreten muß, um die Folge F (Tod des 0) herbeizuführen. Indem V den Knopf drückt, verwirklicht er den Umstand U, der nach der allgemeinen Gesetzmäßigkeit zusammen mit K die Folge F auslöst. Das Verhalten des V und der daran anschließende mechanische Ablauf am Schafott, weIcher mit dem Tod des 0 endet, kann somit als Ausprägung der allgemeinen Gesetzmäßigkeit verstanden werden, kann unter das Gesetz subsumiert werden. Daß auch der Henker im sei ben Augenblick den Knopf gedrückt hätte, bleibt irrelevant. - Zum Ersten, weil dieser Umstand nicht wahr, d. h. nicht Wirklichkeit geworden ist und insoweit gar kein Verhalten mit entsprechenden nachfolgenden Veränderungen in der Außenwelt vorliegt, das unter Gesetze subsumiert werden könnte. Die Reserveursache - Knopfdrücken durch den Henker -, die durch einen hypothetischen Kausalverlauf zu demselben konkreten Erfolg geführt hätte, wird so wirksam aus der Kausalbetrachtung ausgeschlossen. Zum Zweiten würde auch ein reales zweites Verhalten die Subsumierbarkeit des Verhaltens von V unter die Gesetzmäßigkeit nicht ausschließen, wenn nur das Verhalten des V und die daran anschließenden zum Erfolg hinführenden Veränderungen wahr sind. Aus diesem zweiten Aspekt ergibt sich also des weiteren, daß mit der Formel von der gesetzmäßigen Bedingung auch das Problem der alternativen Kausalität (Doppelknusalität) gelöst werden kann l24 . Denn das Vorliegen eines gesetzmäßigen Zusammenhangs basiert nicht darauf, daß es keine anderen Umstände gibt, weIche einen vorliegenden Tatsachenkomplex so ergänzen, daß ebenfalls die Folge F gesetzmäßig auftritt. Als Beispiel kann der oben dargestellte Schrottplatz-Fall (Fall 7) dienen 125. Hier besteht der vorgegebene Sachverhaltskomplex K aus dem Umstand, daß 0 unter einem Schrottpaket steht, das von einem Elektromagneten gehalten wird, und dieser Elektromagnet wiederum durch eine Stromversorgungsleitung versorgt wird, weIche durch zwei verschiedene Schalter jeweils gänzlich unterbrochen werden kann. Das Betätigen jedes einzelnen Schalters ist schon ein Umstand, der geeignet ist, den Tatsachenkomplex K so zu ergänzen, daß die Folge F (Herunterfallen des Schrottpaketes und Tod des 0) eintritt. Betätigen nun zwei Personen unabhängig voneinander gleichzeitig die beiden Schalter, so kann jeder Umstand (Handeln von PI und P2) mit den nachfolgenden Veränderungen unter die bestehende Gesetzmäßigkeit (Unterbrechung der Stromzufuhr und Herabfallen des Schrott124 So Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (876 ff.); NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 88, 96; Hilgendorf, NStZ 1994,561 (564f.); Roxin, AT I, § 11 Rn. 24f.; SK-Rudolphi, Vor § 1 Rn. 51; S/S/ Lenckner, Vor § 13 Rn. 82. Engisch selbst wendet aber seine Formel auf diese Fälle nicht an, sondern konzentriert sich auf die Lösung der Reserveursachenproblematik. 125 Vgl. I. I. c) aa) (2).
4*
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
paketes) subsumiert werden. Da bei dieser Vorgehensweise die Frage nach dem hypothetischen Verlauf der Dinge bei Nichthandeln der einzelnen Person gar nicht gestellt wird, kann der Umstand, daß die andere Person durch Drücken des anderen Schalters ebenfalls in einer Weise gehandelt hat, die den Erfolg isoliert gesetzmäßig erklärt, die Kausalitätsfeststellung für die erste Person nicht stören 126. Die Vertreter der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung sehen gerade in dem Umstand, daß ihre Formel ohne Modifikation die Fälle alternativer Kausalität lösen könne, ein tragendes Argument für deren Richtigkeit 127.
Im folgenden ist zu untersuchen, ob die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung auch das Kausalitätsproblem im Gremium überzeugend lösen kann. b) Anwendung der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingungung
auf die Gremiumsproblematik
Im Fall der Gremiumsentscheidung mit größerer als der erforderliche Mehrheit liegt eine Kombination aLternativer mit kumuLativer KausaLität vor 128 . Eine Konstellation, die sich von den üblicherweise im Rahmen der alternativen Kausalität diskutierten Fälle dadurch unterscheidet, daß das einzelne Verhalten eines Beteiligten unter keinen Umständen geeignet ist, alleine, d. h. ohne ein gleichgerichtetes Verhalten anderer Mitglieder des Kollegialorgans, überhaupt eine Wirkung zu entfalten. In diesem Fall steht auch die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung vor Schwierigkeiten bei der Kausalitätsfeststellung, die im folgenden näher untersucht werden sollen. 126 A.A. Joerden, dyadische Fallsysteme, S. 35 ff. Seiner Ansicht nach ist bei der Kausalanalyse die "Geschichte" (= Komplex zeitlich vor dem Erfolg liegender Sachverhalte) darauf zu untersuchen, ob ein bestimmter Umstand (der fragliche Kausalfaktor) darin sicher, möglich, oder unmöglich vorkommt. Nur wenn man zu dem Urteil "sicher" komme, liege Kausalität vor. Im Falle der alternativen Kausalität könne aber nur das Urteil ,,möglich" gefällt werden, weil jede alternative Bedingung im Hinblick auf die andere in der Geschichte des Erfolges nicht auftauchen müsse. Man könne nur sagen, daß beide Bedingungen zusammen (betrachtet als Einheit) sicher vorkommen müssen. Erfolgszurechnung könne nur erfolgen, wenn beide Bedingungen als Einheit behandelt werden dürfen. Dies sei aber nur der Fall, wenn sie von derselben Person (dazu BGHSt 39, 195 mit Anm. Murmannl Ra/h, NStZ 1994, 215 (217» oder von Mittätern (Zurechnung nach § 25 II) gesetzt werden (Joerden, a. a. 0., S. 159f.). Mit dieser Auffassung auf der Basis der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung (vgl. a. a. 0., S. 36, Fn. 44) kommt er der conditio-sine-qua-non-Formel sehr nahe. Die unkomplizierte Lösung von Alternativfällen ist kein zwangsläufiges Resultat der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung, sondern beruht auf der Annahme, daß bei der Subsumtion unter Gesetzmäßigkeiten Teile des wahren Sachverhaltes unberücksichtigt bleiben dürfen (mehrfache Subsumtion von Teilsachverhalten). Dazu auch unten die Ausführungen zur entsprechenden Gremiumskonstellation (Teil Ar. 2. b) bb». 127 SI SI Lenckner, Vor § 13 Rn. 74, 82; SK-Rudolphi, Vor § 1 Rn. 42, 51; NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 88, 96; Jescheck, S. 253 f.; Roxin, AT I, § 11 Rn. 13,21. 128 Dazu oben 1. 1. c).
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aa) Ansatz von Engisch
Bei der Feststellung von Gesetzmäßigkeiten ist nach Engisch ein Sachverhaltskomplex K darauf zu untersuchen, ob bei Hinzutreten von U die Folge Feintritt. Ist dies stets der Fall, so ist U als Ursache anzusehen. Dabei sei allerdings K so zu bilden, daß in K keine weiteren U (UX) vorhanden seien 129. Dieses Postulat stößt aber auf Schwierigkeiten in solchen Fällen kumulativer Kausalität, in denen nur die Kumulation zweier absolut identischer Umstände die Folge auf der Basis des übrigen Tatsachenkomplexes K herbeiführen. Beispiel: PI und P2 geben jeweils \0 Tropfen Gift in ein Getränk des 0, welcher daran stirbt. Erst die Gesamtdosis von 20 Tropfen war tödlich.
In solchen Fällen muß bei Untersuchung des einzelnen Beitrags (Verhalten von PI oder P2) das absolut identische Verhalten bereits im Sachverhaltskomplex K enthalten sein, denn U (Gabe von 10 Tropfen) löst die Folge nur aus, wenn bereits ein anderes U (UX) ebenfalls vorliegt. Auch die Gremiumskonstellation gehört in ihrer unproblematischen Variante, nämlich dann, wenn die erforderliche Mehrheit gerade erreicht wird, zu dieser Konstellation. Über die Lösung dieser Fälle besteht im Ergebnis Einigkeit, die Kausalität wird bejaht - kumulative Kausalität 130. Problematisch ist die Ursächlichkeit, wenn über die erforderlichen Stimmen hinaus noch weitere überflüssige Stimmen vorhanden sind, wenn also in einem Dreiergremium die Abstimmung mit 3:0 Stimmen ausgeht. Die gültige Gesetzmäßigkeit besagt, daß zum Tatsachenkomplex K (= Rahmenbedingungen) 2 x U (= 2 Stimmen) hinzutreten müssen, um F auszulösen. Bei der Untersuchung der Gesetzmäßigkeit des Verhaltens eines einzelnen Beteiligten muß im Tatsachenkomplex K bereits ein identisches Verhalten eines anderen Beteiligten vorhanden sein. Schwierig ist die Subsumtion des Sachverhalts bei einem 3:0 -Beschluß unter diese Gesetzmäßigkeit. Denn das Verhalten des einzelnen kann nur dann subsumiert werden, wenn es zum Tatsachenkomplex K + 1 x U hinzutritt. Wie aber in tatsächlicher Hinsicht bekannt ist, tritt es zu K + 2 x U hinzu, einer Konstellation, die die Folge bereits vollständig erklärt. Man weiß eben, daß das Verhalten eines der drei Gremiumsmitglieder überflüssig war. Dies ist jedoch ein bei allen Fällen alternativer Kausalität auftretendes Phänomen. Auch bei den klassischen Fällen der Doppelkausalität 131 ist das Verhalten des anderen überflüssig. Und je nach Blickrichtung kann jedes der beiden Verhalten, weil gleichzeitig und gleich geeignet, als überflüssig zur Erklärung des Erfolges erscheinen. Der Unterschied zur Abstimmung im Gremium besteht aber darin, daß in den klassischen Fällen jedes Verhalten alleine zusammen mit einem Tatsachenkomplex Engisch, Kausalität, S. 25. S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 83; SK-Rudolphi, Vor § 1 Rn. 51a; Lackner/Kühl, Vor § 13 Rn. 11; Kühl, AT, § 4 Rn. 21; Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 14 Rn. 37. 131 Vgl. oben Teil Al.l. c) Fall (5) und (6). 129
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die Folge erklärt, während man hier von zwei identischen Verhaltensweisen willkürlich die eine in die Betrachtung einbeziehen muß (sonst ist die Gesetzmäßigkeit 2 x U + K = F nicht erfüllt), die andere dagegen ausschließen muß (sonst liegt 2 x U schon vor). Betrachtet man den Vorgang der Kausalitätsfeststellung nach dieser Methode insgesamt für alle Beteiligten A, B, C, so fällt auf, daß sie je nachdem, wessen Kausalität gerade in Augenschein genommen wird, in unterschiedlichen Rollen auftauchen müssen. Untersucht man das Verhalten von A, so muß man entweder B oder C als Teil des gegebenen Sachverhalts berücksichtigen, den anderen aber aus der Betrachtung ausklammern. Betrachtet man im Anschluß daran die Kausalität von B, so muß man nun A oder C mit einbeziehen und den jeweils anderen ausblenden. Soweit wäre dies nun möglich, wenn man zweimal C ausgeklammert hätte. Die Folge wäre durch A und B erklärt. Prüft man nun die Kausalität des C, der bisher ausgeklammert war, so müssen A oder B plötzlich ausgeklammert werden, die bisher als U (Ursache) oder als Teil von K (Teil des vorliegenden Sachverhalts) für die Subsumtion erforderlich waren; denn nur einer von beiden, nicht aber beide, erfüllen zusammen mit C die Gesetzmäßigkeit. Die Ausführungen von Engisch l32 geben auf diese Problematik keine Antwort. Von ihm wird nur der Fall behandelt, daß mehrere U in Betracht kommen, die für sich alleine den Sachverhaltkomplex K so ergänzen, daß die Folge F eintritt. Sein Verfahren wurde entwickelt, um Reserveursachen, also tatsächlich nicht verwirklichte Umstände aus der Kausalitätsbetrachtung auszuschließen. Fälle alternativer Kausalität hat er nicht behandelt 133 . Die von ihm aufgestellte Forderung, daß der Sachverhaltskomplex K so beschaffen sein muß, daß darin kein anderes U enthalten ist, widerspricht dem eben dargestellten Verfahren, würde aber auch schon in Fällen echter kumulativer Kausalität bei gleichartigen Handlungen zweier Personen der Kausalitätsfeststellung entgegenstehen. Sein Verfahren läßt sich nur dann anwenden, wenn in Fällen kumulativer Kausalität die kumulierenden Beiträge verschiedenartig und damit unterscheidbar sind. bb) Die Konzeption von Puppe l34 Puppe hat die Konzeption Engischs aufgegriffen und gerade im Hinblick auf die Lösung der Fälle alternativer Kausalität und Mehrfachkausalität angewandt und weiterentwickelt. Engisch, Kausalität, S. 21 ff. Dies gilt jedenfalls für Kausalität durch aktives Tun. Auf die Ausführungen von Engisch, Kausalität, S. 29 ff., zu einem Fall der Mehrfachkausalität des Unterlassens wird unten II. 4. eingegangen. 134 Vgl. Puppe, ZStW 92 (1980),863 ff.; NK-Puppe. Vor § 13 Rn. 83 ff. Ihr folgend Sofos, Mehrfachkausalität, S. 107 ff. 132 133
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Wie Engisch und die bereits oben aufgeführten Vertreter der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung lehnt sie das hypothetische Eliminationsverfahren der conditio-sine-qua-non-Forrnel ab. Stattdessen fordert sie die Anwendung eines "streng naturwissenschaftlichen, nicht metaphysischen Ursachenbegriffs", den sie der Wissenschaftstheorie entlehnen will 135 • Ursache ist danach jeder Bestandteil einer kausalen Erklärung des Erfolges. Die Erklärung eines singulären Ereignisses wird dadurch gegeben, daß man ein Kausalgesetz angibt, unter das jenes Ereignis als Folge und bestimmte wirklich gegebene Antezedentien des Ereignisses als Ursachen subsumierbar sind l36 . Gibt es einen allgemeinen Satz, der besagt, daß wenn Bedingungen von der Art p, q, r, ... x gegeben sind, die Folge e (strafrechtlicher Erfolg; der Verf.) eintritt und sind tatsächlich solche Bedingungen, nämlich pi, q 1, r1, ... x I, gegeben, so wird der vorliegende Erfolg dadurch erklärt 137 . Die einzelnen Bedingungen, die bei diesem Verständnis von Kausalität den Erfolg erklären, sind allerdings so zahlreich, daß sie nicht vollständig aufgezählt werden können und auch nie alle von einer Person gesetzt werden. Diese Gesamtheit der Bedingungen kann als sogenannte Gesamtursache 138 bezeichnet werden. Fraglich ist dann, unter welchen Voraussetzungen das Verhalten einer Person, das eine Bedingung unter vielen darstellt, als Ursache bezeichnet werden kann. Denn im Strafrecht ist es ja nicht von Interesse, die Gesamtheit aller Bedingungen für einen Erfolg darzustellen. Man will nur wissen, ob ein bestimmtes menschliches Verhalten zu diesen Bedingungen gehört. Hier sei eine logische Bestimmung des Bedingungsverhältnisses erforderlich. Bedingungen schlechthin gebe es nicht, sinnvoll könne nur von hinreichenden oder notwendigen Bedingungen oder Teilen davon die Rede sein. Dabei könne die strafrechtlich interessierende EinzeIursache (das auf Ursächlichkeit zu untersuchende Verhalten eines Menschen; der Verf.) nicht als hinreichende Bedingung verstanden werden. Hinreichende Bedingung sei nur die Gesamtursache, die Gesamtheit aller Bedingungen, welche nach dem oben beschriebenen Erklärungsmodell den Erfolg erklären 139. Ebensowenig sei das Einzelverhalten eine notwendige Bedingung. Denn würde man damit Ernst machen, seien die Fälle der Doppelkausalität (alter135 Vgl. Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (864, 874). Dazu auch Schulin, Kausalitätsbegriff, S.50ff. 136 Hier taucht der Gedanke von Engisch, Kausalität, S. 24ff., wieder auf, der ja gerade die Feststellung der Ursächlichkeit als Subsumtionsvorgang beschrieben hat. Dazu auch Hilgendorf, Jura 1995,414 ff., und Sofos, Mehrfachkausalität, S. 107 ff. 137 Vgl. im einzelnen Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (874 f.); Sofos, Mehrfachkausalität, S. 27ff. (37ff.). Vgl dazu auch Hilgendorj, Jura 1995,514 (515f.); ders., ARSP 1995,272 (273); ders., Lenclmer-FS 1998,699 (704 ff.). Bernsmann, ARSP 1982, 536; Kindhäuser, GA 1982,477; Schutz, Laclmer-FS 1987,39. 138 Vgl. NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 87. 139 NK-Puppe, Vor § 13 Rn 96.
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native Kausalität) und der Mehrfachkausalität 140 nicht zu lösen. Hier liege auch der "Kardinalfehler" der conditio-sine-qua-non-Formel, die durch ihr Wegdenkverfahren diese Notwendigkeit im Einzelfall postuliere, sie aber dann in den Fällen der Doppel-und Mehrfachkausalität nicht Ernst nehme l41 . Eine Einzelursache sei nur ein notwendiger Bestandteil einer nach allgemeinen empirischen Gesetzen hinreichenden und wahren Bedingung 142. Ausgangspunkt der Kausaluntersuchung muß also eine Gesetzmäßigkeit sein, welche allgemein und empirisch gesichert den Erfolg erklärt und die als hinreichende Bedingung anzusehen ist. Von dieser hinreichenden Bedingung, die sich aus vielen EinzeIbedingungen zusammensetzt, muß der als kausal zu bezeichnende Umstand ein notwendiger Bestandteil sein. Was notwendiger Bestandteil einer hinreichenden, den Erfolg erklärenden Bedingung (Gesamtursache; der Verf.) ist, hängt natürlich davon ab, was an Bestandteilen in die abstrakte Beschreibung der hinreichenden Bedingung aufgenommen wird. Hier ergibt sich nach Puppe das Problem der genauen Bestimmung der Bestandteile der hinreichenden Bedingung, die als abstraktes Gesetz, als Obersatz der Subsumtion formuliert werden muß. Denn durch Hinzufügen weiterer Sachverhalte zu einer hinreichenden Erfolgsbedingung erhalte man wieder eine wahre hinreichende Bedingung. Unter die neue, als erweiterte Bedingung gefaßte Gesetzmäßigkeit wäre dann auch die Verwirklichung des hinzugefügten Sachverhalts subsumierbar. Dieser hinzugefügte Sachverhalt wäre notwendiger Bestandteil des Bedingungskomplexes, der nach dieser ebenfalls wahren Gesetzmäßigkeit den Erfolg vollständig erklärt. Er wäre als mitursächlich anzusehen, obwohl feststeht, daß der hinzugefügte Sachverhalt für den Erklärungsgehalt der Gesetzmäßigkeit überflüssig ist, weil ja schon die erste, kürzer gefaßte Gesetzmäßigkeit den Erfolg erklärt. Der Sachverhalt, um den die erste hinreichende Erklärung erweitert wurde, ohne falsch zu werden, hat erkennbar mit der Erklärung nichts zu tun. Ein menschliches Verhalten, das diesen Sachverhalt verwirklicht, kann nicht als kausal angesehen werden. Es stellt sich nun die Frage, wie verhindert werden soll, daß beliebige Sachverhalte und damit beliebige Personen in die Kausalerklärung einbezogen werden können 143. Dies will Puppe erreichen, indem sie die Forderung aufstellt, daß für 140 Dieser Begriff bezeichnet Fälle, die der alternativen Kausalität vergleichbar sind und sich nur insofern davon unterscheiden, als gleichzeitig mehr als zwei real gegebene Umstände vorliegen, die den Erfolg erklären. Bsp: Ein Erschießungskommando tötet einen Delinquenten, wobei alle Kugeln gleichzeitig tödlich treffen. 141 NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 88. Vgl. aber Toepel, Kausalität, S. 95 f. und Dencker, Kausalität, S. 52 ff., 115, die mit dem Grundsatz von der Ursache als notwendiger Bedingung Ernst machen und in den Fällen der sogenannten "Mehrfachkausalität" Ursächlichkeit ablehnen. 142 Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (865 ff.); dies., JR 1992, 30 (32); NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 96. Ebenso Hoyer, AT I, S. 34; Hilgendorf, NStZ 1994,561 (565). S%S, Mehrfachkausalität, S. 109 m. w. N. und S. 197. Dazu auch Schuh, Lackner-FS 1987, 39ff. 143 Vgl. dazu Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (873); NK-Puppe Vor § 13 Rn. 96.
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die kausale Erklärung nur solche Gesetzmäßigkeiten verwendet werden dürfen, welche Mindestbedingungen aufstellen 144. Die empirischen Gesetzmäßigkeiten, unter die der Sachverhalt, das reale Geschehen, zu subsumieren ist, müssen so gefaßt werden, daß sie keine überflüssigen Bestandteile enthalten. Die hinreichende Mindestbedingung darf also nur für die Erklärung notwendige Bestandteile enthalten. Überflüssige Bestandteile erkenne man daran, daß das Gesetz auch ohne sie aHgemein gültig sei. Auf der Ebene der Bestimmung des maßgeblichen Gesetzes sei somit das "Wegdenken" am Platze l45 , nämlich dann, wenn man feststeHen will, ob ein möglicherweise überflüssiger Bestandteil des Gesetzes notwendig ist oder nicht. Hier ist nach der Gültigkeit mal mit, mal ohne den betreffenden Faktor zu fragen und wenn beide Fassungen wahr sind, die gekürzte, die Mindestbedingung, anzuwenden. Das Wegdenken als Verfahren zur Überprüfung, ob eine Handlung Ursache einer Folge ist, habe danach durchaus seine Berechtigung, nur müsse man die Handlung nicht aus der Welt hinwegdenken, mit der Folge, daß aHe Ersatzursachen an ihre SteHe treten könnten, sondern man müsse sie aus einer bereits projektierten kausalen Erklärung des Erfolges, die nur aus wahren Sätzen bestehen dürfe, hinwegdenken l46 . Mit dieser Methode ließen sich nun auch die FäHe der Doppel- und Mehrfachkausalität lösen, was sie an dem bereits oben behandelten GiftfaH (Fall 5)147 erläutert: Geben A und B jeweils 20 Tropfen Gift in ein Getränk des C, an dessen Wirkung dieser stirbt, so lasse sich zunächst ein Naturgesetz heranziehen, das besagt, daß bei der Giftmenge 40 Tropfen (2 x 20 Tropfen) ein Mensch stirbt. Da aber bekannt sei, daß bereits 20 Tropfen für die tödliche Wirkung ausreichten, sei die so formulierte hinreichende Bedingung keine Mindestbedingung. Die Angabe 2 x 20 Tropfen könne durch die Angabe 1 x 20 Tropfen ersetzt werden, ohne daß das Gesetz seine Gültigkeit verliere. Folge davon sei, daß man weder die Handlung des einen noch des anderen Nebentäters unbedingt für den Erfolg brauche. Eine von beiden Handlungen brauche man aber gewiß und dies sei der Grund dafür, daß beide Ursachen im Sinne einer zureichenden Mindestbedingung seien l48 . Mit anderen Worten läßt sich der Vorgang der Kausalitätsermittlung nach dem eben geschilderten Verfahren wie folgt beschreiben: Bei der Frage, ob A oder B mit ihren Handlungen (Giftgabe von je 20 Tropfen) den Tod des 0 herbeigeführt haben, ist zunächst die gültige empirische Gesetzmäßigkeit, formuliert als Mindestbedingung (d. h. frei von überflüssigen, für die 144 NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 96; Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (865 f.). Zustimmend Royer; AT, S. 34ff.; Rilgendorf, NStZ 1994,561 (565). Kritisch dazu Dencker; Kausalität, S. HOff. 145 Vgl. Puppe,ZStW 92 (1980), 863 (876). 146 NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 97.; So auch Royer; AT I, S. 37. 147 V gl. oben I. 1. c). 148 Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (877).
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
abstrakte gesetzliche Erklärung des Gifttodes nicht notwendigen Bestandteilen), zu ermitteln. Diese Mindestbedingung ist eine hinreichende Bedingung, die aus vielen einzelnen Umständen besteht. Diese einzelnen Umstände oder Bedingungen, wie z. B. das Vorhandensein der beteiligten Personen, die Verfügbarkeit des Giftes, das Trinken des Getränkes durch 0 etc. sind so mannigfaltig, daß sie nicht alle genannt werden können l49 . Bei der Formulierung dieser Mindestbedingung stellt sich nun hinsichtlich des interessierenden Aspekts Giftdosis heraus, daß bereits 20 Tropfen ausreichend sind, um den Tod eines Menschen zu erklären. Das Gesetz besagt also, daß bei Vorliegen der Rahmenbedingungen die Gabe von 20 Tropfen die Folge eintreten läßt. Im nächsten Schritt ist dann zu untersuchen, ob der real gegebene Sachverhalt unter die gefundene Gesetzmäßigkeit subsumiert werden kann, das heißt, ob die Folge mit dieser Gesetzmäßigkeit erklärt werden kann. Dabei ergibt sich, daß die Rahmenbedingungen pi, ql, rl, etc. (z. B. Vorhandensein des Täters, Opfers, Trinken des Getränks durch 0 etc.) sowie das Verhalten des Täters (Giftgabe von I x 20 Tropfen) real gegeben waren und unter die genannte Gesetzmäßigkeit subsumierbar sind. Damit hat man nach Puppe eine "projektierte kausale Erklärung ,,150. Innerhalb dieser projektierten kausalen Erklärung muß nun das als kausal zu erweisende Taterverhalten ein notwendiger Bestandteil sein. Die vom Tater gesetzte Bedingung darf aus dieser projektierten Erklärung nicht hinweggedacht werden können. Das ist für A der Fall. Denn dadurch, daß man sein Verhalten nur noch aus der projektierten Erklärung und nicht mehr aus der Welt hinwegdenkt, erweist sich das Verhalten des B nicht mehr als störend, weil es von vornherein aus der Betrachtung ausgeblendet wird. Das gleiche Verfahren wird dann für Bangewandt. Für beide Täter wird so Kausalität bejaht. Aus einem wahren Sachverhalt werden nur soviele wahre Umstände, einschließlich des Verhaltens des Täters, berücksichtigt, wie zur Subsumtion unter die als Mindestbedingung formulierte Gesetzmäßigkeit benötigt werden. Der "Rest" an tatsächlich vorliegenden Umständen bleibt unberücksichtigt. Es wird also je nach Blickwinkel, d. h. je nachdem, wessen Verhalten (A oder B) auf seine Kausalität untersucht wird, ein anderer Teil des Sachverhaltes berücksichtigt. Bei der Untersuchung der Kausalität des A bleibt das gleichartige Verhalten des B aus der Betrachtung ausgeschlossen und umgekehrt. Mit diesem Verfahren lassen sich nun nicht nur die klassischen Fälle der Doppelkausalität und Mehrfachkausalität 151 lösen, sondern auch die Fälle der Gremiumsentscheidung, wenn die Mehrheit für die Entscheidung größer ist als erforderlich 152. Puppe, ZStW 92 (1980),863 (875). Vgl. zu diesem BegriffNK-Puppe, Vor § 13 Rn. 97. 151 Vgl. dazu oben I. 1. c) Fall (5) und (6). Vgl. auch NK-Puppe, § 13 Rn. 96. 152 Vgl. dazu Puppe, JR 1992,30 (32); Hilgendoif, NStZ 1994,561 (565); Hoyer; AT I, S. 34 ff.; Sofos, Mehrfachkausalität, S. 110 f. 149
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Dies sei der Einfachheit halber wieder am Beispiel eines Dreiergremiums erläutert, das mit einfacher Mehrheit entscheidet, bei dem aber alle Mitglieder für einen bestimmten Beschluß stimmen. Fragt man hier nach der gültigen Gesetzmäßigkeit, so könnte man zunächst behaupten, daß eine Mehrheit von 3 Stimmen vor dem Hintergrund der rechtlichen Regelung im Unternehmen (Mehrheitsprinzip im Geschäftsführungsgremium + Weisungsunterworfenheit der anderen Mitarbeiter) für einen Beschluß und seine Umsetzung (z. B. Auslieferung gefährlicher Produkte) eine als hinreichende Bedingung gefaßte empirische Gesetzmäßigkeit darstelle. Denn immer wenn 3 Stimmen vorliegen, kommt der Beschluß zustande und wird unternehmensintern umgesetzt. Man könnte nun folgern, daß jeder der drei Abstimmenden mit seinem Verhalten einen Umstand gesetzt hat, der notwendiger Bestandteil dieser Erklärung des Beschlusses ist und damit als kausal anzusehen ist. Diese Sichtweise steht aber im Widerspruch dazu, daß bei der Bestimmung der maßgeblichen Gesetzmäßigkeiten nur Mindestbedingungen berücksichtigt werden dürfen. Auch die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung kommt nicht ohne den Begriff der "Notwendigkeit" aus, nur ist dieser bei der Formulierung der anzuwendenden Gesetzmäßigkeit zu berücksichtigen. Diese darf nur als Mindestbedingung, d. h. frei von überflüssigen (nicht notwendigen) Bestandteilen formuliert werden. Insofern ist zu berücksichtigen, daß die maßgebliche Gesetzmäßigkeit in einem Dreiergremium, das mit einfacher Mehrheit entscheidet, nur 2 Stimmen für einen Beschluß voraussetzt. Die dritte Stimme ist überflüssig. Nach dem von Puppe vertretenen Verfahren kann aber das Verhalten der 3 Abstimmenden auch unter diese Mindestbedingung subsumiert werden. Prüft man die Kausalität eines einzelnen Gremiumsmitglieds - z. B. des A -, so werden seine Stimme, die eines weiteren Gremiumsmitglieds sowie die sonst nötigen Randbedingungen unter die Gesetzmäßigkeit subsumiert. Die dritte ebenso real gegebene Stimme wird schlicht nicht berücksichtigt, weil sie für den Subsumtionsvorgang nicht benötigt wird. Anschließend wird für Bund C dasselbe Verfahren angewandt und so die Kausalität für alle Gremiumsmitglieder festgestellt. Bereits oben 153 wurde darauf hingewiesen, daß bei diesem Verfahren die Kausalitätsfeststellung für die einzelnen Beteiligten auf jeweils teilweise unterschiedliche Ausschnitte des real gegebenen Sachverhalts gestützt wird, die sich teilweise gegenseitig überlappen und gegenseitig ausschließen i54 . Aus dem real gegebenen Sachverhalt werden mehrere, teilweise verschiedene hinreichende Mindestbedingungen entnommen. Denn der Erfolg läßt sich isoliert mit den Stimmen von A und B oder A und C oder Bund C erklären. Für die Ursächlichkeit genügt es, wenn das zu untersuchende Verhalten notwendiger Bestandteil einer dieser im wahren Sachverhalt enthaltenen Kombinationen ist 155 . Vgl. dazu 2. b) aa). Kritisch insoweit auch Scholl, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 226. 155 Vgl. dazu auch Hilgendorf, NStZ 1994,561 (565); Hoyer, AT I, S. 37; Amelung, Der Bundesgerichtshof als "Gesetzgeber", S. 68. 153
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3. Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse Die bisherige Untersuchung des Kausalproblems bei Gremiumsentscheidungen mit Mehrheiten, die über die erforderliche Stimmenzahl hinausgehen, hat ergeben, daß es sich um eine Konstellation der Alternativität kumulierender Kausalbeiträge handelt, also eine Kombination zweier Kausalprobleme (alternative Kausalität und kumulative Kausalität), die in der Literatur bislang getrennt behandelt wurden. Im Ergebnis besteht ein breiter Konsens darüber, daß die Kausalität einer Einzelstimme für den Beschluß eines Gremiums auch dann zu bejahen ist, wenn mehr Stimmen als erforderlich den Beschluß tragen. Bei der Anwendung der beiden maßgeblichen Theorien zur Feststellung eines Kausalzusammenhangs auf diese Konstellation kommt man zu durchaus unterschiedlichen Lösungswegen und Begründungen: Die strikte Anwendung der conditio-sine-qua-non-Formel führt in solchen Fällen nicht zur Bejahung von Kausalität. Es wurde gezeigt, daß das Problem nicht mit einer Erfolgskonkretisierung zu bewältigen ist, da das Verfahren ansonsten in dem hier vorliegenden Fall zirkelschlüssig wäre. Auch das von Spendet vorgeschlagene Verbot des Hinzudenkens nicht verwirklichter Umstände bei Durchführung des Wegdenkverfahrens hilft in den hier fraglichen Fällen nicht weiter, weil das negative Ergebnis bei Anwendung des hypothetischen Eliminationsverfahrens darauf beruht, daß neben dem zu prüfenden Abstimmungsverhalten jedes einzelnen Gremiumsmitglieds noch genug andere Stimmen real vorhanden sind, die den Erfolg erklären. Es kann also das Verhalten jedes einzelnen Gremiumsmitglieds hinweggedacht werden, ohne daß (wegen des wirklich vorliegenden ausreichenden Verhaltens der anderen) der Erfolg entfällt. Jedoch wird die conditiosine-qua-non-Formel von ihren Vertretern nicht als abschließendes Erkenntnismittel zur Feststellung strafrechtlicher Kausalität verstanden i56 . Gerade für die Fälle alternativer Kausalität wird eine Ausnahme anerkannt und eine modifizierte Formel angewandt l57 . In Fallkonstellationen, in denen zwei (alternative Kausalität oder Doppelkausalität) oder mehrere (Mehrfachkausalität) Personen Umstände gesetzt haben, die auf der Basis der übrigen Begleitumstände jeweils für sich alleine, d. h. ohne das gleichartige Verhalten der übrigen (alternativ) handelnden Personen geeignet waren, den Erfolg herbeizuführen, wird aufgrund einer Wertung Kausalität für alle Beteiligten angenommen. Eine Begründung dieser Wertung, welche über die Behauptung der Evidenz des Ergebnisses l58 hinausgeht, findet sich aber nicht l59 . 156 Vgl. Spendet, Kausalitätsformel, S. 39 ff.; Baumann/Weber/ Mitsch, AT, § 14 Rn. 38 ff.; Welzet, LB, S. 44f. 15? Vgl. dazu oben I. c). 158 Vgl. dazu Dencker, Kausalität, S. 52 ff. Toepet, Kausalität, S. 72 ff., 95 f. spricht von "Formel zauber" . 159 Vgl. dazu auch die Ausführungen oben I. c) aa).
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Es ist daher fraglich, ob eine weitere Modifikation dieser Ausnahme möglich ist, welche auch die Fälle der Alternativität kumulativer Kausalbeiträge erfaßt, bei denen der einzelne Tater einen Beitrag liefert, der für sich alleine, d. h. ohne die anderen in gleicher Weise handelnden Personen, nicht geeignet war, den Erfolg auf der Basis der übrigen Begleitumstände herbeizuführen. Eine Lösung des Gremi ums problems wäre demnach nur durch eine weitere wertende Ergänzung / Modifikation der conditio-sine-qua-non-Formel zu erreichen. Dagegen wurde festgestellt, daß das Subsumtionsveifahren der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung ein in sich schlüssiges Modell darstellt, das, ursprünglich zur Ausschaltung von Reserveursachen entwickelt, sowohl die Standardfälle der alternativen Kausalität als auch die Alternativität kumulierender Kausalbeiträge, wie sie im Gremium vorliegt, lösen kann. Jedoch bestehen auch insoweit Bedenken, da die Kausalitätsfeststellung in Alternativfällen auf eine wechselnde beschränkte Sachverhaltssicht gegründet ist 160 und eine eindeutige Zuordnung zu einem bestimmten alternativ handelnden Täter nicht möglich ist 161 . Wegen der Unterschiede bei der Anwendung der verschiedenen Kausalitätslehren auf die hier untersuchte Problematik stellt sich die Frage, welche Kausaltheorie grundsätzlich als vorzugswürdig anzusehen ist. Dazu soll zunächst die grundsätzliche Abweichung nochmals herausgestellt werden, die gerade in den fraglichen Alternativkonstellationen zu unterschiedlichen (Zwischen-)Ergebnissen führt. Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung begreift die Kausalitätsfeststellung im Einzelfall als Subsumtionsvorgang 162 • Ausgehend von der Feststellung der im Einzelfall maßgeblichen allgemeinen empirischen Gesetzmäßigkeiten (sog. generelle Kausalität), werden die im Einzelfall vorliegenden wahren Bestandteile eines Lebenssachverhaltes subsumiert. Dabei stört es nicht, daß gleichzeitig mehrere (nur teilweise identische) wahre Sachverhaltskomplexe unter die Gesetzmäßigkeiten subsumierbar sind. Eine kausale Erklärung besagt nicht mehr, als daß bestimmte Tatsachen einen Erfolg verursacht haben, wenn sie in einer Konstellation vorliegen, die nach wissenschaftlicher Erkenntnis stets eine derartige Folge herbeiführt. Damit wird die Folge durch die Bedingungen kausal erklärt. Vgl. dazu oben 2. b) aal. Vgl. dazu Joerden, dyadische Fallsysteme, S. 35 ff., 157 ff. S. auch Dencker; Kausalität, S. 52 ff. 162 So Engisch, Kausalität, S. 13 ff.; Arthur Kaufmann, JZ 1971,569 (572 ff.); Bernsmann, ARSP 1982,536 (542); Hilgendorf. Jura 1995,514 (515f.); ders., NStZ 1994,561 (564); ders., Lenckner-FS 1998,699 (704 ff.); Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (874 ff.); dies., JZ 1994, 1147 (1148f.); NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 83ff. Struensee, ZStW 102 (1991), 21 (24f.); Das Verständnis von Kausalität als Subsumierbarkeit unter allgemeine Gesetze wird als Ausprägung des deduktiv-nomologischen Erklärungsmodells verstanden. Siehe auch Koriath, Psychische Kausalität, S. 67 ff. Kritisch zur Anwendung des deduktiv-nomologischen Erklärungsmodells Schutz. Lackner-FS 1987.39. 160 161
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Einzelursache ist jeder notwendige Bestandteil dieser Erklärung. Allein auf die Subsumierbarkeit unter die geltenden empirisch gesicherten Gesetzmäßigkeiten wird das Kausalurteil gestützt. Und aus dieser Beschränkung, aus dem Verzicht auf die hypothetische Frage: "Was wäre, wenn der Täter nicht gehandelt hätte, wenn man sein Verhalten wegdenkt?", folgt das erwünschte Ergebnis, daß hypothetische und alternative Kausalverläufe die Kausalfeststellung nicht beeinträchtigen. Dagegen fordert die conditio-sine-qua-non-Formel durch ihr hypothetisches Eliminationsverfahren zu einer Gesamtbetrachtung im Einzelfall163 auf und versucht so eine eindeutige Zuordnung des Erfolges zum Verhalten einer Person zu erreichen. Bezüglich eines Umstandes, für den prima facie der Verdacht besteht, er könne kausal gewesen sein, wird untersucht, ob die Folge auch ohne ihn eingetreten wäre - dann nicht kausal -, oder ob der Erfolg nur bei Berücksichtigung des fraglichen Umstandes bestehen bleibt, d. h. nur bei Berücksichtigung dieses Umstandes erklärbar ist. Dabei liegt der conditio-sine-qua-non-Formel der Gedanke zugrunde, daß der Erfolg irgendwie erklärbar sein müsse. Stellt man auf dieser Basis fest, daß bei Wegdenken des auf seine Kausalität zu untersuchenden Umstandes der Erfolg nicht mehr erklärbar ist, so ist der Rückschluß möglich, daß eben der weggedachte Umstand den Erfolg mitbedingt hat. Der Nachteil dieses Verfahrens liegt aber darin, daß auch Reserveursachen und "Doppel"-oder "Mehrfach ursachen" eine Kausalitätsfeststellung mittels der Formel verhindern. Ein Umstand, der begleitende l64 und erweiternde 165 Anwendungsregeln für die conditio-sinequa-non-Formel nötig macht und ihre Anwendung erschwert 166. In Anbetracht dieses Befundes drängt sich nun die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung als richtige Kausaltheorie auf, da sie ja das allseits gewünschte Ergebnis 167 (positive Kausalfeststellung in Alternativfällen) einfacher erzielt. Da man bei strikter Anwendung des Subsumtionsverfahrens nicht zu Modifikationen gezwungen ist, erscheint sie als die in sich schlüssige und damit richtige Kausalitätsformel. Dies kann sie aber nur dann für sich in Anspruch nehmen, wenn sie auch in anderen Problembereichen der Kausalfeststellung zu plausiblen Ergebnissen gelangt. 163 BGHSt 41,206 (216) - Holzschutzmittel-Entscheidung: " ... Gesamtbewertung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und anderer Indiztatsachen ... "; Schon in BGHSt 37. 106 (111 ff.) wurde die Kausalitätsfeststellung durch eine Gesamtbetrachtung gebilligt. Vgl. zum Ganzen 5chmidt-5alzer; NJW 1996, I (6 ff.). 164 Vgl. dazu die Ausführungen zum Erfolg in seiner konkreten Gestalt (oben I. a» und das Verbot nicht verwirklichte Umstände hinzuzudenken (oben I. b». 165 Vgl. dazu die Ausf. zur modifizierten Conditio-Forrnel oben I. c) aal (1) und (2). 166 Darüber hinaus ist der Rückschluß im Einzelfall nur gerechtfertigt, wenn man ausschließen kann, daß man andere möglicherweise noch nicht erforschte Erklärungen übersehen hat, mittels derer der Erfolg zu erklären ist und so der Folgerung entgegensteht, der untersuchte Umstand müsse mangels anderer Erklärbarkeit kausal gewesen sein. 167 Die Bejahung von Kausalität in den Alternativfällen entspricht der h.M.: Vgl. oben Teil A I. I. c) aal und 2. a) aal. S. auch 5/S/ Lenckner, Vor § 13 Rn. 74 und 83.
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Im folgenden soll daher die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung auf ihre Tauglichkeit als allgemeingültige strafrechtliche Kausaltheorie untersucht werden.
4. Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung als zutreffende Beschreibung des strafrechtlichen Kausalzusammenhangs? a) Anwendbarkeit der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung in Bereichen, in denen detaillierte deterministische Gesetzmäßigkeiten bekannt sind Plausible Ergebnisse bietet das Subsumtionsverfahren 168 der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung in Bereichen, in denen empirisch gesicherte Erkenntnisse über naturwissenschaftliche Zusammenhänge vorliegen, die als allgemeine Gesetze im einzelnen beschrieben werden können. Sind beispielsweise allgemeine Gesetze darüber verfügbar, wie eine bestimmte chemische Substanz im Organismus eines Menschen bestimmte biochemische Reaktionen auslöst und so durch Beinträchtigung lebenswichtiger Funktionen den Tod auslöst, so kann im Einzelfall die Verabreichung einer solchen Substanz und der sich daran anschließende Todesfall als Ausprägung der Gesetzlichkeit verstanden werden. Der wahre Sachverhalt kann mit seinen Voraussetzungen und in seinem Ablauf unter die Gesetzmäßigkeit subsumiert werden. Die Todesfolge wird mittels des Gesetzes erklärt. Das Verabreichen der Substanz ist notwendiger Bestandteil der Erklärung und damit kausal. Dabei ist festzustellen, daß die Erklärung um so plausibler wird, je genauer der Subsumtionsprozeß durchgeführt wird, d. h. je mehr einzelne Zwischenschritte und Nebeneffekte des gesetzlichen Ablaufs beschrieben sind und mit den im Lebenssachverhalt vorliegenden Umständen auf Übereinstimmung verglichen werden können. Beispiel (9): A hat B 20 Tropfen Arsen verabreicht. Ein Sachverständiger erklärt, diese Dosis Arsen töte jeden Menschen mit Sicherheit.
Man könnte nun erklären, daß man entsprechend den Angaben des Sachverständigen über ein allgemeines Gesetz verfüge, das die Verabreichung von 20 Tropfen Arsen mit dem Eintritt des Todes kausal verknüpft. Das Verhalten des A und der anschließende Tod des B seien unter dieses Gesetz subsumierbar und damit sei das Verhalten des A kausal. Fraglich ist aber, ob eine solche - sehr einfach ge faßte - gesetzliche Erklärung das Vorliegen eines Kausalzusammenhangs wirklich zu begründen vermag. Dies mag folgende Abwandlung verdeutlichen.
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Dazu bereits ausführlich Teil A I. 2. a) bb) und soeben unter 3.
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung Beispiel (10): Wieder hat Adern B 20 Tropfen Arsen verabreicht. Außerdem hat aber B kurz zuvor einen vergifteten Fisch gegessen. Der Sachverständige erklärt, daß die darin enthaltenen Gifte ebenfalls tödlich sein können.
Sofort verliert die oben gegebene gesetzliche Erklärung ihre Plausibilität. Es müssen nun genaue Infonnationen über den Verlauf der verschiedenen Vergiftungen und etwaige signifikante Nebenwirkungen in den Subsumtionsvorgang einbezogen werden. Kann der Verlauf einer Arsenvergiftung von dem einer Fischvergiftung unterschieden werden, so ist es möglich, die richtige Erklärung von der nur scheinbaren zu unterscheiden. Eine wirklich sichere Erklärung des Erfolges liefert das Subsumtionsverfahren der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung nur dann, wenn möglichst viele, im Idealfall alle Einzelheiten und Zwischenschritte des gesetzlichen Ablaufs angegeben und mit dem vorliegenden wahren Sachverhalt verglichen werden können. Gleichwohl wird man sich im einfach gelagerten Nonnalfall mit einer äußerst skizzenhaften Erklärung des Vorgangs wie im obigen Beispielsfall (9) begnügen 169 , obwohl das die Gefahr in sich birgt, daß die Erklärung zu oberflächlich ist. Wären im vorigen Fall die in dem vergifteten Fisch enthaltenen Substanzen schneller vom Körper des Opfers resorbiert und damit wirksam geworden, und die Fischvergiftung im Hinblick auf die vorhandene ,,Erklärung" mittels des Arsens gar nicht bemerkt und untersucht worden, so hätte das Subsumtionsverfahren zu einem falschen Ergebnis geführt, weil es zu ungenau, zu skizzenhaft durchgeführt wurde. Es stellt sich damit die Frage, wie genau die herangezogenen Gesetzmäßigkeiten zu fonnulieren sind und wie detailliert ein Subsumtionsvorgang durchzuführen ist, um von einer zuverlässigen gesetzmäßigen Erklärung ausgehen zu können. Zur Beantwortung dieser Fragen kann von den Vertretern dieser Lehre keine allgemeine Regel angegeben werden. Praktisch wird wohl so verfahren, daß die Gesetzmäßigkeiten so genau fonnuliert und auf den Einzelfall angewandt werden, wie dies im Hinblick auf den Ausschluß anderer in Betracht kommender Erklärungen nötig erscheint. Damit tritt aber ein Element in die Kausalbetrachtung, das der Kausalitätsfeststellung mit der conditio-sine-qua-non-Fonnel eigen ist, nämlich der Versuch, den Erfolg im Wege einer Gesamtbetrachtung am Einzelfall einem bestimmten Ursachenkomplex eindeutig zuzuordnen. Man konzentriert sich nicht allein darauf, ob ein bestimmtes Verhalten unter bekannte empirische Gesetze zu subsumieren ist, sondern überlegt, ob es noch andere Erklärungen gibt (= Gesamtbetrachtung), die den Erfolg erklären können und versucht dann, die Gesetzmäßigkeiten so genau 169 Schutz, Lackner-FS 1987, S. 39ff. (41), zeigt an einem trivialen Beispielsfall, daß eine Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung, die das beschriebene Erklärungsschema (Kausalität durch Subsumtion unter Gesetzmäßigkeiten) ernstnimmt, bereits bei einfachsten Sachverhalten auf erhebliche Schwierigkeiten stößt, zumindest aber einen enormen Begründungsaufwand erfordern würde. Vgl. auch Erb, JuS 1992,449 (452); Dencker; Kausalität, S. 36. Siehe dazu auch Schulin, Kausalitätsbegriff, S. 50 ff.
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darzustellen und den Sachverhalt so gen au zu subsumieren, daß eine Differenzierung, eine eindeutige Zuordnung zu einem denkbaren Kausalverlauf möglich wird. Begnügt man sich nun in einfachen Fällen mit einer nur skizzenhaften Erklärung wie im Beispielsfall (9), so liegt der Grund für die Überzeugung vom Vorliegen der Kausalität nicht darin, daß man die Folge wirklich im Sinne des Erklärungs· modells auch nur annähernd erklärt hat, sondern darin, daß man eine andere Erklä rung als die skizzierte nicht finden kann. Das Fehlen anderer denkbarer Erklärun· gen bietet die Sicherheit, daß die äußerst dürftige Erklärungsskizze - ,,20 TropfeIl Arsen sind bei Menschen tödlich. A hat B diese Dosis verabreicht. Folglich war er für den alsbald eintretenden Tod des B kausal." - überzeugt. Das Fehlen anderer Erklärungsmöglichkeiten als Stützung einer nach dem vorhandenen Erfahrungswissen denkbaren (möglichen, wahrscheinlichen) Erklärung entspricht nun aber genau dem Verfahren der conditio-sine-qua-non-FormeI I7O Denn das Wegdenken des auf Kausalität zu untersuchenden Umstandes führt ja genau zu diesem indirekten Verfahren zum Nachweis einer Kausalbeziehung. Indem hinweggedacht wird, sucht man ja gezielt nach anderen Erklärungen des Erfolges. Fehlen diese, so kann man sich bei der Erklärung mit äußerst dürftigen Erklärungsskizzen zufrieden geben, die ins Auge gefaßte Erklärung "muß es gewesen sein". In dieser Bedeutung der conditio-sine-qua-non-Formel liegt mehr als nur ein "heuristischer Erkenntniswert" 171. Die Formel ist auch mehr als ein bloßes Instrument zur Kontrolle eines bereits gefundenen Ergebnisses, sie gibt dem Rechtsanwender vielmehr eine konkrete Anweisung für das Vorgehen bei der Kausalermiulung. Sie bestimmt, wieweit die Erforschung des tatsächlichen Geschehens zu erfolgen hat, in weIcher Genauigkeit naturwissenschaftliche Gesetze und auch andere Erfahrungssätze auf einen EinzelfaH anzuwenden sind, nämlich bis zu einem Punkt an dem eine eindeutige Zuordnung des Erfolges zu einem bestimmten Ursachenkomplex möglich ist 172. Für die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung ist der Gedanke der conditiosine-qua-non-Formel zumindest insoweit von Bedeutung, als er Auskunft darüber ergibt, wie genau das Subsumtionsverfahren im Einzelfall durchzuführen ist. Nur die Anwendung des conditio-sine-qua-non-Gedankens rechtfertigt es, in einfach gelagerten FäHen mit gewisser Sicherheit von Kausalität zu reden, obwohl eine 170 Vgl. dazu auch Kühl, AT, § 4 Rn. 23. Auch Hilgendorf, JZ 1997.611, ein Anhänger der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung hält die conditio-sine-qua-non-Formel im Alltag für unverzichtbar. Er will die die Formel mit der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung verbinden. - V gl. Lenckner-FS 1998,699 (700, 718). Ähnlich Schuh, Lackner-FS 1987, 39 (42). 171 Anders die Anhänger der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung. Vgl. SK-Rudolphi, Vor § 1 Rn. 40; S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 74f., jeweils m. w. N. 172 Damit ist die rechtliche Kausalfeststellung offen hinsichtlich der Standards, die an eine (natur-)gesetzliche Erfassung der Wirklichkeit in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen gestellt werden können oder müssen. Sie ermöglicht auch das Arbeiten mit Erfahrungssätzen. die nicht den hohen Standards, die ein wissenschaftstheoretisches Erklärungsmodell stellt, genügen. Vgl. dazu Schulz, Lackner-FS 1987,39 (41 ff.).
5 Sehaal
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detaillierte, den hohen Ansprüchen einer wissenschaftlichen Erklärung genügende Subsumtion des Sachverhaltes unter empirische Gesetze nicht durchgeführt wurde, sondern nur eine recht dürftige Erklärungsskizze zugrundegelegt wurde. Ergibt sich beim Wegdenken des zu untersuchenden Umstandes, daß andere Umstände vorliegen, die die Folge ebenfalls erklären könnten, ist die ins Auge gefaßte gesetzliche Erklärung entsprechend zu präzisieren; die maßgeblichen Gesetzmäßigkeiten (generelle Kausalität) müssen genau formuliert werden und der wahre Sachverhalt ist in seinem genauen Ablauf zu subsumieren.
b) Anwendbarkeit der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung in Bereichen, in denen ausformulierte allgemeine Gesetze noch nicht bekannt sind Wie bereits angesprochen, stößt die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung dort auf Schwierigkeiten, wo ein starker Verdacht für das Vorliegen eines gesetzmäßigen Zusammenhangs besteht, dieser aber im einzelnen nicht empirisch erforscht und als Gesetz formuliert ist. Der zu untersuchende Sachverhalt kann dann nicht subsumiert werden. Als Beispiel (11) kann hier die in der Einleitung bereits angesprochene Lederspray-Entscheidung dienen I73 . Dort trat nur bei einer sehr begrenzten Zahl von Produktverwendem in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Benutzung eines Ledersprays ein in Art und Verlauf gleichartiges Lungenödem auf. Welche Inhaltsstoffe auf welche Weise das Lungenödem hervorgerufen haben könnten, ließ sich nicht klären. Dazu kam noch, daß bezogen auf die in Verkehr gebrachte Menge von mehreren Millionen Spraydosen über einen langen Zeitraum nur eine begrenzte Anzahl von Schadensfällen bekannt geworden war 174 .
Die empirischen (chemischen, biologischen) Gesetzmäßigkeiten, die das Auftreten von Lungenödemen nach Benutzung der Ledersprays erklären, waren somit nicht formulierbar. In Anbetracht des relativ seltenen Auftretens solcher Erkrankungen im Anschluß an die Produktbenutzung war noch nicht einmal eine signifikante statistische Beziehung zwischen Produktverwendung und Körperschäden formulierbar 175. Über den Mangel an empirisch gesicherten Kenntnissen in Bereichen, die bei einer Kausalprüfung relevant werden, kann selbstverständlich auch die conditiosine-qua-non-Formel nicht hinweghelfen. Sie stellt kein rein logisches Schlußverfahren dar, das alleine aus sich heraus Kausalität feststellen oder ablehnen kann. 173 BGHSt 37, 106 (11\ ff.): Problematik der "generellen Kausalität" zwischen Produktverwendung und Gesundheitsschäden der Verbraucher. Vgl. dazu die in Fn. 8 angegebenen Literatumachweise zu dieser Entscheidung. 174 Gegenstand des Verfahrens waren nur 42 Einzelfälle. Vgl. BGHSt 37, 106 (110). m Gegen die Bejahung von Kausalität daher Puppe, JR 1992,30 (31); dies., JZ 1994, 1147 (1149); dies .. Jura 1997,408 (409 f.); Samson, StV 1991, 182 (183 f.); Hassemer; Produktverantwortung. S. 40 ff.; SK-Rudolphi, Vor § 1 Rn. 42c. Kritisch SI SI Lenckner; Vor § 13 Rn. 75.
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Das hypothetische Eliminationsverfahren stellt aber im Unterschied zur Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung nicht nur auf die Subsumtion eines Einzelfalles unter ausformulierte Gesetzmäßigkeiten ab, sondern versucht, durch eine Gesamtwürdigung der im Einzelfall vorliegenden Umstände und der daraus resultierenden Erklärungsmöglichkeiten ein Kausalurteil zu fallen. Dabei muß zunächst ein möglicherweise (wahrscheinlicherweise) mitursächlicher Umstand ausgemacht werden, für den das Vorliegen von Kausalität dann anhand der Formel weiter geprüft wird. Diese Auswahl erfolgt selbstverständlich nicht willkürlich, sondern unter Anwendung des vorhandenen empirischen Wissens. Im oben erwähnten Lederspray-Fall lag der Anlaß, die Sprays als kausal für die Schadensfalle zu verdächtigen, in dem Umstand, daß in unmittelbarem Zusammenhang mit der Spraybenutzung bei einer Reihe von Benutzern gleichartige Gesundheitsschäden auftraten. Diese Gemeinsamkeit, der Umstand, daß in den ansonsten durchaus verschiedenen Situationen als verbindendes Moment die Spraybenutzung auftaucht, begründete den Verdacht, daß es eine Gesetzmäßigkeit gibt, welche die Spraybenutzung mit den Gesundheitsschäden verbindet l76 . Nun wird man auch bei Anwendung der conditio-sine-qua-non-Formel zunächst versuchen, mehr über wissenschaftlich erforschte Zusammenhänge zwischen den Inhaltsstoffen des Ledersprays und den Körperschäden der Opfer zu erfahren. Kann man dann die schädlichen Inhaltsstoffe ausmachen, kann man deren Wirkung auf den menschlichen Organismus beschreiben und findet einen entsprechenden Ablauf in der Wirklichkeit bestätigt, so wird der Schluß plausibel, daß bei Wegdenken dieser Stoffe auch der Erfolg entfällt. Letztlich sicher kann man bei diesem Subsumtionsverfahren nur dann sein, wenn man die vollständig bekannten gesetzlichen Abläufe in allen Einzelheiten erforscht und mit der Wirklichkeit verglichen hat. Gelingt dies aber nicht - U.U. noch nicht einmal in Form einer oberflächlichen Erklärungsskizze -, weil allgemeine Gesetzmäßigkeiten über die fraglichen Zusammenhänge nicht formuliert werden können, so eröffnet die conditio-sine-quanon-Formel die Möglichkeit, mittels einer indirekten Beweisführung das Bestehen, das "Ob", des nicht beschriebenen gesetzlichen Zusammenhangs darzutun 177. Dabei geht sie davon aus, daß die relevanten Zusammenhänge, zumindest soweit sie strafrechtlich relevante Bereiche betreffen, im determinierten Bereich angesiedelt sind, daß sie nicht zufällig auftreten, sondern grundsätzlich erklärt werden können 178. Dies bedeutet, daß es für jede Folge grundsätzlich eine Erklärung, eine Ursache geben müsse, auch wenn die Beschreibung der maßgeblichen Einzel176 Vgl. dazu SGHSt 37, 106 (111 ff.); LG Mainz in Schmidt-Salzer, Produkthaftung StR IV. 3. 22., S. 17 ff. Die Argumentation wird von SGHSt 41, 206 (216 ff.) - Holzschutzmittel - aufrechterhalten. 177 Vgl. dazu SGHSt 41, 206 (216). Nach Ansicht des SGH enthält das Kausalurteil im Einzelfall ,,inzidenter" auch eine Aussage über die generelle Wirksamkeit, d. h. ein allgemeines Gesetz. 178 Vgl. zu dieser Thematik die Untersuchung von Maiwald. Kausalität und Strafrecht, insbes. S. 87ff. S. auch Gropp. AT. § 5 Rn. 16.
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bedingungen und des gen auen Ablaufs noch nicht möglich ist. Durch das Wegdenken der ins Auge gefaßten möglichen oder wahrscheinlichen Ursache wird nun nach anderen Erklärungen gesucht. Hierbei wird allgemein gefragt, welche Ursachen für einen Erfolg von der Art des in Frage stehenden noch denkbar, d. h. bei gründlicher wissenschaftlicher Nachforschung bekannt sind, und ob das Auftreten der Folge auch sonst beobachtet wird, ohne daß eine Ursache angegeben werden kann. Ist letzteres nicht der Fall und kann festgestellt werden, daß die Voraussetzungen der anderen in Betracht kommenden Ursachen im Einzelfall nicht vorlagen, d. h. nach dem Stand wissenschaftlicher Erkenntnis andere ursächliche Faktoren auszuschließen sind, so kann auf diesem Wege Kausalität festgestellt werden. Auf der Basis dieser Gesamtbetrachtung konnte im oben zitierten LedersprayFall das Bestehen einer Kausalbeziehung zwischen Benutzung der Sprays und Verletzung der Benutzer dargetan werden l79 . Dafür sprach der Umstand, daß die aus medizinischer Sicht auffällig gleichgelagerten Schadensfälle in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang mit der Spraybenutzung auftraten und daß Lungenödeme ansonsten nicht ursachlos auftreten, sondern eine eher seltene Erscheinung darstellen 180. Dies begründete einen starken Verdacht, daß ein Ursachenzusammenhang zwischen Ledersprays und Gesundheitsschäden bestand, mit anderen Worten, daß die Benutzung der Ledersprays zu den Faktoren gehört, die den fraglichen Erfolg erklären, wenngleich eine abschließende Darstellung aller Faktoren und des Verlaufs der Gesundheitsbeschädigung nicht als Gesetz formuliert werden konnten. Gleichzeitig waren nach wissenschaftlicher Erkenntnis in allen untersuchten Fällen keine anderen Umstände erkennbar, mittels derer der Erfolg erklärt werden konnte. Es ist zuzugeben, daß dieses Verfahren mit einem gewissen Restrisiko hinsichtlich der Richtigkeit des Kausalurteils behaftet ist l81 . Denn solange man nicht die relevanten Gesetzmäßigkeiten detailliert beschreiben und die Wirklichkeit in allen 179 So BGHSt 37, 106 (111 ff.). Zustimmend Kuhlen, NStZ 1990, 566 (567); Amelung, Der Bundesgerichtshof als "Gesetzgeber", S. 66f.; Meier, NJW 1992,3193 (9194); Hirte, JZ 1992, 257; Deutscher/Körner, wistra 1996, 292 (294 ff.); Hilgendorf, Produzentenhaftung, S. 121 ff.; ders., JZ 1997,611; OltO, AT, § 6 Rn. 34ff.; ders., Jura 1992,90(94); Roxin, AT I, § 11 Rn. 15; Jescheck/Weigend, § 28 Il 4.; Kühl, AT, § 4 Rn. 6a; Lackner/Kühl, Vor § 13 Rn. 11; SK-Rudolphi, Vor § 13 Rn. 15; Erb, JuS 1994,449 (453); Wohlers, JuS 1995, 1019 (1022). Vgl. auch die Holzschutzmittel-Entscheidung BGHSt 41, 206 (216), in der die indirekte Begründung (Wegdenkmethode ohne sichere Kenntnis der Naturgesetze) eines Kausalzusammenhangs vom BGH bekräftigt wird. Dagegen Samson, StV 1991, 182 (183 f.); Puppe, JZ 1996,318; Volk, NStZ 1996,105; Rotsch, Großunternehmen, S. 96ff.; Schwanz, Produkthaftung, S 55ff. (57). Kritisch Hoyer, GA 1996, 160. Zustimmend Lorenz Schulz, JA 1996, 185; ders., Kausalität, S. 66 ff. (73). Zum Ganzen Schmidt-Salzer, NJW 1996, I (6 ff.); Eidam, Straftäter Unternehmen, S. 3 ff. 180 Dazu Erb, JuS 1994,449 (453); Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 1635. 181 Kritisch daher S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 75; GoU/Winkelbauer, Produkthaftungshandbuch, § 47 Rn. 50. Kausalität ablehnend Puppe, JR 1992,30 (32); dies., JZ 1994, 1147 (1149); dies., JZ 1996,318; Hassemer; Produktverantwortung, S. 4Off.; Samson, StV 1991, 182 (183 f.); Ratsch, Großunternehmen, S. 96 ff.; Schwartz, Produkthaftung, S. 57.
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Einzelheiten damit vergleichen (subsumieren) kann, läßt sich nicht logisch zwingend ausschließen, daß in allen oder einem Teil der Fälle sich bislang nicht erkannte Ursachen ausgewirkt haben. Je weniger über die Voraussetzungen und den Ablauf eines ins Auge ge faßten Kausalzusammenhangs bekannt ist, desto höher werden die Anforderungen an die Kausalfeststellung mit der conditio-sine-quanon-Formel sein. Es muß dann sicher auszuschließen sein, daß nur ein zufälliges Nebeneinander von Handlung und Erfolg vorliegt und daß nach dem Stand wissenschaftlicher Erkenntnis andere Ursachen eine Rolle gespielt haben können 182 .
c) Anwendbarkeit der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung in Bereichen, in denen nur probabilistische Gesetzmäßigkeiten formuliert werden können In vielen Bereichen kann die Wissenschaft bestimmte Zusammenhänge nicht durch deterministische Gesetze beschreiben, kann also nicht sagen, daß immer, wenn bestimmte Umstände (Ursachenkomplexe) vorliegen, mit Sicherheit eine bestimmte Folge eintritt. Oftmals kann nur ein statistischer Zusammenhang festgestellt werden, der besagt, daß wenn ein bestimmter Tatsachenkomplex vorliegt, in einer bestimmten Zahl der Fälle die Folge eintritt. Bei gegebenem Ursachenkomplex läßt sich also nur eine Wahrscheinlichkeit für den Eintritt der Folge angeben. Dies kann dann der Fall sein, wenn bestimmte gesetzliche Zusammenhänge durch die empirische Forschung nicht hinreichend geklärt sind und damit die Faktoren, die im Einzelfall darüber entscheiden, ob die Folge eintritt oder nicht, unbekannt sind. Statistische Gesetze sind dann Durchgangsstadien zu deterministischen Gesetzen. Es ist aber auch möglich, daß sich bestimmte Abläufe im nichtdeterminierten Bereich abspielen, in denen es gar keine Gesetzesaussagen mit dem Wahrscheinlichkeitswert 100 % (= sicher) gibt 183 . Beispiel (12): Ein bestimmter Teil von Personen (z. B. 20%), die an Syphilis erkrankt waren, erkrankt später an progressiver Paralyse 184. Beispiel (13): Ein bestimmtes Medikament führt bei Verabreichung in einer bestimmten Phase der Schwangerschaft in 95 % aller Fälle zu schweren Mißbildungen der Kinder l8S .
Gerade im Bereich der Medizin, bei der Wirkung chemischer Substanzen oder bestimmter Erreger auf den menschlichen Organismus, steht der NaturwissenBGHSt 37,106 Oll ff.); 41,206 (216). Vgl. dazu NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 132; Maiwald, Kausalität, S. 13ff.; Hilgendorf, Jura 1995, 514 (518); ders., Lenckner-FS 1998,699 (7050; Dencker. Kausalität, S. 36; Kindhäuser. GA 1982,477 (480ff.) 184 Beispiel nach Schulz, Lackner-FS, 1987,39 (41 ff., 44). 18S Frei nach der bekannten Contergan-Problematik. Dazu LG Aachen JZ 1971, 507 ff., mit kritischer Besprechung von Armin Kaufmann, JZ 197 I, 575. 182 183
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schaftIer vor einem so komplexen Zusammenspiel von im einzelnen nicht genau beschreibbaren Faktoren, die zum Ausbruch oder zu einem bestimmten Verlauf einer Krankheit führen, daß deterministische Gesetzmäßigkeiten nicht formulierbar sind. So ist beispielsweise der Ausbruch einer Krebserkrankung oder einer Infektionserkrankung von bestimmten auslösenden Faktoren (z. B. Mutagenen, Erregern) aber auch von den körperlichen Besonderheiten des Betroffenen (Erbanlagen, Ernährungszustand, Schwächung des Immunsystems, psychische Befindlichkeit) abhängig, so daß man davon ausgehen muß, daß in diesen Bereichen deterministische Gesetze nicht in einer Ausführlichkeit formuliert werden können, die die Rekonstruktion eines Einzelfalles anhand der Gesetze möglich macht. Mehr als statistische Zusammenhänge zwischen bestimmten Ausgangsbedingungen und Folgen sind hier nicht feststellbar und werden es in Zukunft in weiten Bereichen auch nicht sein. Beispiel (14): Der Patient P wurde bei einer Röntgenuntersuchung durch einen Defekt des Gerätes einer Strahlendosis ausgesetzt, die das als unbedenklich bewertete Maß um ein Vielfaches übersteigt. Es soll nach wissenschaftlicher Erkenntnis in Anbetracht der Strahlendosis ein signifikant gesteigertes Krebsrisiko bestehen. Tatsächlich erkrankt P an Krebs. Weiß man nun, daß ein Krebsgeschwür letztlich auf eine einzelne entartete Zelle zurückzuführen ist, die von der körpereigenen Abwehr nicht bekämpft wurde, und weiß man weiter, daß die Mutation von Zellen im Körper häufig vorkommt, weil jeder Mensch ständig Mutagenen (Strahlen, chemischen Substanzen) ausgesetzt ist, so läßt sich nicht sagen, ob die Erkrankung auf die Bestrahlung zurückzuführen ist, ob sie mit dieser zu erklären ist. Weder läßt sich gesetzlich beschreiben, warum eine bestimmte geschädigte Zelle zum Krebsgeschwür wird und nicht von der Körperabwehr vernichtet wird, noch lassen sich die im einzelnen vorliegenden Abläufe im Körper des Menschen im Einzelfall rekonstruieren und unter die Gesetze subsumieren.
Fraglich ist, wie die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung in solchen Fällen, in denen nur probabilistische Zusammenhänge formulierbar sind, durch das von ihr vorgeschlagene Subsumtionsverfahren Kausalität erweisen will. Denn die Plausibilität der Subsumtion unter eine Gesetzmäßigkeit beruht ja darauf, daß ein einzelnes wahres Geschehen als Ausprägung einer Regularität, eines in der empirischen Forschung stets so vorgefundenen und damit gesetzmäßigen Ablaufs verstanden wird. Es handelt sich um eine logische Ableitung l86 . Hat man nun lediglich ein Wahrscheinlichkeitsgesetz, das besagt, daß, wenn ein bestimmter Bedingungskomplex vorliegt, in X% der Fälle eine bestimmte Folge eintritt, in Y% der Fälle aber nicht, so kann man den real zu prüfenden Vorgang nicht mehr logisch ableiten, da es ja immer möglich ist, daß die Folge trotz gegebener Voraussetzungen ausbleibt. Hier wird nun von einigen Vertretern der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung vorgeschlagen, als Gesetzmäßigkeiten im Sinne des dargestellten Erklärungs186 Vgl. dazu Hilgendorf, Jura 1995,514 (515f.); Puppe, Spendel-FS 1992,451 (457); NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 85. S. auch Dencker, Kausalität, S. 31 ff.
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schemas auch probabilistische Gesetzmäßigkeiten zu verwenden 187 • Hat also der Täter einen Umstand gesetzt, der notwendiger Bestandteil eines Bedingungskomplexes ist, welcher nach den bekannten Gesetzmäßigkeiten eine Folge mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit nach sich zieht, so wird die real eingetretene Folge durch den statistischen Zusammenhang, durch Subsumtion unter das probabilistische Gesetz erklärt. Neben den bereits oben geschilderten Problemen im Zusammenhang mit der Genauigkeit und Ausführlichkeit der Gesetzesformulierung und des Subsumtionsvorgangs kommt nun noch die Schwierigkeit hinzu, zu bestimmen, bei welchem Wahrscheinlichkeitswert der Verknüpfung von Voraussetzungen und Folge ein probabilistisches Gesetz zur Feststellung eines Kausalzusammenhangs verwendet werden darf. Eine Lehre, die Wahrscheinlichkeitsgesetze in gleicher Weise wie deterministische Gesetze zur Subsumtion von realen Geschehnissen verwenden will, muß also nicht nur begründen, warum dies zulässig sein SOll188, sondern auch angeben, welchen Grad der Wahrscheinlichkeit ein solches Gesetz liefern muß, um als subsumtionsfähiger Obersatz Geltung beanspruchen zu können. Kann man unter Gesetze, die 99 %, 90 %, 50 % oder nur 1 % Wahrscheinlichkeit für den Eintritt der Folge angeben, subsumieren und so den Erfolg erklären? Wie soll man die maßgebliche Prozentzahl bestimmen? Zur Erläuterung kann wieder auf den oben beschriebenen Lederspray-Fall zurückgegriffen werden. Bei mehreren Millionen verkauften Spraydosen, war nur eine geringe Anzahl von Schadensfällen bekanntgeworden l89 . Hier könnte man eine statistische Gesetzmäßigkeit formulieren, die aber nur eine minimale Wahrscheinlichkeit ergäbe l90. Die Subsumtion unter eine solche schwache probabilistische Gesetzesaussage kann Kausalität ganz offensichtlich nicht begründen. Das gleiche müßte man auch für höhere Wahrscheinlichkeiten von 10 %, 20 %, ? % sagen l91 . Offen bleibt, wie der relevante Grad an Wahrscheinlichkeit gefunden werden soll und wie zu verfahren ist, wenn man nur sagen kann, daß bestimmte Faktoren die Wahrscheinlichkeit des Eintritts bestimmter Folgen erhöhen, aber keine quantitativen Aussagen gemacht werden können l92 . 187 So NK-Puppe, Vor § I3 Rn. 120ff.; Hilgendorf, Jura 1995,514 (518). Vgl. auch Kindhäuser, GA 1982, 536; Rolinski, Miyazawa-FS 1995, 483. 188
Ein logische Ableitung ist bei probabilistischen Gesetzen nicht möglich. Vgl. dazu
Hilgendorf, Jura 1995, S. 514 (518); dens., Lenckner-FS 1998,699 (705 f.).
Jedenfalls waren nur 42 Fälle Gegenstand des Verfahrens. Vgl. BGHSt 37, 106 (110). Darüber hinaus stellt sich das Problem, daß klinische Untersuchungen an Menschen zur Gewinnung gesicherter statistischer Ergebnisse gar nicht möglich sind. Vgl. Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 1636. Zur strafrechtlichen Problematik klinischer Arzneimittelerforschung vgl. Fincke, Arzneimittelprüfung. Strafrechtliche Versuchsmethoden, 1977. 191 Vgl. dazu auch Fincke, Arzneimittelprüfung, S. 40. 192 Vgl. auch Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 1636, der zu Recht darauf hinweist, daß klinische Untersuchungen an Menschen zur Gewinnung gesicherter statistischer Ergebnisse gar nicht möglich sind. 189 190
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Im Unterschied zur Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung bietet die conditiosine-qua-non-Formel auch beim Umgang mit statistischen Zusammenhängen einen Ansatzpunkt, um durch Erweiterung der Perspektive den Kausalzusammenhang im Einzelfall rückschließend zu begründen. Denkt man im Einzelfall den als kausal "verdächtigten" Umstand, über dessen Zusammenhang mit der Folge nur statistische Aussagen gemacht werden können, hinweg, so kann aus dem Fehlen anderer denkbarer Ursachen eine Erklärung mittels des statistischen Zusammenhangs gestützt werden. Der Einzelfall stellt sich dann als ein solcher Unterfall der probabilistischen Gesetzmäßigkeit dar, in dem die Bedingungen die Folge ausgelöst haben. Ist beispielsweise im oben angeführten Syphilisbeispiel (Beispiel (12)) neben der schwachen statistischen Verknüpfung (20%) von Syphilis und progressiver Paralyse bekannt, daß die Paralyse ohne vorherige Syphiliserkrankung nie auftritt, so ist allein wegen dieses Erfahrungssatzes klar, daß Syphilis als Ursache, nämlich als einer der Faktoren anzusehen ist, die für die Erklärung der Folge notwendig sind l93 .
Dieses Ergebnis beruht aber nicht auf einer Subsumtion unter ein statistisches Gesetz, sondern auf der Erkenntnis, daß die Syphilis conditio sine qua non der progressiven Paralyse ist. Nach dem Stand der Forschung ist das Vorliegen einer Syphiliserkrankung eine schlechthin notwendige Bedingung für die Folgeerkrankung. Nur dieses Wissen, nicht aber die in dem schwachen statistischen Zusammenhang zum Ausdruck kommende, recht dürftige Kenntnis über die maßgeblichen Naturgesetze, die das Entstehen progressiver Paralyse erklären, berechtigt zur Annahme von Kausalität. Das Wegdenkverfahren der conditio-sine-qua-non-Formel beweist hier seine eigene Berechtigung und eröffnet Möglichkeiten der Kausalfeststellung in Bereichen, in denen eine Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung, die dem wissenschaftstheoretischen Erklärungmodell verhaftet ist, scheitern muß. Aber nicht nur in Fällen, die so eindeutig liegen wie im Syphilisbeispiel, läßt sich das Wegdenkverfahren fruchtbar machen 194 . Da die conditio-sine-qua-non-Formel einzelfallbezogen arbeitet, läßt sich eine ins Auge gefaßte Erklärung auch dann durch das Wegdenkverfahren indirekt erschließen, wenn es zwar nach allgemeiner Erfahrung andere Bedingungskomplexe gibt, die eine bestimmte Folge auslösen, im Einzelfall aber das Vorliegen dieser Umstände ausgeschlossen werden kann. Gibt es beispielsweise im oben angesprochenen Beispielsfall (13) neben dem Medikament A noch weitere Wirkstoffe, die ebenfalls solche Mißbildungen hervorrufen können, so kann man versuchen, herauszufinden, welche dies sind und überprüfen, ob das Opfer diesen ausgesetzt war. Stellt man dabei fest, daß zum Beispiel nur eine bestimmte Wirkstoffgruppe (also neben Medikament A auch andere Präparate) die Folge auslösen, kann Vgl. dazu Schulz. Lackner-FS 1987,39 (44 ff.). Hier war ja bereits aufgrund allgemeiner empirischer Forschung klar, daß der Zusammenhang zwischen Syphilis und Paralyse die einzige mögliche Erklärung für das Krankheitsbild "progressive Paralyse" ist. 193
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man aber ausschließen, daß das Opfer den anderen Präparaten ausgesetzt war, so läßt sich auf diese Weise nachweisen, daß ein Fall vorliegt, bei dem die statistische Erklärung relevant ist.
Die conditio-sine-qua-non-Fonnel stellt somit ein Verfahren dar, mit dessen Hilfe ein Arbeiten mit probabilistischen Gesetzmäßigkeiten möglich wird l95 . Das alleinige Abstellen auf die Subsumierbarkeit des Einzelfalls unter die probabilistische Gesetzmäßigkeit vennag hier nicht zu überzeugen l96 .
d) Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung und psychische Kausalität Die Frage der psychischen Kausalität stellt sich überall da, wo das Gesetz seine Rechtsfolgen an die Beeinflussung einer anderen Person knüpft, so z. B. bei der Anstiftung, bei der Beihilfe durch Rat l97 oder beim Betrug l98 . Auch hier erweist sich das Subsumtionsverfahren der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung als problematisch, weil Voraussetzung des Subsumtionsverfahrens die Fonnulierung allgemeiner empirischer Gesetzmäßigkeiten und die Beschreibung deren Ablaufs ist l99 . Die dabei auftretenden Schwierigkeiten im Zusammenhang mit psychischen (innerpersönlichen) Abläufen seien an einem Beispiel erläutert. Beispielsfall (15): A bietet dem in Palermo lebenden Mafia-Killer K 10.000.- DM für die Tötung seiner Ehefrau F in Hamburg. K führt die Tat aus und kassiert die Belohnung. 195 So ist auch Walder, SchwZStr 93 (1977), S. 113ff. (142) der Ansicht, daß bei Anwendung von Kausalgesetzen probabilistischer Natur zusätzlich (zur Subsumtion) gezeigt werden müsse, daß der konkrete Erfolg auf einem anderen Weg als über den Täter nicht möglich war. Daß hierin aber gerade die Anwendung des Wegdenkverfahrens der conditio-sine-qua-nonFormel liegt, hält er als Befürworter der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung nicht für erwähnenswert. Ähnlich Jescheck/Weigend, AT, § 28 11 4.; Hilgendoif, Lenckner-FS 1998, 699 (706). Auch Schulz, Lackner-FS, S. 39 ff. (44) kommt bei der Besprechung des oben dargestellten Syphilisbeispiels zur Bejahung von Kausalität und arbeitet dabei klar heraus, daß dieses Ergebnis nicht auf der Anwendung des wissenschaftlichen Erklärungsmodells beruht, sondern auf dem Erfahrungssatz, daß progressive Paralyse nur bei Syphiliserkrankungen auftritt. Das Ergebnis beruht allerdings auf dem Eliminationsverfahren der conditio-sine-quanon-Formel. Nur weil man weiß, daß es keine andere Erklärung für progressive Paralyse gibt, ist die Ursächlichkeit der Syphiliserkrankung erwiesen. 196 In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß die Lösung der Alternativfälle nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung gerade darauf beruht, daß Kausalität als reiner Subsumtionsvorgang verstanden wird. 197 Soweit man hier überhaupt einen Kausalzusammenhang verlangt. So z. B. S/S/Cramer, § 27 Rn. 10; LK-Roxin, § 27 Rn. 2 ff., jeweils m. w. N. Anders die Rechtsprechung, die unter "Hilfe leisten" auch nicht kausale Handlungen faßt. Dazu Baumann/Weber/Mitsch. AT, § 31 Rn. 3, 12 ff. mit Nachweisen. 198 Dort muß die Täuschungshandlung des Taters kausal für einen Irrtum des Getäuschten werden, der wiederum kausal für die Vermögensverfügung werden muß. 199 Dies muß zumindest skizzenhaft oder in Form empirisch gesicherter statistischer Zusammenhänge möglich sein. Vgl. zur problematischen psychischen Kausalität Engisch.
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Will man nun das Verhalten des K mit der Beeinflussung durch A erklären, so müßte man Gesetzmäßigkeiten formulieren, die Faktoren angeben, bei deren Vorliegen ein Angebot wie das des A eine andere Person mit Sicherheit oder mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit 200 zu einem Mord veraniaßt. Unternimmt man diesen Versuch, so stellt sich heraus, daß dies kaum möglich ist. Dabei stellt sich zunächst die Frage, ob psychische Abläufe überhaupt im determinierten Bereich ablaufen, d. h. ob sie überhaupt (natur-)gesetzlich bestimmt sind201 . Denn nach eigener Erfahrung erleben Menschen sich selbst in der Entscheidung über ihr eigenes Tun als frei. Die Freiheit des Menschen, sich für oder gegen ein bestimmtes Verhalten zu entscheiden, ist auch eine Grundannahme des Strafrechts überhaupt202 . Denn nur wenn der Mensch zwischen Handlungsalternativen frei entscheiden kann, ist es sinnvoll, ihn für sein Verhalten durch Strafe zur Verantwortung zu ziehen. Könnte man von dieser Freiheit grundsätzlich nicht ausgehen, so müßte man das Strafrecht eigentlich zu einem Maßregelrecht umgestalten, das die Gesellschaft vor dem Täter schützt, indem es ihn einsperrt oder umerzieht. Die Annahme, menschliche Freiheit bestehe nicht, sondern eine menschliche Entscheidung beruhe auf einem äußerst komplexen, nach dem Stand der Forschung nicht rekonstruierbaren determinierten Ablauf, ist eine nicht zu beweisende Hypothese 203 . Aber selbst wenn man die Determiniertheit psychischer Abläufe unterstellt, wären zur Beschreibung der Voraussetzungen und Abläufe eine solche Vielzahl von Faktoren (Erziehung, Persönlichkeitsentwicklung, Veranlagung, soziales Umfeld, momentane Lebenssituation des Beeinflußten) zu berücksichtigen und in ihrem Einfluß auf das Geschehen zu erfassen, daß allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten nicht formulierbar wären. Versucht man für den oben angegebene Beispielsfall (15) nur skizzenhaft, aber allgemein 204 anzugeben, unter welchen Voraussetzungen das Versprechen von Weltbild, S. 138 ff.; Bemsmann, ARSP 1982,536; Koriath, Psychische Kausalität, S. 141 ff.; S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 75; NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 111; Puppe, ZStW 95 (1983),287 (297ff.); Hilgendorf, Jura 1995,514 (519ff.); Schulz, Lackner-FS, 39 (45ff.); Otto, AT, § 6 Rn. 37; ders., Jura 1992, 90 (94); Dencker, Kausalität, S. 32 ff.; Ranft, ZStW 97 (1985), 268 (281). Dazu aus zivilrechtlicher Sicht auch Schulin, Kausalitätsbegriff, S. 98 f.; Köck, Kausalität, S. 20 m. w. N. 200 Zur Anwendung probabilistischer Gesetzmäßigkeiten im wissenschaftstheoretischen Erklärungsschema siehe oben 4. c). 201 SO Z. B. Engisch, Kausalität, S. 28; ders., v. Weber-FS 1963,247 (268 f.); Roxin, AT I, § 11 Rn. 30; Jakobs, AT, 7/27. Dagegen NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 111; S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 75; Bemsmann, ARSP 1982, 536 (544f.); Koriath, Psychische Kausalität, S. 223. Vgl. auch Hilgendorf, Jura 1995,514 (519f.). 202 S. dazu Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (902 Fn. 59); Bernsmann, ARSP 1982, 536 (542); Hilgendorf, Jura 1995,514 (520). 203 Dazu Bemsmann, ARSP 1982,536; Hilgendorf, Jura 1995,514 (519ff.), jeweils auch mit Nachweisen der außerstrafrechtlichen Literatur zu diesen Grundproblemen. 204 Die Möglichkeit allgemeingültige Aussagen zu machen ist wohl als Merkmal des Gesetzesbegriffs anerkannt. Vgl. dazu Engisch, Kausalität, S. 23 ff.; NK-Puppe, Vor § 13
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10.000.- DM einen anderen Menschen zur Begehung eines Mordes bewegt, stößt man auf so viele ungeklärte Fragen, daß eine gesetzmäßige Aussage nicht getroffen werden kann. Soll es darauf ankommen, daß der angestiftete K arm war, geldgierig, Mafiamitglied, daß durch eine bestimmte Persönlichkeitsentwicklung seine Tötungshemmschwelle herabgesetzt war oder nicht bestand? Und wie sollen gesetzmäßige Zusammenhänge hier empirisch erforscht werden? Jede psychische Beeinflussung ist in ihrem Gelingen abhängig von der Person des Betreffenden mit ihren mannigfaltigen Besonderheiten und der bestimmten Lebenssituation, in der sich der Betroffene befindet; sie ist damit einmalig. Es ist daher grundsätzlich nicht möglich, hier Regelmäßigkeiten durch Vergleich identischer, oder doch im wesentlichen identischer Abläufe zu gewinnen. Gerade dies wäre aber Voraussetzung, um zu allgemeinen Gesetzen zu gelangen 205 , als deren Ausprägung man den Einzelfall verstehen kann. Man könnte nun versucht sein, die relevante Gesetzmäßigkeit am Einzelfall zu formulieren. Im oben dargestellten Fall könnte ein Gesetz formuliert werden, das besagt, daß immer wenn ein Mensch mit der Persönlichkeits struktur, Lebensgeschichte etc. wie der des K, in einer bestimmten Lebenssituation (z. B. akuter Geldmangel) einem Angebot wie dem des A ausgesetzt wird, sich dieser Mensch zu einem Mord verleiten läßt. Damit wird nun behauptet, daß es bei der Abfolge von Anstiftungshandlung und nachfolgender Haupttat nicht um einen einmaligen Fall, sondern um den Unterfall einer Regularität handele. Diese Behauptung läßt sich aber durch nichts empirisch nachweisen. Durch eine solche Verallgemeinerung läßt sich eine Gesetzeshypothese nicht aufstellen 206 . Sie wäre geradezu die Umkehrung der richtigen Kausalfeststellung nach dem Subsumtionsverfahren. Anstatt von einem bekannten Gesetz auf eineUrsachenbeziehung im Einzelfall zu schließen, würde dann vom Einzelfall auf die Regularität geschlossen. Daß dies nicht zulässig ist, liegt auf der Hand207 . Darüber hinaus ist es auch nicht möglich, wenigstens statistische Aussagen über die Beeinflußbarkeit anderer Personen zu machen. Dies hängt wiederum damit zusammen, daß die Beeinflussung einer Person durch eine andere von so vielen Besonderheiten des Einzelfalls abhängt, daß eine empirische Erforschung statistischer Zusammenhänge mangels Wiederholbarkeit und Vergleichbarkeit zumindest im wesentlichen gleicher Abläufe nicht möglich ist. So wäre beispielsweise ein Gesetz wie "xy% aller italienischen Mafiakiller lassen sich zu einem Mord bewegen, Rn. 85; dies., JZ 1994, 1147 (1l49); S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 75; Hilgendorj. Jura 1995, 514 (515 f.); Kindhäuser, GA 1982,477 (479 ff.). 205 Denn der Weg zu allgemeinen Gesetzen ist das Experiment, bei dem erforscht wird, welche Faktoren bei wiederholtem Ablauf immer dasselbe Ergebnis hervorrufen. Ohne Wiederholbarkeit von im wesentlichen gleichen Bedingungen kann kein allgemeines Gesetz formuliert werden. So schon Engisch, Kausalität, S. 13ff. Vgl. auch Hilgendorj. Jura 1995,514 (515f.). 206 Siehe dazu Hilgendorj. Jura 1995,514 (520). 207 So zu Recht Hilgendorj. Jura 1995,515 (520).
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wenn man ihnen dafür 10.000.- DM verspricht" nicht empirisch untersuchbar, da man dazu ja entsprechende Studien (Versuche) ausführen müßte 208 . Alles was im Bereich psychischer Kausalität zur Verfügung steht, sind recht vage Erfahrungssätze. So entspricht es der Erfahrung, daß sich Menschen durchaus nicht selten von anderen beeinflussen lassen. Dies kann sich beispielsweise in der Verwendung fremder Informationen, in der Übernahme fremder Anschauungen oder im bestimmenden Einfluß einer Person über eine andere wegen starker emotionaler Bindungen zeigen. Im oben beschriebenen Beispielsfall wird man sagen können, daß es der Erfahrung entspricht, daß die eigene Bereicherung für viele Menschen ein starkes Handlungsmotiv darstellt. Über die Unsicherheiten bei der Beurteilung solcher psychischen Motivationszusammenhänge kann keine Kausaltheorie hinweghelfen. Aber auch hier bietet das Wegdenkverfahren der conditio-sine-qua-non-Formel ein flexibles Instrumentarium, um verschiedenste Erfahrungssätze auf die Kausalitätsfeststellung im Einzelfall anzuwenden. Eine Kausalitätsfeststellung im oben dargestellten Killer-Fall (15) läßt sich mit der conditio-sine-qua-non-Formel nicht nur darauf stützen, daß nach allgemeiner Erfahrung ein Mensch, der bereits mehrfach für Geld gemordet hat ("Mafia-Killer") bei einem erneuten finanziellen Anreiz dies wieder tun wird. Vielmehr wird die Annahme, daß K wegen der Belohnung des A (damit von ihm bestimmt) gehandelt hat, dadurch plausibel, daß das Verhalten des K anders nicht erklärbar ist. Denn es entspricht allgemeiner Lebenserfahrung, daß Menschen nicht willkürlich und ohne Motiv andere umbringen 209 . Denkt man also die Anstiftungshandlung des A hinweg, so bleibt völlig unerklärlich, wieso K nach Hamburg gereist ist und dort gezielt die F umgebracht hat; das Opfer war ja zuvor dem Täter unbekannt. Die Anstiftungshandlung des A ist also als kausal anzusehen, weil sie zum einen als starker finanzieller Anreiz nach allgemeiner Erfahrung geeignet ist, eine andere Person zu motivieren und weil eine andere Erklärung der Verhaltens von K nicht gefunden werden kann. Eine Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung, die ihre Prämissen, nämlich die Feststellung von Kausalität durch Subsumtion eines Einzelfalls unter empirisch gesicherte Gesetzmäßigkeiten, ernst nimmt, muß hier scheitern, sie kann psychische Kausalität nicht erfassen 21O • Zu diesem Ergebnis gelangen auch verschiedene Anhänger der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung211 • So will Puppe für den Bereich psychischer Kausal208 Vgl. dazu Hilgendorj. Jura 1995, 514 (520 f.). Gegen das wissenschaftstheoretische Erklärungsmodell im Bereich psychischer Kausalität zu Recht Schulz, Lackner-FS 1987,39 (47 f.). 209 In den seltenen Fällen, in denen dies wegen psychischer Defekte nicht so ist, ist dies dann im Einzelfall durch psychiatrische Gutachten festzustellen. 210 Vgl. dazu aus Sicht des Zivilrechts Köck, Kausalität, S. 20. 211 Vgl. NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 115ff. m. w. N.; S/S/Lenckner; Vor § 13 Rn. 75 (Motivationszusammenhang statt Kausalität). Dagegen Hilgendorj. Jura 1995, 514 (520f.), der
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ität die "Illusion eines einheitlichen Kausalbegriffs" preisgeben und versuchen die Zurechnung von Erfolgen durch psychische Beeinflussung auf eine grundsätzlich andere Basis zu stellen 212 .
e) Die Lösung von Beweisproblemen nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung und der conditio-sine-qua-non-Formel
Vor allem in jüngerer Zeit ist bei der strafrechtlichen Kausaldiskussion ein Problembereich in den Vordergrund gerückt, der allgemein mit dem Begriff der "generellen Kausalität"213 bezeichnet wird. Das Problem der generellen Kausalität stellt sich überall dort, wo ein Kausalurteil in einem Bereich zu fällen ist, in dem empirisch gesicherte Gesetzmäßigkeiten gar nicht oder nur oberflächlich und lückenhaft festgestellt werden können. In diesem Zusammenhang hat Anfang der 70er Jahre der Contergan-Falf 14 nicht nur zu großer öffentlicher Aufmerksamkeit, sondern auch zu einer lebhaften wissenschaftlichen Diskussion geführt215 . Durch neue Entscheidungen aus dem Bereich strafrechtlicher Produkthaftung ist die Problematik genereller Kausalität geradezu in den Vordergrund der strafrechtlichen Kausaldiskussion getreten 216 . Bereits oben 217 wurden bei der Gegenüberstellung der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung und der conditio-sine-qua-non-Formel Fälle herangezogen, bei denen allgemein gesicherte deterministische Gesetzesaussagen nicht aufgestellt werden konnten und damit die generelle Kausalität zweifelhaft war. Dabei wurde gezeigt 218 , wie die conditio-sine-qua-non-Formel durch ein indirektes Schlußauch im Bereich psychischer Kausalität das wissenschaftstheoretische Erklärungsschema für praktikabel hält. 212 NK-Puppe, Vor § 13, Rn. 115 ff. 213 Vgl. S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 75; Tröndle, Vor § 13 Rn. 16,18: Lackner/Kühl, Vor § 13 Rn. 11; NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 86; SK-Rudolphi, Vor § I Rn. 42 ff.; Kühl, AT, § 4 Rn. 6a. 214 Vgl. LG Aachen, JZ 1971,510. Dazu Bruns, Maurach-FS, 1972, S. 469ff.; Arm. Kaufmann, JZ 1971, 569 ff.; Maiwald, Kausalität und Strafrecht, 1980, dem der Contergan-Fall als Anstoß seiner Untersuchung diente (vgl. Einleitung). 215 Vgl. zu den Problemen der Kausalitätsfeststellung im Contergan-Fall Beyer, Grenzen der Arzneimiuelhaftung, S. 18f.; Hilgendorf, Produzentenhaftung, S. 115ff. m. w. N. 216 Vgl. dazu BGHSt 37, 106 - Lederspray-Entscheidung und dazu oben Einleitung mit Nachweis der diese Entscheidung behandelnden Anmerkungen und Aufsätze. Weiter LG Frankfurt NStZ 1990,592 und BGHSt 41,206 (= NJW 1995,2930) - Holzschutzmittel-Entscheidung. Aus dem Ausland das spanische Tribunal Supremo, auszugsweise übersetzt in NStZ 1994,37 - Rapsöl-Entscheidung. Dazu Puppe, JZ 1994, 1147; dies., JZ 1996,318; dies., Jura 1997,408; Volk, NStZ 1996, 105; Schmidt-Salzer, NJW 1996, 1 (6ff.); Kühne, NJW 1997, 1951. 217 Vgl. oben 4. a) - d), Beispielsfälle (11), (12), (13), (14), (15). 218 Vgl. oben 4. b) und c).
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verfahren (Gesamtbetrachtung) weitergehende Möglichkeiten zur Kausalitätsfeststellung im Einzelfall bietet als die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung.
Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß die Problematik der sog. generellen Kausalität in innerem Zusammenhang mit der angewandten Kausalitätsformel steht. Fälle zweifelhafter genereller Kausalität werfen die Frage auf, mit welcher Sicherheit und Genauigkeit empirische Gesetzmäßigkeiten bekannt sein müssen, damit im Einzelfall ein Kausalurteil gefällt werden kann. Sicherlich kann keine rechtliche Kausalitätslehre die Frage nach einem Ursachenzusammenhang aus sich selbst beantworten, da die Ursachenbeziehungen in der realen Welt nur durch wissenschaftliche Forschungen geklärt werden können, und damit jede Kausalitätslehre auf die empirisch gesicherten Kenntnisse über die Abläufe in der realen Welt zurückgreifen muß219 . Jedoch kann man durchaus unterschiedliche Standards dafür verlangen, wie sicher und wie genau diese Abläufe bekannt sein müssen, d. h. welche Anforderungen man an die Feststellung der generellen Kausalität stellt. Auf diese Frage bleiben die beiden maßgeblichen "Kausaltheorien" nicht ohne Auswirkung. aa) Die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung
Soweit diese Lehre die Kausalitätsfeststellung im Einzelfall als Subsumtion 220 eines wahren Sachverhalts unter empirische Gesetzmäßigkeiten beschreibt, wird die empirische Gesetzmäßigkeit als subsumtionsfahiger Obers atz zum Zentralbegriff der Kausalfeststellung, denn ohne ihn ist Subsumtion des Einzelsachverhalts nicht möglich. Aber auch der Teil der Lehre, der sich nicht ausdrücklich auf das Subsumtionsverfahren festlegt 221 , muß die Feststellung und Formulierung empirisch gesicherter Gesetzmäßigkeiten in den Vordergrund seiner Betrachtung stellen, wenn Kausalität als (natur-) gesetzliche Abfolge im Einzelfall verstanden werden soll. Das stellt diese Lehre immer dann vor besondere Probleme, wenn eine ausformulierte Gesetzmäßigkeit, unter die ein realer Sachverhalt zu subsumieren ist, nicht zur Verfügung steht. Hierbei sind zwei Fallkonstellationen zu unterscheiden. 219 Den Blick für diese Erkenntnis geschärft zu haben, ist sicherlich eine Verdienst der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung. 220 Von Subsumtion sprechen ausdrücklich: Engisch, Kausalität, S. 26; Annin Kaufmann, JZ 1971,569 (574); SK-Rudolphi, Vor § I Rn. 42; NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 85; Puppe, ZStW 92 (1980), S. 863 (874ff.); dies., JZ 1994,1147 (I 148 f.); Hilgendorj. Jura 1995,514 (515); Erb, JuS 1994,449 (450); Ouo, Jura 1992,90 (94); Samson, Hypothetische Kausalverläufe, S.31. 221 Offen insoweit lescheck/Weigend, AT, § 28 II 4.; LK-lescheck, Vor § 13 Rn. 55f.; Wesseis, AT, Rn. 159 ff. Wobei dann offenbleibt, was die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung sein soll. Denn ihr Begründer Engisch, Kausalität, S. 26, hat sie ja als Subsumtionsverfahren beschrieben.
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Zum einen kann eine in Wissenschaftskreisen umstrittene Gesetzeshypothese vorliegen, welche die Bedingungen eines Erfolges zumindest skizzenhaft angibt. Zum anderen kann aber auch der Fall gegeben sein, daß überhaupt keine Gesetzeshypothese formulierbar ist und außer einem auffälligen Zusammenhang zwischen dem Auftreten eines bestimmten Umstandes und dem Eintreten einer bestimmten Folge nichts gesagt werden kann. Hier wird von einem Teil der Vertreter der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung verlangt, daß ein Kausalgesetz, auf welches die Kausalfeststellung im Einzelfall gestützt werden soll, wissenschaftlich gesichert sein muß, d. h. in den maßgeblichen Fachkreisen allgemein anerkannt sein muß222 . Diese Ansicht führt zu einem hohen Anspruch an die strafrechtliche Kausalfeststellung, denn sie kommt in den oben angesprochenen Grenzfällen zur Ablehnung von Kausalität223 . Ein anderer Teil der Lehre will hier nicht nur Gesetzmäßigkeiten anwenden, welche in der wissenschaftlichen Diskussion unbestritten sind. Es gibt nach dieser Ansicht bei wissenschaftlichen Kontroversen keinen objektiven Maßstab, wann ein Gesetz allgemein als gesichert anzusehen ist. In einem solchen Fall soll es dem Urteil des Richters unterliegen, welcher Meinung in den Fachkreisen er sich anschließt 224 . Ausgeschlossen ist aber nach einer verbreiteten Ansicht 225 unter den Vertretern der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung die Feststellung von Kausalität in den Fällen, wo noch nicht einmal eine - zumindest umstrittene - Gesetzeshypothese vorliegt. Fraglich ist aber, wann von einer diskutablen Gesetzeshypothese in den maßgeblichen Fachkreisen gesprochen werden darf. Nach welchen Maßstäben ist zu entscheiden, ob neuere, aber noch umstrittene Ansichten ein solches Maß an Zustimmung gefunden haben, daß sie der Richter als eine vertretbare Ansicht zum Maßstab seiner Entscheidung machen kann? 222 SISILenckner, Vor § 13 Rn. 75; Armin Kaufmann, JZ 1971,569 (574); SK-Rudolphi, Vor § I Rn 42; Hassemer, Produktverantwortung, S. 42; MaurachiZipf, AT I, § 18 Rn. 39; Jakobs, AT, 7112 (Fn. 14); Struensee, ZStW 102 (1990), 21 (24); Beulkel Bachnwnn, JuS 1992,737 (738ff.); Roxin, Strafverfahrensrecht, § 15 Rn. 23. Vgl. auch Lorenz Schulz, Kausalität, S. 63 ff. 223 In allen drei Fällen - Contergan, Lederspray, Holzschutzmittel - fehlte es an empirisch gesicherten Gesetzmäßigkeiten über die Wirkweise der Substanzen auf den menschlichen Organismus. Vgl. dazu die Nachweise oben 4. e). 224 Vgl. dazu Puppe, JZ 1994,1147 (l150f.); dies., Jura 1997,408 (409); NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 86. Es liege kein Fall der Beweiswürdigung i. S. d. § 261 StPO vor. Nach Ansicht von Puppe, JZ 1994, 1147 (1150) und JZ 1996, 318 (320), besteht insoweit eine Rege1ungslücke im Prozeßrecht. 225 Vgl. dazu Puppe, JR 1992,30 (32); dies., JZ 1994, 1147 (1148); dies., JZ 1996,318; dies., Jura 1997,408 (409); NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 86; Hassemer, Produktverantwortung, S. 48f.; Samson, StV 1991, 182 (183); Volk, NStZ 1996, 105 (110); SK-Rudolphi, Vor § I Rn. 42c.; Brammsen, Jura 1991,533. Skeptisch SISILenckner, Vor § 13 Rn. 75; Hamm, StV 1997,159 (I 62f.).
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Bereits oben 226 wurde bei der Darstellung der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung kritisiert, daß sich nur ein Teil ihrer Anhänger genauer mit den Anforderungen an eine Gesetzmäßigkeit, auf die ein Kausalurteil gegründet werden sol1, beschäftigt. Des weiteren wurde darauf hingewiesen, daß die Feststellung einer Kausalbeziehung im Einzelfall durch Subsumtion unter al1gemeine Gesetzmäßigkeiten nur dann plausibel ist, wenn sie sehr genau und detailliert vorgenommen wird. In umstrittenen Bereichen der Forschung wird aber gerade nur eine oberflächliche Erklärungsskizze vorliegen. Denn sobald in den fraglichen Wissenschaften detaillierte Gesetzmäßigkeiten formuliert sind, dürfte es auch möglich sein, sie zu falsifizieren, oder durch das Scheitern dieser Bemühungen zu gut bestätigten Gesetzen zu kommen. Die Unsicherheiten bei der Definition dessen, was eine empirisch gesicherte Gesetzmäßigkeit ist, macht es fast unmöglich zu sagen, unter weIchen Voraussetzungen man über einen tauglichen Obersatz für die einzelfal1bezogene Subsumtion verfügt. Die Schwierigkeiten der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung lassen sich in aBer Deutlichkeit an der bereits mehrfach erwähnten Lederspray-Entscheidung 227 zeigen. Hier war es nicht möglich, ein deterministisches Gesetz oder eine signifikante statistische Verknüpfung zwischen der Sprayverwendung und den Schadensfäl1en zu formulieren. Es konnte nicht festgestel1t werden, weIcher Inhaltsstoff des Ledersprays die Gesundheitsschäden hervorgerufen hat. Kann man dennoch im Einzelfal1 die Gesundheitsschädigung eines Verbrauchers auf die Spraybenutzung zurückführen? Der BGH hat die einzelfal1bezogene KausalfeststeBung mit der conditio-sinequa-non-Formel bestätigt, indem er eine sog. "black box"-Konstruktion228 angewandt hat. Diese besteht in der Hypothese, daß zwischen der Verwendung der Sprays und den sich daran anschließenden Lungenödemen bei den Benutzern eine gesetzmäßige Beziehung besteht, über deren genaue Voraussetzungen und Wirkungsmechanismen aber nichts bekannt ist (black box), deren Bestehen aber aufgrund eines indirekten Indizienbeweises aus dem Fehlen anderer möglicher Erklärungen geschlossen wird. Dieses Verfahren wurde von Seiten der Literatur vielfach kritisiert 229 • Dies ist aus der Sicht einer Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung, die Kausalitätsfeststel1ung als Subsumtion unter allgemeine empirische Gesetzmäßigkeiten begreift, nur folgerichtig. Denn wer Kausalität konsequent nicht durch hypothetische BeUnter Teil A I. 4. a). BGHSt 37, 106 (111 ff.). Dazu ausführlich oben 4. b). 228 Vgl. dazu Hassemer, Produktverantwortung, S. 38 ff. Dazu Hilgendorj. Lenckner-FS 1998,699 (716ff.). 229 Vgl. Puppe. JZ 1994, 1147 (1149); NK-Puppe. Vor § 13 Rn. 86; Hassemer, Produktverantwortung, S. 42 ff.; Eidam. Straftäter Unternehmen, S. 8; Beulke / Bachmann. JuS 1992, 737 (739). 226 227
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trachtungen am Einzelfall ermitteln will, sondern durch Subsumtion, braucht einen verläßlichen, den Subsumtionsvorgang tragenden Obersatz, d. h. eine ausformulierte Gesetzmäßigkeit230 , aus der die Kausalität eines konkreten Sachverhalts logisch abgeleitet werden kann. Daß hier für eine plausible Begründung, welche andere denkbare Ursachen (die ja in einem komplexen Fall durchaus nicht offensichtlich sein müssen) ausschließen muß, eine differenzierte Beschreibung der Gesetzmäßigkeiten und eine entsprechend gen aue Subsumtion erforderlich sind, wurde bereits oben dargestellt. Wo nur ein Gesetzmäßigkeitsverdacht besteht und sei er noch so wahrscheinlich, kann mangels Gesetz nicht subsumiert werden. Wer Kausalität nur durch logische Ableitung aus Regularitäten begreift, macht die empirische Gesetzmäßigkeit zum Zentralbegriff der rechtlichen Kausalfeststellung. Dieser Obersatz des Subsumtionsvorgangs muß formulierbar und erwiesen sein. Mit einer ernstgenommenen Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung ist der Indizienbeweis, wie ihn die Rechtsprechung in der Lederspray-und der Holzschutzmittel-Entscheidung vorgenommen hat, nicht zu vereinbaren23I. bb) Die conditio-sine-qua-non-Formel
Im Unterschied zur Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung kann nach der conditio-sine-qua-non-Formel Kausalität festgestellt werden, ohne daß ein Sachverhalt unter eine beschreibbare allgemeine Gesetzmäßigkeit subsumiert werden kann. Denn durch das Wegdenkverfahren kann auch eine äußerst vage, in ihren Einzelheiten (noch) ungeklärte Gesetzeshypothese zur Kausalitätsfeststellung herangezogen werden. Wie das Wegdenkverfahren hier in der Lage ist, auch nur skizzenhafte Erklärungen und statistische Zusammenhänge so zu stützen, daß sie eine Kausalfeststellung tragen, wurde bereits oben 232 gezeigt. Aber auch dann, wenn bezüglich des Zusammenhangs zwischen den Ausgangsbedingungen und der Folge keine konkreten Angaben über Voraussetzungen und Art des Ablaufs gemacht werden können, wenn eine sog. "black box" vorliegt, kann unter bestimmten Voraussetzungen, nämlich wenn andere Ursachen zuverlässig auszuschließen sind, gesagt werden, daß der ins Auge ge faßte (weggedachte) Umstand Teil einer noch nicht formulierbaren Erklärung des Erfolges sein muß. Genau diesen Weg ist das Landgericht mit sachverständiger Hilfe und unter Billigung des BGH im Lederspray-Fall gegangen 233 . Diese Methode der Gesamt230 Schon Engisch, Kausalität. S. 23 betont, daß Gesetze in "größtmöglicher Präzision und Strenge" anzusetzen sind. 23I A.A. Hilgendorf, Jura 1995.514 (517); Roxin. AT 1, § 11 Rn. 15; Jescheck/Weigend. § 28 11 4. 232 Vgl. Teil A I. 4. a) -d). 233 LG Mainz in Schmidt-Salzer. Produkthaftung StR. IV, 3. 22 .• S. 17 ff.; BGHSt 37, 106 (111 ff.).
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betrachtung hat der BGH in der Holzschutzmittel-Entscheidung bestätigt 234 . Da bei dieser Vorgehensweise auf die Formulierung der Gesetzmäßigkeit zwischen dem fraglichen Umstand und der Folge verzichtet wird, ändert sich auch die beweisrechtliche Problematik. Kausalität ist nicht erst dann erwiesen, wenn eine formulierbare Gesetzeshypothese allgemein als gesichert gilt oder nach richterlicher Überzeugung anzuwenden ist. Vielmehr kann durch einen Negativbeweis (bez. anderer möglicher Ursachen im Einzelfall), d. h. durch Erfahrungssätze, die von der Formulierung der tragenden Erklärung verschieden sind, Kausalität ermittelt werden. Kausalität ist dann nicht mehr durch Subsumtion unter bekannte Gesetze festgestellt, sondern durch die Behauptung, daß eine solche Subsumtion möglich wäre, weil es die Gesetzmäßigkeiten gebe, diese aber noch nicht genau erforscht sind 235 . Es stellt sich nun die Frage, ob durch einen solchen Negativbeweis Kausalität festgestellt werden darf, oder ob dies zu einer Verurteilung wegen "Kausalitätsverdacht" führen würde. Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob diese Art der Kausalitätsfeststellung dem Standard von Kausalität in der Wissenschaftstheorie entspricht. Es mag so sein, daß nach dem in der Wissenschaftstheorie erreichten Standard eine solche Beweisführung nicht anerkannt wird. Dies muß aber nicht darauf beruhen, daß das indirekte Verfahren auch für den strafrechtlichen Kausalitätsnachweis ungeeignet ist. Die Abweichung beruht zum einen sicherlich darauf, daß es die empirischen Wissenschaften mit anderen Fragestellungen zu tun haben als das Strafrecht. Wird dort über kausale Zusammenhänge geforscht, so steht oft die Prognose von Ereignissen im Vordergrund. Ein Wissenschaftler, der einen kausalen Ablauf erforscht, wird häufig wissen wollen, welche Ausgangsbedingungen er schaffen muß, um eine bestimmte Folge herbeizuführen, und was er vermeiden muß, um unerwünschte Effekte zu vermeiden. Hier werden nur detailliert formulierte Gesetzmäßigkeiten ausreichend sein. Je nachdem, wie wichtig die Vorhersage ist, wird der Naturwissenschaftler auch eine besonders hohe Sicherheit für die Geltung seiner Gesetze verlangen. Er wird darauf achten, daß er nur gut bestätigte Gesetze verwendet, die bereits in vielen Versuchen überprüft wurden. Dabei ist zu beachten, daß sich Gesetzmäßigkeiten nicht positiv verifizieren lassen. Vielmehr ist jedes Gesetz letztlich nur eine Gesetzeshypothese, die aber so gut bestätigt sein kann, daß man nach menschlichem Ermessen keine Zweifel mehr daran hat. Es hat in den empirischen Wissenschaften also seinen guten Grund, wenn man kausale 234 BGHSt 41, 206 (216). Vgl. dazu auch Schmidt·Salzer. NJW 1996, I (6ff.); Lorenz Schu/z, Kausalität, S. 47 ff., mit ausführlicher Darstellung der Vorgeschichte und der Prozeßgeschichte des Falles. 235 Inzident enthält auch das Verfahren der conditio-sine-qua-non-Formel die Behauptung, daß ein allgemeines Gesetz besteht, unter das der Einzelfall fällt. Vgl. BGHSt 41, 206 (216). Dazu Puppe, JZ 1996, 318. Die Formulierbarkeit des Gesetzes ist aber keine notwendige Bedingung für die Kausalfeststellung im Einzelfall. S. auch Baumann/Weber/ Mitsch, AT, § 14 Rn. 47 ff.; Hilgendorj. Lenckner-FS 1998,699 (713 f.)
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Zusammenhänge nur da annimmt, wo man sie aus gut bestätigten allgemeinen Gesetzen logisch ableiten kann. Die strafrechtliche Kausalfeststellung ist dadurch nicht präjudiziert. Das Recht kann auch da von Kausalität sprechen, wo die Art des Zusammenhangs zwischen einem bestimmten Umstand und einer Folge nicht beschrieben ist, aber das "Ob" hinreichend sicher erschlossen werden kann 236 . Diesen Gedanken bringt die conditio-sine-qua-non-Formel zum Ausdruck. Wenn man sagen kann, daß ohne einen bestimmten Umstand die Folge jedenfalls nicht eingetreten wäre, dann muß der Umstand Teil einer Erklärung für den Erfolg sein. Es soll nun nicht verkannt werden, daß die indirekte Beweisführung auch besondere Risiken birgt. Den negativen Beweis zu führen, daß ein bestimmter Umstand mangels anderer Erklärungsmöglichkeiten (mit- )ursächlich gewesen sein muß, bedeutet ja, alle anderen Erklärungen auszuschließen. Dies kann mit absoluter Zuverlässigkeit nur dann geschehen, wenn man wirklich alle denkbaren Ursachenkomplexe für eine bestimmte Folge kennt. Die indirekte Beweisführung führt nur in geschlossenen Systemen, in denen Input und Output genau bekannt sind, zu sicheren Ergebnissen. Ein solcher Idealzustand ist aber in der Wirklichkeit, wo die Erforschung der Welt ständig in der Entwicklung ist, praktisch nirgends anzutreffen. Es bleibt in der Praxis also immer das Risiko, daß eine bestimmte mögliche Ursache noch gar nicht bekannt ist und deshalb im einzelnen Fall ihr Vorliegen gar nicht ausgeschlossen werden kann. So wird im Sachverhalt der Lederspray-Entscheidung kein Sachverständiger letztlich absolut sicher sagen können, daß es keinen anderen bislang unbekannten Umstand gibt, der die Lungenödeme hervorgerufen haben kann und sich nicht in den 42 Fällen jeweils zufällig zeitgleich mit der Benutzung der Ledersprays ausgewirkt hat 2J7 . Es stellt sich nur die Frage, ob dieser Restzweifel strafrechtlich relevant sein kann. Der Maßstab ergibt sich bei Anwendung der conditio-sine-qua-non-Formel aus § 261 StP0 23S . Maßgeblich ist also die freie richterliche Überzeugung. Denn nach der conditio-sine-qua-non-Formel muß der Richter ja im Einzelfall zu dem Ergeb236 Vgl. LacknerlKÜhl. Vor § 13 Rn 11; Tröndle. Vor § 13 Rn. 18; BaunumnlWeberl Mitsch. AT, § 14 Rn. 47 ff.; Roxin. AT I. § 11 Rn. 16; JeschecklWeigend, § 28 114.; HilgelJ' dorf. JZ 1997, 611; Kuhlen. NStZ 1990, 566; der.f .. JZ 1994, 1145; Meier. NJW 1992, 3193 (3194); Amelung, Der Bundesgerichtshof als ..Gesetzgeber", S. 66 f.; Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 9ff.; Ranft, Strafprozeßrecht, Rn. 1634. 237 Daran wollen verschiedene Autoren in der Literatur die Annahme von Kausalität scheitern lassen. Vgl. Samson, StV 1991. 182 (183); Puppe. JR 1992, 30ff. (31); Ha.f.femer. Produktverantwortung, S. 42 f. 238 BaumannlWeberlMitsch, AT, § 14 Rn. 47ff.; LacknerlKühl. Vor § 13 Rn. 11; Tröndle, Vor § 13 Rn. 18; Roxin, AT I, § 11 Rn. 16; ders., Strafverfahrensrecht, § 15 Rn. 22 f.; JeschecklWeigend, § 28 11 4.; Maiwald, Kausalität, S. 106 ff.; Amelung, Der Bundesgerichtshof als "Gesetzgeber", S. 67; Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 13; Deut.rcher I Körner. wistra 1996,292 (296 f.); Ranft, Strafverfahrensrecht, Rn. 1633 ff.
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nis kommen, daß er den Umstand (z. B. die Spraybenutzung) nicht hinwegdenken kann, ohne daß der Erfolg entfallt. Diese Feststellung ist der rechtliche Maßstab der Kausalitätsfeststellung, der im Einzelfall zu erzielen ist. Dies kann der Richter nicht durch eine Gedankenoperation erreichen, sondern er muß empirische Kenntnisse anderer Wissenschaftsbereiche anwenden, wenn die Komplexität des Falles dies erfordert 239 . Beispiel (16): Der Täter (T) hat dem Opfer (0) das Gift E 605 verabreicht. Kurze Zeit später stirbt O.
Prüft man nun, ob E 605 Ursache des Todes des 0 war, wird man zunächst mit sachverständiger Hilfe aufklären, wie E 605 auf den menschlichen Organismus wirkt. Der Sachverständige kann nun sagen, daß sich der Stoff an die Synapsen der Nervenzellen anlagert, diese zu ständiger Tätigkeit reizt und dadurch zu einer ständigen Muskelkontraktion führt. Das Opfer stirbt dann an einer Verkrampfung des Herzmuskels. Eine Anwendung dieser medizinischen Gesetzmäßigkeiten auf den Fall kann nun ergeben, daß genau ein solcher Ablauf sich zugetragen hat: Zeugen berichten, daß der 0 unter heftigen Krämpfen starb. Die Obduktion ergibt, daß sich an den Nervenenden des 0 E 605 gefunden hat. Das Verhalten des A hat also gesetzmäßig bedingt, daß 0 starb, weil man einen in seinem Ablauf allgemein bekannten Zusammenhang in einem Einzelfall so vorgefunden hat. Zugleich begründet diese Erkenntnis den Satz, daß E 605 in diesem Fall conditio sine qua non des Todes war. Im gleichen Beispiel könnte es nun aber auch so sein, daß Sachverständige nichts über die Wirkung des E 605 wissen. Es sei nur bekannt, daß bereits mehrfach nach Einnahme von E 605 plötzlich auftretende Todesfälle beobachtet wurden. Darüber hinaus ist bekannt, daß es andere Ursachen gibt, die einen Krampftod auslösen können, diese aber im Fall 0 ausgeschlossen werden können. Ist das Ausschlußverfahren sicher und geht man davon aus, daß es eine Erklärung für den plötzlichen Tod des 0 geben muß, daß 0 nicht zufällig gestorben ist, so kann ebenfalls von Kausalität gesprochen werden. Die Problematik dieses Rückschlusses liegt in dem Unsicherheitsfaktor, der sich daraus ergibt, daß man sich nie absolut sicher sein kann, daß nicht eine andere Ursache "gewirkt" hat, die nur zufällig zeitgleich mit E 605 aufgetreten ist. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen versteckten Ursache ist nun aber von Fall zu Fall verschieden. Sie hängt davon ab, wie gut die möglichen Ursachen für einen plötzlichen Krampftod erforscht sind. Liegt der Fall so, wie im oben angeführten Syphilisbeispiel 240 - progressive Paralyse tritt nach wissenschaftlicher Forschung nur nach einer Syphiliserkrankung auf - so wird man von Kausalität wohl sicher 239 Dabei ist er nicht nur auf die Subsumtion unter bekannte Gesetzmäßigkeiten beschränkt sondern kann alle Arten von Erfahrungssätzen benutzen. Vgl. dazu die Argumentation im Syphilisbeispiel (12) oben 4. c) und im Killerbeispiel (15) oben 4. d). 240 Beispiel (12) Teil A I. 4. c).
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sprechen können. Gleichwohl besteht auch hier ein Restrisiko, daß irgendwann eine andere Ursache gefunden werden wird. Die Möglichkeiten des Ausschlusses anderer denkbarer Ursachen varieren stark von Fall zu Fall. So war in der Lederspray-Entscheidung die zeitliche Abfolge von Spraybenutzung und Gesundheitsschäden der Verbraucher (in 42 Fällen) ein Indiz für den Ursachenzusammenhang 241 . Weit problematischer lag es im Holzschutzmittel-FalI 242 , bei dem es um Langzeitexposition der Verbraucher ging 243 • Hier ist der Ausschluß von Alternativursachen ungleich schwerer244 • Ob der Rückschluß möglich ist, muß daher der subjektiven Überzeugung des Richters überstellt werden. Denn dieser Maßstab versucht gerade das auch bei der Kausalitätsfeststellung vorliegende Dilemma zwischen dem Bedürfnis nach "absoluter Sicherheit" als Grundlage für die Bestrafung eines Menschen und der Beschränktheit menschlicher Erkenntnisfähigkeit zu lösen. Was hier bei der Frage des Beweises von Tatsachen (oftmals auch mit Indizienbeweisen durch Sachverständige) als Standard für die Sicherheit des Ergebnisses gilt, muß auch für die Verursachung im Einzelfall gelten. Dies sei an einem Beispiel erläutert. Beispiel (17): Als Grundkonstellation soll wieder die Problematik der Lederspray-Entscheidung bezüglich der generellen Kausalität dienen. Darüber hinaus sei nun in einem einzelnen Schadensfall auch fraglich, ob die vom Opfer verwendete Spraydose überhaupt von der Firma E.R. hergestellt war, oder ob es sich um ein Produkt eines ganz anderen Herstellers handelte. Die Dose ist nicht mehr aufzufinden. Als Beweismittel stehen die Aussage der Mutter und des Sohnes des Opfers zur Verfügung, welche sich an die Marke der Spraydose erinnern.
Nun stellt sich zusätzlich zur Kausalitätsproblematik die Frage, ob überhaupt das fragliche Produkt im Spiel war. Bezüglich der Erinnerung der Zeugen sind durchaus Zweifel angebracht. Können sie sich wirklich trotz der Aufregung an das Etikett der Dose erinnern? Haben sie in der Presse oder im Zusammenhang mit dem Verfahren erfahren, daß es ja gerade die E.R.-Dosen waren, die für die vielen Schadensfalle verantwortlich gemacht werden? Haben sie sich ihre Aussage so (bewußt oder unbewußt) zusammengereimt? Mit absoluter Sicherheit wird man dies nicht feststellen können. Der Richter wird versuchen, Argumente für die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu finden. Letztlich muß er sich eine subjektive Überzeugung bilden, die bestehende Restzweifel unbeachtet läßt, wenn sie nur theoretischer Natur sind. Insofern besteht wohl Einigkeit. Etwas anderes soll nach verbreiteter Ansicht gelten, wenn die menschliche Kenntnis über Kausalzusammenhänge fraglich ist. Der Richter wäre also daran 241 242 243
244
(715).
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
BGHSt 37, 106 (111 ff.). Dazu Kühne, NJW 1997, 1951 (1952 f.) BGHSt 41,206 (207 ff.); LG Frankfurt a.M. ZUR 1994,33. auch Duo, AT, § 6 Rn. 36. dazu Lorenz Schulz, Kausalität, S. 66 ff.; H i/gendorf, Lenckner-FS 1998, 699
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gehindert, von der Kausalität des Sprays für die Lungenödeme auszugehen. Dies, obwohl in 42 Fällen auffallend gleiche Abläufe vorlagen und trotz gründlicher Suche keine anderen Ursachen gefunden werden konnten. Interessant ist das Gegenargument: "Es bleibt die - ernsthafte - Möglichkeit, daß ein anderer - bisher unbekannter - Stoff das Lungenödem verursacht hat und Erdal in den schadenbehafteten Fällen mit dieser anderen unbekannten Ursache zufällig nur zeitgleich auftrat,,245. Diese Ausage ist im Grundsatz nicht zu beanstanden, ein gewisser Zweifel am Kausalzusammenhang besteht. Ob es sich aber um einen "ernsthaften" Zweifel handelt, scheint jedoch sehr fragwürdig, wenn man die "Analogie,,246 zu dem sonstigen Maßstab der Wahrheitsfeststellung im Strafprozeß akzeptiert. Es erscheint gerade im gebildeten Beispiel nicht einleuchtend, die subjektive Überzeugung des Richters von der Richtigkeit der Zeugenaussagen zu akzeptieren, im Fall der Kausalität aber die Überzeugungsbildung des Richters nicht anzuerkennen. Die Lösung des konkreten Problems im Einzelfall soll aber auch nicht Gegenstand dieser Ausführungen sein. Es geht vielmehr darum zu erkennen, daß Kausalität im Einzelfall durch ein Rückschlußverfahren dargetan werden kann und daß die dabei auftretenden Zweifel von Fall zu Fall verschieden sind 247 . Die Gewichtung der Zweifel sind nach § 261 StPO der subjektiven Überzeugung des Richters überstellt. Es können damit nach strafrechtlichem Standard Lösungen im Einzelfall gefunden werden, wo eine Subsumtion unter empirisch gesicherte Gesetze nicht möglich ist, da ein Obersatz (empirisches Gesetz) nicht so gen au fonnuliert ist, daß man einen realen Sachverhalt in seinen Voraussetzungen und seinem Ablauf wirklich stichhaltig damit vergleichen könnte.
oZusammenfassung Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, daß die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung in weiten Bereichen strafrechtlicher Kausalfeststellung vor erheblichen Problemen steht. Die ernstgenommene Übernahme des wissenschaftstheoretischen Erklärungsmodells führt in weiten Bereichen zu erheblichen Schwierigkeiten bei der straf245 Samson, StV 1991. 182 (182). Ebenso Puppe, JR 1992,30 (32); dies., JZ 1994. 1147 (1149); Hassemer. Produktverantwortung, S. 42f.; Volk. NStZ 1996, \05 (l08f.); Schwartz, Produkthaftung, S. 576. Dagegen Hilgendorf, Produzentenhaftung, S. 124. 246 Für eine "Analogie" spricht auch der Umstand, daß für die Anforderungen an die Feststellung von Kausalgesetzen im Prozeßrecht eine Regelungslücke bestehen soll. So Puppe, JZ 1994, 1147 (1150), dies .• JZ 1996, 318. Dafür spricht, daß die generelle Kausalität (= Verfügbarkeit von empirischem Wissen) weder eine typische Einzeltatsache darstellt, für deren Beweis § 261 gilt, noch als Teil der Rechtsnorm angesehen werden kann. In letzterem Sinne aber Armin Kaufmann, JZ 1991, 569 ff. 247 Vgl. dazu auch Lorenz Schulz. Kausalität, S. 67 ff., der sich mit der Evidenz des Kausalurteils in Contergan-und Lederspray-Entscheidung auseinandersetzt.
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rechtlichen Kausalitätsfeststellung, insbesondere da, wo detaillierte detenninistisehe (Natur-)Gesetze nicht zur Verfügung stehen 248 . Es zeigt sich, daß eine so verstandene Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung nicht das ausdrückt, was rechtlich unter einem Kausalzusammenhang zu verstehen ist 249 . In diesem Zusammenhang ist nun aber darauf hinzuweisen, daß eine große Zahl von Vertretern der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung diese nicht in den Zusammenhang mit dem wissenschaftstheoretischen Erklärungsschema250 stellen 251 und daß sich folglich die hier geäußerte Kritik nicht unbedingt gegen die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung als Ganzes, sondern nur gegen einige Vertreter einer bestimmten Richtung innerhalb der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung richtet. So fonnuliert z. B. leseheck, bei der Frage der Kausalität komme es darauf an, "ob sich an eine Handlung zeitlich nachfolgend Veränderungen in der Außenwelt angeschlossen haben. die mit der Tathandlung gesetzmäßig verbunden waren und sich als tatbestandsmäßiger Erfolg darstellen,,252
Diese Definition der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung dürfte dem Stand der wohl h.M. unter den Vertretern dieser Lehre entsprechen 253 . Nach der Beschäftigung mit den oben dargestellten Problemkonstellationen wird der kritische Leser nun differenzierte Angaben über die Anforderungen an eine gesetzmäßige Bedingung und das durchzuführende Subsumtionsverfahren vennissen. Es wird nicht weiter untersucht, ob nur mit detenninistischen Gesetzmäßigkeiten oder auch mit statistischen zu arbeiten ist. Es fehlen Angaben darüber, wie allgemein oder wie detailliert Gesetzmäßigkeiten fonnuliert werden müssen und wie genau der Einzelfall unter die Gesetze subsumiert werden muß 254 . Vor das Problem der psychischen Kausalität gestellt, herrscht vielfach eine gewisse Ratlosigkeit 255 . ~48 Vgl. dazu oben 4. b) bis d). Darüber hinaus ist ein ernstgenommenes Subsumtionsverfahren auch in einfach gelagerten Fällen wenig praktikabel. Dazu oben 4. a). 249 Vgl. dazu Schutz. Lackner-FS 1987,39; Dito, AT. § 6 Rn. 31 ff.; ders .. Jura 1992,90 (93 f.). Kritisch auch Kühl, AT, § 4 Rn. 23. 250 Vgl. Hilgendorf, Jura 1995, 514 (515 f.); Kindhiiuser. GA 1982, 477; Puppe. ZStW 92 (1980), 863; dies., Spende1-FS 1992,451 (457); NK-Puppe. Vor § 13 Rn. 85; Hoyer. AT, S. 34 ff.; ders., GA 1996, 160; Walder. SchwZStR 93 (1977), 113 ff. 251 Kritisch dazu Schutz, Lackner-FS 1987, S. 39 ff.; Koriath. Psychische Kausalität, S. 103 ff.; Dito, AT, § 6 Rn. 31 ff.; ders., Jura 1992, 90 (93 ff.). 252 Vgl. JeschecklWeigend. AT, § 28 1J 4; LK-Jescheck, Vor § 13 Rn. 56. 253 Vgl. SISILenckner. Vor § 13 Rn. 75; SK-Rudolphi, Vor § 1 Rn. 40; Kühl, AT § 4 Rn. 22; Roxin, AT I, § 11 Rn. 14; Wesseis, AT, Rn. 159ff.; Brammsen, Jura 1991,533 (535); BeulkelBachmann, JuS 1992,737 (738); Erb, JuS 1994,449 (450f.). Kritisch dazu Dito. AT, § 6 Rn. 31 ff.; ders., Jura 1992,90 (93 ff.). 254 Vgl. dazu Schutz, Lackner-FS 1987, 39 (40 ff.); Maiwald, Kausalität, S. 66 ff. 255 Einerseits kennt das Gesetz psychische Verursachung, andererseits verfügt man über keine psychischen Gesetzmäßigkeiten. Vgl. Schulz, Lackner-FS, 1987, S. 39 ff. (45 f.); Dito,
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So ist es naheliegend, daß ein Teil der Anhänger der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung in Anschluß an Engisch 256 den Versuch unternimmt die strafrechtliche Kausalitätsfeststellung durch Anbindung an das wissenschaftstheoretische Erklärungsmodell zu präzisieren, um so Methoden und Maßstäbe zu finden, wie Kausalität im Einzelfall zu ermitteln ist257 . Die dabei auftretenden Probleme und die damit verbundenen Einwände gegen diese Auffassung von Kausalität wurden bereits ausführlich beschrieben 258 . Daß sich die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung dennoch großer Beliebtheit erfreut, liegt wohl vor allem daran, daß sie Alternativkonstellationen und das Reserveursachenproblem leichter lösen kann. Auffallend ist, daß die Lehre bei den dort diskutierten Fällen nur auf Sachverhalte angewandt wird, die derart simpel gelagert sind, daß gut bestätigte Gesetzesaussagen verfügbar sind 259 . Der Versuch, komplexe Zusammenhänge wirklich gesetzmäßig zu beschreiben und einen Einzelfall darunter zu subsumieren, wird von den meisten Vertretern dieser Lehre nicht unternommen. Wer eine Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung auf diese Weise betreibt, setzt sich selbst dem Vorwurf aus, der häufig der conditio-sine-qua-non-Formel gemacht wird, nämlich mit einer Leerformel zu operieren 260 . Eine so verstandene Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung besagt nicht mehr, als daß man bei der Kausalitätsfeststellung auf empirische Gesetzesaussagen zurückgreifen muß, was auch seitens der Vertreter der conditio-sine-qua-non-Formel nicht bestritten wird261 . Zur KlarsteIlung sei nochmals darauf hingewiesen, daß mit der Kritik an der Verwendung des wissenschaftstheoretischen Erklärungsmodells nicht behauptet werden soll, dieses sei falsch und gebe das, was unter Kausalität zu verstehen sei, nicht richtig wieder. Es sollte lediglich gezeigt werden, daß die so verstandene Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung die Probleme bei der Kausalitätsfeststellung in der strafrechtlichen Praxis nicht lösen kann. Soweit mittels des dargestellten Erklärungsmodells Kausalität festgestellt werden kann 262 , wird sie richtig festgestellt263 . AT, § 6 Rn. 37ff.; ders., Jura 1992,90 (94f.); S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 75. Siehe dazu auch Bernsmann, ARSP 1982,536; Koriath, Kausalität, S. 128 f. 256 Kausalität, S. 13 ff. 257 Vgl. dazu Puppe, ZStW 92 (1980), 863ff.; dies., ZStW 95 (1983), 287ff.; NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 83 ff.; Hilgendorf, Jura 1995, 514; Kindhäuser, GA 1982, 477; Bernsmann, GA 1982,536; Hoyer, GA 1996, 160; ders., AT, S. 34ff. 258 Vgl. dazu oben Teil AI. 4. a)-d). 259 Vgl. beispielsweise Teil I, Fall (4) - Schafottfall-, (5) - Giftfall -, (6) - Varietefall-, (7) -Schrottplatzfall. 260 Vgl. dazu Hilgendorf, Jura 1995,514 (515). Siehe auch Kühl, AT, § 4 Rn. 23; Puppe, ZStW 95 (1983),287 (300f.). 261 So schon v. Weber, GS 101 (1932),456 (457f.). Ebenso Dencker, Kausalität, S. 30; Toepel, Kausalität, S. 53. Vgl. auch die intensive Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen in BGHSt 37, 106 (111 ff.) und BGHSt 41,206 (207 ff.).
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Die Rezeption des wissenschaftstheoretischen Erklärungsmodells als maßgebliche Methode zur Kausalitätsfeststellung stellt jedoch bei der Ermittlung von Kausalität im Einzelfall Anforderungen auf, die über das, was strafrechtlich relevant ist, hinausgehen. Da Kausalität durch Subsumtion des Einzelfalls unter empirische Gesetze festgestellt wird, erfordert das Verfahren notwendigerweise die Formulierbarkeit der Gesetzmäßigkeit und deren empirische Prüfbarkeit, ein Anspruch der in vielen Bereichen nicht realisierbar ise 64 • Die conditio-sine-qua-non-Formel bietet hier ein Verfahren, wie ein Kausalurteil mit einem spezifisch rechtlichen Standard, der der Begrenztheit menschlichen Erkenntnisvermögens angemessen ist, dargetan werden kann. Sie kann und muß dabei nicht den Anspruch erheben, eine Definition dessen zu sein, was in der Wissenschaftstheorie oder der Philosophie unter Kausalität zu verstehen sei. Sie ist ein an praktischen Bedürfnissen orientierter Ansatzpunkt, wie in der strafrechtlichen Praxis Kausalität festzustellen ist265 . Das geschieht durch eine Gesamtbetrachtung anhand eines Einzelfalls. Man unternimmt also rückblikend den Versuch, einen fraglichen Erfolg einem bestimmten Umstand (als Teil eines Ursachenkomplexes) eindeutig zuzuordnen. Dabei wird nicht nur das empirische Wissen verwertet, welches den Umstand als Teil einer empirisch (mehr oder weniger) gesicherten Erklärung ausweist (Subsumtionsverfahren). Gleichzeitig wird ganz gezielt nach anderen Erklärungen gesucht, deren Nichtvorliegen im Einzelfall die ins Auge gefaßte, durch Wegdenken ausgeblendete Erklärung als die maßgebliche erscheinen läßt. Entgegen einer an der conditio-sine-qua-non-Formel geäußerten Kritik266 nimmt diese auch nicht für sich in Anspruch, Kausalität durch ein rein logisches Schlußverfahren festzustellen 267 . Die hypothetische Betrachtungsweise der con262 Nämlich dann, wenn allgemeine empirisch gesicherte Gesetze über die im Einzelfall relevanten Gesetze vorliegen und detailliert fonnulierbar sind. 263 Daß man sich dabei aber nicht mit oberflächlichen Erklärungsskizzen begnügen darf, wurde bereits oben - 4. a) - an den Beispielsfällen (9) und (10) - Arsenfälle - erläutert. WeIchen Aufwand eine konsequente Anwendung des wissenschaftstheoretischen Erklärungsschemas mit sich bringt, zeigt eindrucksvoll Schulz, Lackner-FS, 1987, S. 39ff. (41 f.). Zustimmend Dencker, Kausalität, S. 32. 264 Vgl. oben Teil A I. 4. b) bis d). 265 Vgl. Spendei, Kausalitätsfonnel, S. 9 ff.; Baumannl Weber I Mitsch, AT, § 14 Rn. 6 f., 41. Zur praktischen Bedeutung siehe auch Hilgendorf, JZ 1997,611; Kühl, AT, § 4 Rn. 9, 23; Gropp, AT, § 5 Rn. 18; Lackner I Kühl, Vor § 13 Rn. 10; Tröndle, Vor § 13 Rn. 16. 266 Vgl. dazu Arthur Kaufmann, Eb. Schmidt-FS 1961, S. 200 (209 f.). 267 So schon v. Weher, GS 101 (1932), 246 (247f.). Verfolgt man die Arbeit der Rechtsprechung mit der conditio-sine qua non-Fonnel, so kann man hier unschwer feststellen, daß bei Fällen die über die Anwendung alltäglicher allgemein bekannter Erfahrungssätze hinausgehen, stets Sachverständige hinzugezogen werden, wenn es um die Frage geht, was bei Wegdenken der fraglichen Handlung geschehen wäre. BGHSt 37, 106; 41, 206. S. auch Dencker, Kausalität, S. 30; Toepel, Kausalität, 53.
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ditio-sine-qua-non-Formel verlangt ebenfalls die Anwendung wissenschaftlich gesicherter Gesetze oder Erfahrungssätze. Diese werden bei entsprechend komplexen Sachverhalten durch Sachverständige aus den betreffenden Wissenschaftsbereichen in die gerichtliche Kausalfeststellung eingebracht. - In einfach gelagerten Fällen vermag die conditio-sine-qua-non-Formel aber wesentlich unkomplizierter als ein - ernstgenommenes - wissenschaftstheoretisches Erkärungsmodell Kausalität nachzuweisen. Müßte man jeden strafrechtlichen Erfolg in der erforderlichen Präzision anhand allgemeiner Gesetz wirklich "erklären", so wären auch einfachste, offensichtlich kausale Zusammenhänge nur schwer darzustellen 268 . - In Fällen, in denen komplizierte Verursachungszusammenhänge in Frage stehen, aber detaillierte empirische Gesetzmäßigkeiten nicht formulierbar sind, kann durch den Ausschluß anderer möglicher Erklärungen im Einzelfall auf das "Ob" eines kausalen Zusammenhangs zwischen dem weggedachten Umstand und der Folge geschlossen werden. Im Gegensatz dazu muß die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung, konsequent angewandt, die Formulierbarkeit der maßgeblichen Gesetze verlangen 269 . Dies ist darauf zurückzuführen, daß das aus der Wissenschaftstheorie übernommene Erklärungsschema nicht nur für die Retrospektive, sondern gleichfalls für die Prognose kausaler Abläufe gilt 27o. Eine solche Prognoseformel kann nur solche Gesetzmäßigkeiten berücksichtigen, die so detailliert formulierbar sind, daß alle wesentlichen 271 Faktoren angegeben sind, die vorliegen müssen, um einen bestimmten Erfolg eintreten zu lassen. Eine solche umfassende Erklärung einer bestimmten Folge ist aus rechtlicher Sicht überhaupt nicht interessant. Den Strafrechtler interessiert nur, ob der vom Täter gesetzte Umstand zu denen gehört, die zur Erklärung des Erfolges nötig sind. Dazu braucht er die Faktoren der vollständigen Gesetzmäßigkeit nicht zu kennen.
268 Vgl. dazu ausführlich Schuh, Lackner-FS, 1987, S. 39 ff. S. auch Kühl, AT, § 4 Rn. 23; Hilgendorj, JZ 1997,611. 269 So zu Recht Puppe, JR 1992,30; dies., JZ 1994, 1147; dies., JZ 1996,318; dies., Jura 1997,408; NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 86. Ähnlich S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 75; SK-Rudolphi, Vor § I Rn. 42c; Volk, NStZ 1996, 105 (1080. 270 Vgl. dazu Schuh, Lackner -FS 1987,39 (40 ff.); Dencker, Kausalität, S. 32. 271 Wirklich alle Bedingungen eines Erfolges im Sinne der Gesarntursache des Erfolges wird man wohl nie angeben können. Vgl. dazu schon oben 2. b) bb).
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5. Auswirkung der bisher gefundenen Ergebnisse auf die Lösung des Gremiumsproblems Die vorstehenden Ausführungen haben also ergeben, daß die conditio-sine-quanon-Formel das maßgebliche Instrument zur Kausalitätsfeststellung im Strafrecht darstellt und von der Rechtsprechung zu Recht nicht aufgegeben wird272 . Für die Lösung des Kausalproblems im Gremium 273 , einer Konstellation der Alternativität kumulierender Kausalbeiträge 274 , ergibt sich aus diesen Erwägungen, daß eine Lösung nicht allein mit der Anwendung des oben dargestellten Erklärungsschemas auf wechselnde Teilsachverhalte begründet werden kann 275 . Diese Lösung basiert auf der Annahme, Feststellung von Kausalität in einem Einzelfall sei nichts anderes als Subsumtion eines wahren Sachverhaltes unter empirische Gesetzmäßigkeiten. Bei mehreren ganz oder teilweise verschiedenen Sachverhalten könne dann eben jeder dieser Sachverhalte unabhängig von anderen ebenfalls wahren Umständen subsumiert werden (Doppel- / Mehrfachsubsumtion= Doppel- / Mehrfachkausalität). Daß bei Anwendung der conditio-sine-qua-non-Formel, also bei Wegdenken des einen Umstandes der Erfolg nicht entfalle, daß also der alternative Sachverhalt nach dieser Methode die Kausalfeststellung störe, beruhe nur darauf, daß die conditio-sine-qua-non-Formel das, was unter Kausalität zu verstehen sei, nicht richtig wiedergebe. Dem ist entgegenzuhalten, daß die conditio-sine-qua-non-Formel als Methode der Kausalfeststellung im Strafrecht, wie gezeigt, durchaus eigenständige Bedeutung hat und auf ihre Verwendung daher nicht verzichtet werden kann. Mit der conditio-sine-qua-non-Formel ist aber eine positive Begründung von Kausalität in Alternativfällen nicht möglich, da sie Kausalität durch eindeutige Zuordnung zu einem Ursachenkomplex festzustellen versucht: Die (Mit-)Ursächlichkeit eines Umstandes wird ja gerade damit begründet, daß andere Erklärungen für die Folge nicht in Betracht kommen, weil die dafür erforderlichen Voraussetzungen im Einzelfall nicht gegeben sind 276 . Ob man dann in den Alternativfällen von Kausalität - im rechtlichen Sinne reden will, ist vor diesem Hintergrund nicht eine Frage des richtigen Kausalbegriffs, sondern eine Frage der Wertung. Will man mit guten Gründen auf die 272 So auch Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 14 Rn. 11 ff.; Dencker, Kausalität, S. 114f.; Toepel, Kausalität, S. 95 f. 273 D.h. in den Fällen, in denen für einen Beschluß mehr Stimmen als nach dem Abstimmungsmodus nötig sind, vorhanden waren. 274 V gl. dazu im Einzelnen oben Teil A I. I. cl. 275 Vgl. dazu im Einzelnen oben Teil A I. 2. b) bb). 276 Dies ist ein Resultat, das im übrigen auch auf der Basis einer Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung vertreten werden kann. Vgl. dazu Joerden, Dyadische Fallsysteme, S. 35 ff., 151 ff.
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conditio-sine-qua-non-Formel wegen ihrer oben beschriebenen Vorzüge und ihrer hohen Praktikabilität in der ganz überwiegenden Mehrheit der alltäglichen Fälle nicht verzichten, so steht man also vor der Frage, ob die conditio-sine-qua-nonFormel für die Alternativkonstellationen wertungsmäßig zu ergänzen I modifizieren ist, und wenn ja, mit welcher sachlichen Begründung dies zulässig ist. Bislang standen bei der Diskussion von Alternativfällen Konstellationen im Vordergrund, die sich dadurch auszeichneten, daß die Alternativ-oder Mehrfachtäter Umstände gesetzt haben, die jeweils alleine geeignet waren, die vorliegenden Randbedingungen so zu vervollständigen, daß die Folge eintrat 277 • Nach ganz überwiegender Ansicht ist hier jeder Alternativ-oder Mehrfachtäter als kausal anzusehen. Auf der Basis der conditio-sine-qua-non-Formel bedarf es dazu einer wertenden Modifikation der Formel278 . Fraglich ist nun, ob die anerkannte Modifikation der Formel für Alternativfälle auch auf die hier zu behandelnde Gremiumsproblematik zu übertragen ist, die sich ja dadurch von den Standardfällen unterscheidet, daß das Abstimmungsverhalten des einzelnen Gremiumsmitglieds alleine nie geeignet ist, ohne eine bestimmte Zahl gleichgerichteter Stimmen einen Beschluß und in dessen Folge einen bestimmten strafrechtlich relevanten Erfolg herbeizuführen. Es soll nun versucht werden, eine Begründung für die modifizierte Formel in den oben angesprochenen Standardfällen zu geben, um dann die Übertragung dieser Überlegung auf die Gremiumskonstellation zu untersuchen.
a) Alternativfälle, bei denen zwei oder mehrere Personen unabhängig voneinander Bedingungen setzen, die geeignet sind, den Erfolg herbeizuführen279 Bei wörtlicher Anwendung der conditio-sine-qua-non-Formel taucht das Problem auf, daß bei Wegdenken des kausal erscheinenden Umstandes eine eindeutige Zuordnung des Erfolges nicht möglich ist, wenn noch andere Umstände im Einzelfall angelegt sind, die nach allgemeinem Erfahrungswissen den Erfolg ebenfalls erklären können. Die conditio-sine-qua-non-Formel führt somit nicht nur bei real gegebenen Alternativursachen, sondern auch beim Vorliegen nicht real verwirklichter Reserveursachen, die durch einen hypothetischen Kausalverlauf den Erfolg herbeigeführt hätten, zu Problemen. Da im Ergebnis Einigkeit besteht, daß Reserveursachen und hypothetische Kausalverläufe - zumindest bei der Kausalitätsprüfung - nicht berücksichtigt werden Vgl. oben Teil A I. I. b) Fälle (5), (6), (7). Vgl. dazu oben Teil A I. I. c) aa). A.A. Toepel, Kausalität, S. 74f.; Dencker, Kausalität, S. 52 ff., 116 f. 279 Traeger, Kausalbegriff, S. 47 f., spricht insoweit von selbständig entscheidenden Bedingungen. Vgl. Teil A I. I. c) aa) (I). 277
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sollen 28o , haben die Anhänger der conditio-sine-qua-non-Formel zusätzliche Anwendungsregeln entwickelt, um sie bei der Kausalitätsfeststellung auszublenden; dazu zählt zum einen die Lehre vom Erfolg in seiner konkreten Gestalt 281 und zum anderen das Verbot des Hinzudenkens von in der Realität nicht verwirklichten Umständen 282 . Bei der Ausblendung von Reserveursachen ist der Gedanke maßgeblich, daß es für die rechtliche Kausalfeststellung nicht darauf ankommt, daß dem geschützten Rechtsgut von anderer Seite ebenfalls die Gefahr einer gleichartigen Verletzung droht. Dieser Gedanke ist nicht selbstverständlich und es wäre auch denkbar, daß man bei einer Kausalitätsfeststellung im rechtlichen Sinne Reserveursachen berücksichtigt, wenn sie gleichzeitig oder z. B. nur unwesentlich später den Erfolg ebenfalls - "sowieso" - bewirkt hätten. Man könnte in solchen Fällen zweifeln, ob man den Erfolg, der ja für den Tater auch durch richtiges Handeln nicht vermeidbar war, diesem zur Last legen kann 283 . Es zeigt sich dabei, daß die conditio-sinequa-non-Formel nicht nur ein methodisches Instrument zur Kausalitätsermittlung darstellt, sondern auch Ausdruck einer alltagssprachlichen Gerechtigkeitsvorstellung ist284 : Hätte der Täter nicht so gehandelt, dann wäre der Erfolg nicht eingetreten. Anders formuliert: Kann man den Täter wegdenken, ohne daß der Erfolg entfällt, hat er mit dessen Eintreten auch nichts zu tun, weil er ihn (durch Unterlassen seiner Handlung) nicht vermeiden konnte. Gegen solche Erwägungen spricht aber - zumindest auf der Ebene der Kausalität 285 -, daß es eben der vom Täter gesetzte Umstand war und nicht die hypothentische Reserveursache, der tatsächlich stattgefunden und zum Erfolg geführt hat. Hinter dieser Sichtweise steht die Überzeugung, daß es im Strafrecht keine wertlosen Rechtsgüter gibt. Auch ein Rechtsgut, das die Gefahr des Untergangs in sich trägt (z. B. das Leben des Todkranken), oder dem die Gefahr des Untergangs von dritter Seite droht (durch das Verhalten anderer oder Naturgefahren) ist nicht belie280 S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 80; SK-Rudolphi, Vor § I Rn. 45; UJcknerlKühl, Vor § 13 Rn. 10; Tröndle, Vor § 13 Rn. 18; NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 90ff. und 101 ff.; Baumannl WeberlMitsch, AT, § 14 Rn. 17f.; JeschecklWeigend, § 28 II 4.; Kühl, AT, § 4 Rn. 12; Roxin, AT I, § 11 Rn. 22; Wesseis, AT, Rn. 161; Toepel, Kausalität, S. 61 ff.; EbertlKühl, Jura 1979, 561 (563f.); Kühl, JR 1983,32. 281 Vgl. dazu oben Teil Al.l. a). 282 Vgl. dazu oben Teil Al.l. b). 283 Vgl. dazu Arthur Kaufmann, Eb. Schmidt-FS 1961, S. 200ff. und Samson, Hypothetische Kausalverläufe im Strafrecht, 1974, die das Problem nicht im Zusammenhang mit der Kausalität behandeln, sondern der Kategorie der objektiven Zurechnung zuordnen. Vgl. auch Spendei, Engisch-FS 1969, S. 509 (514 f., 523 ff.): Conditio-sine-quan-non-Gedanke als Strafmilderungsgrund bei Euthanasiefällen in der NS-Zeit. 284 Vgl. dazu schon Engisch, Kausalität, S. 8; ders., Weltbild, S. 132 ff.; Spendei, EngischFS 1969, S. 509 (.. Vitalität der c.s.q.n.-FormeI Dencker. Kausalität, S. 64; Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (868). 285 Vgl. Spendei, Kausalitätsformel, S. 48; ders., Engisch-FS 1969, 509 (513 ff.); Arthur Kaufmann, Eb. Schmidt-FS 1961,200 (207). U
);
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big angreifbar, genießt vollen strafrechtlichen Schutz und darf nicht mit dem Argument, die Verletzung sei sowieso nicht mehr abwendbar, beeinträchtigt werden. Aus diesem Grund sind hypothetische Kausalverläufe nach wohl h.M. auch im Rahmen der objektiven Zurechnung irrelevant, d. h. sie wirken sich nicht zu gunsten des Täters aus 286 . Das gilt wohl jedenfalls, wenn die Ersatzursache in der rechtswidrigen Handlung eines Dritten besteht 287 . Es ist daher anerkannt, daß bei in Frage kommenden konkurrierenden Erklärungen eines Erfolges durch verschiedene Ursachenkomplexe zu untersuchen ist, weicher Kausalverlauf sich tatsächlich zugetragen hat und weIcher nicht verwirklicht wurde; es ist zwischen Ursache und Reserveursache zu unterscheiden. Dabei sind Reserveursachen daran zu erkennen, daß sie sich in Wirklichkeit nicht realisiert haben 288 , sondern daß sie dieselbe Folge nur hypothetisch zeitgleich, oder zeitlich später 289hervorgerufen hätten. Dem Täter, der die echte Ursache gesetzt hat, d. h. dessen Handlung einen Bestandteil des Bedingungszusammenhangs bildet, der die Folge tatsächlich erklärt, ist die Verletzung des Rechtsguts auf der Ebene der Kausalität zuzurechnen, auch wenn das Rechtsgut von anderer Seite dem Untergang geweiht, aber eben noch nicht untergegangen war. Die Fälle alternativer Kausalität können nun auf der Grundlage der Unterscheidung von echter Ursache und Reserveursache als Grenzfall dieser Differenzierung verstanden werden 290 • Die zwei ganz oder teilweise verschiedenen Ursachenkomplexe sind beide wahr und fallen in einem Zeitpunkt zusammen, sind also nicht mehr in Ursache und Reserveursache differenzierbar. Je nach Blickwinkel erscheinen die Handlungen bei der Täter als Ursache, da sie ja jeweils alleine geeignet waren, den Erfolg herbeizuführen und auch jeweils der ausgelöste Kausalverlauf auf ein noch bestehendes, eben noch nicht untergegangenes Rechtsgut, getroffen ist. 286 Vgl. S/S/Lenckner. Vor § 13 Rn. 97; Tröndle, Vor § 13 Rn. 18; Jescheck/Weigend, AT, § 28 IV 5.; Jakobs, AT. 7/85 ff.; We/zel, LB, S. 44. Ebenso (unter Ablehnung der objektiven Zurechnung) Baurrumn/Weber/ Mitsch, AT, § 14 Rn. 18. Differenzierend SK-Rudolphi, Vor § I Rn. 59 f.; Kühl, AT, § 4 Rn. 79 ff.; Dencker. Kausalität, S. 74 ff., 114 ff. Nach Samson, Hypothetische Kausalveriäufe. S. 136 ff., sind jedenfalls solche hypothetischen Verläufe irrelevant (nicht entlastend), die auf dem pflichtwidrigen Verhalten anderer Personen beruhen. Anders Arthur Kaufmann, Eb. Schmidt-FS 1961, S. 200 und Spendei, Engisch-FS 1969, S. 509 (523 ff.). 287 BGH JR 1983,30 mit Anmerkung Kühl, JR 1983, 32; Ebert/Kühl, Jura 1979.561 (570f.); Kühl, AT, § 4 Rn. 80; Roxin, AT I, § 11 Rn. 53; Samson, Kausalveriäufe, S. 137ff.; SK-Rudolphi, Vor § I Rn. 60. 288 Deshalb lassen sie sich durch das Hinzudenkverbot von Spendei, Kausalitätsformel, S. 38, ausfiltern. S. auch Spendei. Engisch-FS 1969.509 (514f.); ders., JuS 1964, 14 (l5, Fn. 3); ders., Eb. Schmidt-FS 1961, 183 ff. 289 Darauf, daß sich Reserveursachen häufig erst zeitlich verzögert realisiert hätten, beruht die Ausfilterungsfunktion des "Erfolges in seiner konkreten Gestalt", der den Erfolg als bestimmtes räumlich zeitliches Ereignis beschreibt. 290 Dazu Dencker. Kausalität, S. 67 ff. Vgl. auch Joerden, Dyadische Fall systeme, S. 152 ff.
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Stellt man dagegen darauf ab, daß als Ursache die wirksam gewordenen Faktoren (inc!. Handlungen von Menschen) anzusehen sind, während sich Reserveursachen dadurch auszeichnen, daß sie sich nicht ausgewirkt 291 haben, so kann man auch beide alternative Handlungen als Reserveursachen ansehen 292 , da ja eine "Wirksamkeit" jedes alternativen Umstandes mit dem Hinweis auf den real vorliegenden gleichartigen anderen Umstand bestritten werden kann 293 . Bei der Lösung des "Grenzfalles" alternative Kausalität kann man nun auf die Wertungen zurückgreifen, die dazu geführt haben, daß man Reserveursachen als strafrechtlich irrelevant ansieht 294 . Der Grundsatz, daß ein Rechtsgut nicht dadurch schutzlos werden darf, daß es zeitgleich oder später durch einen nicht verwirklichten Verlauf untergegangen wäre (Reserveursache), kann dahingehend erweitert werden, daß auch ein Rechtsgut, daß gleichzeitig von dritter Seite real verletzt wird (alternative Ursache) einem aktuellen Angreifer gegenüber vollen Schutz genießen muß. Ein Rechtsgut verliert erst dann den Schutz, wenn es bereits untergegangen ist. Der Täter, der alleine genug getan hat, um einen bestimmten Erfolg eintreten zu lassen, wird nicht dadurch 291 Auf den Begriff der Wirksamkeit wird bei der Abgrenzung von Ursache und Reserveursache auch von Vertretern der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung häufig zurückgegriffen. Vgl. Erb, Alternativverhalten, S. 46; Wolff, Kausalität, S. 14; Murrmann, Nebentäterschaft, S. 148 ff.; S / S / Lenckner, Vor § 13 Rn. 75 ff.; Roxin, AT, § 11 Rn. 17; Jakobs, AT, 7/13; Wesseis, AT, Rn. 160 ff. Dies kritisieren NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 84 f. und Hilgendorf, NStZ 1994, 561 (564) mit dem Argument, hier komme ein wissenschafttheoretisch überholtes Verständnis von Kausalität zum Ausdruck, weIches Kausalität als "Wirken" von nicht wahrnehmbaren Kräften verstehe. Man kann den Begriff des "Wirkens" aber auch so verstehen, daß man ihn als bildhaften alltagssprachlichen Ausdruck dafür ansieht, daß man eine eindeutige Zuordnung eines Erfolges zu einer bestimmten Ursache, in Abgrenzung zur Reserveursache, anstrebt, ohne daß man damit einen metaphysischen Kausalbegriff verbindet. 292 Damit ist nicht zwangsläufig behauptet, daß der Erfolg ursachlos zustandegekommen sei. So aber Roxin, AT I, § 11 Rn. 12. A.A. zu Recht Joerden, Dyadische Fallsysteme, S. 153. 293 Mit dem Begriff der (Mit-) Wirksamkeit läßt sich der "klassische" Alternativfall, der Giftfall (5), ohne Probleme lösen. Wenn sich zwei jeweils tödliche Dosen Gift im Getränk des Opfers befinden, sich dort vermischen, so stirbt das Opfer teilweise am Gift des ersten und teilweise am Gift des zweiten Taters, während jeweils ein Teil der verschiedenen Giftdosen Reserveursache bleibt. M.a.W. es liegt bei diesem Beispiel gar keine echte Alternativität vor; vgl. dazu oben I. c) aal (3). Anders liegt es z. B. in dem von Joerden, Dyadische Fallsysteme, S. 152, gebildeten Schrottplatzfall (7) und dem Varietefall (6) (vgl. oben Teil A I. I. c) und I. c) aal (2) und (3». Im Schrottplatzfall (7) räumt auch S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 82, seitens der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung gewisse Schwierigkeiten ein, weIche daraus resultieren, daß er bei der Kausalitätsfeststellung auch auf den Begriff der "Wirksamkeit" abstellt. Daß aber im Schrottplatzfall Mitwirksamkeit beider Täter besteht, ist sehr zweifelhaft. Ein Stromkreislauf ist geschlossen oder nicht. Ist er an einer Stelle unterbrochen, so ist jede weitere Unterbrechung ohne jeden Einfluß, ohne jede "Wirkung". Dasselbe gilt für die Abstimmung über einen Beschluß im Gremium. Ist die erforderliche Mehrheit erreicht, so ist jede weitere Stimme für das "Ob" des Beschlusses und die daraus resultieren Erfolge unbedeutend, sie "wirkt" nicht. 294 A.A. Dencker, Kausalität, S. 67, 114 ff.; Toepel, Kausalität, S. 95 f.
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entlastet, daß ein anderer dies zeitgleich ebenfalls getan hat 295 • Beim zeitlichen Zusammentreffen von "Ursache" und "Reserveursache" sind beide Umstände/ Handlungen wie Ursachen zu behandeln, weil sie real gegeben (wahr) sind und auf ein taugliches Tatobjekt treffen. Beide sind als Ursachen im strafrechtlichen Sinne anzusehen und die conditio-sine-qua-non-Formel ist entsprechend zu ergänzen. Die Vorteile der conditio-sine-qua-non~Formel können dann dadurch gewahrt werden, daß die Kausalitätsfeststellung im übrigen, also hinsichtlich der Frage, ob die alternativen Verhaltensweisen kausal waren, davon abhängig gemacht wird, daß diese - kumulativ - nicht hinweggedacht werden können, ohne daß der Erfolg entfällt.
b) Übertragung des Ergebnisses auf die Gremiumssituation Die Schwierigkeiten bei Anwendung der Grundsätze für die Behandlung von Alternativkonstellationen auf die Gremiumssituation resultieren daraus, daß die einzelne Stimme des Gremiumsmitglieds alleine (d. h. ohne weiteres gleichgerichtetes menschliches Verhalten) nie geeignet ist, den Erfolg (Beschluß mit weiteren Folgen) hervorzurufen. Nur in einer ganz bestimmten Konstellation, nämlich wenn zum Erreichen einer Mehrheit nur eine Stimme fehlt, ist die Einzelstimme geeignet, eine entscheidende Bedeutung zu haben 296 ; liegen weniger Stimmen vor, ist die Mehrheit nicht mehr erreichbar, liegen mehr Stimmen vor, besteht die Mehrheit schon. Insoweit erscheint die Einzelstimme des Gremiumsmitglieds "schwächer" als die Tathandlungen in den oben unter a) beschriebenen Standardfällen, wo ja die alternativ vorliegende Einzelhandlung zur Herbeiführung des Erfolges alleine (d. h. ohne weitere mensch!. Handlungen) ausgereicht hätte 297 . Bei der Frage, ob die conditio-sine-qua-non-Formel auch in dieser Fallkonstellation durch eine wertende Modifikation ergänzt werden sollte, könnten sich wegen dieses Unterschiedes Zweifel ergeben. Es stellt sich damit die Frage, ob Alternativität kumulierender Kausalbeiträge anders zu behandeln ist, als Alternativität in Fällen, in denen sogenannte kumulative Kausalität nicht vorliegt. Den Fällen der Alternativität kumulierender Kausalbeiträge ist mit den oben beschriebenen Standardfällen298 gemein, daß eine eindeutige Zuordnung des Erfol295 So auch Samson, Hypothetische Kausalverläufe, S. 136 ff., für die Frage der objektiven Zurechnung bei hypothetischer Rechtgutsverletzung durch einen Ersatztäter. 296 Dann liegt auch nach der conditio-sine qua non-Formel unproblematisch Kausalität vor. 297 Vgl. dazu oben Teil Al.l. c) aa) (I) und bb) (2). So auch Beulke/Bachmann, JuS 1992, 737 (743); Deutscher/Körner; wistra 1996,327 (334); Wessels, AT, Rn. 157; Neudecker; Kollegialorgane, S. 223; Weißer; Kollegialentscheidungen, S. III f.; Scholl, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 225 f. GoU/Winkelbauer; Produkthaftungshandbuch, § 47 Rn. 55, sprechen zu Recht von einem Grenzbereich kumulativer Kausalität und alternativer Kausalität. 298 V gl. soeben unter a).
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ges zum Verhalten bestimmter Täter (Ja-Stimmen) mittels der conditio-sine-quanon-Formel daran scheitert, daß mehr Personen als nötig real Bedingungen gesetzt haben, die dem Eintritt der Folge förderlich waren. Je nach Blickwinkel läßt sich jede Stimme wie eine Ursache oder wie eine Reserveursache ansehen. Geht man z. B. wieder von einem Dreier-Gremium aus, das einstimmig einen bestimmten Beschluß faßt, so reichen bereits die Stimmen von A und B für das Zustandekommen des Beschlusses. Die dazutretende Stimme des C ist völlig überflüssig. Da sie aber real gegeben ist, ist sie geeignet, entweder die Stimme von A oder B alternativ zu ersetzen. Entsprechend dem oben unter a) Gesagten ist es aber möglich, die real gegebene Alternativität zweier Handlungen wie den Fall von Ursache und Reserveursache zu behandeln. Wenn A und Balleine für den Beschluß gestimmt hätten, so wäre er zustande kommen. Daß nun in der Stimme des C ein weiterer Umstand vorlag, der jede der beiden anderen Beiträge (Stimme von A und von B) ersetzen konnte, darf bei wertender Betrachtung die Kausalfeststellung nicht stören. Die Kausalprüfung muß daher aus wechselnden Perspektiven erfolgen. Jede mögliche Kombination von Stimmen, die gerade für die Mehrheit ausreicht, ist als ursächlich anzusehen, wobei die jeweils nicht in dieser Kombination berücksichtigten Stimmen wie Reserveursachen behandelt werden, obwohl sie wegen ihres realen Vorliegens keine sind. Im Beispiel kann man also feststellen, daß das Abstimmverhalten von A und B hinreichend für den Beschluß war. Daß C ebenfalls für den Beschluß und den daran anknüpfenden Erfolg förderlich war, darf hierbei nicht berücksichtigt werden, da eine solche für das Rechtsgut ebenfalls negative Handlung A und B aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes nicht zugute kommen darf. Derselbe Gedankengang wird dann für die Konstellation A und C (B bleibt unberücksichtigt) und / oder Bund C (A bleibt unberücksichtigt) durchgeführt. Daß der Fall der Alternativität kumulativer Kausalbeiträge genauso zu behandeln ist wie die "klassischen" Alternativfälle, bei denen keine Kumulation menschlichen Verhaltens vorliegt, ergibt sich aus dem Äquivalenzprinzip. Für den Eintritt einer bestimmten Folge ist nie nur ein einzelner Umstand ursächlich. Eine bestimmte Folge erklärt sich aus einem Ursachenkomplex, der aus vielen EinzeIbedingungen besteht, so daß immer, wenn von dem Verhalten einer Person gesagt wird, es sei kausal, diese Aussage so zu verstehen ist, es sei Teil der vielfältigen Bedingungen (Gesamtursache) gewesen, die die Folge erklären. Es liegt demnach bei jeder Kausalfeststellung ein Fall kumulativer Kausalität vor. Der Begriff "kumulative Kausalität" wird gleichwohl nur in dem Sinne gebraucht, daß sich von verschiedenen Personen gesetzte Umstände so ergänzen, daß sie in ihrem Zusammentreffen den Erfolg eintreten lassen 299 . Allein darin unter299 Bei genauerem Hinsehen wird man feststellen, daß die Differenzierung an sich schon fraglich ist. In vielen Fällen werden scheinbar "natürliche", d. h. nicht von Menschen gesetzte Bedingungen vielleicht doch von Menschen mitverursacht sein, wenn man nur genau genug nachforscht. Erschlägt beispielsweise Bauer B seinen Knecht K mit einer Axt, würde man nicht von kumulativer Kausalität sprechen. Anders, wenn man den Hersteller der Axt H in
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scheiden sich die Fälle unter a) und die Gremiumssituation. In den oben a) dargestellten Fällen, in denen der Täter eine Bedingung gesetzt hatte, die den Erfolg "allein" herbeiführen konnte, waren die weiteren kumulierenden Umstände solche, die nicht von anderen Personen gesetzt wurden, wogegen im Falle der Gremienentscheidung neben den Rahmenbedingungen (z. B. Umsetzung des Beschlusses mit den dazu nötigen persönlichen und sächlichen Mitteln) stets noch weiteres gleichartiges menschliches Verhalten erforderlich war. Der Grundsatz von der Gleichwertigkeit aller Erfolgsbedingungen verbietet aber eine Differenzierung zwischen der Art der verschiedenen Einzelbedingungen, die insgesamt (zusammen mit dem Täterverhalten) den Bedingungskomplex bilden, der den Erfolg erklärt. Das alternative Vorliegen zweier von verschiedenen Tatern gesetzter Umstände schließt die rechtliche Kausalfeststellung für jeden von beiden nicht aus, unabhängig davon, ob die sonstigen Bestandteile des Ursachenkomplexes noch weitere menschliche Handlungen oder sonstige Umstände beinhalten. Das unter a) gefundene Ergebnis, daß die Kausalfeststellung für einen zur Herbeiführung des Erfolges geeigneten Umstand, der real gegeben ist, nicht durch das Vorliegen alternativer Umstände gestört wird, gilt auch im Falle sogenannter kumulativer Kausalität. Die überflüssigen Stimmen anderer Gremiumsmitglieder, die bei der Kausalitätsprüfung eines bestimmten Gremiumsmitgliedes die eindeutige Kausalfeststellung mittels der conditio-sine-qua-non-Formel verhindern, sind aufgrund einer Wertung wie nicht verwirklichte Reserveursachen zu behandeln. Sie müssen unberücksichtigt bleiben, weil sie aus rechtlichen Gründen für die Erfolgsstrafbarkeit eines Taters ohne Belang sind. Für das Abstimmungsverhalten im Gremium bedeutet dies in den Fällen fraglicher BegehungskausalitäeOO , daß jede Stimme, die einen bestimmten Beschluß unterstützt, kausal für diesen Beschluß und seine Folgen ist, unabhängig davon, ob die erforderliche Mehrheit gerade erreicht oder überschritten wird. Dieses Ergebnis ergibt sich aus einer wertenden Modifikation der conditio-sine-qua-non-Formel, wie sie für die Fälle der alternativen Kausalität (= Doppelkausalität, Mehrfachkausalität) angewandt wird 301 . die Kausalbetrachtung einbezieht oder die Magd M, die die Axt dorthin gestellt hat, wo sie der Bauer in seinem Jähzorn ergreifen konnte. Nur wegen des Umstandes, daß für die anderen "Beteiligten" ersichtlich keine Strafbarkeit in Betracht kommt, blendet man sie schon bei der Kausaluntersuchung aus. Warum die Axt bereitstand ist strafrechtlich uninteressant, deshalb sind auch die kumulativ kausalen Beiträge von A und M uninteressant. 300 Zur Übertragbarkeit der Überlegungen auf Unterlassungssachverhalte ausführlich unten 11. 301 So auch Meier, NJW 1992, 3193 (3194); Beulke/Bachmann. JuS 1992, 737 (743); Kuhlen, NStZ 1990, 566 (570); Deutscher/Körner, wistra 1996, 327 (334); GoU/Winkelbauer, Produkthaftungshandbuch, § 47 Rn. 55. Ähnlich auch S/S/Cramer, § 15 Rn. 223 und § 25 Rn. 76 (kumulative Kausalität); Franzheim, Umweltstrafrecht, S. 125 f.; Eidam, Unternehmen und Strafe, S. 174. Für Annahme kumulativer Kausalität auch Tröndle, Vor § 13 Rn. 18, bei dem allerdings nicht klar wird, ob er zu diesem Ergebnis durch die Erfolgsgestalt
H. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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11. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens eines Gremiumsmitglieds bei Unterlassen Untersuchungsgegenstand sind im folgenden die Fälle, in denen innerhalb eines Unternehmens ein Kollegialorgan für die Wahrnehmung von Erfolgsabwendungspflichten zuständig ist und dabei nach dem Mehrheitsprinzip darüber entscheidet. ob seitens des Unternehmens schadensabwendende Maßnahmen (z. B. Rückruf eines gefährlichen Produktes, Warnung von Zwischenhändlern oder Endverbrauchern) zu ergreifen sind. Bei der Frage, ob bestimmte Schadensfälle, die sich im Zusammenhang mit der Tätigkeit eines Unternehmens ereignen, dem Unterlassen einer bestimmten Person innerhalb des Unternehmen zugerechnet werden können, stellen sich Probleme verschiedener Art. Zunächst ist zu fragen, ob die abzuwendende Gefahr überhaupt in den Verantwortungsbereich des Unternehmens fällt ("Garantenpflicht des Unternehmens,,302), und wenn ja, welche Personen unternehmensintern für die Wahrnehmung der Pflichten zuständig sind 303 . Ergibt sich hierbei, daß unternehmensintern ein Kollegialorgan die Pflicht hatte, eine bestimmte Maßnahme zur Abwendung strafrechtlich relevanter Erfolge zu veranlassen, stellt sich wie beim aktiven Tun 304 die Frage, inwieweit das einzelne Gremiumsmitglied für das Unterbleiben der Maßnahme und die daraus resultierenden Folgen einzustehen hat. Allein diese letztgenannte Fragestellung bildet den Gegenstand der folgenden Untersuchung 305 . des Beschlusses kommt (dazu oben Teil A I. I. a» oder wie hier eine Kombination mit alternativer Kausalität annimmt. Aus dem "Wesen" der Kollektiventscheidung schließt OLG Stuttgart NStZ 1981, 27 (28) auf die Kausalität aller Mitglieder eines Kollegialorgans. Dagegen zu Recht kritisch Schmidt-Salzer. Produkthaftung, 1280 ff.; Franzheim, Umweltstrafrecht. S. 127f.; Eidam, Unternehmen und Strafe, S. 174; Schumann, StV 1994, 106 (109). 302 BGHSt 37, 106 (107) spricht zunächst von der GarantensteIlung des Herstellers (Leitsätze Nr. 3), um dann die Frage zu erörtern, wie die Verantwortlichkeit unternehmensintern zu verteilen ist. Ebenso BGH NJW 1995,2933 (2934) - Weinverschnitt. 303 Zu dieser gestuften Beurteilung bei der Bestimmung von Handlungspflichten ( I. Stufe: Wozu war das Unternehmen nach außen verpflichtet? 2. Stufe: Wer war unternehmensintern zuständig?) innerhalb eines Unternehmens vgl. Kuhlen, WiVerw 199 I. 181 (242 ff.); ders. JZ 1994, 1142 (1144); Meier. NJW 1992, 3193 (3195); Hilgendorf, Produzentenhaftung. S. 108 ff.; Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 37 ff.; Schmidt-Salzer. NJW 1996, I ff. 304 Dazu ausführlich Teil A I. 305 Es geht im folgenden also um die Fälle, in denen mehrere Personen in ihrer Eigenschaft als Teil eines Kollegialorgans in gleichstufiger Verantwortung auf einheitlicher Informationsbasis eine Entscheidung zu treffen haben, ob Maßnahmen zum Schutze Dritter, denen aus dem Bereich des Unternehmens Schäden oder Verletzungen drohen, zu ergreifen sind. Wann dies im einzelnen der Fall ist, ist oft schwer zu entscheiden. So werden z. B. bei Geschäftsleitungsgremien häufig Ressortaufteilungen vorgenommen, die einen großen Teil der ständig anfallenden Aufgaben und die Beaufsichtigung und Überwachung der laufenden Geschäfte an einzelne Mitglieder in eigener Verantwortung delegieren (z. B. Resorts für Finanzen, Personal, Produktion, Vertrieb). Nur noch wenige, dafür aber meist wichtige Aufgaben werden gemeinsam durch Mehrheitsbeschluß erledigt. Liegt nun die zu treffende Maßnahme im Verantwortungsbereich eines Ressorts, oder wird eine wichtige, im Bereich der Gesamt-
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
Anknüpfungspunkt für die Strafbarkeit ist dabei ein Unterlassen, nämlich die fehlende Stimmabgabe für die rettende Maßnahme (z. B. Produktrückruf)306. Ob dies durch reine Passivität (das Gremiumsmitglied spricht sich nicht für die Maßnahme aus und schweigt) oder ausdrückliche Kundgabe der entsprechenden Haltung (Abstimmung gegen die Maßnahme) erfolgt, ist für die Beurteilung des Verhaltens als Tun oder Unterlassen ohne Belang. Die Einordnung des Verhaltens als Unterlassung ergibt sich aus dem Gesamtzusammenhang, in dem das Abstimmungsverhalten im Gremium steht 307 . Gegenstand der Entscheidung ist die Abwendung einer drohenden Gefahr für Dritte. Die Voraussetzungen für den Eintritt des Schadens sind bereits gegeben (,,komplett") und die Entscheidung der Gremiumsmitglieder betrifft nur noch die Abwendung des ansonsten von selbst ablaufenden Geschehens. In einer solchen Konstellation kommt als Anknüpfungspunkt der Strafbarkeit nur ein Unterlassen in Betracht 308 . Bei der Prüfung der Strafbarkeit des Unterlassen ist zunächst die vom Tater erwartete Handlung zu bestimmen. Unterlassen im Rechtssinne liegt nicht schon vor, wenn jemand nur untätig bleibt. Gegenstand eines rechtlichen Vorwurfs kann nur das Unterlassen einer bestimmten Handlung sein, die dem Täter objektiv möglich und zumutbar war309 . Bei der Beantwortung der Frage nach dem geforderten Tun soll den vom BGH in der sog. Lederspray- Entscheidung 310 aufgestellten Prämissen gefolgt werden. verantwortung liegende Entscheidung dem Gremium nicht vorgelegt, so liegt insoweit die Situation der Gremiumsentscheidung nicht vor. Diese Fälle sind von der weiteren Erörterung nicht umfaßt. Trotz der praktisch häufigen Delegation von Pflichten in Ressortzuständigkeiten ist das Problem der Gremienentscheidung von hoher praktischer Relevanz. Denn nach Ansicht der Rechtsprechung wird gerade in Krisensituation die Ressortaufteilung aufgehoben und Allzuständigkeit des Geschäftsleitungsgremiums begründet. Eine Krisensituation liegt aber gerade dann typischerweise vor, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß das Unternehemen durch seine Tätigkeit strafrechtlich geschützte Rechtsgüter gefährdet oder verletzt. Vgl. dazu BGHSt 37, 106 (123 f.); Neudecker, Kollegialorgane, S. 23 ff.; Weißer, Kollegialentscheidungen, S. 70 ff.; LK- Schünemann, § 14 Rn. 52; Deutscher/Körner, wistra 1996, 327 (329); Meier, NJW 1992,3193 (3194); BeulkelBachmann, JuS 1992,737 (741); Dreher; ZGR 1992, 56f., 61; Kassebohm/Malorny, BB 1994, 1361 (l363f.); Hirte, JZ 1992, 257 (258). Schmidt- Salzer; NJW 1990, 2966 und NJW 1996, I (4 ff.); Eidam, Unternehmen und Strafe, S. 165 ff.; Amelung, Der Bundesgerichtshof als "Gesetzgeber", S. 71. 306 Dabei ist die Verpflichtung, die dem Gremium als ganzem oblag, von der Verpflichtung des einzelnen zu unterscheiden. Die Verpflichtung des einzelnen ist auf die Wahrnehmung seiner internen Mitwirkungsrechte zur Förderung der erforderlichen Maßnahme beschränkt. BGHSt 37,106 (l25f.). Dazu Kuhlen, WiVwerw 1991, 181 (246); BeulkelBachmann, JuS 1992,737 (741); Dreher, ZGR 1992,22 (44f.). 307 Vgl. dazu Kuhlen, JZ 1994, 1142 (1144). 308 Vgl. dazu BGHSt 37, 106 (114). Dazu Hilgendorj. Produzentenhaftung, S. 107; Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 30 ff. 309 Vgl. Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 15 Rn. 15ff.; Kühl, AT, § 18 Rn. 27, 33; Jescheck/Weigend, AT, § 59 I. und 11.; Wesseis, AT, Rn. 708; SIS/Stree, Vor § 13 Rn. 139; Lackner/Kühl, § 13 Rn. 5. 3\0 BGHSt 37,106 (125 ff.). Weitere Fundstellen der Entscheidung oben Einleitung Fn. 2.
11. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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Demnach ist bei unternehmensinterner Zuständigkeit eines Geschäftsleitungsgremiums zu beachten, daß die einzelnen Mitglieder nur zu gemeinschaftlichem Handeln befugt und verpflichtet sind. Es besteht Gesamtgeschäjtsjührung 3ll . Diese Organisationsstrukturen sind nach Ansicht des BGH auch für die strafrechtliche Beurteilung zu berücksichtigen, so daß dem Einzelnen nur zum Vorwurf gemacht werden kann, seine kompetenzgemäße Mitwirkungsmöglichkeiten nicht pflichtgemäß eingesetzt zu haben 312 . Dem einzelnen Geschäftsführer ist die eigenmächtige Veranlassung erfolgsabwendender Maßnahmen nicht zumutbar 313 .
BGHSt 37, 106 (123 ff.). Damit hat BGHSt 37, 106 (125) die Verantwortlichkeit des einzelnen Geschäftsführers ganz erheblich beschränkt. Dem einzelnen Geschäftsführer ist nicht abzuverlangen, alle ihm faktisch zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um die Schädigung der bedrohten Rechtsgüter zu verhindern. Er darf sich auf die Wahrnehmung seiner internen Mitwirkungsrechte beschränken, wozu gegebenenfalls auch die Anrufung von Aufsichtsgremien des Unternehmens (z. B. Aufsichtsrat einer AG) gehört. Auch wenn das Verhalten der anderen eine Straftat darstellt - die Mehrheit beschließt z. B. wissentlich ein lebensgefahrliches Produkt nicht zurückzurufen -, ist der Handlungspflicht genüge getan, wenn er selbst richtig abstimnmt. Es wird ihm nicht zugemutet, die unternehmensinternen Organisationsstrukturen zu umgehen und eigenmächtig rettende Maßnahmen zu veranlassen. - Insoweit wäre eine ganze Reihe von Handlungen des Gremiumsmitglieds denkbar: Information der Öffentlichkeit (Medien) oder staatlicher Behörden, eigenmächtige Anordnungen innerhalb des Unternehmens, Druck auf Mitgeschäftsführer (Drohung mit Strafanzeige, falls sie sich dem rechtmäßigen Verhalten verweigern), Information nachgeordneter Entscheidungsträger und Mitarbeiter über die Gefährlichkeit I Rechtswidrigkeit des von der Geschäftsleitung angeordneten Vorgehens. Ob diese Beschränkung der Verantwortlichkeit sachgemäß ist, begegnet insbesondere da, wo Leib und Leben Dritter auf dem Spiel stehen, Bedenken. Vgl. auch GoU I Winkelbauer. Produkthaftungshandbuch, § 48 Rn. 30; Samson, StV 1991 182 (184f.); Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 73 ff. (75); Amelung, Der Bundesgerichtshof als "Gesetzgeber", S. 71; Eidam, Straftäter Unternehmen, S. 18. Anders als der BGH auch LG Mainz, in: Schmidt-Salzer, Produkthaftung StR, IV. 3. 22., S. 32. Die Frage ist für den Fortgang der Untersuchung von Bedeutung, denn nur wenn man die strafrechtliche Verantwortung an der bestehenden Unternehmensorganisation orientiert, stellt sich das Problem der Zurechnung des Gremiumsverhaltens insgesamt zum Abstimmungsverhalten des einzelnen Mitglieds. Ist das einzelne Gremiumsmitglied dagegen für den Fall des Scheiterns innerhalb des Gremiums verpflichtet, auch außerhalb der Unternehmensorganisation alles ihm Mögliche zu tun, um die Gefahr abzuwenden, verliert die spezifische Gremiumsproblematik an Bedeutung. Das Urteil des BGH ist aber nach Umfang und Begründungsaufwand wohl als ,,Leitentscheidung" (vgl. dazu Kuhlen, NStZ 1990,566; Samson, StV 1991, 182; Brammsen, Jura 1991,533; Meier. NJW 1992,3193; BeulkelBachmann, JuS 1992, 737 (738); Hirte, JZ 1992, 259) einzustufen, welche die Maßstäbe der Rechtsprechung auch für die Zukunft klarstellen soll. Auch wird man davon ausgehen können, daß in einer erheblichen Anzahl der Fälle die Fehlerhaftigkeit eines Beschlusses nicht so evident ist, daß jede andere Entscheidung als offensichtlich rechswidrig erscheinen muß. Dann darf sich das überstimmte Gremiumsmitglied i.d.R. der Mehrheitsentscheidung, die ja gerade Handlungsfähigkeit auch in strittigen Fragen gewährleisten soll, beugen. Es empfiehlt sich daher, die sich auf der Basis dieser Ansicht ergebenden Zurechnungsprobleme genauer zu untersuchen. 313 BGHSt 37, 106 (125) gegen LG Mainz in Schmidt- Salzer. Produkthaftung StR, IV. 3. 22, S. 32. Streitig ist allerdings die dogmatische Einordnung dieser Zumutbarkeitsfrage. Für 311
312
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
Die folgende Untersuchung soll dementsprechend auf die Fälle beschränkt bleiben, in denen es tatsächlich zu einer Entscheidung des Geschäftsleitungsgremiums kommt, in denen also die Geschäftsführer in ihrer Leitungsfunktion mit einem Problem konfrontiert werden, das sie nur gemeinsam lösen können 314 • Wird ein Dritter durch das Produkt eines Unternehmens an seinen Rechtsgütern geschädigt (Erfolgseintritt, z. B. Gesundheitsbeschädigung durch Verwendung eines Produktes) und war unternehmensintern ein bestimmtes Gremium zur Schadensabwendung verpflichtet und fähig (z. B. durch Beschluß des Rückrufs eines schädlichen Produktes), so stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen das einzelne Gremiumsmitglied im Hinblick auf seine falschen Stimmabgabe für den Erfolg strafrechtlich einzustehen hat, wenn das Gremium seiner Erfolgsabwendungspflicht nicht nachgekommen ist. Dies ist nach den allgemeinen Regeln für die Erfolgszurechnung beim sogenannten unechten Unterlassungsdelikt zu entscheiden.
1. Die Kausalität des Unterlassens Bei allen Erfolgsdelikten muß zwischen dem Verhalten des Täters (Tun oder Unterlassen) und dem tatbestandlichen Erfolg eine Beziehung bestehen, die es erlaubt, dem Täter den Erfolg als sein Werk zuzurechnen. Beim Begehungsdelikt geht die ganz überwiegende Meinung davon aus, daß eine erste Beziehung zwischen Handlung und Erfolg durch das Merkmal der Kausalität hergestellt wird 315 • Die Kausalität der Handlung für den Erfolg wird dabei häufig als Bewirken einer Veränderung in der Außenwelt verstanden 316 . Führt die Gestaltung der äußeren Welt durch die Handlung des Täters Tatbestandsausschluß: S/S/Stree, Vor § 13 Rn. 155; Lackner/ Kühl, § 13 Rn. 5; Tröndle, § 13 Rn. 16 a.E.; Gropp, AT, § II Rn. 54. Ähnlich wohl auch der BGH, der seine Prüfung von vornherein auf die Wahrnehmung der kompetenzgemäßen Mitwirkungsrechte des Geschäftsführers beschränkt. A.A. - Frage der Schuld - Jescheck/Weigend, AT, § 59 VIII.; Jakobs, AT, 29/96 ff.; Kühl, AT, § 18 Rn. 33, 140 f.; Baumann/Weber/ Mitsch, AT, § 15 Rn. 19; Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 46 Rn. 132; SK- Rudolphi, Vor § 13 Rn. 31; LK-Jescheck, Vor § 13 Rn. 98. 314 Unberücksichtigt bleiben dabei die Fälle, in denen es durch die Untätigkeit der Verantwortlichen noch nicht einmal zu einer Einbeziehung (Information) des Kollegialorgans kommt. Verletzt hier ein einzelner Geschäftsführer Initiativpflichten (vgl. dazu ausführlich Neudecker, Kollegialorgane, S. 254 ff.), kann dies ebenfalls Anknüpfungspunkt einer strafrechtlichen Beurteilung sein. Das Problem der Erfolgszurechnung in Kollegialorganen stellt sich dann nicht. m Vgl. dazu Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 14 Rn. I ff.; Jescheck/Weigend, AT, § 28 I; Roxin, AT I, § 11 Rn. I; S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 7Iff.; Jakobs, AT, 7/4f., 5ff.; SKRudolphi, Vor § 1 Rn. 38; NK- Puppe, Vor § 13 Rn. 83. Gegen das "Kausaldogma" und für eine davon losgelöste Zurechnungslehre Hardwig, Zurechnung, S. 90ff.; Kahrs, Vermeidbarkeitsprinzip, S. 33 ff., 267 ff.; Otto, NJW 1980,417 (423 f.), einschränkend Jura 1992,90; Schmidhäuser; AT, 8/54 ff.
11. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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aufgrund bekannter kausalgesetzlicher Zusammenhänge zu einer Veränderung, die in einer Strafrechtsnorm als tatbestandsmäßiger Erfolg beschrieben wird, so hat der Täter diesen Erfolg verursacht 317 . Auf der Grundlage dieses Verständnisses von Kausalität als Herbeiführung von Erfolgen durch aktive Gestaltung (i.S. einer Veränderung) der realen Welt stößt man bei der Frage nach einer Kausalität des Unterlassens auf Schwierigkeiten 318 . Denn der Unterlassende hat ja gerade nichts getan, er hat - entgegen einer entsprechenden Erwartung - die äußere Welt nicht verändert, nicht zur möglichen Rettung des bereits durch einen zum Erfolg hinführenden Kausalverlauf bedrohten Rechtguts eingegriffen. Das Unterlassen wird daher von einem Teil der Lehre als ein ,,Nichts" angesehen welches nach dem Grundsatz "ex nihil nihilo fit" keine Veränderung bewirken könne und damit auch nicht ursächlich für einen Erfolg sein könne 319 . Gleichwohl zieht auch diese Lehre nicht den Schluß, daß ein Unterlassen nicht Anknüpfungspunkt einer Erfolgszurechnung sein kann. Grundlage der strafrechtlichen Beurteilung ist nach dieser Ansicht nicht ein wirklicher Ursachenzusammenhang, sondern ein nur gedachter, hypothetischer Ablauf. Unter der Maßgabe, daß die vom Täter unterbliebene Handlung stattgefunden hätte, wird untersucht, ob der Erfolg dann ausgeblieben wäre. Dieser Zusammenhang wird dann als hypothetische Kausalität oder "Quasikausalität" bezeichnet. Dagegen sind die Rechtsprechung 320 und ein Teil der Literatur 32J der Ansicht, daß auch der Zusammenhang zwischen Unterlassen und Erfolg als "echte" Kausalität anzusehen ist. 316 Vgl. SISILenckner, Vor § 13 Rn. 75; Jakobs. AT, 7/13; JeschecklWeigend. AT, § 59 III 3.; Walder, SchwZStr 93 (1977),113 (l22ff., 152); Kühl. AT, § 4 Rn. 24ff.; Spende I. Kausalitätsfonnel, S. 38,44 ff. Hardwig, Zurechnung, S. 90 ff. Gegen den Begriff "Bewirken" NK- Puppe. Vor § 13 Rn. 84; Hilgendorj. NStZ 1994,561 (564); kritisch auch Roxin. AT, § 11 Rn. 4. 317 Die Frage, mit welchem Verfahren oder mit welcher Fonnel das Vorliegen des Kausalzusammenhangs im Einzelfall zu ermitteln ist, kann hier außer Betracht bleiben. Vgl. dazu oben I. 318 Vgl. dazu aus zivilrechtlicher Sicht Schulin. Kausalitätsbegriff, S. 139 ff.; Köck. Kausalität, S. 19 m. w. N. 319 Vgl. SISILenckner, Vor § 13 Rn. 71; SISIStree. § 13 Rn. 61; Armin Kaufmann, Unterlassungsdelikte, S. 61; Stoffers. GA 1993, 262 (265); Jakobs. AT, 29/15 f.; Jescheckl Weigend, AT, § 28 I und 59 III 3.; Kühl, AT, § 4 Rn. 35. Siehe auch Freund. AT, § 6 Rn. 101 ff. 320 BGHSt 37, 106 (126); BGH NStZ 1985,27. Weitere Nachweise bei SISIStree. § 13 Rn. 61. 321 Frank, StGB, § I 11; Nagler, GS 111 (1938), I (28 ff., 70); Kohlrauschi Lange, Syst. Vorbem. 11.; Baumann, AT, 8. Auflage 1977, S. 246ff. BaumannlWeberlMitsch, AT, § 14 Rn. 6f. und § 15 Rn. 22f.; Androulakis, Studien, S. 83ff.; Spendei. JZ 1973, 137 (l38f.); Engisch, Kausalität, S. 29ff.; ders .. v. Weber- FS 1963,247 (264); NK- Puppe, Vor § 13 Rn. 105 ff. ; dies. ZStW 92 (1980), 863 (897f.) und JR 1992, 30 (33); Hilgendorj. NStZ 1994, 561 (565 f.); MaurachlZipf, § 18 Rn. 6; Köhler, AT, S. 228; SK- Rudolphi. vor § I Rn. 43; Wesseis, AT, Rn. 711; Fincke, Arzneimittelprüfung, S. 41.
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
Dies wird teilweise auf der Basis eines nonnativ verstandenen Kausalbegriffs vertreten, demzufolge das Recht bestimmt, was als Kausalität anzusehen ise 22 . Teilweise wird auch auf der Grundlage der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung dem Begriff des "Bewirkens" als Merkmal der Kausalität jede Bedeutung abgesprochen. Damit wird der Einwand gegen die "echte Kausalität" des Unterlassens, nämlich der Satz, "ein Nichts kann nichts bewirken", widerlegt. Die Feststellung von Kausalität in einem Einzelfall sei nichts anderes, als die Erklärung eines Ereignisses aus den real gegebenen Bedingungen, durch Subsumtion des Sachverhaltes unter empirische Gesetzmäßigkeiten 323 . Zur Erklärung seien dabei positive Bedingungen (z. B. auch aktives Tun von Menschen) wie negative Bedingungen (z. B. Abwesenheit hindernder Umstände, welche zu schaffen ein Mensch verpflichtet war) heranzuziehen 324 . Ein "Bewirken", d. h. ein Wirken von Kräften bei gesetzmäßigen Abläufen sei empirisch nicht feststellbar und könne damit auch nicht zum Kriterium des Kausalitätsverständnisses gemacht werden. Diese divergierenden Ansichten zur "Kausalität" des Unterlassens sind jedoch in ihrer Auswirkung auf die Vorgehensweise und den Maßstab bei der Erfolgszurechnung bei Unterlassungen von geringerer Bedeutung, als zunächst zu erwarten wäre 325 . Die Rechtsprechung und der ihr folgende Teil der Literatur, wenden zur Prüfung der Kausalität des Unterlassens wie beim Begehungsdelikt die conditio-sine-quanon-Fonnel an. Dabei muß auch diese Lehre den Besonderheiten des Unterlassungsdelikts Rechnung tragen. Mit dem Wegdenken des Taters oder seines wirklichen Verhaltens zu dem Zeitpunkt, in dem er die pflichtgemäße Handlung hätte vornehmen müssen, ist dabei nichts gewonnen. Der Unterlassungstäter selbst und sein reales Verhalten lassen sich ohne Folgen für den Erfolgseintritt wegdenken. Vielmehr muß die Unterlassung als gewählte Verhaltensalternative weggedacht 322 So Frank. StGB, § 1 IV.; Nagler, GS 111 (1938), 1 (28ff., 70); Baumann/Weber/ Mitsch. AT, § 14 Rn. 6f. und § 15, Rn. 22f.; Maurach/Zipf, AT I, § 18 Rn. 5ff. Von einern normativen Kausalitätsverständnis (,,Rechtlicher Kausalzusammenhang", der auch Elemente der in der Literatur vertretenen objektiven Zurechnung aufnimmt) geht auch die Rechtsprechung aus. RGSt 63,392 (393); 75,49 (50); BGHSt 37, 106 (126); Tröndle. Vor § 13 Rn. 18, 20. Da sie bereits die Kausalität des aktiven Tuns mittels eines hypothetischen Verfahrens (conditio-sine-qua-non-Forme1 als hypothetisches Eliminationsverfahren) prüft. hat sie keine Schwierigkeiten, die nur hypothetischen Zusammenhänge zwischen dem geforderten Verhalten des Unterlassungstäters und dem Erfolg zur Grundlage eines Kausalurteils zu machen. Vgl. dazu auch Arzt. JA 1980, 553 (556). 323 Ausführlich dazu oben I. 2. b), 3., 4. a) - d). 324 Vgl. dazu Engisch. Kausalität, S. 20f. und 29ff.; NK- Puppe. Vor § 13 Rn. 105ff.; dies. ZStW 92 (1980), 863 (895 ff.) SK-Rudolphi. Vor § 1 Rn. 43; Hilgendorf, NStZ 1994, 561 (565 f.); ders. Jura 1995, 514 ff. Den Ursachencharakter der Unterlassung durch Gleichsetzung von positiven und negativen Bedingungen bejaht auch Spendei. JZ 1973, 137 (138 f.), der aber ansonsten nicht der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung folgt. 325 Teilweise wird von einer unergiebigen Streitfrage oder einern Scheinproblem gesprochen. Dazu Jakobs. AT. 29/15; Schmidhäuser, AT. 16 174 ff. Vgl. auch Arzt. JA 1980,553 (556): ,,Praktisch ist die Frage freilich weitgehend bedeutungslos".
11. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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werden. Weggedacht wird also die Nichtvomahme einer bestimmten Handlung 326 . Aus der darin liegenden doppelten Negation, dem "Wegdenken der Nichtvornahme" wird dann das Hinzudenken der erwarteten Handlung. Kausalität des Unterlassens liegt demnach vor, wenn die dem Täter mögliche und zumutbare Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfiele 327 . Soweit ein Großteil der Lehre die "echte" Kausalität des Unterlassens bestreitet, will doch deren überwiegende Mehrheit stattdessen eine hypothetische (Quasi-) Kausalität zum Maßstab der Zurechnung machen. Bei der Feststellung dieser Quasi- Kausalität soll es dann ebenfalls darauf ankommen, ob bei Hinzudenken der erwarteten Handlung des Täters der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wäre 328 • Im Ergebnis besteht somit zwischen den beiden Lehren, trotz unterschiedlicher Prämissen, ein breiter Konsens.
2. Anwendung der abgewandelten conditio-sine-qua-non-Formel auf das Unterlassen im Gremium - Darstellung der Problematik Wendet man die abgewandeIte 329 conditio-sine-qua-non-Formel auf die Frage der Unterlassungskausalität330 im Gremium an, so tauchen ähnliche Schwierigkeiten auf wie beim Begehungsdelikt331 . Entscheiden sich die Mitglieder eines 326 Vgl. dazu Baumann, AT, 8. Auflage 1977, S. 247f.; Gropp, AT, § 11 Rn. 71; Spendel, JZ 1973,137 (140); RGSt 58,130 (131); 63,392 (393). 327 BGHSt 6, I (2); 7, 211 (214); BGH NStZ 1981,229; BGH NStZ 1985,26; BGHSt 37, 106 (126f.); Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 15 Rn. 23; Spendel, JZ 1973, 137 (140); Androulakis, Studien, S. 83 ff. (90, 94 ff.); Gropp, AT, § 11 Rn. 71 ff.; Nagler, GS 111 (1938), 1(28 ff., 69ff.); GolllWinkelbauer, Produkthaftungshandbuch, § 47 Rn. 57. 328 Auch viele Anhänger der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung wenden beim Unterlassungsdelikt die abgewandelte conditio-sine-qua-non-Formel an. Da ja eine wirkliche Kausalbeziehung ("Bewirken") nicht vorliege, könne beim Unterlassungsdelikt nur hypothetisch geprüft werden, während das hypothetische Eliminationsverfahren beim Begehungsdelikt nur den Blick auf die wirklichen Verursachungszusammenhänge verschleiere und zu unnötigen Schwierigkeiten - Reserveursachen, alternative Kausalität - führe. Quasikausalität oder hypothetische Kausalität im genannten Sinne verlangen: S/SILenckner, Vor § 13 Rn. 71; SIS/ Stree, § 13 Rn. 61; NK- Seelmann, § 13 Rn. 57; Tröndle, Vor § 13 Rn. 20; Lackner/Kühl, § 13 Rn. 12; LK- Jescheck, § 13 Rn. 16ff.; Jescheck/Weigend, AT, § 59 III; Jakobs, AT, 28/15 ff.; Kühl, AT, § 18 Rn. 35 ff.; Wesseis, AT, Rn. 711; Welzel, LB, S. 212; Schlüchter, JuS 1976, 792 ff. (ohne Stellungnahme ob "echte" oder nur hypothetische Kausalität vorliegt); Fünjsinn, Aufbau, S. 108 ff.; Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit, S. 50 ff.; Fincke, Arzneimittelprüfung, S. 40 f., 82; Schlehofer, Jura 1989,263 (268); Hohmannl Matt, Jura 1990,544 (548). 329 Unter "abgewandelter conditio-sine-qua-non-Forme1" ist nur die Anpassung der Formel an das Unterlassungsdelikt zu verstehen. Aus dem "Wegdenken" beim Begehungsdelikt wird das "Hinzudenken" beim Unterlassungsdelikt. Ob die Formel weiterer Modifikationen (wie bei der alternativen Kausalität des Begehungsdelikts häufig befürwortet) bedarf, ist erst noch zu untersuchen. 330 Der Begriff "Unterlassungskausalität" soll keine Stellungnahme darüber enthalten, ob nun "echte" oder "Quasi-" Kausalität vorliegt, da dies keinen Unterschied macht, solange
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
Gremiums gegen die Veranlassung erfolgsabwendender Maßnahmen, ist die Zurechnung des Erfolges zum Abstimmungsverhalten des einzelnen Mitglieds fraglich, wenn die Mehrheit gegen die Maßnahme größer war als erforderlich. Unproblematisch ist nur die Konstellation, in der genau eine Stimme zur Erreichung eines Mehrheitsbeschlusses für die erfolgsabwendende Maßnahme fehlt. Dann kann das gebotene Verhalten des einzelnen - die Stimmabgabe für die erfolgsabwendende Maßnahme - nicht hinzugedacht werden, ohne daß der entsprechende Beschluß mehrheitlich zustandegekommen wäre und der Erfolg durch die Ausführung verhindert worden wäre. Fehlen aber weitere Stimmen, die zur Erreichung der Mehrheit erforderlich wären, so ändert auch das vom einzelnen geforderte richtige Abstimmungsverhalten nichts daran, daß der Beschluß nicht zustande kommen kann. Die Rettungshandlung jedes Gremiumsmitglieds kann also hinzugedacht werden, ohne daß der Erfolg entfällt und ist damit nach der abgewandelten conditio-sine-qua-non-FormeI nicht kausal 332 . Beispiel (I): Ein Geschäftsleitungsgremium bestehend aus den Geschäftsführern A, B und C hat darüber zu entscheiden, ob ein gesundheitsgefährdendes Produkt, das bereits an einige (im einzelnen bekannte) Großhändler ausgeliefert wurde, zurückzurufen ist. Es kommt nicht zu einem entsprechenden Rückrufbeschluß und zahlreiche Endverbraucher werden durch das Produkt gesundheitlich beeinträchtigt. (la) Nur A stimmt für den Rückruf. Es wird nichts veranlaßt. (I b) Keiner stimmt für den Rückruf.
Stimmte nun A für den Rückruf, Bund C aber dagegen, so sind sowohl B als auch C für den unterbliebenen Rückruf und die daraus resultierenden Erfolge kausal. Betrachtet man ihr Verhalten isoliert, so kann ihre Stimme nicht hinzugedacht werden, ohne daß der Erfolg entfiele. Stimmen dagegen A, Bund C gegen den Beschluß, so kann man jede einzelne Stimme allein hinzudenken, ohne daß dadurch ein entsprechender Beschluß und die damit verbundene Erfolgsabwendung zustande käme. Es tritt ein ähnlicher Effekt auf wie beim BegehungsdeIikt 333 : Wenn zu viele Beteiligte sich falsch verhalten, entlasten sie sich gegenseitig.
man - mit der h.M. - den maßgeblichen Zusammenhang mittels der abgewandelten conditiosine-qua-non-Formel bestimmt. Abweichende Ansichten werden dargestellt, soweit sie im sachlichen Zusammenhang zu anderen Ergebnissen oder Begründungsansätzen führen. 331 S.o. Teil A I. I. 332 Vgl NK- SeelrtUlnn, § 13 Rn. 57, 61; S/S/Stree, § 13 Rn. 61; Kühl, AT, § 18 Rn. 39a ff.; Brammsen, Jura 1991,533 (536); Samson, StV 1991, 182 (l84f.); Beulke/Bachmann, JuS 1992,737 (742); Kuhlen, NStZ 1990, 566 (569); Meier, NJW 1992, 1393 (3197); Hilgendorf, NStZ 1994, 563 (564); Weißer. Kollegialentscheidungen, S. 106 ff.; Schall, Zurechnung von Umweltdelikten, S. 116. 333 Dazu oben Teil ALl. Das gilt jedenfalls für die unmittelbare Anwendung der conditio-sine-qua-non-Formel ohne Zusatzregeln.
H. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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3. Die Lösung des Bundesgerichtshofes in der Lederspray-Entscheidung a) Der zugrundeliegende Sachverhalt Der BGH hatte in der Lederspray-Entscheidung einen Sachverhalt zu entscheiden, der die Unterlassungskausalität innerhalb eines Gremiums zum Gegenstand hatte und im wesentlichen dem oben genannten Beispielsfall Ob) entsprach 334 . Eine gewisse Abweichung ist insoweit gegeben, als bei dem vom BGH entschiedenen Sachverhalt teilweise kein Beschluß zur Ablehnung eines Rückrufs vorlag. Die Gremiumsmitglieder haben lediglich im Bewußtsein der Gefahrenlage nichts (auch keine Beratungen / Sitzungen) untemommen 335 . Dieser Umstand kompliziert die rechtliche Problematik, da im Unterschied zu einer Abstimmung über das Verhalten der anderen Geschäftsführer nur hypothetische Aussagen gemacht werden können. Die spezielle Problematik der Gremiumskausalität beim Unterlassen besteht aber unabhängig von diesen Schwierigkeiten bei Aussagen über das hypothetische Verhalten Dritter, deren Mitwirkung zur Erfolgsabwendung nötig gewesen wäre. Am deutlichsten treten die Besonderheiten der Gremienentscheidung zutage, wenn man von einer Beschlußfassung ausgeht, wenn also das tatsächliche Abstimmungsverhalten feststeht. Es müssen dann keine Wahrscheinlichkeitsaussagen über das Verhalten der Geschäftsführer gemacht werden, da sie ja ihre Haltung im Beschluß zum Ausdruck gebracht haben. 334 BGHSt 37, 106. Keiner der verantwortlichen Geschäftsführer setzte sich für einen Rückruf ein. Der Entscheidung lag ein Sachverhalt zugrunde, der durch eine gesellschaftsrechtliche Aufspaltung der Unternehmensstruktur kompliziert wurde. Es handelte sich um eine Firmengruppe bestehend aus einer Produktionsgesellschaft (GmbH) mit 4 Geschäftsführern, und zwei Vertriebsgesellschaften (Tochtergesellschaften) mit jeweils einem Geschäftsführer, der zusammen mit den 4 Geschäftsführern der Muttergesellschaft die Geschäftsleitung innehatte. Nur die Geschäftsführer der Muttergesellschaft trafen eine "Gremiumsentscheidung". Nach deren einstimmigem Beschluß waren die Geschäftsflihrer der Tochtergesellschaften praktisch schon überstimmt. BGHSt 37,106 (l29f.) bejahte Strafbarkeit wegen sukzessiver Mittäterschaft. Kausalität dieser von Anfang an durch die Muttergesellschaft überstimmten Geschäftsführer der Tochtergesellschaften dürfte wohl abzulehnen sein. Vgl. dazu Puppe, JR 1992, 30 (34). Im Folgenden Fälle sollen nur solche Gremiumsentscheidungen betrachtet werden, in denen alle Gremiumsmitglieder gleichberechtigt (und -verpflichtet) sind. So war auch der Sachverhalt in der Ledersprayentscheidung hinsichtlich der MuttergeseIlschaft gelagert, vgl. BGHSt 37, 106 (129). 335 Im Lederspray-Fall kam es erst nach Zuspitzung der Situation durch sich häufende Schadensfälle zu einer Sondersitzung der Geschäftsleitung. Zu diesem Zeitpunkt lag bedingt vorsätzliches Verhalten der Geschäftsflihrer vor. Der BGH diskutiert insoweit das Kausalproblem nicht, da er von wechselseitiger mittäterschaftlicher Zurechnung ausgeht und nur noch nach der Kausalität des Gesamtverhaltens für den Erfolg fragt. Bei den zeitlich früheren Schadensfällen (die nur durch Rückruf vor der Sondersitzung zu verhindern gewesen wären) stellt sich dem BGH dann die Kausalitätsfrage, da hier nur Fahrlässigkeit vorlag und eine mittäterschaftliche Zurechnung somit nach h.M. nicht in Betracht kam. Vgl. BGHSt 37, 106 (lID, 126ff.). Für diese Fälle lag auch keine Beschlußfassung der Geschäftsführer vor.
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
Die Ausführungen des BGH sind auch auf die Fälle mit Beschlußfassung anwendbar, denn der BGH ging zugunsten der einzelnen Geschäftsführer davon aus, daß sie mit ihrem Bemühen, eine Sondersitzung zu veranlassen und dort einen Rückrufbeschluß zu erwirken, am Widerstand der anderen gescheitert wären 336 •
b) Die Argumentation des Bundesgerichtshofes Der BGH legte seiner Entscheidung ausdrücklich die abgewandelte conditiosine-qua-non-Formel zugrunde 337 und lehnte die Risikoerhöhungslehre ab 338 • Er mußte sich folglich mit dem Einwand auseinandersetzen, daß im Gremium jede einzelne Stimme hinzugedacht werden kann, ohne daß dadurch der Erfolg entfällt, wenn insgesamt nicht genügend Stimmen vorhanden sind, um mit der Stimme des fraglichen Täters die Mehrheit für die erfolgsabwendende Maßnahme zu erreichen. Dieses Hindernis wird durch einen Vergleich mit der kumulativen Kausalität 339 beim Begehungsdelikt überwunden: "Im Bereich der strafrechtlichen Handlungsverantwortlichkeit ist nicht zweifelhaft, daß, wo mehrere Beteiligte unabhängig voneinander den tatbestandsmäßigen Erfolg erst durch die Gesamtheit ihrer Handlungsbeiträge herbeiführen, jeder einzelne Beitrag im haftungsbegründenden Sinne ursächlich ist.,,34o
Die so formulierte Begründung kumulativer Kausalität wird dann auf den "entsprechenden Fall" beim Unterlassungsdelikt übertragen: "Was hiernach für die Handlungsverantwortlichkeit gilt, muß ebenso auch im Bereich der strafrechtlichen Haftung für Unterlassungen gelten. Kann die zur Schadensabwendung gebotene Maßnahme, hier der von der Geschäftsführung zu beschließende Rückruf, nur durch das Zusammenwirken mehrere Beteiligter zustandekommen, so setzt jeder, der es trotz seiner Mitwirkungskompetenz unterläßt, seinen Beitrag dazu zu leisten, eine Ursache dafür, daß die gebotene Maßnahme unterbleibt; ... ,,341 336 BGHSt 37, 106 (130). Dies lag wegen des späteren Verhaltens bei der Sondersitzung nahe. 337 BGHSt 37,106 (126). 338 Dagegen versucht Brammsen, Jura 1991, 533 (535 f.) die Entscheidung dahingehend umzudeuten, daß eine Umsetzung des materiellrechtlichen Prinzips der Risikoerhöhung ins Prozeßrecht erfolge. Ähnlich auch Rötsch, Großunternehmen, S. 99, im Zusammenhag mit der generellen Kausalität zwischen Produktverwendung und Körperschäden. 339 Vgl. dazu oben Teil Al.l. c) bb) (2) und 5.) b). 340 BGHSt 37, 106 (131). 341 BGHSt 37, 106 (131). Nur im Ergebnis hat er damit breite Zustimmung gefunden Dazu Schall, Zurechnung von Umweltdelikten, S. 116. Zum einen auf der Basis der "Hinzudenkmethode " (conditio-sine-qua-non-Gedanke) verbunden mit Sonderregeln zur alternativen Kausalität: Kuhlen, NStZ 1990,566 (569f.); Meier; NJW 1992, 3193 (3197); Deutscher/ Körner; wistra 1996,327 (333f.); Beulke/Bachmann, JuS 1992,737 (742); Lackner/Kühl, Vor § 13 Rn. 11; Kühl, AT, § 18 Rn. 39a ff. Auf der Basis der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung Puppe, JR 1992,30 (32); NK- Puppe, Vor § 13 Rn. 109; Hilgendorf, NStZ 1994,
11. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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c) Kritik
Mit dieser Argumentation erweckt der BGH den Eindruck, daß eine spezifische Problematik bei mehrfachen Unterlassungen von Garanten, die nur zusammen den Erfolg verhindern können, gar nicht bestehe. - Denn es liege ja ein Fall kumulativer Kausalität des Unterlassens vor. Bei der sogenannten kumulativen Kausalität im Bereich des Begehungsdelikts ist die Ursächlichkeit jedes kumulierenden Beitrags unbestritten 342 . Nichts anderes kann folglich für die kumulative Kausalität des Unterlassens gelten, wenn man dem BGH in seiner "Parallelbetrachtung" folgt. Das setzt aber voraus, daß die vom BGH entschiedene Unterlassungskonstellation tatsächlich dem Fall kumulativer Kausalität beim Begehungsdelikt entspricht. Mit dieser Aussage ist der BGH in der Literatur vielfach auf Widerspruch gestoßen 343 . Auch die Autoren, welche mit dem BGH Unterlassungskausalität auf dem Boden der modifizierten conditio-sine-qua-non-Formel ("Hinzudenkmethode") bejahen wollen, folgen ihm in der Begründung nicht 344 . Die Vereinbarkeit der vom BGH gewählten Lösung mit der conditio-sine-qua-non-Formel ist daher unter Einbeziehung der beim Begehungsdelikt zu dieser Formel entwickelten Anwendungsregeln 345 näher zu untersuchen.
561 (563); S/S/Lenckner. Vor § 13 Rn. 83a; S/S/Stree, § 13 Rn. 61; SK-Rudolphi, Vor § 13 Rn. 16b; Neudecker. Kollegialorgane, S. 224 ff.; Weißer. Kollegialentscheidungen, S. 113 ff.; Scholl, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 224 ff. 342 Vgl. Z. B. Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 14 Rn. 37; S/S/Lenckner. Vor § 13 Rn. 83, jeweils m. w. N. 343 Dencker. Kausalität, S. 58; NK-Seelmann, § 13 Rn. 61; Samson, StV 1991, 182 (l85f.); Kühl, AT, § 18 Rn. 39c; S/S/Lenckner. Vor § 13 Rn. 83a; Scholl, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 212; Weißer. Kollegialentscheidungen, S. 109 f. Kritisch auch Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 68 ff.; Eidam, Straftäter Unternehmen, S. 17; Rotsch, Großunternehmen, S. 128. Puppe, JR 1992, 30 (32) sowie NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 108 ff., Sojos, Mehrfachkausalität, S. I 32f., und Hilgendorf, NStZ 1994, 561 (563 ff.), lehnen die Argumentation des BGH ab, weil sie von der conditio-sine-qua-non-Formel ausgeht und mit dieser nicht vereinbar ist, nehmen aber Kausalität nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung an. So schon Engisch, Kausalität, S. 31 (Geschützbeispiel). Brammsen, Jura 1991,533 (536) sieht in der Begründung des BGH in der Sache die Anwendung der Risikoerhöhungslehre als Zurechnungsprinzip beim Unterlassungsdelikt. 344 Kuhlen, NStZ 1990,566 (570) - Ausnahme wie bei Doppelkausalität - ; Meier. NJW 1990 3193 (3197) - Grundsätze alternativer Kausalität - ; Beulke / Bachmann, JuS 1992, 737 (743) - alternative Kausalität. Baumann/Weber/ Mitsch, § 14 Rn. 37 kommen dadurch zur Bejahung von Kausalität, daß die Mehrheitsverhältnisse zum Erfolg in seiner konkreten Gestalt gehören (es wird allerdings nur Begehungskausalität durch einen Beschluß behandelt) Ebenso Weber. BayVBI 1989, 166 (169); LK- Spendei, 10. Aufl., § 336 a.F. (= § 339 n.F.) Rn. 110, für das rechtsbeugende Kollegialgericht. Dagegen schon oben I I. a). 345 Dazu oben Teil A I. I. a) - c). Überblick bei Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 14 Rn. IOff.; Kühl, AT, § 4 Rn. 9ff.
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
aa) Kumulative Kausalität 346 des Unterlassens ?
Bei dem Vergleich kumulativer Kausalität beim Begehungsdelikt mit der zu entscheidenden Unterlassungskonstellation im Gremium f,illt zunächst ein bedeutender Unterschied auf. Die Anerkennung kumulativer Kausalität beim Begehungsdelikt ist keine Modifikation der conditio-sine-qua-non-Formel, während ihre Übertragung auf die Unterlassungskonstellation, wie sie der BGH vornimmt 347 , auch in solchen Fällen zur Bejahung von Kausalität führt, die mit der abgewandelten conditio-sine-qua-non-Formel ("Hinzudenkverfahren") nicht zu erfassen wären 348 . Beispiel (2): In einern Geschäftsleitungsgremium entscheiden die Geschäftsführer A, B und C mit einfacher Mehrheit. Es wird mit den Stimmen von A und B ein Beschluß gefaßt, der zu Schäden bei Kunden des Unternehmens führt.
A und B sind hier kumulativ kausal für die Folgen des Beschlusses. Dieses Ergebnis ergibt sich unmittelbar aus der Anwendung der conditio-sine-qua-nonFormel, da keine der beiden Stimmen hinweggedacht werden kann, ohne daß der Erfolg enfällt. Anders liegt es dagegen wenn in der Unterlassungskonstellation keiner der drei Beteiligten seine Stimme für einen erforderlichen Rückruf einsetzt 349 . Nun setzt keiner der Geschäftsführer eine conditio si ne qua non für das Fehlen des Rückrufs. Denn eine einzelne Stimme kann jederzeit hinzugedacht werden, ohne daß es zu einem erfolgsabwendenden Beschluß kommt. Ihre Tauglichkeit zur Rettung des bedrohten Rechtsguts erhält sie erst unter entsprechenden Begleitumständen; nämlich dann, wenn genügend andere Stimmen zur Mehrheitsbildung vorhanden sind, was aber gerade nicht der Fall ist. Bei der Übertragung der Figur kumulativer Kausalität vom Begehungs- auf das Unterlassungsdelikt wird die conditio-sine-qua-non-Formel unvermittelt erweitert. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß die kumulative Kausalität beim Begehungsdelikt an sich keine besondere Erscheinungsform oder problematische Konstellation von Kausalität ist 35o. Fragt man nach der Kausalität des Einzel346 Mit diesem Begriff sind nur die Fälle gemeint, in denen zwei oder mehrere Personen einen Erfolg erst durch das Zusammenwirken ihrer Tatbeiträge verursachen. Anders z. B. Jescheck/Weigend, AT, § 28 11 4., die den Begriff für die Fälle alternativer Kausalität (Doppelkausalität / Mehrfachkausalität) verwenden. 347 Vgl. BGHSt 37, \06 (126 ff.). Dazu soeben unter aa). 348 So auch Kuhlen, NStZ 1990, 566 (570); Puppe, JR 1992, 30 (32); Dencker, Kausalität, S. 59; Meier, NJW 1992,3193 (3198); Beulke/Bachmann, JuS 1992,737 (743); Deutscher/ Körner, wistra 1996,327 (333f.); Samsan, StV 1991, 182 (184f.); S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 83; Weißer, Kollegialentscheidungen, S. \09 f.; Scholl, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S.215. 349 Vgl. dazu Beispiel Ib). 350 Vgl. Baumann/Weber/ Mitsch, AT, § 14 Rn. 37; Kühl, AT, § 4 Rn. 21; Jakobs, AT,7/ 20; Maurach/Zipj. AT I, § 18 Rn. 56; S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 83; Lackner/Kühl, Vor § 13 Rn. 11; Tröndle, Vor § 13 Rn. 18.
11. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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verhaltens eines Menschen, hat man es stets mit Konstellationen kumulativer Kausalität im weiteren Sinne zu tun 351 . Denn Ursache eines Erfolges ist niemals nur eine einzelne Bedingung, sondern ein ganzer Bedingungskomplex, der den Erfolg in seiner Gesamtheit erklärt. Neben dem Täterverhalten muß stets eine Reihe anderer Faktoren gegeben sein, die zusammen mit dem Taterverhalten den Erfolg herbeiführen. Beispiel (3a): Erschießt A den B, so ist nicht nur das Abfeuern der Waffe als menschliche Handlung für den Tod des B erforderlich. Die Waffe muß funktionstüchtig sein, sie muß geladen sein, B darf sich im entscheidenden Augenblick nicht bewegt haben.
Dieser Bedingungskomplex, der in seiner Gesamtheit den Erfolg erklärt, kann nun außer dem Täterverhalten nur "natürlich" vorliegende Umstände enthalten, aber auch solche Umstände, die von weiteren Personen gesetzt wurden. Beispiel (3b): So ist es denkbar, daß im Beispiel (3a) C die Waffe vor dem Schuß repariert hat, D sie geladen hat und Eden B festgebunden hat, damit er sich nicht bewegen kann.
Im letzten Fall (3b) spricht man dann von kumulativer Kausalität (im engeren Sinne)352. Die Bezeichnung impliziert aber keine besondere Behandlung dieser Fallgruppe bei der Frage der Kausalität 353 . Sie ist dann zu bejahen, wenn die Handlung des A notwendiger Bestandteil des Bedingungskomplexes war, der insgesamt den Erfolg herbeigeführt hat. Dies gilt unabhängig von der Qualität der übrigen Bedingungen (Mitursachen), also unabhängig davon, ob sie von Menschen gesetzt wurden, oder schon natürlich vorhanden waren. Wahrend die Äquivalenztheorie allgemein zum Ausdruck bringt, daß zwischen den verschiedenen Bedingungen eines Erfolges nicht in wesentliche und unwesentliche unterschieden werden so1l354, bringt die Anerkennung kumulativer Kausalität nochmals gesondert zum Ausdruck, daß bei der Kausalitätsfeststellung mit der conditio-sine-qua-nonFormel keine Ausnahme gilt, wenn neben dem Taterverhalten andere von Menschen gesetzte Bedingungen Teil der Gesamtursache waren. Überträgt man diese Überlegung auf die Kausalität des Unterlassens, so besagt der Begriff kumulative Kausalität nichts anderes, als daß auch hier nicht zwischen von Menschen gesetzten und sonstigen Bedingungen unterschieden werden soll, ansonsten aber Kausalität mit der abgewandelten conditio-sine-qua-non-Formel Vgl. z. B. Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 14 Rn. 37. Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 14 Rn. 37.; S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 83; Trändie, Vor § 13 Rn. 18. Die Differenzierung ist aber bei genauerem Hinsehen fraglich. Es wird sich häufig feststellen lassen, daß auch an den "natürlichen" Bedingungen wiederum Menschen beteilgt sind, wenn man die Weite der Äquivalenztheorie beachtet. So wird beispielsweise der Brandstifter, der mit seinem Streichholz ein Haus in Brand setzt, gemeinsam mit dem Zündholzfabrikanten kumulativ kausal für den Brand. 353 Anders U.u. bei der Frage nach der objektiven Zurechenbarkeit. Vgl. S/S/ Lenckner, Vor § 13 Rn. 83. 354 Vgl. Z. B. S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 76; Jescheck/Weigend, AT, § 28 11; Baumann/ Weber/Mitsch, AT, § 14 Rn. 19. 351
351
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
festzustellen ist. Auch bei der Feststellung der Unterlassungskausalität hat man es grundsätzlich mit kumulativer Kausalität im weiteren Sinne zu tun. Damit ein Erfolg verhindert werden kann, sind wie bei der Erfolgsherbeiführung durch aktives Tun nicht nur das pflichtgemäße Verhalten des Taters erforderlich, sondern regelmäßig weitere Umstände, die mit dem gewünschten Taterverhalten zusammen zur Abwendung des Erfolges geführt hätten. Beispiel (4a): Der Nichtschwimmer V sieht seinen Sohn S im See ertrinken. Am Ufer liegt ein Ruderboot. V unternimmt nichts und S ertrinkt. Beispiel (4b): Der Bademeister B eines Seebades sieht, wie sich sein Kollege K erfolglos mit einem Ertrinkenden abmüht, der zu weit auf das Meer hinausgeschwommen ist. Er unternimmt nichts und der Kollege muß den Ertrinkenden aufgeben, um sein eigenes Leben zu retten.
In beiden Fällen kann eine Rettung nur erfolgen, wenn viele Bedingungen gegeben sind, die insgesamt nach den bestehenden Gesetzmäßigkeiten eine Rettung (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) prognostizieren lassen. Im Beispiel (4a) ist neben dem Handeln des V auch das Vorhandensein des Bootes eine Bedingung, die zur Gesamtmenge der Bedingungen gehört, die zur Rettung des S erforderlich sind. Im Beispiel (4b) gehören dazu auch das Rettungsbemühen des K als weiteres menschliches Verhalten, sowie weitere tatsächliche Voraussetzung der Rettung; geringe Distanz zum Opfer, vorhandene Rettungsmittel des B (z. B. ein Boot). Die Fragestellung der abgewandelten conditio-sine-qua-non-Formel lautet nun, ob bei Hinzudenken der gebotenen Handlung der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfallen würde. Sie setzt zur Bejahung von Kausalität voraus, daß die weiteren Bedingungen für die Rettung des Opfers gegeben sind. Der Rettungssachverhalt muß bis auf das fehlende Taterhandeln komplett sein. Dies wird deutlich, wenn man das Beispiel (4a) so abwandelt, daß das am Ufer liegende Boot ein großes Loch hatte und damit zur Rettung völlig untauglich war. In diesem Fall wurde das Unterlassen des V gerade nicht kausal für den Tod des S. Selbst wenn man sein Bemühen, seine "Rettungshandlung" hinzudenkt, wäre S nicht zu retten gewesen. Das Hinzudenken führt nicht zum Wegfall des Erfolges. Die hinzugedachte Handlung ist nicht kausal. Dasselbe muß nun gelten, wenn die weiteren Vorrausetzungen der Rettung (teilweise) in menschlichem Verhalten bestehen. So ist B's Verhalten im Beispiel (4b) kausal für den Tod des Ertrinkenden, wenn er diesen zusammen mit K retten konnte (es läge dann kumulative Rettungskausalität vor). Gibt der K sein Rettungsbemühen aber endgültig auf, bevor B eingreifen kann, fehlt es für B an der Rettungsmöglichkeit, weil aufgrund der vorliegenden Umstände eine Rettung alleine durch B nicht möglich war. Die ihm mögliche Handlung (z. B. Hinschwimmen) kann hinzugedacht werden, ohne daß der Erfolg entfällt.
H. Ursächlichkeit des EinzelverhaItens bei Unterlassen
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Die Übertragung der Behandlung kumulativer Kausalität vom Begehungsdelikt auf das Unterlassungsdelikt kann nur heißen, daß auch beim Unterlassungsdelikt von Menschen gesetzte (bzw. zu setzende) Bedingungen so zu behandeln sind, wie andere Bedingungen auch, eine Differenzierung ist bei der Feststellung der Kausalität nicht vorzunehmen. Die Unangemessenheit einer solchen Differenzierung sei an einem weiteren Beispiel dargestellt. Beispiel (5): Der Zuflußkanal eines Wasserkraftwerkes besteht aus einern Betonkanal, in dem schon mehrfach Kinder ertrunken sind, die beim Spielen in den Kanal stürzten und wegen der steilen Wände nicht gerettet werden konnten. Der Kraftwerksbetreiber bringt daher entlang des Kanals Rettungsvorrichtungen an (Rettungsringe mit Leinen), damit in Zukunft Hilfeleistung besser möglich ist. Da diese Rettungseinrichtungen häufig beschädigt oder gestohlen werden, wird ein Angestellter A beauftragt, sie täglich zu kontroHieren und gegebenenfalls instandzusetzen. Eines Tages fällt das Kind K in den Kanal. Sein Vater V, ein Nichtschwimmer, tut nichts zu seiner Rettung. Es stellt sich aber heraus, daß die Rettungsvorrichtungen in der Nähe alle entwendet worden waren, was von A aber nicht bemerkt worden war, weil er seine Kontrollen unterlassen hatte.
Hier kann es keinen Unterschied machen, ob die fehlende Rettungsmöglichkeit für V darauf beruhte, daß die Kontrollen des A unterblieben (menschliches Verhalten), oder ob die Rettungseinrichtungen erst kurz zuvor unbrauchbar gemacht wurden, so daß ihr Fehlen nicht auf der Unterlassung des A beruhte. Für die Kausalität der Unterlassung des V ist allein maßgeblich, ob die Rettung möglich gewesen wäre, wenn er das Seinige dazu beigetragen hätte. Er war also in bei den Fällen nicht kausal (ist aber bei Vorsatz wegen untauglichen Versuchs zu bestrafen, wenn er glaubte, die Rettungsringe seien vorhanden). Betrachtet man nun die Konstellation in einem Gremium, in der die richtige Stimmabgabe eines einzelnen Mitglieds mangels Mitwirkung genügend anderer Mitglieder nicht zur Mehrheit für einen Beschluß geführt hätte, so kann man diese als einen Fall kumulativer Kausalität beim Unterlassungsdelikt bezeichnen. Diese Aussage bedeutet aber nicht mehr als die Feststellung, daß mit einer bestimmten Anzahl von Stimmen (damit kumulativ kausal) die Erfolgsabwendung möglich gewesen wäre. Da aber für jeden Beteiligten die Rettungsvoraussetzungen fehlten, fehlt es an der Kausalität der einzelnen Unterlassung für den Erfolg. Mit einem Verweis auf die kumulative Kausalität beim Begehungsdelikt ist ein anderes Ergebnis nicht zu begründen 355 .
355 So auch Puppe, JR 1992, 30 (32); Amelung, Der Bundesgerichtshof als "Gesetzgeber", S. 70; Hilgendarf, NStZ 1994, 561 (563); Dencker, Kausalität, S. 58; NK-Seelmann, § 13 Rn. 61. Kuhlen, NStZ 1990,566 (570); Meier, NJW 1990,3193 (3197); Beulke/Bachmann, JuS 1992, 737 (743); Eidam, Straftäter Unternehmen, S. 17; Ratsch. Großunternehmen, S. 125, 128; Kühl, AT, § 18 Rn. 3ge; S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 83a; Weißer, Kollegialentscheidungen, S. 109 ff.
g Sehaal
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
bb) Mehrfachkausalität (alternative Kausalität)356 des Unterlassens ? Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, daß die Lösung der vorliegenden Unterlassungsproblematik im Gremium mit einer Parallele zur kumulativen Kausalität beim Begehungsdelikt nicht zu bewältigen ist und die Kritik an der Argumentation des BGH insoweit ihre Berechtigung hat. Eine in der Literatur vertretene Ansicht 357 stimmt aber dem Ergebnis des BGH zu und hält dieses Ergebnis auch unter grundsätzlicher Beibehaltung der conditio-sine-qua-non-Formel für begründbar. Allerdings ist nach dieser Ansicht zur Lösung der Problematik eine Modifikation 358 der conditio-sine-qua-non-Formel erforderlich. In der Begründung wird dabei auf die Konstellation der Mehrfachkausalität beim Begehungsdelikt bezuggenommen. Für diese Fälle sei eine Ausnahme von der conditio-sine-qua-non-Formel anerkannt, die sich auch auf den Fall des Unterlassens mehrerer Garanten, die nur insgesamt in der Lage sind, einen Erfolg abzuwenden, erstrecken lasse. Die conditio-sine-qua-non-Formel sei daher in diesen Fällen dahingehend abzuwandeln, daß auch solche Bedingungen als kausal anzusehen seien, die zwar alternativ, nicht aber kumulativ hinzugedacht werden können, ohne daß der Erfolg (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) entfällt 359 . Die Vertreter dieser Ansicht folgen in der Sache dem BGH, begründen dies aber nicht aus einer Parallele zur kumulativen Kausalität, sondern zur Mehrfachkausalität und räumen damit offen ein, daß eine Ausnahme zur conditio-sine-qua-non-Formel vorliegt. Diese Parallele setzt aber zweierlei voraus. Zum einen muß die Modifikation für die Fälle der Mehrfachkausalität angemessen sein und zum zweiten muß sie auf die fragliche Unterlassenskonstellation übertragbar sein. Zur ersten Frage, der Mehrfachkausalität beim Begehungsdelikt, wurde bereits oben Stellung genommen. Hier erscheint eine Ausnahme trotz gewisser Bedenken vertretbar. Der Grund liegt darin, daß man die Mehrfachkausalität als Grenzfall 356 Synonym zum Begriff alternativer Kausalität wird auch der Begriff Doppelkausalität verwendet. Der Begriff Mehrfachkausalität umfaßt auch die Fälle in denen mehr als zwei "alternative" Verhaltensweisen vorliegen. Als umfassender Begriff wird er in der weiteren Darstellung alleine verwendet. 357 Kuhlen, NStZ 1990, 566 (570); Meier. NJW 1992, 3193 (3197 f.); Beulke / Bachmann, JuS 1992, 737 (743); Deutscher/Kärner, wistra 1996, 327 (334) Lackner/Kühl, vor § 13 Rn. 11; Köhler. AT, S. 229 (Fn. 92). 358 Dabei geht es nicht um die Anpassung der conditio-sine-qua-non-Formel an das Unterlassungsdelikt: Aus dem Wegdenken des Täterverhaltens beim Begehungsdelikt wird ein Hinzudenken des gebotenen Verhaltens beim Unterlassungsdelikt. Vielmehr geht es um eine Erweiterung der Kausalität auf solche Fälle, die mit der abgewandelten conditio-sine-qua-nonFormel nicht erfaßt werden können. 359 So Meier. NJW 1992, 3193 (3198) unter Bezugnahme auf die Formel Tarnowskis für die Mehrfachkausalität beim Begehungsdelikt (Siehe dazu ausführlich oben Teil A I. I. c) aa) (2) und die Ausführungen zur Ansicht von Traeger, der bereits vor Tarnowski eine Modifikation der conditio-sine-qua-non-Formel befürwortet hat, oben Teil A I. I. aa) (I». Ebenso Kuhlen, NStZ 1990,566 (570); Beulke/Bachmann, JuS 1992,737 (743); Deutscher/Körner. wistra 1996,327 (334).
H. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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(= Aufhebung der Differenzierbarkeit) der anerkannten Trennung von "echter" Ursache und Reserveursache ansehen kann und es vertretbar erscheint, in diesem Grenzfall aufgrund einer Wertung alle Mehrfachursachen als kausal anzusehen 360 .
Fraglich ist jedoch die Übertragbarkeit dieser Wertung auf die hier interessierende Unterlassungskonstellation im Gremium. Betrachtet man das Unterlassungsdelikt unter dem Gesichtspunkt der Mehrfachkausalität, so fällt auf, daß hier zwei verschiedene Konstellationen zu unterscheiden sind. Zum einen ist es möglich, daß zwei oder mehrere Garanten unabhängig voneinander durch ihr pflichtgemäßes Eingreifen das Opfer retten könnten, dies aber nicht tun 361 .
°
°
Beispiel (6): droht im Freibad zu ertrinken. Zwei Bademeister beobachten das Geschehen untätig, obwohl jeder alleine in der Lage wäre, den zu retten.
Davon zu unterscheiden sind die Konstellationen, in denen die Möglichkeit der Erfolgsabwendung vom Zusammenwirken mehrerer abhängt, der einzelne Garant alleine aber keine Rettungsmöglichkeit hat. - Dazu die Beispiele (4a), (4b) und (5). In Beispiel (6) ist die Kausalität bei der Bademeister unproblematisch gegeben. Liegt eine Konstellation vor, in der die Erfolgsabwendungsvoraussetzungen bis auf das erforderliche Verhalten eines Menschen gegeben sind und handeln mehrere Garanten trotz Handlungsmöglichkeit nicht, so sind alle als Verursacher desselben Erfolges verantwortlich. Ein solcher Fall kann auch dann vorliegen, wenn die Rettung nur durch kumulative Kausalbeiträge mehrerer möglich ist. Beispiel (6a): Drei Bademeister beobachten die Notlage des 0, der in Panik wild um sich schlägt, so daß er nur bei gleichzeitigem Eingreifen von zwei Helfern zu retten ist. Ein Bademeister springt sofort ins Wasser um zu helfen, die anderen bleiben untätig.
Auch hier ist jeder der beiden untätigen Bademeister kausal für den Tod des O. Es liegt problemlos Mehrfachkausalität vor. Diese Konstellation kommt der Mehrfachkausalität beim Begehungsdelikt sehr nahe. In beiden Fällen liegt ein Bedingungskomplex vor, der bis auf das Taterverhalten komplett ist. Bei der Mehrfachkausalität aktiven Tuns sind alle Faktoren gegeben, die zusammen mit dem Täterverhalten nach den Gesetzmäßigkeiten den Erfolg bedingen. Bei der Mehrfachkausalität des Unterlassens sind alle Bedingungen zur Erfolgsabwendung bis auf das geforderte Taterverhalten vorhanden. Der Unterschied besteht nur darin, daß beim Begehungsdelikt das mehrfache Vorliegen gleicher Bedingungen, welche den Bedingungskomplex jeweils einzeln zur Gesamtursache ergänzen, nach der conditio-sine-qua-non-Formel Kausalität ausschließt, so daß es einer Modifikation der Formel bedarf, will man Kausalität 360 361
8'
Dazu ausführlich oben Teil A I. 1.,5. a) und b). Vgl. dazu auch Puppe. ZStW 92 (1980), 863 (906); Dencker. Kausalität, S 168.
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
bejahen. Beim Unterlassungsdelikt führt dagegen die conditio-sine-qua-non-Formel (Hinzudenkverfahrern) unmittelbar zu Bejahung von Kausalität für alle untätigen Garanten. Anders liegt es dagegen bei der zweiten Konstellation, die ebenfalls unter dem Stichwort ,,Mehrfachkausalität des Unterlassens" diskutiert wird 362 . Handeln von mehreren Garanten, die zur Erfolgsabwendung durch kumulative Kausalbeiträge verpflichtet sind, soviele nicht, daß eine Rettung nicht möglich ist, liegt auf den ersten Blick auch eine Situation vor, in der man wegen der Abhängigkeit der Rettung von mehreren Personen von Mehrfachkausalität sprechen könnte. Beispiel (6b): Wie (6a), nur keiner der Bademeister rührt sich.
Der Begriff ,,Mehrfachkausalität des Unterlassens" besagt hier nicht mehr, als daß die Rettung eben durch mehrere kumulativ kausale Beiträge erfolgen müßte. Der Unterschied besteht aber darin, daß auch ohne das Fehlverhalten des Täters der Bedingungskomplex, der für eine Erfolgsabwendung nach allgemeinen Regeln erforderlich ist, nicht vorliegt. Wegen des Versagens der anderen liegt keine Rettungskonstellation vor. Verwendet man beim Begehungsdelikt statt des Begriffs Mehrfachkausalität den Begriff des "überbedingten Erfolges,,363, so könnte man beim Unterlassungsdelikt von "unterbedingter Erfolgsabwendungsmöglichkeit" sprechen. Die Übertragung der Grundsätze der Mehrfachkausalität beim Begehungsdelikt (Bejahung der Kausalität) auf das Unterlassungsdelikt führt dazu, daß das Kausalurteil auf nicht verwirklichte Umstände, d. h. einen teilweise fiktiven Sachverhalt, gestützt wird. Der Täter muß nicht nur für das Fehlen seines eigenen Rettungsbemühens einstehen, sondern auch für das der anderen Beteiligten. Während im Fall des Begehungsdelikts das Kausalurteil nur auf wahren Umständen basiert und das mehrfache Verhalten anderer Beteiligter lediglich unberücksichtigt bleibt, wird im Unterlassungsfall das Kausalurteil auf nicht verwirklichte Umstände, nämlich das in Wirklichkeit nicht bestehende Rettungsverhalten der anderen Unterlassenden gestützt. Dies sei anhand der Gremiumssachverhalte erläutert. Beispiel (7a): Ein Geschäftsleitungsgremium mit 5 Personen beschließt die Freigabe eines gefahrlichen Produkts und leitet durch einen Beschluß mit 4: I Stimmen den Vertrieb ein. Beispiel (7b): Ein Geschäftsleitungsgremium beschließt mit 4:1 Stimmen, ein gefährliches Produkt nicht zurückzurufen.
Jeweils kommt es dadurch zu Rechtsgutsverletzungen. Für die Umsetzung von Beschlüssen ist einfache Mehrheit erforderlich. 362 Vgl. dazu Dencker, Kausalität, S. 167ff.; Samson, StV 1991, 182 (184f.); NK-Seelmann, § 13 Rn. 61 a.; Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (906 ff.); NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 119. 363 Vgl. dazu Jakobs, AT, 7/83a; ders., Miyazawa-FS 1995,419 (422); Röh, Die kausale Erklärung überbedingter Erfolge im Strafrecht, 1993.
11. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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Im Beispiel (7a) kann man nun sagen, daß jeweils in wechselnder Besetzung drei Gremiumsmitglieder einen Bedingungskomplex durch ihr Verhalten so ergänzt haben, daß nach den geltenden Gesetzmäßigkeiten der Erfolg eintreten mußte. Conditio si ne qua non war gleichwohl keines der Einzelverhalten, weil gleichzeitig die 4. Stimme real gegeben war und eine der Stimmen mit Sicherheit überflüssig gewesen ist. Nur wenn man bei der Kausalfeststellung die jeweils überflüssige Stimme außer Betracht läßt, kann man auf der Basis des ansonsten tatsächlich vorliegenden (wahren) Sachverhalts Kausalität bejahen 364 . Ganz anders stellt sich die Situation beim Unterlassen dar. Hier fehlt es schon am Vorliegen einer zweiten Stimme damit jedes weitere Mitglied die Mehrheit herbeiführen konnte. Es genügt hier auch nicht irgend weIche anderen Stimmen bei der Betrachtung auszublenden. Erfolgsabwendung ist für jeden einzelnen auf der Basis der vorliegenden Gesetzmäßigkeiten nur dann möglich, wenn bereits zwei Stimmen vorliegen. Ware dies der Fall läge für alle weiteren Mitglieder unproblematisch Kausalität vor. - Ein Fall "echter" Mehrfachkausalität beim Unterlassen. An einer zweiten Stimme fehlt es aber nun. Will man dennoch Kausalität bejahen, so läßt sich das nach den Gesetzmäßigkeiten im Gremium nur dadurch erreichen, daß man nicht nur auf das Fehlverhalten des einzelnen abstellt, sondern gleichzeitig das Fehlverhalten mindestens eines weiteren Mitglieds ignoriert. Dabei kann man das Verhalten eines weiteren Gremiumsmitglieds aber nicht in dem Sinne unberücksichtigt lassen, daß man es nicht beachtet, wie man dies bei entsprechenden Begehungssachverhalten tut. Man muß es entgegen den real vorliegenden Tatsachen in einer bestimmten Weise, nämlich als Ja- Stimme unterstellen, d. h. ebenfalls hinzudenken 365 . Die Versuchung, dies zu tun, ist groß und kommt auch in der Begründung des BGH zum Ausdruck: "Nur dieses Ergebnis (Bejahung der Kausalität; der Verf.) wird der gemeinsamen und gleichstufigen Verantwortung der Geschäftsführer gerecht. Fiele es anders aus, so bedeutete dies, daß sich - von Fällen mittäterschaftlichen Unterlassens abgesehen - in einer GmbH mit mehreren Geschäftsführern jeder von seiner Haftung allein durch den Hinweis auf die gleichartige und pflichtwidrige Untätigkeit der anderen freizeichnen könnte,,366. Gleichwohl kann eine derartige rein ergebnisorientierte unmittelbar und ausschließlich dem Rechtsgefühl 367 entspringende Begründung als Argument für das 364 Vgl. dazu ausführlich oben, Teil A I. 5. 365 Samson, StV 1991, 182 (184f.) kritisiert zu Recht, daß ein so gewonnenes Kausalurteil auf einer Fiktion beruhe. Ähnlich NK-Seelmann, § 13 Rn. 61a; Dencker, Kausalität, S. 60f., 167 ff. 366 BGHSt 37,106 (132). Zustimmend S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 83a; S/S/Stree, § 13 Rn. 61; Lackner / Kühl, Vor § 13 Rn 11; Kühl, AT, § 4 Rn. 39a ff., jeweils m. w. N. 367 Besonders deutlich bei S/S/Stree, § 13 Rn. 61, der den Widerspruch zur Hinzudenkmethode bei Feststellung der Quasikausalität herausarbeitet und dann ohne weitere Begründung bei Kollegialentscheidungen anders entscheiden will.
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
Bestehen eines Kausalzusammenhanges nicht ausreichen. Kausalität des Unterlassenden für den Erfolg besteht nur dann, wenn es ihm unter alleiniger Berücksichtigung der real vorliegenden Umstände möglich war, durch pflichtgemäßes Handeln den Erfolg abzuwenden 368 . Dafür ist es erforderlich, daß bis auf sein Handeln alle weiteren Bedingungen vorhanden waren, die nach den bestehenden Gesetzmäßigkeiten eine Gesamtursache für die Erfolgsabwendung gebildet hätten. Will man darüberhinaus nicht real existente Bedingungen der Erfolgsabwendung bei der Kausalitätsfeststellung zu Lasten des Täters fingieren, ist dies näher zu begründen. Wegen des Widerspruchs zur grundsätzlichen Kausalitätsdefinition im Unterlassungsbereich ist der Umfang solcher Fiktionen näher zu bestimmen.
4. Lösung nach der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung (ohne Rückgriff auf die modifizierte conditio-sine-qua-non-Formel) Bereits oben 369 wurde darauf hingewiesen, daß auch Anhänger der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung beim Unterlassungsdelikt die abgewandelte conditio-sine-qua-non-Forrnel verwenden. Dies beruht darauf, daß das Vorliegen "echter" Kausalität bestritten wird und stattdessen auf einen hypothetischen Verlauf abgestellt wird 37o . Da es nach dieser Ansicht eine "wirkliche Kausalität" im Sinne eines rekonstruierbaren Kausalverlaufs nicht gibt, ist die Zurechnung beim Unterlassungsdelikt notwendigerweise auf eine hypothetische Betrachtung zu stützen 371 . Die hypothetische Prüfung mit der conditio-sine-qua-non-Forrne1 kann daher nicht vom wirklichen gesetzmäßigen Zusammenhang ablenken, sondern gibt den Zurechnungszusammenhang des Unterlassungsdelikts zutreffend wieder. Nach dieser Auffassung ist dann zu untersuchen, ob die vom Täter geforderte und unterlassene Handlung (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) zur Abwendung des Erfolges geführt hätte. Diese Fragestellung entspricht genau der abgewandelten conditio-sine-qua-non-ForrneI 372 , die danach fragt, was bei Hinzu368 H.M.: BGHSt 37,106 (l26f.); BGH StV 1984, 247f.; BGH NStZ 1985, 26f.; Lackner/Kühl, Vor § 13 Rn. 12; LK-Jescheck, § 13 Rn. 18; NK-Seelmann, § 13 Rn. 57; S/S/ Lenckner; Vor § 13 Rn. 71; S/S/Stree, § 13 Rn. 61; Tröndle, Vor § 13 Rn. 20; Baumann/ Weber/Mitsch, AT, § 15 Rn. 22ff.; Gropp, AT, § 11 Rn. 71 ff.; Jescheck/Weigend, AT, § 59 III; Kühl, AT, § 18 Rn. 35 ff.; Wesseis, AT, Rn. 711. 369 S. II. 1. 370 Vgl. z. B. S/S/Stree, § 13 Rn. 61; LK-Jescheck, § 13 Rn. 16; NK-Seelmann, § 13 Rn. 57; Lackner/ Kühl, Vor § 13 Rn. 12; Jescheck/Weigend, § 59 III 3. und 4.; Wesseis, AT, Rn. 711; Kühl, AT, § 18 Rn. 35 ff.; 371 Vgl. S/S/Stree, § 13 Rn. 61. 372 Lackner / Kühl, Vor § 13 Rn. 12; Kühl, AT, § 4 Rn. 35 ff. Kritisch gegen die conditiosine-qua-non-Formel auch beim Unterlassungsdelikt Jescheck/Weigend, AT, § 59 II 3., wobei allerdings unklar bleibt, inwiefern die vorgeschlagene hypothetische Prüfung von der "Hinzudenkrnethode" der conditio-sine-qua-non-Formel abweicht.
11. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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denken der geforderten Handlung geschehen wäre. Mit diesem Verständnis der "Unterlassens-(quasi-)kausalität" kann in den fraglichen Gremiumssachverhalten, wie gezeigt, eine Erfolgszurechnung nicht begründet werden. Dieser Auffassung widerspricht ein Teil der Anhänger der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung 373 . Kausalität ist nach dieser Auffassung nichts anderes als die Subsumtion eines Sachverhaltes unter allgemeine Gesetze. Eine bestimmte Folge wird durch die Angabe des Bedingungskomplexes erklärt, der nach den bekannten empirischen Gesetzen die Folge nach sich zieht. Dieser Bedingungskomplex besteht aus zahlreichen Einzelbedingungen, die erst in ihrer Gesamtheit den Erfolg bedingen 374 . Zu dieser Vielzahl der Bedingungen zählen nun sowohl positive wie auch negative Bedingungen, die insgesamt gegeben sein müssen, damit der Erfolg eintritt 375 . Damit ein Stück Holz zu Asche verbrennt, ist es nicht nur erforderlich, daß genügend Sauerstoff in der Luft vorhanden ist und das Holzstück entzündet wird, als negative Bedingung ist zusätzlich erforderlich, daß sich in der Luft keine hohe Wasserstoffkonzentration befindet, weil der zur Verbrennung des Holzes nötige Sauerstoff ansonsten mit dem Wasserstoff reagiert, also mit diesem und nicht mit dem Holz verbrennt. Unterlassungen sind nach dieser Ansicht nicht ein ,,Nichts", das einen Erfolg nicht (mit-)verursachen kann, sondern sind als negative Bedingungen 376 genauso für die Erklärung des Erfolges heranzuziehen, wie die positiven Bedingungen. Ein Garant, der eine ihm gebotene Rettungshandlung nicht vornimmt, ist damit im gleichen Sinne kausal wie ein Begehungstäter, der eine "positive" Bedingung des Erfolges setzt, weil die unterlassene Handlung als negative Bedingung des Erfolges anzusehen ist.
a) Unterlassenskausalität wegen Verantwortlichkeit für das Fehlen
einer "negativen Bedingung" des Erfolges?
Auf der Basis dieses Kausalitätsverständnisses ist nach einer Ansicht unter den Anhängern der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung 377 auch das Problem zu lösen, daß mehrere Garanten untätig bleiben, die nur kumulativ den Erfolg vermeiden konnten. 373 So z. B. NK-Puppe, § 13 Rn. \05ff. ffi. w. N.; Sofos, Mehrfachkausalität, S. 218ff.; Hilgendorf, NStZ 1994,561 (564). so schon Engisch, Kausalität, S. 30f. (GeschÜlZbeispiel). 374 Dazu oben Teil A I. 2. b) bb). V gl. auch Puppe, ZStW 92 (1980), 863 ff. m Vgl. dazu Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (895 ff.). 376 Vgl. dazu Engisch, Kausalität, S. 29ff.; Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (895ff.); NKPuppe, Vor § 13 Rn. \05 ff.; Puppe, JR 1992,30 (34). Vgl. auch Hilgendoif, NStZ 1994, 561 (564). 377 Vgl. Engisch, Kausalität, S. 31; NK-Puppe, Vor § 13 Rn. \05 ff.; dies., JR 1992, 30 (32f.); Hilgendoif, NStZ 1994,561 (564).
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
In diesem Falle bildet das Verhalten jedes Garanten alleine in Verbindung mit den übrigen vorliegenden Tatsachen eine hinreichende Bedingung dafür, daß der Erfolg eintritt 378 . Dies sei für die Bejahung von Kausalität ausreichend. Beispiel (8)379: Bei einer Fahrt mit einem Segelboot fällt das Kind K über Bord und droht zu ertrinken. Es kann nur dadurch gerettet werden, daß seine Eltern sofort ein Mann-überBord-Manöver durchführen, wobei beide Eltern mitwirken müssen. Der Vater V muß Steuer und Groß schot überlegen, die Mutter muß gleichzeitig die Vorschot überlegen. Beide tun nichts und K ertrinkt nach einiger Zeit.
Hier ist jeweils das Verhalten des V oder der M nicht notwendig dafür, daß die Rettung unterbleibt. Selbst wenn sich V oder M richtig verhalten hätten, ohne den anderen wäre K nicht zu retten gewesen. Dies sei aber auch nicht nötig. Es genüge, daß jedes Verhalten zusammen mit den übrigen Umständen hinreichend dafür sei, daß K nicht gerettet werden könne. Beide Eltern seien somit kausal für den Erfolg 38o . Mit diesem Kausalitätsverständnis lies se sich nun auch die problematische Gremiumskonstellation (vgl. Beispiel (Ib» lösen. Zwar habe keiner der Beteiligten eine notwendige Bedingung für das Unterbleiben der gebotenen Maßnahme gesetzt, weil bereits die Stimmen der anderen auch ohne die seine eine Mehrheit für die Ablehnung der Maßnahme erbracht hätten. Jede Stimmabgabe sei aber ein notwendiger Bestandteil einer hinreichenden Bedingung für das Unterbleiben der Maßnahme und deshalb kausal 381 . Die Begründung scheint also der Argumentation beim Begehungsdelikt 382 zu entsprechen. Es wird die Mindestbedingung für das Ausbleiben des Erfolges formuliert (bei einem Dreiergremium 2 Stimmen) und dann wird der Sachverhalt darunter subsumiert: Die Stimme des jeweils untersuchten Beteiligten sowie eine weitere Stimme liegen nicht vor, wobei jeweils zur Erklärung nicht benötigte weitere Beteiligte und ihr Verhalten ausgeblendet werden. 378 NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 108. Ähnlich Hilgendorf, NStZ 1994,561 (565). 379 Nach NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 108. Aufgegriffen von Sofos, Mehrfachkausalität, S.221. 380 Vgl. NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 108; Sofos, Mehrfachkausalität, S. 221. Zu einem vergleichbaren Fall schon Engisch, Kausalität, S. 30f.: Während eines Krieges werden zum Bau von Geschützen bei mehreren Fabrikanten verschieden Teile bestellt, die für den Bau notwendig sind. Die Fabrikanten erfüllen ihre Verträge nicht und die Geschütze können nicht gebaut werden. Engisch bejaht die Kausalität jedes Fabrikanten für das Unterbleiben des Geschützbaus, da jedes Teil für den Bau der Geschütze erforderlich war. Auf die Ausführungen Engischs bezieht sich auch SGHSt 37, 106 (l26f.). Dagegen zu Recht Dencker, Kausalität, S.57ff. 381 NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 109. Ebenso Hilgendorf, NStZ 1994,561 (563); Beulkel Bachmann, JuS 1992,737 (743f.); SISILenckner, Vor § 13 Rn. 83a; SK-Rudolphi, Vor § 13 Rn. 16; Kühl, AT, § 18 Rn. 39d; Roxin, AT 1, § 11 Rn. 18; Neudecker, Kollegialorgane, S. 224; Weißer, Kollegialentscheidungen, S. 113 ff.; Scholl, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 224ff.; mit Einschränkungen Nappert, Strafrechtliche Haftung, S. 54. 382 Dazu ausführlich oben Teil A I. 2. b) bb).
11. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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b) Kritik
aa) Kausalität bei hinreichenden Bedingungen?
Nach der soeben dargestellten Ansicht wird in Fällen kumulativ möglicher Erfolgsabwendung die Kausalität jedes einzelnen Garanten dadurch begründet, daß man auf das Merkmal der Notwendigkeit verzichtet. Wenn neben dem unterlassenen Handeln eines Beteiligten das Handeln weiterer Beteiligter zur Rettung nötig gewesen wäre, soll es genügen, daß das Nichthandeln hinreichend für die Nichtrettung war. Das Nichthandeln ist aber stets hinreichende Bedingung für den Erfolgseintritt beim Unterlassen. Immer wenn jemand irgendwo nicht handelt ist dies hinreichend dafür, daß der Erfolg eintritt, wenn im übrigen alle (positiven) Bedingungen für sein Eintreten erfüllt sind. Für die Definition der Kausalität des Unterlassens ist ein Kausalbegriff, der nur auf hinreichende Bedingungen abstellt, inhaltsleer383 . Dies läßt sich an den oben angeführten Beispielsfallen (4a) und (5) verdeutlichen. Der Nichtschwimmer, der gar nicht erst versucht, den Ertrinkenden unter Zuhilfenahme eines (unerkannt) defekten Bootes zu retten, setzt schon durch seine Untätigkeit eine hinreichende Bedingung dafür, daß der Erfolg nicht abgewendet werden kann. Desgleichen setzt der Vater im Beispielsfall (5) eine hinreichende Bedingung dafür, daß der Sohn nicht gerettet wird, auch wenn der Rettungsring gar nicht vorhanden war384 . Dennoch liegt in bei den Fällen keine Kausalität vor. Daß das Kriterium der Notwendigkeit bei der Kausalitätsfeststellung eine Rolle spielt, wird auch von den Anhängern des Subsumtionsverfahrens 385 für das Begehungsdelikt anerkanne 86 . Zwar verlangen sie nicht, daß die Einzelbedingung (das Handeln des Begehungstäters) für den Erfolg im Einzelfall schlechthin notwendig 383 Vgl. auch NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 105. Der Garant muß in der Lage sein, den Erfolg unter den gegebenen Bedingungen zu verhindern. Jemand, der sich in Deutschland aufhält, sei nicht für den Tod eines in London vom Gerüst stürzenden Bauarbeiters verantwortlich, weil er ihn nicht aufgefangen habe, weil zur störenden Bedingung noch gehöre, daß der Retter von dem Unglück weiß, sich am Unfallort befindet und den herabfallenden Körper auffangen kann. Dem ist zuzustimmen, nur kann nichts anderes gelten, wenn zur negativen Bedingung noch die Mitwirkung eines Dritten gehört (nur zwei Personen können den Körper auffangen, eine zweite Person steht aber nicht zur Verfügung). 384 Vgl. dazu auch Samson, StV 1991, 182 (185) mit dem Beispiel zweier Feuerwehrleute, die einen Brand nur durch ihr Zusammenwirken löschen können. Ähnlich auch Toepel, Kausalität, S. 74 f. (Fn. 96) 385 Anwendung des wissenschaftstheoretischen Erklärungsmodells auf die strafrechtliche Kausalitätsfeststellung. Dazu oben, Teil A I. 2. a) bb), 3.,4. a) - d). 386 Vgl. Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (865ff.); dies., JR 1992, 30 (32); NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 96; Hilgendorf, NStZ 1994,561 (565 f.); Hoyer, AT, S. 34ff. Dieses Modell wird zur Lösung der Gremiumsproblematik herangezogen von Neudecker, Kollegialorgane, S. 224; Scholl, Strarechtliche Verantwortlichkeit, S. 224 ff.; Weißer, Kollegialentscheidungen, S. 113ff.;Roxin, AT I, § 11 Rn. 18.
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
ist 387 . Bei den anzuwendenden Gesetzmäßigkeiten muß es sich aber nach ihrer Ansicht um Mindestbedingungen handeln, das heißt, die Gesetzmäßigkeiten müssen so formuliert sein, daß sie nur notwendige Bestandteile enthalten. Bei der Kausalfeststellung muß nun der wahre Sachverhalt unter diese Gesetzmäßigkeit subsumiert werden. Die Notwendigkeit muß also zumindest auf der Ebene der Gesetzmäßigkeit erhalten bleiben. Es genügt zur Feststellung der Kausalität eines Einzelverhaltens nicht, daß es zusammen mit den übrigen Bedingungen nur hinreichend ist. Daß das Verhalten des untätigen Garanten hinreichend für die Nichtabwendung des Erfolges ist, kann also kaum das maßgebliche Kriterium der Unterlassungskausalität sein. Es ist daher näher zu untersuchen, wie gesetzmäßige Bedingungen im Unterlassungsbereich zu festzustellen sind. bb) Anwendung der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung auf das Unterlassen
Ermittelt man die Unterlassungskausalität mit der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung, so stellt sich die Frage, wie Gesetzmäßigkeiten, welche die Grundlage des Kausalurteils im Einzelfall bilden, beim Unterlassen anzuwenden sind. Legt man der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung die aus der Wissenschaftstheorie stammende Theorie der kausalen Erklärung zugrunde, so ist Kausalitätsfeststellung nichts anderes als die Erklärung eines Sachverhaltes (Erfolg) aus dem Vorliegen solcher Antecendensbedingungen, die nach allgemeinen Regeln stets einem solchen Erfolg vorausgehen. Dieses Erklärungsmodell kann sowohl auf Sachverhalte angewandt werden, die der Vergangenheit angehören, als auch auf zukünftige oder fiktive (hypothetische) Sachverhalte 388 . Bezogen auf ein wirkliches Geschehen läßt sich also erklären, warum ein bestimmter Umstand eingetreten ist. Bezogen auf fiktives Geschehen läßt sich bestimmen, unter welchen Voraussetzungen ein bestimmter Umstand eintreten wird. Um die Erklärung eines wirklichen Geschehens geht es meistens 389 , wenn nach der Kausalität des aktiven Tuns gefragt wird. Hier sind die realen Voraussetzungen des tatsächlich vorliegenden Erfolges zu erforschen, um dann die Frage zu beantworten, ob das Verhalten (die Handlung) des Taters dazugehört hat. Anders ist es bei der Nichthinderung des Erfolges durch Unterlassen. Hier stellt sich die Frage, ob der Täter den Erfolg durch ein bestimmtes Verhalten nach den maßgeblichen Gesetzmäßigkeiten abgewendet hätte. Es geht hierbei nicht um die Anwendung der Gesetzmäßigkeiten auf einen realen Sachverhalt, sondern auf einen fiktiven oder hypothetischen Sachverhalt. Es geht ja um die Frage, wie sich 387 388 389
Zu diesem Ergebnis führt die strikte Anwendung der conditio-sine-qua-non-Forrnel. Vgl. dazu Schu/z. Lackner-FS 1987,39. Anders nur beim sog. Eingriff in den rettenden Kausalverlauf.
II. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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die Dinge entwickelt hätten, wenn anstelle der Unterlassung das pflichtgemäße Verhalten des Täters getreten wäre 390 . Will man Gesetzmäßigkeiten auf einen solchen fiktiven Sachverhalt anwenden, muß zunächst geklärt werden, aus welchen Tatsachen dieser fiktive Sachverhalt bestehen soll. Dies ist bei der Kausalitätsprüfung des Unterlassens dahingehend zu beantworten, daß mit Ausnahme des 1äterverhaltens nur der wahre Sachverhalt, die tatsächlich gegebenen Umstände zugrundegelegt werden dürfen. Das pflichtgemäße Eingreifen des Garanten ist die einzige Größe, die kontrafaktisch berücksichtigt werden darf. Im übrigen ist von den tatsächlich gegebenen Voraussetzungen des Einzelfalles auszugehen. Seine Berechtigung hat dieses Verständnis darin, daß dem Täter ja nur sein Fehlverhalten zum Vorwurf gemacht werden kann. Nur das, was aus der Verletzung seiner Verhaltenspflicht folgt (bzw. nicht folgt, obwohl es folgen sollte), ist sein Werk. Gegen diese Vorgabe verstößt man nun, wenn man in den Fällen kumulativ möglicher Erfolgsabwendung Kausalität auch dann bejaht, wenn ein Beteiligter wegen der mangelnden Mitwirkung anderer Rettungspflichtiger den Erfolg nicht abwenden kann. Die Kausalfeststellung beim Unterlassen hat dadurch zu erfolgen, daß man den vorliegenden wahren Sachverhalt unter alleiniger Fiktion des richtigen Täterverhaltens unter ein allgemeines Gesetz, formuliert als Mindestbedingung, subsumiert. Im Fall der Mehrheitentscheidung eines Gremiums über den Rückruf eines gefährlichen Produktes (vgl. Beispiel (1» führt dies zur Ablehnung der Kausalität des Einzelverhaltens. Nach den maßgeblichen Gesetzmäßigkeiten sind bei gegebenen Randbedingungen (z. B. Möglichkeit rechtzeitiger Umsetzung des Beschlusses) mindestens zwei Stimmen erforderlich um den Erfolg abzuwenden. Es liegt aber nur eine Stimme, nämlich die fiktive Ja- Stimme des Unterlassenden, vor, so daß nach den maßgeblichen Gesetzmäßigkeiten der Erfolg nicht abgewendet werden konnte. Bejaht man dennoch Kausalität, so beruht dies letztlich auf der Fiktion mindestens einer weiteren Stimme. Ein Kausalurteil darf aber beim Unterlassungsdelikt genausowenig auf eine Fiktion gegründet werden wie beim Begehungsdelikt, wo ja auch nur wahre Umstände dem Kausalurteil zugrundegelegt werden. Will man die Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung auch auf Unterlassungen anwenden, kann man nicht jede Unterlassung, die unter Umständen geeignet gewesen wäre, den Erfolg abzuwenden, als "negative Bedingung ,,391 ansehen und 390 Aus diesem Grund gibt es nach verbreiteter Ansicht bei Unterlassungsdelikten keine wirkliche Kausalität, sondern nur eine hypothetische Kausalität. Vgl. S/S/Stree, § 13 Rn. 61; NK-Seelmann, § 13 Rn. 57; LK-Jescheck, § 13 Rn. 17; Trändie, Vor § 13 Rn. 20; Jescheck/ Weigend, § 59 III 3. und 4.; Jakobs, AT, 29/15 ff. 391 Vgl. dazu Engisch, Kausalität, S. 27ff.; Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (895ff.); NKPuppe, Vor § 13 Rn. 105. Vgl. auch Maiwald, Kausalität, S. 78 ff.
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
genauso behandeln wie die positiven Bedingungen. Es ist zu berücksichtigen, daß die Abwendung eines Erfolges nicht nur auf einer einzelnen negativen Bedingung beruht. So wie beim Begehungsdelikt der Erfolg durch eine Vielzahl von Bedingungen - "Bedingungskomplex" - verursacht wird, ist beim Unterlassungsdelikt ebenfalls eine Mehrzahl von Einzelbedingungen erforderlich, die den Erfolg abwenden. Ist nun beim Begehungsdelikt der Täter kausal für den Erfolg, wenn sein Verhalten (aktives Tun) Teil des Bedingungskomplexes ist, der zum Erfolg führt, so ist er beim Unterlassen auch nur dann kausal, wenn nach den maßgeblichen Gesetzmäßigkeiten sein unterlassenes Verhalten Teil eines rettenden Bedingungskomplexes gewesen wäre. Die Lösung des Problems kumulativer Rettungskausalität ist damit kein Problem des Kausalitätsverständnisses oder des Kausalitätskriteriums (conditio-sine-qua-non-Formel oder Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung). Beide Theorien stehen bei der hier vorliegenden Konstellation vor dem Problem, daß abgesehen vom Täterverhalten die Voraussetzungen der Rettung gar nicht gegeben waren, eine Fallkonstellation in der die Erfolgszurechnug beim Unterlassungsdelikt abzulehnen ist. Die Lösung ist allein davon abhängig, welche Umstände man der Kausalitätsfeststellung zugrundelegt, ob man wie bei Begehungssachverhalten nur wahre Umstände berücksichtigt, oder ob man beim Unterlassungsdelikt das Fehlen sonstiger Rettungsvoraussetzungen ignoriert. Dabei führt dieses Ignorieren der fehlenden sonstigen Rettungsvoraussetzungen zu deren Fiktion bei der Kausalitätsfeststellung für das fragliche Einzelunterlassen. Auf eine solche Fiktion läuft auch die Begründung von Puppe im Segelbootfall (Beispiel (8» hinaus: "Wie bei der Verhinderung rettender Verläufe, ist auch beim Unterlassen das Verhalten eines anderen, das ebenfalIs Voraussetzung der Rettung wäre, nicht als kausalgesetzlieh bestimmt bzw. ausgeschlossen, bei der AufstelIung der gesetzmäßigen störenden Bedingungen des Erfolges einzubeziehen,,392.
Dabei bedeutet das "Einbeziehen" des Verhaltens des anderen Rettungspflichtigen für den Fall, daß dieser sich tatsächlich anders verhalten hat, eine Fiktion normgemäßen Verhaltens weiterer Rettungspflichtiger zu Lasten desjenigen, dessen Ursächlichkeit für den Erfolg festgestellt werden soll. Es wird nicht der wahre, sondern ein wünschenswerter Sachverhalt unter die maßgeblichen Gesetzmäßigkeiten subsumiert und so Unterlassenskausalität bejaht.
392 NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 109. Dagegen Dencker, Kausalität, S. 70,171; Samson, StV 1991, 182 (184f.); NK-Seelmann, § 13 Rn. 61a. Entsprechendes gilt für das gleichgelagerte Geschützbeispiel von Engisch, Kausalität, S. 30f.
11. Ursächlichkeit des EinzelverhaItens bei Unterlassen
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5. Die Sonderbehandlung von Rettungsgeschehen unter Beteiligung Dritter a) Der Zusammenhang zwischen kumulativer Kausalität von Unterlassungen und drittvermitteltem Rettungsgeschehen
Wie die bisherigen Untersuchungen gezeigt haben, ist eine Bejahung von Kausalität bei Unterlassungen mehrerer kumulativ Rettungspflichtiger nur dadurch möglich, daß eine Ausnahme von den sonst zur Ursachenfeststellung angewandten Regeln gemacht wird. Dies gilt unabhängig davon, ob man auf der Basis der conditio-sine-qua-non-Formel Mehrfachkausalität bejaht 393 , eine Entsprechung zur kumulativen Kausalität beim Begehungsdelikt anerkennt 394 , oder unter Anwendung der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung hinreichende Bedingungskomplexe ausreichen läßt 395 . Der Grund dieser Ausnahme liegt letztlich darin, daß es als unangemessen erscheint, die fehlende Rettungsmöglichkeit eines Beteiligten als Tatsache zu akzeptieren, wenn sie aus dem Fehlverhalten anderer Beteiligter resultiert 396 . Das Phänomen der Abhängigkeit einer Erfolgsabwendung von anderen Beteiligten taucht aber nicht nur bei gleichgeordneter (gleichzeitiger) Rettungsverpflichtung 397 auf, sondern auch bei sogenanntem drittvermittelten Rettungsgeschehen. Darunter sind solche Fälle zu verstehen, in denen zwei oder mehrere Personen nicht nebeneinander (gleichzeitig handelnd), sondern hintereinandergeschaltet einen Erfolg verhindern können 398 • Das ist der Fall wenn ein Garant zwar nicht selbst den Erfolg abwenden kann, aber die Möglichkeit hat, den Erfolg dadurch abzuwenden, daß er eine andere rettungs fähige Person informiert oder motiviert. Nach h.M. ist in diesen Fällen Kausalität des Unterlassens gegeben, wenn die gebotene Information oder Motivation der anderen Person zu deren Eingreifen geführt hätte und der Erfolg dadurch abgewendet worden wäre. Problematisch ist dabei, daß eine Hypothese darüber, was eine andere Person unternommen Dazu oben Teil A 11. 2. bb) (2). So BGHSt 37, 106 (131 f.). Dazu oben Teil A 11. 2. a). 395 Dazu oben Teil A 11.4. a) aal. Vgl. NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 108; Puppe, JR 1992,30 (32); Im Ergebnis ebenso Hilgerulorf, NStZ 1994,561 (565 f.). 396 Besonders deutlich in der Begründung BGHSt 37, 106 (131 f.). Dazu oben Teil A 11. 2. a). Ebenso bei NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 108; S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 83a; S/S/Stree, § 13 Rn. 61; SK-Rudolphi, Vor § 13 Rn. 16. 397 Im weiteren wird speziell diese Konstellation als "kumulative Unterlassungskausalität" oder "kumulative Erfolgsabwendung" bezeichnet, obwohl man auch bei drittvermitteltem Rettungsgeschehen von kumulativer Kausalität des UnterIassens sprechen könnte. Auch im letztgenannten Fall führen erst die nacheinandergeschaIteten Abwendungsbeiträge mehrerer Personen - kumulativ - zur Rettung des Rechtsguts. 398 V gl. Puppe, JR 1992, 30 (31 f.); NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 108 ff.; 100; SK-Rudolphi, Vor § 13 Rn. 16. 393 394
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
hätte, nur schwer möglich ist, da deren Verhalten nicht naturgesetzlieh determiniert ise 99 • Beispiel (9)400: Patientin P stirbt im Anschluß an eine Blinddarmoperation an einem unentdeckt gebliebenen Eiterherd unterhalb des Zwerchfells, einer sehr seltenen Komplikation. Dem sie betreuenden noch wenig erfahrenen Stationsarzt war es nicht möglich, die sehr selten auftretende Komplikation richtig zu diagnostizieren. Wegen der vorliegenden Symptome, die auf einen entzündlichen Prozeß hindeutenden, war es ihm aber geboten, den erfahreneren Oberarzt hinzuzuziehen, der den Eiterherd hätte erkennen und operativ entfernen können. Der Oberarzt hatte allerdings P im Rahmen einer Routinevisite ohne Zutun des Stationsarztes selbst untersucht und sich trotz der Symptomatik nicht veranlaßt gesehen, weitere Schritte zu unternehmen.
In diesem Fall bestehen also Zweifel daran, ob das von S zu veranlassende drittvermittelte Rettungsgeschehen den Erfolg verhindert hätte, weil aufgrund des Verhaltens des 0 Zweifel daran verbleiben, ob er bei eindringlicher Information durch seinen Stationsarzt die gebotenen weiteren Rettungsmaßnahmen ergriffen hätte. Für den BGH, dem dieser Sachverhalt zur Entscheidung vorlag, waren diese Zweifel Anlaß, die Kausalität des S für die Nichtabwendung des Erfolges zu vemeinen40I . Im Ergebnis führt also das mögliche Fehlverhalten eines zur Rettung nötigen Dritten zum Ausschluß der Kausalität für den Garanten, der diesen Dritten entgegen seiner Handlungspflicht nicht eingeschaltet hat. Dieses Ergebnis begründet der BGH unter strikter Anwendung der für das Unterlassungsdelikt abgewandelten conditio-sine-qua-non-Formel damit, daß das gebotene Verhalten des S hinzugedacht werden kann, ohne daß der Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit entfällt402 • Die Ähnlichkeit dieser Konstellation zu den Fällen kumulativ möglicher Erfolgsabwendung ist deutlich zu erkennen 403 . Jeweils ist die Rettung davon abhängig, daß mehrere Beteiligte zusammenwirken, das eine mal gleichzeitig, das andere mal nacheinander. Vergleicht man die Lösungen des BGH für den Fall drittvermittelten Rettungsgeschehens 404 mit der Ledersprayentscheidung405 , so muß man fragen, weshalb sich der Stationsarzt auf das nicht auszuschließende Fehlverhalten des Oberarztes berufen darf, dem einzelnen Geschäftsführer eines Geschäftsleitungsgremiums aber der Einwand abgeschnitten wird, er sei wegen des möglichen Fehlverhaltens seiner Kollegen mit der ihm gebotenen Handlung zur Erfolgsabwendung außerstande gewesen406 . Es handelt sich um ein Problem psychischer Kausalität. Dazu oben Teil A I. 4. d). Nach BGH NStZ 1986,217. 401 BGH NStZ 1986,217. Zustimmend Ranft, JZ 1987,859 (863f.) 402 Vgl. auch BGH StV 1985,229 mit zustimmender Anmerkung von Schünemann. Ebenfalls zustimmend Ranft, JZ 1987, 859 (862). 403 Vgl. NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 109; SK-Rudolphi, Vor § 13 Rn. 16b. 404 BGH NStZ 1986,217. 405 BGHSt 37,106 (I26ff.). 399
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11. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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Die Diskrepanz der Entscheidungen läßt sich dadurch auflösen, daß auch in den Fällen drittvermittelten Rettungsverhaltens ein gegebenes oder mögliches Fehlverhalten eines weiteren Beteiligten nicht zugunsten des Garanten berücksichtigt wird, der seinen Beitrag zur Rettung nicht leistet. Dafür bietet sich zunächst die Risikoerhöhungslehre an, die für die Zurechnung des Erfolges beim Unterlassungsdelikt grundsätzlich darauf abstellt, ob der Tater durch seine Untätigkeit pflichtwidrig das Risiko des Erfolgseintritts erhöht hat, d. h. durch sein Verhalten die Chance einer Erfolgsabwendung verringert hat. Auf die Risikoerhöhungslehre als Lösungsansatz für das hier vorliegende Problem wird noch näher einzugehen sein 407 . Es ist jedoch auch ohne grundsätzliche Anerkennug der Risikoerhöhungslehre denkbar, besondere Regelungen für Erfolgsabwendungen unter Drittbeteiligung zu entwickeln. b) Die Ansicht von Puppe408 Nach Ansicht von Puppe liegt das Problem drittvermittelten Rettungsgeschehens darin, daß über das Verhalten des Dritten, der vom unterlassenden Garanten einzuschalten war, mangels Determiniertheit menschlichen Verhaltens keine Ausagen gemacht werden können. Die Frage, ob bei richtigem Verhalten des Garanten der Erfolg abgewendet worden wäre, die Rettung des Opfers erfolgt wäre, sei demzufolge gar nicht beantwortbar. Puppe differenziert zwischen den Fällen, in denen der Garant einen anderen zu informieren hatte, also erst die Voraussetzung für eine durch ihn erfolgende Rettung zu schaffen waren, und solchen Fällen, in denen der Garant einen bereits informierten Retter zu motivieren hatte. Im ersten Fall sei nur darauf abzustellen, daß der Unterlassende dadurch, daß er den Dritten nicht eingeschaltet hat, jedenfalls eine hinreichende Bedingung dafür gesetzt hat, daß die Rettung durch den Dritten nicht erfolgen konnte409 . Im zweiten Fall sei eine Zurechnung nach Wahrscheinlichkeitsgesetzen vorzunehmen, wobei es ausreiche, wenn bei Vornahme der 406 Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Fehlverhalten der anderen Beteiligten feststeht, oder nur nicht auszuschließen ist. Dem BGH lagen in beiden Fällen Sachverhalte vor, in denen das Fehlverhalten der anderen nicht auszuschließen war, so daß er in dubio pro reo von einem solchen Fehlverhalten auszugehen hatte. Die Anwendung des Zweifelsgrundsatzes beruht aber selbstredend darauf, daß nach dem Verständnis der Unterlassungskausalität eine Ursachenbeziehung nur anzunehmen ist, wenn die geforderte Handlung den Erfolg nach Lage der Dinge abgewendet hätte, wenn es also auf das wirkliche Vorliegen der übrigen Rettungsvoraussetzungen ankommt. 407 Dazu unten Teil A 11. 7. 408 Vgl. Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (906ff.); NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 119. Ihrem Ansatz folgend Sofos, Mehrfachkausalität, S. 234 ff., 263. 409 Vgl. Puppe, ZStW 92 (1980), 863 (907); NK-Puppe, Vor § 13 Rn. \19. Ähnlich SKRudolphi, vor § 13 Rn. 16b. Kausalität ist nur zu verneinen, wenn feststeht, daß der Dritte, dessen Hilfeleistung erforderlich wäre, das pflichtgemäße Eingreifen ablehnt.
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
erforderlichen Handlung eine geringere Wahrscheinlichkeit für den Erfolgseintritt bestanden hätte41O • Puppe widerspricht damit der Entscheidung des BG~lI (vgl Beispiel (9)) und kommt in allen Fällen, in denen zur Erfolgsabwendung mehrere Beteiligte nötig sind, zu dem Ergebnis, daß eine Zurechnung unabhängig vom tatsächlich festgestellten oder sicher zu prognostizierenden Verhalten weiterer Beteiligter möglich ist, und zwar auch dann, wenn deren Mitwirkung nach den maßgeblichen Gesetzmäßigkeiten zur Erfolgsabwendung erforderlich ist.
c) Der von Kahlo 412 vorgeschlagene Lösungsweg
Kahlo nimmt den eben dargestellten Fall (Beispiel (9)) zum Anlaß, die Zurechnung des Erfolges bei unechten Unterlassungsdelikten genauer zu untersuchen. Seiner Ansicht nach kann der Zurechnungszusammenhang beim Unterlassen nicht als Kausalität bezeichnet werden. Gleichwohl könne aber von einem Bewirken durch Unterlassen gesprochen werden. In den Fällen der Unterlassung treffe der einzelne auf Verhältnisse, in denen ihm ein anderer nicht als Unabhängiger, sondern als ein in den Grundlagen seiner Selbständigkeit Genihrdeter begegne. Diese Verhältnisse könne man als Abhängigkeitsverhältnisse bezeichnen, die dadurch ausgezeichnet seien, daß der Abhängige sich nicht selbst helfen könne und zugleich die Situation auf einen ganz bestimmten anderen verweise, der aus besonderem Grund für die Abwendung der Gefahr und gleichzeitig zur Ermöglichung, Erhaltung und Wiederherstellung fremder Selbständigkeit zuständig sei. Unter der Voraussetzung eines solchen Näheverhältnisses sei die Wirklichkeit des Opfers nicht etwa durch das bedrohliche Kausalgeschehen naturgesetzlich festgelegt, sondern entscheidend durch die mit dem anderen anwesende Rettungschance mitgeprägt. Die Nichtwahrnehmung der Rettungschance verändere die auf Rettung angelegte Wirklichkeit und sei aus diesem Aspekt, ohne Naturkausalität zu sein, ein echtes Bewirken. Bei der Frage der Erfolgszurechnug stehe folglich die Frage im Vordergrund, ob es der untätige Garant dem Opfer zum Schlechten wende, und diese Frage lasse sich nur mit Blick darauf beantworten, wie die Wirklichkeit des Opfers bei Vornahme der gebotenen Tätigkeit beschaffen gewesen wäre413 • 410 NK-Puppe. Vor § 13 Rn. 120. Anders noch Puppe. ZStW 92 (1980), 863 (907). - Fehlendes Motivieren ist wie fehlendes Informieren zu behandeln. Jeweils wird normgemäßes Verhalten des Dritten fingiert. Zur Zurechnung nach Wahrscheinlichkeitsregeln vgl. auch Hilgendoif, Jura 1995, 514 (518 ff.); Kindhäuser; GA 1982,477 (480 ff.). 411 BGH NStZ 1986,217. 412 Kahlo. GA 1987,66. Ebenso Köhler; AT, S. 228. m Kahlo, GA 1987,66 (71 f.).
H. Ursächlichkeit des EinzelverhaItens bei Unterlassen
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Im Ausgangspunkt kommt Kahlo damit zum gleichen Maßstab wie die conditiosine-qua-non-Formel, die er im Grundsatz als richtiges Verfahren zur Ermittlung des Zurechnungszusammenhangs beim Unterlassungsdelikt anerkennt414 . Um feststellen zu können, ob die Unterlassung es dem Opfer wirklich zum Schlechten gewendet hat, sei das gesamte hypothetische Geschehen auf der Grundlage aller verwirklichten Umstände unter Hinzudenken der Erfolgsabwendungsmöglichkeit mit Hilfe der bekannten Kausalgesetze zu ermitteln. Zeige sich dabei, daß die Rettungswirkung der gebotenen Rettungshandlung wegen verbleibender Zweifel an verwirklichten Bedingungen ("Antezedentien") oder wegen Mangels an allgemeinem Erfahrungswissen (d. h. unzureichender Kenntnis von Kausalgesetzen) letztlich nicht sicher aufzuklären sei, so müsse davon ausgegangen werden, daß der Entzug einer realen Rettungschance nicht vorgelegen habe. Im Grundsatz deckt sich also die Auffassung von Kahlo mit der hier vertretenen Ansicht zur Kausalität der Unterlassung mit dem alleinigen Unterschied, daß er diesen Zusammenhang weder als echte Kausalität noch als Quasikausalität bezeichnen will. Eine grundsätzlich andere Beurteilung der Zurechnung ergibt sich seiner Ansicht nach aber dann, wenn ein hypothetisches Rettungsgeschehen über einen fremden freien Willen verlaufe. In diesem Bereich seien wegen der Autonomie des Dritten kategorial nur Möglichkeitsurteile denkbar, weil der Wille des Dritten eine "Wirklichkeit von eigener Qualität darstelle", die gerade nicht durch das Kausalprinzip, sondern durch Freiheit bestimmt sei. Hier soll es nun zur Erfolgszurechnung ausreichen, daß der Unterlassende dem Opfer die in der autonomen Entscheidung des Dritten liegende Rettungschance genommen hat. Diese Argumentation ist der Begründung von PUppe415 für die MehrfachkausaIität des Unterlassens und das drittvermittelte Rettungsgeschehen sehr ähnlich. Jeweils soll die Unmöglichkeit, für menschliches Verhalten deterministische Gesetzmäßigkeiten angeben zu können, zu einer Korrektur der Zurechnungsvoraussetzungen zu Lasten des Taters führen. d) Kritik
Nach den soeben dargestellten Ansichten soll die Sonderbehandlung von Erfolgsabwendungen unter Drittbeteiligung auf der lndeterminiertheit menschlichen Verhaltens beruhen, die eine sichere Aussage über die von Dritten (mit-)abhängige Rettung unmöglich macht. Diese Argumentation betrifft also Fälle, in denen die Untersuchung der Erfolgsabwendungsmöglichkeiten des Unterlassenden zu der Erkenntnis führt, daß eine Rettung des Opfers unter Drittbeteiligigung nur denkbar, nicht aber sicher prognostizierbar war. Die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit der Erfolgsvermeidung läßt sich nicht feststellen. 414
415
Kahlo. GA 1987, 66 (72 0. Vgl. NK-Puppe. Vor § 13 Rn. 108.
9 Schaal
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
Da der Unterlassende das Seinige zur Rettung nicht beigetragen hat, waren auch die anderen Beteiligten nicht real vor die Situation gestellt, sich für oder gegen die Mitwirkung zu entscheiden. So lag es bei den Sachverhalten der Lederspray-Entscheidung416 und des Blinddarrn-Falls417 (Beispiel (9)). Im ersten Fall hatte kein Geschäftsführer die Initiative ergriffen, um eine Rückrufentscheidung herbeizuführen, so daß die anderen nicht real vor die Entscheidung dafür oder dagegen gestellt waren. Im zweiten Fall war der Oberarzt nicht mit der Schilderung der besorgniserregenden Symptomatik der Patientin durch seinen Stationsarzt konfrontiert. Fragt man in diesen Fällen danach, ob eine Erfolgsabwendung durch den Unterlassenden möglich war, steht man jeweils vor dem Problem, eine Aussage über das zukünftige Verhalten eines Dritten machen zu müssen. Und es ist auch richtig, daß hier im Vergleich zur Prognose naturkausaler Abläufe418 besondere Probleme auftauchen. Es stellt sich nicht nur die Frage, ob dem Dritten die Handlung möglich war, sondern auch, ob er Willens war, sie vorzunehmen. Und gerade zur Beantwortung der letzten Frage stehen keine (deterministischen) Gesetzmäßigkeiten zur Verfügung 419 • Ist also der oben dargestellten Ansicht in der Analyse grundsätzlich zuzustimmen, so begegnet die vorgeschlagene Lösung grundsätzlichen Bedenken. Denn diese Lösung besteht schlicht darin, ein Zurechnungskriterium, das ansonsten als gerecht und richtig angesehen wird, einfach aufzugeben, wenn es die gewünschten Ergebnisse nicht liefern kann. Dies kommt besonders deutlich bei Kahlo420 zum Ausdruck. Im Grundsatz geht er davon aus, daß der Strafgrund des Erfolgsdelikts durch Unterlassen darin bestehe, daß der unterlassende Garant es dem Opfer zum Schlechten gewendet habe. Dies sei nur der Fall, wenn die Situation des Opfer tatsächlich auf Rettung angelegt gewesen sei, wenn bei Vornahme der gebotenen Handlung der Erfolg entfallen wäre. Unsicherheiten bei der Prognose des hypothetischen Verlaufs des Rettungsgeschehens wirken grundsätzlich zugunsten des Unterlassenden 421 • Wird nun für einen ganzen Bereich festgestellt, daß dieser Maßstab Erfolgszurechnung nicht ermöglicht, weil hier "kategorial nur Möglichkeitsurteile denkbar" sind, so müßte die Konsequenz lauten, Zurechnung ,,kategorial" zu verneinen. 416 BGHSt 37, 106, (l30f.). Das Urteil befaßt sich insoweit mit Schadensfällen, die vor der gemeinsamen Geschäftsführersitzung der Unternehmensleitung hätten verhindert werden müssen. Eine Abstimmung lag nicht vor. 417 BGH NStZ 1986,207. 418 Dieser Begriff soll als Sammelbegriff alle Verläufe umfassen, in denen menschliches Verhalten keine Rolle spielt. 419 Vgl. dazu schon oben Teil A I. 4.) d) - psychische Kausalität. Siehe dazu auch Dtto. AT, § 6 Rn. 37; ders .• Jura 1992, 90 (94 f.); Schulz. Lackner-FS 1987. 39 (45 ff.); Bernsmann. ARSP 1982, 536ff.; S/S/Lenckner. Vor § 13 Rn. 75 m. w. N. 420 GA 1987, 66 (73, 76 f.). 421 Kahlo. GA 1987,66 (76f.).
II. Ursächlichkeit des EinzelverhaItens bei Unterlassen
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Selbst wenn man dies nicht will, müßte man dann neue Zurechnungsregeln entwikkein, die in ihrer Qualität der grundsätzlichen Bewertung der Unterlassenszurechnung nahe kämen. Eine partielle Aufuebung des sonst als angemessen dargestellten Kriteriums genügt keinesfalls. Die Auffassung von Kahlo entspricht einer partiellen Anwendung der Risikoerhöhungslehre und überzeugt gerade deshalb nicht, weil sie Risikoerhöhung nicht als grundsätzliche Position anerkennt, sondern als Korrekturmaßstab einsetzt, wo der grundsätzlich anerkannte Zurechnungsmaßstab versagt422 . Die Frage, ob die von ihm vertretene Konzeption von der drittvermittelten Erfolgsabwendung auf die kumulative Erfolgsabwendung übertragen werden kann, wird dadurch hinfällig. Gegen die Auffassung Puppes 423 ist zunächst die Differenzierung zwischen Fällen fehlender Information und fehlender Motivation des Dritten einzuwenden 424 . Bei fehlender Information, soll schon der Umstand ausreichen, daß das Unterlassen hinreichend für die Nichtrettung war. Der Versuch Rettungskausalität mittels hinreichender Bedingungen zu erfassen, ist jedoch abzulehnen, denn jedes Unterlassen ist hinreichend dafür, einen bereits perfekt bedingten Erfolg eintreten zu lassen. Darüber hinaus geht auch Puppe grundsätzlich davon aus, daß eine "negative Bedingung" des Erfolges nur dann vorliegt, wenn alle Vorausetzungen, die der Garant zu erfüllen hatte, zusammen mit den gegebenen Bedingungen nach allgemeinen Grundsätzen den Erfolg verhindert hätten 425 . Dieser Ausgangspunkt schließt die Annahme, eine nur hinreichende Einzelbedingung sei kausal, aus. Der Vorschlag, bei fehlender Motivation des zur Rettung erforderlichen Dritten auf eine Erhöhung der Rettungswahrscheinlichkeit abzustellen, stellt eine Integration der Risikoerhöhungslehre in den Kausalbegriff dar. Das beruht nicht darauf, daß überhaupt mit Wahrscheinlichkeitsgesetzen operiert wird. In den Fällen, in denen die Erfolgsabwendungsmöglichkeit von zukünftigem Verhalten anderer Beteiligter abhängt, ist eine Verlaufsprognose mit absoluter Sicherheit mangels determinierter Abläufe gar nicht möglich. Beim Arbeiten mit Wahrscheinlichkeiten stellt sich aber die Frage, ob man an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit verlangt, oder nur eine gewisse Erhöhung des Wahrscheinlichkeitsgrades. Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob man grundsätzlich Risikoerhöhungen als Zurechnungsbasis ausreichen lassen will. Darauf wird bei der Behandlung der Risikoerhöhungslehre einzugehen sein 426 . 422 423 424
men. 425
426
9·
Kritisch auch Dencker, Kausalität, S. 70 (Fn. 134). Vgl soeben unter b). Diese Differenzierung wird von Puppe in ZStW 92 (1980), 863 (907) nicht vorgenomPuppe, ZStW 92 (1980), 863 (899 ff.); NK-Puppe, § 13 Rn. 105. Siehe dazu unten Teil A II. 7.
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
Ein weiterer Einwand richtet sich gegen die Prämissen der oben dargestellten Ansichten von Puppe und Kahlo, soweit sie es grundsätzlich für unmöglich halten, Verlaufsprognosen abzugeben, wenn in diese (indeterminiertes) menschliches Verhalten einzubeziehen ist. Diese Problematik taucht aber nur dann auf, wenn das Verhalten anderer Beteiligter rein hypothetisch zu berücksichtigen ist. Nur wenn die weiteren Beteiligten wegen des Verhaltens des unterlassenden Garanten gar nicht mit der Situation konfrontiert waren, sich für oder gegen die Mitwirkung an der Rettung zu entscheiden, stellt sich die Frage, wie sie sich verhalten hätten. Dies ist mangels hinreichend sicherer Aussagen über gesetzmäßige Abläufe bei menschlichem Verhalten sehr schwierig. Insoweit hat man es dann mit dem Problem der Indeterminiertheit menschlichen Verhaltens zu tun. Es gibt aber auch Fälle drittvermittelter Erfolgsabwendungmöglichkeit, in denen trotz grundsätzlicher Indeterminiertheit menschlichen Verhaltens im Einzelfall Aussagen über das Verhalten der weiteren Rettungspflichtigen gemacht werden können 427 . Beispiel (10): Hier sei der Sachverhalt des Blinddarmfalles (oben Beispiel (9» dahingehend abgewandelt, daß dem Oberarzt, trotz des Versagens des Stationarztes, der Zustand der Patientin in aller Deutlichkeit zur Kenntnis gebracht wurde (z. B. durch einen anderen Arzt oder eine besorgte Krankenschwester) und er dennoch keine Maßnahmen zu Rettung der Patientin einleitete 428 .
In diesem Fall steht man nun bei der Prognose einer Erfolgsabwendung durch pflichtgemäßes Verhalten des Stationsarztes nicht vor dem Problem, daß wegen der prinzipiellen Indeterminiertheit des Verhaltens des Oberarztes eine Ausage über die Erfolgsabwendungsmöglichkeit seitens des Stationsarztes nicht gemacht werden kann. Vielmehr verfügt man aufgrund der vorliegenden Umstände über ein besonderes Wissen bezüglich der Fähigkeiten bzw. der Sorgfalt des konkret einzuschaltetenden Oberarztes, die eine recht sichere Prognose für den Fall erlauben, daß auch noch der Stationsarzt auf die Situation hingewiesen hätte. Dem Stationsarzt ist nur anzulasten, daß er U.U. durch wiederholte Information des Oberarztes diesen doch noch zu weiteren Maßnahmen hätte veranlassen können. Eine in Anbetracht des vorliegenden Sachverhalt minimale Chance, die auch nur dann begründbar ist, wenn man unterstellt, daß das Versagen des Oberarztes auf Nachlässigkeit und nicht auf Unkenntnis beruhte. Dasselbe gilt nun auch für die Fälle kumulativer Erfolgsabwendungsmöglichkeiten gleichzeitig handlungspflichtiger Garanten. Auch hier gibt es Konstellationen, Vgl. dazu Dencker, Kausalität, S. 70 ff., 171. Vgl. insoweit auch die Erwägungen in BGH NStZ 1986,217, zur Frage ob diefehlende Benachrichtigung des Stationsarztes kausal für das Versäumnis des Oberarztes war, oder ob eine vom Verhalten des Stationsarztes unabhägige Nachlässigkeit des Oberarztes feststellbar war. 427 428
II. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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in denen man das Verhalten der weiteren Retter nicht prognostizieren muß, sondern aufgrund des vorliegenden Sachverhaltes Aussagen darüber machen kann. Weiß man zum Beispiel, daß in einem Dreiergremium niemand für einen in Frage stehenden Rückruf gestimmt hat, so stellt sich die Frage nach der Indeterminiertheit des Verhaltens der Beteiligten gar nicht, sie haben sich ja in einer bestimmten Art und Weise tatsächlich verhalten. In dieser Konstellation kann man dann dem Einzelnen nicht vorwerfen, er hätte möglicherweise durch sein Unterlassen eine indeterminierte Rettungschance verhindert, weil ja bekannt ist, daß die Chance, wegen der tatsächlich vorliegenden Verweigerung der anderen, gar nicht bestand429 . Hier kommt Unterlassungskausalität nur dann in Betracht, wenn es konkrete Anhaltspunkte für ein Umschwenken der anderen gab, falls einer sich für die Rettung einsetzte43o. Das tatsächliche Verhalten - alle waren untätig - bildet aber ein starkes Indiz dagegen und ermöglicht es, die Erfolgsabwendungsmöglichkeit mit "an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu verneinen". Es verbleibt lediglich ein "Restzweifel" an der Unmöglichkeit, den Erfolg abzuwenden. Will man in einem solchen Fall dennoch eine Zurechnung des Erfolges bejahen, so kann man die dazu erforderliche Ausnahme nicht mit der gesonderten Behandlung indeterminierter Vorraussagen bei menschlichem Verhalten begründen, wie dies bei dritt vermitteltem Rettungsgeschehen vertreten wird. Vielmehr liegt eine normative Korrektur des Tatsachenmaterials vor, das der Anwendung der maßgeblichen Gesetzmäßigkeiten zugrundegelegt wird431 . Das Fehlverhalten der anderen Beteiligten wird ignoriert und normgemäßes Verhalten wird fingiert, weil die Tatsachen nicht den rechtlichen Erwartungen an die anderen Beteiligten entsprechen 432 . Dem Täter wird indirekt eine Rettungsmöglichkeit zur Last gelegt, die tatsächlich nie bestand.
6. Unterlassenskausalität und Garantenpflicht Die Problematik der Erfolgszurechnung bei kumulativ möglicher Erfolgsabwendung durch mehrere Garanten wurde bisher als ein Problem der Kausalität oder Quasikausalität des Unterlassens angesehen. Teilweise wird die damit verbundene Problematik aber auch als Frage der Garantenpflicht behandelt433 • 429 Vgl. dazu Ransiek. Untemehmensstrafrecht, S. 74. S. auch SK-Rudolphi. Vor § 13 Rn. 16b, zu dem Fall, daß ein zur Rettung nötiger Ditter sein Eingreifen pflichtwidrig ablehnt. 430 Samson. StV 1991. 182 (185) will auf die Entmutigung der Mitgaranten abstellen, mit denen sich der einzelne Geschäftsführer, der seinen Unwillen demonstriert, selbst rettungsunflihig mache. Vergleichbar wäre auch eine unterlassene Ermutigung der anderen zur Vornahme der Rettungsmaßnahme konstruierbar. Seide Lösungen kranken an der spekulativen Kausalitätsfeststellung. 431 So aber NK-Puppe. Vor § 13 Rn. 108; Sofos. Mehrfachkausalität, S. 245 ff. (263). 432 So ausdrücklich Sofos. Mehrfachkausalität, S. 263. Dagegen zu Recht Samson. StV 1991.182 (185); NK-Seelmann. § 13 Rn. 61a; Dencker, Kausalität, S. 70ff. 171.
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
Auch nach der Ansicht von Puppe ist die Frage, ob der Garant überhaupt die Möglichkeit hatte, den Erfolg zu verhindern, von der Kausalitätsfrage zu trennen und als Problem der Garantenpflicht zu behande1n 434 . Nachdem Puppe zunächst ausführlich begründet, daß bei Unterlassungen kumulativ zur Rettung verpflichteter Garanten jeder einzelne kausal für den Erfolg sei, geht sie auf den Widerspruch ihrer Ansicht zur h.M. ein, derzufolge eine Garantenpflicht nur bestehe, wenn der Unterlassende die Möglichkeit hatte, den Erfolg zu verhindern435 . Die Zuordnung der Erfolgsvermeidemöglichkeit zur Garantenpflicht und die Abtrennung von der Kausalitätsfrage erscheint aber gerade nach Ansicht der h.M. problematisch. Die Frage, ob der Unterlassende mit der ihm möglichen Handlung den Erfolg abwenden konnte, wird ganz überwiegend als Frage der Kausalität bzw. der Quasikausalität des Unterlassens behandelt 436 . Dies wird besonders deutlich, wenn die Unterlassenskausalität mit der abgewandelten conditio-sine-quanon-Formel festgestellt wird. Kausalität ist dann zu bejahen, wenn das geforderte Tun nicht hinzugedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfallt. Damit ist die Frage, ob der Garant die Möglichkeit hatte, den Erfolg zu verhindern identisch mit der Kausalitätsfeststellung. Puppe will dagegen die Frage der Erfolgsabwendungsmöglichkeit von der Kausalitätsfrage trennen und im Rahmen der Garantenpflicht behandeln. Hier sei es dann eine Aufgabe der Dogmatik der Unterlassungsdelikte, differenzierte Regeln für die Voraussetzung einer Garantenpflicht zu entwickeln. Dieser Ansatz ist jedoch abzulehnen. Er läuft darauf hinaus, das Kriterium der Kausalität der Unterlassung durch den Verzicht auf das Vermeidbarkeitskriterium zunächst auszuhöhlen, um dann unter dem Gesichtspunkt der Garantenpflicht "differenzierte Regeln" zu entwikeln. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß Puppe die Konsequenzen ihres eigenen weiten Kausalitätsverständnisses scheut und daher ein weiteres Korrektiv einführen will, um mißliebige Konseqenzen in einzelnen Fällen korrigieren zu können. Es stellt sich die Frage, welchen Wert die Ausführungen zur Bejahung von Kausalität bei kumulativer Erfolgsabwendung haben, wenn die Entscheidung über die Verantwortlichkeit des Täters 433 So z. B. Samson, StV 1991, 182 (l84ff.), der aber den Maßstab der h.M. für die (Quasi-)Kausalität des Unterlassens zugrundelegt, so daß nur eine terminologische Abweichung vorliegt. 434 NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 100; Puppe, JR 1992, 30 (32). Ihr folgend Sofos, Mehrfachkausalität, S. 222 ff. m Vgl. NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 110; dies., JR 1992,30 (33). Für die Einordnung der Vermeidbarkeit bei der Garantenpflicht: Samson, StV 1991, 182 (184 f.); Dencker, Kausalität, S.170. 436 BGHSt 37, 106 (l26ff.); BGH NStZ 1985, 26; BGH StV 1984, 247; Baumannl WeberlMitsch, AT § 15 Rn 22ff.; Gropp, AT, § 11 Rn. 7Iff.; Kühl, AT, § 18 Rn. 8, 35ff.; Wesseis, AT, Rn. 711 ff.; JeschecklWeigend, AT, § 59 III; LacknerlKühl, Vor § 13 RN. 12; Tröndle, Vor § 13 Rn. 20; NK-Seelmann, § 13 Rn. 57, 61a; LK-Jescheck, § 13 Rn. 15ff.; SI SI Lenckner, Vor § 13 Rn. 71; SI S I Stree, § 13 Rn. 61; Tröndle, Vor § 13 Rn. 20; Lackner I Kühl, Vor § 13 Rn. 12.
H. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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dann doch erst bei dem Kriterium der Garantenpflicht fallen soll, wo differenzierte Regeln nach Aussage von Puppe erst noch zu entwickeln sind437 . Bei der Einordnung der Problematik ist daher der h.M. zu folgen. Daß der Garant die Möglichkeit hatte, den Erfolg zu verhindern, ist eine Frage der Erfolgszurechnung, d. h. der Kausalität oder Quasikausalität des Unterlassens. Nur wenn die von ihm geforderte Handlung den Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit abgewendet hätte, ist Ursächlichkeit zu bejahen und der Erfolg dem Täter zuzurechnen. Daß diese Verortung des Problems richtig ist, zeigt sich dann, wenn man danach fragt, wie man eine Aussage über die Möglichkeit der Erfolgsabwendung machen kann. Dies ist nur durch Rückgriff auf die geltenden Gesetzmäßigkeiten, also durch Kausalaussagen möglich. Daß eine Behandlung der Erfolgsabwendungsmöglichkeit bei der Garantenpflicht kein gangbarer Weg ist, zeigt auch ein Vergleich mit den Fällen des Abbruchs rettender Kausalverläufe beim Begehungsdelikt438 . Die Kausalfeststellung ist hier in ihrer Struktur der Kausalität des Unterlassens sehr ähnlich. Beispiel (11)439: In einer abgelegenen Station im tropischen Regenwald ist ein gefährliches Fieber ausgebrochen. Rettung kann nur durch ein Serum erfolgen, das mit einem bereitstehenden Transportflugzeug zu der Station gebracht werden müßte. Der Arzt A verfügt über dieses Serum und ist auch als Garant dafür zuständig, daß das Serum zu der Station gebracht wird. Variante (1): Der Arzt unterläßt es, das Serum an Bord des Flugzeugs zu bringen, so daß es die Station nicht erreicht. Variante (2): Der Arzt läßt das Serum an Bord des Flugzeuges bringen, wo es von einem unachtsamen Verladearbeiter zerstört wird. In der Folge sterben zahlreiche Menschen in der Urwaldstation, die durch Anwendung des Serums sicher hätten gerettet werden können. Die bei den Fallvarianten unterscheiden sich darin, daß einmal ein Unterlassen, das andere mal die Unterbrechung eines rettenden Kausalverlaufs in Frage steht. Trotzdem bestehen jeweils strukturgleiche Probleme bei der Frage der Kausalität des Täterverhaltens für den Erfolg. Im Unterlassungsfall - Variante (I) - stellt sich die Frage, ob der Arzt durch pflichtgemäßes Verhalten den Erfolg abwenden konnte. Im Begehungsfall - Variante (2) - ist zu fragen, ob der Verladearbeiter den Erfolg durch Abbruch eines rettenden Kausalverlaufs verursacht hat. Beide Konstellationen sind insoweit deckungsgleich, als zu untersuchen ist, ob das Fehlen des Serums an Bord des Fluzeugs als Ursache für den Tod der Kranken Vgl. NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 109f. Vgl. dazu SI SILenckner. Vor § 13 Rn. 71; leseheck, AT, 4. Aufl. 1988, S. 250. 439 Frei nach Samson, Kausalverläufe, S. 94. Dazu auch BaumannlWeberlMitsch, § 14 Rn. 23; Puppe, ZStW 92 (1980),863 (903 ff.). 437
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in der Urwaldstation anzusehen ist. Der Unterschied besteht nur darin, daß das Fehlen des Serums einmal auf einem Unterlassen, das andere mal auf aktivem Tun beruht. Die Frage, ob durch das an Bord befindliche Serum die Rettung der Erkrankten überhaupt möglich war, stellt sich in bei den Fällen gleichermaßen. Hier sind nun Fälle denkbar, in denen die Rettung aus unterschiedlichen Gründen unmöglich ist. So kann beispielsweise an Bord des Flugzeugs eine zur Lagerung des Serums erforderliche Kühleinrichtung fehlen, weshalb das Serum mit Sicherheit verdorben wäre und eine Rettungschance in keinem Fall bestand. In diesem Fall ist Kausalität sowohl für den unterlassenden Garanten, wie auch für den abbrechenden Begehungstäter zu verneinen, weil die Voraussetzungen eines Rettungssachverhaltes schon ohne Berücksichtigung des Taterverhaltens nicht gegeben waren. Das Fehlen der Rettungsvoraussetzungen kann nun aber in beiden Fallkonstellationen (Tun oder Unterlassen) auch auf dem Versagen eines Dritten beruhen, dessen Mitwirkung zur Rettung erforderlich ist. So z. B. wenn der Pilot des Rettungsflugzeuges aus Angst vor Ansteckung die Station pflichtwidrig nicht angeflogen hat und so die Rettung mit dem Serum unmöglich wurde. Ein vergleichbarer Sachverhalt läßt sich auch für die problematischen Gremiumssachverhalte bilden. Beispiel (12): An der Spitze eines Unternehmens stehen die Geschäftsführer A, Bund C, die nach dem Mehrheitsprinzip Entscheidungen treffen. Dabei ist das Unternehmen so organisiert, daß die laufenden Geschäfte von einem Betriebsleiter T geführt werden, der nur bei wichtigen Fragen die Geschäftsführer einzuschalten hat. Als nun der Verdacht auftaucht, daß ein Produkt des Unternehmens Gesundheitsschäden verursacht, sieht er sich genötigt, eine Geschäftsführersitzung anzuberaumen. Aus vorangegangenen Gesprächen weiß er, daß A und B gegen einen Rückruf sind, während C diesen für erforderlich hält. Da er selbst den Rückruf vermeiden will, sorgt er dafür, daß die Einladung des C "verlorengeht". Er hofft, daß ohne den ,,Bedenkenträger" C eine Rückrufentscheidung nicht zustande kommt und der vor vollendete Tatsachen gestellte C nachgeben wird, zumindest aber vor dessen Eingreifen noch erhebliche Mengen des Produkts abgesetzt werden. A und B kommen zu der Entscheidung, daß trotz der vorliegenden Verdachtsmomente für eine gesundheitsschädliche Wirkung des Produkts ein Rückruf noch nicht erforderlich ist.
Das Verhalten des T ist in dieser Fallkonstellation unter dem Gesichtspunkt des Abbruchs eines rettenden Kausalverlaufs zu untersuchen. Die Frage, ob die Ausschaltung des C den Erfolg verursacht hat, richtet sich danach, ob sich C mit seinem Rückrufbegehren durchgesetzt hätte. Die Situation ist strukturgleich mit der Fallkonstellation, daß im Beispiel (11) der Garant C selbst die ihm mögliche Stimmabgabe für den Rückruf verweigert. Wie auch immer man die Sachfragen löst, ob man die Fälle, in denen zur Rettung die Mitwirkung Dritter erforderlich war, gesondert behandelt oder nicht, jeweils muß der Maßstab für den abbrechenden Begehungstäter und den Unterlassungstäter identisch sein. Denn in bei den Fällen bezieht sich die Verantwortlichkeit des Taters auf das Fehlen eines potentiell erfolgsverhindernden Umstandes. Einmal, weil der Tater den Umstand durch aktives Tun beseitigt, das andere mal, weil er es pflichtwidrig unterläßt, den Umstand zu setzen.
II. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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Da aber nur bei Unterlassungsdelikten das Merkmal der Garantenpflicht erforderlich ist, zeigt sich, daß dieses Merkmal nicht geeignet ist, den Maßstab für die Zurechnungsfrage abzugeben.
7. Die Risikoerhöhungslehre als Zurechnungsgrundlage beim unechten Unterlassungsdelikt In der bisherigen Untersuchung der Gremiumsproblematik wurde die Frage kumulativ möglicher Erfolgsabwendung als Problem der Kausalität des Unterlassens behandelt. Die Frage, ob das Unterlassen als ,,Nichts" einen Erfolg verursachen kann, konnte dabei unbeantwortet bleiben, da diese Streitfrage nach h.M. ohne Auswirkung auf den Maßstab der Erfolgszurechnung bleibt. Es besteht insoweit ein breiter Konsens dahingehend, daß die Zurechnung dann erfolgt, wenn der unterlassende Garant den Erfolg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit abwenden konnte, wobei es dahingestellt bleiben kann, ob dies eine Frage "echter" Kausalität oder nur "hypothetischer" (Quasi-)Kausalität ist44o • Diesem Ansatz widerspricht eine in der Literatur verbreitete Auffassung. Nach dieser Ansicht soll der Erfolg einem Unterlassungstäter nicht erst dann zugerechnet werden, wenn er ihn durch pflichtgemäßes Handeln mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit abgewendet hätte, sondern bereits dann, wenn lediglich feststeht, daß die unterlassene Handlung die dem Rechtsgut drohende Gefahr eindeutig vermindert hätte44 !. Ausgangspunkt der Risikoerhöhungslehre ist die Annahme, daß ein Unterlassen grundsätzlich nie für einen Erfolg kausal sein442 und damit die Kausalität auch nicht das Zurechnungskriterium beim Unterlassungsdelikt abgeben könne. Teilweise wird das Kriterium der Kausalität als Maßstab strafrechtlicher Zurechnung generell (auch bei Begehungsdelikten) in Frage gestellt443 , eine Sichtweise, die dadurch gestützt wird, daß das Recht ja beim Unterlassensdelikt eine nicht auf Kausalität beruhende Erfolgszurechnung kennt444 • Es 440 Vgl. dazu oben Teil A II. I. Dazu auch Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 15 Rn. 23; Schmidhäuser; AT, 16/74ff.; NK-Seelmann, § 13 Rn. 57. 441 Hardwig, Zurechnung, S. 160ff.; Kahrs, Verrneidbarkeitsprinzip, S. 51 ff. (aber auch S. 58 ff.); SK-Rudolphi, Vor § 13 Rn. 16 ff.; Stratenwerth, AT, Rn. 1025 ff.; ders., Gallas-FS 1973, S. 227; Duo, AT, § 9 Rn. 96ff.; Duo/Brammsen, Jura 1985, 652f.; Brammsen, MDR 1989, 123; ders., Jura 1991, 533; Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 46 Rn. 23, 27; Walder, SchwZStr 93 (1977), III (159 ff.). 442 Hardwig, Zurechnung, S. 90 ff.; Kahrs, Verrneidbarkeitsprinzip, S. 20 ff.; Walder, SchwZStr 93 (1977),113 (122ff., 152ff.). 443 So Hardwig, Zurechnung, S. 90ff. u. 113; Duo, Maurach-FS 1972, S. 91; Schaffstein, Honig-FS 1970, S. 169; Schmidhäuser, AT, 8/60,16/71, 74ff. 444 Vgl. Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 46 Rn. 23; Schmidhäuser, AT, 8/60, 16/71, 74ff. Der Unterlassungskausalität wird insoweit auch der Abbruch rettender Kausalverläufe durch aktives Tun gleichgestellt. Auch hier läge keine "echte" Kausalität vor. Vgl. S / S / Lenckner, Vor § 13 Rn. 71; Jescheck, AT, 4. Aufl., S. 250; Maiwald, Kausalität, S. 78 ff.
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
stellt sich die Frage, ob der Streit um die Kausalität des Unterlassens tatsächlich eine so unergiebige Streitfrage ist, wie dies zum Teil behauptet wird445 , wenn die Verneinung "echter" Kausalität des Unterlassens bei den Anhängern dieser These zu erheblichen Abweichungen in der Frage der Erfolgszurchnung beim Unterlassungsdelikt führt. Denn es ist von erheblicher Bedeutung, ob man diesen Zurechnungszusammenhang als Quasikausalität (oder hypothetische Kausalität) definiert und damit an den Maßstab für die "echte" Kausalität des Begehungsdelikts anlehnt446 , oder ob man sich mit der Feststellung von Risikoerhöhungen begnügt. Folgt man dem Ansatz der Risikoerhöhungslehre, so liegt es nahe auch in den Fällen kumulativ möglicher Erfolgsabwendungen die Zurechnung auf den Gesichtspunkt der Risikoerhöhung447 zu stützen. Der Garant, der mit dem ihm gebotenen Handeln an der Verweigerung der anderen zur Rettung erforderlichen Beteiligten gescheitert wäre, oder bei dem dies nicht auszuschließen ist, könnte für den Erfolg deshalb verantwortlich sein, weil er durch seine Untätigkeit das Risiko des Erfolgseintritts erhöht hat. Grund der Zurechnung ist dann nicht mehr die unterlassene Erfolgsabwendung, sondern die fehlende Verringerung des Risikos 448 für den Erfolgseintritt. Da das Risikoerhöhungsprinzip somit eine Lösung für die Fälle kumulativer Erfolgsabwendungsmöglichkeiten beim Unterlassungsdelikt in Aussicht stellt, ist eine genauere Untersuchung dieses Ansatzes und seine Tauglichkeit zur Lösung der problematischen Konstellationen im Gremium geboten. a) Die Entwicklung der Risikoerhöhungslehre im Zusammenhang mit dem sogenannten Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen (Begehungs-)Erfolgsdelikt
Beschäftigt man sich näher mit der Risikoerhöhungslehre, so stellt man fest, daß sie primär im Zusammenhang mit dem Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim fahrlässigen Begehungsdelikt entwickelt wurde449 . Bei den fahrlässigen Erfolgs445 Vgl. dazu ausführlich Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 46 Rn. 18 ff.; Schmidhäuser; AT, 16174ff. 446 Dies wird besonders deutlich, wenn Anhänger der conditio-sine-qua-non-Formel und der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung beim Unterlassungsdelikt einheitlich mit der abgewandelten conditio-sine-qua-non-Formel (Hinzudenkverfahren) arbeiten. Für die Anpassung des Haftungsmaßstabes des Unterlassungsdelikt an das Begehungsdelikt lescheck/ Weigend, § 59 III 3. und 4. sowie LK-lescheck, § 13 Rn. 17 f. 447 Brammsen, Jura 1991,533 (536) nimmt eine "Umdeutung" von BGHSt 37, 106 (126 ff.) in diesem Sinne vor, obwohl der BGH selbst die Risikoerhöhungslehre explizit ablehnt. 448 Vgl. auch Beulke/Bachmann, JuS 1992,737 (743, Fn. 90), die beim Unterlassungsdelikt im Unterschied zum Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Fahrlässigkeitsdelikt den Begriff "Risikoverminderungslehre .. verwenden. 449 Eine Ausnahme bildet insoweit Hardwig, Die Zurechnung, der bereits 1957 den Risikoerhöhungsgedanken beim unechten Unterlassungsdelikt anwenden wollte.
II. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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delikten durch aktives Tun ist der Erfolg nach h.M. dem Täter nicht schon dann zuzurechnen, wenn ein sorgfaltspflichtwidriges Verhalten den Erfolg verursacht hat. Erfolgsverursachung und Verletzung der Sorgfalts pflicht stehen im Fahrlässigkeitstatbestand nicht beziehungslos nebeneinander, vielmehr muß der Erfolg gerade auf der Verletzung der Sorgfaltspflicht beruhen45o , was jedenfalls nicht der Fall ist, wenn der Erfolg auch bei pflichtgemäßem Verhalten des Täters eingetreten wäre451 . Hätte auch die Einhaltung der gebotenen Sorgfalt den Erfolg nicht verhindert, war der Erfolg für den Täter objektiv unvenneidbar und damit kein Unrecht, da das Recht Unmögliches nicht verlangen kann. Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, daß aus diesen Gründen eine Erfolgszurechnung jedenfalls ausscheidet, wenn sich sagen läßt, daß der Erfolg mit Sicherheit auch bei sorgfaltsgemäßem Verhalten eingetreten wäre, weil es dann an diesem spezifischen Zusammenhang zwischen Außerachtiassung der Sorgfalt und Erfolgseintritt fehlt 452 . Streitig sind dagegen die Fälle, in denen ein sicherers Urteil über den Pflichwidrigkeitszusammenhang nicht abgegeben werden kann, weil letztlich nicht aufklärbar ist, wie sich das Geschehen bei sorgfaltsgemäßem Verhalten entwikelt hätte453 • Die Venneidbarkeitstheorie 454 sieht hier ein Problem der Tatsachenfeststellung und wendet den Grundsatz in dubio pro reo an, demzufolge die Unaufklärbarkeit von Tatsachen stets zugunsten des Täters zu behandeln ist. Kann also nicht aufgeklärt werden, was im Falle sorgfaltsgemäßen Verhaltens geschehen wäre, so ist zugunsten des Täters davon auszugehen, daß sorgfältiges Verhalten den Erfolg nicht verhindert hätte. 450 Dafür spricht auch die Gesetzesfonnulierung. §§ 222 und 229 sprechen davon, daß der Erfolg "durch Fahrlässigkeit verursacht" sein muß. Darunter ist etwas anderes zu verstehen, als die Verursachung durch eine Handlung, die (abstrakt betrachtet) fahrlässig ist. Der Erfolg muß gerade auf der Fahrlässigkeit der Handlung beruhen und nicht darauf, daß überhaupt gehandelt wird, denn die Rechtordnung kennt auch gefährliche Handlungen (welche einen Erfolg verursachen können), die dennoch erlaubt sind. 451 Vgl. dazu Engisch, Kausalität, S. 67; Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 22 Rn. 49ff.; Wesseis, AT, Rn. 677ff.; Kühl, AT, § 17 Rn. 47ff.; S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 99; S/S/ Cramer, § 15 Rn 162 ff.; Trändle, Vor § 13 Rn. 17c; Lackner/ Kühl, § 15 Rn. 41 ff.; SK-Samson, Anh. zu § 16 Rn. 24ff.; Roxin, AT I, § 11 Rn. 64. 452 So die Anhänger der Venneidbarkeitstheorie und der Risikoerhöhungslehre (vgl. nachfolgend im Text). A.A. Spendei, Eb. Schmidt-FS 1961, S. 181 (198) und JuS 1964, 14 (19 f.). 453 Vgl. dazu LK-Schroeder, § 16 Rn. 188ff.; Kühl, AT, § 17 Rn. 47ff. 454 H.M.: BGHSt 11, I; 21, 59; 24, 31; BGH GA 1988, 184; Baumann/Weber/Mitsch, § 22 Rn. 50, § 14 Rn. 86f.; Gropp, AT, § 12 Rn. 52ff.; Wesseis, AT, Rn. 680; Trändie, Vor § 13 Rn 18d; Ulsenheimer, Pflichtwidrigkeit und Erfolg, S. 77ff., 138, 149; ders.; JZ 1969, 364 (368); S/S/Cramer, § 15 Rn. 171; Welzel, LB, S. 136; Hirsch, Lenckner-FS 1998, 120 (127). Ähnlich Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten, S. 543 ff. Vgl. Freund, AT, § 2 Rn. 45ff.
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
Dem widersprechen nun die Anhänger der Risikoerhöhungslehre455 . Ihrer Ansicht nach ist der Erfolg dem Tater schon dann zuzurechnen, wenn die tatsächlich vorgenommene sorgfaltswidrige Handlung ein höheres Erfolgsrisiko in sich trug als das erlaubte Risiko, d. h. die sorgfaltsgemäße Handlungsweise. Da es sich dabei nicht um die Prüfung hypothetischer Abläufe456 , sondern um normative Überlegungen handele, stelle sich die Frage nach dem Zweifelsgrundsatz gar nicht457 . Der Schutzzweck der Fahrlässigkeitstatbestände gebiete es, Erfolge schon dann zuzurechnen, wenn sie auf einem Verhalten beruhen, das ein sorgfaltspflichtwidrig gesteigertes Risiko darstellt458 . Erst wenn zwischen dem tatsächlichen Verhalten und dem erlaubten Risiko im Einzelfall keine Risikosteigerung feststellbar ist, fehlt es am normativen Zusammenhang zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg. Die Streitfrage braucht hier nicht entschieden zu werden, da der Pflichtwidrigkeitzusammenhang des Fahrlässigkeitsdelikts nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist. Der Gegensatz zwischen den bei den Auffassungen ist aber im Auge zu behalten, wenn im folgenden zu untersuchen ist, ob das Risikoerhöhungsprinzip bei der Erfolgszurechnug des Unterlassensdelikts fruchtbar gemacht werden kann.
b) Die Übertragung des Risikoerhöhungsgedankens auf das Unterlassungsdelikt Folgt man der Risikoerhöhungslehre beim Pflichtwidrigkeitszusammenhang des Fahrlässigkeitsdelikts, so liegt es nahe, diesen Ansatz wegen der Ähnlichkeit der Fragestellung auch auf das Unterlassungsdelikt zu übertragen. Ist der Täter vom Fahrlässigkeitsvorwurf freizusprechen, wenn auch das pflichtgemäße Verhalten den Erfolg nicht verhindert hätte, so ist damit die Frage aufgeworfen, wie das Geschehen bei pflichtgemäßem Verhalten abgelaufen wäre. Diese Fragestellung ähnelt nun der Zurechnungsproblematik des Unterlassungsdelikts, wo es ja ebenfalls darauf ankommt, welche Auswirkungen es auf den Erfolg gehabt hätte, wenn der Täter seiner Handlungspflicht nachgekommen wäre. In bei den Konstellationen treten Fälle auf, in denen eine sichere Verlaufsprognose für den Fall pflicht455 Vgl. Roxin, ZStW 74 (1962), 410 (431 ff.); ders., ZStW 78 (1966), 215; ders., HonigFS 1970, S. 133; ders., AT I, § 11 Rn. 76ff.; Schünemann, JA 1975, 167; ders., StV 1985, 229; SK-Rudolphi, Vor § 1 Rn. 65 ff.; ders., JuS 1969,549 (554); JeschecklWeigend, § 55 11 2. b) aa); Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 43 Rn. 106; Köhler; AT, S. 197 ff.; Lacknerl Kühl, § 15 Rn. 44. 456 A.A. Arthur Kaufmann, Eb. Schmidt-FS 1961, S. 200. Vgl. auch LK-Schroeder; § 16 Rn. 191. 457 Vgl. Roxin, ZStW 74 (1962), 411 (433 f.); ders., ZStW 78 (1966), 214 (218 f.); Schünemann, JA 1975,647 (651); ders., StV 1985,229 (230f.). 458 Vgl. dazu Roxin, ZStW 78 (1966), 214 (219); ders., AT, § 11 Rn. 72ff.; Rudolphi, JuS 1969,549 (554).
H. Ursächlichkeit des EinzelverhaItens bei Unterlassen
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gemäßen Verhaltens nicht abgegeben werden kann. Häufig kann dann aber eine Wahrscheinlichkeitsaussage gemacht werden. Bei pflichtgemäßem Verhalten ergibt sich eine höhere Wahrscheinlichkeit für die Erfolgsabwendung, das pflichtwidrige Verhalten stellt mit anderen Worten eine höhere Gefahr für das Rechtsgut dar, die der Tater zu vermeiden hatte 459 . Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Umstand, daß eine Lösung der Fälle fehlenden oder fraglichen Pflichtwidrigkeitszusammenhangs beim fahrlässigen Begehungsdelikt in der Abgrezung von aktiven Tun und Unterlassen gesucht wurde460 . Dies beruht darauf, daß die Abgrenzung von aktivem Tun und Unterlassen in vielen Fällen nicht einfach ist. Zweifel ergeben sich hierbei vor allem beim fahrlässigen Begehungsdelikt, wo der vorwerfbare Handlungsvollzug ein Unterlassungsmoment, nämlich die Außerachtlassung der gebotenen Sorgfalt, aufweist. Hat der Radfahrer, der wegen mangelnder Beleuchtung einen anderen verletzt, sein Rad unsorgfaltig gesteuert - aktives Tun - oder das Einschalten des Lichtes unterlassen461 ? Grenzt man hier zwischen Tun und Unterlassen nach dem "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" ab, so kann man durch diese Wertung bestimmte Fälle fehrlerhaften Handlungsvollzugs dem Unterlassungsbereich zuordnen, was nach h.L. zur Folge hat, daß der Tater nur dann für den Erfolg einzustehen hat, wenn das pflichtgemäße Verhalten den Erfolg an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit abgewendet hätte 462 . Durch die Verlagerung der fraglichen Fälle in den Unterlassungsbereich 463 wird ein Ergebnis erzielt, das dem der Vermeidbarkeitstheorie beim Pflichtwidrigkeitszusammenhang entspricht, ohne daß es dazu der Anerkennung dieser Zurechnungsfigur bedarf. Die umstrittene Abgrenzung zwischen aktivem Tun und Unterlassen soll hier nicht weiter Gegenstand der Erörterung sein. Daß die Lösung der Problematik des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs über die Verlagerung der Fälle in den Unterlassungsbereich versucht wurde, zeigt nur den engen sachlichen Zusammenhang, der im Gegenzug auch eine Übertragung von Grundsätzen, die beim Pflichwidrigkeitszusammenhang entwickelt wurden, auf den Unterlassungsbereich rechtfertigen könnte 464 . Folgt man also der Risikoerhöhungslehre beim fahrlässigen Begehungsdelikt und bejaht die Zurechnung des Erfolges schon dann, wenn die sorgfaltswidrige Handlung das Risiko des Erfolgseintritts erhöht hat, so stellt sich die Frage, ob es nicht auch beim Unterlassungsdelikt für die Erfolgszurechnung ausreicht, wenn Vgl. dazu Stratenwerth, Gallas-FS 1973,227 (237 ff.). Vgl. dazu ausführlich Roxin. ZStW 74 (\962), 411 (413ff.); LK-Schroeder. § 16 Rn. 187. 461 Vgl. dazu Wesseis, AT, Rn. 699ff.; Kühl, AT, § 18 Rn. 23. Gegen eine "Abgrenzung" von Tun und Unterlassen Baurrumn/Weber/ Mitsch, AT, § 15 Rn. 26 ff. - Konkurrenzproblem. S. auch Fincke, Arzneimittelprüfung, S. 29 ff. 462 Vgl. dazu oben Teil A H. I. 463 SO Z. B. Mezger. LB, S. XIX, 116 Anm. 21, 138; ders., StuB, S. 76 (zum ApothekerFall und zum Ziegenhaar-Fall). Dazu Roxin, ZStW 74, (1962),411 (413 ff.). 464 Vgl. dazu auch Schaffstein, Honig-FS 1970, 169 (172), insbes Fn. 11. 459
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
die Verletzung der Garantenpflicht, d. h. die Nichtvornahme der gebotenen Handlung, das Risiko des Erfolgseintritt erhöht hat. In dieser Frage sind die Anhänger der Risikoerhöhungstheorie in zwei Lager gespalten. Wie bereits angesprochen, wird teilweise die Anwendung der Risikoerhöhungslehre auf das Unterlassungsdelikt befürwortet465 . Die Gegenmeinung466 will die Risikoerhöhungslehre auf den Pflichtwidrigkeitszusammenhang beim Begehungsdelikt beschränken. Dieser stelle ein normatives Zurechnungskriterium dar, welches das Zurechnungskriterium erster Stufe, die Kausalität, ergänze. Gerade wegen dieser rein normativen Natur des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs sei auch der Einwand, die Risikoerhöhungslehre verstoße gegen den Zweifelsgrungsatz, nicht richtig467 . Denn daß der Täter im Sinne der Äquivalenztheorie mit seinem Verhalten für den Erfolg kausal war, sei stets Voraussetzung der Verantwortlichkeit. Die Risikoerhöhung kann also nur zur Einschränkung der weiten Kausalitätszurechnung angewendet werden, nicht aber die Erfolgszurechnung beim Unterlassensdelikt selbständig begründen und damit die Unterlassenskausalität ersetzen. Der Anwendung der Risikoerhöhung stehe auch der Gesetzeswortaut entgegen. Wenn z. B. in § 222, 229 der Gesetzgeber den Begriff "Verursachen" verwende, könne die Zurechnung im Unterlassensfall (§§ 222, 13; 229, 13) nicht auf die unterlassene Risikoverminderung gestützt werden468 . Dieses Argument zeigt wieder den Zusammenhang zwischen der Frage nach der "echten" Kausalität des Unterlassens und der Anwendung der Risikoerhöhungslehre beim Unterlassensdelikt469 . Die Anhänger der Risikoerhöhungslehre müssen die Kausalität von Unterlassungen leugnen 47o. Nur dann kann man den Gesetzeswortlaut beiseite schieben, weil 465 So Hardwig, Zurechnung, S. 160ff.; Kahrs, Vermeidbarkeitsprinzip, S. 51 ff. (aber auch S. 58 ff.); SK-Rudolphi, Vor § I3 Rn. 16 ff.; Stratenwerth, AT, Rn. 1025 ff.; ders., Gallas-FS 1973, S. 227; Otto, AT, § 9 Rn. 96ff.; OttolBrammsen, Jura 1985, 652f.; Brammsen, MDR 1989, 123; ders., Jura 1991,533; MaurachIGössel/Zipf, AT 2, § 46 Rn. 23, 27; Walder; SchwZStr 93 (1977),111 (159ff.). 466 Vg1. Schünemann, JA 1975,647 (654); ders., StV 1985,229 (231 ff.); JeschecklWeigend, § 59 III 4.; LK-Jescheck, § I3 Rn. 18 (Fn. 26); LacknerlKühl, Vor § 13 Rn. 14. Auch den Ausführungen Roxins ist zu entnehmen, daß er eine Anwendung der Risikoerhöhungslehre auf das Unterlassungsdelikt nicht beabsichtigte. Vgl. Roxin, ZStW 74 (1962), 411 (413, 438). Kritisch zu dieser Differenzierung Ranft, JZ 1987, 859 (862 f.), der für die Taterstrafbarkeit in allen Bereichen der Vermeidbarkeitstheorie folgt und nur für die Beihilfe - vg1. Ranft, ZStW 97 (1985), 269 - eine risikoerhöhende Handlung ausreichen läßt. 467 Vg1. Roxin, ZStW 78 (1966), 214 (218); Schünemann, JA 1975,647 (654f.); ders., StV 1985,229 (231 ff.); JeschecklWeigend, § 59 III 4.; LK-Jescheck, § I3 Rn. 18 (Fn. 26); Lacknerl Kühl, Vor § 13 Rn. 14. 468 Vg1. BaumannlWeberl Mitsch, § 15 Rn. 22 f.; Kühl, AT, § 18 Rn. 35 ff. (38); Lacknerl Kühl, Vor § I3 Rn. 14; SISILenckner; Vor § 13 Rn. 71. 469 V g1. dazu schon oben 7. S. auch Fincke, Arzneimittelprüfung, S. 42 ff. 470 Vg1. dazu Schaffstein, Honig-FS 1970, 169 (170); Stratenwerth, Gallas-FS 1973,227 (237); MaurachIGössel/Zipf, AT 2, § 46 Rn. 23; Walder; SchwZStR (1977), 113 (l22ff., 152 ff.). Ebenso Kahlo, GA 1987, 66 (68 ff.), der bei seiner Sonderbehandlung drittvermittelten Rettungsverhaltens von der Nichtexistenz einer Unterlassungskausalität ausgeht.
H. Ursächlichkeit des EinzelverhaItens bei Unterlassen
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er unter dieser Prämisse eine grundsätzlich unmögliche Feststellung verlangt. Statt dessen wird dann die Risikoerhöhung zum Zurechnungskriterium gemacht 471 . Wer dagegen die Kausalität als rechtliche Kategorie aufTun und Unterlassen anwendet472 , wird in der Folge kaum umhinkönnen, den Zurechnungsmaßstab gleich zu bestimmen und damit die Risikoerhöhungslehre als alleiniges Zurechnungskriterium beim Unterlassungsdelikt abzulehnen 473 . Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, daß die Risikoerhöhungslehre erheblichen Einwänden ausgesetzt ist. Zum einen schon für ihren originären Anwendungsbereich beim Pflichtwidrigkeitszusammenhang des fahrlässigen Erfolgsdelikts, zum anderen hinsichtlich ihrer Übertragung auf das Unterlassungsdelikt auch aus den Reihen ihrer Befürworter. Ein weiteres Argument gegen den Risikoerhöhungsgedanken ergibt sich aus § 130 I OwiG (Unterlassungsdelikt), wo die Riskoerhöhung als Zurechnungsmaßstab ausdrücklich genannt ist. Diese gesetzliche Regelung ist als Ausnahme zu verstehen, die im Recht der Ordnungswidrigkeiten für einen Spezialfall angemessen und tragbar erscheint, als allgemeines Zurechnungsprinzip im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht aber nicht tauglich ist und dem geltenden Recht nicht zugrundeliegt - sonst wäre ja § 130 OwiG überflüssig. Bevor aber eine Entscheidung über die Anwendung der Risikoerhöhungslehre getroffen wird, ist zunächst ihre Eignung zur Lösung der hier anstehenden Gremienproblematik näher zu betrachten.
c) Die Anwendung der Risikoerhöhungslehre auf die Gremiumskonstellation. Ex ante- oder ex post-Betrachtung? Sind mehrere kumulativ zur Erfolgsabwendung verpflichtete Garanten allesamt nicht zur Erfolgsabwendung tätig geworden, so scheitert die Erfolgszurechnung nach den Regeln der (Quasi-)Kausalität daran, daß wegen der Verweigerung der anderen die Rettungsmöglichkeit fehlt oder dies nicht auszuschließen ist. Durch die Anwendung des Risikoerhöhungsgedankens wird nun die Frage nach der hypothetischen Abwendungsmöglichkeit gar nicht gestellt. Vielmehr soll die Erfolgszurechnung schon dann bejaht werden, wenn der einzelne durch sein Unterlassen das Risiko des Erfolgseintritts erhöht hat. Im Falle eines Gremiums wäre das gegen die gebotene Maßnahme stimmende Mitglied also deshalb für den Eintritt des Erfolges verantwortlich, weil es durch sein pflichtwidriges Abstimmungsverhalten die Gefahr eines fehlerhaften BeVgl. dazu auch Baumann, AT, § 18 H 2 a). Und sei es auch nur als "hypothetische" oder "Quasikausalität". 473 Vgl. BaumannlWeberlMitsch, AT, § 15 Rn. 22f.; Kühl, AT, § 18 Rn. 38f.; Lacknerl Kühl, Vor § 13 Rn. 12; LK-Jescheck, § 13 Rn. 18; JeschecklWeigend, § 59 III 4. 471
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
schlusses und damit auch des Ausbleibens eines Rückrufbeschlusses vergrößert hat474 . Dies scheint auf den ersten Blick einleuchtend und führt auf recht einfache Art und Weise zur Bejahung der Erfolgszurechnung, einem Ergebnis, das die Anhänger der (Quasi-)Kausalität des Unterlassens mit großem Aufwand zu begründen versuchen475 . Betrachtet man die Lösung der Risikoerhöhungslehre dagegen etwas genauer, ergeben sich bei der fallbezogenen Anwendung erhebliche Schwierigkeiten. Der Erläuterung seien zwei Fallvarianten einer Gremienentscheidung vorangestellt. Beispiel (13): In einem Unternehmen häufen sich die Anzeichen dafür, daß ein bestimmtes Produkt gesundheitsschädlich ist. Die drei Geschäftsführer werden davon unterrichtet und erhalten jeweils einen ausführlichen Bericht über die Situation mit einer Stellungnahme der Fachabteilung, aus der sich ergibt, daß ein Zusammenhang zwischen dem Produkt und den aufgetretenen Gesundheitsschäden nicht unwahrscheinlich ist. Variante (13a): Keiner der Beteiligten veranlaßt irgendwelche Maßnahmen476 . Alle versuchen das Problem auszusitzen. Variante (13b): Es wird eine Sitzung der Geschäftsleitung anberaumt, in der die Frage eines Rückrufs erörtert wird. Bei der formellen Schlußabstimmung stimmen alle Geschäftsführer gegen einen Rückruf. In bei den Fällen kommt es zu Gesundheitsschädigungen der Verbraucher durch Produkte, die noch rückrufbar gewesen wären. In der ersten Variante (l3a) kann man nun sagen, daß jeder Geschäftsführer, der sich nicht für den Rückruf eingesetzt hat, das Risiko des Erfolgseintritts erhöht hat. Hätte er nämlich eine Geschäftsleitungssitzung veranlaßt und sich dabei für den Rückruf eingesetzt, hätte zumindest die Chance bestanden, einen Rückruf herbeizuführen. Weniger eindeutig ist dagegen die Situation bei der zweiten Variante (l3b) des Falles. Hier stellt sich die Frage, ob man überhaupt von einer Risikosteigerung durch das Verhalten der einzelnen Geschäftsführer sprechen kann. Denn zu einem sinnlosen Verhalten ist der Täter auch nach der Risikoerhöhungslehre nicht verpflichtet477 . Steht nun aber fest, daß die anderen Beteiligten ihre erforderliche 474 So z. B. Brammsen, Jura 1991,533 (536). Ähnlich SK-Rudolphi, Vor § 13 Rn. 16, der allerdings zur Bejahung der Zurechnung im Falle der Lederspray- Entscheidung die Risikoerhöhungslehre nicht explizit heranzieht und ohne weitere Begründung vom Vorliegen eines gesetzmäßigen Zusammenhangs ausgeht. Im wesentlichen schließt er sich der rein Ergebnisorientierten Argumentation des BGH an. Vgl. auch BeulkelBachmann, JuS 1992,737 (743). 475 Vgl. dazu ausführlich oben Teil A II. 1. und 2. 476 Diese Variante entspricht dem Sachverhalt in BGHSt 37, 106 (110, 130ff.) - Lederspray -, wo sich der Vorwurf fahrlässigen Verhaltens auf den Zeitraum vor einer erst später einberaumten Geschäftsführersitzung bezog. 477 Stratenweth, AT, Rn. 1025ff. (1028); ders., Gallas-FS 1973,227 verlangt den Nachweis der Risikoverminderung durch das pflichtgemäße Verhalten des Garanten ex post. Nach Ansicht von SK-Rudolphi, Vor § 13 Rn. 16b ist bei kumulativer Erfolgsabwendungsmöglich-
11. Ursächlichkeit des EinzelverhaItens bei Unterlassen
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Mitwirkung tatsächlich in Kenntnis der Situation verweigert haben, so ist es fraglich, ob der Täter allein durch sein Verhalten, und nur darauf kann es ja für die Erfolgszurechnung ankommen, eine Risikoerhöhung bewirkt hat. Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, welchen Maßstab man bei der Beurteilung der Risikoerhöhung anwendet. Bemißt man die Risikoerhöhung ex ante, stellt man also auf den Zeitpunkt des geforderten Handlungsvollzugs ab, so läßt sich eine Risikoerhöhung bejahen. Als die einzelnen Geschäftsführer abzustimmen hatten, war noch nicht erkennbar, daß die anderen sich gegen den Rückruf entscheiden würden und somit die eigene Stimme sicher nicht zu einer Mehrheit für den Rückruf beitragen konnte. Die Unterlassung des pflichtgemäßen Abstimmungsverhaltens war demnach - ex ante - risikosteigernd478 . Gegen eine solche ex ante- Betrachtung wendet sich aber die überwiegende Ansicht unter den Vertretern der Risikoerhöhungslehre. Nach dieser Ansicht ist die Risikosteigerung ex post zu bemessen 479 , also unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände des Einzelfalls. Bei einer solchen ex post - Betrachtung stellt sich nun in der zweiten Variante unseres Gremiumsfalles heraus, daß die anderen Gremiumsmitglieder ebenfalls gegen den Rückruf gestimmt haben. Das gebotene Verhalten jedes einzelnen Geschäftsführers, die Abgabe seiner Stimme für den Rückruf, war also ex post betrachtet völlig sinnlos und konnte das Risiko nicht steigern. aa) Die Bestimmung der Risikoerhöhung ex ante
Will man in der Beschlußvariante der Gremiumsfälle anders entscheiden, so muß man die Risikoerhöhung ex ante bestimmen. Eine solche Anwendung der Risikoerhöhungslehre führt aber zu einer uferlosen Ausdehnung der Unterlassensverantwortlichkeit und wandelt Erfolgsdelikte in Gefährdungsdelikte um480 . Denn ex ante ist das Unterlassen jeder geeignet erscheinenden Rettungsmaßnahme risikoerhöhend. Läßt man dies für die Erfolgszurechnung ausreichen, so reduziert sich die Tatbestandsmäßigkeit auf die Verletzung einer Gebotserfüllungspflicht in GarantensteIlung. Bei konsequenter Einhaltung der ex-ante-Beurteilung keit der Erfolg nicht zuzurechnen, wenn ein Beteiligter, dessen Mitwirkung erforderlich ist, sein pflichtgemäßes Handeln ablehnt. Anders bei gemeinsamer Ablehnung durch alle Garanten. 478 So Brammsen, MDR 1989, 123 (124); Jura 1991,533 (536). 479 Vgl. dazu Stratenwerth, Gallas-FS 1973, 227 (228 ff.), der gerade mit dem Hinweis auf die ex post-Betrachtung der Kritik der h.L. begegnet, die Risikoerhöhungslehre deute Erfolgs- in Gefahrdungsdelikte um; ders., Strafrecht AT, Rn. 1028; SK-Rudolphi, Vor § 1 Rn. 69 und Vor § 13 Rn. 16 (Es muß festgestellt werden, "daß der Täter durch Vornahme der ihm gebotenen Handlung das Risiko des Erfolges tatsächlich vermindert hätte". Nach Ansicht des Verf. im Widerspruch zu den Ausführungen in Rn. 16b, wo dieser Maßstab für Gremiumsentscheidungen aufgegeben wird); Schünemann, JA 1975, 647 (649); Schaffstein, Honig-FS 1970, 169 (173); Roxin, AT 1, § 11 Rn. 77. 480 Vgl. dazu Samson, Hypothetische Kausalverläufe. S. 151 ff. 10 Sehaal
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
werden auch solche Fälle von den (Erfolgs-)Unterlassungsdelikten erfaßt, in denen der Täter mit Sicherheit keinen Einfluß auf das Geschehen hatte. Dies kann an dem bereits oben 481 angesprochenen Ruderbootfall (Beispiel 4a) gezeigt werden. Hier war es aus der Sicht des rettungspflichtigen Vaters erforderlich, seinen ertrinkenden Sohn mit Hilfe eines Ruderbootes zu retten. Stattdessen unternahm er nichts. War es nun so, daß es ungewiß blieb, ob der Ertrinkende mit dem Boot noch rechtzeitig erreichbar war, bestand aber immerhin eine gewisse Möglichkeit, so ist der Vater nach der Risikoerhöhungslehre für den Erfolg verantwortlich. Bei konsequenter Einhaltung des ex ante- Standpunkts müßte dies selbst dann gelten, wenn das Boot ein Leck hatte und es deshalb völlig ausgeschlossen war, daß der Vater den Sohn erreichte. Denn ex ante, in der Ausgangssituation des Vaters, bot das am Ufer liegende unerkennbar defekte Boot eine Rettungschance, die nicht wahrgenommen wurde. Aus der ex ante Sichtweise hat der Vater damit das Risiko des Todes seines Sohnes erhöht, weil er eine denkbare Rettungsmöglichkeit, die nach allgemeiner Erfahrung, nicht aber im besonderen Fall, zur Erfolgsabwendung geeignet war, nicht wahrgenommen hat. Vorwerfbar ist dem Vater nur die durch sein Verhalten gezeigte Gesinnung (diese kann als untauglicher Versuch bestraft werden) und der Umstand, daß sein Tun abstrakt, d. h. nach allgemeiner Lebenserfahrung, gefährlich für das Opfer war. Der Fall entspricht dem oben dargestellten Gremiumsfall in der 2. Varinte (Beispiel13b). Kommt es in einem Gremium zu einer Abstimmung, in der alle Mitglieder eine gebotene Rettungsmaßnahme ablehnen, so steht für das einzelne Mitglied zwar fest, daß aus dem eigenen Verhalten ex ante eine Risikoerhöhung resultierte, gleichwohl bestand nach Lage der Dinge keine reale Einflußmöglichkeit auf den Eintritt des Erfoges. Die ex ante-Sichtweise bei Bestimmung der Risikoerhöhung ist daher abzulehnen. bb) Die Bestimmung der Risikoerhöhung ex post
Bestimmt man die Risikoerhöhung ex post, so sind auch alle nachträglich bekannt werdenden Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Eine Erfolgszurechnung kann nicht erfolgen, wenn im Einzelfall das vom Täter verlangte Verhalten keinen Einfluß auf den Erfolgseintritt hatte. Dies führt dazu, daß in Fällen kumulativer Erfolgsabwendungsmöglichkeit dem Einzelnen der Erfolg nicht zugerechnet werden kann, wenn er mit seinem Rettungsbemühen an der Verweigerung der anderen gescheitert wäre. Dies ist in den Gremiumsfällen dann der Fall, wenn tatsächlich eine Abstimmung über die Durchführung einer schadensabwendenden Maßnahme stattgefunden hat und sich die anderen Mitglieder in der Abstimmung geweigert haben, ihren Beitrag zur Erfolgsabwendung zu leisten482 • 481
Teil A 11. 3. c) aa).
II. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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Zu einem anderen Ergebnis kommt die Risikoerhöhungslehre auch bei ex postBetrachtung, wenn es gar nicht zu einer Abstimmung kommt, wenn also die zur gemeinsamen Erfolgsabwendung verpflichteten Garanten völlig untätig bleiben und sich nicht einmal beraten. Dann kann keine sichere Aussage darüber gemacht werden, wie sich die anderen Gremiumsmitglieder verhalten hätten, wenn einer von ihnen die ihm gebotene Maßnahme (Einberufung einer Sitzung, Abstimmung für den Rückruf) durchgeführt hätte. Die Ungewißheit über den Verlauf des hypothetischen Geschehens beinhaltet eine Rettungschance für das Opfer und die Nichtwahrnehmung dieser Rettungschance stellt dann eine Risikoerhöhung für das Opfer dar. Vergleicht man das unterschiedliche Ergebnis für beide Fallgruppen, so fällt auf, daß der einzige Unterschied darin besteht, daß in der Variante, in der die Risikoerhöhung ex post zu bejahen ist, ein Defizit an Information über den hypothetischen Ablauf zur Zurechnung führt. Diejenigen Umstände (die Verweigerung der anderen Gremiumsmitglieder, an der Erfolgsabwendung mitzuwirken), die bei ihrem Vorliegen eine Erfolgszurechnung ausschließen, werden durch den Risikoerhöhungsgedanken aus der Zurechnungsfrage gänzlich ausgeschlossen. Ware das einzelne Gremiumsmitglied an der tatsächlich überprüfbaren Weigerung der anderen gescheitert, kann keine Erfolgszurechnung vorgenommen werden, ist dagegen das Verhalten der anderen unsicher, soll schon die Risikosteigerung für die Zurechnung ausreichen. Hier zeigt sich deutlich, daß der Risikoerhöhungsgedanke - zumindest beim Unterlassungsdelikt - den Grundsatz "in dubio pro reo" tangiert. Gegen diesen verbreiteten Vorwurf, den die h.M. 483 der Risikoerhöhungslehre macht, wird von deren Vertretern eingewendet, daß der beweisrechtliche Grundsatz "in dubio pro reo" nur da Anwendung finde, wo bestimmte Tatsachenfeststellungen überhaupt erforderlich seien. Die Risikoerhöhungslehre verlange aber in rechtlicher Hinsicht nur die Steigerung von Risiken, nicht aber die Feststellung des hypothetischen Verlaufes, so daß sich der in dubio pro reo - Einwand auf Tatsachen beziehe, die gar nicht entscheidungserheblich seien. Dieser Gegeneinwand greift aber zu kurz. 482 Vgl. dazu aber auch SK-Rudolphi, Vor § 13 Rn. 16b: Einerseits setze jeder, der gemeinsam und einstimmig unterlassenden Garanten eine gesetzmäßige Bedingung für den Erfolg. Anders sei zu entscheiden, wenn feststehe, daß ein Garant die Mitwirkung ablehnt und die übrigen deshalb den Erfolg nicht abwenden können. Ähnlich Puppe, JR 1992, 30 (34): Keine Kausalität solcher Gremiumsmitglieder, die erst nach Zustandekommen der Mehrheit befragt werden. Diese Ansicht führt zu einer rein zeitlich differenzierten Begründung der Strafbarkeit (dazu bereits oben Teil Al.l. c) bb) (1». Diejenigen, welche sich zuletzt verweigern, gehen straffrei aus. Gilt dies auch, wenn es nur um Sekunden geht (Geschwindigkeit des Handaufhebens bei entsprechendem Abstimrnungsmodus)? Wenn nein, warum nicht? 483 Vgl. Baumann/Weber/Mitsch. AT, § 14 Rn. 84, 100, § 15 Rn. 23, § 22 Rn. 50; Gropp. AT. § 11 Rn. 74, § 12 Rn. 52ff.; Jakobs. AT. 29/20; Tröndle. Vor § 13 Rn. 17e; S/S/Stree. § 13 Rn. 61; S/S/Cramer. § 15 Rn. 173; SK-Samson. Anh. zu § 16 Rn. 27f.; LK-Schroeder. § 16 Rn. 190.
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
Denn er verkürzt den Zweifelsgrundsatz auf ein formales Prinzip richterlicher Überzeugungsbildung. Hinter dem Zweifelsgrundsatz steckt aber auch eine materielle Wertentscheidung. Die Tatsachen, die eine Verurteilung des potentiellen Täters tragen, sollen mit möglichst großer Sicherheit feststehen. Wenn die Risikoerhöhungslehre nun Zurechnungsrege1n entwickelt, die schon bei der normativen Formulierung des Zurechnungszusammenhangs durch Begriffe wie Risiko und Gefahr auf Wahrscheinlichkeitserwägungen abstellen, entzieht sie dem Zweifelsgrundsatz durch Lockerung der Zurechnungsanforderungen seine Basis. Daß der Zweifelsgrundsatz dadurch verletzt wird, ist damit noch nicht gesagt. Dafür spricht aber, daß dieselben Umstände, die bei ihrem sicheren Vorliegen die Zurechnung ausschließen, bei ungewissem Vorliegen die Zurechnung nicht berühren. Denn wenn man anerkennt, daß das ex post sicher festgestellte Fehlen der zur Erfolgsabwendung notwendigen weiteren Bedingungen die Zurechnung ausschließt, steht damit fest, daß es sich um von Rechts wegen entscheidungserhebliche Umstände handelt. Will man nun die Zurechnung bei Unsicherheit bezüglich dieser Umstände dennoch vornehmen, so wirkt der Zweifel zu Lasten des Täters. Daß man dies "normativ" absichert, indem man eine entsprechende Theorie entwickelt, ändert nichts daran, daß der geradezu intendierte Zweck dieser Theorie darin besteht, dem Zweifelsgrundsatz für bestimmte Fälle seinen Anwendungsbereich zu entziehen 484 . Gegen die Anwendung der Risikoerhöhungslehre auf das Unterlassungsdelikt sprechen also ganz erhebliche Bedenken. Es ist näher zu untersuchen, wie ein solches Zurechnungskriterium begründet werden kann.
d) Die Integration der Risikoerhöhungslehre in das wissenschaftstheoretische Kausalitätsmodell - Risikoerhöhung als Subsumtion unter probabilistische Gesetzmäßigkeiten485 Im Bereich der Erfolgsdelikte durch Unterlassen muß eine Beziehung zwischen dem Erfolg und der Unterlassung bestehen, die die Zurechnung des Erfolgs als Werk des Täters rechtfertigt. Die Untätigkeit des Garanten muß zum Eintritt des Erfolges in Bezug gesetzt werden. Dies geschieht dadurch, daß man den Einfluß der gebotenen Handlung auf den Erfolg untersucht. Dabei verlangen die Befürworter der (Quasi-)Kausalität Sicherheit, die Befürworter der Risikoerhöhungslehre nur eine Wahrscheinlichkeit dafür, daß der Erfolg abgewendet worden wäre. Jeweils ist aber eine Prognose (hypothetische Betrachtung) über den fiktiven Ablauf der Geschehnisse unter Annahme pflichtgemäßen Verhaltens des Garanten erfor484 SK-Samson, Anh. zu § 16 Rn. 27a spricht zu Recht von einer ,,materiellen Einkleidung des "in dubio contra reum". 48~ Vgl. dazu Stratenwerth, Gallas-FS 1973,227; Puppe, ZStW 95 (1983), 287; Hilgendorf, Jura 1995,514 (518ff.); Hoyer. GA 1996, 160ff.; Rolinski, Miyazawa-FS 1995,483 (486ff.). Zur Kausalerklärung mit probabilistischen Gesetzmäßigkeiten im Zivilrecht vgl. Köck, Kausalität, S. 23 m. w. N.
11. Ursächlichkeit des EinzeIverhaltens bei Unterlassen
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derlich. Im Unterschied zur h.M. verzichtet die Risikoerhöhungslehre bei dieser Prognose lediglich auf die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit des Urteils. Wenn man also feststellt, daß die Unterlassung einer Person das Risiko des Erfolgseintritts erhöht hat, ist damit gemeint, daß durch das Nichtstun eine höhere Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts gegeben war als bei pflichtgemäßem Eingreifen. Eine solche Feststellung erfordert aber ebenso wie die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit der Erfolgsabwendung bei Feststellung der Unterlassenskausalität einen Rückgriff auf empirische Gesetzmäßigkeiten. Die Vertreter der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung, die ihren Kausalitätsbegriff an das wissenschaftstheoretische Erklärungsmodell anlehnen 486 , können die Risikoerhöhungslehre in ihr Kausalitätsmodell integrieren, indem sie die Feststellung einer Risikoerhöhung als Subsumtion eines Sachverhalts unter probabilistische Gesetzmäßigkeiten definieren. Es werden dann auch solche empirischen Zusammenhänge zum Maßstab der Zurechnung gemacht, die nur durch Wahrscheinlichkeitsaussagen beschrieben werden können487 . Man kann zwar sagen, daß die Feststellung eines probabilistischen Zusammenhangs eine schwächere Aussage darstellt488 als die eines deterministischen. Wer einen gegebenen Sachverhalt (Randbedingungen) so ergänzt, daß die Voraussetzungen eines deterministischen Zusammenhangs gegeben sind, schafft ein Erfolgsrisiko mit einer Wahrscheinlichkeit von 100%. Wer dagegen für die Voraussetzungen eines probabilistischen Zusammenhangs verantwortlich ist, schafft ein Erfolgsrisiko, das unter 100 % liegt. Eine so verstandene Risikoerhöhungslehre ist nicht etwas grundsätzlich anderes als (Quasi-)Kausalität, sondern nur eine Unterart gesetzmäßiger Erklärung von Zusammenhängen, die zwar graduell schwächer, nicht aber strukturell verschieden ist. Nach dieser Auffassung entfällt dann der Einwand gegen die Risikoerhöhungslehre, sie sei mit dem Gesetz nicht vereinbar, weil dieses bei Erfolgsdelikten stets (auch im Unterlassungsbereich) Kausalität voraussetze489 • Es stellt sich aber die Frage, ob es angemessen ist, die Erfolgszurechnung im Unterlassensbereich auf die Subsumtion unter probabilistische Gesetze zu stützen. Zur Klärung dieser Frage ist zu untersuchen, in welchen Fällen und aus welchen Gründen gesetzmäßige Zusammenhänge nur mit probabilistischen Gesetzmäßigkeiten beschrieben werden. 486 So Puppe, ZStW 95 (1982), 287; NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 120ff.; Hilgendorf, Jura 1995,514 (518 ff.). 487 Vgl. dazu Rolinski, Miyazawa·PS 1995, 483 (489ff.); Kindhäuser; GA 1982, 477 (480ff.); Hilgendorf, Jura 1995,514. 488 Vgl. dazu Hilgendorf, Jura 1995, 514 (518) mit dem Hinweis, daß dann keine logische Ableitung vorliegt. Vgl. auch Kindhäuser; GA 1982,477 (480ff.). 489 In diesem Zusammenhang ist noch darauf hinzuweisen, daß auch im Bereich der Begehungsdelikte Kausalität im Einzelfall auf der Basis probabilistischer Gesetzmäßigkeiten festgestellt werden kann. Vgl. dazu oben Teil A I. 4. c).
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
aa) Anwendungsbereich der Risikoerhöhungslehre beim Unterlassungsdelikt
(1) Wahrscheinlichkeitsaussagen bei lückenhaften Sachverhaltsfeststellungen Zum einen können Sachverhalte so gelagert sein, daß ein sicheres Urteil über einen hypothetischen Verlauf deshalb unmöglich ist, weil nicht genügend Informationen über die Umstände des Einzelfalls vorliegen. Es lassen sich dann nur generalisierende Aussagen machen, die man durch Wahrscheinlichkeitsüberlegungen zum Ausdruck bringt. Beispiel (14): Vater V und Sohn S unternehmen eine Kajaktour auf einem Fluß. S kentert in den Stromschnellen und wird in einem Strudel am Ende der Stromschnellen festgehalten, wo er zu ertrinken droht. Der Vater befindet sich am Ufer des Flusses und unterläßt es, mit seinem Kajak zu S hinzupaddeln und ihm eine Rettungsleine zuzuwerfen. S ertrinkt nach einiger Zeit.
Untersucht man nun, in welchem Zusammenhang das Unterlassen des V zum Tod des S steht, so hängt dies davon ab, ob es dem V möglich war, S zu retten. War dies aufgrund der Strömungsverhältnisse gänzlich unmöglich, so besteht Einigkeit darüber, daß eine Erfolgszurechnung nicht stattfindet. War es dagegen mit Sicherheit möglich, z. B. weil das Wasser am Ende der Stromschnellen ruhig war und V genügend Zeit hatte, zu S hinzupaddeln, ist ihm der Erfolg zuzurechnen. Nach h.M. war das Verhalten des V (quasi-)kausal, nach der Risikoerhöhungslehre hat Ves unterlassen, eine lOO%ige Rettungschance wahrzunehmen. Sind dagegen die Strömungsverhältnisse an der fraglichen Stelle schwer einzuschätzen, so läßt sich die Frage nicht so leicht beantworten. Befragt man nun einen Sachverständigen nach den Rettungsmöglichkeiten, so wird er nach Untersuchung des Flußabschnitts vielleicht sagen, daß ein Mensch mit den physischen Voraussetzungen und Fertigkeiten des V an dieser Stelle mit hoher Wahrscheinlichkeit den Unglücksort erreichen konnte, eine sichere Aussage aber nur möglich sei, wenn er den Wasserstand und damit die Strömungsverhältnisse zum Unfallzeitpunkt kenne. Kann man nun den Wasserstand nicht mehr hinreichend genau ermitteln, so bleibt es bei der Wahrscheinlichkeitsaussage des Sachverständigen. Unter Anwendung der Risikoerhöhungslehre könnte man nun zur Bejahung der Erfolgszurechnung kommen, da ja der Veine aussichtsreiche Rettungschance nicht wahrgenommen hat. Gerade in diesem Fall wird aber die Kollision mit dem Grundsatz "in dubio pro reo" besonders deutlich. Denn die Wahrscheinlichkeitsaussage beruht hier allein darauf, daß der Sachverhalt nicht aufzuklären ist, ein Umstand, der nach dem Zweifelsgrundsatz nicht zu Lasten des Angeklagten gewertet werden dar-rt 90 . Die Verlagerung der Problematik von der Beweisregel in eine Art "normative Beweislastumkehr" durch Rückzug auf ungenaue statistische Aussagen vermag daran nichts zu ändern. 490
So auch Puppe, ZStW 95 (1983), 287 (305).
II. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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(2) Wahrscheinlichkeitsaussagen bei Vorgängen, über die deterministische Zusammenhänge nicht bekannt sind Von den Fällen unvollständiger Sachverhaltsaufklärung sind die Fälle zu unterscheiden, in denen Abläufe in Frage stehen, über die in der Wissenschaft keine deterministischen Gesetzmäßigkeiten bekannt sind und deshalb sichere Aussagen über hypothetische Abläufe strukturell unmöglich sind. In diesem Zusammenhang sind zum einen Abläufe zu nennen, in denen neben dem Verhalten des Täters noch anderes menschliches Verhalten eine Rolle spielt491 . Kann der Garant den Erfolg nur unter Einschaltung eines Dritten abwenden, so hängt seine Einflußmöglichkeit auf das Geschehen von der freien Entscheidung des Dritten ab, über die grundsätzlich nur Wahrscheinlichkeitsaussagen gemacht werden können 492 . Wie bereits erörtert, taucht dieses Problem auch in den Gremiumsfällen auf, weil die Erfolgsabwendungsmöglichkeit des Einzelnen wegen des Mehrheitsprinzips immer von der freien Entscheidung weiterer Gremiumsmitglieder abhängig ist.
Des weiteren gibt es Bereiche, in denen die Wissenschaft zwischen bestimmten Ausgangsbedingungen und Erfolgen nur probabilistische Zusammenhänge festgestellt hat. Dies gilt z. B. für bestimmte medizinische Behandlungsmethoden, die eine Gesundung nur mit bestimmten - statistisch ermittelten - Wahrscheinlichkeiten erwarten lassen493. In diesen Fällen steht nun die h.L. vor einem schwierigen Problem, denn der Maßstab der Quasikausalität kann in Bereichen, in denen nur probabilistische Zusammenhänge bekannt sind, nie zur Erfolgszurechnung führen, weil hypothetische Abläufe nicht mit Sicherheit oder an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beschrieben werden können. Die Risikoerhöhungslehre kann in diesen Fällen als Anpassung der Erfolgszurechnung an die objektiven Gegebenheiten verstanden werden. Weil es dem Menschen prinzipiell unmöglich sei, in bestimmten Bereichen sichere Aussagen über Abläufe zu machen, könne die Zurechnung nur darauf gestützt werden, daß der Täter zumindest nach Wahrscheinlichkeitssätzen Einfluß auf den Erfolgseintritt nehmen konnte. Da hier die Wahrscheinlichkeitsaussage (anders als in den oben (l) angesprochenen Fällen) nicht auf unzureichenden Informationen über den Sachverhalt beruhe, liege auch kein Verstoß gegen den Grundsatz in dubio pro reD vor494 . Denn in Bereichen, in denen prinzipiell nur mit WahrscheinlichkeitsausVgl. dazu bereits oben Teil A II. 5. c). Vgl. dazu ausführlich Puppe, ZStW 95 (1983), 287 (293 ff., 302 ff.); NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 120; Hilgendorf, Jura 1995, 514 (518 ff.). 493 Vgl. dazu NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 123ff.; SK-Rudolphi, Vor § 13 Rn. 13; Stratenwerth, AT, Rn. 1026ff.; ders., Gallas-FS 1973,227 (233); Hilgendorf, Jura 1995, 514 (518); Maiwald, Kausalität, S. 13 ff. 494 Vgl. Puppe, ZStW 95 (1983), 287 (303ff.); NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 130ff.; Stratenwerth, Gallas-FS 1973, 227 (233). 491
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
sagen gearbeitet werden kann, müsse es ja auch nach perfekter Sachverhaltsaufklärung bei einem Wahrscheinlichkeitsurteil bleiben. Eine so verstandene Risikoerhöhungslehre kann aber nur überzeugen, wenn zwei Voraussetzungen gegeben sind. Die erste Voraussetzung ist mehr technischer Art und betrifft die Beschreibung des Anwendungsbereichs der Risikoerhöhungslehre. Hier stellt sich die Frage, ob, und wenn ja, wie die Bereiche, in denen prinzipiell nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind, von anderen Bereichen abzugrenzen sind, in denen mit der Risikoerhöhungslehre nicht gearbeitet werden dlll"f95 . Die zweite Voraussetzung ist grundsätzlicherer Natur. Hier stellt sich die Frage, ob der von den Anhängern des Risikoerhöhungsgedankens gezogene Schluß von der Problemanalyse auf die Lösung durch Veränderung des Zurechnungsmaßstabs richtig ist. Selbst wenn es richtig ist, daß in bestimmten Bereichen sichere Aussagen wegen Fehlens bekannter deterministischer Gesetzmäßigkeiten nicht möglich sind, ist damit noch nicht gesagt, daß dieses Problem durch Anpassung des Zurechnungs maßstabs zu lösen ist. Hinter der Anwendung des Risikoerhöhungsprinzip zur Lösung von Fällen, die nach den Grundsätzen der (Quasi-) Kausalität nicht erfaßt werden können, steckt die Prämisse, daß in diesen Fällen die Zurechnung unbedingt zu bejahen sei, weil sonst nicht akzeptable Stratbarkeitslücken entstünden. Es stellt sich also die Frage, ob aus der Erkenntnis, daß mit dem Maßstab der Quasikausalität in bestimmten Bereichen Stratbarkeitslücken entstehen, gefolgert werden darf, daß deshalb der Zurechnungsmaßstab zu flexibilisieren ist. Hat die Strafrechtsdogmatik tatsächlich die Aufgabe, durch Flexibilisierung ihrer Maßstäbe Lücken zu schließen? Kann, oder besser gefragt, darf sich das Strafrecht den "besonderen Verhältnissen", welche durch die Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit auftreten, anpassen? bb) Abgrenzbarkeit von Bereichen, in denen prinzipiell nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind
Versteht man die Risikoerhöhungslehre im eben dargestellten Sinne als Anpassung der Erfolgszurechnung an die Besonderheiten menschlicher Erkenntnismöglichkeiten, d. h. an die Unmöglichkeit, in bestimmten Bereichen deterministische Zusammenhänge festzustellen, so ist es erforderlich, ihren Anwendungsbereich genau zu definieren, das heißt die Fälle anzugeben, in denen aus prinzipiellen Gründen nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind496 . In diesem Zusammenhang hat Puppe497 herausgearbeitet, daß hier verschiedene Grade grundsätzlicher Unaufklärbarkeit zu unterscheiden sind.: 495 Dazu NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 132; Stratenwerth, Gallas-FS 1973,227 (239). Kritisch SK-Samson, Anh. zu § 16 Rn. 27a. 496 Stratenwerth, Gallas-FS 1973, 227 (239). Dagegen Samson, Welzel-FS 1974, 579 (593, Fn. 68); SK-Samson, Anh. zu § 16 Rn. 27a. 497 ZI3tW 95 (1983), 287 (305). Vgl. auch NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 120ff.
11. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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(1) Zum Ersten könne ein Prozeß objektiv nicht detenniniert sein. Das ist dort anzunehmen, wo nach dem heutigen Weltbild der Naturwissenschaft grundsätzlich nicht mehr von detenninierten Abläufen gesprochen werden kann, wo also auch die Naturwissenschaft davon auszugehen hat, daß selbst bei optimaler Erforschung aller Einzelheiten sichere Voraussagen über Einzelfälle nicht zu erzielen sind498 . Als Beispiel nennt Puppe hier die Entwicklung von Krankheiten499 • Deren Verlauf hängt nicht nur von einer Infektion ab, sondern ist auch von den Eigenschaften des Immunsystems des Infizierten abhängig, welches widerum nicht nur von dessen physischen Faktoren (allgemeiner Gesundheitszustand, Ernährung, Vorerkrankungen, andere physische Belastungen) sondern auch von psychischen Faktoren abhängt. Letztere hängen wiederum von der allgemeinen seelischen Befindlichkeit 500 des Patienten ab, die durch Faktoren aus der früheren und gegenwärtigen Umwelt bestimmt werden und sich in ihrem komplexen Zusammenspiel einer genaueren Beschreibung entziehensol.
(2) Zum Zweiten könne ein bestimmter Prozeß grundsätzlich detenniniert sein, die dabei zu berücksichtigenden Faktoren aber so komplex und in ihrem Zusammenspiel unüberschaubar, daß in keinem Einzelfall der detenninistische Ablauf rekonstruierbar ist. Als Beispiel könnte hier das mehrfache Fallenlassen eines Würfels aus einer festen Haltevorrichtung auf eine glatte Oberfläche dienen. Trotz scheinbar identischer Voraussetzungen kann der einzelne Verlauf nicht prognostiziert werden, weil bereits kleinste Veränderungen (Oberfläche des Würfels und der Platte, kleinste Erschütterungen, Luftzug etc.) in dem höchst komplexen Vorgang andere Verläufe nach sich ziehen. Die Feststellung des detenninistischen Zusammenhangs scheitert dabei an der Genauigkeit menschlicher Meß- und Rechenmethoden. (3) Zum Dritten können detenninistische Abläufe so komplex sein, daß sie zwar unter Laborbedingungen, d. h. unter optimalem Einsatz von Meßtechnik, rekonstruierbar sind. Kommen solche Abläufe im täglichen Leben vor, scheitert eine entsprechende Analyse des Einzelereignisses an der grundsätzlichen Beschränktheit prozessualer Erkenntnismittel. Hier werden sich die Umstände eines bestimmten Ablaufs nur insoweit ennitteln lassen, als sie mit menschlichen Sinnen erfaßt und dem Richter durch Zeugenbeweis zugänglich gemacht werden, oder zumindest meßbare Spuren hinterlassen haben. So wäre im Beispielsfall (14) - Kajakunglück - bei konkreten Meßwerten über die Strömungsverhältnisse eine Aussage darüber möglich, ob V den S erreichen konnte. dagegen muß dies unsicher bleiben. wenn man nur vage Zeugenaussagen über den Wasserstand und die Stärke der Strömung hat. 498 Zum Zweifel am Kausalprinzip in den Naturwissenschaften vgl. Maiwald, Kausalität. S.13ff. 499 Vgl. NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 123. 500 Zu den Problemen bei der Erfassung psychischer Kausalität vgl. oben I. 4. d). 501 Vgl. dazu NK-Puppe. Vor § 13 Rn. 123.
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Gerade in den bei den zuletzt genannten Konstellationen (2) und (3) bestehen aber Bedenken gegen die Behauptung, daß hier "prinzipiell" nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind. Denn diese Aussage ist nur in ihrem Bezug auf den gerade erreichten Stand von Wissenschaft und Technik bzw. auf die prozessualen Erkenntnismethoden richtig. Und damit ist die Beschränkung auf Wahrscheinlichkeitsaussagen eben nicht prinzipieller Natur. Auch der Einwand, ein Verstoß gegen den Zweifelsgrundsatz liege nicht vor, weil die Beschränkung der Erkenntnisfähigkeit grundsätzlicher Art sei, ist nicht richtig. Denn gerade die Analyse der Problematik, die zu dem Eingeständnis führt, daß man bestimmte, den einzelnen Ablauf determinierende Faktoren nicht feststellen und der Beurteilung zugrundelegen kann, impliziert doch, daß es sie gibt, und daß der einzelne Fall "prinzipiell" je nach den Umständen so oder anders ablaufen mußte. Der Rückzug auf die Wahrscheinlichkeitsaussage 502 , der gerade durch den Verzicht auf die Angabe der relevanten Faktoren der genauen Gesetzmäßigkeit zustande kommt, umgeht damit die Feststellung dieses Faktors. Durch die Arbeit mit nur rudimentär gefaßten Gesetzmäßigkeiten wird die Feststellung bestimmter Sachverhaltsbestandteile umgangen. Indirekt wird damit auch der in dubio pro reo - Grundsatz tangiert. Beispiel (15): Ein Militärarzt bemerkte Anfang des vorigen Jahrhunderts, daß viele verletzte Soldaten nach schweren Verletzungen entweder sehr schnell sterben oder nach Überleben einer kritischen Zeit meistens wieder gesunden. Seinen Beobachtungen zufolge steht dieses Phänomen mit dem erlittenen Blutverlust in Zusammenhang. Er kommt daher auf die Idee, in der kritischen Phase Bluttransfusionen von gesunden Kameraden vorzunehmen. Dabei stellt er fest, daß manche Patienten sich erholen, während andere unerwartet schnell sterben. Dies sei damit erklärt, daß dem Arzt das Vorhandensein von Blutgruppen und deren Unverträglichkeit unbekannt war und eine Besserung nur dann eintrat, wenn zufällig Blutgruppenverträglichkeit bestand. Für Patienten mit hohem Blutverlust sei aber die Transfusion einzige Überlebenschance gewesen. Nach dem Kenntnisstand des Arztes konnte für den Zusammenhang von Blutübertragung und Rettung des Patienten also nur eine Wahrscheinlichkeitsaussage getroffen werden. Nach der Risikoerhöhungslehre wäre er für den Tod eines Patienten verantwortlich, wenn er im Einzelfall eine mögliche Bluttransfusion unterlassen hätte. Nach heutigem Kenntnisstand wäre dagegen zu fragen, ob das gespendete Blut mit dem des Patienten verträglich war. Eventuelle Unaufklärbarkeit dieses Umstandes würde sich zugunsten des Arztes auswirken. Die Wahrscheinlichkeitsaussage führt dagegen dazu, daß bestimmte, grundsätzlich wesentliche Aspekte aus der Erklärung von vornherein ausgeblendet werden und dadurch stets zum Nachteil des Taters unterstellt werden. Die Beschränktheit menschlicher Erkenntnismöglichkeiten schlägt zum Nachteil des Täters aus. Damit ergeben sich durchgreifende Bedenken gegen die Anwendung der Risikoerhöhungslehre in 502 Vgl. dazu Schulin, Kausalitätsbegriff, S. 89f. Statistische Gesetzmäßigkeiten können "Oberflächenanalysen" sein, denen eine deterministische Gesetzmäßigkeit zugrundeliegt.
H. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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Bereichen, in denen die Wahrscheinlichkeitsaussage auf einer unvollständigen Erfassung eines determinierten Ablaufs beruht503 . Diskutabel bleibt die Anwendung von Wahrscheinlichkeitsaussagen allenfalls da, wo es andere Zusammenhänge objektiv nicht gibt, nicht da, wo sie dem Beurteiler lediglich nicht bekannt sind. Solange es nicht gelingt, diese Bereiche sicher einzugrenzen, kann mit der Risikoerhöhungslehre nicht gearbeitet werden. Bislang ist aber eine Antwort darauf, wo die absoluten Grenzen sicherer menschlicher Erkenntnis liegen und wo man sich endgültig mit indeterministischen Aussagen zu begnügen haben wird, wohl noch nicht gefunden. Damit ist die Risikoerhöhungslehre ohne Widerspruch zum Zweifelsgrundsatz nicht anwendbar. cc) Der Risikoerhöhungsgedanke als adäquate Lösung von Zurechnungsjragen
Selbst wenn man man den Anhängern der Risikoerhöhungslehre in der Problemanalyse folgt und ihnen auch darin zustimmt, daß es eingrenzbare Bereiche gibt, in denen der Mensch über die Zusammenhänge der Außenwelt "prinzipiell" nur Wahrscheinlichkeitsaussagen machen kann, ist damit noch nicht gesagt, daß dann eine Erfolgszurechnung durch Risikoerhöhungsgesichtspunkte gerechtfertigt werden kann. In diesem Zusammenhang ist nochmals auf die angeblich nutzlose Frage nach der "echten" Kausalität des Unterlassens zurückzukommen. Denn für viele Anhänger der Risikoerhöhungslehre steht die Erfolgszurechnung durch Risikoerwägungen in engem Zusammenhang mit der Verneinung der Unterlassenskausalität504 . Dagegen ist dem Gesetz zu entnehmen, daß die Strafbarkeit wegen eines Erfolgsdeliktes von der Verursachung des Erfolges abhängt, besonders deutlich in §§ 222, 229. Bei allen Erfolgsdelikten ist ein tatsächlicher Einfluß des raters auf die Außenwelt erforderlich, der sich in einem mit seinem Verhalten in Zusammenhang stehenden tatbestandsmäßigen Erfolg auswirken muß. Beim Begehungsdelikt muß der Tater einen Erfolg durch Veränderung seiner Umwelt herbeigeführt haben, beim Unterlassungsdelikt muß er eine Gestaltung zum Vorteil des Opfers unterlassen haben. Stets ist eine sinnvolle Aussage über die dabei maßgeblichen Zusammenhänge nur durch allgemeines Erfahrungswissen über die Zusammenhänge der Außenwelt möglich. Wer bei der Bestrafung auf die Veränderung oder die mögliche Veränderung der realen Welt abstellt, muß bei der Beantwortung dieser Frage auf die Gesetzmäßigkeiten zurückgreifen, die für die Abläufe in dieser Welt gelten. Vgl. SK-Samson, Anh. zu § 16 Rn 27a Vgl. dazu Hardwig, Zurechnung, S. 90ff.; Kahrs, Verrneidbarkeitsprinzip, S. 20ff.; Walder, SchwZStr 93 (\977), 113 (\22 ff., 152 ff.). 503
504
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
Bei den Erfolgsdelikten durch aktives Tun bedeutet dies, daß ein Kausalurteil im Einzelfall nur unter Rückgriff auf empirische Gesetzmäßigkeiten möglich ist. Besondere Betonung erfährt dieser Gesichtspunkt bei der Lehre von der gesetzmäßigen Bedingung. Aber auch bei Anwendung der conditio-sine-qua-non-Formel wird auf empirische Gesetzmäßigkeiten zurückgegriffen, wenn danach gefragt wird, was ohne ein bestimmtes Verhalten geschehen wäre. Wird also behauptet, ein Umstand sei für einen Erfolg kausal, so stellt dies das Urteil dar, daß der Erfolg aus diesem Umstand und weiteren Bedingungen aufgrund allgemeiner Gesetzmäßigkeiten erklärt werden kann. Wegen der Allgemeingültigkeit empirischer Gesetzmäßigkeiten, können sie aber nicht nur retrospektiv zur Beurteilung eines realen Sachverhaltes angewendet werden. Sie erlauben auch Aussagen über fiktive (hypothetische, zukünftige) Sachverhalte (Prognosen)505. In dieser Funktion ermöglichen empirische Gesetzmäßigkeiten auch Aussagen über die Folgen von Unterlassungen. Wenn § 13 StGB darauf abstellt, ob der Täter es unterlassen hat, den Erfolg abzuwenden, kann nur aufgrund dieser Gesetzmäßigkeiten eine Antwort darauf gefunden werden, wie die geforderte Erfolgsabwendung hätte ablaufen können und ob sie möglich war. Versteht man in diesem Sinne unter einem Kausalurteil die Anwendung allgemeiner empirischer Gesetzmäßigkeiten auf einen Einzelfall, so kann man Kausalurteile sowohl bezüglich realer Abläufe (Begehungsdelikte) wie auch bezüglich fiktiver Abläufe (Unterlassungsdelikte) abgeben. In diesem Sinne gibt es dann "Kausalität" beim Unterlassungsdelikt und beim Begehungsdelikt. Bei den bisherigen Untersuchungen hat sich nun ergeben, daß man die Risikoerhöhungslehre als Anwendung probabilistischer Gesetzmäßigkeiten im Unterlassungsbereich verstehen kann 506 . Eine so verstandene Risikoerhöhungslehre stellt also nichts anderes dar, als die Anpassung der Erfolgszurechnung an ein besonderes Kausalitätsproblem durch Veränderung des Zurechnungsmaßstabs. Es ist damit die Frage zu stellen, ob und wenn ja, wie durch Anwendung probabilistischer Gesetzmäßigkeiten Kausalurteile im Einzelfall gefällt werden können und wie diese Haftungserweiterung aus rechtlicher Sicht legitimiert werden kann. (l) Das Arbeiten mit probabilistischen Zusammenhängen
beim Begehungsdelikt507
Die Frage der Erfolgszurechnung im Zusammenhang mit probabilistischen Gesetzmäßigkeiten stellt sich nicht nur beim Unterlassungsdelikt. Grundsätzlich stellt Vgl. dazu Schutz, Lackner-FS 1987,39. Vgl. ausführlich Puppe, ZStW 95 (1983), 287 (293ff.) sowie NK-Puppe, Vor § 13 Rn. 120ff., auf deren Analyse die Erfassung des Risikoerhöhungsgedankens als Kausalitätsproblem zurückgeht. Hilgendorf, Jura 1995,514 (518 ff.). 507 Vgl. dazu schon oben Teil A I. 4. c). 505
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H. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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sich auch beim Begehungsdelikt die Frage, ob der Täter einen Erfolg verursacht hat, wenn man hinsichtlich der maßgeblichen gesetzmäßigen Zusammenhänge nur Wahrscheinlichkeitsaussagen machen kann 508 . Beispiel (16)509: A, ein mäßiger Schütze, feuert aus einer Entfernung von lOOOm auf B. B wird tödlich getroffen.
Versucht man nun, den gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen dem Schuß und dem Tod des B zu beschreiben, ist dabei eine solche Vielzahl von Informationen nötig (Schußwinkel, Haltekraft und Bewegung des Schützen, Windverhältnisse), daß dies in einem Einzelfall praktisch nicht darstellbar ist 51O • Man kann für diesen vergleichbar einfachen Fall kein allgemeines Naturgesetz angeben, mit dem man den Erfolg sicher aus den Antezedensbedingungen prognostizieren kann. Ob ein mittelmäßiger Schütze ein Objekt von der Größe eines Menschen aus lOOOm Entfernung treffen kann, läßt sich nicht sicher sagen, sondern nur mit einer gewissen, in diesem Fall wohl recht geringen, Wahrscheinlichkeit. Wurde der Schuß aber tatsächlich abgegeben, versucht man also ein Kausalurteil über ein reales Ereignis abzugeben, hat man noch andere Möglichkeiten, die Ursächlichkeit zu begründen. Findet man beispielsweise die Kugel aus dem Lauf der Waffe des A im Körper des B, so ist man dennoch sicher, daß A den B getötet hat. Kann man die Kugel nicht mehr finden, so wird man dannach fragen, ob zum maßgeblichen Zeitpunkt noch andere Schüsse im räumlichen Umfeld (reduziert auf die Schußrichtung) abgegeben wurden. Ist dies auszuschließen, so kann man daraus zurückschließen, daß es eben der Schuß des A gewesen sein muß, der B getroffen hat. Über den gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen Schuß und Tötung braucht man dabei nur wissen, daß es zumindest möglich war, durch den Schuß den Erfolg zu verursachen. Dieser Betrachtungsweise liegt das Verständnis zugrunde, daß ein probabilistisches Gesetz nur eine Aussage über eine Vielzahl von Fällen ermöglicht, während in einem Einzelfall immer nur einer von mehereren nach dem Wahrscheinlichkeitsgesetz möglichen Verläufen stattfindetSli. In dem eben behandelten Schußbeispiel besteht abstrakt gesehen nur eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß der Schütze trifft, wird aber ein Schuß tatsächlich abgegeben, so kann er nur fehlgehen oder treffen. Hat nun ein solcher Ablauf, über den abstrakt nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind, konkret stattgefunden, so kann man den tatsächlichen Ablauf als Ausprägung der Wahrscheinlichkeitsaussage verstehen, wenn man dabei aus508 Vgl. dazu Hilgendorf, Jura 1995,514 (518ff.); Hoyer, GA 1996, 160 (166ff.); NKPuppe, Vor § 13 Rn. 120ff. (122); Rolinski, Miyazawa-FS 1995, S. 483 (494ff.). 509 Beispiel frei nach Schuh. Lackner-FS 1987.39. 510 Schulz. Lackner-FS 1987, S. 39 ff. spricht insoweit von einer Erkärungsskizze. 511 Es entsteht das Problem der Explikation von Einzelfällen. Vgl. Kindhäuser, GA 1982, 477 (484); Schulz. Lackner-FS 1987. S. 39 (44); Rolinski, Miyazawa-FS 1995.483 (500).
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
schließen kann, daß der Erfolg auf andere Weise zustandegekommen ist. In dieser Vorgehensweise liegt der Kern der conditio-sine-qua-non-Formel, welcher der Formel ihre eigene Berechtigung bei der Prüfung von Ursachenzusammenhängen sichert. Denn durch das Wegdenkverfahren wird untersucht, ob noch andere Faktoren im Spiel waren, die eine bestimmte Folge erklären können. Ist dies mit Sicherheit auszuschließen, hat sich im Einzelfall die in der generellen Wahrscheinlichkeitaussage liegende Möglichkeit realisiert. Man könnte insoweit von der Abschinnung einer als Arbeitshypothese ins Auge gefaßten kausalen Erkärung sprechen. Die probabilistische Gesetzesaussage trägt die Möglichkeit der Erfolgsverursachung in sich. Kann man andere Erklärungen ausschließen und die probabilistische Erklärung damit gegen ..Störungen" abschirmen, bleibt zur Erklärung des Einzelfalls nur der probabilistische Zusammenhang, der dann auch ein Kausalurteil im Einzelfall tragen kann. Das Verhalten des Täters ist deshalb kausal, weil sein Verhalten Teil eines probabilistischen Bedingungungskomplexes war, der im konkreten Fall den Erfolg herbeigeführt hat, obwohl das ex ante betrachtet nicht der Fall sein mußte. (2) Die Anwendung probabilistischer Gesetzmäßigkeiten beim Unterlassungsdelikt Betrachtet man nun das Problem probabilistischer Zusammenhänge bei Unterlassungsdelikten vor dem Hintergrund der eben dargestellten Vorgehensweise beim Begehungsdelikt, so zeigt sich, daß der dort beschrittene Weg zur Lösung der Problematik nicht gangbar ist. Denn beim Unterlassungsdelikt ist ja die Kausalfrage bezüglich eines hypothetischen Sachverhalts zu stellen. Die bekannten Gesetzmäßigkeiten sind auf eine prognostische Fragestellung anzuwenden. Verfügt man hier nur über probabilistische Gesetzmäßigkeiten, so kann damit zwar eine Aussage über eine Vielzahl von Fällen der fraglichen Art gemacht werden, eine Aussage über einen Einzelfall, über den nächsten Fall, dessen Beurteilung rechtlich relevant ist, kann gerade nicht getroffen werden. Es kann eben nicht gesagt werden, welche der Möglichkeiten, die in der Wahrscheinlichkeitsaussage impliziert sind, sich realisiert hätte, weil das Geschehen real nicht abgelaufen ist. Dies kann man sich am Beispiel des Werfens eines Würfels leicht vergegenwärtigen. Wird ein Würfel geworfen, besteht für das Erscheinen einer 6 nach allgemeinen Gesetzen stets eine Wahrscheinlichkeit von 1 /6. Wurde nun tatsächlich eine 6 gewürfelt, so kann man sagen, daß das Werfen des Würfels (aktives Tun), und damit auch der Werfer selbst, kausal für das Erscheinen der 6 war - das gilt jedenfalls dann, wenn nur ein Würfel im Spiel W~12. Konnte nun durch das Werfen einer 6 eine bestimmte weitere Folge vermieden werden und hat eine bestimmte Person den Würfel gar nicht geworfen (Unterlasm Vgl. dazu Schulz. Lackner-FS 1987, 39 (44) zu dem gleichgelagerten Syphilisbeispiel. Dazu schon oben, Teil A I. 4. c).
H. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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sen), so läßt sich anhand der probabilistischen Gesetzmäßigkeit keinerlei Urteil über den maßgeblichen Einzelfall, also den nächsten, allein interessierenden Wurf abgeben 5 \3. In der Unterlassungskonstellation ist ein Kausalurteil für einen Einzelfall mittels eines Wahrscheinlichkeitsgesetzes nicht möglich. Es ist nur die Aussage möglich, daß nach allgemeiner Erfahrung für eine Fülle von vorzunehmenden Würfen 1 /6 der Würfe eine 6 hervorbringen wird. dd) Folgerungen aus den bisher gefundenen Erkenntnissen: Die Ablehnung der Risikoerhöhungslehre
Die bisherige Untersuchung der Risikoerhöhungslehre hat gezeigt, daß sie nur da ein diskutables Anwendungsfeld finden kann, wo bei der Feststellung von Kausalität prinzipiell nur probabilistische Gesetzesaussagen möglich sind. Wird diese Beschränkung des Anwendungsbereichs nicht beachtet, so verstößt die Risikoerhöhungslehre gegen den Grundsatz "in dubio pro reo", weil dann Mängel der Sachverhaitsaufklärung oder grundsätzliche Probleme bei der Aufklärbarkeit komplexer Sachverhalte durch vage Risikoerwägungen überspielt werden. Hieraus ergeben sich grundsätzliche Einwendungen gegen die Risikoerhöhungslehre, solange dieser Anwendungsbereich nicht trennscharf bestimmt werden kann. Solange sich wissenschaftliche Erkenntnisse weiterentwickeln, verschiebt sich der Anwendungsbereich der strafbarkeitserweitemden Risikoerhöhungslehre. Letztlich wirkt sich lückenhaftes Wissen und lükenhaftes Erkenntnisvermögen des Rechtsanwenders zum Nachteil des Angeklagten aus. Die Anwendung der Risikoerhöhungslehre im Zusammenhang mit probabilistischen Zusammenhängen führt dazu, daß beim Unterlassungsdelikt, anders als beim Begehungsdelikt, ein zuverlässiges Urteil über den Ablauf des Einzelfalls in bestimmten Bereichen nicht mehr gefordert wird, weil es "prinzipiell" nicht möglich sei. Stattdessen erfolgt die Erfolgszurechnung im Einzelfall unter Rückgriff auf Zusammenhänge, bei denen Aussagen nur über eine Vielzahl von Fällen gemacht werden können. Dies führt zu einer erheblichen Ausdehnung der Erfolgszurechnung gegenüber dem Begehungsdelikt. Beispiel (17): Ein Facharzt, der eine Vielzahl von Patienten behandelt, versäumt es, sich ausreichend über neue Behandlungsmöglichkeiten und Medikamente zu informieren. I. Variante (Begehungsfall): Er wendet zur Behandlung von harmlosen Krankheiten ein Präparat an, das nach neuesten Untersuchungen in 10% der Fälle tödliche Folgen hat. Von 100 behandelten Patienten sterben 10. 2. Variante (Unterlassungsfall): Bei der Behandlung todkranker Patienten unterläßt er es, ein neues Medikament anzuwenden, das in 10 % der Fälle aus noch unerforschten Gründen zur Heilung führt. Erwartungsgemäß sterben die 100 behandelten Patienten, obwohl bei 513 Vgl. dazu auch Kindhäuser; GA 1982,477 (484), der auf die Heranziehung von probabilistischen Gesetzen bei der Kausalitätsfeststellung verzichten will, ohne zwischen realen und fiktiven Abläufen zu differenzieren.
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
Verabreichung des Medikrnents statistisch gesehen 10 Patienten zu retten gewesen wären 514 .
In beiden Varianten des Falles stellt sich die Frage, ob die Erfolge zurechenbar sind. Bei der Begehungsvariante ist dies dann der Fall, wenn die Todesfälle auf die schädliche Wirkung des Medikaments zurückzuführen sind. Diese Feststellung ist auch dann möglich, wenn die Faktoren, die bei bestimmten Patienten den Tod auslösen, bei anderen Patienten aber nicht, im einzelnen nicht genau benannt werden können 515 . Wesentlich ist nur das Vorliegen des probabilistischen Zusammenhangs und der Nachweis, daß die Voraussetzungen anderer Bedingungskomplexe, die einen gleichartigen Erfolg herbeiführen können, nach menschlichem Ermessen auszuschließen sind - ein Ergebnis, das auf der Anwendung der conditio-sine-quanon-Formel beruht. Der Arzt wäre der Tötung in 10 Fällen schuldig. Bei der Unterlassenskonstellation (Variante 2) käme man mit der Risikoerhöhungslehre zu dem Ergebnis, daß der Erfolg in allen Fällen zuzurechnen ist. Denn der Arzt hat durch seine Unterlassung das Risiko des Todeseintritts für jeden Patienten erhöht. In jedem Fall bestand eine 10 %ige Wahrscheinlichkeit, daß der Patient überlebt. Insgesamt gesehen wäre der Arzt also wegen vollendeter Tötung in 100 Fällen zu bestrafen, obwohl doch aufgrund des medizinischen Kenntnisstandes feststeht, daß in 90 von 100 Fällen die Patienten unrettbar verloren waren und die Unterlassung in keinem Zusammenhang mit dem Todesfall stand. Die Risikoerhöhungslehre führt demnach beim Unterlassungsdelikt zu einer erheblichen Stratbarkeitserweiterung im Verhältnis zum Begehungsdelikt. Daß aber gerade das Unterlassungsdelikt in seinen Zurechnungsvoraussetzungen für den Täter ungünstiger sein soll als das Begehungsdelikt, ist nur schwerlich einleuchtend. Denn nach der Gesetzessystematik ist ja gerade das Begehungsdelikt der Normalfall strafrechtlicher Verantwortlichkeit. Das Unterlassungsdelikt ist ein Sonderfall strafrechtlicher Haftung, der an besondere Voraussetzungen - Vorliegen einer Garantenstellung und Erfüllung der Entsprechensklausel - geknüpft ist. Selbst bei Vorliegen dieser Voraussetzungen des § 13 bringt das Gesetz durch die fakultative Strafmilderungsmöglichkeit zum Ausdruck, daß es den Unrechtsgehalt des unechten Unterlassungsdelikts dem des entsprechenden Begehungsdelikts nicht stets gleichachtet. Eine gegenüber dem Begehungsdelikt erweiterte Erfolgshaftung ist in Anbetracht dieser Umstände nicht akzptabel. Vielmehr ist die Erfolgszurechnung beim Unterlassungsdelikt in ihren Anforderungen möglichst eng an die Erfolgszurechnung des Begehungsdeliktes anzugleichen. Dies ist dadurch zu erreichen, daß mit der h.M. am Merkmal der Kausalität (oder Quasikausalität) festgehalten 514 515
Vgl. auch Fincke. Arzneimittelprüfung, S. 24 mit einern ähnlichen Beispiel. Vgl. dazu ausführlich oben Teil A I. 4. b).
II. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
161
wird516 . Ein positives Kausalurteil kann nur dann gefällt werden, wenn die Anwendung der über den Einzelfall verfügbaren Gesetzmäßigkeiten zu dem Ergebnis führt, daß das vom Täter geforderte Verhalten mit Sicherheit oder an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zur Abwendung des Erfolges geführt hätte 517 . Nur dann hat er tatsächlich das Geschehen beherrscht, hat er es dem Opfer durch seine Untätigkeit "zum Schlechten gewendet,,518 und der Erfolg ist sein "Werk"S19. Dies ist durch die Übertragung der conditio-sine-qua-non-Formel auf das Unterlassungsdelikt gewährleistet. Kausalität des Unterlassens liegt nur dann vor, wenn bei Hinzudenken der pflichtgemäßen Handlung der Erfolg entfallen wäre. Nur wenn dieses Urteil über den Einzelfall getroffen werden kann, ist man berechtigt, den Erfolg dem Täter zuzurechnen. Risiko- oder Wahrscheinlichkeitserwägungen ermöglichen dagegen nur sinnvolle Aussagen über eine Vielzahl von Fällen. Eine Prognose für einen bestimmten Einzelfall - und nur dieser Einzelfall ist strafrechtlich relevant - kann damit nicht abgegeben werden. Daß es nach der hier vertretenen Ansicht auch zur Straflosigkeit in Fällen kommt, in denen der Täter sich entgegen den Erwartungen der Rechtsordnung verhält, mag Anlaß für eine Stratbarkeitserweiterung de lege ferenda sein (so geschehen in § 130 OwiG), eine verdeckte Strafbarkeitserweiterung durch Flexibilisierung des Zurechnungsmaßstabs bei Erfolgsdelikten, wie sie die Risikoerhöhungslehre vornimmt, ist abzulehnen.
8. Zusammenfassung und Ergebnis Die Untersuchung der Erfolgszurechnung in Unterlassungsfällen bei nur kumulativ möglicher Erfolgsabwendung durch mehrere Garanten hat gezeigt, daß der einzelne Garant nur dann für den Erfolg verantwortlich ist, wenn unter der Hypothese pflichtgemäßen Verhaltens der Erfolg mit Sicherheit oder an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit abgewendet worden wäre. In einem Gremium, das nach 516 Vgl. Nagler, GS 111 (1938), I (28 ff., 70); BaumannI Weberl Mitsch, AT, § 15 Rn. 22f.; Kühl, AT, ,Rn. 35 ff.; JeschecklWeigend, § 59 III 4.; LK-Jescheck, § 13 Rn. 18; Lacknerl Kühl, Vor § 13 Rn. 12. 517 So die h.M.: Arzt, JA 1980, 553 (556); BaumannlWeberlMitsch, AT, § 15 Rn. 23; Freund, AT, § 2 Rn. 48 ff.; Gropp, AT, § 11 Rn. 71; Jakobs, AT, 29/19f.; JeschecklWeigend, AT, § 59 III 4.; Köhler, AT, S. 229; Kühl, AT, § 18 Rn. 35ff.; Wesseis, AT, Rn. 711; Frank, StGB, § 1 IV; Kohlrauschi Lange, Systematische Vorbem. II; Preisendanz, § 13 III 2. c); LacknerlKühl, Vor § 13 Rn. 12; Tröndle, Vor § 13 Rn. 20; LK-Jescheck, § 13 Rn. 18; NKSeelmann, § 13 Rn. 61; SISILenckner, Vor § 13 Rn. 71; SISIStree, § 13 Rn. 61; Fincke, Arzneimittelprufung, S. 49 ff., 82; Hohmannl Matt, Jura 1990, 544 (548); Ranft, JZ 1987, 859 (863); Schlehofer, Jura 1989, 263 (268). 518 Dieser einprägsame Begriff stammt von Kahlo, GA 1987,66 (76), der allerdings für drittvennitteltes Rettungsverhalten die Risikoerhöhungslehre anwenden will. Dazu schon oben Teil A II. 5. c). 519 Vgl. SISILenckner, Vor § 13 Rn. 71; Kühl, AT, § 18 Rn. 39.
II Schaa1
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Teil A: Die Kausalitätsproblematik bei der Gremienentscheidung
dem Mehrheitsprinzip entscheidet, ist dies nur dann der Fall, wenn neben der unterlassenen Ja-Stimme (z. B. für den Rückruf eines als gefahrIich erkannten Produkts) eines Garanten genügend andere Ja-Stimmen tatsächlich vorhanden waren, um insgesamt eine Mehrheit für die erforderliche Retttungsmaßnahme zu bilden. Dieses Ergebnis beruht auf den Grundsätzen zur Kausalität oder Quasikausalität des Unterlassens, wie sie allgemein von der h.M. angewendet werden. Die Unterlassung ist nur dann für einen Erfolg kausal, wenn die pflichtgemäße Handlung nicht hinzugedacht werden kann, ohne daß der Erfolg entfallt. Dieser Maßstab führt stets zur Ablehnung von Kausalität, wenn neben der unterlassenen Handlung des Taters noch weitere Umstände nicht vorlagen, die nach den bekannten Gesetzmäßigkeiten vorliegen mußten, um die Erfolgsabwendung zu ermöglichen. Dies muß auch dann gelten, wenn ein solcher weiterer Umstand aus einer ebenfalls pflichtwidrigen Unterlassung eines anderen Garanten besteht. Eine normative Korrektur dieses Ergebnisses ist abzulehnen. Der zugrundeliegende Sachverhalt darf nicht entgegen den Tatsachen zu Lasten des Taters korrigiert werden, indem man das Fehlverhalten der übrigen Garanten ignoriert, und damit deren pflichtgemäßes Verhalten fingiert. Dies würde dazu führen, daß dem einzelnen Garanten ein für ihn unvermeidbarer Erfolgseintritt als sein Werk zugerechnet wird, weil man ihm das pflichtwidrige Verhalten anderer Garanten nicht zugute kommen lassen will. Eine solche Korrektur des Zurechnungsmaßstabes beim Unterlassungsdelikt kann auch nicht mit einer Parallele zur alternativen Kausalität (Mehrfachkausalität) beim Begehungsdelikt begründet werden. Das Problem der alternativen Kausalität stellt sich beim Unterlassungsdelikt in anderer Form als beim Begehungsdelikt. Im Regelfall stellen Alternativfälle beim Unterlassungsdelikt gar kein Problem dar, dessen Lösung eine Abwandlung der Zurechnungsvoraussetzungen erfordern würde. Können mehrer Garanten in einer bestimmten Situation jeweils das Opfer retten und unterlassen dies, so werden sie alle kausal. - Mehrfachkausalität liegt vor. Keine Frage der Mehrfachkausalität liegt aber dann vor, wenn ein Garant mangels Mitwirkung anderer Garanten gar keine Rettungsmöglichkeit hat, weil er alleine nicht helfen kann. Hier fehlt es an den tatsächlichen Voraussetzungen einer Erfolgshaftung für den Garanten. - Wenn § 13 StGB denjenigen für den Erfolg haften lassen will, der es "unterläßt, einen Erfolg abzuwenden", so setzt dies voraus, daß der Betreffende dazu tatsächlich in der Lage ist. Es reicht hier nicht aus, daß er zur Erfolgsabwendung in der Lage gewesen wäre, wenn sich andere Beteiligte ebenfalls richtig verhalten hätten, weil er für diese Personen grundsätzlich (Ausnahme mittäterschaftliche Zurechnung52o ) nicht mitverantwortlich ist. Eine Erfolgszurechnung nach den Grundsätzen der Risikoerhöhungslehre ist ebenfalls abzulehnen. Die Risikoerhöhungslehre eignet sich als Zurechnungsmaßstab für das Eifolgsdelikt durch Unterlassen nicht. Wendet man bei der Unter520
Dazu unten Teil B.
11. Ursächlichkeit des Einzelverhaltens bei Unterlassen
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suchung der Risikoerhöhung einen ex ante-Maßstab an, so führt jedes gefahrerhöhende Unterlassen eines Garanten zur Erfolgszurechnung, auch wenn sich im Nachhinein herausstellt, daß der Erfolg unvermeidbar war. Erfolgsdelikte werden in Gefährdungsdelikte umgedeutet. Die Anwendung eines ex post-Maßstabes behebt diesen Fehler nur scheinbar. Dem Risikourteil werden zwar alle bekannten Informationen zugrundegeIegt, es besteht aber immer die Gefahr, daß das Risikourteil darauf beruht, daß ein sicheres Urteil wegen mangelnder Tatsachenaufklärung nicht erreichbar ist und damit der Rückzug auf Risikoerwägungen einen Verstoß gegen den Grundsatz in dubio pro reo darstellt. Die mangelde Aufklärung oder Aufklärbarkeit des Einzelfalls führt zur Feststellung von Risikoerhöhungen statt sicherer Prognosen und wirkt sich damit zum Nachteil des Beschuldigten aus. Auch wenn man die Risikoerhöhungslehre auf solche Bereiche beschränken will, in denen aus "prinzipiellen" Gründen nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind und ein Aufklärungsmangel daher ausscheidet, ergeben sich allein aus dem Abgrenzungproblem erhebliche Bedenken. Für welche Zusammenhänge lassen sich prinzipiell nur Wahrscheinlichkeitsaussagen machen und wo steht die Wahrscheinlichkeitsaussage nur stellvertretend für bislang unerforschte deterministische Zusammenhänge? Entscheidend ist aber, daß auch bei eindeutiger Abgrenzbarkeit solcher Bereiche, in denen nur Wahrscheinlichkeitsaussagen möglich sind, eine entsprechende "Anpassung" des Zurechnungsmaßstabs nicht gerechtfertigt ist. Denn eine solche Zurechnung über Wahrscheinlichkeitserwägungen ist etwas grundsätzlich anderes als Kausalität oder Quasikausalität im strafrechtlichem Sinne. Eine Wahrscheinlichkeitsaussage ermöglicht nur eine Aussage über eine Vielzahl von Fällen. Ein sicheres Urteil über einen Einzelfall, auf den ein Wahrscheinlichkeitsgesetz anwendbar ist, ist nicht möglich. Gerade dies wäre aber erforderlich, um einer bestimmten Person den konkreten Erfolg als Resultat ihres Unterlassens, als ihr Werk, zuzurechnen.
Teil B
Mittäterschaftliche Zurechnung des Einzelverhaltens im Gremium I. Problemstellung: Mittäterschaftliche Zurechnung zur Lösung der Schwierigkeiten bei der Einzelverantwortlichkeit der Gremiumsmitglieder für die Folgen ihres Verhaltens im Gremium 1. Die strafrechtliche Verantwortlichkeit des einzelnen Gremiumsmitglieds für sein Verhalten im Gremium bei isolierter Betrachtung Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse Als Ergebnis zur Erfolgszurechnung hinsichtlich des Einzelverhaltens eines Gremiumsmitglieds ist nach den Untersuchungen in Teil A folgendes festzuhalten: Beim Begehungsdelikt - die Gremiumsmitglieder beschließen eine Maßnahme, deren Umsetzung zu deliktischen Erfolgen führt - liegt Kausalität nach der conditio-sine-qua-non-Formel nicht vor, obwohl sich die Formel ansonsten als maßgebliches Instrument zur Kausalitätsfeststellung bewährt'. Eine Ausnahme gilt dann, wenn die erforderliche Mehrheit für einen Beschluß gerade erreicht wird; dann ergibt sich ein positives Kausalurteil auch bei Anwendung der conditio-sine-quanon-Formel (kumulative Kausalität). Im übrigen kann Kausalität bejaht werden, wenn man der h.M. darin folgt, daß die Fälle alternativer Kausalität durch eine Modifikation der conditio-sine-qua-non-Formel zu lösen sind. Der Gremiumsbeschluß mit einem "Überschuß" an Stimmen stellt einen Fall alternativen Vorliegens kumulierender Kausalbeiträge dar. Beim Unterlassungsdelikt - die Gremiumsmitglieder unterlassen es, gemeinsam deliktische Erfolge abzuwenden - hat sich dagegen gezeigt, daß der Erfolg dem einzelnen Gremiumsmitglied nicht zugerechnet werden kann, wenn die Erfolgsabwendung wegen der Verweigerung der übrigen Gremiumsmitglieder unmöglich war3 . I
2 3
Vgl. dazu oben Teil A I. 4. f). Dazu oben Teil A I. 5. Vgl. dazu oben Teil A 11. 2., 11. 3. c) bb) und 11. 8.
I. Problemstellung: Mittäterschaftliche Zurechnung
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Dieses Zwischenergebnis löst auf den ersten Blick Befremden aus. Man fragt sich, ob es denn möglich sein kann, daß die Erfolgszurechnung in einer analogen Konstellation (Mehrheitsentscheidung im Gremium) im Falle des Unterlassens anders entschieden wird als beim aktiven Tun. Das gilt besonders für die Ansicht, welche beide Fallgruppen unter dem Begriff .. überbedingte Erfolge ,,4 behandeln will. Dieser Begriff ist aber allenfalls für das Begehungsdelikt brauchbar. Beim Unterlassungsdelikt stellt sich das Problem eher unter dem Begriff .. unterbedingte Rettungsmöglichkeit"s. Der Umstand, daß in Gremien fehlerhafte Beschlüsse mit größerer Mehrheit als erforderlich getroffen werden können (daraus resultiert die .. Überbedingtheit" bei der Begehungskonstellation), ist für die Frage der Unterlassungskausalität nicht von zentraler Bedeutung. Hier geht es zunächst nicht darum, daß zu viele sich gegen die Rettung entschieden haben, sondern darum, daß mangels mitwirkungsbereiter Helfer dem einzelnen eine Rettung unmöglich war6 . Bei näherer Untersuchung ist die differenzierte Betrachtung durchaus angemessen und nach der hier vertretenen Auffasssung von der Erfolgszurechnung beim Unterlassen sogar zwingend? Der Unterschied beruht nämlich darauf, daß die Kausalitätsfeststellung in den fraglichen Begehungssachverhalten mit einer Ausnahme von der conditio-sinequa-non-Formel, der weithin anerkannten Modifikation für die Fälle alternativer Kausalität, begründet wurde 8 . Damit wird im Unterschied zum Grundsatz der conditio-sine-qua-non-Formel bei Alternativbedingungen auch eine solche Einzelbedingung als kausal betrachtet, die nicht notwendige Bedingung des Erfolges war. Dagegen führt die strikte Anwendung der conditio-sine-qua-non-Formel dazu, daß nur schlechthin notwendige Bedingungen als kausal angesehen werden und daß folglich eine Erfolgshaftung nur eintritt, wenn der Erfolg für den Tater durch Unterlassen seiner Handlung vermeidbar war. Der Bejahung von Kausalität in den fraglichen Gremiumssachverhalten liegt also ein Verständnis von Kausalität zugrunde, bei der es nicht (zumindest nicht in allen Fällen) darauf ankommt, daß der Tater bei Nichtvornahme der fraglichen Handlung den Erfolg vermieden hätte. 4 Der Begriff stammt von Jakobs, AT, 7/83a; ders.. Lackner-FS, S. 53 ff. (62); ders., Miyazawa-FS 1995,419 (422). Übernommen u. a. von seinem Doktoranden Röh, Die kausale Erklärung überbedingter Erfolge im Strafrecht, 1993. S Dieser Begriff wird ebenfalls von Jakobs, Miyazawa-FS 1995, S. 419 (432 f.) verwendet, der damit entgegen der hier vertretenen Auffassung die Gleichbehandlung der Unterlassungsund Begehungssachverhalte zum Ausdruck bringt. 6 Vgl. dazu oben Teil A 11. 2., 3. c) bb) und 8. 7 Für eine Differenzierung zwischen Begehungs- und Unterlassungssachverhalten auch Roxin, AT I, § 11 Rn. 18 (Fn. 39), allerdings bislang noch ohne Stellungnahme zu den Unterlassungskonstellationen, die für den AT, Teilband 2 angekündigt ist. 8 Entwickelt von Traeger. Der Kausalbegriff im Straf- und Zivilrecht, 1904. Siehe auch Baumann/Weber/ Mitsch, AT, § 14 Rn. 38 sowie oben Teil Al.l. c).
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Teil B: Mittäterschaftliche Zurechnung des Einzelverhaltens im Gremium
Eine solche Erfolgszurechnung, die auf das Kriterium der Vermeidbarkeit verzichtet bzw. zumindest Ausnahmen davon zuläßt, mag im Bereich des Begehungsdelikts durch eine normative Korrektur noch vertretbar sein, im Bereich des Unterlassungsdelikts verstößt sie gegen die dort geltenden Grundsätze. Denn die Verantwortlichkeit eines Unterlassenden für einen bestimmten Erfolg wird ja gerade durch die Vermeidbarkeit, durch seine reale Möglichkeit, den Erfolg zu verhindern, begründet. Wie sollte denn ein untätiger Garant, der keine positive Bedingung des Erfolges gesetzt hat, dennoch für den Eintritt des Erfolges verantwortlich sein, wenn nicht dadurch, daß es ihm nach Lage der Dinge unter Einsatz seiner Kräfte und der ihm zur Verfügung stehenden Hilfsmittel zumindest möglich gewesen wäre, den Erfolg abzuwenden? Die Antwort liegt auf der Hand: Wo der Unterlassende den Erfolg gar nicht verhindern konnte, hat er ihn durch die Unterlassung auch nicht verursacht. Und genau so verhält es sich bei den problematischen Fallkonstellationen im Gremium. Da, wo das einzelne Gremiumsmitglied mit seinem Rettungsbemühen an der Untätigkeit der anderen gescheitert wäre, lag es gerade nicht in seiner Macht, durch eigene Anstrengung den Erfolg abzuwenden. Es kann daher nicht als Alleintäter bestraft werden. Seine Verantwortlichkeit kommt in Betracht, wenn man die Beschränkung seiner Pflicht auf das Verhalten im Gremium aufhebt, d. h. ihm abverlangt, Hilfe außerhalb des Unternehmens in Anspruch zu nehmen 9 , oder wenn man die Verhaltensbeiträge (Stimmabgaben) innerhalb der den Beschluß tragenden Mehrheit wechselseitig zurechnet. Sieht man das konstitutive Element der Erfolgsstrafbarkeit eines Unterlassenden in der nicht wahrgenommenen Vermeidemöglichkeit und stört sich dennoch an dem soeben dargestellten Unterschied zwischen Begehungs- und Unterlassungskausalität, so kann eine einheitliche Behandlung der Fallgruppen nur durch Verzicht auf die Erweiterung der Kausalitätsdefinition bei Alternativfällen im Begehungsbereich erreicht werden. Ein Ansatz, der neuerdings von Dencker lO mit guten Argumenten vorgeschlagen wird. Bevor aber diese Fragen endgültig entschieden werden, soll zunächst ein anderer Lösungsweg für die Gremiumskonstellation verfolgt und auf seine Ergiebigkeit untersucht werden: Die mittäterschaftliche Zurechnung des Verhaltens der Gremi ums mitglieder.
9 Kritisch zur Beschränkung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit auf die unternehmensinterne Mitwirkungskompetenz des Grmiumsmitglieds Samson, StV 1991, 182 (183); Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 73 ff. (75); Eidam, Straftäter Unternehmen, S. 18. 10 Kausalität, S. 52 ff. Ebenso Toepel, Kausalität, S. 74 f.
I. Problemstellung: Mittäterschaftliche Zurechnung
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2. Begründung weitgehender strafrechtlicher Verantwortlichkeit durch mittäterschaftliche Zurechnung im Gremium Bislang haben die angestellten Überlegungen lediglich ergeben, daß die Zurechnung des Erfolges zum Einzelverhalten der Gremiumsmitglieder aüßerst problematisch ist. Dies beruht darauf, daß in einem nach dem Mehrheitsprinzip entscheidenden Gremium bei Überschreiten der erforderlichen Stimmenzahl das einzelne Mitglied nicht mehr notwendig für den Beschluß und die daraufhin getroffenen oder unterlassenen Maßnahmen ist. Nun könnte diese Problematik aber dadurch zu lösen sein, daß man innerhalb der ,,Mehrheitsfraktion", die einen bestimmten Beschluß trägt, die Beiträge (Einzelstimmen) wechselseitig zurechnet und dann nur noch dieses "Gesamtverhalten" auf seine Kausalität für die weiteren Geschehnisse untersucht. Auf der I. Stufe der Zurechnung, der Verantwortlichkeit des Einzelnen für das "GremiumsverhaIten", käme es dann nicht mehr auf den Maßstab der ,,Individualzurechnung" (Kausalität des Einzelnen für den Erfolg) an, sondern auf eine Art "kollektive Zurechnung", nach der eine täterschaftliche Verantwortlichkeit des einzelnen auch dann bestehen kann, wenn die Voraussetzungen der Alleintäterschaft nicht vorliegen. Eine solche Zurechnung von Tatbeiträgen, die zur Täterschaft ohne Vorliegen der Voraussetzungen der Alleintäterschaft führt, ist dem geltenden Recht in der Figur der Mittäterschaft bekannt. - Zumindest wird von einer verbreiteteten Auffassung die mittäterschaftliche Zurechnung fremder Tatbeiträge als Strafbarkeitsausdehnung gegenüber der Alleintäterschaft angesehen 11 • Es ist im folgenden zu untersuchen, ob die Probleme der Erfolgszurechnung im Gremium mit der Figur der Mittäterschaft gelöst werden können.
3. Differenzierte Behandlung der Mittäterschaftsfragen nach Vorsatz I Fahrlässigkeit sowie Begehungsdelikt I Unterlassungsdelikt Bei der Untersuchung von Mittäterschaftsfragen im Gremium ist zu beachten, daß sich bei Gremiumsentscheidungen die Mittäterschaftproblematik in verschiedenen Zusammenhängen stellt. Zum einen gibt es FaIlgestaltungen vorsätzlicher und fahrlässiger Gremiumsentscheidungen und zum anderen ist zwischen Begehungs- und Unterlassungssachverhalten zu unterscheiden. 11 Vgl. z. B. Kühl, AT, § 20 Rn. 98 ff., der dies zu Recht als den "springenden Punkt" der gesetzlichen Regelung bezeichnet. So auch Bloy. Beteiligungsform, S. 372 ff.; ders., GA 1996,424 (427); Herzberg, Taterschaft, S. 56ff.; ders., ZStW 99 (1987), 49 (53ff.); Renzikowski, Täterbegriff, S. l00f. m. w. N. Siehe dazu auch Kamm, Die fahrlässige Mittäterschaft, S. 60ff. (68).
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Teil B: Mittäterschaftliche Zurechnung des Einzelverhaltens im Gremium
Neben der grundsätzlichen Frage, ob mittäterschaftliche Zurechnung die Probleme bei der Individualzurechnung (Kausalität oder Quasikausalität jedes Gremiumsmitglieds für den Enderfolg) überspielen kann, ergeben sich besondere Schwierigkeiten hinsichtlich der Begründung von Mittäterschaft beim (vorsätzlichen) Unterlassungsdelikt und vor allem beim Fahrlässigkeitsdelikt, bei dem die h.M. Mittäterschaft ablehnt. In der folgenden Untersuchung sollen die denkbaren Grundkonstellationen nacheinander daraufhin untersucht werden, ob eine Erfolgszurechnung durch die Figur der Mittäterschaft begründet werden kann. Dabei sind durch die Kombination der Differenzierungsmöglichkeiten (Vorsatz/ Fahrrlässigkeit; Begehung / Unterlassung) 4 Konstellationen denkbar: (I) Vorsätzliches Begehungsdelikt
Beispiel: In einern Geschäftsleitungsgremium entscheidet eine Mehrheit 12 der Mitglieder, ein gefahrliches Produkt auf den Markt zu bringen, obwohl die Abstimmenden davon ausgehen, daß sich einzelne Schadensfälle bei Verbrauchern nicht vermeiden lassen werden. (2) Vorsätzliches Unterlassensdelikt
Beispiel: Ein Geschäftsleitungsgremium erkennt aufgrund eingehender Schadensmeldungen, daß es aus Mangel an Sorgfalt ein gefahrliches Produkt auf den Markt gebracht hat, entscheidet sich aber gegen den Rückruf, weil es um den Ruf der Firma fürchtet und nimmt dabei weitere Schadensfalle in Kauf. (3) Fahrlässiges Begehungsdelikt
Beispiel: Wie (I), mit dem Unterschied, daß die Gefahrlichkeit des Produkts fahrlässig verkannt wird. (4) Fahrlässiges Unterlassungsdelikt
Beispiel: Wie (2), mit dem Unterschied, daß die Gefahrlichkeit des zurückzurufenden Produktes fahrlässig verkannt wird. Des weiteren sind hier auch Konstellationen denkbar, in denen es nicht einmal zu einer Abstimmung über einen Rückruf kommt. So z. B. wenn die Geschäftsführer nach Eingehen der Schadensmeldungen den "Kopf in den Sand" stecken und die Sache verdrängen oder "aussitzen" wollen. Bei der Prüfungsreihenfolge wird nach dem Grundsatz "vom Einfachen hin zum Komplizierten" vorgegangen. Zunächst werden also die Fälle vorsätzlichen Handelns untersucht (11.), da nach h.M nur bei Vorsatzdelikten, nicht aber bei Fahrlässigkeitsdelikten, Mittäterschaft möglich ist. Dabei soll das Begehungsdelikt (11.1.) vor dem Unterlassungsdelikt (11.2.) behandelt werden, weil die Mittäterschaft beim Unterlassungsdelikt Besonderheiten aufweist. 12 Die Mehrheit ist größer als erforderlich, sonst liegt kein Zurechnungsproblem vor. Wird die erforderliche Mehrheit gerade erreicht, so ist jede Stimme - kumulativ - kausal. Dazu oben Teil A I. I. und Teil B I. 1. Dazu Weber, BayVwBI. 1989, 166 (169).
H. Mittäterschaftliches Zusammenwirken bei vorsätzlichem Verhalten
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Im Anschluß daran ist zu untersuchen, ob die Figur der Mittäterschaft (entgegen der h.M.) auch in den entsprechenden Fahrlässigkeitskonstellationen (Ill. 1. und 2.) angewendet werden kann.
11. Mittäterschaftliches Zusammenwirken bei vorsätzlichem Verhalten der Gremiumsmitglieder 1. Mittäterschaft bei aktivem Thn a) Problemdarstellung
Führen die Mitglieder eines Gremiums durch ihr Abstimmungsverhalten einen Beschluß herbei, der unternehmensintern umgesetzt wird, so könnte man die Problematik der Einzelkausalität für die Folgen dieses Beschlusses dadurch umgehen, daß man die Mehrheitheitsentscheidung als mittäterschaftliches Vorgehen einordnet, die einzelnen Tatbeiträge wechselseitig zurechnet und dann nur noch die Kausalität des Gesamtverhaltens (Mehrheitsbeschluß) für die weiteren Tatfolgen prüft 13 • Dabei sind zwei Fallkonstellationen gemeinschaftlichen Handeins im Gremium zu unterscheiden. Eine weniger problematische Fallkonstellation liegt dann vor, wenn ein Teil der Gremiumsmitglieder vor der Beschlußfassung verabredet, eine bestimmte Maßnahme im Gremium durchzusetzen. Wie im Normalfall mittäterschaftlichen Handelns liegt in der Abstimmungsabsprache eine gemeinsame Tatplanung, die dann durch abredegemäßes Abstimmungsverhalten in die Tat umgesetzt wird. Das einzelne Gremiumsmitglied nimmt in diesem Falle auf den Beschluß in zweifacher Weise Einfluß. Zum einen stimmt es selbst entsprechend dem Tatplan ab und zum anderen beeinflußt es durch die Verabredung den Entschluß der anderen Beteiligten, im Gremium ebenso abzustimmen. Es handelt sich um die typische Mittäterschaftskonstellation, bei welcher der Beteiligte den Tatbestand durch Kombination eigenen Verhaltens mit fremdem Verhalten verwirklicht. - Teilweise wird hier von Kombination partieller Eigentäterschaft mit wechselseitiger mittelbarer Taterschaft l4 oder wechselseitiger Anstiftung l5 gesprochen. Bezogen auf das Tat13 So der BGH in der Lederspray- Entscheidung BGHSt 37, 106 für die Fälle vorsätzlicher Tatbestandsverwirklichung. Die Mittäterschaftslösung wird ausdrücklich nur für Unterlassungskonstellationen begründet - BGHSt 37, 106 (129) -, liegt aber auch den Verurteilungen im Begehungsbereich zugrunde. Dies kommt durch die unbeanstandete Übernahme der Ausführungen des erstinstanzlichen Urteils zu diesem Punkt zum Ausdruck - vgl. BGHSt 37, 106 (114) LV.m. LG Mainz - Js 3708/84 -, abgedruck bei Schmidt- Sa/zer; Produkthaftung Srafrecht, IV. 3.22, S. 36 und 38. 14 Vgl. dazu Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 29 Rn. 77; Lackner/Kühl, § 25 Rn. 9. Kritisch S/S/Cramer; § 25 Rn. 62; LK-Roxin, § 25 Rn. ISS. 15 Vgl. Puppe, GA 1984, 101 (112).
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Teil B: Mittäterschaftliche Zurechnung des Einzelverhaltens im Gremium
bestandsmerkmal Kausalität, das bei den Erfolgsdelikten Handlung und Erfolg verknüpft, bedeutet dies, daß der Mittäter deshalb verantwortlich gemacht wird, weil er den Erfolg physisch (eigene Körperbewegung) oder psychisch (Beeinflussung der anderen Mittäter) verursacht hat. Das Erfordernis der Ursächlichkeit jedes Mittäters führt aber bei der Mehrheitsabstimmung im Gremium zu Schwierigkeiten. Die Kausalität des Abstimmungsverhaltens der einzelnen Mitglieder einer Mehrheitsfraktion soll ja gerade durch mittäterschaftliche Zurechnung ersetzt werden und die Feststellung psychischer Kausalität durch Beeinflussung der anderen Mittäter erweist sich als äußerst problematisch. Denn es ist sehr fraglich, ob bei der Absprache eines bestimmten Abstimmungsverhaltens von wechselseitiger psychischer Kausalität 16 gesprochen werden kann. Häufig werden ein oder mehrere Meinungsführer bereits vor der informellen Diskussion 17 eine feste Ansicht darüber haben, welches das angemessene Verhalten sei. Den jeweils anderen Gremiumsmitgliedern ist Kausalität durch Beeinflussug dieser Meinungsführer sicher nicht anzulasten, denn es gibt keine psychische Kausalität für den Tatentschluß eines omnimodo facturus. Das sei an einem Beispiel erläutert: Beispiel (1): Die Geschäftsleitung der X-GmbH liegt in den Händen der Geschäftsführer A,B,C,D und E, die in besonders wichtigen Angelegenheiten nach dem Mehrheitsprinzip entscheiden. Als eine formeHe Abstimmung über den Vertrieb eines nicht hinreichend auf seine Sicherheit geprüften Produktes ansteht, treffen sich A,B,C und D im Vorfeld, um ihre Entscheidung gegenüber dem als "Querulanten" bekannten E abzusprechen. Dabei sind A, Bund C bereits fest entschlossen, aus wirtschaftlichen Gründen für den Vertrieb des Produkts zu stimmen, D ist noch unschlüssig. Bei dem Treffen plädiert A vehement dafür, die Sicherheitsbedenken zurückzusteHen und das Produkt auf den Markt zu bringen, weil man sonst "am Ende sei". Bund C schweigen. D läßt sich überzeugen. Am nächsten Tag wird mit den Stimmen von A, B, C und D ein entsprechender Beschluß gefaßt. Es kommt zu tödlichen UnfäHen mit dem Produkt. Verlangt man in diesem Fall Kausalität jedes der in Frage kommenden Mittäter für den Erfolg, so läßt sich diese nur über die psychische Kausalität für das Verhalten der anderen begründen 18 . - Eine Voraussetzung, die nur für die Beeinflussung 16 Wie sie ja sowohl im Bild wechselseitiger mittelbarer Täterschaft wie auch im Bild wechselseitiger Anstiftung enthalten ist. Für die Anstiftung gilt das nur, wenn man sie mit der h.M. als Verursachung des Tatentschlussesbegreift. Gegen das Kriterium der Kausalität bei psychischen Sachverhalten Puppe, GA 1984, 101 ff. m. w. N. (S. 103 Fn. 18); Hellmuth Mayer; Rittler-FS 1957,241 (256ff.) 17 Gemeint sind die Gespräche, die zur Absprache des späteren Abstimmungsverhaltens in der Gremiumssitzung dienen. 18 Das gilt jedenfaHs unter der Prämisse, daß wegen mittäterschaftlicher Tatbegehung die FeststeHung der Kausalität der AusjUhrungshandlungen der Mittäter dahingestellt bleiben soll. In diesem Sinne BGHSt 37,106 (114, 129) - dazu eingehend Fn. 13; Eidam, Straftäter Unternehmen, S. 13; BeulkelBachmann, JuS 1992,737 (743); Hilgendorf, NStZ 1994,561 (563). Und nur unter dieser Prämisse kann die Figur der Mittäterschaft zur Lösung der streitigen Gremiumssachverhalte beitragen. Zur Frage der wechselseitigen psychischen Kausalität bei Gremiumsentscheidungen vgl. auch Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 60.
II. Mittäterschaftliches Zusammenwirken bei vorsätzlichem Verhalten
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des D durch A feststellbar ist. Die Annahme einer wechselseitigen Beeinflussung von A, B, und C untereinander oder von seiten des D ist rein spekulativ. Sicherlich ist auch unter den schweigenden Teilnehmern an der "Vorbesprechung" ein Konsens im Hinblick auf das Beschlußverhalten zustandegekommen. Darin mag auch eine Bestärkung des anderen in der Präferenz eines bestimmten Abstimmungsverhaltens zu sehen sein. Daß die Beteiligten jeweils für das Verhalten der anderen eine conditio si ne qua non gesetzt hätten, oder daß untereinander ein nachweisbarer Motivationszusammenhang gegeben war, ist dagegen nicht feststellbar. Bei Gremiumsentscheidungen ist im Unterschied zu vielen anderen Sachverhalten arbeitsteiliger Tatbestandsverwirklichung die wechselseitige Kausalität der Beteiligten für ihr Verhalten wesentlich schwerer festzustellen, denn bei einer Tatbestandsverwirklichung durch Gremiumsbeschluß knüpfen die Beteiligten an eine bereits bestehende Institution an, die auf gemeinschaftliches Handeln in einem bestimmten Lebensbereich angelegt ist. Im Unterschied dazu muß in den typischen Fällen mittäterschaftlichen Verhaltens die Gemeinschaftlichkeit zur Tatbegehung erst hergestellt werden. Wer sich an der Tat beteiligt (Auswahl der Mittäter), wo die Tat begangen wird, wann die Tat begangen wird und wie sie begangen wird, muß durch Absprachen festgelegt werden. Und dieser gemeinsame Plan muß dann durch Erbringung der eingepaßten Tatbeiträge umgesetzt werden (korrelative Mitwirksamkeit der aufeinander aufbauenden objektiven Tatbeiträge). In den meisten Fällen leistet dabei jeder Beteiligte in Planung oder Ausführung einen Beitrag, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne daß die Tat als Ganzes so nicht ausgeführt worden wäre. Anders stellt sich die Situation im Gremium dar. Hier steht der Modus des Zusammenwirkens (Mehrheitsprinzip unter den Mitgliedern) bereits fest, bevor ein bestimmtes Vorhaben (z. B. Freigabe eines best. Produkts) zur Debatte steht. Das Vorhaben ist häufig bereits von anderer Seite inhaltlich vorbereitet, es wird von nachgeordneten Unternehmensteilen der Geschäftsführung zur Entscheidung vorgelegt und später auch umgesetzt. Der Beitrag des einzelnen Mitglieds reduziert sich dann letztlich auf ein ,,Ja" oder "Nein" zur Beschlußvorlage. Ob es seine Entscheidung für ein bestimmtes Abstimmungsverhalten aufgrund eigener Entschlossenheit oder wegen der Absprache mit seinen Kollegen getroffen hat, kann dabei kaum aufgeklärt werden. Selbst wenn sich im Einzelfall bestimmte Ursachenzusammenhänge (durch psychische Beeinflussung) nachweisen ließen, wäre kaum eine wechselseitige Beeinflussung denkbar. Die Fälle dürften dann so liegen, daß bestimmte Gremiumsmitglieder als ,,Meinungsführer" und andere als ,,Mitläufer" betrachtet werden müßten l9 . Da die Mitläufer aber nicht kausal für das Verhalten der ,,Meinungsmacher" sind, scheitert insoweit deren Taterschaft am Kriterium der Kausalität. Wenn aber die ,,Mitläufer" nicht kausal für den Beschluß urCd seine 19 Vgl. dazu Samson. StV 1991, 182 (185). Zu den Besonderheiten der Lederspray-Entscheidung - hervorgehobene Stellung eines bestimmten Geschäftsleitungsmitglieds - siehe auch Ransiek. Unternehmensstrafrecht, S. 59.
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Teil B: Mittäterschaftliche Zurechnung des Einzelverhaltens im Gremium
Folgen sind, wie kann dann deren Beeinflussung die Ursächlichkeit der ,,Meinungsmacher" begründen? Als Zwischenergebnis ist festzustellen, daß eine mittäterschaftliehe Verantwortlichkeit bei Gremiumsentscheidungen nur schwer denkbar ist, wenn man Ursächlichkeit jedes Beteiligten für den Erfolg verlangt. Dies gilt schon dann, wenn das gemeinsame Abstimmungsverhalten im Vorfeld abgestimmt wird. Noch größere Probleme bereiten die Fallkonstellationen, in denen die Gremiumsmitglieder vor der Abstimmung keine Absprachen treffen, wo also ein gemeinsamer Tatplan vor Beginn der Ausführungshandlungen (Abstimmung) noch nicht vOrliegr2°. Hier kann man nicht sagen, daß das einzelne Gremiumsmitglied die Tat nicht nur durch eigenes Tun, sondern auch durch Instrumentalisierung 21 der weiteren Befürworter des Beschlusses realisiert. In der Praxis dürfte diese Konstellation von besonderer Bedeutung sein, weil in kleineren Geschäftsleitungsgremien die vorherige Absprache des Abstimmungsverhaltens die Ausnahme sein dürfte und weil solche Absprachen wohl nur selten beweisbar sind22 • Es stellt sich dann die Frage, ob auch in diesen Fällen Mittäterschaft angenommen werden kann, was in zweierlei Hinsicht Bedenken auslöst: 1. Setzt mittäterschaftliche Zurechnung Kausalität des einzelnen Beteiligten voraus, oder ist sie verzichtbar, wenn nur das Verhalten der Mittäter insgesamt kausal war? Kennt das geltende Strafrecht ein "Hajtungsprinzip Gesamttat", das eine Erfolgszurechnung vorsieht, die für den einzelnen Beteiligten auf das Merkmal Kausalität verzichtet? 2. Setzt Mittäterschaft zwingend einen Tatplan voraus, der zeitlich vor der Tatausführung liegt, oder können Tatplan (= Koordination der Beteiligten) und Tatausführung zeitlich zusammenfallen?
20 Ein solcher Sachverhalt lag auch der Lederspray-Entscheidung des Bundesgerichtshofs - BGHSt 37, 106 (114) zugrunde. Der BGH ging davon aus, daß die Entscheidung der Geschäftsführer in der Sondersitzung vorn 12. 5. 1981 eine mittäterschaftliche gefährliche Körperverletzung durch aktives Tun (a. a. 0., S. 114) darstellte, soweit Personen durch Produkte geschädigt worden waren, die nach der Sitzung ausgeliefert worden sind. Dabei hat der BGH die Mittäterschaft allein mit der gemeinsamen Beschlußfassung begründet, ohne daß es auf eine vorherige Absprache angekommen wäre. Die Kausalität des einzelnen Geschäftsführers für das Verhalten der anderen wird nicht begründet. Der BGH vermeidet mit der Heranziehung mittäterschaftlicher Zurechnung die Frage nach der Kausalität des einzelnen (vgl. a. a. 0., S. 129, allerdings nur für das Unterlassen eingehend begründet). 21 Der Begriff Instrumentalisierung ist als Oberbegriff für den Aspekt der Mittäterschaft zu verstehen, den einige Autoren als wechselseitige mittelbare Täterschaft und andere Autoren als wechselseitige Anstiftung bezeichnen. 22 Anders wohl bei Gemeinderäten, wo sich die politischen Fraktionen vor der Abstimmung auf eine gemeinsame Linie einigen. Dazu Scholl, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 221 ff.; Nappert, Strafrechtliche Haftung, S. 51 ff.; Weber, BayVB11989, 166 (169).
H. Mittäterschaftliches Zusammenwirken bei vorsätzlichem Verhalten
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b) Ist Kausalität des einzelnen Beteiligten Voraussetzung für das Vorliegen von Mittäterschaft? Eine verbreitete Auffassung in der Literatur vertritt die Ansicht, daß Mittäterschaft einen kausalen Beitrag zur Tatbestandsverwirklichung voraussetzt 23 . Diese Ansicht drängt sich vor allem aus der Perspektive des extensiven Täterbegriffs auf, demzufolge die Kausalität zwischen Handlung und Erfolg den maßgeblichen Anknüpfungspunkt der Strafbarkeit beim Erfolgsdelikt darstellt. Teilnahme ist nach dieser Auffassung nur eine privilegierte Form der Tatbestandsverwirklichung, die ohne die gesetzliche Entscheidung in §§ 26 und 27 genausogut als Täterschaft erfaßt werden könnte. Da aber das Gesetz durch die Sonderregelungen für Anstiftung und Beihilfe zwischen den verschiedenen Beteiligungsformen differenziert, muß innerhalb des weiten Rahmens, den der weite Kausalbegriff der Äquivalenztheorie absteckt, unterschieden werden, ob ein bestimmter kausaler Beitrag täterschaftsbegründend wirkt, oder als priveligierte Erfolgsverursachung den Regelungen der Teilnahme unterfällt 24 • Für die Voraussetzungen der Mittäterschaft bedeutet diese Auffassung, daß Kausalität eine Mindestvoraussetzung der Strafbarkeit darstellt. Ein so verstandener extensiver Täterbegriff, der die Beteiligungsformen als Differenzierungen im Rahmen kausaler Tatbeiträge auffaßt, ist allerdings in voller Konsequenz kaum durchzuhalten. Er steht zum einen im Widerspruch zum Verzicht auf das Kausalitätserfordernis bei der Beihilfe, das nach Ansicht der Rechtsprechung und eines Teils der Literatur durch das Merkmal des "Förderns" ersetzt wird 25 . Zum anderen ist die Teilnahme am Sonderdelikt und am eigenhändigen Delikt mit dem extensiven Täterbegriff nicht zu vereinbaren, weil dort die Täterschaft des Teilnehmers mangels Subjektsqualität unmöglich wäre. Die Teilnehmerstrafbarkeit bedeutet dann keine Privilegierung sondern eine Strafbarkeitsausdehnung. Kann der extensive Täterbegriff also nicht ohne Ausnahmen durchgehalten werden 26 , so steht er auch einer extensiven Interpretation der strafrechtlichen Verantwortlichkeit im Bereich der Mittäterschaft nicht zwingend entgegen. 23 So Lackner I Kühl. § 25 Rn. 11; Puppe, JR 1992, 30 (32); Sofos. Mehrfachkausalität, S. 157; Roxin. AT I, § 11 Rn. 18; SK-Samson. § 25 Rn. 118f.; ders .• StV 1991,182 (l84f.); Hoyer; GA 1996, 160 (173); Mezger; LB, S. 411 ff.; SclWnkelSchröder; 17. Aufl. 1974, Vor § 47 Rn. 44 und § 47 Rn. 3; Weißer; Kollegialentscheidungen, S. ISS - "weiterentwickelt" (d. h. aufgegeben) in JZ 1998,230 (238); Rotsch, Großunternehmen, S. 121 ff., 176. 24 So Mezger; LB, S. 411 ff. mit Nachweis der älteren Literatur; Kohlrauschi Lange. Teilnahme. Vorbemerkungen, I. 4. m. w. N.; BGHSt 3, 4 (5). Vgl. dazu BaumannlWeberlMitsch. AT, § 28 Rn. 26ff.; Roxin. Täterschaft, S. 4ff.; Eschenbach. Jura 1992,637 (642f.). 25 Vgl. dazu die Rechtsprechungsnachweise bei SISICramer; § 27 Rn. 8; LK-Roxin, § 27 Rn. I; Tröndle, § 27 Rn. 2; BaumannI WeberlMitsch. AT, § 31 Rn. 15ff.; Wesseis. AT, Rn. 582, streitig. Dagegen z. B. Kühl. AT, § 20 Rn. 219ff.; LacknerlKühl. § 27 Rn. 2; LKRoxin. § 27 Rn. I; JeschecklWeigend. § 64 III 2. c); Jakobs. AT, 22/33 ff.; SK-Samson. § 27 Rn. 4 ff. (9). 26 Vgl. BaumannlWeberlMitsch. AT, § 29 Rn. 32.
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Teil B: Mittäterschaftliehe Zurechnung des Einzelverhaltens im Gremium
Freilich kann das Merkmal der Kausalität nicht beliebig für die Fälle der Mehrheitsentscheidung im Gremium außer Kraft gesetzt werden, wenn es sich ansonsten zur Beschreibung mittäterschaftlichen Verhaltens bewährt und es sachliche Gründe gibt, auf dieses Merkmal nicht zu verzichten. Die These, Mittäterschaft setze Kausalität des einzelnen Mittäters voraus, bedarf daher eingehender Untersuchung. Dabei ist festzuhalten, daß sich für die Begründung individueller Verursachung des ganzen Tatbestandes durch jeden Mittäter zwei Ansatzpunkte anbieten 27 . Kausal kann zum einen der physische Beitrag des Mittäters bei der Tatausführung sein. Ein Mittäter ist also dann ursächlich, wenn sein Tatbeitrag conditio sine qua non der Tatbestandsverwirklichung insgesamt war. Zum anderen kann man aber auch auf die wechselseitige psychische Kausalität der Mittäter für ihr verabredungsgemäßes Verhalten und dessen Folgen abstellen. Der Einzelne wird also dadurch für "das Ganze" kausal, daß er seine Kollegen dazu bewegt, sein eigenes Verhalten arbeitsteilig zu ergänzen. Im folgenden soll nun untersucht werden, ob man die Problematik mittäterschaftlicher Tatbegehung mit diesen Begründungsansätzen bewältigen kann. aa) Die Ausführungshandlung des Mittäters als Anknüpfungspunkt seiner Ursächlichkeit für den Erfolg
Die meisten Sachverhalte gemeinschaftlicher Tatbestandsverwirklichung werfen hinsichtlich der Kausalität des einzelnen Mittäters keine Probleme auf, weil die herrschende Äquivalenztheorie von einem sehr weitreichenden Kausalbegriff ausgeht28 . Die wissenschaftliche Diskussion wird folglich auch primär von der Abgrenzung der Beteiligungsformen bestimmt. Die Kausalität der einzelnen Mittäter für die Tatbestandsverwirklichung ergibt sich in den typischen Fällen gemeinschaftlicher Tatbegehung durch die arbeitsteilige Verschachtelung der einzelnen Tatbeiträge. Man kann insoweit von korrelativer Mittäterschaft29 sprechen. In der Planungs phase entsteht ein gemeinsamer Tatplan, der dann durch die ineinandergreifenden Tatbeiträge der einzelnen Mittäter ausgeführt wird. Die einzelnen Tatbeiträge werden dabei so aufeinander abgestimmt, daß die Tatbestandsverwirklichung bei Hinwegdenken eines Beitrags nicht so hätte geschehen können, wie sie sich tatsächlich ereignet hat. Beispiel (2): A und B wollen ihren Erzfeind C gemeinsam verprügeln. A hält den C fest und B schlägt ihm ins Gesicht.
In diesem Fall waren beide Mittäter jeweils schon mit ihrem Beitrag bei der Tatausführung kausal für den Erfolg. Für A ergibt sich dies daraus, daß es seine 27 28 29
Vgl. SK-Samson, § 25 Rn. 120. So auch Kamm, Die fahrlässige Mittäterschaft, S. 60 ff. Vgl. Roxin, JA 1979,519 (524); LK-Roxin, § 25 Rn. 159.
11. MittäterschaftIiches Zusammenwirken bei vorsätzlichem Verhalten
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Faust war, die den C traf. B ist kausal, weil ohne sein Festhalten A den Schlag hätte nicht so führen können. Die tatsächliche Verletzung, der konkrete Schlag an eine bestimmte Stelle des Körpers zu einem bestimmten Zeitpunkt wäre ohne Beteiligung des B nicht erfolgt. Da die Kausalfeststellung auf die tatsächlich Wirklichkeit gewordenen Umstände des Einzelfalls bezogen ist, kommt es nicht darauf an, ob es dem A auch ohne die Beteiligung des B möglich gewesen wäre, den C in gleicher Weise zu schlagen. Ein solcher hypothetischer Kausalverlauf ist ohne Einfluß auf die Kausalitätsfeststellung in einem realen Sachverhalt. Die Bezogenheit der Kausalitätsprüfung auf den Wirklichkeit gewordenen Sachverhalt 30 unter Ausblendung hypothetischer Abläufe führt in der Konsequenz dazu, daß bei Tatbestandsverwirklichungen, die in der Ausführungsphase arbeitsteilig verschachtelt sind, Kausalität jedes Mittäters zumeist problemlos festgestellt werden kann. Daß Einzelkausalität eine typische Begleiterscheinung mittäterschaftlicher Deliktsverwirklichung ist, bedeutet aber noch nicht, daß sie in allen Fällen vorliegt oder vorliegen muß, die eine gemeinschaftliche Begehung im Sinne des § 25 11 darstellen 3 !. Es ist deshalb auf einige Fallgestaltungen einzugehen, bei denen sich die Ursächlichkeit einzelner Tatbeiträge für den Erfolg nicht feststellen läßt, ansonsten aber die Voraussetzungen einer mittäterschaftlichen Begehungsweise vorliegen. (1) Die Fälle additiver Mittäterschaft32 Im Unterschied zu den typischen Fällen arbeitsteiligen Vorgehens werden in den Fällen additiver Mittäterschaft nicht verschiedenartige Tatbeiträge so ineinandergepaßt, daß sie insgesamt den Tatbestand verwirklichen. Die Mittäter erbringen gleichartige Tatbeiträge, die jeweils allein geeignet wären, den Erfolg zu bewirken, aber vorsorglich gebündelt werden, damit eine höhere Chance der Erfolgsverwirklichung erreicht wird. Beispiel (3)33: Zwanzig Verschwörer planen ein Attentat. Das Opfer soll auf offener Straße erschossen werden. Um das Gelingen der Tat zu gewährleisten, beschließen sie, daß alle zwanzig aus mehreren Fenstern gleichzeitig schießen sollen. Es kommt zur Ausführung des Vorhabens und 0 bricht im Kugelhagel zusammen. Die Obduktion ergibt, daß ihn einige Kugeln tödlich trafen, andere ihn nur verletzten und eine bestimmte Anzahl der abgefeuerten Schüsse das Ziel verfehlten.
30
I. b).
Vgl. dazu Spendet, Kausalitätsformel, S. 38 - Hinzudenkverbot. Dazu oben Teil A 1.
31 Nach Bloy, Beteiligungsform, S. 373 f., Fn. 356 hat die Mittäterschaft zurechnungsbegründende Funktion, die aber wegen typischen Vorliegens von Einzelkausalität bei korrelativer Mittäterschaft lediglich nicht in Erscheinung tritt. S. auch Herzberg, ZStW 99 (1987), 49 (53 ff.). 32
Der Begriff geht wohl auf Herzberg, Täterschaft, S. 57 f., 70 zurück.
33 Fall nach Herzberg, Täterschaft, S. 56.
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Teil B: Mittäterschaftliche Zurechnung des Einzelverhaltens im Gremium
In diesem Fall kann nicht festgestellt werden, daß der Tatbeitrag jedes einzelnen Mittäters kausal für den Tod des Opfers war. Gleichwohl geht eine verbreitete Ansicht davon aus, daß alle Attentäter als Mittäter für den Erfolg haften, weil ihnen ihr Handeln wechselseitig zuzurechnen ist34 . Haben sich mehrere Personen zur gemeinsamen Tatbestandsverwirklichung verbunden, so braucht nicht aufgeklärt zu werden, welcher Mittäter mit seinem Tatbeitrag eine notwendige Bedingung für den Erfolg gesetzt hat, es genügt die Feststellung, daß jedenfalls das Verhalten der Mittäter insgesamt für den Erfolg kausal war35 . Mit ähnlicher Begründung wird typischerweise auch das Problem "alternativer Kausalität,,36 für die Fälle "entschärft", in denen die alternativen Bedingungen von Mittätern gesetzt worden sind. Die Lösung der Kausalitätsproblematik durch eine Ausnahme von der conditio-sine-qua-non-Formel wird nur für die Fälle der Nebentäterschaft diskutiert. In Fällen mittäterschaftlichen Zusammenwirkens wird auf die Kausalität der Tatbeiträge einzelner Mittäter verzichtet 37 . Bereits oben wurde herausgearbeitet, daß die Gremiumsentscheidung, die mit einer die erforderliche Stimmenzahl übersteigenden Mehrheit zustandekommt, als Fall alternativer Kausalität anzusehen ise s. Wird die wechselseitige Zurechnung der Tatbeiträge in den Fällen additiver Mittäterschaft befürwortet, so könnte hierin ein Lösungsansatz für die parallel gelagerte Gremiumsproblematik liegen 39 . 34 So Herzberg, Täterschaft, S. 59 f.; Bloy, Beteiligungsform, S. 372 ff.; ders., GA 1996, 424 (427, 429ff.); Bottke, Gestaltungsherrschaft, S. 91; Seelmann, JuS 1980,571 (574); LKRoxin, § 25 Rn. 154, 158f.; ders., JA 1979,519 (524); ders., Täterschaft, S. 660f.; Renzikowski, Täterbegriff, S. 286. Einschränkend Jakobs, AT,21/55. 35 Vgl. Jescheck/Weigend, AT, § 28 11 5. und § 63 I 2.; Wesseis, AT, Rn. 165; Hilgendorf, NStZ 1994,561 (563); S/S/Cramer, § 25 Rn. 76. 36 Dazu ausführlich oben Teil Al.l. c). 37 Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 14 Rn. 42; S/S/Lenckner, Vor § 13 Rn. 82 und 83a; Joerden, Dyadische Fallsysteme, S. 141 ff., 157 ff.; Toepel, Kausalität, S. 66, Fall 3, besprochen S. 71 f.; Reinhard von Hippel, Spendel-FS 1992, S. 23 (32 f.); Maurach/Zipf, AT 2, § 18 Rn. 56. 38 Vgl. Teil Al.l. c). Ebenso Kuhlen, NStZ 1990, 566 (570); Meier, NJW 1992, 3193 (3198); Beulke / Bachmann, JuS 1992, 737 (743). Kritsch dazu Scholl, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 214f. und Deutscher/Körner, wistra 1996, 292ff.,327ff. (334); Weißer, Kollegialentscheidungen, S. 111 f.; Neudecker, Kollegialorgane, S. 222 f., die auf den Unterschied zur klassischen alternativen Kausalität hinweisen, wo jeder alternative Tatbeitrag den Erfolg "alleine" herbeiführen kann, während das Gremiumsmitglied ja weiterer Stimmen bedarf. Dazu oben Teil AI. 5. 39 Dagegen zu Unrecht Neudecker, Kollegialorgane, S. 220ff., die zwar die additive Mittäterschaft als Ausnahme vom Kausalerfordernis für jeden Mittäter ansieht, aber diese Ausnahme nicht von den klassischen Fällen (Beweisprobleme, vgl. das Verschwörerbeispiel von Herzberg, Kausalität, S. 57) auf die Alternativproblematik (Rechtsproblem der Gremiumsentscheidung) übertragen will. Ein Grund ist nicht ersichtlich. Wenn die Mittäterschaft wechselseitige Zurechnung ohne Kausalität des Mittäterbeitrags ermöglicht, so können Kausalitätsfragen insoweit dahinstehen. Ob die Kausalität, die nicht vorausgesetzt wird, dann aus Rechtsgründen oder aus tatsächlichen Gründen problematisch wäre, ist irrelevant.
H. Mittäterschaftliches Zusammenwirken bei vorsätzlichem Verhalten
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(2) Die Fälle alternativer Mittäterschaft40 Der Begriff alternativer Mittäterschaft bezeichnet eine Sachverhaltsgestaltung, in der die Mittäter ähnlich wie bei der additiven Mittäterschaft nicht durch ineinandergreifende Tatbeiträge bei der Tatbestandsverwirklichung kumulativ zusammenwirken, sondern sich dadurch ergänzen, daß sie an verschiedenen Tatorten gleichzeitig zur Tatbestandsverwirklichung bereitstehen, weil sie wissen, daß so die Chance, das Opfer anzutreffen und angreifen zu können, erhöht wird. Beispiel (4)41: A und B vereinbaren, den M zu töten. Sie erkunden, daß ihr Opfer M nicht immer den gleichen Weg wählt. Um ganz sicher zu gehen, verabreden sie daher, daß A sich an einem Weg und B am anderen in den Hinterhalt legen solle. M nimmt den Weg des A und wird von diesem erschossen.
Auch in diesem Fall läßt sich Mittäterschaft des B nicht begründen, wenn man Kausalität seines Tatbeitrags für den Erfolg verlangt. Gleichwohl wird die alternative Mittäterschaft von einem Teil der Lehre anerkannt 42 . Soweit sie abgelehnt wird, geschieht dies nicht mangels Kausalität des Tatbeitrags, sondern wegen fehlender Tatherrschaft im Ausführungsstadium 43 . (3) Arbeitsteilige Verwirklichung zusammengesetzter Delikte Das Erfordernis der Kausalität jedes Mittäters für die Tatbestandsverwirklichung stößt auch da auf Schwierigkeiten, wo die Mittäter arbeitsteilig ein zusammengesetztes Delikt verwirklichen und dabei jeweils nur einen Deliktsteil ausführen, d. h. mit ihrem Tatbeitrag nur für diesen Deliktsteil kausal werden. Beispiel (5): A und B verabreden und verüben einen Raub derart, daß A das Opfer im Stadtpark niederschlägt und dann schnell flüchtet, während B sich als Helfer ausgibt und dabei dem benommenen und verwirrten Opfer die Geldbörse wegnimmt.
In diesem Fall wird A zunächst für eine Körperverletzung kausal, während B nur eine Wegnahme bewirkt. Wegen des Ineinandergreifens von Gewalt und Wegnahme ist A über die Körperverletzung hinaus auch kausal für die Wegnahme des B, denn ohne seinen Angriff hätte B die konkrete Wegnahmehandlung nicht aus40 Der Begriff stammt von Rudolphi. Bockelmann-FS 1979, 369 (380), der ihn dem Begriff der kumulativen Mittäterschaft gegenüberstellt. Unter kumulativer Mittäterschaft ist die Verschachtelung sich wechselseitig ergänzender Tatbeiträge im Ausführungsstadium zu verstehen. Statt von kumulativer wird auch von korrelativer Mittäterschaft gesprochen. - So LK-Roxin. § 25 Rn. 159; ders .• JA 1979,519 (524). 41 Nach Rudolphi. Bockelmann-FS 1979,369 (379). 42 Vgl. Dencker; Kausalität, S. 129f.; Bloy. Beteiligungsform, S. 376f.; Maurach/GösseI/Zipf, AT 2, § 49 Rn. 41; Seelmann. JuS 1980,571 (574); LK-Roxin. § 25 Rn. 188; ders .• JA 1979,519 (524). 43 So Rudolphi. Bockelmann-FS 1979, 369 (379ff.) m. w. N. in Fn. 42. Vgl. dazu auch Roxin. JA 1979,519 (424).
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Teil B: Mittäterschaftliche Zurechnung des Einzelverhaltens im Gremium
führen können. Problematisch ist aber die Kausalität des B für die zum Raub gehörende Gewalt, denn er selbst hat weder Gewalt ausgeübt, noch die Gewalt des A durch seinen nachfolgenden Tatbeitrag unterstützt oder ermöglicht. Gleichwohl wird man auch den B wegen mittäterschaftlichen Raubes zur Verantwortung ziehen 44 . Die dargestellten Fallvarianten zeigen, daß Mittäterschaft jedenfalls nicht Kausalität in dem Sinne voraussetzt, daß jeder Mittäter einen objektiven Tatbeitrag, eine Ausführungshandlung erbringen muß, die bereits für sich genommen kausal für die Tatbestandsverwirklichung war. Die Bedeutung der Mittäterschaft besteht darin, daß die Beiträge in ihrer Gesamtheit jedem Mittäter zugerechnet werden 45 . Will man dennoch an dem Erfordernis der Kausalität jedes Mittäters für den Erfolg festhalten, so bleibt als zweite Begründungsmöglichkeit einer solchen Ursachenbeziehung die psychische Kausalität der einzelnen Mittäter für den Tatentschluß und damit das abredegemäße Verhalten der anderen Mittäter. Ob sich auf diesen Gedanken die Begründung der Kausalität aller Mittäter für den Erfolg stützen läßt, soll deshalb näher untersucht werden. bb) Die psychische Kausalität des Mittäters für die Mitwirkung des Tatgenossen als Anknüpfungspunkt des Kausalerfordernisses bei mittäterschaftlichem Handeln Verzichtet man auf das Erfordernis der Kausalität des Tatbeitrags der einzelnen Mittäter für den Erfolg, so kann zur Begründung der Ursächlichkeit nur noch an die wechselseitige Beeinflussung bei der gemeinsamen Tatplanung angeknüpft werden 46 . Diese Vorstellung findet ihren Ausdruck in dem Bild von der Mittäterschaft als wechselseitiger mittelbarer Täterschaft 47 • Das Bild ist zwar nicht ganz So Baumann/Weber/Mitsch, AT, § 29 Rn. 79; Kühl, AT, § 20 Rn. 6. So Jescheck/Weigend, AT, § 63 I 2.; Kühl, AT, § 20 Rn. 99; Wesseis, AT, Rn. 531; Tröndle, § 25 Rn. 7. Auch SK-Samson, § 25 Rn. 118 f. mit der Maßgabe, daß die Mittäter für das Verhalten der anderen psychisch kausal waren. Ähnlich Jakobs, AT, 21/55. Speziell für die Gremiumsentscheidung Scholl, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 221. Grundsätzlich anderer Ansicht Puppe, JR 1992,30 (32) und GA 1984, 101, die Kausalität jedes Mittäters für den Erfolg verlangt (JR 1992, 30, (32» und dabei die Begründung von Kausalzusammenhängen im psychischen Bereich wegen Fehlens allgemeiner Gesetze, mit denen man Kausalität erst erfassen kann, ablehnt (vgl. GA 1984, 101, 104 ff.). Nach ihrer Auffassung muß also der Tatbeitrag jedes Mittäters eine gesetzmäßige Bedingung des Erfolges sein. Vor allem bei zusammengesetzten Delikten führt dies zu unnötigen Strafbarkeitslücken, die besonders gefährliche mit hohem Grad an Arbeitsteilung vorgehende Täter privilegiert. Ähnlich schon Schönke/Schröder, Vor § 47 Rn. 44 und § 47 Rn. 3, der neben dem gemeinschaftlichen Entschluß die Vornahme einer Handlung verlangt, "die einen kausalen Beitrag zur Durchführung des Tatplans darstellt" (Hervorhebung im Original). Für den Fall der Gremiumsentscheidung Weißer, Kollegialentscheidung, S. 155, anders dagegen in JZ 1998,230 (238). Unklar Neudecker, Kollegialorgane, S. 209 u. S. 220f. 46 So z. B. SK-Samson, § 25 Rn. 119; Jakobs, AT,21/55. 44 45
11. Mittäterschaftliches Zusammenwirken bei vorsätzlichem Verhalten
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exakt, denn der Mittäter handelt typischerweise nicht nur mittelbar, sondern teilweise auch unmittelbar, indem er einen eigenen Tatbeitrag bei der Tatausführung erbringt. Mittäterschaft kann also allenfalls teilweise mittelbare und teilweise unmittelbare Täterschaft sein48 . Des weiteren fehlt bei der Mittäterschaft die Beherrschung der anderen zur Tatausführung eingesetzten Person, die für die mittelbare Täterschaft typisch ist49 . Gleichwohl bringt der Vergleich zur mittelbaren Täterschaft klar zum Ausdruck, worum es den Vertretern dieser Ansicht geht: Der einzelne Mittäter haftet deshalb für die ganze Tat, weil er das, was er nicht eigenhändig verursacht hat, zumindest durch die psychische Beeinflussung seiner Komplizen bewirkt hat 5o . Mittäterschaft ist damit eine spezifische Kombination der mittelbaren Täterschaft und der unmittelbaren Alleintäterschaft:
,,§ 25 I 1. Alt + § 25 I 2. Alt. = § 25 11" Es bestehen aber erhebliche Bedenken, ob die Mittäterschaft mit diesem Verständnis wirklich zutreffend und vor allem auch abschließend beschrieben ist. Mit anderen Worten stellt sich die Frage, ob von gemeinschaftlicher Begehung i. S. d. § 25 11 nur dann gesprochen werden darf, wenn die täterschaftliche Verantwortlichkeit ohnehin schon nach § 25 I I. und 2. Alt. gegeben ist, oder ob § 25 11 eine Erweiterung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit über die Kausalität des Einzelverhaltens hinaus ermöglicht, ob es also neben der individuellen Zurechnung auch eine ,,kollektive Zurechnung" gibt, die eigenen Regeln folgt. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, daß eine verbreitete Ansicht in der Literatur das Bild von der Mittäterschaft als wechselseitiger mittelbarer Täterschaft verwirft und stattdessen die Verschiedenheit der Zurechnungskriterien dieser beiden Täterschaftsformen betont 51 • Nur bei der mittelbaren Täterschaft erlaubt es das Übergewicht des Hintermannes, ihm das Verhalten des Tatmittlers als sein Werk zuzurechnen. Im Gegensatz dazu fehlt bei der Mittäterschaft das für die mittelbare Täterschaft charakteristische Übergewicht eines Hintermannes. Den Mittätern wird die gesamte Tat angelastet, weil sie gleichrangig durch Arbeitsteilung die Tat ins Werk gesetzt haben. Schwierigkeiten treten aber auf, wenn man das Element der Gemeinschaftlichkeit, das bewußte und gewollte Zusammenwirken, mit der Kategorie wechselseitiger Kausalität für den Tatentschluß der Komplizen erfassen will. Dies soll zunächst anhand einiger Fallkonstellationen aufgezeigt werden, die nach verbreiteter 47 Vgl. RGSt 58. 279; 66. 240; BGH NJW 1951.410; Lange. Täterbegriff. S. 55; BaumannlWeberlMitsch. AT. § 28 Rn. 26; SchönkelSchröder, Vor § 47 Rn. 43; Kohlrauschi Lange. Vorbemerkung C vor § 47. 48 So schon Binding. Abhandlungen I. S. 300; Lange. Täterbegriff. S. 55. Vgl. auch BaumannlWeberlMitsch. AT. § 28 Rn. 26. 49 Siehe nur BaumannlWeberlMitsch. AT. § 28 Rn. 26. 50 So besonders deutlich Schilling. Verbrechensversuch. S. 104 Cf. 51 So z. B.MaurachIGÖssel/Zipf, AT 2. § 49 Rn. 5 Cf.; Renzikowski. TäterbegriCf. S. IOOf.; LK-Roxin; § 25 Rn. 155; SISICramer, § 25 Rn. 62; Welzel. ZStW 58 (1939). 491 (549f.).
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Teil B: Mittäterschaftliehe Zurechnung des Einzelverhaltens im Gremium
Ansicht in der Literatur oder nach Ansicht der Rechtsprechung zu Recht als Mittäterschaftskonstellationen angesehen werden, obgleich ein Kausalitätsnachweis für alle Mittäter kaum möglich ist. (1) Fälle fraglicher psychischer Kausalität bei additiver Mittäterschaft
Problematisch ist die psychische Kausalität des einzelnen Mittäters, wo eine Vielzahl von Beteiligten die Tat so planen, daß das Gesamtverhalten den Wegfall des einzelnen verkraftet. Zur Erläuterung ist wieder das oben dargestellte Attentäterbeispiel heranzuziehen, das wie folgt abgewandelt wird: Beispiel (3a)52: 19 Verschwörer einer Terroristengruppe haben verabredet, den Politiker 0 zu töten, indem sie gleichzeitig aus verschiedenen Positionen auf ihn schießen. Da sie nicht nahe an das Opfer herankommen können, bietet diese Vorgehensweise eine höhere Chance, daß das Attentat gelingt. Kurz vor Ausführung des Planes erfährt Terrorist A davon und will ebenfalls mitmachen. Die anderen Terroristen begrüßen ihn freudig in ihrer Mitte und man schreitet zur Tat. 0 wird getötet, die Kugel des A hat ihn aber verfehlt.
In diesem Fall ist es nun fast unmöglich, die psychische Kausalität53 jedes einzelnen Mittäters für das Verhalten der anderen festzustellen 54 . Sie waren sich zwar alle einig und wollten auch die Ergänzung ihrer Tatbeiträge zur Verwirklichung des Gesamtvorhabens. Daß der einzelne Mittäter aber für den Tatentschluß eines oder mehrerer anderer Mittäter kausal war, läßt sich kaum rekonstruieren. Insbesondere der zuletzt hinzugekommene A war weder durch seinen Schuß noch durch seinen Anteil an der Planung noch durch die motivierende Wirkung auf die anderen ursächlich für deren Mitwirkung an der Tat.
(2) Die sukzessive Mittäterschaft Nach Ansicht der Rechtsprechung und eines Teils der Literatur kann die Gemeinschaftlichkeit der Tatbegehung zwischen den Mittätern auch noch während der Tatausführung zustandekommen 55 . Bei Delikten, die neben der Vollendung 52 Abwandlung des aus Herzberg, Täterschaft, S. 56 entnommenen Beispiels (3). Dazu schon oben Teil B 11. 1. b) aa) (I). 53 Grundsätzliche Bedenken gegen den Begriff der psychischen Kausalität bei Puppe, GA 1984, 101 ff. m. w. N. auch der älteren Literatur (103, Fn. 18); Hellmuth Mayer; AT, S. 155; ders., Rittler-FS 1957, 241 (256 ff.). Vgl. dazu schon oben Teil A 11. 4. d). 54 Dies wäre aber notwendig, wenn man verlangt, daß der Mittäter die Voraussetzungen der Alleintäterschaft (Tatbestandsverwirklichung nach § 25 I I. oder 2. Alt) erfüllen muß. Er müßte im Verschwörerbeispiel zumindest für die Mittäterhandlungen der anderen kausal werden, weil seine eigene Ausführungshandlung (sein Schuß) sich ja nicht als kausal erweisen läßt. Vgl. dazu auch Herzberg, Täterschaft, S. 56 ff. (59 f.). 55 Vgl. Z. B. BaumannlWeberlMitsch, AT, § 29 Rn. 105ff.; Dencker. Kausalität, S. 251; Gropp, AT, § 10 Rn. 95 ff.; Tröndle, § 25 Rn. 9; Wesseis, AT, Rn. 527; Welzel, LB, S. 107. Vgl. dazu ausführlich Gössel, Jescheck-FS 1985, 537ff. Gegen sukzessive Mittäterschaft
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noch eine sogenannte Beendigungsphase aufweisen, kann selbst die Mitwirkung eines Beteiligten im Beendigungsstadium - also nach Vollendung - Mittäterschaft hinsichtlich der ganzen Tat begründen 56 . Die sukzessive Mittäterschaft begründet also die Verantwortlichkeit des hinzutretenden Mittäters auch für Tatbeiträge seiner Komplizen, welche diese vor seinem Eintritt begangen haben. Psychische Kausalität für diese Akte kann mangels vorheriger Tatplanung nicht bestehen, gleichwohl rechnen die Vertreter dieser Ansicht dem erst sukzessive mitwirkenden Mittäter die gesamte Tat zu, weil sein Mitmachen dahin zu deuten ist, daß er sich das Verhalten der anderen zurechnen lassen will- und folglich muß. Aber auch wenn man der Figur der sukzessiven Mittäterschaft kritisch gegenübersteht und die Zurechnung solcher Tatbeiträge ablehnt, die vor Eintritt des sukzessiven Mittäters erfolgt sind57 , ergeben sich Bedenken hinsichtlich der Kausalität des hinzukommenden Mittäters für das Verhalten des bereits tätigen Mittäters. Dessen Tatentschluß beruht sicher nicht auf dem Eintritt des sukzessiven Mittäters. Allerdings wird in solchen Fällen der eintretende Mittäter mit seinem Beitrag zur Weiterführung der Tat für das Gesamtgeschehen kausal, so daß es zu einer Zurechnung ohne Kausalität nicht kommt 58 . Sukzessive Mittäterschaft an einem abgeschlossenen Geschehen ist nicht möglich. Aber auch im Bereich sukzessiver Mittäterschaft hat der BGR in der Lederspray- Entscheidung eine sehr weitreichende strafrechtliche Verantwortlichkeit angenommen 59 . Er hat nicht nur die Verurteilung der 4 Geschäftsführer der Produktionsgesellschaft (Muttergesellschaft) wegen mittäterschaftlicher gefährlicher Körperverletzung gebilligt, sondern auch die Verurteilung der Geschäftsführer von zwei Vertriebsgesellschaften (Tochtergesellschaften), die sich die einstimmige Entscheidung der Muttergesellschaft für ihren Geschäftsbereich zu eigen gemacht haben. Dabei stört es den BGR nicht, daß die Geschäftsführer der Muttergesellschaft auch Mitglieder der Geschäftsleitung der Tochtergesellschaft waren. Als die bei den Gesellschafter der Tochtergesellschaften erstmals an der Entscheidung mitwirken konnten, lagen bereits 4 Stimmen für den Weitervertrieb und gegen den Rückruf vor. Die Geschäftsführer konnten mit ihrer Stimme nichts dagegen unternehmen. Dennoch werden sie nach den Regeln sukzessiver Mittäterschaft verantwortlich gemacht. Da die psychische Kausalität der sukzessiv beteiligten aber eine verbreitete Ansicht in der Literatur. Vgl. z. B. SK-Samson, § 25 Rn. 25, der konsequenterweise das Fehlen von Kausalität einwendet; Kühl, AT, § 20 Rn. 127 ff.; Lacknerl Kühl, § 25 Rn. 12; Ouo, AT, § 21 Rn. 62 ff.; SISICramer; § 25 Rn. 91. Kritisch LK-Roxin, § 25 Rn. 192ff. 56 Vgl. BGHSt 2,344; BGH GA 1966,20; BGH bei Dallinger; MDR 1969,533; BGH JZ 1981,569. 57 So SISICramer; § 25 Rn. 91; Kühl, AT, § 20 Rn. 126ff.; Gössel, Jescheck-FS 1985, 537 ff., jeweils m. w. N. Inzwischen wohl h.M. in der Literatur. 58 BGH NStZ 1984,548; SISICramer; § 25 Rn. 91; Roxin, Täterschaft, S. 594. 59 BGHSt 37, 106 (l29f.). Zustimmend SISICramer; § 25 Rn. 76; Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 61. Kritisch Brammsen, Jura 1991,533 (537); Puppe, JR 1992,30 (34).
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Teil B: Mittäterschaftliehe Zurechnung des Einzelverhaltens im Gremium
Geschäftsführer für die vier bereits vorliegenden Stimmen nicht vorliegt, kann deren Kausalbeitrag nur in ihrer Zustimmung liegen. Diese - problematische 60 Kausalfrage soll aber nun gerade durch die Mittäterschaft ersetzt werden 61 . Der BGH setzt sich dem Vorwurf aus, sukzessive Mittäterschaft unter Verzicht auf das Kausalitätserfordernis zu begründen62 . Eine Mittäterschaftskonzeption, weIche Kausalität des einzelnen nicht notwendig voraussetzt, könnte einen Begründungsansatz für die weitreichende Interpretation der sukzessiven Mittäterschaft durch die Rechtsprechung bieten63 . (3) Die sogenannte "parallele Mittäterschaft,,64 Dieser Begriff bezeichnet Fallkonstellationen, in denen der gemeinsame Tatentschluß nicht durch Kommunikation zwischen den im Ausführungsstadium tätigen Mittätern zustandekommt, sondern durch Dritte vermittelt wird. Der Dritte, sei er nun Anstifter oder auch funktioneller Mittäter65 , koordiniert die Beiträge der anderen Beteiligten bei der Tatausführung. Die Besonderheit besteht darin, daß hier eine wechselseitige Kausalität der Mittäter für den Tatentschluß der anderen Mittäter ausscheidet und auch ein gegenseitiges Bestärken nicht feststellbar ist. Beispiel (7): Der Bandenchef C will durch einen Einbruch in eine Bank zu Geld kommen. Wegen der starken Sicherheitsvorkehrungen organisiert er die Tat wie folgt: Elektronikspezialist E schaltet die Alarmanlage aus. Anschließend dringt Kletterspezialist K durch ein Oberlicht in das Gebäude ein, überwältigt den Wachmann und öffnet die Türe. Danach räumen die Tresorknacker A und B aus der Bande des C die Bank aus. E und K, die nicht zur Bande des C gehören, entfernen sich sofort nach Ausführung ihrer Aufgaben. Sie wollen mit den anderen nichts zu tun haben. Wahrend der ganzen Ausführung steht D, den C angeheuert hat, Schmiere und F hört den Polizeifunk ab. Jeder Beteiligte bekommt 1/7 der Beute.
60 Vgl. Puppe, JR 1992, 32 (34), die zu Recht darauf hinweist, daß Gremiumsmitglieder, die nach Erreichen der Mehrheit nachträglich um Zustimmung gefragt werden, nicht kausal für den bereits von den anderen gefaßten Beschluß werden. Ebenfalls ablehnend Samson, StV 1991, 182 (184f.) und SK-Rudolphi, Vor § 13 Rn. 16b für den FalI des Unterlassens (sukzessive Zustimmung zu dem Beschluß gemeinsam untätig zu bleiben; vgl. dazu näher unten Teil B II. 2.). Kritisch auch Brammsen, Jura 1991,533 (537). 61 Vgl. BGHSt 37, 106 (129f.). Zustimmend Kuhlen, NStZ 1990, 566 (570). Kritisch Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 59, 74. 62 So auch Eidam, Straftäter Unternehmen, S. 15 f. 63 Dazu Dencker; Kausalität, S. 251: Siehe auch Lampe, ZStW 106 (1994), 683 (718). 64 Der Begriff wird von Dencker; Kausalität, S. 130 ff., verwendet. 65 Seine Rolle soll hier nicht weiter interessieren. - Vgl. dazu LK-Roxin, § 25 Rn. 181 ff. Im folgenden geht es nur um die Mittäterschaft zwischen den im Ausführungsstadium Beteiligten.
H. MittäterschaftIiches Zusammenwirken bei vorsätzlichem Verhalten
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In diesem Fall ist C Zentralgestalt des Geschehens und koordiniert die Beiträge der anderen. Das entsprechend durchgeführte Gesamtprojekt ergibt einen Raub. Nicht alle von C angeworbenen Beteiligten an der Tatausführung treten untereinander in Kontakt und können damit auch nicht psychisch kausal für das Verhalten der anderen werden. Zugleich sind aber auch nicht alle Beteiligte durch ihre Tatbeiträge im Ausführungsstadium kausal für das Gelingen der Tat. Das gilt insbesondere für D und F, deren Rolle ja nur eine Tätigkeit für den Fall des Fehlschlags vorsieht66 . Auch A und B werden nicht für die Handlungen des Elektronikspezialisten E oder des Kletterers K kausal. Das Beispiel erscheint vielleicht etwas konstruiert, zeigt aber deutlich, daß bei arbeitsteiligern Zusammenwirken vieler Mittäter die wechselseitige psychische Kausalität für das Tun der anderen zu Fiktion wird, insbesondere wenn das Unternehmen von einer übergeordneten Person organisiert wird und den Ausfall von einzelnen (z. B. D und F) verschmerzen kann. Vergleichbare Fälle lassen sich auch dadurch bilden, daß man sich Konstellationen alternativer oder additiver Mittäterschaft vorstellt, die durch einen Hintermann koordiniert werden. Solche Fallkonstellationen sind durchaus nicht abwegig, vielmehr hat ein entsprechender Sachverhalt jüngst dem BGH in einem ,,Mauerschützten - Urteil" zur Entscheidung vorgelegen. Beispiel (8)67: Die beiden Grenzsoldaten Wund H beobachteten, wie eine Person S sich anschickte, die Grenzanlagen zu überwinden. Auf Befehl des W verließ H den Wachtunn, auf dem sich beide Grenzsoldaten zunächst befunden hatten. Als S versuchte, die Mauer zu überwinden, schossen Wund H nach Warnung durch W Sperrfeuer auf S. Dabei traf ein Schuß des W den S tödlich in den Rücken, während H nur das Bein des S traf. Die Reihenfolge dieser Schüsse konnte nicht ennittelt werden.
Es stellt sich die Frage nach der Kausalität des H für das Geschehen. An seinen Tatbeitrag im Ausführungsstadium, an den Schuß, kann dabei nicht angeknüpft werden. Sein Schuß war nicht tödlich und es kann auch nicht festgestellt werden, daß er den S zuerst traf und so den tödlichen "Treffer" des W, z.b. durch Verlangsamung der Flucht des S, mitverursacht hat. Des weiteren erscheint es fraglich, ob man psychische Kausalität des H für das Verhalten des W annehmen kann. Denn zum einen war W der Vorgesetzte des H, so daß wohl dessen Verhalten den H motiviert hat, nicht aber umgekehrt. Des weiteren handelten beide nicht deshalb, weil sie die Tötung des S gemeinsam geplant hatten, also aufgrund wechselseitiger Beeinflussung, sondern aufgrund der einheitlichen Befehlslage. Dennoch hat der BGH beide Grenzsoldaten wegen mittäterschaftlichen Totschlags verurteilt. Dies begründet er damit, daß die beiden Grenzsoldaten unter Zur Mittäterschaft des "Schmiere" stehenden Beteiligten vgl. LK-Roxin, § 25 Rn. 154. 67 Sachverhalt nach BGHSt 39,1 = BGH NJW 1993, 141. Zur Mittäterschaftsproblematik dieser Entscheidung Amelung, JuS 1993,637 (638); Bloy, GA 1996, 424ff.; Dencker, Kausalität, S. 127; SpendeI, RuP 1993,61 ff. (65). Siehe auch BGHSt 40,241 =NJW 1994,2708. 66
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dem gleichen Befehl mit der gleichen Zielsetzung handelten. Bei Vornahme der eigenen Handlung gingen beide davon aus, daß jeweils der andere dem Schießbefehl entsprechen werde. Durch sein Schießen brachte jeder zum Ausdruck, daß auch er selbst zur Erfüllung des Befehls beitragen wollte. Unter diesen Voraussetzungen muß sich H das Verhalten des W zurechnen lassen. Das Vorliegen von Kausalität problematisiert der BGH in seiner Entscheidung nicht, obwohl der Fall Anlaß dazu gegeben hätte. Vielmehr wird das Problem durch die "Zurechnung im Sinne arbeitsteiliger Mittäterschaft" gelöst 68 . (4) Dogmatische Einwände gegen das Erfordernis psychischer Kausalität des Mittäters für das Verhalten seiner Komplizen Gegen das Kausalitätserfordernis bei der Mittäterschaft sprechen neben den eben dargestellten praktischen Erwägungen auch theoretische Gesichtspunkte. Zum einen wäre die Vorschrift des § 25 11 überflüssig, wenn Mittäterschaft nur eine Kombination von unmittelbarer und mittelbarer Täterschaft darstellen würde. Eine eigenenständige Bedeutung hätte die gesetzliche Regelung nur dann, wenn sie die strafrechtliche Verantwortlichkeit bei gemeinschaftlichem Verhalten über die Grenzen der Alleintäterschaft hinaus ausdehnt. Diese konstitutive, strafbarkeitserweiternde Funktion wird von einer verbreiteten Ansicht in der Literatur vertreten 69 . Darüber hinaus führt die Vorstellung einer Täterschaft durch psychische Einwirkung auf den Mittäter im Bereich des Versuchs zu Problemen. Versteht man die Mittäterschaft als wechselseitige mittelbare Täterschaft, so müßte der Versuchsbeginn bei bei den Täterschaftsformen - Mittäterschaft und mittelbare Täterschaft gleich bestimmt werden. Insbesondere dann, wenn der Mittäter selbst keinen kausalen Beitrag im Ausführungsstadium erbringt70, ist ja die mittelbare Deliktsverwirklichung durch Einwirkung auf den (oder die) Mittäter der einzige objektive 68 Vgl. BGHSt 39, I (30f.) mit insoweit zustimmender Anmerkung von Spendei, RuP 1993,61 (65) und Amelung, NJW 1993,637 (638). S. auch Bloy, GA 1996,424 (429ff.); Dencker; Kausalität, S. 130; Eidam, Straftäter Unternehmen, S. 14. Ebenso BGH NJW 1994, 2708 (= BGHSt 40,241, wo aber die einschlägigen Urteilspassagen nicht abgedruckt sind) zu einem vergleichbaren Fall. 69 Bloy, Beteiligungsform, S. 373f.; ders.; GA 1996, 424 (427); Dencker; Kausalität, 1996, S. 125ff., 138ff., 223ff.; Herzberg, Täterschaft, S. 60f.; ders.; ZStW 99 (1987), 49 (54ff.); Lampe, ZStW 106 (1994), 683 (718ff.); Renzikowski, Taterbegriff, S. 286f. Vgl. auch Kühl, AT, § 20 Rn. 100; Gropp, AT, § 10 Rn. 87; Wesseis, AT, Rn. 526; Jescheck/Weigend, AT, § 63 I 2.; Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 49 Rn. 5 ff. 70 Was nur nach Ansicht einer Minderheit Voraussetzung der Mittäterschaft ist. S. Puppe, JR 1992,30 (32); Schönke/Schröder; § 47 Rn. 3. Dem folgen für den Bereich der Gremiumsentscheidung Neudecker; Kollegialorgane, S. 209, 220 ff. Weißer; Kollegialentscheidungen, S. 155. A.A. zu Recht Eidam, Straftäter Unternehmen, S. 14; Hilgendorf, NStZ 1994,561 (563); Scholl, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 221; S/S/Cramer; § 25 Rn. 76.
11. Mittäterschaftliches Zusammenwirken bei vorsätzlichem Verhalten
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Tatbeitrag, den dieser Mittäter erbringt. Wie bei der mittelbaren Täterschaft müßte dann der Versuch mit Beginn71 oder Beendigung72 der Einwirkung auf den "Tatmittler", bei Mittäterschaft also auf die Komplizen, beginnen. Dies steht aber im Gegensatz zur Ansicht der h.M. 73 , die den Versuchsbeginn bei Mittäterschaft nach der sogenannten Gesamtlösung bestimmt. Danach beginnt der Versuch der mittäterschaftlichen Deliktsverwirklichung erst dann, wenn einer der Mittäter eine Ausführungshandlung vorgenommen hat, welche als unmittelbares Ansetzen der Gesamttat erscheint. Es kommt also gerade nicht darauf an, ob jeder Mittäter mit seinem eigenen Kausalbeitrag unmittelbar angesetzt hat. Gegen eine Anpassung des Versuchsbeginns bei der Mittäterschaft an die Grundsätze, die für die mittelbare Täterschaft maßgeblich sind, spricht die Regelung des § 30 TI StGB. Dieser stellt die Verabredung eines Verbrechens unter Strafe und erfaßt damit schon das Fassen eines mittäterschaftlichen Tatplans als selbständig strafbare Vorbereitungshandlung. Für den einzelnen sich verabredenden Mittäter bedeutet dies aber, daß seine Einwirkung auf die anderen Mittäter nicht das unmittelbare Ansetzen des Versuchs darstellen kann, weil sonst § 30 TI überflüssig wäre 74 : Die Verabredung nach § 3011 wäre schon Versuchsbeginn 75 . Das Gesamttatdenken beim Versuch zeigt also, daß die Mittäterschaft nicht nach den Regeln der Einzeltäterschaft zu begreifen ist. Wenn aber im Zusammenhang mit dem Versuchsbeginn das mittäterschaftliche Delikt als Gesamttat betrachtet wird und danach gefragt wird, wann diese Gesamttat die Schwelle zum Versuch überschritten hat, so ist es auch möglich, dieses Gesamttatdenken auf die Tatbestands verwirklichung insgesamt, nicht nur auf ihren Versuch anzuwenden. Der Tatbestand eines Erfolgsdelikts wäre demnach erfüllt, wenn die Gesamttat, das heißt das Verhalten der gemeinschaftlich handelnden Mittäter insgesamt, den Erfolg verursacht hat. Wer sich als Täter an der Gesamttat beteiligt hat, ist durch Auslegung des Merkmals "gemeinschaftlich" in § 25 TI zu ermitteln. Daß Täter i. S. d. § 25 11 nur derjenige sein kann, der kausal für den Erfolg geworden ist, läßt sich dem Gesetz nicht entnehmen76. So Baumann/Weber/Mitsch. AT, § 229 Rn. 154 m. w. N. (Fn. 218). So die wohl h.M.: BGHSt 30, 363 (365); 36,249 (250); 39, 236 (237 f.); 40, 299 (301); S/S/Eser, § 22 Rn. 55; Tröndle. § 22 Rn. 18; Lackner/Kühl. § 22 Rn. 9. jeweils m. w. N.. 73 Vgl. Baumann/Weber/Mitsch. AT, § 29 Rn. 104 m. w. N. (Fn. 147). 74 So Dencker, Kausalität, S. 132 ff.; Renzikowski. Taterbegriff, S. 285. 75 Jedenfalls wenn sie abgeschlossen ist und die Tatausführung alsbald erfolgen soll. Zu diesen einschränkenden Kriterien beim Versuchs beginn der mittelbaren Täterschaft vgl. die Nachweise bei Baumann/Weber/ Mitsch. § 29 Rn. 155 (Fn. 222). 76 Vgl. dazu Bloy. Beteiligungsform, S. 373 f. (Fn. 356), der darauf hinweist, daß das typische Vorliegen der Kausalität aller Mittäter bei korrelativer Mittäterschaft die konstitutive Funktion der Mittäterschaft nur verdecke. Siehe auch Bloy. GA 1996.424 (427); Herzberg. ZStW 99 (1987), 49 (54ff.). 71
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Teil B: Mittäterschaftliche Zurechnung des Einzelverhaltens im Gremium
Es ist im folgenden zu untersuchen, wie eine solche stratbarkeitserweitemde Funktion des § 25 11 begründet werden kann. Dabei ist insbesondere auf die Begründungsansätze für die additive Mittäterschaft einzugehen, weil anhand dieser Fallgruppe die kausalitätsersetzende Wirkung der Mittäterschaft diskutiert wurde und weil die Gremiumsentscheidung mit den klassischen Fällen77 additiver Mittäterschaft vergleichbar ist.
c) Lösungsansätze zur Begründung der additiven Mittäterschaft Während die subjektive Theorie die Bestimmung der Mittäterschaft auf der Basis des extensiven Täterbegriffs als Problem der Differenzierung von Beteiligungsfonnen im Rahmen kausaler Tatbeiträge begreift78 , versucht die Tatherrschaftslehre die Mittäterschaft nach objektiven Kriterien zu erfassen und von anderen Beteiligungsfonnen abzugrenzen 79. Dabei tritt das Kriterium der Kausalität in den Hintergrund, was damit zusammenhängen dürfte, daß der Begriff Tatherrschaft in objektiver Hinsicht zumeist höhere Anforderungen an die Täterhandlung stellt, als die weitreichende Kausalbeziehung der Äquivalenztheorie so . Die Frage, ob der mittäterschaftsbegründende Tatbeitrag kausal sein muß, oder ob Mitherrschaft über eine gemeinsame Tatbestandsverwirklichung auch ohne Kausalität begründbar ist, wird häufig gar nicht problematisiertSI. aa) Die Ansicht Herzbergs Herzberg hat sich in seiner Monographie "Täterschaft und Teilnahme"s2 ausgiebig mit der Problematik der additiven Mittäterschaft auseinandergesetzt. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß der einzelne Attentäter in dem von ihm gebildeten Verschwörerbeispiel s3 keine Tatherrschaft habe. In dubio pro reo sei zu seinen Gunsten zu unterstellen, daß seine Kugel nicht getroffen habe, so daß der Erfolg Vgl. Beispiel (3) und (3a) - "Verschwörerfälle". Dazu oben Teil B n. 1. b). 79 Zur Tatherrschaftslehre vgl. Roxin. Täterschaft und Tatherrschaft. 6. Auflage 1994, sowie LK-Roxin. § 25 Rn. 7 ff.• 34 ff. mit weiteren Nachweisen in Rn. 10. 80 Es wurde ja bereits darauf hingewiesen, daß in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Mittäterschaftsfälle Kausalität jedes Mittäters nachgewiesen werden kann. Vgl. Teil B n. 1. a). Dazu Bloy. Beteiligungsform. S. 373 f. 81 SO Z. B. LK-Roxin. § 25 Rn. 153 ff. (154): "Eine Tat gemeinschaftlich Begehen heißt für den Bereich der bei weitem im Vordergrund stehenden Herrschaftsdelikte: gemeinsam die Tatherrschaft ausüben"; ders .• Täterschaft. S. 660; Jescheck/Weigend. AT, § 63 I 1.; Kühl. AT, § 20 Rn. 98 ff.• jeweils m. w. N. zu den Vertretern der Tatherrschaftslehre. Ausdrücklich für das Kausalitätserfordernis SK-Samson. § 25 Rn. 119, 124. 82 S. 56 ff.; Vgl. auch Herzberg. ZStW 99 (1987). S. 49 (54 ff.). 83 V gl. Herzberg. Täterschaft, S. 56. Dazu schon oben, Beispiel (3) und (3a). 77
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nicht auf eigenhändiger Tatausführung beruht. Aber auch über das Verhalten seiner Komplizen sei dem Einzelnen keine Tatherrschaft zugekommen. Eine solche ließe sich über die Regeln der mittelbaren Täterschaft nicht herleiten, weil die anderen Mittäter nicht Werkzeuge in der Hand der anderen, sondern frei verantwortliche Vorsatztäter gewesen seien. Betrachtet man die Argumentation Herzbergs gegen die Tatherrschaft des einzelnen Attentäters genauer, so sind es dieselben Gesichtspunkte, die es auch unmöglich machen, die Kausalität des einzelnen Mittäters für den Erfolg festzustellen. Weder der Beitrag bei der Tatausführung noch die Beteiligung am Komplott lassen sich als conditio sine qua non des Erfolges bezeichnen. Die Besonderheit bei der additiven Mittäterschaft besteht gerade darin, daß die Beteiligten in ihren Tatplan eine "Übersicherung" einbauen, die den Einzelbeitrag überflüssig macht. Was die psychische Beeinflussung angeht, ergibt sich daraus, daß die Mitwirkung des einzelnen aus der Sicht der Komplizen überflüssig und verzichtbar ist84 • Daß ein bestimmter Mittäter mitwirkt, kann daher auch nicht motovierend wirken. Gleichwohl bejaht Herzberg in diesem Fall Mittäterschaft. Zwar liege keine funktionelle Tatherrschaft vor, weil diese nur bei ineinandergreifenden sich wechselseitig ergänzenden 85 Tatbeiträgen gegeben sei, nicht aber bei additiven, sich nach dem Tatplan potentiell gegenseitig ersetzenden Beiträgen. Hier könne der Einzelne durch Verweigerung seines Beitrag nicht den Gesamtplan zunichte machen. Die Begründung mittäterschaftlicher Zurechnung ergebe sich aber aus der Vorschrift des § 25 11 unmittelbar. Alle Verschwörer sind gleichrangige Partner und leisten einen wesentlichen Beitrag im Ausführungsstadium86 . § 25 11 hat seiner Ansicht nach konstitutiven, strafbarkeitserweiternden Charakter. Die Regeln über Täterschaft und Teilnahme sind demnach nicht nur Differenzierungen innerhalb des durch die Äquivalenztheorie vorgegebenen Rahmens kausaler Tatbeiträge.
Der einzelne Verschwörer ist gleichrangiger Partner bei der Durchführung des Attentats. Seinem Beitrag kommt dasselbe Gewicht zu, wie den Beiträgen der anderen, und die Koordination der Handlungen beruht auf einem gemeinsamen Plan. Als Mittäter haftet der einzelne wie ein Täter, d. h. in der Rechtsfolge wird sein Tun einem Töten gleichgesetzt, obwohl er weder eigenhändig noch vermittelt durch ein menschliches Werkzeug getötet hat. Mittäterschaft wirkt damit "kausalitätsersetzend", weil es auf physische oder psychische Kausalität des Mittäters für den Erfolg nicht ankommt.
84 So Herzberg, Täterschaft, S. 60, Fn. 8; Bloy, Beteiligungsform, S. 373. A.A. Scholl, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S. 222. 8S Man kann insoweit von korrelativen Tatbeiträgen sprechen. Vgl. LK-Roxin, § 25 Rn. 159, ders., JA 1979,519 (524). 86 Herzberg, Täterschaft, S. 61. Zustimmend Seelmann, JuS 1980,571 (574); Franke, JZ 1982, 579 (582).
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bb) Der Ansatz Roxins 87
Nach Ansicht Roxins kommt es für die Frage nach der Mittäterschaft bei den sogenannten Herrschaftsdelikten 88 auf die gemeinsame Innehabung der Tatherrschaft an 89 . Die Tatherrschaft des Mittäters unterscheidet sich nach Ansicht Roxins aber von der Handlungsherrschaft des Alleintäters und der Willensherrschaft des mittelbaren Täters. Im Unterschied zu diesen "Einzeltätern" hat der Mittäter nur sogenannte funktionelle Tatherrschaft90 . Für die Fälle des Ineinandergreifens korrelativer Tatbeiträge ergibt sich dies daraus, daß der eine Mittäter bei der Tatausführung an die Beiträge des / der anderen Mittäter(s) anknüpft und auf diesen Beiträgen mit seinem Tun aufbaut. Die Fallgruppe additiver Mittäterschaft ist zwar insoweit anders gelagert, die Beiträge greifen ja nicht ineinander, im Gegensatz zu Herzberg ist aber Roxin der Ansicht, daß auch diese Fallgruppe mit der funktionellen Tatherrschaft erklärbar ist. Die Frage der Mitherrschaft des Mittäters sei nicht auf der Basis des ex post ermittelten Sachverhalts zu beantworten, sondern ex ante 91 auf der Basis der geplanten Tat. So können auch Personen, die für tatsächlich nicht eingetretene Eventualitäten eingeplant wurden, Mittäter sein, wenn sie nach der Planung eine wesentliche Rolle innehatten. Dies gilt zum Beispiel für den "Schmiere stehenden" Beteiligten92 , ohne den die anderen die Tat nicht riskiert hätten. Auch er kann funktioneller Mittäter sein, auch wenn er nichts zu tun hatte, weil nichts passierte. Mit dieser Lehre kann auch der letztlich "überflüssige Mittäter" bei der additiven Mittäterschaft erlaßt werden, denn ex ante betrachtet konnte jeder Beteiligte mit seinem Beitrag entscheidend sein und war damit gleich wichtig für das Gelingen der Tat wie jeder andere. Die von Roxin vertretene ex ante-Betrachtung führt dazu, daß ein Beitrag, der lediglich geeignet erschien, zur Verwirklichung der Tat beizutragen, im Rahmen mittäterschaftlicher Begehung für die Erfolgszurechnung ausreicht. Die Mittäterschaft vermag also die Risikoerhöhungen der Mittäter zu einer Einheit zu verbinden, die dann nur noch insgesamt auf ihre Ursächlichkeit zu untersuchen ist. Diese Konsequenz scheint Roxin selbst nicht ziehen zu wollen. In seiner Auseinandersetzung mit der Gremiumsproblematik 93 vertritt er die Ansicht, MittäterLK-Roxin. § 25 Rn. 154; ders .• Täterschaft, S. 660; ders .• JA 1979,519 (534). Vgl. dazu Roxin. Täterschaft, S. 637 ff.; LK-Roxin. § 25 Rn. 156 ff., Abgrenzung zu den ,,Nichtherrschaftsdelikten" in Rn. 36 ff. 89 Zum Unterlassungsdelikt vertritt Roxin die sog. Pflichtdeliktslehre. Dazu unten 2. 90 Vgl. LK-Roxin. § 25 Rn. 154. 91 Zustimmend Bloy. Beteiligungsform, S. 372ff.; ders .• GA 1996,424 (429ff.); Spendel. RuP 1993, 61 (65). Ebenso Franke. JZ 1982,579 (582) für sog. Redakteurskollektive. Gegen die Annahme funktioneller Tatherrschaft in diesem Fall See/mann. JuS 1980,571 (574). 92 Vgl. dazu LK-Roxin. § 25 Rn. 154,191. 93 Roxin. AT, § 11 Rn. 18. 87 88
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schaft setze Kausalität voraus. Der Versuch, fehlende Kausalität durch Mittäterschaft ersetzen zu wollen, sei zirkelschlüssig. Unter Verweis auf seine oben dargestellte Kommentierung im Leipziger Kommentar verlangt er, daß dieses Kausalitätserfodemis ,jedenfalls ex ante gesehen" bestehen müsse. Was ist aber eine "Kausalität ex ante"? Ob eine Handlung kausal für einen Erfolg war, läßt sich nur ex post beurteilen. Was man ex ante beurteilen kann, ist die generelle Eignung, die Gefährlichkeit und damit die Risikoerhöhung, die einer Handlung im Hinblick auf den Eintritt eines Erfolges innewohnt. Begründet Roxin also die funktionelle Tatherrschaft mit risikoerhöhenden Beiträgen (= ex ante-Betrachtung 94 ), so kann er die Kausalität des einzelnen Mittäters nur auf die psychische Beeinflussung bei der Tatplanung stützen. Psychische Kausalität scheint Roxin bei gemeinsamem Tatentschluß stets anzunehmen, da er ansonsten die Kausalität in dem von Herzberg gebildeten Verschwörerbeispiel diskutieren müßte 95 • Wie bereits dargestellt läßt sich psychische Kausalität der Mittäter in diesem Fall aber kaum feststellen 96 . Die Ausführungen Roxins sind demnach so zu verstehen, daß bei der sogenannten additiven Mittäterschaft Kausalität der Tatbeiträge im Ausführungsstadium nicht erforderlich ist, daß aber die gemeinsame Planung zur Begründung der Ursächlichkeit aller Mittäter für den Erfolg ausreichend ist. Damit besteht zwischen den Ansichten von Roxin und Herzberg im Ergebnis Einigkeit, jedenfalls wenn das Verhalten der Mittäter vorher abgesprochen ist und nicht bei der Tatausführung zustandekommt, wie dies bei Gremiumsentscheidungen häufig der Fall ist 97 . ce) Der Ansatz Gössels 98
In besonders pointierter Weise entwickelt Gössel die Mittäterschaft nach § 25 11 als eigenständige Form der Täterschaft neben den Täterschaftsformen des § 25 I, der Alleintäterschaft und der mittelbaren Täterschaft. Dabei tritt er dem Bild von der Mittäterschaft als Kombination von unmittelbarer und mittelbarer Alleintäterschaft entgegen und betont, daß § 25 11 Sachverhalte erfaßt, die von § 25 I verschieden sind99 . Mittäterschaft ist nach dieser Auffassung gekennzeichnet durch kollektive Tatherrschaft 100. Diese kollektive Tatherrschaft wird in Übereinstimmung mit der Ansicht Roxins als funktionelle Tatherrschaft beschrieben. Dabei Darauf verweist zu Recht Bloy, Beteiligungsform, S. 373. Der Beispielsfall von Herzberg wird von LK-Roxin, § 25 Rn. 158 f. ausgiebig behandelt, ohne daß dabei die Kausalität problematisiert wird. 96 Siehe dazu oben Teil B 11. I. b) bb) (I). 97 Dazu näher unten Teil B 11. I. d) bb). 98 Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 49. 99 Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 49 Rn. 5 ff. Ähnlich schon Welzel, ZStW 58 (1939), 491 (549ff.). 100 S. auch Stratenwerth, AT, Rn. 807: "Die Tatherrschaft liegt vielmehr in den Händen des "Kollektivs" als solchem ... ". 94
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wird betont, daß § 25 11 die strafrechtliche Verantwortlichkeit gegenüber § 25 I ausdehnt, also konstitutive Funktion hat. § 25 11 erweitere die gesetzlichen Tatbestände im Hinblick auf das Tatsubjekt 101. Durch die Ablehnung eines Verständnisses, das den Mittäter als Täter durch Beeinflussung seines Mittäters begreift, wird das Kriterium der Kausalität, mit dem die Gegenansicht jene Beeinflussung, jene mittelbare Tatbestandsverwirklichung zu erfassen sucht, bedeutungslos. Durch diesen Ansatz hat Gössel auch keine Schwierigkeiten, die Fälle additiver Mittäterschaft zu erfassen. In diesem Fall seien alle additiven Beiträge Ausdruck der kollektiven Tatherrschaft. Daß jeder Mittäterbeitrag einen "wesentlichen" Beitrag für das Gelingen der Tat darstellt, ist nicht erforderlich. dd) Der Ansatz Denckers lO2 Dencker versucht ein Prinzip" Gesamttat" nachzuweisen, dessen Strukturen er anhand von Einzelwertungen der h.M. oder Teilen der Literatur aufzuzeigen versucht. Die Haftung wegen Beteiligung an der Gesamttat dient der Begründung von Zurechnung, die nicht auf eigener Verursachung des Taters nach den Grundsätzen der Einzelzurechnung beruht. Damit widerspricht auch er der Formel von der Mittäterschaft als Kombination von unmittelbarer und mittelbarer Täterschaft. Mittäterschaft setzt also nicht voraus, daß der einzelne Mittäter durch den eigenen Beitrag oder die Einwirkung auf den Komplizen für die Tatbestandsverwirklichung kausal wird.
Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind dabei die Fälle "alternativer", "additiver", "paralleler" und "sukzessiver" Mittäterschaft, die nach seiner Ansicht mit dem Erfordernis der Kausalität jedes Mittäters für den Erfolg nicht vereinbar sind lO3 , gleichwohl aber als Fälle der Mittäterschaft angesehen werden. Des weiteren sieht er sich durch die Existenz des § 30 11 und die Regeln über den Versuchsbeginn bei der Mittäterschaft - Gesamtlösung - daran gehindert, Kausalität über die wechselseitge psychische Beeinflussung der Mittäter zu begründen lO4 • Die Lösung der Problematik sieht Dencker darin, die Mittäterschaft als eigene Form kollektiver Zurechnung von der unmittelbaren oder mittelbaren Einze1täterschaft abzugrenzen. § 25 11 begründet demnach eine eigene Form der Verantwortlichkeit durch Beteiligung an gemeinschaftlichem Tun, durch Beteiligung an einer "Gesamttat" . Mittäterschaft schafft eine Verbindung zwischen den Mittätern, die 101
Maurach/Gössel/Zipt AT 2, § 49 Rn. 6,12.
Dencker; Kausalität und Gesamttat, 1995. In wesentlichen Punkten zustimmend Kamm. Die fahrlässige Mittäterschaft. S. 66ff., 142 ff. (153). 103 Vgl. Dencker; Kausalität, S. 125ff., sowie oben Teil B 11. I. b) aa) und bb), wo die entsprechenden Fallgruppen ausführlich behandelt wurden. 104 Vgl. Dencker; Kausalität, S. 132 ff. Dazu schon ausführlich oben Teil B 11. I. b) bb). 102
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dazu führt, daß sie bei der Tatbestandsprüfung als Kollektiv angesehen werden und nur als Kollektiv die Merkmale des Tatbestandes erfüllen müssen. Da die Kausalität beim Erfolgsdelikt ebenfalls nur ein Tatbestandsmerkmal ist, stellt sich die Frage nach der Ursachenbeziehung nur zwischen der Gesamttat des Kollektivs und dem Erfolg, nicht aber zwischen den "Teiltaten", den Mitwirkungshandlungen der einzelnen Mittäter, und dem Erfolg. Durch § 25 11 werden damit die Tatbestände des Besonderen Teils für den Fall der Mittäterschaft modifiziert lO5 • Heißt es beispielsweise in § 212 "Wer einen Menschen tötet ..." so gilt diese Beschreibung nur für den Einzeltäter nach § 25 I. Für die Mittäterschaft wird der Tatbestand durch § 25 11 wie folgt modifiziert: "Töten mehrere einen Menschen gemeinschaftlich .... ". Die Rechtsfolge ergibt sich dann aus § 25 11: Jeder wird als Täter bestraft. Das Kollektiv konstituiert sich dabei durch den gemeinsamen Tatentschluß, den Dencker nicht als subjektives Merkmal, sondern als objektiv aufzufassenden Kommunikationsakt begreift 106. Als weitere Täterschaftsvoraussetzung, muß der Mittäter dann - vor allem in Abgrenzung zum Gehilfen - noch eine "Teiltat" erbringen, einen Mitwirkungsakt, der gemessen am Tatplan so wesentlich ist, daß man den jeweiligen Akteur als gleichberechtigten Partner bei der Deliktsverwirklichung bezeichnen kann lO7 . Dieses Kritrium der "Wesentlichkeit" ist entscheidend für die schwierige Abgrenzung von Mittäterschaft und Beihilfe. In den hier interessierenden Konstellationen der "additiven", "alternativen" oder "parallelen" Mittäterschaft ist diese Abgrenzung unproblematisch, weil die Beiträge aller Beteiligten gleichartig und gleich wichtig sind. Ex ante kann es auf jeden einzelnen ankommen, ex post ist jeder Beitrag entbehrlich, so daß alle Beiträge entweder mittäterschaftsbegründend oder strafrechtlich überhaupt nicht zu erfassen sind. ee) Zusammenfassung
Die unter (1) - (4) dargestellten Ansichten kommen im wesentlichen zum selben Ergebnis. In Fällen "additiver Mittäterschaft" liegt aufgrund mittäterschaftlicher Zurechnung Strafbarkeit aller Beteiligten vor, obwoW die Kausalität des einzelnen Beteiligten im Sinne der conditio-sine-qua-non-Formel weder auf die Wirkung des Tatbeitrags noch auf die psychische Kausalität für das Verhalten der Komplizen gestützt werden kann. Herzberg, Gössel und Dencker erreichen dieses Ergebnis, indem sie der Mittäterschaft konstitutive Wirkung zumessen 108. 105 106 IO?
Vgl. Dencker; Kausalität, S. 142 ff. Dencker; Kausalität, S. 149 ff. Vgl. Dencker; Kausalität, S. 162.
Zustimmend B/oy, Betei1igungsforrn, S. 373; ders., GA 1996, 424ff.; Bottke, Gestaltungsherrschaft, S. 9Of.; Hilgendorf, NStZ 1994, 561 (563); See/mann, JuS 1980,571 (574); 108
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Roxin sieht wohl allein durch die Absprache der Mittäter das Merkmal der Kausalität als erfüllt an und kommt zur funktionellen Tatherrschaft, indem er insoweit auf die ex ante-Perspektive abstellt. d) Die Lösung der Gremiumssachverhalte
Bei der Übertragung der bisherigen Überlegungen auf die Mittäterschaftsproblematik im Gremium ist wie oben 109 bereits dargestellt zwischen zwei Konstellationen zu unterscheiden, je nachdem ob das Abstimmungsverhalten der die Mehrheit bildenden Gremiumsmitglieder im Vorfeld der Beschlußfassung abgesprochen ist oder nicht. aa) Fälle abgesprochenen Abstimmungsverhaltens
Wird das Abstimmungsverhalten von den Mitgliedern des Gremiums im Vorfeld abgesprochen, so liegt ein Sachverhalt vor, wie er für die Mittäterschaft typisch ist. Zuerst fassen die Mittäter einen gemeinsamen Tatplan, indem sie sich auf ein bestimmtes gemeinsames Vorgehen einigen, und führen dann die Tat aus, indem sie ihre Handlungen plangemäß ausführen. Sieht man in einer solchen Abrede zu gemeinsamem Handeln bereits eine wechselseitige Beeinflussung, welche psychische Kausalität begründet, so dürfte Mittäterschaft nach ganz herrschender Ansicht zu bejahen sein 110. Jeder Mittäter wird ja dann durch die Kombination seiner Stimme mit den Stimmen, für die er mittelbar verantwortlich ist, insgesamt ursächlich für den Beschluß und seine Folgen. Zweifelt man dagegen an der wechselseitigen psychischen Kausalität der Mittäter für ihr Abstimmungsverhalten, weil z. B. einige von ihnen schon vor der Absprache zum entsprechenden Abstimmungsverhalten entschlossen waren (omnimodo facturus), so muß Mittäterschaft unter Verzicht auf Kausalität des Einzelnen begründet werden. Gleichwohl kann man aber für die Begründung mittäterschaftlicher Zurechnung an die gemeinsame Tatplanung anknüpfen. Selbst wenn diese keine Kausalität begründet, so liegt immerhin ein "Unrechtspakt" vor, dem sich die Beteiligten durch entsprechendes Abstimmungsverhalten unterordnen. Die Bejahung von Mittäterschaft dürfte bei diesem Sachverhalt in der Tat der h.M. entsprechen 111. Weißer, JZ 1998. 230 (238) unter Aufgabe von Weißer, Kollegialentscheidungen. S. 146ff. (156); Lampe. ZStW 106 (1994), 683 (692f.); Schwart