Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen: Erster Band: Strafrecht [1 ed.] 9783428561285, 9783428161287

In zwei Bänden legt Karl Binding im Jahr 1915 sein Werk »Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen« vor und begr

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German Pages 572 Year 1915

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Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen: Erster Band: Strafrecht [1 ed.]
 9783428561285, 9783428161287

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Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen Von Karl Binding

Erster Band: Strafrecht

Duncker & Humblot reprints

Strafrechtliche und strasprozeffuale Abhandlungen Von

Dr. jur. et pkil. Karl Bindmg früher ordentlicher Professor der Rechte zu Leipzig

Erster Band

Strafrecht

München und Leipzig Verlag von Duncker 8- Lumblot 1915

Alle Rechte vorbehalten.

Altenburg Pierersche Hofbuchdruckeret Stephan Getbel L Eo.

III

Vorwort. Tille Probleme, mit denen wir je intensiv gerungen

haben, lassen uns nicht mehr los! Wir bleiben ihre, sie freilich zugleich unsere Gefangenen. Nun hat gesundes Geistes­ leben notwendig eine fortschreitende Wandlung unserer Ge­ dankenwelt zur Folge — in dem doppelten Sinne einer Vertiefung und einer Berichtigung. An dieser Wandlung nehmen unausbleiblich auch sie und unsere Gedanken über sie Teil! Nahen sich dann unsere Tage ihrem Abschlusse, so emp­ finden wir wol das Bedürfnis — im Bilde gesprochen —, sie Alle noch einmal um uns zu versammeln und unserem Denken über sie die für uns endgültige Form zu geben — einerlei, ob wir dies früher schon versucht haben oder nicht. Diesem Bedürfnis dankt die Zusammenstellung der folgenden Abhandlungen und die ihnen gegebene Form ihre Entstehung. Sie setzt sich aus drei Gruppen zusammen. Bestimmte Probleme haben mich dauernd stark in An­ spruch genommen, ohne daß ich dazu gekommen wäre, mich über sie schon öffentlich — will sagen: literarisch — zu äußern. Dazu zählen die beiden Fragen nach der prozeß­ gestaltenden Kraft der Strafprozeßprinzipien und nach dem Verhältnis des originären Straf­ rechtsverhältnisses zu dem urteilsmäßig fest­ gestellten. So sind die Abhandlungen Hl und V des zweiten Bandes ganz neu. Andern sind frühere Ausführungen von mir voraus­ gegangen; ich habe diese aber zum Teil falsch gefunden, oder I*

IV

Vorwort.

sie haben mir nicht mehr genügt. So ist die Abhandlung II des zweiten Bandes über die Urteilsfindung im Kollegialgericht auf neue Basts gestellt worden, ganz besonders aber hat die Lehre vom Verbrechenssubjekt den volleren Ausbau erhalten. Neben den Materien der Schuld und des Irrtums hat mich von den Lehren des allgemeinen Teils während der ganzen Zeit meiner wissenschaftlichen Arbeit keine lebhafter beschäftigt als die nach der Ausgestaltung des Verbrechens­ subjektes. Schon vor langen Jahren präzisirte ich meinen Zuhörern die entscheidende Frage dahin, ob der Täterbegriff ausgedehnt werden könne auf diejenigen, die Andere zur Begehung strafbarer Handlungen bestimmt hätten, welche sie selbst persönlich zu begehen außer Stande gewesen wären? Die beständige Arbeit an ihrer Lösung hat mich zur Er­ kenntnis des Urhebertypus geführt. Mein großer Wunsch, die ganze Lehre monographisch behandeln zu können, läßt sich nicht mehr erfüllen. Ich glaube aber, durch die VII. Abhandlung des ersten Bandes für die dogmatische wie für die gesetzgeberische Behandlung der berühmten Materie „der Teilnahme" ein neues Funda­ ment gelegt zu haben. Starke Vermehrung durch näheres Eingehen auch auf die in neuerer Zeit neu aufgetauchten und lebhaft behandelten Fragen der Gerichtsorganisation hat die Abhandlung über „die drei Grundfragen der Organisation des Strafgerichts" (Abhandlung I in Band II) erfahren. Unverändert ist nur das zum Abdruck gekommen, was auch heute noch voll meinen Ansichten entspricht. Zu den einzelnen Abhandlungen habe ich gewissenhaft bemerkt, ob sie unverändert oder verändert wiedergegeben sind. Zu den fast unverändert gebliebenen gehört auch die umfassende, erst vor wenigen Jahren erschienene Abhandlung über den objektiven Tatbestand (Band I Abhandlung V). Wollte ich Wiederholungen in dem Bande vollständig ver­

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Vorwort.

meiden, hätte ich sie zerreißen müssen. Dazu aber konnte ich mich ihrer geschlossenen Einheitlichkeit gegenüber nicht ent­ schließen. So kommen die Urheberschaft an drei, das Redakteur­ delikt an zwei Stellen zur Besprechung. Beide Begriffe sind so wichtig, daß ich glaube, diese mehrfache Beleuchtung von verschiedenen Standpunkten aus und in verschiedenem Zu­ sammenhänge könne ihnen nicht schaden. Die drei Reden „Die Ehre und ihre Verletzbarkeit", „Der Zweikampf und das Gesetz", „Die Entstehung der öffentlichen Strafe im germanisch-deutschen Recht" konnten, weil im Buch­ handel selbständig erschienen ^, in dem ersten Band keine Aufnahme finden. Er wird auch ohne sie gar Manchem zu stark sein! Während des größesten Krieges, den die Welt seiner Feinde das deutsche Volk für seine Weltstellung ruhmvoll zu führen gezwungen hat, wissenschaftlich arbeiten, können und dürfen von seinen Söhnen nur die, die für den Krieg felbst nicht mehr arbeiten können. Dies Los ist mir gefallen! Dem Geiste unseres Volkes entspricht es aber, im Frieden für den Krieg und im Krieg für den Frieden zu arbeiten. Aus diesem Geiste, der in der Gegenwart die Zukunft zu­ gleich dauernd und werktätig ins Auge faßt, schöpfe ich die Rechtfertigung meines Tuns. Dankbar gedenke ich zum Schluffe einer wertvollen Unter­ stützung bei der Korrektur dieser Bogen. Freiburg i. Br., im Sommer des großen Weltkriegs 1915.

vr. Karl Binding. * Alle bei Duncker L Humblot 1909.

VII

Inhaltsverzeichnis. Sette

Vorwort........................................................................III—V

Erste Abteilung. Strafrecht. I. Ein Bekenntnis................................................... 3—25 II. Strafgesetzgebung, Strafjustiz und Strafrechts­ wissenschaft in normalem Verhältnis zueinander 27—60 III. Das Problem der Strafe in der heutigen Wissenschaft............................................... 61—94 IV. Das bedingte Verbrechen ....... 95—128 V. Der objektive Verbrechenstatbestand in seiner rechtlichen Bedeutung.................................. 129—217 Besonderes Inhaltsverzeichnis..................... 130 VI. Das Redakteurdelikt unter besonderer Berück­ sichtigung des Reichspreßgesetzes vom 7. Mai 1874 Ztz 20 und 21..................................... 219—249 VII. Die drei Grundformen des verbrecherischen Subjekts: der Täter, der Verursacher (Urheber), der Gehilfe............................................... 251—401 Besonderes Inhaltsverzeichnis..................... 252 VIII. Über den Irrtum bei Delikten im heutigen Strafrecht und in dem der Zukunft .... 403—451 IX. Zur Lehre vom Betrug — für und gegen das Reichsgericht................................................ 453—474 X. Unzüchtige Handlungen und unzüchtige Schriften. Ein Gutachten....................... 475—504 XI. Anhang.......................................................... 505—563 1. Zum hundertjährigen Geburtstage Paul Anselm Feuerbachs.............................. 505—521 2. Zu Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht 522—554 3. Emil Brunnenmeister f 22. Januar 1896 554—563

Erste Abteilung.

Strafrecht.

Binding, Strafrechtliche und strafprozesfuale Abhandlungen.

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I.

Ein Bekenntnis *). Als „einseitiger Vertreter des Rechts und des Strafrechts insbesondere" übergebe ich meinen Hörern aufs neue diesen Grundriß des Strafrechts — von den Vielseitigen und den Dilettanten darum sicher, aber zu meiner Freude, lebhaft getadelt, dazu jedoch genötigt durch den Stolz auf meine Wissenschaft und ihren Gegenstand — wer kann des Stolzes auf den wunderbaren Bau der Rechtsordnung weniger ent­ behren, als der, der ihn fo selten hat: der Mann des Rechts ? —, des weiteren durch meine Abneigung gegen alles dilettantische Treiben, das mir verächtlich wird, wenn es sich aufbläht und mit der Anmaßung verbindet. Ich bin Lehrer des Strafrechts, und als solcher will ich und darf ich nichts anderes lehren als eben Strafrecht. Mögen die Dilettanten und juristischen Apostaten die Rolle dieses Rechtsteiles und derer, die sich ihm widmen, auf das be­ scheidenste Maß zurückführen wollen: das Verbrechen und der Verbrecher — beide sind leider unsterblich, und eine Ahndung des Verbrechens wird es geben, solange die Welt steht! *) Das Folgende gibt fast unverändert die Vorrede zur siebenten (1907) und zur achten Auflage (1913) meines „Grundrisses des deutschen Strafrechts, Allgemeiner Teil" wieder, über die ich eine Fülle verschiedenster Urteile in Händen halte. Der Abdruck erfolgt mit Genehmigung der Verlagshandlung von Felix Meiner. — Daß es zumeist Gespenster sind, gegen die ich an­ kämpfe, wie mir auch entgegengehalten worden ist (Z. f. StrRW. XX VII S. 760), glaube ich nach wie vor verneinen zu müssen. Insbesondere habe ich den Kritiker selbst nie für ein Gespenst gehalten. 1*

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Erste Abteilung.

Strafrecht.

Das Verbrechen zu lehren samt seiner Rechtsfolge wird also stets eine große, scharf geschlossene Aufgabe der Rechts­ wissenschaft bleiben. Gerade dieser Lehre habe ich mein Leben gewidmet, und meine Zuhörer etwas anderes zu lehren, als ich weiß und sie gerade an dieser Stelle lernen sollen, hielte ich das eine für eine Charlatanerie und das andere für eine Gewissenlosigkeit ihnen gegenüber. Da auch der Kriminalist noch sozusagen ein Mensch ist, kann er sich bei dem Gedanken an das doppelte Schicksal, als welches sich das Verbrechen für die Menschheit und für ihr sündiges Mitglied zugleich darstellt, der tiefsten Bewegung nicht entschlagen. Und ganz von selbst wendet sich sein Blick rückwärts in die Zeit vor der Missetat, und er fragt sich: Hätte sie nicht verhütet werden können, verhütet werden sollen, und wie? Und Gedanken nach Gedanken im Dienste der Vorbeugung schwirren ihm durch den Kopf. Denn auch ihn freut die ver­ hütete Missetat unendlich mehr als selbst die vollkommen gerecht geahndete. Und wie weit bleibt das Menschenwerk der Verbrechensbestrafung hinter der Anforderung vollendeter Gerechtigkeit zurück! I^ss eüo8S8 parkaitss ns sont pa8 du rs88ort äs l'üuwLnits, klagte schon Friedrich der Große an­ gesichts der Unmöglichkeit, vollkommene Gesetze zu schaffen! Sollte also der Kriminalist nicht dem Prophylaktiker die Hand zum gemeinsamen „Kampfe gegen das Verbrechen" reichen? Ja, stünde ihm nicht wol an, den Schwerpunkt seiner ganzen Tätigkeit statt in die Ahndung des Verbrechens in dessen Hinderung zu verlegen? Ist doch jedes begangene Verbrechen nicht mit Unrecht einem Samenkorn verglichen worden, „welches je nach der Fruchtbarkeit des Bodens siebenbis hundertfältige Frucht trägt" ^. Lebhaft genug wird er von allen Seiten dazu aufgefordert! Erleuchtete Augen sehen „neue Horizonte", und ihre Träger werden heftig und aus­ ' Krauß, Psychologie des Verbrechens, 1884, S. 420.

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fallend gegen die Rückständigen, deren Blick jene „neuen Horizonte" nur als alte und neue Nebelbänke erkannt hat?. Dieser ganze Begriff der „Verbrechensbekämpfung" aber, wovon die Strafrechtspflege nur eine kleine Unterabteilung darstellen soll, entbehrt aller wissenschaftlichen Brauchbarkeit. Denn was durch die Vorbeugungsmaßnahmen bekämpft werden fall, ist nicht das „Verbrechen", sondern die Neigung zum Verbrechen in der Allgemeinheit, und womit sich das Strafrecht allein zu befassen hat, ist allein die als begangen gedachte und die wirklich begangene Missetat des Einzelnen. Gerade durch diese Tat wird eine ganz eigene dramatische Szene eingeleitet, die sich zwischen dem Staate und dem in oonorsto Schuldigen sozusagen unter vier Augen abspielt. Zu diesem Drama gibt es auf dem ganzen weiten Gebiete der „Verbrechensbekämpfung" kein Gegenstück. Denn dieses Drama heißt Verbrech e r bekämpfung! Von allen den Maßnahmen aber, die uns als solche der Verbrechensprophylaxe bezeichnet und empfohlen werden, hat nicht eine einzige diese Hinderung zum alleinigen Zweckes Es sind' nicht weniger als alle die großen Maßnahmen der Wohlfahrtspflege oder, wie man heute lieber, aber nicht besser sagt, „der Sozialpolitik" gemeint, die ganz willkürlich in ihren wirklichen Zwecken beschränkt werden. Das unendliche Gebiet der physischen und moralischen Volksgesundheitspflege: die Hebung des Wolstandes und Übrigens ist doch vielleicht zu betonen, daß in dieser ganzen „modernen Bewegung" nicht ein einziger neuer Gedanke aufgetaucht ist! Sie sind alle schon früher vertreten worden — mit Ausnahme der bedingten Verurteilung! Ihre Übereinstimmung mit den treibenden Gedanken und den praktischen Zielen der Bewegung, welche die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts be­ herrscht hat, ist vielfach geradezu frappant! — Wenn Günther, Idee der Vergeltung, II S. IX, den preußischen Juristen Klein als Vorläufer der bedingten Verurteilung anspricht, so geschieht dies trotz der Klein schen Sentimentalität an der angezogenen Stelle doch zu Unrecht. S. freilich R. Schmidt, Aufgaben der Strafrechtspflege, S. 241. 242. b Nicht einmal von der Fürsorge für die entlassenen Sträflinge darf das Gegenteil behauptet werden.

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Erste Abteilung.

Strafrecht.

Wolanstandes, die Besserung der Wohnungsverhältnisse, die Maßnahmen zur möglichsten Unschädlichmachung der Pro­ stitution und zur Zurückdrängung des Alkohols, und wie sie alle sonst heißen, lediglich unter den Gesichtspunkt der Ver­ brechenshinderung zu stellen, das vermag in der Tat nur, wer sich von der Fülle der Zwecke dieser ganzen so segens­ reichen und dankenswerten Gesamtaktion ganz ungenügende Vorstellungen macht! Und der Kriminalist soll dieses unermeßliche Gebiet des Verwaltungsrechtes seinem Fachgebiete einverleiben und be­ anspruchen, es in seinem Interesse meistern zu dürfen? Steht denn a priori fest, daß für die zu tuenden Schritte gerade der Gesichtspunkt der Minderung verbrecherischer Neigungen der entscheidende sein soll, und nicht vielleicht ein ganz anderer, hinter dem die Rücksicht darauf, daß durch die Maßnahme vielleicht Verbrechen gerade ausgelöst werden, vollständig in den Hintergrund treten muß? Deshalb kann man auch, was seitens der „Verbrechensbekämpfer" in dieser Richtung vorgebracht wird, gar manch­ mal nicht ohne Anwandlung großer Heiterkeit vernehmen! Man lese doch nur einmal unbefangen den Abschnitt bei Ferri über die ganz psr nskas sog. Strafersatzmittel (Das Verbrechen als soziale Erscheinung, übersetzt von Kurella, S. 178 ff.)! Und sein Nachbeter Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung, S. 195 ff., bläst vor­ sichtiger, aber in ganz dasselbe Horn^. Es ist ja zweifellos richtig — lächerlich richtig! —, daß Man beachte die Fülle aller möglichen Vorschläge in dieser Richtung, die Aschaffenburg macht! Freilich die ihm so erwünschte sehr hohe Be­ steuerung von Wein und Bier würde die Zahl der Defrauden außerordent­ lich steigern, das Verbot des Branntweinverkaufs von Sonnabend Mittag bis Montag eine große Fülle von Polizeikontraventionen auslösen usw. Wir bezahlen die Aussicht auf Verbrechensminderung sehenden Auges sehr oft mit dem Kaufpreis sicherer Verbrechensvermehrung. Bei allen solchen Geschäften kann der Preis auch größer sein als der Gewinn! Und so ist große Vorsicht geboten.

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wenn das Papiergeld abgeschafft wird, seine Fälschung von selbst aufhört, daß die Aufhebung der Zölle und der Steuern alle Defrauden verschwinden machen wird, daß wenn keine unehelichen Kinder mehr geboren werden, der Kindsmord erlöschen muß, daß keine Kinder oder nur eins oder höchstens zwei in ärmeren Familien diese befreien von einer Fülle von Nahrungssorgen, die zu allen möglichen Verbrechen führen können, daß überhaupt die Linderung der ökonomischen Notlage gleichbedeutend ist mit einer Zurückdrängung der Diebstähle und ihrer gewinnsüchtigen Verwandten! Es fehlt nur noch die Empfehlung der einzigen Maßnahme, die radikal helfen würde: die Abschaffung des Menschen über­ haupt. Dann sind alle Mörder — was sage ich: überhaupt alle Verbrecher und Verbrechen auf immer gewesen °! Aber „abschaffen" ist das Gegenteil von schaffen. Und sieht man einmal all den großen schöpferischen Maßnahmen der Gesetzgebung zur Hebung des deutschen Volkes seit den letzten dreißig Jahren ins Antlitz, so hat fast jede die Mög­ lichkeit neuer Verbrechen geschaffen, und doch durfte nicht eine einzige im Hinblick darauf unterbleiben! Ich übertreibe sehr wenig mit den Worten, daß jeder große Kulturfortschritt zugleich einen Ausbau des Ver­ brechensgebietes und eine Auslösung bestimmter verbreche­ rischer Neigungen, oft auch eine starke Steigerung verbreche­ rischer Fähigkeiten bedeutet. Und wenn ich gegenüber dem schwächlichen Jammern über die Zunahme der Verbrechen — ich lasse hier freilich die furchtbaren russischen Verhältnisse, in denen heute die Sünden aller an allen gerächt werden, außer Betracht! — den Satz aufstellen würde, daß die Zunahme der Verbrechen, in richtigem Sinn verstanden, ein Symptom steigender Kultur wäre, so dürfte man diesen Satz zwar paradox nennen, eine verständige 5 Freilich die „Verbrechen" der Tiere und die abgeschmackteste Erfindung Lombrosos, die „Verbrechen" der insektenfressenden Pflanzen, würden übrig bleiben!

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Auslegung aber könnte seinen starken Wahrheitsgehalt nicht verkennen! Dem Kriminalisten aber zumuten, er solle auf diesem Gebiete der Gesetzgebung und der Verwaltung die Fackel vorantragen und sie lehren, wie sie es überall zu machen hätten, um vor allem verbrecherische Neigungen möglichst hintanzuhalten, heißt ihm nicht nur eine unlösbare Riesen­ aufgabe, sondern auch eine unerträgliche Aufdringlichkeit zu­ muten. Und nur ein riesenhafter Dilettantismus kann die Naivität haben, uns solche Zumutung zu machen! So werden wir Pfleger des Strafrechts uns damit be­ gnügen müssen, diese Akte der Wohlfahrtspflege mit unserer vollsten Sympathie zu begleiten und hie und da aus unserer Kenntnis der Verbrecherwelt heraus von einer Maßnahme abzuraten, weil der durch sie erzielte Gewinn außer Ver­ hältnis stehen würde zu der durch sie ausgelösten Neigung, Verbrechen zu begehen. Im übrigen liegen sie zwar ganz innerhalb unseres menschlichen Interesses, und jeder von uns wird mitarbeiten an ihrer Förderung nach seiner Kraft, aber gleichzeitig liegen sie ganz außerhalb unserer wissenschaftlichen Aufgabe.

Wie jedoch kann man das Verbrechen lehren, ohne den Verbrecher als Spezies des Menschengeschlechtes und als durch die Gesellschaft tausendfältig bedingtes Wesen zu schildern? Wie kann man das Verbrechen strafen wollen statt des Verbrechers, den die Männer der neuen Hori­ zonte doch im Gegensatz zu den Rückständigen als den allein Strafwürdigen bezeichnen? Es gibt Sätze, bei denen unser Auge, wenn es zuerst auf ihnen haftet, nach dem erlösenden Druckfehler späht. Freilich hie und da, wie gerade hier, vergebens! Seit der Erfindung der Strafe ist grundsätzlich nie jemand anderes als der Verbrecher gestraft worden. Und gerade seine Bestrafung soll der neue Horizont sein? Die einzige Neuheit

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könnte doch nur in dem Nachweise bestehen, wie man endlich einmal das Verbrechen strafen könne, ohne den braven, des Mitleids aller Edlen so würdigen Verbrecher mitzutreffen! Diese schwere Kunst hat von den neuen Unsterblichen freilich noch niemand zu lehren vermocht«! Aber dieser Verbrecher wird uns in ganz neues Licht gerückt, und allein in diesem ihn zu sehen wäre unsere Pflicht, wenn anders die Zeit der Pflicht nicht auch schon weit hinter uns läge! Er kommt als verbrecherisches Menschenkind auf die Welt. In der Wiege ist er schon Mörder. Er mag dann durch die Welt wandern und hundert Jahre alt werden, ohne je die geringste Normwidrigkeit begangen zu haben: stets trägt er das Kainszeichen des Brudermordes auf der Stirne! Und wer diesen „geborenen Verbrecher", der vielleicht nie eine Missetat begangen, diesen Virtuosen in einer Kunst, die er nie geübt hat, mit Widerstreben, aber durch wissenschaft­ liche Erkenntnis genötigt, in die Raritätenkammer des aller­ erlesensten Unsinns verweist, der ficht dann als Moderner wieder einmal, wie die alten Hellenen schon vielfach mit gleichem Mißerfolge getan haben, die Zurechnungsfähigkeit des Verbrechers an. Denn wir alle folgen stets und aus­ nahmelos unwiderstehlichem Zwange: der arme Schlucker, der Raubmord und Notzucht begeht, ebenso wie Rafael und Michelangelo, Mozart und Beethoven, Goethe und Schiller, ° Daß der Verbrecher im Einzelfall des tiefsten Mitleides würdig sein kann, weiß ich aus Erfahrung zur Genüge. Aber die ganze Klasse an diesem Mitleiden teilnehmen zu lassen trotz der Fülle verächtlicher, abstoßender, ja abscheulicher Elemente in ihrer Mitte, dazu fehlt aller Grund! Doch ver­ greift sich hiebei wenigstens eine natürliche Empfindung nur in ihrem Gegen­ stände. Geradezu monströs ist aber die Verherrlichung „des Verbrechens" und die Klage, daß der Verbrecher von heute unter die verbrecherische Voll­ kommenheit der größten Scheusäler der Renaissance herabgesunken sei, wozu sich Nietzsche verstiegen hat. S. Düringer, Nietzsches Philosophie vom Standpunkte des modernen Rechtes, 2. Aust., Leipzig 1906, S. 105 ff. Dünkel und Krankheit in tragischem Verein haben hier eine geradezu grauenhafte Perversität der Gedanken und der Empfindungen erzeugt!

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wenn sie unsterbliche Kunstwerke erzeugen, wie Kaiser Wilhelm, Bismarck und Moltke, wenn sie das Deutsche Reich errichten, wie die großen Gelehrten, wenn sie ihre Bücher schreiben, wie schmähsüchtige Parlamentarier, die elende Klatschstänkereien urbi st orbi als ausgemachte Wahrheit verkünden! Von un­ bekannter Macht wird die Billardkugel des Motivs gegen das Band des Charakters geschleudert, und der Effekt ist da: bald in der Gestalt eines Mordes, einer Schändung, einer Ver­ leumdung, bald in der erfreulicheren einer Sixtina, eines Faust, einer 6-moU-Symphonie, des Deutschen Reichs oder eines Werkes über Psychiatrie. Indessen: vltrs. P0S8S nsmo odliZatur! Freilich auch von „Können" darf ja nach moderner sog. Naturwissenschaft keine Rede mehr sein. Und so mag der Jurist wollen oder nicht: das Gegenteil dieser Lehre muß er glauben. Er wäre in schlimmer Lage, wenn sie wirklich sieghafte wissenschaft­ liche Wahrheit enthielte. Davon aber ist sie um eine Un­ endlichkeit entfernt. Den Beweis für den Menschen als reines Mittelglied mechanischer Kausalität, für seine Unverantwort­ lichkeit in Ausübung seiner Taten hat noch niemand auch nur bis zur leisesten Wahrscheinlichkeit geführt, so laut die ihn zu führen unternehmen, jedesmal ihren Sieg in die Welt geschrien haben und noch schreien. Die große Wahrheit jedoch tritt schweigsam in die Welt, jedenfalls hat sie stets den Lärm und die Posaune verschmäht. Und so steht auch jetzt trotz aller zuversichtlichen Lautheit an Stelle des Beweises wieder die Hypothese, und noch dazu eine Hypothese, gegen deren Richtigkeit nicht weniger als alle Wahrscheinlichkeitsgründe sprechen. Ein Grund von ganz besonderer Kraft ist die Tatsache, daß jede Rechtsordnung der Welt auf die Einteilung der Menschen in Zurechnungsfähige und Unzurechnungsfähige basirt ist. Staatsrecht wie Privatrecht, Prozeß- wie Ver­ waltungsrecht, und ganz selbstverständlich das Strafrecht — sie alle trägt dasselbe Fundament. Und dieser historische

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Grund wird verstärkt durch die Erkenntnis, daß nie eine Rechtsordnung denkbar sein wird, die auf diese Unterscheidung verzichten könnte. Wir werden den Wahnsinnigen nicht zur persönlichen Regirung lassen, wir werden ihn nie zum Be­ amten machen, wir werden sein Testament und seine Verträge nicht anerkennen, wir werden ihn seinen Prozeß nicht selbst führen lassen, wir werden fürsorgend ihm wie dem Kinde den gesetzlichen Vertreter geben, werden das Strafverfahren gegen ihn einstellen und ihn wissentlich nie in Strafe nehmen. Natürlich bleibt er uns Rechtssubjekt. Aber wir trauen ihm rechtlich bedeutsames Handeln nicht zu und machen ihn des­ halb nie für seine Taten verantwortlich! Wer nur das geringste Verständnis dafür hat, wie sich tiefste Wahrheiten in der Geschichte offenbaren, wie sie sich den Völkern unbewußt als treibende Mächte erweisen, in dieser ihrer wirksamen Herrlichkeit von ihnen als selbstver­ ständlich anerkannt werden, und wie die Welt nicht ohne sie eingerichtet und fortbestehend gedacht werden kann, der würde sich sagen, daß sie unbedingte Achtung verdienen, auch wenn unsere Fähigkeit nicht entfernt hinreichen sollte, sie wissen­ schaftlich exakt zu erklären, und er würde verstehen, daß die Versuche des einzelnen, an ihnen zu rütteln, keinen anderen Erfolg verdienen als den, der Lächerlichkeit zu verfallen. Wir nehmen guten Rat von jedermann, natürlich auch von feiten der Naturwissenschaften. Wir vergelten nach unserer vornehmen Art zu vergelten den schlechten, den uns manche ihrer (Pseudo-)Vertreter neuerdings so gerne erteilen, mit dem doppelten guten: sich freizuhalten von dem Dünkel, als könnten die Naturwissenschaften je die Schlüssel zum Ver­ ständnis des menschlichen Seelenlebens geben, und dem weiteren, die Scheuklappen abzuwerfen, die ihnen die Er­ fassung großer geschichtlicher Wahrheiten unmöglich machen. Wie dann alle die, welche die Handlungsfähigkeit willig anerkennen, sie sich bescheiden zu erklären versuchen, ob de­ terministisch, ob indeterministisch — das gilt ganz gleich.

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Ihrer aller Gedanken, so scheint mir, sind gleich unzulänglich, bis auf den Grund des Rätsels zu tauchen, und ihrer aller Sprache ist gleichermaßen ein Versuch mit untauglichen Mitteln, das Unsagbare, den Kern tiefster individueller Empfindung — denn darum handelt es sich schließlich! —, in Wortform zu bannen. Wer aber die Zurechnungsfähigkeit überhaupt leugnet, also alle Menschen zu Wahnsinnigen in unserem' Sinne degradirt, der ist ein rechtlicher Nihilist, und mit dem haben wir alle gar keine Gemeinschaft, außer der, daß wir ihm, wenn er uns dazu nötigt, die Macht des Rechts an feinem eignen Leibe beweisen. Über die gerade in Deutschland leider nicht kleinen Gruppen der „Halben" aber, welche, an der Zurechnungsfähigkeit im Grunde festhaltend, aufs Äußerste beflissen sind, diese ihre Anerkennung unschädlich zu machen und sich die Konsequenzen derer anzueignen, die sie leugnen, denke ich genau wie Ferri: zu wahren Bundesgenossen sind sie für alle Ganzen gleich unbrauchbar! Unseren Gegnern jedoch gilt ihre Liebe, und ihnen suchen sie nach Kräften zu nutzen. So bleibt uns nur übrig, sie als freiwillige Hilfstruppen unserer Feinde zu be­ trachten. Wir rechnen jedoch: Charakterschwäche bleibt auch als Helferin Schwäche und schwächt den Unterstützten. Alle die aber, die an der Handlungsfähigkeit festhalten und sich darin treu bleiben, bilden den geschlossenen Heerbann des Rechtes, dessen Einheit durch den Unterschied determi­ nistischer und indeterministischer Grundstimmung nie ge­ fährdet werden dürfte! Eine Rechtsordnung überhaupt und ein Strafrecht ins­ besondere, basirt auf die allgemeine menschliche Handlungs­ unfähigkeit, ist in den Augen des Sachverständigen — und als solcher darf sich hier wirklich einmal der Jurist betrachten! — ehrlich herausgesprochen nichts als ein grotesker Unsinn! Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß unter den Ju­ risten selbst die Nihilisten nicht mangeln. Apostaten hat es zu allen Zeiten und in allen Lagern gegeben.

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Nun sagt man mir, die Grenzen zwischen krank und gesund ließen sich nicht genau feststellen. Ich bemerke zunächst, nicht um die Grenzen von gesund und krank handelt es sich, sondern um die von handlungsfähig und handlungsunfähig, und es dürfte der Handlungsfähigen noch genug geben, die der erfahrene Psychiater, der eine Geisteskrankheit in ihren ersten Anfängen erkennt, schon für krank wird erklären müssen. Daß aber auch diese zweite Grenze im Einzelfalle sehr wol einmal zweifelhaft sein kann, wissen wir seit Jahr­ hunderten. Wir wissen auch, daß in der Rechtsgemeinschaft gar mannigfach Handlungsfähige als handlungsunfähig, Geisteskranke als handlungsfähig behandelt worden sind, Beides bedauern wir tief, konnten es früher noch weniger verhüten als jetzt, und helfen uns prinzipiell so, daß wir im Zweifelfalle Fähigkeit oder Unfähigkeit vermuten, je nach­ dem die eine oder die andere Präsumtion dem zweifelhaften Menschenkinde mehr Vorteil bringt. Psychiater aber, die den fundamentalsten rechtlichen Unterschied unter den Menschen nicht anerkennen wollen, die nicht bereit, vielleicht auch nicht fähig sind, sich in unsere unentbehrlichen Betrachtungsweisen hineinzudenken, können als „sachverständige Gehilfen der Rechtspflege" nicht benutzt werden Solange ich auf dem Katheder stehe, habe ich meinen Zuhörern ans Herz gelegt, bei dem geringsten Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten die Zuziehung des Sachverständigen nicht zu verabsäumen. Soll ich jetzt noch genötigt werden, ihnen das Mißtrauen gegen die After-Sachverständigen in die Seele zu pflanzen, weil diese die ganze Welt zu einem Tollhause machen, jeden Angeklagten zu einem Unzurechnungsfähigen stempeln und i Ich brauche kaum zu betonen, daß ich hier nur gegen diejenigen Vertreter der Psychiatrie kämpfe, welche diese extremen Ansichten verfechten. Ihren Standesgenossen leisten sie dadurch keinen Dienst!

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sich selbst bescheidentlich zu den allein tauglichen Weltrichtern erheben wollen? Wahrlich! Zum segensreichen Antritte dieses Richteramtes durch diese Prätendenten ist die Welt noch nicht ganz reif geworden! Sie müssen sich noch etwas in Geduld fassen!

Ist der „Verbrecher" unzurechnungsfähig, dann hat es für uns keine Wichtigkeit mehr, welcher Anteil den Ver­ hältnissen, welcher andrerseits seinem Charakter an der begangenen Tat zusteht. Ist er dagegen zurechnungsfähig, dann kann es für die Strafzumessung bedeutsam genug werden, wie gerade dieser Mensch sich herausgebildet hat, und welchen Druck die Verhältnisse auf ihn geübt haben. Solange es nun eine Strafrechtspflege gibt, hat sie Ver­ brechersoziologie treiben müssen, zur Zeit der absolut be­ stimmten Strafen freilich noch unvollkommen genug — aber die Schuldfrage stand doch stets zur Beantwortung!—, von der Erfindung der relativen Strafe an eingehender und be­ dächtiger und ergiebiger. Eine Fülle wertvollster Beobach­ tungen über die Verbrecher, ihre Lebens-, Denk- und Hand­ lungsweise hat sich im Laufe der Jahrhunderte in der Strafrechtspflege aufgespeichert — zum guten Teil von der Gesetzgebung zu ihren Satzungen verwertet. Es dürfte wenig bessere Kenner dieser Menschengruppe geben als unsere Beamten der gerichtlichen Polizei, unsere Staatsanwälte, unsere Richter — ganz besonders unsere Untersuchungsrichter — und unsere Strafvollstreckungs­ beamten, die doch heute noch an der Strafrechtspflege wirklich beteiligt sind! Der Popanz des „weltfremden Richters" be­ steht doch nur in den Köpfen derer, die den Richter grade wegen seiner Rechtskenntnis fürchten und deshalb verächtlich machen wollen. Soweit wir also zum Verständnis des Verbrechers und seiner Taten dessen benötigten, was man neuerdings Sozio­ logie nennt, haben wir unsere Soziologie selbständig heraus­

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gebildet, woraus sich erklären dürste, daß ich aus der modernen Soziologie zum Verständnis der Verbrecherwelt und ihrer Aktion nichts gelernt habe, was mir nicht schon längst ge­ läufig war. Und meinen Fachgenossen in Theorie wie Praxis dürfte es kaum anders gegangen sein! So werden wir uns an soziologischen Werken von Herzen erfreuen, wenn feine, exakte, vor allem unbefangen gemachte Beobachtungen geistreich zur Darstellung gebracht werden; aber die Soziologie in größerem Umfange in die Darstellung des Strafrechts aufzunehmen oder gar das Verbrechen statt strafrechtlich soziologisch zu betrachten — dazu liegt für uns kein Grund vor. Doch kann die Rücksichtnahme zugleich auf die soziologische Betrachtungsweise als eine Sache persönlicher Liebhaberei be­ zeichnet werden! Was endlich die Verbrechensstatistik anlangt, vor der so viele anbetend in den Staub sinken, so teile ich diese Verehrung nicht. Vor allen anderen Statistiken hat sie den Vorzug der größten Ungenauigkeit voraus. Eine Verbrechens­ statistik ist überhaupt eine Unmöglichkeit — und nun gar eine Jahresstatistik derselben. Nur als Fleißzeugnis für die Aktion der Gerichte und Staatsanwälte im einzelnen Ge­ schäftsjahre trifft sie wirklich zu. Die große Ergänzung, die m. E. allein imstande wäre, die richtige Lesung und Deutung jener Ziffern zu ermöglichen, die Statistik über die Zahl der dem Recht gemäßen Handlungen und über die Zahl unterdrückter Verbrechensreize, wird sich ja nie geben lassen. Und so kann mir nicht imponiren, wenn man die Tatsachen einfachster Beobachtung angeblich höchst wissenschaftlich und aufs Haar exakt bis zur Ermüdung in den Prozenten statistischer Daten zum Ausdruck bringt. Noch fehlt für diesen Irrgarten nach meiner Über­ zeugung der leitende rote Faden, und so veranlaßt man den jungen Juristen besser nicht, ihn schon in seinen Lehrjahren zu betreten. Ja, auch wer sich später hineinwagt, mag sich

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vorsehen! Kein Teil der Statistik scheint mir tendenziöser Ausdeutung und Ausbeutung mehr ausgesetzt und mehr unterlegen zu sein, als gerade dieser! Auch steht das Schwanken ihrer Zahlen oft genug ganz unabhängig von der Zahl der begangenen Verbrechen. Grade die Verbrechensstatistik wird heut gern dazu be­ nutzt, um den „Bankrott unseres Strafrechtssystems" zu be­ weisen. Ich bin der letzte, dessen Unverbesserlichkeit zu be­ haupten. Von einem Bankrott aber zu sprechen halte ich für ganz unerlaubt ^! Oft dient ja auch diese Behauptung offen­ sichtlich nur zu tendenziöser Entstellung. Weil wir mit Hilfe unserer Strafe der Verbrechenswiederholung seitens desselben Täters bisher nicht Meister geworden sind, soll sie und sollen wir mit ihr Bankrott gemacht haben? Man wird doch nicht behaupten wollen, die frühere Zeit hätte den Rückfall besser zu hintertreiben verstanden — natürlich von der reicheren Anwendung des einzigen radikalen Mittels gegen den Rück­ fall, der Todesstrafe, abgesehen! Aber in der Zukunft! Da wird es sicher infolge der prophylaktischen Maßregeln aller Art fast keine Verbrechen mehr geben, und infolge der „Sicherungsstrafe" wird der sog. Rückfall ganz aussterben. So wird uns hoffnungsfreudig versichert — so wird uns zuversichtlich prophezeit! Ob aber die Zukunft die Wechsel einlösen wird, welche die Hoffnung auf sie zu ziehen wagt, das ist denn doch noch eine ganz offene Frage. Ich lasse die Prophylaxe hier einmal beiseite, weil auch ich einiges von ihr erhoffe, relativ am meisten von der Zurückdrängung der Vorliebe zum Alkohol. Was aber die sog. Sicherungsstrafe nach dem neuesten Rezept anlangt, die Strafe, die keine mehr ist, nur noch mißbräuchlich ihren Namen führt, die nicht mehr getragen wird von dem tiefen Gefühl der Mißbilligung des Unrechts, von der Überzeugung s Ebenso, obgleich auf sehr andrem Standpunkte wie ich stehend, Exner, Theorie der Sicherungsmittel, 1914, S. 25.

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ihrer Notwendigkeit und Gerechtigkeit, sondern nur noch eine Maßregel des Mitleids mit dem schuldlosen Verbrecher sein soll, die somit alles Ernstes, aller Eindrucksfähigkeit entkleidet wird, so getraue ich mir, Prophezeiung gegen Prophezeiung zu stellen: diese „Strafe" wird in der Tat den Bankrott machen, den man unsrer geschichtlich überlieferten Strafe zu Unrecht nachsagt"! Und was berechtigt mich zu dieser Vorhersagung? Die Kenntnis der menschlichen Natur, ganz besonders der Leidenschaften, die den Nährboden der Verbrechen zu bilden pflegen. Eine Flut wilder Erregung vor verderblichem Ausbruch zu be­ wahren, dazu bedarf es eines Aufwandes überlegener Energie: mit der Limonade des Mitleids ist dagegen nichts auszu­ richten ! Diese „Sicherungsstrafe", die lediglich darauf ausgeht, den Keim verbrecherischer Tat in dem Sträfling zu ersticken — die damit nebenbei gesagt dem Staat eine törichte, weil ganz unlösbare Aufgabe stellt —, übersieht vollständig, daß Strafandrohung wie Strafvollzug an erster Stelle ihre Wir­ kung auf die ganze Rechtsgemeinschaft zu üben bestimmt sind, und daß beide dieses nur können, wenn sie eindrucksvoll bleiben, womöglich auf den Verbrecher und die Gesamtheit, ist dies nicht möglich, dann wenigstens auf die Gesamtheit allein. Denn diese letztere Wirkung ist die unendlich be­ deutendere und segensreichere'"! So lehne ich also alles ab, was zur „Sicherung der Ge­ sellschaft" neuerdings gegenüber dem „Verbrecher" vorgeschlagen worden ist? Ja und nein! v S. auch Nagler, Verbrechensprophylaxe, S. 209. r Wenn Sommer in seinem durch relatives Maßhalten ausgezeich­ neten Werle „Die Kriminalpsychologie" (Leipzig 1904), S. 326 sagt: „eine Strafe sei psychologisch nur dann richtig, wenn in der Person des zu Be­ strafenden eine Beeinflußbarkeit durch das Strafmittel vorhanden sei", so ist dabei diese Hauptfunktion der Strafe vollständig verkannt. Binding, Strafrechtliche und ftrasprozefjuale Abhandlungen.

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Unbedingt lehne ich ab die Herabwürdigung der Strafe zur polizeilichen Sicherungsmaßregel. Sie ist etwas wesentlich Anderes, Höheres, Edleres! Unbedingt lehne ich ab jede Gleichbehandlung von Ver­ brechern und Irren! Jeder Mann des Rechts muß sie ver­ werfen als ebenso sinnlos wie ungerecht! Ebenso weise ich den Mißbrauch zurück, diese Gleich­ behandlung mit dem lügnerischen Namen der Strafe zu be­ legen, und nicht minder den ungeheuerlichen Versuch, die Zurechnungsfähigkeit zu verwerfen, aber doch eine „soziale Verantwortlichkeit" des Unzurechnungsfähigen aufrechthalten zu wollen! Dann ist auch der Maniakalische, der einen andern anfällt, dem gegenüber „verantwortlich", der sich wider ihn verteidigt, und der bissige Hund erfährt seine „soziale Ver­ antwortlichkeit" dadurch, daß er den zu seiner Abwehr nötigen Tritt erhält! Weltgeschichtliche Begriffe wie den der Verant­ wortlichkeit so unerhört zu fälschen ist unerlaubt! Unbedingt lehne ich ab die Aufhebung des Strafmaßes! Nicht nur stellt sie sich in schneidenden Widerspruch mit unserer Strafrechtsgeschichte, sondern in eben solchen mit der Ge­ rechtigkeit". Nicht minder weise ich zurück die Bestimmung des Straf­ gehaltes der Freiheitsstrafe einseitig nach den Rücksichten der Besserung oder der Spezialprävention. Die Strafe muß Übel für den Sträfling, die Behandlung des Irren — auch die notgedrungen strenge — für diesen eine Woltat bleiben! Andrerseits trete ich ein für die Erweiterung des Ver­ suchs, den Sträfling sich durch gute Führung eine Abkürzung der Strafzeit verdienen zu lassen, wenngleich bei diesem Ver­ suche große Vorsicht angezeigt ist. Angesichts der Einheit der Staatszwecke scheint auch mir geboten, während der länger dauernden Freiheitsstrafe den Versuch einer Einwirkung auf den Charakter des Sträflings " Ich verweise dazu auf die Ausführung, die ich unten in Note 12 S. 22 ff. aus dem Grundrisse S. 233—238 gegeben habe.

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im Sinne einer Festigung im Rechten nicht zu verabsäumen — freilich nur als Versuch und in dem Maße, daß dadurch das Wesen der Strafe nicht verflüchtigt wird! Denn nie darf unter der Adhäsion des Nebenzwecks der Hauptzweck leiden! Ich glaube in der Tat: in der richtigen Behandlung dieser schwierigen Elemente werden wir von den Irrenärzten bei aller Verschiedenheit der Aufgaben viel lernen können und dankbar lernen. Sie haben auf diesem Gebiete in neuer Zeit sich große Verdienste erworben! Ziehen wir daraus Nutzen, soweit wir irgend können und dürfen! Vergessen wir dabei aber nie, daß die Aufgabe der Strafe nie ist. Kranke zu heilen! Unbedingt lehne ich ab die Bemessung der Strafe lediglich nach dem Maße des Sicherungsbedürfnisfes der Gesellschaft grade gegenüber diesem konkreten Verbrecher. Es gibt nur einen Strafmaßstab, der sich allerdings in Wahrheit aus zweien kombinirt: das ist die Schwere der schuldhaften Tat und die Rücksicht auf Aufrechthaltung und Stäbilirung der durch sie erschütterten Autorität des Gesetzes. Nach meiner Überzeugung wird diese zweite Rücksicht in wichtigen Fällen noch nicht in gebührendem Maße geübt. Ich bedenke mich nicht einen Augenblick, für schwere Angriffe des Gefangenen auf das Gefängnispersonal, für schwere Ver­ brechen Ausgebrochener, für Totschläge, um sich der Ergreifung auf frischer Tat zu entziehen, die Zulässigkeit der Todesstrafe in relativ bestimmten Strafgesetzen zu fordern. Wo alle Re­ pressionsmittel gegen den Lebenden versagen, muß die Todes­ strafe platzgreifen: die Macht des Rechts kann nicht darauf verzichten, sich in allen Lagen als die überlegene zu beweisen! Merkwürdig ist freilich, zu sehen, mit welcher Kunst Ferri (S. 436 ff.) wie Aschaffenburg (S. 228 ff.) die Todesstrafe umgehen, deren Kultivirung doch ganz in ihrer Richtung der Reinigung der Gesellschaft von unerträglichen Plag­ geistern liegt: sie müßte in zu großem Umfange angewandt werden, deshalb würde sie besser gar nicht angewandt (Ferri 2*

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S. 438. 439)! Ob beide nicht innerlich zurückgebebt sind vor der Hinrichtung Geisteskranker — einer Barbarei sondergleichen! Ebenso bin ich stets für exemplarische Bestrafung ein­ getreten, wenn Verbrechen mit der Wirkung einer ausnahms­ weise starken Erschütterung gesetzlicher Autorität begangen wurden. Des weiteren bin ich von jeher der Ansicht gewesen, daß verbrecherische Hartnäckigkeit, die aber nicht ohne weiteres aus einer Mehrheit begangener Straftaten desselben Täters ge­ schlossen werden kann, als allgemeiner Grund fakultativer Strafschärfung anerkannt werden müsse! „Und die Unverbesserlichen?" höre ich lebhaft fragen. Ich will hier auf den außerordentlich vorsichtig zu bestimmenden Begriff nicht eingehen. Ich gebe ohne weiteres zu: es gibt Subjekte, bezüglich deren bei ihrer eventuellen Entlassung aus der Haft eine fast an Gewißheit grenzende Wahrschein­ lichkeit besteht, daß sie die Freiheit nur dazu benutzen, um sich das Wiederkommen durch neue Missetat zu verdienen. Diese und diese allein will ich hier als Unverbesserliche, d. h. gegen Strafandrohung und Strafvollzug vollkommen in­ differente verstanden wissen. Von jeher, lange vor allen modernen Bestrebungen in dieser Richtung, war ich für Unschädlichmachung dieser Sipp­ schaft — aber nur soweit nicht lediglich Bagatellsachen in Frage stehen. Sollte es sich hier um Wiederholung schwerer Taten handeln — Totschlag, schwere Körperverletzung, Raub, schwerer Diebstahl, Notzucht, Unzucht mit Kindern unter vierzehn Jahren usw. —, so stände m. E. nichts im Wege, die Rück­ fallstrafe so zu steigern, daß die Wiederholung, soweit es Menschen überhaupt möglich ist, hintangehalten wird: also eventuell bis zur Todes- oder der Freiheitsstrafe auf Lebens­ zeit! Auch bei letzterer sollte jedoch dem Sträfling die Möglich­ keit, sich durch gute Führung bessere Existenzbedingungen in der Anstalt zu verdienen, nicht abgeschnitten sein.

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Im übrigen kommen wesentlich die einfachen Vermögens­ verbrechen, die Körperverletzungen und die Beleidigungen in Betracht. Hier scheint mir solche bis zur Lebenslänglichkeit erstreckte Rückfallstrafe nicht zulässig. Wol aber nach verbüßter Strafe die Unterbringung in polizeiliche Nachhaft — wenn nötig selbst auf Lebenszeit. Die Behandlung in diesen An­ stalten müßte sich aber von der in den Strafanstalten wesentlich unterscheiden. Insbesondere könnten hier alle Erleichterungen der Haft zugelassen werden, die sich mit dem Detinirungszweck irgend vertragen. Unsere Bettelarmut an Mitteln nötigt uns leider, die Einsperrung den verschiedenartigsten Zwecken als Mittel dienstbar zu machen. Dem Auge, das am Äußeren haftet, vor allem dem des Dilettanten, erscheint dann leicht alles gleich, was im Gewände zwangsweiser Detention einhertritt. Dieser Schein ist neuerdings verhängnisvoll geworden! Oft bildet die Einsperrung für uns nur die unerwünschte, aber unentbehrliche Voraussetzung, welche die Anwendung des Mittels, worauf es ankommt, erst ermöglichen soll: so ins­ besondere die des Irren, der geheilt werden soll. Oft ist sie grade im Gegenteil das Mittel selbst oder wenigstens ein wesentlicher Teil der zur Verfügung stehenden Mittel: so bei der Zwangs­ strafe, vor allem aber bei der Rechtsstrafe. Die Detention des Irren, des wegen Unverbesserlichkeit Detinirten und des Sträflings zu identifiziren ist ein arger Mißgriff! Es handelt sich hier um drei verschiedene Maßnahmen in äußerlich gleichem Gewand! Aber auch Zulässigkeit und Dauer jener Nachhaft, die sich auch an die Geldstrafe anschließen könnte, wären vom Richter zu bestimmen. Bei den Bagatellsachen jedoch — ich denke besonders an kleine Forst- und Feldfrevel sowie an die Polizeikontraven­ tionen — würde solche eventuell lebenslänglich dauernde Nachhaft außer allem Verhältnisse zu ihrem Anlaß stehen und außerdem den Staat zu übermäßiger Ausdehnung seiner

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Verbrecherpensionen nötigen. Ich glaube, man hätte sich hier mit der Rückfallstrafe zu begnügen. Die Gesellschaft muß doch auch zum Teil selbsttätig mit­ wirken zu ihrem Schutze wider verbrecherische Angriffe. Sie ist doch wahrlich kein unmündiges Kind, das sich nicht wehren kann und alle Abwehr vom Staate zu erwarten hätte! So­ weit ihr dann die eigene Abwehr mißlingt oder soweit sie zu träge ist, sie zu versuchen, muß sie die Unbill tragen. Aber Strafe und Sicherungsmaßnahme sind scharf aus­ einanderzuhalten, und nie darf jene zu einer Unterart von dieser herabgezogen werden. So hat die Strasrechtstheorie mehr als je triftigen Grund, ihr Gebiet scharf zu umgrenzen, keine unnützen Ausflüge auf fremde Gebiete zu machen, festzuhalten an dem Schutze der ihr durch die Geschichte überlieferten gesunden und praktisch brauchbaren Gedanken, weiter zu arbeiten an deren Vertiefung, behufs der Fortbildung des Rechtszustandes der Gegenwart in der Richtung geschichtlicher Überlieferung. Ihre erste Auf­ gabe ist und bleibt jedoch immer, das Verständnis des Rechts der Gegenwart zu vermitteln. Der Zukunft hat sie vorzu­ bauen unter der Losung: maßvolle Reform, aber unerschütter­ liche Feindschaft gegen Revolution und gegen alle, die zu ihr aufrufen, besonders die rechtlichen Nihilisten".

Leipzig, am ersten Weihnachtstag 1906. Zu der praktisch so eminent wichtigen Frage der Bestimmung des konkreten Strafgehaltes habe ich daselbst folgendes ausgeführt: I. Den Inhalt des Strafvollzugs bestimmt seit der Erfindung der Strafe bis heute stets das Strafurteil, das bald aus dem Quell des richterlichen Rechtsgefühls „geschöpft", bald durch das Gesetz für eine be­ stimmte Verbrechensart, inhaltlich entweder aufs Haar genau oder eine be­ stimmte Mehrzahl von Strafgrößen umfassend, vorgeschrieben war. Letzteres ist heute geltendes Recht. Und zwar bestimmt 1. der Gesetzgeber für jede Verbrechensart die zulässige Strafart oder Strafarten; 2. der Richter aber, soweit er nicht absolut bestimmte Strafgesetze anzuwenden die Pflicht hat, für jeden Verbrechens fall das Maß der gesetzlich zulässigen Strafart. Und so fehlt

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3. dem Vollstreckungsorgan grundsätzlich jeder Einfluß auf Strafart wie Strafmaß. Wie das absolut bestimmte Strafgesetz den Richter, so bindet das absolut bestimmte Strafurteil den Vollstreckungsbeamten. Das Strafübel, das den Verbrecher im Einzelfalle trifft, ist ihm durch die hoch über ihm stehenden unparteiischen Mächte des Gesetzes und des Richterspruchs zugemessen worden. Wenn Oetker, Z.f.StrRW. XVII S. 577, auf die Gesetzbücher von Bayern 1813 und Oldenburg 1814 und auf deren Zuchthaus- und Festungsstrafe „auf unbestimmte Zeit" hinweist (s. bes. Bayern Art. 11 u. 12), so kann diese Verweisung leicht irreführen. Es sind das lebenslängliche Freiheits­ strafen, die bei über zehnjährigem Wolverhallen nach Ablauf von 16 Jahren eine Abkürzung durch „Begnadigung" finden können. II. Im Gegensatze zu diesem durch eine weit über tausendjährige Ge­ schichte überlieferten Rechtszustand, daß dem Verbrechen eine Strafe be­ stimmter Größe auf dem Fuße folgt, ertönt neuerdings aus den Reihen der Radikalen der Ruf nach Aufhebung des Strafmaßes. Ihn erheben u. a. Ferri, Verbrechen, bes. S. 407 ff., in Deutschland zurzeit am energisch­ sten die Mediziner Kraepelin, Die Abschaffung des Strafmaßes. Stutt­ gart 1880, und ihm folgend Aschaffenburg, Das Verbrechen und seine Bekämpfung, bes. S. 255 ff. Natürlich fehlen die juristischen Mitläufer auch in Deutschland nicht. S. u. a. Willert, Z.f.StrRW. II S. 473 ff.; natürlich v. Liszt — wie immer zu gewissen Kompromissen geneigt —, s. bes. das. IX S. 491 ff., .X S. 53 ff.; höchst charakteristisch XIU S. 358: „Nach wie vor werden wir Art und Maß der Strafe im Gesetz und im Richterspruch bestimmen", und S. 366: „Die Verfolgung des Zweckgedankens in der Strafe fordert . . . aber weiter, daß die richterliche Zumessung der Strafe, wenigstens in gewissen Fällen (!!), keine endgültige sei", vielmehr die Erreichung des Strafzwecks „die Dauer der Strafe bestimme"; Mitter­ maier, Z. f. Schweiz. Str.R XIV 1901 S. 141 ff.; Freudenthal, Z.f. StrRW. XXVH 1907 S. 130 ff. — Kraepelin nimmt für seine eminenten Strafanstaltsdirektoren die „souveräne Entscheidung" über Fortdauer oder Beendigung der Strafe in Anspruch (s. S. 64). Er hat nachher viel Wasser in seinen Wein gegossen (s. Abhandl. in Monatsschr. f. Krim. Psych. HI S. 257 ff.), und dieser Souverän hat dann zugunsten von Kommissionen, Aufsichtsräten oder Vollzugsämtern abdanken müssen. S. etwa v. Liszt, Z.f.StrRW. IX S. 492; Aschaffenburg, a. a. O. S. 262ff.; Freuden­ thal, Z.f.StrRW. XXVII S. 130 ff. Gegen diesen Radikalismus von deterministischer Seite Petersen, Willensfreiheit S. 205. 1. Solche „Abschaffung des Strafmaßes" ließe sich natürlich doch weder für die Todesstrafe, noch für die Geldstrafen, noch für die Ehren st rasen denken (vortrefflich Oetker, Z.f.StrRW. S. 580). Für die Freiheitsstrafe bedeutet sie ebenso natürlich auch die Abschaffung der Strafarten. Die „Anpassung der Strafe an die Individualität des Täters bis zu den letzten Konsequenzen", die der Richter angeblich nicht

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Strafrecht.

vornehmen kann, wäre dann natürlich vollständig den Verwaltungsbeamten in die Hand zu legen. Sie bestimmen die Länge der Einsperrung und den sog. Strafgehalt derselben — mindestens letzteren ihrer Begabung entsprechend natürlich: „souverän". 2. Aber wodurch bestimmt sich die Länge — von der Behandlung des Opfers einmal ganz abgesehen? „Durch die Erreichung der Besserung oder der nötigen Abschreckung!" Wer aber liest diese Wirkungen aus der Seele des Sträflings ab? Natürlich der souveräne Verwaltungsbeamte, dem vielleicht als Dekorationsstück gelegentlich der definitiven Entscheidung ein in diesem Punkt völlig von ihm abhängiger Richter zur Seite gesetzt wird. Denn diese Herren haben die Gnade Gottes: sie können unmittelbar in die Seelen der Menschen schauen! Sie sind der Täuschung nicht ausgesetzt! Die raffinirteste Heuchelei ist ihnen gegenüber machtlos! Wenn sie aber doch am Stare litten und die Besserung oder die Tiefe der Abschreckung verkennten! Dann säßen die armen „Behandelten" bis an ihr seliges Ende. „Wer ungebessert stirbt, stirbt im Kerker" (Oetker a. a. O. S. 580). Und wenn die „Behandelnden" statt Genies der Pädagogik Stümper wären in dieser so furchtbar schweren Kunst, wenn sie nicht die „ausgezeich­ neten Menschenkenner" wären, die man in Scharen züchten zu können hofft, sondern irrtumsfähige Durchschnittsmenschen, und wenn es ihre Schuld — Pardon: ihr bedauerliches Mißgeschick! — wäre, darin nichts oder Nega­ tives zu leisten, so büßte der Schüler für die Stümperhastigkeit des Lehrers wieder bis ans Ende der Dinge! Wahrlich! Frivoler kann mit dem Schicksale von Tausenden und Aber­ tausenden nicht gespielt werden, als wenn man sie so unbedingt der Dis­ kretion fehlbarer Verwaltungsbeamten preisgibt. Haben wir deshalb nach dem Rechtsstaate gerungen, um alle Verbrecher, die doch auch sozusagen Menschen sind, einfach aus dem Grunde, weil sie einmal das Gesetz mißachtet, einer Polizeiwillkür sondergleichen auszuliefern? Und das soll das gerühmte Mitleiden mit dem Verbrecher sein, mit dem sich die Herren so brüsten? Von diesem schwächlichen modernen Mitleid mit jedem Verbrecher als solchen weiß ich mich vollständig frei. Ich halte es hierin ganz mit Bismarck. Es ist mir zuwider und ekelt mich an! Leid tut mir nur der Geisteskranke, der schuldlos dieser schuldigen, zum Teil sehr unsauberen Gesellschaft ein­ gereiht wird! Aber so viel Achtung habe ich vor jedem Verbrecher und so viel Mitleid mit seiner armen Familie, daß ich ihn nicht für schwere und noch weniger für leichte Missetat im Erfolg ganz fragwürdigen Experimenten souveräner Verwaltungsbeamten für unbegrenzte Dauer preisgebe. — Frank trifft in der Tat den Nagel auf den Kopf, wenn er sagt: „Die Zulassung unbestimmter Strafurteile ist in den nächsten Jahrhunderten unannehmbar." M d. JKrV VI S. 577. Ich bin überzeugt, sie wird bei uns nie an­ nehmbar werden. Daß durch diese absolute Unbestimmtheit der Strafen das Strafgesetz den größten Teil seiner Eindrucksfähigkeit auf die Allgemeinheit verlieren

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wird, daß durch diese Art Blankettgesetze, deren Ausfüllung im Einzelfalle die souveräne Willkür der Verwaltung zu geben haben würde, die Gesetz­ gebung in der häßlichsten Weise gegenüber ihren Vollzugsorganen bloß­ gestellt würde — diese Tatsachen hervorzuheben wird ja dem Juristen wol noch gestattet sein. Und so steht der eine leitende Gedanke des heutigen Strafrechts, Art und Maß der Strafe werden aufs Haar genau durch Gesetz und Urteil bestimmt, kraft des Maßes seiner Gewissenhaftigkeit, Gerechtigkeit und Durchführbar­ keit turmhoch über den Vorschlägen seiner Verächter!

II.

Strafgesetzgebung, Strafjustiz und Straf­ rechtswissenschaft in normalem Verhältnis zueinander.

Mit dieser Abhandlung wurde die Zeitschrift für die gesamte Straf­ rechtswissenschaft von Dochow und v. Liszt 1881 eröffnet. S. Bd. I S. 4—29. Die Abhandlung ist hier und da stilistisch verbessert, sie mußte aber wesentlich unverändert abgedruckt werden. Nur wenige Noten sind zugefügt.

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Zweimal ist in der Geschichte des deutschen Strafrechts

den Zeitläuften bedenklichster Zersplitterung ein Sieg des gemeinen Rechts auf dem Fuße gefolgt: beide Siege fallen in die Glanzzeiten deutscher Entwicklung. Das erste Mal hat lang und schwer empfundene soziale Not den Entschluß der Einigung allmählich gezeitigt: der gefährdeten Unschuld zum Schutze, dem übermütigen Verbrecher zum Verderben mußte eine „gemein Reformation und Ordnung . . . wie man in 6riwinLlibu8 procediren solle" in dem Reiche aufgerichtet werden'. Kraft und Mut, den Entschluß zu verwirklichen, fand erst die Reformationszeit, deren Geistesstempel die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. und ihr kühner Versuch, den durch das ganze Land klaffenden Spalt zwischen römischem Recht und deutscher Gewohnheit von Reichs wegen zu schließen, an der Stirn trägt. Unendlich Größeres hat drei Jahrhunderte später die politische Notlage gewirkt: den Mut, die verlorene politische Einheit wiederzugewinnen und ein neues deutsches — glück­ licherweise nicht mehr römisches — Reich deutscher Nation zu begründen. Das neue Gemeinwesen aber fand eine seiner würdigsten Aufgaben in der Wiederaufrichtung gemeinen Rechts, und das erste große Gesetzbuch, das es geschaffen hat, ist das Strafgesetzbuch für den Norddeutschen Bund vom 31. Mai 1870. An den plötzlichen Aufschwung von 1532 aber reiht sich eine absteigende Bewegung von über zweihundertjähriger Dauer, auf deren tiefstem Punkte angelangt die deutsche Straf­ rechtspflege eine fast unglaubliche Verkommenheit aufweist. * Abschied des Reichstags zu Freiburg im Breisgau von 1498 8 34 (Neue Sammlung der Reichs-Abschiede II S. 46).

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Strafrecht.

Das Strafensystem des geschriebenen gemeinen Rechts war in seiner Härte unhaltbar geworden. Trotzdem verharrte die Gesetzgebung tatlos oder ging mit sinnloser Strenge vor. Vom objektiven Rechte verlassen oder verleitet, verliert die Praxis das richtige Verhältnis zu den Gesetzen überhaupt; sie vermißt sich, in frivoler Willkür deren Geist zu vergewal­ tigen, und will dann ihr Gewissen durch die schlechte Auskunft beschwichtigen, daß sie deren Buchstaben frönt. Um allein aus sich zu stehen, hat sie den naiven Glauben der alten Schöffen an die Echtheit und Ausgiebigkeit des eigenen Rechtsgefühls verloren, und hat sie den nötigen Stolz wissenschaftlicher Beherrschung des Rechtsstoffes noch nicht zu gewinnen ver­ mocht. Die Gerichtsherren aber, statt den zuchtlos gewordenen Richterstand zur Unterordnung unter das Gesetz zurückzu­ führen, bringen nicht ihre Aufsichtsgewalt, sondern ihre Richter­ gewalt zur Ausübung: eine Kabinetsjustiz greift um sich, welche an ungesunder Willkür der Praxis der Gerichte nichts nachgibt. Allen diesen Krankheiten gegenüber steht eine Wissen­ schaft, erst dürr und leblos, ohnmächtig zu helfen, — dann allerdings teilnehmend am Aufschwungs der Aufklärungs­ periode, aber in demselben Maße wachsend an Verachtung des bestehenden Rechtes und an Unlust, sich liebevoll ihm zu widmen. So waren — wesentlich infolge der Indolenz oder des Unverstandes der Gesetzgebung — alle Fundamente des Rechts­ lebens aus ihrer Lage gewichen! Wer wollte leugnen, daß sich zwischen jenem Nullpunkte unserer Strafrechtsgeschichte und der Gegenwart ein gewaltiger Umschwung zum Besseren vollzogen hat? Wer wäre zweifel­ haft in unserem Zeitalter des Glaubens an die allheilende Kraft der Gesetzgebung, daß ihr allein die Gesundheit unserer Verhältnisse zu danken? Wer könnte so kleinmütig sein, trotz unserer stolzen Strafgesetzbücher, trotz der Ehrfurcht des heutigen deutschen Richters vor dem bestehenden Rechte, trotz des neuen Reichsgerichts, welches über die Einheitlichkeit der

II. Strafgesetzgebung, Strafjustiz und Strafrechtswissenschaft.

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Rechtsordnung in ganz Deutschland zu wachen hat, und trotz der zweifellos hohen Blüte der deutschen Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts den Gedanken Raum zu geben, ob denn wirklich auch zurzeit das Verhältnis der Faktoren, von deren richtigem Zusammenwirken die Gesundheit alles Rechts­ lebens abhängt, das unserer Zeit angemessene wäre — und wenn ja, ob diesem Einklang nicht in nächster Zukunft Störung drohte? Solchen Gedanken nachzugehen ist aber nicht nur kein Zeichen pessimistischer Sorge: es ist geradezu eine Pflicht dessen, der weiß, daß jede Zeit ihr eigentümliche Gefahren zu bekämpfen hat, und den die Erfahrung tagtäglich belehrt, wie unvollkommen unsere Gesetze sind, wie unfrei die Praxis, wie unsicher endlich unsere Strafrechtswissenschaft dem posi­ tiven Rechte gegenübersteht. Eon den Gipfeln, nach denen wir streben, wenn uns auch nie sie zu erreichen vergönnt ist, sind wir wahrlich noch entfernt genug! Unsere Selbstzufrieden­ heit aber birgt die Gefahr in sich, daß diese Entfernung wachse, statt sich zu mindern!

Nimmt man wahr, wie infolge des großen wissenschaft­ lichen Aufschwungs in Deutschland ohne bedeutende Bei­ hilfe der Gesetzgebung die Rechtspflege in den Ländern des früheren gemeinen Strafrechts gesundete — die stattliche Reihe von Kriminalentscheidungen des Oberappellations­ gerichts Cassel^ allein würde dafür vollgültiges Zeugnis ab­ legen —, so wird man zunächst genötigt, der Wissenschaft unseres Jahrhunderts und nicht der Gesetzgebung die regenerirende Kraft beizulegen. Vergleicht man dann weiter die Rechtsprechung in jenen Landen des früheren gemeinen Rechts — ausgezeichnet durch Gründlichkeit, durch Achtung vor dem Gesetze und durch glückliche Freiheit in seiner Anwendung — mit der Praxis in den Ländern der neuen Strafgesetzbücher mit ihrem ängstlichen Haften am Buchstaben des geschriebenen - Herausgegeben von Heuser in 6 Bänden.

Cassel 1845—1853.

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Erste Abteilung.

Strafrecht.

Rechts, mit ihren Kulten der Präjudizien und der sog. Mate­ rialien des Gesetzes, insbesondere der Motive, so ist ein Doppeltes alsbald klar: jene Nachteile der Praxis sind un­ mittelbare Folgen der umfassenden Kodifikation, und die Wissenschaft hat das ihre noch nicht getan, diese schädlichen Folgen zu bekämpfen. Ich habe oben gesprochen von einem normalen Verhält­ nisse zwischen Strafrecht, Strafjustiz und Strafrechtswissen­ schaft. Dieses normale Verhalten ist kein absolutes, nicht zu allen Zeiten unwandelbar dasselbe. Treten so tiefgreifende Änderungen im Bestände des objektiven Rechtes ein, wie sie eine erste Gesamtkodifikation des Strafrechts in sich schließt, so datiren vom Entstehungstage des neuen Gesetzbuchs zu­ gleich neue Perioden der Strafrechtspflege und der Straf­ rechtswissenschaft, sowie des Verhältnisses beider zueinander, denn beider Aufgaben haben eine qualitative Veränderung erlitten. Nur liegt die Gefahr nahe, daß diese Veränderung an der falschen Stelle gesucht und an der richtigen nicht ge­ funden werde, besonders wenn der Gesetzgeber seine eigene Leistung falsch ausschätzt und nach diesem Irrtum die Rück­ wirkung bemißt, die seine Tat auf die anderen Faktoren des Rechtslebens ausüben fall. I . Überschätzung der Strafgesetzgebung in ihrer Leistungsfähigkeit und in ihren Leistungen ist das bedeutendste der Grundübel unseres Rechts­ zustandes. Von ihm erscheint nicht nur das Laientum be­ fallen, welches diesem seinem Irrtum in den Parlamenten und auf der Richterbank praktische Folge gibt, sondern ebenso das gelehrte Richtertum, die Gesetzgebung selbst und die in Ehrfurcht vor deren Ansprüchen das Haupt beugende Wissen­ schaft °. 3 Aus der klaren Erkenntnis dieser Krankheit und ihrer verheerenden Wirkung ist v. Savignys Schrift: „Vom Berufe unserer Zeit für Gesetz­ gebung und Rechtswissenschaft" (zuerst 1814) hervorgewachsen und zu erklären. Nicht minder klar, aber weit maßvoller in seinen Konsequenzen Kierulff, Theorie S. XX u. XXI, welcher den Nagel auf den Kopf trifft.

II. Strafgesetzgebung, Strafjustiz und Strafrechtswissenschaft.

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Erst dem naiven Glauben an die Möglichkeit inhaltlich vollständiger und technisch vollkommener Strafgesetze, welchem sich der „unerleuchtete Bildungstrieb" des endenden 18. Jahr­ hunderts gefangen gab, entsprang der Mut der gesetzgeben­ den Gewalt an solch segensreich Werk die Hand zu legend Traute sie sich aber solche göttliche Kraft zu, so mußte fortan das Gesetz als voll ms tavAsrs betrachtet werden; es durfte keine Wissenschaft, keine Auslegung desselben mehr geben; das gelehrte Richtertum hatte sich überlebt und somit zu verschwinden; automatisch mußte der gesunde Menschen­ verstand den klaren Fall unter das klare Gesetz stellen: das Ur­ teil ergab sich von selbst. I^es snM8 äs la nation ns sont gus la bouolw gui provovvs los parolss ckv la loi, äss strs8 inanimss (!) gui n'sn psuvsnt moäsrsr ni la toros ni la riKnsnr°. Es ist bekannt, daß diese krankhaften Träume damals als Wahrheit erfaßt und allgemein gepredigt worden sind. „Nichts darf dem Befinden des Richters überlasfen werden. Dieser ist nur der mechanische Ausüber der klaren Bestimmungen des Gesetzes. Er darf weiter nichts, als den vollkommenen Gebrauch der fünf Sinne, gute Beurteilungskraft und Recht­ schaffenheit besitzen, um seinem Amte gut vorstehen zu können. Wissenschaften sind dabei überflüssig, weil selbst die sogenannte Rechtsgelahrtheit, wenn alle Gesetze in einem Buche bekannt gemacht sind, und keiner Auslegung bedürfen, aufhören wird, eine Wissenschaft zu sein. Glückliche Zeiten! ... da so viele Schwätzer und spitzfindige Ausleger endlich gezwungen werden, dem Staate durch gute Künste und Wissenschaften nützlich zu sein °." 4 Die Strafgesetzgebung Bayerns von 1813 und die Österreichs von 1803 gehen geflissentlich nicht auf den Ooäsx juris Lavarioi oriinivalio von 1751 und die ^Ü6r68iava von 1768 zurück. Die beiden letztgenannten Gesetze bilden ein seltsam monströses Mittelglied zwischen dem älteren gemeinen Rechte und der Gesetzgebung der Aufklärungsperiode. 5 Uovt68gui6u, Os ?68prit cko8 1oi8, lüvre XI o. 6 (0euvr68 00Mpl6tS8, ?ari8, Oiäot 1838 x. 268). o Diese Torheiten stehen in der damals hochberühmten, preisgekrönten Bin ding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen.

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Strafrecht.

Der kühne Versuch, das Vollkommene zu schaffen, wirkt freilich heilsam ernüchternd. Trotz des erlassenen Gesetzes lassen sich Rechtswissenschaft und selbsttätige Praxis nicht ent­ behren. Ist aber das Gesetz auch nicht vollkommen, be­ darf es also auch vernünftiger Auslegung nach allen Regeln der Kunst, so ist es doch „vollständig", und an diese Vollständigkeit haben Wissenschaft und Praxis zu glauben! Diese abgeschwächte Prätention der Voll­ kommenheit aber wird heute noch erhoben und heute noch vielfach in ihrer Berechtigung anerkannt. Sie bedeutet, daß ungesetztes Strafrecht neben dem Strafgesetze nicht existiere, daß die Analogie weder seitens der Rechtsprechung noch seitens der Strafrechtswissenschaft zur Ausfüllung der Lücken des Strafgesetzes verwandt werden dürfe?: denn solche Lücken existiren nicht! Welche handgreifliche Täuschung und wie schädlich in ihren Folgen! Wer den mühsamen Versuch nicht scheut, den Bestand von zweifellos bestehenden Sätzen des Reichsstrafrechts mit dem Bestände unserer Reichsstrafgesetze zu vergleichen, der wird hier wahrnehmen, was sich auf allen Rechtsgebieten wiederholt, obschon die Betrachter ihre Augen davor geflissent­ lich schließen, daß jener weit größer ist als dieser. Alles „Abhandlung von der Criminal-Gesetzgebung" von Globig und Huster. Zürich 1783, S. 31. 32. Der Schluß der Stelle gemahnt an die bei Savigny a. a. O. S. 88 ff. abgedruckte Kabinettsordre Friedrichs H. aus dem Jahre 1780: „Wenn Ich . . . Meynen Endzweck erlange, so werden freilich viele Rechtsgelehrten bei der Simplifikation dieser Sache ihr geheimniß­ volles Ansehen verlieren, um ihren ganzen Subtilitäten-Kram gebracht, und das ganze Corps der bisherigen Advokaten unnütz werden. Allein ich werde dagegen . . . desto mehr geschickte Kaufleute, Fabrikanten und Künstler ge­ wärtigen können, von welchen sich der Staat mehr Nutzen zu versprechen hat." Im Jahre 1749 hatte er freilich vor den überspannten Hoffnungen auf vollkommene Gesetze gewarnt: denn 1s8 oüosss xarkaitss ns sont pas äu rsssvrt äs l'üuvaanits! i Der durchaus unbegreifliche Standpunkt der herrschenden Doktrin über diesen Punkt kann hier nicht näher dargelegt werden. Vgl. dazu mein Handbuch I 1885 des. S. 209 ff.

n. Strafgesetzgebung, Strafjustiz und Strafrechtswissenschaft.

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Gesetzesrecht ist eingebettet in eine große Zahl von Rechts­ sätzen, die der Gesetzesform entbehren: die sich bald als Vor­ aussetzungen gesetzlicher Bestimmungen, bald als deren Folgen darstellen, bald den falsch gefaßten Gesetzesparagraphen von seiner Stelle verdrängen, bald von der Legislation nicht aus­ genommen werden, weil sie selbstverständlich oder weil sie Gemeingut oder weil sie für kurze Fassung zu komplizirt oder in kurzer Fassung zu schwer zu verstehen sind, oder weil der Gesetzgeber einfach vergißt, seinem Willen Worte zu leihen. Die Mittel der Gesetzgebung sind eben so beschränkt wie die Mittel aller Kunst. Nicht alles Recht eignet sich für gesetz­ liche Form, nicht alles Recht gefällt in ihr. Sie stellt ihre Sätze ohne Motivirung nebeneinander: weite Gedankengänge werden in lapidarem Ausdruck mehr markirt, als erschöpfend dargelegt: alle Mittelglieder spotten des Ausdrucks, obgleich dieselben vielfach nichts sind als un­ ausgesprochene, nur durch konkludente Handlungen erklärte Rechtssätze. Die Strafgesetzgebung sagt zwar, in welchem Umfange verbotene Handlungen strafbar sein sollen. Wo aber die Grenze läuft zwischen verboten und erlaubt, kann sie nur an einzelnen Stellen andeuten, nie vollständig klarlegen. Mög­ lich, daß diese Lücken durch andere Gesetze gefüllt werden. Häufig aber bleiben sie auch offen. Wie weit geht das Recht der disziplinarischen Ahndung? Wie weit die Kraft der Ein­ willigung des Verletzten? Wie weit das Recht der Beamten, ihren Willen durch Gewalt durchzusetzen? In allen diesen und vielen anderen Fällen schweigen sich Strafgesetze und andere Gesetze mehr oder weniger vollständig aus! Der Strafgesetzgebung ist es Bedürfnis, einfache Regeln aufzustellen. Die Lebenstatsachen dagegen sind nicht geneigt sich danach zu gruppiren: sie schießen zu verwickelten und immer verwickelteren Formen zusammen. Die Regel aber zur Lösung der Komplikation hat der Gesetzgeber vergessen, weil nicht gekannt oder nicht zu formuliren vermocht. Wo läuft 3*

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Erste Abteilung.

Strafrecht.

denn nach dem Willen des Reichsstrafgesetzbuchs die Grenze zwischen Verbrechenseinheit und Verbrechensmehrheit? Was sagt es denn über die Bestrafung fortgesetzter Verbrechen, deren einzelne Akte teils nicht qualifizirt, teils qualifizirt sind? Es schweigt sich über beide Punkte aus, und mit gutem Grunde, weil mit richtigem Takte für die Beschränktheit der gesetzgeberischen Mittel. Jene Grenze aber existirt doch von Rechtswegen, und die Regel für die Bestrafung von diesen desgleichen. Ein anderes Beispiel! Man versuche nur einmal, die Strafe der Teilnehmer, deren Taten verschiedene Quali­ fikationen aufweisen, nach den U 47—50 zu bestimmen, und man wird der klaffenden Lücken wahrhaftig genug finden! Das Auge des Gesetzes ruht oft, wenn ich so sagen darf, nur auf den Gipfeln der Lebenserscheinungen. Das Leben webt aber auch in der Tiefe, und für sie hat der Gesetzgeber wieder die Regel vergessen, — vielleicht wieder, weil er sie nicht gekannt, vielleicht weil ihm der Mut gefehlt hat, sich zu ihr zu bekennen. Man versuche nur einmal, sämtliche Notstandsfälle — etwa den Kaiserschnitt oder die Perforation eines Kindes oder die Sachbeschädigung behufs Bekämpfung von Feuersgefahr — allein nach § 54 des Str.G.Bs. zu be­ urteilen, und sehe, was an Justizmorden dabei herauskommt! Ihr Sinn für Ordnung und für Verständlichkeit treibt die Gesetzgebung, die Verbrechensbegriffe möglichst scharf von­ einander abzusondern. Dieselben sind aber häufig einander schneidende Kreise, und das Gesetz vergißt dann gar zu oft zu normiren, wie ein Verbrecher zu beurteilen ist, wenn seine Tat den Merkmalen zweier derart sich schneidender Straf­ gesetze zugleich entspricht ° Man denke an die Brandstiftung (88 306. 308) und das betrügerische Jnbrandsetzen gegen Feuersgefahr versicherter Sachen (8 269), an die Be­ stechung und die Anstiftung zu Amtsverbrechen mittels Gewährung von Vorteilen (8 48 u. 8 333) usw. Nur verschone man uns mit dem stereotypen Zitat des 8 73, der hiermit nichts zu tun hat! — Vgl. über solche Alter-

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Z?

Es ist ein großes Verdienst der neueren Strafgesetzbücher, die Verbrechen systematisch behandelt und den Versuch gemacht zu haben, die Tatbestände sorgfältig aneinander zu fügen, auf daß nicht der Verbrecher straflos durch die Lücken schlüpfe. Allein diese unendlich schwere Aufgabe ist nie vollständig zu lösen: die Einbildungskraft des Gesetzgebers kann der Er­ findungskraft des Lebens auch hier nie ganz nachkommen, und so treten stets von Zeit zu Zeit dem Richter Delikte entgegen, die das Gesetz nicht mit Strafe bedroht, obgleich sie straf­ würdiger sind als eine Anzahl aufgestellter Verbrechenstat­ bestände 9. Hier gilt es heute als Axiom für Gesetzgebung, Praxis und Wissenschaft, daß eine Bestrafung psr Lvalvtzmm unzulässig sei, während nur geringe praktische Beobachtung dazu gehört, um klar zu erkennen, daß solche Mängel nicht durch Nachtragsgesetze geheilt, sondern nur durch die sofort verständig eingreifende Praxis gemildert werden können. Zu­ gleich zu perhorresziren eine gewisse Dehnbarkeit der Tat­ bestände " und falls diese vermieden ist, die Zulässigkeit der Analogie trotz schärfster Ausprägung der Verbrechensbegriffe, verrät wenig Verständnis für die notwendige Ergänzung der Gesetze durch das ungesetzte Recht und ein ganz ungerecht­ fertigtes Mißtrauen gegen Richtertum und Wissenschaft. Tragikomisch ist, die Abgötterei zu beobachten, die bis auf den heutigen Tag mit dem Satze müla posns, sins IsAs ge­ trieben wird, als sei er wirklich in sich selbst begründet, und nicht nur ein notwendiges Vehikel der psychologischen Zwangsnativität der Strafgesetze mein Handbuch I S. 349 ff.; Grundriß H 25 S. 77. 78. o Irrtum N8U8 an Eisenbahnbilletten; Jnbrandsetzen von herren­ losen Gegenständen, die ihrer Beschaffenheit und Lage nach geeignet sind, das Feuer über Menschenwohnungen oder fremdes Eigentum zu verbreiten (vgl. die 8Z 306 u. 308 des Str.G.B.s)! usw. usw. Über den fragmentarischen Charakter der Strafgesetze s. mein Lehrbuch des besonderen Teils I S. 20ff. Man verwirft sie alle als Kautschukparagraphen. Windscheid rühmt an den römischen Rechtsregeln, daß sie ebenso ausgeprägt als elastisch waren. Recht und Rechtswissenschaft (1854) S. 23.

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theorie, die allerdings seiner nicht entraten kann, während wir ihrer doch gerne entraten"! Im Gesetze erstarrt plötzlich, was bisher im Flusse ge­ wesen : soll diese Erstarrung für die Rechtssätze nicht gewalt­ samen Stillstand geschichtlicher Entwicklung bedeuten, soll zwischen dem Gesetze von heute und dem Abänderungsgesetz in zehn Jahren die Brücke nicht fehlen, soll sich die Rechtsgeschichte nicht vorwärts bewegen stets sprungweise und nie Schritt für Schritt, fo müssen wir auch gegenüber dem Strafgesetz das Mittel zulassen, womit die Römer so Klassisches geleistet, weil sie soviel richtiger über die Unzulänglichkeit aller Gesetzgebung gedacht haben: die intsrprotatio prnäsntinm, und mittels ihrer die Ausfüllung der Gesetzeslücken streng nach Maßgabe der hervortretenden Lebensbedürfnisse. Freilich: ist das Gesetz mißtrauisch und stellt es Schranken auf für die Anwendung analogischer Tätigkeit, so müssen diese geachtet, wenn auch getadelt werden; sie aber auch nur um eine Linie über die gesetzliche Marke zu erhöhen, ist nicht zu verantworten". Wie weit unsere Strafgesetze jene Vollständigkeit besitzen, die allenfalls erreichbar und jedenfalls wünschenswert wäre, mag an zwei Punkten kurz gezeigt werden. Vollständig kann und soll der Gesetzgeber das Strafensystem aufstellen, und vollständig sollte er insoweit sein, als es sich um Art und Maß der für jede Verbrechensgattung verwendbaren Strafen handelt: in beiden Beziehungen läßt sich bei großer Sorg­ falt das Ziel lückenloser Regelung erreichen. In beiden Beziehungen hat es das Reichs strafgesetzbuch nicht erreicht. Unvollständig und notwendig ergänzungsbedürftig ist beispielsweise sein Strafensystem des Partikularrechts, das 8 5 des Einführungsgesetzes entwirft; dasselbe aber gilt von einer Anzahl von Strafdrohungen für einzelne Verbrechen". " Über die Entstehung des Satzes s. jetzt bes. m. Handbuch I S. 17 ff. " Und doch geschieht es zurzeit ganz allgemein. Der Beweis für beide Sätze ist an anderer Stelle zu führen: die Richtigkeit des ersten mag man als notorisch bezeichnen.

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Es hat nie eine Zeit gegeben, wo es kein Gesetz gab", und es wird nie eine Zeit kommen, wo selbst der großartigste Bau von Gesetzesrecht nicht umrankt wäre von Rechtssätzen in weicherer Form. Ein vollständiges Gesetz wäre kein Muster, sondern ein geistigen Tod verbreitendes Monstrum! Grade deshalb hat es nie existiert, besteht es zur Zeit nicht, und wird nie zu Bestand kommen! Jener Glaube an die Möglichkeit vollständiger Gesetze und die Macht ihrer Wirkungen führt deren Urheber aber auch oft genug weit über die seiner Tätigkeit ihrer Natur nach gesetzten Grenzen hinaus: er versucht auf dem Straf­ rechtsgebiete zu leisten, was nur der Wissenschaft gelingen kann, oder er versucht Ziele zu erreichen mittels des Repressions­ zwanges, die nur mittels der Prävention erreichbar sind! Wie oft ist Feuerbach und sind seine Nachfolger ge­ tadelt worden über ihre Neigung, in den Gesetzen zu definiren und zu dogmatisiren. Als ob eine Definition — zugleich treffend, praktikabel und nicht selbstverständlich — nicht jedem Gesetzbuch zur Zierde gereichte?! Als ob sie nicht unum­ gänglich wäre, falls das zu Definirende kontrovers ist?! An offensichtlichen Übergriffen des Gesetzes in die Kom­

petenz der Wissenschaft dagegen hat man keinen Anstoß ge­ nommen Wie in dem guten Wörterbuch der Nachschlagende jedes Wort angegeben findet, so soll in dem guten vollständigen Gesetzbuchs der Richter die Entscheidung jedes Falles nach­ schlagen können". Daher die unglückseligen Versuche, die " Die gegenteilige Behauptung der historischen Schule, das Gewohn­ heitsrecht sei das Recht der ältesten Zeit, ist m. E. durchaus unhistorisch, weil unmöglich. *6 Anders Kierulff, Theorie I S. XLI. io Sehr fein bemerkt Windscheid, Recht und Rechtswissenschaft, Greifswald 1854, S. II: „Das Recht, um anwendbar zu sein, muß als Regel auftreten. Es kann bis zu einer gewissen Grenze auf Verschieden­ heiten Rücksicht nehmen, aber nur, indem es der Regel wieder die Regel entgegensetzt. Es kann nicht die Norm der Entscheidung ... für den ein­ zelnen Fall geben."

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Resultate komplizirtester wissenschaftlicher Untersuchungen über die Wirksamkeit des Irrtums, des Vorhandenseins von Strafschärfungs- und Strafmilderungsgründen bei der Tat nur eines der Teilnehmer, früher über die Verschiedenheiten der Dolusfälle, in das eng verschnittene Gewand eines Gesetzes­ paragraphen einzuzwängen. Weniger gut wie der Gesetzgeber diese seine Pseudoaufgabe lösen muß, kann der Richter die seine bei Entscheidung des konkreten Falles nicht erledigen: denn ihn leitet die Wissenschaft und das Bedürfnis des ein­ zelnen Falles weit sicherer wie die ebenso unvollständigen als nach Form und Inhalt unrichtigen §8 50 und 59 des Straf­ gesetzbuches. Endlich danken wir der Überschätzung der Strafgesetz­ gebung eine seltsame Verkehrung der Mittel in der Verfolgung von Staatszwecken. Wenn jemand ohne Nötigungsabsicht mit Verbrechen droht — ich lasse die darin liegende injuria hier bei Seite —, wenn jemand zu solchen anzustiften sucht oder sich dazu ernsthaft erbietet, wenn mehrere sich zum ver­ brecherischen Komplott vereinigen und diese Vereinigung ent­ deckt wird, so gibt es dawider gar kein unzweckmäßigeres Mittel als die Strafe. Nach Verbüßung der Strafe kann die in diesen Handlungen manifestirte Gefahr unvermindert fortdauern, während der bedrohte Einzelne oder Staat — wie dies die Larvlina und die englische Praxis schon so richtig erkannt haben — ein Recht auf Sicherheitsleistung oder auf Sicherstellung des Gefährdeten durch die Präventivjustiz ein­ geräumt erhalten muß. Drängt uns der Zustand unserer Gesetze zuletzt das Ge­ ständnis ab, daß unsere Gesetzgebungstechnik noch sehr wenig entwickelt ist, daß schon die Entwürfe auf die Form ihrer Bestimmungen noch immer zu geringes Gewicht legen, und daß nun gar erst die Art der Mitwirkung der Parlamente bei Feststellung des Textes jeden guten Entwurf ruiniren muß und ein formell gutes Gesetz gradezu unmöglich macht, so ist der Traum von der Vollkommenheit und der Voll-

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ständigkeit der Gesetze, von der Berechtigung, die Wissenschaft dauernd an diesen Felsen festzuschmieden, und von der rein mechanischen Tätigkeit einer mit ganz gebundener Marsch­ route sich bewegenden Praxis ausgeträumt! Dieses Erwachen ist unerfreulich nur für die Anhänger der Lehre von der Gewaltenteilung! Da ihr zumeist die Verkehrung des normalen Verhältnisses von Gesetz und Praxis zu danken ist, so dürfte das Ende des krankhaften Traums den Beginn gesunder Wirklichkeit bedeuten!

II. Zwischen dem Rechte, was besteht, und der Wissen­ schaft, die es lehrt, zwischen der allgemeinen Regel und ihrer allgemeinen Auslegung ist das Richtertum dazu bestellt, der konkreten Lebenserscheinung ihr Recht angedeihen zu lassen. Was der Gesetzgeber nicht will, der Theoretiker nicht darf, das grade ist sein Amt. Sein Urteil aber ist zugleich ein Akt wissenschaftlicher und ein Akt rechtsfest­ stellender Tätigkeit —Recht hier freilich im Sinne der subjektiven Rechte genommen. Es setzt die allgemeine Aus­ legung der einschlägigen Rechtssätze voraus, die mit Sicher­ heit nur aus der Fülle wissenschaftlicher Erkenntnis geschehen kann. Grade deshalb warnt Savigny" den Praktiker mit Grund, er möge nie vergessen, „daß die richtig aufgefaßte Rechtswissenschaft nichts anderes ist, als die Zusammenfassung desjenigen, was er im einzelnen sich zum Bewußtsein bringen und anwenden soll." Dann verschreitet der Urteilende zu einer Ausscheidung derjenigen Bestandteile, die auf den unterliegen­ den Fall nicht passen; dann zur Feststellung, daß dieser Fall dem Tatbestand eines oder keines Gesetzes entspricht, und endlich zur Entscheidung, wodurch dem Staate eine Straf­ pflicht in bestimmtem Inhalt auferlegt oder eine solche Pflicht abgesprochen wird.

Es ist neuerdings die Frage nach dem Wesen des Urteils wieder in Fluß gekommen: die Entscheidung schwankt zwischen " System I S. XXIV.

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den beiden Extremen, ob es lediglich sogenannte Rechts­ anwendung, d. h. lediglich Urteil im logischen Sinne, das ist schließlich nichts anderes als eine rein wissenschaftliche Tätigkeit, oder Rechtssetzung im Sinne einer lsx spsmulis sei? Bedenkt man, daß jedes Strafurteil authentische Gesetzes­ auslegung — wenn auch nur für den einzelnen Fall — ist, daß der Richter durch sein Urteil vor diesem vorhandene Straf­ pflichten inhaltlich autoritativ fixirt, und vielleicht früher nicht vorhandene Pflichten erzeugt, daß er berufen erscheint, die Unbestimmtheiten, die der Gesetzgeber absichtlich oder unab­ sichtlich im Gesetze belassen hat, in bestimmten Rechtswillen umzusetzen, so kann kaum noch ein Zweifel bleiben, daß das Urteil viel mehr ist als logische Tätigkeit. Es ist autori­ tative Entscheidung über eine konkret strittige Rechtspflicht und grade deshalb auch keine lsx 8psois,1i8". Denn grade diese Aufgabe des autoritativen Streitentscheides liegt außerhalb der Gesetzgebung. Somit leistet die richterliche Gewalt gegenüber dem anerkennungsbedürftigen subjektiven Recht grade das, was der Gesetzgeber dafür nie leisten kann, steht aber der norm­ gebenden ungemein nahe. Der Richter ist der lebendige Ver­ treter des Gesetzgebers, nicht wie Montesquieu will, ein strs inavims; er ist sein Bevollmächtigter, nicht lediglich „das Mundstück des Gesetzes"; allerdings wird er an die Grenzen dieser Vollmacht streng gebunden, aber vom Vollmachtgeber durch das Vertrauen geehrt, daß seinem Ermessen ein weiter Spielraum absichtlich gelassen ist. So ist die Arbeit der Praxis stets zwiefach bedingt: durch den Zustand des positiven Rechtes, das sie handhabt, und durch den Zustand der Rechtswissenschaft, die sie vorfindet. Nack dem Gesetze bestimmt sich der Inhalt der richter­ lichen Vollmacht und das Maß der Gebundenheit an positive Satzung; aus der Wissenschaft sollte der Richter die Fähig*8 Die Abhandlung war ihrerzeit eingetreten für die Auffassung des Urteils als einer lex Zpeoialis.

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keit schöpfen, seine Vollmacht im Geiste des Vollmachtgebers auszuüben und sich auf dem ihm belassenen Raume in Frei­ heit und doch unter strenger Fernhaltung der Willkür zu be­ wegen. Die Gesundheit der Rechtsprechung beruht im richtigen Verhältnisse von Bindung durch das Gesetz und von wissen­ schaftlicher Gründlichkeit und Freiheit: die Krankheiten, die sie befallen können, sind Lähmung und Zügel!osigkeit. Gerade in diesen Hauptrelationen der Praxis zum posi­ tiven Rechte einerseits, zur Wissenschaft andererseits hat sich in den letzten hundert Jahren ein gewaltiger Umschwung voll­ zogen, und durch eine Reihe zusammentreffender ungünstiger Umstände ist die Praxis von einem krankhaften Extrem ins andere gedrängt worden". Wol nie hat ein Richterstand in so unglückseliger Ver­ lassenheit einem so seltsam komplizirten Quellenapparat gegenüber gestanden, als der deutsche Jnquisitionsrichter des 18. Jahrhunderts. Deutsche Partikulargesetze standen neben Massen gemeinen und partikulären Gewohnheitsrechts von nichts weniger als zweifellosem Inhalte, dahinter die Larolma, deren Strafensystem gestürzt war, hinter dem allem die in fremder Sprache und in ganz anderer als der Gesetzes­ form abgefaßten Oorpora zuris oivilis und oanonioi! Alle diese geschriebenen Quellen aber waren von sehr empfindlicher Unvollständigkeit und schwer nebeneinander zu handhaben, weil schwer miteinander zu vereinen! Das Maß richterlicher Daß alle solche allgemeinen Urteile zu einem Teile unrichtig sind, weiß ich sehr wol. Die freimütigen Äußerungen über den gegenwärtigen Zustand der deutschen Sprachrechtspraxis sind wahrlich nicht im Sinne des Tadels gemeint. Ich will ihre schwachen Seiten nicht sowol rügen als er­ klären und möchte zeigen, wo der Weg der Besserung läuft. Ich eigne mir ausdrücklich Savignys Worte an: „daß der heutige Zustand mehr durch den allgemeinen Gang der Entwicklung als durch die Schuld des einzelnen herbeigeführt worden ist" (System I S. XXV). Ich spreche in folgendem ausschließlich von der Praxis im Anschluß an neuere Strafgesetzgebung.

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Ungebundenheit, welches sich aus jenem Quellenstande ergab, war für den Richter nur erträglich, wenn er in der Anlehnung an überlegene Wissenschaft den Halt fand, den das positive Recht ihm versagte. Wo aber existirte in Deutschland solche Wissenschaft? So mußte sich die Haltlosigkeit in Zuchtlosig­ keit verwandeln: unwissenschaftliche Willkür des Richters spottete des Rechts. Gegen solche Krankheit fand das 19. Jahrhundert zwei Heilmittel, die umschichtig angewandt wurden. Entweder man fällte den kraus verästelten Baum des gemeinen Rechts und schuf neue Gesetzbücher, ohne diesen sofort eine Wissen­ schaft des neuen Gesetzesrechtes zur Seite stellen zu können ; oder eben jener blieb unangetastet, um ihn aber begann eine gesunde Wissenschaft kräftig und kraftgebend empor zu blühen. Die Wirkung beider Heilmethoden auf die Praxis war sehr verschieden. In den Landen, wo sich das gemeine Recht hielt, machte die alte Zuchtlosigkeit einer höchst wohltätigen weil maß­ vollen Freiheit Platz: das gemeine Recht wollte nicht in dem Sinne vollständig sein, wie die neueren Gesetzbücher, es ge­ stattete dem Richter die Anwendung der Analogie in vollstem Umfange, es veranlaßte ihn durch seinen bunten Zustand, sich vom Worte zu lösen und auf den Sinn zu sehen, d. h. die Quellen in einer vernünftigen den Lebensverhältnissen entsprechenden Weise, also mit wissenschaftlicher Freiheit aus­ zulegen. In den Landen der umfassenden Kodifikation wirkten die stolze Einheitlichkeit der neuen Werke, ihr Anspruch der Vollständigkeit, die ausgeprägte Form ihrer Satzungen, und ihre Beschränkung der Analogie einschüchternd auf die Richter ein. Das Gesetz begann als Fessel zu drücken und die be­ freiende Tat der Wissenschaft blieb aus. Um so verderblicher wirkte die mangelhafte Ausbildung des Praktikers auf der Hochschule, wirkten ferner die Umstände, daß übermäßige Arbeit ihn fast erdrückte und die Bescheiden­

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heit seiner äußeren Lebensstellung weder den unentbehrlichen Standesstolz noch die grade so unentbehrliche Lust an der wissenschaftlichen Weiterarbeit und an dem dazu nötigen finanziellen Aufwand aufkommen ließ 2°. So entwickelten sich aus der Scheu vor dem Gesetz, aus der Mattheit der Überlastung, aus dem von der Wissenschaft

ungenügend befriedigten Bedürfnisse nach wissenschaftlichem Material, die drei Kulte, welche der heutigen deutschen Straf­ rechtswissenschaft das charakteristische Gepräge geben. Sie alle machen auffälliger Weise aus der Not eine Tugend: der Kultus des Buchstabens stellt die Form über den Geist, der des Präjudizes den höchsten Gerichts­ hof über das Gesetz, der Kultus der Motive die Ansicht ihres Urhebers über den Willen der gesetzgebenden Gewalt. In ihrer Gemeinschaft wirken sie einen Mangel an Geist, Energie und echt praktischem Sinne. Diese Mängel aber be­ einträchtigen nicht nur das einzelne Erkenntnis : sie nehmen der Praxis auch die Kraft, auf die Wissenschaft anregend ein­ zuwirken und die so unentbehrliche Korrektur der theoretischen Ansichten auszuüben.

An diesem Zustande trägt die Prätention der Gesetzgebung den einen Teil der Schuld, die Justizverwaltung den andern, den dritten und nicht den kleinsten Teil aber III. die Wissenschaft selbst. Sie hat sich dem lebendigen Recht nicht zugewandt, und „eine dem Leben entfremdete Theorie ruft in natürlicher Reaktion eine unwissenschaftliche Praxis hervor"^.

Gegenstand des Strafurteils ist der einzelne Fall; Gegen­ stand der Strafgesetzgebung die Summe der Strafbestim­ mungen, die gesetzlicher Form nicht widerstreben; Gegenstand der Strafrechtswissenschaft ist das ganze positiv geschriebene 2« Sehr treffend äußert sich hierüber Hälschner, Dasjurist. Studium in Preußen, Bonn 1859, S. 16. 2» Windscheid, Recht und Rechtswissenschaft, S. 23.

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wie ungeschriebene Strafrecht als solches in seinem Zusammen­ hänge mit den übrigen Rechtsteilen. Es gibt keine Jurisprudenz, die nicht Wissenschaft posi­ tiven Rechts wäre, und es gibt keine ihres Namens würdige Jurisprudenz, die sich in bloße „Gesetzkunde" verkehren ließet Alle Wissenschaft des geltenden positiven Rechts aber hat eine doppelte Aufgabe zu lösen: der Gegenwart das Bewußt­ sein ihres Rechtszustandes zu vermitteln und der Zukunft besseres Recht vorzubereiten. Gelingt die erste, so wird die Theorie mit Naturnotwendigkeit die Führerin der Praxis; gelingt die zweite, so wird sie zur Führerin der künftigen Gesetzgebung. Und nur wenn sie ihr Recht, beides zu sein, tatkräftig durchsetzt, hört der Gegensatz der drei Faktoren des Rechtslebens auf, ein feindlicher und des­ halb ein schädlicher zu sein. Bei der Verfolgung des ersten Zieles hat sich die Wissen­ schaft dem bestehenden Recht unterzuordnen. Sie will nicht zeigen, was Recht sein sollte, sondern was rechtens ist. Sie ist gewissenhafteste Auslegerin und Ausdenkerin — nichts mehr! Freilich sie haftet nicht an dem einzelnen Satze; sie legt die große Ordnung klar in ihren Grundzügen; sie interpretirt den Zusammenhang der Teile untereinander ; sie füllt die Lücken aus, indem sie latenten Rechtswillen sichtbar neben die greifbaren Gesetze stellt; sie geht pietätvoll ein auch auf das Kleine, den Satz, das Wort, — aber freilich sie betrachtet die Ecke nicht aus der Ecke, wenn sie ihr Maß bestimmen will; sie sieht auch das Kleine vom Zentrum aus als Teil des Ganzen und bestimmt danach seine Gestalt und sein Verhältnis, die der Betrachter aus nächster Nähe vielleicht anders sehen würde. Ihre Tat ist „intellektuelle Reproduktion des Rechts" Will aber alles Recht vernünftige Lebensordnung sein, 22 Vortrefflich Unger, System des allgem. österreich. Privatrechts, I S. 634 ff. 2» Kierulff, Theorie I S. XXIV.

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so muß der Jurist auch auslegen die Beziehung der Lebens­ erscheinungen zum Rechtssatze, und indem er dies tut, bahnt er dessen Umsetzung in das Urteil wenigstens an. Neben der Auslegung aber steht die Kritik, und zur Aus­ übung derselben erhebt sich die Theorie nicht nur über den einzelnen Rechtssatz, sondern in freier Ungebundenheit über das ganze positive Recht. Sie will nicht nur schauen und erklären was ist, sondern auch was sein sollte, aber noch nicht ist. Aus dem Nachweise der Inkongruenz zwischen den Lebens­ bedürfnissen und der auf diese berechneten positiven Satzung schöpft sie die Pflicht des Tadels wie des Vorschlags zur Besserung und das Recht der Forderung an den Gesetzgeber, den ihm eröffneten Weg zu betreten". Aus dem Gesagten erhellt, daß die Theorie sowol als Auslegerin wie als Beurteilerin der beständigen Fühlung mit der lebendigen Rechtsanwendung gar nicht entbehren kann: daß die echte Rechtswissenschaft stets eine Wissen­ schaft des positiven praktischen Rechtes sein muß Und nun wird erklärlich, weshalb die Praxis des neuen Gesetzesrechts die ihr nötige Unterstützung durch die Wissen­ schaft in genügendem Maße nicht gefunden hat. 24 Diese Wahrheit hat v. Savigny aus den Werken der Römischen Juristen abstrahirt. Die eigentliche Besserung der Rechtspflege muß seiner Meinung nach ausgehen von dieser „Annäherung der Theorie und Praxis", sonst werde die Theorie zum Spiele, die Praxis zum bloßen Handwerk. Vgl. Vom Berufe unserer Zeit S. 126, 127 mit System I (1840) S. XL. Soviel ich urteilen kann, ist aber von den Anhängern der historischen Schule nur der eine Ludwig v. Keller praktischer Theoretiker in eminentem Sinne gewesen. 25 Mit Recht nennt es Kierulff, Theorie I S. XL, eine ungeheure Begriffsverwirrung: wenn „man es ganz in der Ordnung findet, die näm­ liche juristische Leistung theoretisch gut, aber unbrauchbar für die Praxis zu nennen". Vgl. dens. S. XXIV: „Die Theorie ist Rat für die Praxis." Kurz und treffend meint v. Keller, Pandekten Z 1: „Unsere Wissenschaft ist auf das frische Leben und Treiben der Menschen berechnet. Auf dieses soll sie mittelbar und unmittelbar einwirken. Aus diesem muß sie daher auch geschöpft sein."

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Der gewaltige Aufschwung deutscher Jurisprudenz vollzog sich in dem Gegeneinanderwirken zweier Schulen, deren Grundanschauungen fundamental verschieden waren. Im Jahre 1798 erschienen Grolmans glänzende Grundsätze der Kriminalrechtswissenschaft, 1799 und 1801 Feuerbachs Revision und sein Lehrbuch des Strafrechts, 1802 die zivilistische Ergänzung beider Werke: Thibauts Pandekten, und in demselben Jahre Savignys gewaltiger Fehdebrief gegen diese ganze Richtung: sein Besitz. Trotz der Verschiedenheit ihrer Richtungen nahmen aber die philosophische wie die historische Schule dem positiven Rechte gegenüber die gleiche abweisende Stellung ein Beide wollten seiner Unvollkommenheit den Spiegel vorhalten, beide dem kranken Rechte zur Heilung verhelfen, beide aber durch verschiedene Mittel. Feuerbach und Thibaut durch einen Akt philosophischer Gesetzgebung, durch Kodifizirung des ewig vernünftigen Rechtes, somit durch gewaltsame Loslösung von den historischen Grundlagen des Bestehenden, aber doch durch einen Akt der Auseinandersetzung mit der Gegenwart; die historische Schule durch vornehme Abwendung von der Gegenwart und ihren unbequemen Bedürfnissen, durch Ent­ hüllung der klassischen Züge des römischen als eines Muster­ rechtes von höherem Werte als das alte Naturrecht, durch einen Akt historisch-philologischer Forschung und künstlerischer Darstellung, nicht sowohl durch Produktion als durch Re­ produktion. Beide Schulen waren aber nicht praktische, sondern akademische Rechtsschulen: historisch-akademisch die eine, philosophisch-akademisch die andere^. 26 Sehr feine Bemerkungen darüber, wie die historische Schule „den praktischen Boden der Gegenwart" verlassen und wie sie „den Scharrplatz der selbständigen Thätigkeit in unbestimmte Ferne" geschoben hat, bei Kierulff, Theorie I (1839) S. XIX. Vgl. auch die merkwürdigen Äuße­

rungen bei v. Savigny, System I S. XXII, XXIII. 21 „Dies Prinzip (der historischen Schule), welches nicht will, daß un­ mittelbar Hand ans Werk gelegt werde, sondern den deutschen Geist in den Schwebezustand des bloßen Suchens und Strebens nach dem Anfänge bannt,

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Es istWächters bleibendes Verdienst, ungeblendet von der genialen Kraft der Führer beider Schulen, seine ganze wissenschaftliche Existenz auf die pietätvolle Liebe zum gelten­ den Rechte überhaupt, zum geltenden Strafrechte insbesondere gegründet zu haben, trotz der von ihm wahrlich nicht über­ sehenen Unvollkommenheiten, Lücken und Unsicherheiten des­ selben, der Komplizirtheit des Quellenmaterials und der Fülle seiner zu nicht geringem Teile wertlosen Literatur^. Soweit aber die deutsche Strafrechtswissenschaft sich dem positiven Rechte zuwandte, fand sie wesentlich in dem absterbenden gemeinen Rechte den Gegenstand ihrer Be­ arbeitung: die Abneigung der historischen Schule gegen das neue Gesetzesrecht verband sich mit dem berechtigten Wunsche, der Wissenschaft ihren gemeindeutschen Charakter zu wahren. Daraus dürfte sich ein Mangel unserer Literatur erklären, der anfängt, ganz unerträglich zu werden : ich meine das Fehlen von Monographien über Gegenstände des besonderen Teiles^. Grade für die einzelnen Verbrechensarten sind die gemeinrechtlichen Quellen, von denen die römischen ganz offensichtlich an Unfähigkeit kranken, die verbrecherischen Er­ scheinungsformen auf Begriffe zurückzuführen und diese Behat eine civilistische Doktrin geschaffen, welche unentschieden schwankt zwischen Theorie und Geschichte und sich von der Praxis ebenso fernhält als jenes Naturrecht": Kierulff a. a. O. 28 An Wächters Auffassung knüpft später Windscheid an: „Ich spreche es mit voller Ueberzeugung aus, daß die Generation, welche jetzt erzogen wird, nur einen Wahlspruch haben wird, der ist: nationales Recht. Es wird ihr Glaubenssatz sein, daß eine deutsche Rechtswissenschaft nur Wissenschaft des deutschen Rechts sein dürfe." Recht und Rechtswissenschaft, Greifswald 1854, S. 20. — In anerkennenswertester Weise, weil im Kampfe mit seiner philosophischen Richtung, hat sich dann Köstlin in seinen Ab­ handlungen (Tübingen 1858) mit dem positiven Rechte der neueren Straf­ gesetzbücher auseinandergesetzt. 2s Die Abhandlung ist 1881 geschrieben. Dieser Mangel der Literatur hat sich inzwischen verringert. Er ist aber noch immer vorhanden. Die Dissertationenflui kann gediegene Monographien gereifter Gelehrter und Praktiker nicht ersetzen. Wie klar zeigt sich dies an der endlosen Reihe der Breslauer „Strafrechtlichen Abhandlungen"! Binding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen.

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griffe scharf voneinander zu scheiden, zu einem großen Teil unausgiebig, und die neuere Gesetzgebung mußte sich hier weit von ihnen entfernen. So flüchtete sich die Wissenschaft zu den Lehren des allgemeinen Teiles, um nicht zu sehr dem Partikularrechte zu verfallen. Das Resultat ist: wir haben (1881) eine treffliche Monographie über Betrug, haben be­ achtenswerte Ansätze zur Aufarbeitung der Fälschungsver­ brechen, aber kein Werk, was diese interessanteste Verbrechens­ gruppe sx protssso als Ganzes zur Darstellung brächte, während allein eine solche Darstellung das nötige Licht über die einzelnen Fälschungen und ihr Verhältnis zueinander verbreiten kann; uns fehlt jede nennenswerte Monographie aus neuerer Zeit über die Tötungsverbrechen, über die Körperverletzung, den so feinen Verbrechensbegriff der Be­ leidigung, über Diebstahl, über die gemeingefährlichen, über die Amtsverbrechen usw. Überall vollständige Leere! Und diese Leere ist die Folge einer schweren Unterlassungssünde der Wissenschaft wider sich selbst und die Praxis. Es ist ein großes Glück, daß in den Köstlinschen Ab­ handlungen sämtliche Darstellungen einzelner Verbrechen und in dem dritten Bande des von v. Holtzendorff heraus­ gegebenen Strafrechts wenigstens ein nicht unbeträchtlicher Teil derselben (besonders die von Merkel) weit über das Mittelmaß von Abhandlungen hervorragen. Die kurze Ab­ handlung kann aber die erschöpfende Monographie nicht ersetzen. Jetzt aber, wo weitaus die bedeutendsten Verbrechen gemeinrechtlich festgestellt sind, fehlt der Wissenschaft jeder weitere Vorwand, sich ihren Pflichten gegenüber dem speziellen Teile zu entziehen^. Die Abneigung der Wissenschaft gegen die Strafrechts­ zersplitterung, die sich 1813—1869 vollzog, hatte aber außer80 In meinem Lehrbuch des besonderen Teils I u. II 1902 u. 1905 habe ich versucht, wenigstens meine individuelle Schuld gegen den besonderen

Teil zu bezahlen.

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dem die Folge, daß das Partikularstrafgesetz — und fast ganz Deutschland trat ja schließlich unter seine Herrschaft — der wissenschaftlichen Bearbeitung überhaupt entbehrte, und daß diese, wenn es sie fand, fast ausnahmelos die Form des Kommentars annahm. Ohne sehr zu übertreiben, dürfte man fagen: die Wissen­ schaft des positiven deutschen Strafrechts ist in jener Zeit in Kommentirung der Strafgesetze aufgegangen. Seit dem Erlasse des norddeutschen Strafgesetzbuches aber, also jetzt seit zehn Jahren, ist dies noch nicht erheblich anders geworden, wie denn ein plötzlicher Umschwung nicht zu erwarten war". Selbst der gute Kommentar aber ist ebenso unentbehrlich wie seiner Natur nach unvollkommen". Eine wissenschaftliche Darstellung, deren Disposition durch den Gedankengang des Gesetzgebers bis ins einzelne vorgeschrieben ist, die sich ge­ nötigt sieht, von Einzelbestimmung zu Einzelbestimmung fortzuschreiten und sich mit Worten und Interpunktionszeichen der einzelnen Gesetzesstellen abzufinden, entbehrt zu sehr der Möglichkeit, das Ganze nach großem Plane zu bearbeiten und auch das in den Bereich der Darstellung zu ziehen, was der Gesetzgeber nicht mit berührt hat. — Wie solche Gebunden­ heit wirkt, zeigt am besten die Entwicklung der zivilistischen Jurisprudenz. Die Entstehung echter Dogmatik geht mit der Loslösung der Wissenschaft von der Legalordnung der Pandekten Hand in Hand! Wie viel lockerer aber waren ihre Bande als diejenigen, in welche ein streng in sich geschlossenes Gesetz seinen Kommentator schlägt! Dieser unterliegt der 3 * Daß ich einerseits den Werken von Wächter und Hälschner, andrerseits denen von Meyer, Schütze und den drei ersten Bänden des Holtz endorffschen Strafrechts die gebührende Ehre nicht weigere, brauchte ich kaum zu bemerken. 32 Der schlechte ist ein Verbrechen wider Praxis wie Wissenschaft, welches, wie viele Verbrechen, neuerdings epidemisch geworden ist. Es ist höchste Zeit, daß die Urheber desselben endlich einmal an den Pranger gestellt werden, und daß Praxis wie Wissenschaft alle schlechten und halbguten Kommentare vornehm ignoriren. (Wir haben seitdem in dieser Richtung große Fortschritte gemacht.)

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Gefahr, das Gesetz mit dem Recht zu verwechseln und statt Jurisprudenz Gesetzeskunde zu bieten^. Aus der Beschränktheit der Aufgabe des Kommentars erklärt sich dann, daß die Theoretiker sich schwer zur Abfassung eines solchen entschlossen haben. Bei weitem die meisten und besten Kommentare sind von Praktikern bearbeitet worden. Um so eher glaubte die Praxis, der Hilfe der theoretischen Werke entbehren zu können. Innerhalb der Kommentare zu deutschen Strafgesetz­ büchern lassen sich aber nicht weniger als vier verschiedene Arten unterscheiden, von denen zwei — und zwar grade die bedenklichsten — wesentlich auf preußischem Boden entstanden und jetzt die herrschenden geworden sind. Die älteren ausgezeichneten Kommentare von Breiden­ bach, Hufnagel, Dollmann, Hocheder suchen den einzelnen Gesetzesparagraphen in zusammenhängender Dar­ stellung zu erläutern. Fast mag man ihre Tendenz dahin bezeichnen, eine Art Handbuch in Kommentarform zu geben. Es ist die höchste Aufgabe, die sich der Kommentator stecken kann. Er mutet dem Leser zu, mindestens seine Exegese des einen Paragraphen ganz durchzulesen. Ein solcher Kom­ mentar zum deutschen Strafgesetzbuche existirt bedauerlicher­ weise bis auf den heutigen Tag nicht". Die zweite Form ist die der Ausgabe des Gesetzes mit Anmerkungen des Herausgebers. Für den zeit­ armen und arbeitsunlustigen Praktiker außerordentlich bequem haben diese Kommentare zusammen mit den gleich zu be­ sprechenden die der ersten Art verdrängt. Ihren Einfluß ver­ dienen sie nur dann, wenn die Anmerkungen so durchdacht sä Gute Kommentare können ihren vollen Nutzen nur dann bringen, wenn sie mit freien wissenschaftlichen Darstellungen ein Ganzes bilden und mit ihnen zusammen benutzt werden. Die Alleinexistenz des Kommentars hat eine hochbedauerliche Überschätzung desselben in der Praxis zur Folge gehabt. " Am meisten näherte sich dieser Form der sehr schwache Kommentar von Rubo.

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sind wie in dem trotz seiner Kürze ausgezeichneten Kommentar zum Reichsstrafgesetzbuche von Rüdorff und in den sehr verdienstvollen Kommentaren von Olshausen und von Franks In den beiden letzten Arten der Kommentare endlich ordnet sich der Kommentator im wesentlichen andern Inter­ preten unter: die Exegese schöpft entweder aus den Rechts­ sprüchen des obersten Gerichtshofes oder aber aus den sog. Materialien des Gesetzes. Den letzten Gedanken hat am reinsten Goltdammer durchgeführt in seinen ungemein lehr- und inhaltreichen Materialien zum Strafgesetzbuche für die preußischen Staaten^. Niemand möchte das treffliche Werk missen, niemand dürfte aber in Abrede ziehen, daß diese Kommentirung aus den Materialien methodisch un­ zulässig ist. Seinem Erfolge nach war der Kommentar aller Kom­ mentare der von Oppenhoff zum preußischen Strafgesetz­ buche gewesen gleichfalls nichts anderes als eine Ausgabe mit Anmerkungen. Er kommentirte aus den Materialien, in viel größerem Maße aber durch die Präjudizien des Ober­ tribunals, die er in höchst geschickter Art zu verwenden und sehr übersichtlich zu machen wußte. Er war es, der besonders den Präjudizienkultus in der preußischen Kriminalpraxis groß gezogen hat, dessen Werkb» h^te dahin wirken möchte, alle deutschen Lande jenem Kulte untertan zu machen. In seiner Bequemlichkeit und Reichhaltigkeit dem Theoretiker wie Prak­ tiker unentbehrlich und nach dieser Seite hin höchst verdienst­ lich, in seiner Nachgiebigkeit gegen das Obertribunal nichts weniger als ein gutes Beispiel, ist er in seiner unbewußten 36 Übrigens nähern sich die Kommentare von Olshausen und von Frank mit dem Fortschreiten ihrer Auflagen mehr und mehr der älteren Form — aber doch nicht soweit, um ihren Grundcharakter aufzugeben. 36 2 Bände. Berlin 1851. 1852. 3? Erste Auflage. Berlin 1856. Sechste Auflage das. 1869. 33 Kommentar zum Reichsstrafgesetzbuche. Siebente Auflage. Berlin 1879, jetzt 14. Auflage 1901.

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Erste Wteilung.

Strafrecht.

Tendenz ein Todfeind aller gesunden Praxis: er will ihr den Nerv der Selbständigkeit rauben und die stolze Richter­ tätigkeit in geisttötende Routine verwandeln. Eine Wissen­ schaft des Gesetzes ist in solchen Werken verschwunden : die Praxis soll nach ihnen von der Praxis leben: das Vorurteil ist die einzige Quelle des Nachurteils: der „Fall" entscheidet den „Fall", und gegenüber dem Präjudize verblassen die Regeln des Rechts und die allgemeinen Wahrheiten der Wissenschaft. Tiefer kann die Rechtspflege nicht sinken, als sie tut, wenn sie sich solchen Werken willenlos gefangen gibt^. Die Gefährlichkeit derartiger Werke ist seit dem 1. Oktober 1879 noch unendlich gesteigert. Was noch nie in Deutschland bestanden hat, die Zentralisation der Strafrechtspraxis in einem obersten Gerichtshof, ist seit jenem Tage Wirklichkeit geworden. Über den Landgerichts- und Schwurgerichtsurteilen hängt

das Damoklesschwert der Revision durch das eine Reichs­ gericht: ein schlimmer Vorwand der Untergerichte, still und widerstandslos sich der unfehlbaren Autorität unterzuordnen. Hier liegt die eine Entscheidung über die Zukunft unserer Schon 1858 beklagt der die preußische Praxis nicht allzu scharf be­ urteilende Hälschner, Das juristische Studium in Preußen, die Über­ schwemmung des Marktes „mit juristischen kompilatorischen Werken", und daß „bei der großen Mehrzahl der preußischen Praktiker grade solche Werke einen sehr großen, streng wissenschaftliche Werke dagegen fast gar keinen Eingang finden". Vgl. auch die trefflichen Worte des preußischen Justiz­ ministers Dr. Friedberg in den Stenograph. Berichten des Reichstags, Session 1870, I S. 442. — Der Sieg dieser Anmerkungskommentare ist übrigens durch die Aufnahme des mündlichen Strafprozesses wesentlich vorbereitet worden. So sehr ich demselben den Vorzug gebe vor dem schriftlichen, so energisch er eine sachgemäße Entscheidung der Beweis­ frage fördert, so wenig fördert er eine gründliche Erörterung der Rechts­ frage. An demselben Tage ist eine große Anzahl von Hauptoerhandlungen anberaumt. Die Maschine muß arbeiten, sollen die Reste nicht unübersehlich werden; die Zeugen des nächsten Falles warten schon. Rasch muß das Urteil gefunden, müssen die Gründe wenigstens in den Konturen festgestellt werden. Da heißt es eben: „Hilf Oppenhoff oder seine Nachfolger!" Denn Zeit zum gründlicheren Studium der Frage während des Prozesses ist keine vorhanden.

II. Strafgesetzgebung, Strafjustiz und Strafrechtswissenschaft.

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Rechtspflege. Zieht sich alles Leben und alles Selbständig­ keitsgefühl in die eine Spitze zurück, oder bleibt trotz der segensreichen Krönung unserer Gerichtsverfassung durch das Reichsgericht deutsches Recht und deutsches Richterturn an allen den Stellen lebendig, wo deutsche Richter den Eid auf die Gesetze und nicht auf irgendwelche Präjudizien geleistet haben? Beschränktes Leben ist halber Tod. Wir müssen aus jener unwürdigen Neigung zur Abhängigkeit so rasch als möglich heraus, denn sie ist das sicherste Zeichen des Verfalls! Diese Befreiung zu ermöglichen ist Sache der Justiz­ verwaltung. Der mündliche Prozeß stellt an seine Richter größere Anforderungen als der schriftliche. Das Gericht soll in kürzester Frist die schwierigsten Prozesse entscheiden können. Der Richter muß deshalb eine hochausgebildete Urteilsfähig­ keit als unentbehrliches, stets flüssig zu machendes Betriebs­ kapital außerhalb der Sitzungen erworben haben. Dazu bedarf er vor allem einer akademischen Vorbildung so umfassender und gründlicher Art, daß das trisnnium dazu nicht ausreichen kann. Ob diese erreicht oder nicht erreicht ist, sollte dann in strengen ersten Staatsprüfungen, die ihrem Schwergewichte nach in der Hand der Theoretiker liegen müßten, festgestellt werden. Erhält aber der Staat aus den Händen der Examina­ toren nur tüchtig vorgebildete Juristen, so hat er nun das seine zu tun, daß dem Richter zur Weiterbildung Zeit ver­ bleibe. Die Überbürdung des Richterstandes mit Berufs­ arbeit muß ihn aus einem Stande wissenschaftlicher Schöpfer autoritativer Entscheidungen für die einzelnen Fälle zu einem Stande unwissenschaftlicher Routiniers herabdrücken! Und zwar müßte diese Entlastung den Richtern erster Instanz grade so zuteil werden wie denen der höheren Instanzen! Daß jene Befreiung wirklich geschehe, dazu kann das Reichsgericht außerordentlich viel beitragen durch die Wissen­ schaftlichkeit seiner Rechtsprechung und durch völlige Freiheit vom Präjudizienkultus. Insbesondere versage es dem Erst­ instanzurteil nicht schon um deswillen die Anerkennung, weil

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Erste Abteilung.

Strafrecht.

dieses einem Reichsgerichtsurteile widerstreitet! Der oberste Gerichtshof bleibe auch darin Vorbild, daß er sich in ständigem Fortschritte begriffen zeigt und sich nicht scheut, der besseren Erkenntnis sein früheres Urteil zu opfern. Daß aber die Praxis die ihr allein würdige Stellung nicht nur in dieser, sondern in allen Beziehungen wieder einnehmen könne, das hat an erster Stelle die Wissen­ schaft zu bewirken. Weist sie die gewaltigen Lücken der Gesetze nach und die Unvollkommenheit des gesetzlichen Aus­ drucks in einer Masse von Stellen, und die Unmöglichkeit, aus den sog. Materialien der Gesetze die Heilung für Lücken und Fehler zu finden, hebt sie wieder und wieder den Eid und die Pflicht der Richter hervor, den einzelnen Fall nach eigenem bestenWissen undGewissen zu ent­ scheiden, so sinkt dahin die krankhafte Überschätzung des

Gesetzes, des Gesetzesbuchstabens, der Gesetzesmotive und ebenso die krankhafte Lust, mittels dürftig gekannter, viel­ leicht gar nicht einschlagender und fehlerhafter Präjudizien die Knoten zu durchhauen, die der Richterstand lösen soll. In demselben Augenblicke aber sind die Hauptleiden, an welchen die heutige Praxis darniederliegt, überwunden. Für alle schlechten Krücken aber, die sie der Rechtspflege entwinden mußte, hat ihr die Wissenschaft durch ihre Leistungen genügenden Ersatz zu bieten. Leider sind ihr bei uns manche guten Wege zum Ziele versperrt. Seit dem Untergange der Spruchfakultäten hat die Theorie in Deutschland jeden Anlaß zur Teilnahme an der Praxis verloren. Wird die völlige Scheidung beider chronisch, dann muß die Wissenschaft das Verständnis für das praktische Bedürfnis mehr und mehr verlieren, und die Praxis wird der ihr fremden Theorie den Rücken kehren. Die Entschei­ dungen oberster Gerichtshöfe zu lesen, ist ganz ungenügender Ersatz für die eigene praktische Tätigkeit. Ob der Unterrichter einen Fehler gemacht oder nicht gemacht hat, ist eine durch­ aus sekundäre Frage. An der Erstinstanzpraxis sollte der

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Theoretiker teilnehmen können. Sie ist für ihn belehrender und anregender als die Praxis der höheren Instanz. Denn weit klarer als diese zeigt sie ihm den Reichtum des Lebens, die Beziehungen der Lebenserscheinungen zum Recht, das Verhältnis der einzelnen Verbrechensbegriffe zueinander, die Bedeutung der relativ bestimmten Strafe und die Strafzumeffungsgründe dieser gegenüber, den engen Zusammen­ hang zwischen materiellem und formellem Rechte, die Un­ vollständigkeit der Gesetze und die Notwendigkeit, die ihnen immanente Vernunft über den Buchstaben zu stellen! Soll die Theorie dem praktischen Rechte das leisten, was von ihr gefordert werden muß, dann kann sie nur innerhalb und darf nicht außerhalb dieser Praxis stehen! Ist ihr aber jenes versagt, so muß sie ihr Ohr schärfen, um zu hören, was aus erster Instanz durch das Mundstück des Revisionshofes zu ihr durchklingt. Mag sie aber auch über jene Hilfe verfügen oder deren Mangel beklagen, sie muß vor allem die Konsequenzen des heutigen Strafrechtszustandes für ihre Aufgabe und die Art ihrer Lösung ziehen. Dies zuerst für eine umfassende dogma­ tische Gesamtdarstellung getan zu haben ist das unsterbliche Verdienst Wächters", der überhaupt der Begründer der Dogmatik des positiven Privat- und Strafrechts genannt werden darf. An einem einzelnen Thema, dem Verhältnis des Reichsrechts zum partikulären Strafrecht, hat Heinze uns den rechten Weg gezeigt"; an die Leistungen dieser Männer ist unmittelbar anzuknüpfen. Die charakteristischen Züge des heutigen Rechtes aber sind: das überwiegen des Gesetzes über das ungesetzte und

des allgemeinen Rechts in Gestalt großer Gesetzbücher über das besondere Recht; ferner die Teilung der Strafgesetz­ gebung zwischen dem einen Reiche und den 25 Einzelstaaten, 40 In seinem Handbuch des Königlich sächsischen und des thüringischen Strafrechts. Stuttgart 1857. " S. Heinze, Das Verhältnis des Reichsstrafrechts zu dem Landes­ strafrecht. Leipzig 1871.

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Strafrecht.

somit der Dualismus des gemeinen und des partikularen Strafrechts. So bedarf es vor allem der Klarstellung der Beziehungen des gemeinen Strafrechtes zu dem partikularen Rechte: damit einerseits Helles Licht falle auf die wahrlich sehr bedeutende Abhängigkeit des Reichsstrafrechts vom Privatrechte, dem Staatsrecht, überhaupt dem Rechtszustande der deutschen Einzelstaaten, andererseits fester Anhalt zur Lösung der Zweifel gefunden werde, ob Partikularstrafgesetze rechtsgültig oder nichtig seien. Dann bedarf es einer energischen Arbeit an der Theorie der Auslegung der modernen Strafgesetze! Ist doch diese unentbehrliche Auslegekunst von der Kunst der Auslegung der römischen Quellen fundamental verschieden! Letztere hat es mit Schriftstellerfragmenten, erstere mit Gesetzen zu tun; letztere ist Auslegung nach Art der Philologen, erstere die Auslegung nach Art der Juristen; letztere besitzt eine aus­ gebildete Theorie, für erstere soll sie erst geschaffen werden Die beste Art, diese Theorie auszubilden ist, sie praktisch zu üben, und es dürfte sich einstweilen ein geeigneteres Feld für wissenschaftliche Spezialarbeit als das Brachland des speziellen Teiles kaum auffinden lassen. Über den Detailuntersuchungen aber darf die zusammen­

fassende Darstellung nicht vernachlässigt werden, die dem Praktiker das Gesamtbild des Rechtes entwirft, das anzu­ wenden er berufen ist. Bei allen Arbeiten jedoch hat die Wissenschaft scharf im Auge zu behalten, daß sie eine praktische Wissenschaft ist, und daß sie gleichzeitig den Bedürfnissen der Rechtspflege wie der künftigen Gesetzgebung zu dienen hat. Insbesondere gilt dies von der Theorie, soweit sie auf der Hochschule durch das lebendige Wort lehrt. Will sie gute Praktiker ziehen, so muß sie dem Glauben an die alleinseligmachende Kraft der Sie ist inzwischen geschaffen worden, hat aber die alte schlechte Aus­ legungspraxis noch nicht entfernt überwunden.

II. Strafgesetzgebung, Strafjustiz und Strafrechtswissenschaft.

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dogmatischen Vorlesungen entsagen. Dieselben bedürfen einer ständigen doppelten Ergänzung: durch exegetische und prak­ tische Übungen. Die Praktika haben sich inzwischen die ver­

diente Anerkennung verschafft; die Exegese neuerer Gesetze — auf strafrechtlichem Gebiete empfehlen sich dazu besonders die Spezialstrafgesetze und das Militärstrafgesetzbuch! — wird fast noch durchweg vernachlässigt. Die Wissenschaft erträgt keine Abhängigkeit von irgend­ welchem Willen, der ihr autoritativ gegenübertritt; sie setzt dagegen ihren Stolz darein, untertan zu sein ihrem Stoff und ihrer Methode, und muß sich dieser Abhängigkeit immer vollständiger bewußt zu werden suchen! Bezüglich der Methode aber kann gar nicht genug betont werden, daß die sorgfältigsten Spezialstudien, und zwar ebensosehr geschichtliche als dogmatische, den Untergrund bilden müssen für jedes haltbare wissenschaftliche Gebäude. Ist der Grund gut, dann foll die Theorie von dem Niederen zum Höheren und Höchsten sich erheben bis zu den leitenden Ideen, deren Verzweigungen bis in die kleinsten Ausgestaltungen verfolgen zu können dann der Mühe schönster Lohn ist. Wer aber diesen Lohn erringen will, ohne Schweiß dranzusetzen, dessen Gedanken mögen zwar auch hoch oben kreisen, aber wie die Wolken um Berges­ gipfel: sie zergehen entweder in nichts, oder sie ballen sich, die Höhen umnebelnd, zusammen! In allen Fällen hemmt und diskreditirt er die Wissenschaft, und wir wollen und dürfen solche Angriffe nicht länger ertragen. Die Wirksamkeit unserer Theorie wird durch jedes Symptom von Krankheit beeinträchtigt: jede schlechte Leistung auf wissenschaftlichem Gebiete ist eine Art literarischen Landes­ verrats gegen die Wissenschaft und gefährdet ihre Großmachts­ stellung gegenüber der Praxis wie der Gesetzgebung. Deshalb muß sie gesund bleiben. Nur durch die Zu­ verlässigkeit ihrer Werke kann sie der Rechtsprechung von heute und der Gesetzgebung der Zukunft so vorarbeiten, wie beide verlangen müssen.

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Strafrecht.

Strafgesetzgebung, Strafjustiz usw.

So hat die Überhebung und Überschätzung des Gesetzes

eine Entwertung der Praxis und der Wissenschaft zur Folge gehabt. Jetzt gilt es, das Gleichgewicht der Faktoren des Rechtslebens wieder herzustellen. Zu diesem Zwecke muß die Gesetzgebung in dem­ selben Maße, in welchem sie ihre Technik vervollkommnet, sich bei wachsender Einsicht in die Begrenztheit ihrer Aufgabe und die Unvollkommenheit ihrer Mittel bescheiden lernen und der Praxis wie der Theorie die notwendige Freiheit, des Gesetzes Lücken aus dem ungesetzten Rechte zu füllen, nicht fürder verkümmern wollen. Sie hat vollen Grund, in der Theorie die unentbehrliche Gehilfin, in dem Richtertume den verantwortlichen Bevollmächtigten zu achten! Die Praxis aber darf über dem einzelnen Paragraphen das Gesetz als Ganzes und über dem Gesetze das Recht nicht übersehen. Für die Rechtsanwendung insbesondere hat sie sich frei zu machen von den Fesseln, in welche sie sich — sehr zum Nachteile ihrer Würde! — selbst geschlagen hat. In freier wissenschaftlicher Tat hat sie im einzelnen Falle das Leben dem Rechte zu unterwerfen und den Gesetzgeber an der Stelle zu vertreten, wohin sein Arm nie zu langen ver­ mag ! Es ist eine adlige Aufgabe, die sie zu erfüllen berufen ist, und sie kann dieser nicht gerecht werden ohne den Nerv jeder gesunden Judikatur: ohne die nötige wissenschaftliche Ausbildung und den unentbehrlichen Richterstolz! Die Wissenschaft endlich muß — soweit sie es noch nicht ist! — praktische Wissenschaft des positiven Strafrechts werden! Nur durch die Güte und Zuverlässigkeit ihrer Werke kann ihr gelingen, daß ihrer rechtlich nicht bindenden Belehrung die bindende Kraft der Wahrheit willig zuerkannt werde. Erst wenn dies wieder geschieht, nimmt sie die Stellung wieder ein, die ihr zukommt. Sie trägt die Fackel, und in ihrem Lichte folgen Richter wie Gesetzgeber. Leipzig, 31. Dezember 1880.

III.

Das Problem der Strafe in der heutigen Wissenschaft.

In Grünhuts Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart Band IV S. 417 ff. erschien 1877 meine Antrittsrede, ge­ halten in der Aula zu Leipzig. Sie bildet die Grundlage der folgenden Darstellung, die den Redecharakter festhält, aber gegenüber jener Publikation von 1877 nicht unbedeutende Änderungen und Erweiterungen erfahren hat.

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Die Aufgaben des Rechts werden ihm vorgezeichnet durch

die Natur der unter ihm vereinigten Menschen. Gäbe es eine menschliche Gemeinschaft, wo jeder, seiner selbst gewiß, die natürlichen Grenzen seines Freiheitsgebietes stets achtungs­ voll inne hielte, so erwüchse dem Gesetzgeber wie in Platos Gerechtigkeitsstaate eine schwere Pflicht weniger. Er dürfte sich begnügen die Güterwelt zu verteilen, das Verhältnis der Lebensalter, der Geschlechter, der Stände zueinander zu regeln, und die so geschaffene Ordnung zu schützen gegen äußere Störung und gutgläubige Irrung. Auf das Schwert könnte die Gerechtigkeitspflege verzichten: denn sie fände keinen Gegner, den das Schwert treffen könnte. Der Traum vom ewigen Frieden wäre fast verwirklicht — freilich um welchen Preis! Nun ist aber dem Menschengeschlecht dies glücklich-unglück­ selige Los paradiesischer Unschuld nicht beschert. Berufen zur Tat, verfällt es dem Begehren, damit der Begierde, — und fo kommt es, daß, während die längsten und blutigsten Kriege vergehen, ihre Wunden vernarben und auf den Gräbern der Gefallenen der Lorbeer der Erinnerung wächst, ein Kampf ruhelos weiter ringt: der Kampf der Menschheit wider ihren furchtbarsten, sich ewig verjüngenden und deshalb unbesieglichen Gegner: ihre in Tat ausbrechende Leiden­ schaft. Er war es, der die Gerechtigkeit zwang, sich milder Waffe zu gürten schon bei ihrer Entstehung, und soweit menschliches Voraussehen reicht, kann sie das Strafschwert nie mehr aus der Hand legen, um es in die Pflugschar um­ schmieden zu lassen und sich des Friedens zu freuen: denn ihr blüht kein Friede! I. Dieser tragische Konflikt zwischen der Macht des Rechts und der Gewalt der Willkür hat schon sehr frühe die Auf­

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Strafrecht.

merksamkeit der Denker auf sich gezogen. Was ist das Ver­ brechen, daß gerade es mit der Strafe heimgesucht werden muß? Was ist die Strafe, daß sie gerade dem Ver­ brechen folgt? — Diese Fragen sind so alt wie alle Rechts­ philosophie, und gerade die hervorragendsten Geister unter den Philosophen und Theologen, den Staatsmännern und den Juristen des Abendlandes haben sich an ihrer Lösung versucht. So ist im Laufe der Zeiten eine Unzahl sogenannter Straftheorien entstanden — jede einzelne packend nicht nur als treues Bild der geistigen Atmosphäre, aus der sie stammt, sondern auch als Werk ihres Urhebers, was seine vielfach großartigen Züge trägt. Gibt es doch kein besferes Zeugnis für des erhabensten Apostels der Gerechtigkeit, für Kants Charakter, als seine großartige Straftheorie in ihrem ekla­ tanten Widerspruche zu seiner Lehre von der Entstehung des Rechts aus der Willkür! Schreiten wir dann von Meinung zu Meinung, so scheint jede eigenartig und neu. Neu ist der Ausdruck, neu die eigen­ tümliche Kombination der Vorstellungsreihen, — und staunend sieht der Beschauer den scheinbar unendlichen Reichtum von Lösungsversuchen, den die Vergangenheit aufgehäuft hat, und nicht ohne Neugier, aber fast ohne Erwartung wendet er sich den neuen Antworten der Zukunft entgegen. Entkleidet dann aber der Kritiker die einzelnen Theorien ihrer eigentümlichen äußeren Gewandung, spürt er den ein­ fachen Bestandteilen nach, den geistigen Elementen jener ehr­ würdigen Versuche, alte quälende Rätsel aus der Welt zu schaffen, so nimmt seine Verwunderung Schritt für Schritt ab: denn jener scheinbar unermeßliche Reichtum zerschmilzt ihm unter den Händen, und fast betroffen bricht er endlich in die Frage aus: Ist es denn glaublich, daß aus so wenigen Grundgedanken über Verbrechen und Strafe, die den alten Hellenen schon alle bekannt waren, so zahllose Theorien er­ baut werden konnten? Ist denn die Geschichte des Straf-

III. Das Problem der Strafe in der heutigen Wissenschaft.

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Problems wirklich nichts anderes, als ein ewig abwechselndes Auf- und Niedertauchen jener elementaren Vorstellungen? Und wenn ja — was kann man noch von der Zukunft hoffen? Ist es dann erlaubt, die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Gegenwart und ihre doch allem Vermuten nach gleich ver­ geblichen Anstrengungen zu richten? Wie sollte sie die Fragen nach dem Wesen des Verbrechens, der Natur der Strafe und dem Inhaber der Strafgewalt bündiger beantworten können, als eine tausendjährige Vergangenheit? II. Ob man nun aber doch von der Zukunft eure sichere Antwort über die Strafe im Recht erwarten darf, hängt ganz von der Methode ab, diese Antwort zu suchen. Eine gewaltige Erscheinung des positiven Rechts soll be­ griffen werden, und sie kann es nur aus ihrer Entstehung im Recht und aus ihrer Geschichte darin, in die als ihr vorüber­ gehender Endpunkt natürlich auch das Recht der Gegenwart einbezogen werden muß — also durchaus esoterisch. Es ist das Schicksal aller jener früheren Theorien gewesen, dies nicht begriffen zu haben. Keine ist pietätvoll dem gelten­ den Recht abgewonnen — keine vermag deshalb die Strafe in ihm zu erklären. Phantasiestrafrechte haben ihre Urheber ge­ dichtet, und in diesen Systemen fanden nur Phantasie st rafenRaum. Je mehr Wirklichkeitselemente in diese Phantasiegebilde verwebt waren, um so mehr Aus­ sicht hatte die gedachte Strafe der wirklichen zu entsprechen. Dieser Bewegung, die wegen ihrer unwissenschaftlichen Methode ungesund war, aber trotzdem durch Jahrtausende gedauert hat, wurde aber in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts Halt zu gebieten versucht. Es bleibt AdolfsMerkels unsterbliches Verdienst, mit der exakten Bearbeitung des Strafproblems auf dem Boden des geltenden Rechts begonnen zu haben'. Untersuchungen ' In dessen Kriminalistischen Abhandlungen I. Bin ding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen.

Gießen 1867. 5

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bleibendem Wertes wurden angestellt. Sie wurden von Andern weitergeführt und ergänzt, und schon ist eine Anzahl wissen­ schaftlicher Wahrheiten gefunden, deren sicherer Besitz sich wol vermehren, aber nicht mehr vermindern läßt. Man hätte glauben sollen, den Männern der Rechts­ wissenschaft wenigstens würde dieser Haltruf gegenüber den: sogenannten Philosophiren über die Strafe Eindruck machen und sie aus den rechten Weg rufen. Aber weit gefehlt! Beeinflußt von auswärtigen Dilettanten im Verein mit in­ ländischen wurde grade auch von ihnen die alte Weise wieder ausgenommen. Nicht aus dem Recht, sondern aus den Naturwissenschaften, besonders der Anthropologie, ferner aus der sogenannten Soziologie sollte die Strafe abgeleitet werden — und auf die Strafe des Rechts und der Geschichte begann eine wilde Jagd mit dem Ziele, von ihr nicht mehr übrig zu lassen, als ihren Namen zur falschen Etikettirung der Polizeimaßregel, die an ihre Stelle treten sollte. Ärger

ist das Strafproblem nie mißhandelt worden, als grade in den letzten Jahrzehnten des 19. und den ersten des 20. Jahr­ hunderts ! Den Hauptanlaß dazu bot die Überhandnahme der Leug­ nung menschlicher Freiheit und Verantwortlichkeit. Unzerreißbar ist die Strafe in der Geschichte an die Schuld gebunden gewesen, ist sie es noch und wird sie es immer bleiben. Man kann sich denken, zu welchen Monstren die Straftheorien der Schuldleugner auswachsen mußten! Aber den unsicheren Köpfen hat das Monströse ja immer imponirt! Für mich versteht sich von selbst, daß ich nicht eine Strafe dichten und nicht fo unbescheiden sein darf, die gedichtete von der Zukunft zu fordern, sondern daß ich bescheiden die ge­ schichtlich gewordene zu verstehen und zu erklären trachte. Ich möchte zeigen, wie die Gegenwart — will sagen ihre ernste Wissenschaft — die alte Frage neu stellt, wie weit sie Ant­ wort darauf zu geben weiß, wie weit sie erst von geduldigem Vorwärtsschreiten ergänzende Resultate erwartet.

III. Das Problem der Strafe in der heutigen Wissenschaft.

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IN. Ich habe vorhin davon gesprochen, daß in der Ge­ schichte des Strafproblems so wenige Grundgedanken über Verbrechen und Strafe stets einander abgelöst hätten. Zum Verständnis des heutigen Standes wissenschaftlicher Forschung erscheint eine Orientirung über diese Elementaranschauungen unumgänglich. Ihrer sind zwei von Grund aus verschiedene heroorgetreten, deren jede sich wieder in Unterarten gespalten hat. Man nennt sie den Grundgedanken der absoluten und den der relativen Strafrechtstheorien. Die Unterscheidung ist vielfach angefochten worden: sie ist aber wirklich eine Unterscheidung von Grund aus, sie muß nur richtig verstanden werden. I. Die absolute Theorie sieht —darin durchaus im Einklang mit der Rechtsgeschichte der Strafe — in der schuld­ haft rechtswidrigen Tat, zu deren Bezeichnung der deutschen Sprache das einfache Wort fehlt, und die ich deshalb mit den Römern als „Delikt" bezeichnen will — den Grund der Strafe, gleichsam ihren Erzeuger, und zwar den alleinigen Grund. Denken wir uns die Strafe personifizirt, so wendet sie — nach ihrem Grunde schauend — ihr ernsthaftes Haupt rückwärts dem begangenen Verbrechen zu. Es wird gestraft: guis, psooLtum ost.

Dies oft gebrauchte Bild ist Schuld an zwei nicht un­ bedenklichen Unterlassungen geworden. Über der zu strafen­

den Tat wurde das eigentliche Objekt der Strafe, ihr Täter, in der Sprache übergangen, und über dem Grund der Strafe vergaß man nach ihrem Zweck zu fragenDer nächste Zweck aller Strafe ist aber stets gewesen, das Haupt des Verbrechers schmerzhaft zu treffen. Diesen Strafzweck hat die absolute Theorie stets als durch die Strafverbüßung voll erreicht angesehen und die Straf­ vollstreckung nie bloß als ein Mittel zur versuchten Erreichung, 2 Die moderne sog. Zweckstrafe, gedacht als Gegenstück gegen eine zweck­ lose Strafe, ist ein Ungedanke, der sich nie hätte an das Licht wagen dürfen. 5*

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außerhalb ihrer, zeitlich nach ihr liegender Zwecke betrachtet. Diese unleugbare Tatsache ist in der neueren Bewegung oft vollständig übersehen worden. Das Bedürfnis, Verbrechen und Strafe in den möglichst engen Kausalzusammenhang zu setzeu, hat gar manchen Denker und Vertreter der absoluten Theorie bestimmt, die Strafe nicht nur als die Rechtsfolge des Delikts, sondern als dessen notwendige, unausbleibliche Folge zu be­ zeichnen. Die absolute Theorie in dieser Übertreibung führt den Namen der Notwendigkeitstheorie. 2. Der absoluten Theorie tritt nun die relative gegen­ über. In der Handlung, in welcher die absolute den einzigen Grund der Strafe findet, sieht sie seltsamerweise nur eine un­ entbehrliche Voraussetzung, aber grade nicht den Grund der Strafe. Vielmehr bildet die Missetat nur ein Symptom, einen Erkenntnisgrund für das Vorhandensein eines außer ihr liegenden Strafgrundes. Es wird nicht gestraft ^uia xsooatum sst, sondern postgnam psosatnm sst, ns psosstur. Der wirkliche Strafgrund bei allen relativen Theorien ist eine durch das Verbrechen offengelegte, aber keineswegs erzeugte drohende Gefahr für die künftige Sicherheit der Gesellschaft. Der Zweck der Strafe ist Beseitigung dieses Straf­ grundes, also künftige Sicherung. Der Blick der Strafe ist nicht rückwärts, auch nicht in die Gegenwart, sondern vor­ wärts gewendet. Die ganze Strafe ist nichts anderes als, in der Sprachweise der neueren Wissenschaft gesprochen, sichernde Maßnahme. Der Strafvollzug ist deshalb weit entfernt den Zweck der Strafe zu erfüllen, sondern dient nur als ein mehr oder weniger tauglicher Versuch, den Zweck der Ge­ sellschaftssicherung durch die Strafe nach deren Voll­ streckung zu erreichen. Die sogenannte Abschreckungstheorie straft den Mörder nicht, weil er gemordet hat, sondern weil außer ihm noch mordsüchtiges Volk im Lande wohnt, das von späteren Misse­

III. Das Problem der Strafe in der heutigen Wissenschaft.

gg

taten durch das warnende Beispiel abgeschreckt werden soll. Die praktisch mannigfach segensreich wirkende Besserungs­ theorie setzt den Räuber nicht deshalb ins Zuchthaus, weil er fremdes Gut und fremde Freiheit verletzt, sondern weil er sich als ein unsicheres Mitglied der Gesellschaft bewährt hat, und weil in dieser moralischen Unzuverlässigkeit künftige Gefahren schlummern. Die gegensätzliche Betrachtungsweise des Strafphänomens seitens der absoluten und der relativen Theorien wurzelt viel­ fach, aber durchaus nicht immer, in tiefer Verschiedenheit der Weltauffassung. Wie die ganze Rechtsgeschichte in der Mißtat nie etwas Anderes gesehen Hatals Schuldverwirklichung, so steht und fällt auch die ganze absolute Theorie mit der Über­

zeugung von der Schuldfähigkeit des normalen Menschen. Wer aber diese leugnet und den Schuldlosen doch strafen will, dessen Strafbegründung kann nicht mehr wissenschaft­ liche Erklärung der bestehenden Strafe sein, und unabwend­ bar wird er mit seiner Strafbegründung in das Lager der relativen Theorie gedrängt — mag er wollen oder nicht. So fällt der Grund der Verschiedenheit zwischen der ab­ soluten und der relativen Theorie durchaus nicht mit der Ver­ schiedenheit von Indeterminismus und Determinismus zu­ sammen, aber der letztere muß der absoluten Theorie Ab­ sage tun. Sehr seltsam berührt die ganz verschiedeneWertung der Persönlichkeit des Sträflings nach beiden. Die absolute Theorie sieht ihn mit der Schuld belastet. Man sollte glauben, daß diese Schuld seinen Wert in ihren Augen mindern müßte. Die deterministischen Anhänger der relativen Theorie sehen ihn schuldfrei — Grund genug zu seiner Wert­ steigerung! Aber die Erwartung wird vollständig getäuscht. Nach weitaus den meisten relativen Theorien findet eine tiefe Herabwürdigung des verurteilten Schuldlosen statt, die in dem Vorschlag der unbestimmten Verurteilung eine gradezu

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unheimliche Mißachtung seiner Rechtspersönlichkeit erreicht. Der absoluten Theorie steht der Schuldige weit höher als der Schuldlose der relativen. IV. Bei aller Hochachtung nun vor dem Scharfsinn und der edlen Gesinnung gar mancher Anhänger der verschiedenen relativen Theorien kann man sich ihre wissenschaftliche Halt­ losigkeit nicht verhehlen. Daß die relative Theorie trotzdem unsterblich bleiben wird, tut dieser Wahrheit keinen Abbruch. Auch bei dem Gelehrten siegt das Temperament ja so oft über die Vernunft. Obgleich nun alle Strafgesetze der Welt in seltener Ein­ tönigkeit verkünden, der Verbrecher werde gestraft, weil er so und so delinquirt habe, ist nach der relativen Theorie das Delikt doch nicht Grund, sondern nur notwendige Voraus­ setzung der Strafe. Aber warum dies? Warum wird nur gestraft, nachdem verbrochen ist? Warum ist das Delikt das einzige Symptom, woraus die Gefahren der Gesell­ schaft erkannt werden können? Denn nur durch die rechts­ widrige Handlung wird auch nach der relativen Theorie die Strafe ausgelöst. Wie kommt ferner die relative Theorie dazu, den zu strafen, dessen Tat nicht Strafgrund ist, dessen Tat nur den wahren Strafgrund, die Unsicherheit der Gesellschaft, enthüllt hat? Schuldete man ihm nicht weit eher Dank statt Strafe? Wäre es von diesem Standpunkte nicht allein zulässig, das Verbrechen mit einer Verbesserung der Schul- oder der Polizei­ einrichtungen oder der sozialen Verhältnisse zu beantworten? Und wie kann es die relative Theorie rechtfertigen, den Delinquenten, also doch einen Menschen, herabzuwürdigen zum Objekt des Experiments, ob durch seine Bestrafung Quellen künftigen Unheils für andere ihm gleichartige und gleichwertige Menschen verstopft werden können, noch dazu, da dieses Experiment in so vielen Fällen kläglich mißlingt, also die Strafe, deren einziger Rechtsgrund die Zweckmäßig­ keit sein soll, ihren Zweck verfehlt?

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Endlich muß die relative Theorie konsequent bei dem Satze anlangen: nicht der Staat, der heute doch allein straf­ berechtigt ist, sondern die bedrohten Gesellschaftskreise ohne Rücksicht auf die sie durchschneidenden Staatsgrenzen müßten das Strafrecht besitzen. Denn die durch das Verbrechen auf­ gedeckte Unsicherheit der Gesellschaft macht doch nicht an den Staatsgrenzen halt. Eine Strafrechtstheorie aber, die nicht zu sagen weiß, warum sie überhaupt straft, warum sie nur straft, nachdem verbrochen ist, obgleich sie nicht straft, weil verbrochen ist, warum sie den Verbrecher straft, obgleich dessen Tat den Rechtsgrund der Strafe nicht abgibt, warum sie endlich zu­ gibt, daß der Staat den Verbrecher straft, eine solche Theorie kann in der Wissenschaft eine Stellung nicht mehr beanspruchen. Es sei noch zum Schlüsse betont, daß die relative Theorie gegenüber der Privatstrafe völlig versagt. V. So stellt sich die neuere Forschung zunächst ganz mit Recht auf den Boden der sogenannten absoluten Theorie, und sucht nach dem inneren Zusammenhänge nicht von Unrecht und Strafe — denn es gibt auch strafloses Unrecht —, aber von Delikt und Strafe. Alle absoluten Theorien nun gehen aus zwei verschiedenen Grundgedanken hervor, die man übrigens öfter zu kombiniren versucht hat. k. Das Verbrechen betrachten die Einen als eine Tat­ sache, welche in ihrer Schädlichkeit nicht unwiderruflich ist, vielmehr durch Bestrafung des Missetäters wieder gut ge­ macht, geheilt oder gesühnt werden kann. Die Strafe ist dann dem Schadenersätze gleichartig, und nicht nur kein Übel, sondern Erlösung von einem solchen. Ich nenne diese

Theorien Heilungs- auch Sühnungstheorien. Objekt des Heilverfahrens ist nicht wie bei der relativen Besserungs­ theorie der Verbrecher, sondern das Verbrechen selbst — ge­ nau gesprochen seine Wirkungen: bald das gebrochene Recht, bald das gebrochene und zerrissene Verhältnis des Verbrechers

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zu Gott, zur Sittlichkeit oder zum Recht, bald die schlimmen Folgen der rechtswidrigen Tat. 2. Den Andern aber tritt im Verbrechen die ein für alle Mal unwiderrufliche schuldhafte Auflehnung des Einzelwillens gegen eine höhere Ordnung entgegen, — eine Ordnung, die ausdrücklich erklärt hat, solche Verachtung nicht dulden zu wollen. Dieser Bruch erscheint ihnen höchstens in einigen seiner Folgen, nie jedoch in seiner Wesenheit, heilbar. Das Unheilbare heilen zu wollen kann, weil durchaus unvernünftig, nicht Zweck der Strafe fein. Vielmehr kann in ihr nur die Antwort des Gemeinwesens aus die von dem Verbrecher gestellte Machtfrage erkannt werden: zwangsweise wird der Verbrecher gerade der Gewalt unterworfen, die er schuldhaft mißachtet hat. Die Antwort auf eine Tat freien, aber rechtswidrigen Willens ist die Unter­ werfung des Täters unter die Gewalt einer freien, aber recht­ mäßigen und rechtserhaltenden Macht. Diesen Gegenschlag pflegt man nicht ganz unmißverständ­ lich und gerne mißverstanden als staatliche Vergeltung zu bezeichnen. Durch ihre Duldung wird der Verbrecher ge­ zwungen, der gebrochenen Ordnung Genugtuung zu leisten. Solche Strafvergeltung verlangen nun die Einen im Namen Gottes, die Andern im Namen der durch das Ver­ brechen verletzten sittlichen Ordnung, eine dritte Gruppe endlich im Namen der davon scharf zu scheidenden Rechtsordnung. VI. So steht die neuere Wissenschaft zunächst vor der Aufgabe, durch sorgfältige Analyse des positiven Rechts der Gegenwart und der Vergangenheit zu einer zutreffenden Wahl zwischen den Theorien der Heilung, der göttlichen, der sittlichen und der rechtlichen Vergeltung zu ge­ langen, und das gesamte positivrechtliche Material zur Aus­ gestaltung der Theorie zu verwerten — die einzige Art und Weise, wie man heutzutage die sogenannte Rechtsphilosophie, die nichts anderes als sublimirteJurisprudenz ist, betreiben darf.

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VII. Bildet nun das Delikt den Rechtsgrund der Strafe, so handelt es sich vor allen Dingen darum , unrichtige Auf­ fassungen desselben zurückzuweisen und seine wahre Be­ deutung zum Ausgangspunkte zu nehmen. Nun gibt es nichts Menschlicheres als das Recht! Ent­ standen nach den Menschen, geschaffen von ihnen, gemünzt auf sie, und bestimmt, dem Zweitletzten unseres Geschlechtes ins Grab zu folgen, kann die Rechtsordnung nicht, wie dies von Stahl und Andern geschieht, als unmittelbare Ver­ körperung des göttlichen Willens, und es kann das Verbrechen als solches nicht als Auflehnung gegen göttliches Recht ge­ faßt werden. Ich gehe einen Schritt weiter. Auch das Moment der Unsittlichkeit ist für den Verbrechensbegriff unwesentlich. Ja es enthält eine sehr starke Verkennung desselben, wenn das sogenannte Sittengesetz als Angriffsobjekt der Missetat gefaßt wird. Alle sogenannten ethischen Gesetze binden den Einzelnen nur insoweit, als er bei sorgfältiger Prüfung den Einklang zwischen dieser Satzung und seinem Gewissen als vorhanden konstatirt hat. Wer aus innerstem Gewissens­ drange dem sogenannten Sittengesetze nicht konform handelt, der verletzt das Gesetz nicht: denn für ihn existirt es in diesem Falle nicht! Eine Gehorsamspflicht auf dem Ge­ biete des Ethos ist undenkbar. Und so sehr auch die sittlichen Gesamtanschauungen eines Volkes eine faktische Autorität üben, — in Wahrheit erbaut sich das Reich der Sittlichkeit auf der sittlichen Freiheit des Einzelnen: denn das Gewissen widerstrebt jeder Fesselung. Dagegen würde eine solche Anerkennung der Freiheit individueller Entscheidungen für das Gebiet des Rechts den Beginn des Chaos bedeuten. Denn das Recht muß Gehor­ sam fordern auch von dem, der es zu billigen nicht vermag: sein ganzer stolzer Bau ruht auf der Unterwerfung des Einzel­ willens unter den Gesamtwillen. Nur wenn man an der scharfen Unterscheidung der rechtlichen von der sittlichen Ord­

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nung festhält, läßt sich auch erklären, daß es rechtmäßige Handlungen gibt, die sehr unsittlich sind, sittliche Handlungen aber, die vom Standpunkte des Rechts aus entschieden ver­ worfen werden müssen. So bleibt für die Aufstellung einer Strafrechtstheoric nur noch eine Basis übrig: es ist das Delikt gefaßt in seiner Eigentümlichkeit als Auflehnung des Einzelwillens gegen den Gesamtwillen, als Rechtsbruch. VIII. Dieser Rechtsbruch, der durch die Schwere der be­ gangenen Handlung in sehr verschiedenem Maße verschärft wird, und sich zum geradezu frevelhaften Angriff auf den Bestand unserer ganzen rechtlichen Ordnung steigern kann, ist irreparabel. „Das eine ist den Göttern selbst verwehrt, das, was geschehen ist, ungeschehen zu machen." Nicht minder unwiderruflich sind die Wirkungen der schwersten Verbrechen. Wer ruft den Erschlagenen zum Leben zurück? Wer heilt den Gelähmten? Wer hebt das versenkte Schiff vom Boden des Meeres? Wahrlich! Wenn cs Aufgabe der Strafe wäre zu heilen und wiederherzustellen: das Verbrechen kann sie nicht heilen. Es ist geschehen und bleibt geschehen. Aber vielleicht könnte es ihre Aufgabe sein, den aufrühre­ rischen Sinn des Verbrechers zur Zucht zurückzuführen, den Frieden zwischen ihm und dem Gesetze wieder herzustellen, wie der Sophist Protagoras sagt: die krummen Hölzer gerade zu biegen? Der Strafe aber diese Aufgabe stellen, heißt ihr Un­ mögliches zumuten, sie also zum Bankrott verurteilen. Den Sträfling diesem Versuche der Verwandlung seines inneren Menschen zu unterwerfen, bis das so schwierige und delikate Experiment gelungen ist oder richtiger gelungen zu sein scheint, würde bedeuten, ihn für ungemessene Zeit auf Gnade und Ungnade den Organen der Strafvollstreckung auszuliefern — Organen denen jedes sichere Urteil über diese Seelenwandlung unmöglich wäre, und über die Tag für Tag die geschickten Heuchler ihrerseits schadenfrohe Triumphe feiern würden.

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Die Durchführung des in neuerer Zeit öfter — erst von Psychiatern gemachten, dann wahrhaftig von Juristen auf­ genommenen Vorschlags der Abschaffung des Strafmaßes be­ deutete ein doppeltes furchtbares Unheil für den Delinquenten wie für die Vollstreckungsbehörden. Wieder sieht man, daß Teleologen, die unmöglichen Zwecken nachjagen, allzuleicht gemeingefährlich werden! Deshalb hat nach Rechtsauffassung der Räuber seine Strafe verbüßt, der zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt die Zelle verläßt, unerschütterten Trotzes und heißes Rache­ gefühl im Herzen tragend. Die schwere, gewaltige Faust des Rechts hat er zur Genüge an seinem Leibe gespürt! Anderer­ seits darf dem reuigen Verbrecher trotz seiner Reue die Strafe nicht erlassen werden, auch wenn er den festen Entschluß ge­ faßt hat, von nun an die Pfade des Verbrechens zu meiden. So scheitern die etwas unklaren Heilungstheorien an der Unmöglichkeit ihres Zweckes, und wenn sich die Folgen des Verbrechens vielleicht teilweise aufheben lassen, wenn der Dieb gezwungen werden kann, dem Bestohlenen die Beute zurückzugeben, so ist es gerade nicht die Strafe, wodurch diese Besserung vollführt wird. IX. Mit dieser Negation ist freilich die Stichhaltigkeit der rechtlichen Vergeltungs- oder Genugtuungstheorie keines­ wegs bewiesen. Wir wollen uns auch hüten, den Beweis für sie als erbracht anzusehen, wollen vielmehr den einfachen Satz wissenschaftlich zu erklären suchen: es gibt Delikte, die gestraft werden. Bevor ich aber zu dieser Erklärung verschreite, möchte ich ein Wort sagen über unerhörte Mißverständnisse des Vergeltungsgedankens — eines der größten in der ganzen Geschichte —, die sich neuerdings oft verlauten lassen, und die zum Teil absichtliche Mißverständnisse sind. Rache ist nicht Vergeltung, und der racheschnaubende Jehovah der Juden, der die Sünde heimsuchen wollte an dem Sünder und seinen schuldlosen Kindern und Kindes­

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lindern, ist wahrhaftig das häßlichste Gegenteil der Inkarnation gerechter Vergeltung. Vergeltung — Gegenleistung — ist ihrem Wesen nach nicht Erwiderung des Bösen mit Bösem. Es kann auch das Gute mit Gutem und es kann endlich das Böse mit Gutem vergolten werden. Und gerade die letzte Art der Ver­ geltung — die denkbar edelste — sie ist es, welche die Anhänger der Vergeltungstheorie für die Strafe in Anspruch nehmen. Dem rechtsfeindlichen Angriffe des Verbrechers antwortet die Rechtsordnung mit der Unterwerfung des Unbotmäßigen unter die Herrlichkeit des Rechts: dem Rechtsbruche mit einer rechtserhaltenden Maßnahme, die den Verbrecher zugleich mit der gebrochenen Rechtsordnung wieder versöhnt. Edlere „Vergeltung" kann nicht geübt werden! Und nun kehre ich zum Thema zurück. Ich habe gesagt: es handle sich um die Erklärung des wichtigen Satzes: es gäbe strafbare neben straflosen Delikten. Sofort aber beginnen die Schwierigkeiten, welche uns in der jüngsten Zeit zu schaffen gemacht haben. Wir sehen gestraft zwar den Mörder, den Räuber, den Brandstifter, den Betrüger, ja selbst noch den, der einem andern vorsätzlich eine Fensterscheibe von geringstem Werte eingeschlagen hat. Geschieht dies letztere fahrlässig, so fällt schon die Strafe weg, und ebensowenig wird gestraft, wer durch vorsätzliche, aber nicht betrügerische Überschreitung eines Auftrages seinem Mandanten einen Vermögensschaden von Tausenden oder Millionen beigebracht hat. Wie erklärt sich, daß nur ein Teil der Delikte gestraft wird, der andere Teil aber nicht? Es liegt außerordentlich nahe, diese Erscheinung zurück­ zuführen auf verschiedene Arten des Unrechts seinem Tatbestände nach. Wer dies tut, hat die Aufgabe, zu zeigen, wodurch sich als Unrecht — somit abgesehen von Strafbarkeit und Straflosigkeit — der Mord und die Über­

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tretung irgendeines Polizeiverbotes von der vorsätzlichen Ver­ mögensbeschädigung unterscheiden? Welch unglaubliche Mühe hat doch die deutsche Wissenschaft auf den Nachweis einer qualitativen Unterscheidung von kriminellem und zivilem Un­ recht verwendet! Nun ist das dauernde Verdienst von Merkel, alle diese Versuche in ihrer Ergebnislosigkeit nachgewiesen zu haben, wenn auch die Wege, die seine Untersuchung eingeschlagen hat, nicht immer die unsrigen sein können. Gewiß kann man Arten des Unrechts aufstellen und darf eine große Art desselben, das sog. objektive Unrecht, ins­ besondere alle rechtsverletzenden Akte, die der Schuld er­ mangeln, als strafunfähig bezeichnen. Aber die Schwierigkeit liegt grade darin, daß in keiner Weise das Delikt als das strafbare Unrecht definirt werden darf. Diese Einteilung des Unrechts dem Tat­ bestände nach fällt mit der Einteilung desselben in strafbares und nicht strafbares nicht zusammen. Vielmehr läuft die Grenze zwischen straf­ barem und straflosem Unrecht mitten durch das Deliktsgebiet. So erhebt sich die Frage, ob sich die Ver­ schiedenheit der Rechtsfolgen doch vielleicht aus qualitativer Verschiedenheit der deliktischen Tatbestände ableiten läßt? Solche qualitative Differenzen gibt es, obgleich alle Delikte darin übereinstimmen, schuldhafte Übertretungen staatlicher Normen zu sein. Qualitative Verschiedenheiten innerhalb dieser Übertretungen können nur auf zwei Arten entstehen:

entweder werden verschiedene Normen über­ treten, oder bei den Übertretungen differenzirt sich die Schuld. Die tiefste Verschiedenheit zwischen den pflichtbegründenden Rechtssätzen, die ich Normen getauft habe, ist die zwischen Verboten, welche bestimmte Handlungen untersagen, und Geboten, welche bestimmte Handlungen fordern. Nun ist zwar die verbotene Handlung regelmäßig straf­

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würdiger als die verbotene Unterlassung. Nichtsdestoweniger aber finden wir auch die Unterlassung unter Strafe gestellt, und eine Reihe verbotener Handlungen bleibt straflos. Ja, bei näherem Zusehen zeigt sich, daß die Übertretungen eines und desselben Verbotes zum Teil strafbar, zum Teil straflos sind. Strafbar ist der vorsätzliche Ehebruch, straflos der fahr­ lässige ; strafbar die vorsätzliche Sachbeschädigung, straflos die fahrlässige. Verboten ist jedenfalls, daß ein Gefangener sich selbst befreit, aber er wird nicht einmal straffällig, wenn er dies Unrecht absichtlich verübt, sondern nur dann, wenn er sich durch Meuterei seiner Haft entledigt. Eine ganze Reihe von verbotenen Handlungen wird nur dann gestraft, wenn sie gewerbs- oder gewohnheitsmäßig begangen werden, die einzelne Handlung bleibt dann als solche straflos: das Ver­ brechen „verletzt" also mit Nichten andere Gesetze als das Nichtverbrechen! Vielleicht aber liegt die Grenze nicht auf der objektiven Seite des übertretenen Rechtssatzes, sondern auf der subjek­ tiven, der Verschuldung des Täters, wie dies besonders Hegel behauptet hat. Einer Norm wird entweder absichtlich Trotz geboten oder sie wird fahrlässig übertreten. Die vorsätzliche Auflehnung gegen den Staatswillen ist selbstverständlich weit strafwürdiger als das Versehen. Nichtsdestoweniger fällt der äo1v8 durch­ aus nicht vollständig der Strafe anheim — gibt es doch selbst straflose Diebstähle! —, und eine ganze Anzahl fahrlässiger Delikte steht unter Strafe. Wo sollten wir auch hinkommen, wenn das Strafgesetz sich gegen fahrlässige Tötung und fahr­ lässige Brandstiftung, gegen fahrlässige Körperverletzung und fahrlässige Überschwemmung von ganzen Landstricheu gleich­ gültig verhalten wollte? Somit ist das Verbrechen als Delikt nicht andersartig als das straflose Delikt, vielmehr gleichen Wesens mit ihm! Die Verschiedenheit der Rechtsfolgen erklärt sich also nicht aus qualitativer Verschiedenheit der Tatbestände!

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L. Nun könnte man versuchen, an Stelle qualitativer Unterscheidung die quantitative treten zu lassen. Man könnte die These aufstellen: der Strafgesetzgeber ordne die Rechtsverletzungen nach der Schwere und lasse von einem bestimmten Gewicht an die Strafbarkeit beginnen, während er alles leichtere Unrecht mit Strafe verschone. Allein auch diese quantitative Abstufung führt nicht zum Ziel. Wer vorsätzlich den Vertrag bricht, kann viel schwereres Unrecht begehen als wer sich eine fremde Apfelsine aneignet oder den harmlosesten aller Hunde zur Zeit der Maulsperre einmal ohne Beißkorb sich auswärts vergnügen läßt. Und doch wird im leichteren Falle gestraft, im schwereren nicht! X. Ist nun alles Delikt als solches in seinem Tatbestände gleichartig, und kann man es dennoch in das strafbare und in das straflose Delikt zerlegen, so ist nur ein Doppeltes möglich: entweder das Delikt als solches ist straf­ fähig, und die Tatsache, daß nur ein Teil des­ selben gestraft wird, erklärt sich aus demDelikte allein nicht; oder das Delikt als solches ist straf­ unfähig, und daß ein Teil von ihm doch gestraft wird, ist für es zufällig und erklärt sich nur aus Gründen, die außerhalb des Deliktes liegen. Unter diesen beiden Möglichkeiten wäre die Wahl leicht, wenn, wie man dies in den verschiedensten Wendungen be­ hauptet, die Strafe die unmittelbare Folge des Delikts wäre, wenn nicht der Staat den Mifsetäter, sondern seine Tat, ihren Urheber strafte. Aber nach deutschem Sprichwort muß zwar, „wer die Hand in Blut wäscht, sie in Tränen baden"; in­ dessen die Unruhe des Gewissens und die Schmerzen der Reue sind keine Strafe. Sie bedarf eines Armes, der stets einem Andern angehören muß als demjenigen, der den töd­ lichen Streich führte: Menschen strafen Menschen, nicht Taten sich selbst. Am klarsten tritt dies hervor, wenn der Blick auf die Entstehung der Strafe fällt. Die uralte Rechtsfolge des

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Friedensbruches ist die Friedlosigkeit, die eintritt unmittel­ bar mit der Tat, ohne daß sie der Richter erst zu verhängen brauchte, die den bisherigen Rechtsgenossen hinausjagt in die Wälder, ihn in den Wolf verwandelt. Aber die Fried­ losigkeit ist keine Strafe. Stößt den Verbrecher seine Tat zu den Wölfen, so war seine Tat wölfisch: man kann den Freien zum Sklaven machen zur Strafe, sobald man aber dem Ver­ brecher die Menschlichkeit abspricht, verneint man seine Straf­ barkeit. Die Friedlosigkeit ist also das Gegenteil der Strafe. Den Gedanken der Vergeltung und die Vorläufer wirk­ licher Strafen an Leib und Leben, Freiheit und Ehre bürgerte erst derjenige ein, den eine unaufgeklärte Rechtsgeschichte lange für den größten Gegner des Friedens und der recht­ lichen Ordnung gehalten hat, während er dessen kräftigster und unentbehrlichster Anwalt war: der Rächer, der aus der Friedlosigkeit des Verbrechers die Freiheit zur Rache schöpfte, der aber — in seiner Leidenschaft milder als die Gemeinde in ihrem Urteile — ihn als Menschen zur Ver­ antwortung zog. Er ist der Erfinder der Strafmittel: die Racheübung, nicht die Friedlosigkeit ist die erste Vorstufe der Strafe. Von jenen ältesten Zeiten an entsteht nach dem Ver­ brechen, sei es durch dasselbe, sei es aus anderen Gründen, ein Recht auf Strafzufügung; ich sage absichtlich nicht eine Pflicht, sondern ein Recht. Dieses Recht hat jedenfalls der Verbrecher nicht, sondern ein anderes Rechtssubjekt wider ihn. Zwischen Verbrechen und Strafe schiebt sich also der freie Entschluß des Strafberechtigten ein, dies Recht auch auszu­ üben. Die Strafe ist stets eine freie Tat des Inhabers der Strafgewalt, auch wenn sie pflichtmäßig zugefügt werden sollte, also weder eine unmittelbare, noch eine unausbleibliche Folge des Delikts. Wo entspringt nun diese Strafbefugnis? Warum ent­ steht sie prinzipiell nie gegen den Schuldlosen und nur gegen den Gesetzesverächter?

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Es erklärt sich dies nur aus den Gesetzen, die der Ur­ heber des Deliktes übertritt. Von juristischem Standpunkte aus haben die Sophisten mit vollem Fuge gesagt: das Ge­ rechte und Ungerechte sei dies nicht von „Natur, sondern durch Satzung. Keine Handlung wird unerlaubt, sie sei denn zuvor von Rechts wegen untersagt worden'. Aus jedem Rechtsverbote nun entspringt für den, der es erlassen, ein Recht auf Nachachtung, Botmäßigkeit, Gehorsam gegen die Gesetzesuntertanen. Dies Recht aber ist unerzwingbar. An den freien Willen der Menschen müssen sich die Verbote der Tötung, des Diebstahls, des Ehebruchs wenden; denn nur durch diesen Willen sind sie realisirbar. Wenn nun aber jemand das Gesetz nicht achtet und es verletzt? Soll dann jenes Recht des Staates gegen den Untertanen auf Unter­ werfung unter das Gesetz nicht illusorisch werden und schließ­ lich dem Gespötte der Menge anheimfallen, so muß es sich verwandeln in das Recht des Staates, Genug­ tuung zu nehmen von dem Delinquenten für seine Gesetzesverachtung. DasDelikt verwandelt also das Recht des Staates auf Gehorsam in ein Recht desStaates aufStrafe wegen Ungehorsam. Das Delikt und nur es ist die Quelle des Straf­ rechts gegen den Delinquenten. XI. In jedem Delikt aber liegt 1. die Auflehnung des Einzelwillens gegen den Gesamtwillen, liegt eine Mißachtung jenes Rechts auf Unterwerfung; aus jedem Delikt also, dem kleinsten wie dem größten, erwächst ein Recht, den Delin­ quenten zur Verantwortung zu ziehen; straffähig ist jedes Delikt. 2. Ist aber erst die Auffassung überwunden, wonach es an erster Stelle den verletzten Einzelnen trifft und wonach diesem das Recht auf Genugtuung in Gestalt des Anspruchs auf Privatstrafe zusteht, dann kann Inhaber des Strafrechts nur derjenige sein, dessen Autorität durch die verbotene Handlung mißachtet worden ist, das Gemein­ wesen, der Staat, nicht ein Einzelner oder eine VerBinding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen. 6

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bindung, nicht die Familie, die Schule, die Kirche. Für den Juristen gibt es nach Überwindung der Privat­

strafe nur eine unmittelbare oder mittelbare Staatsstrafeb. 3. Diese seine höchst umfassende Strafbefugnis übt der Staat nur in verhältnismäßig wenigen Fällen aus. Die Masst des straflosen Unrechts ist weit größer als regelmäßig angenommen wird. Nur aus dem Inhalt des Strafrechts kann sich erklären lassen, warum der Staat auf dessen Aus­ übung so vielfach glaubt verzichten zu müssen. Wie auch die Strafe beschaffen sein mag, sei sie Lebens­ ader Leibesstrafe, Verbannung, Gefängnis oder Geldbuße, stets ist ihr Vollzug auffälligerweist eine Handlung, welche, wie Tötung, Freiheitsberaubung, Vermögensbeschädigung, regelmäßig verboten und nur ausnahmsweise erlaubt ist. Abgesehen von dem allerdings sehr tiefgreifenden Unterschiede zwischen Recht und Unrecht haben das Verbrechen der Tötung und die Todesstrafe, das Verbrechen der Freiheitsberaubung und die Strafe der Einsperrung nahe verwandten Inhalt: Rechtsgüter bestimmter Personen werden dadurch vernichtet oder geschmälert. Das Opfer des Verbrechens und der Ur­ heber des Delikts, der um seiner Tat willen gestraft wird, beide erdulden nach Auffassung des Rechtes ein Übel, weil

eine Rechtsgüterbeeinträchtigung, nur jenes xsr ustas, dieser psr ta8. Diese Übelnatur der Strafe ist aber zweischneidig: die Strafe wirkt nicht nur als Übel für den Sträf­ ling, sondern auch — freilich nur zu einem Teile— für den Staat. Will er sie verfolgen, so nötigt sie ihn zur Einsetzung von Gerichten und Strafrichtern, von Organen der Strafklage und der Verteidigung; sie zwingt ihn ferner, Menschen zu vernichten oder einzusperren, deren Leben und Freiheit nicht nur für ihre Träger und deren Familien, Mittelbar, wenn der Staat seine Strafgewalt zum kleinen Teil an die Gemeinden delegirt.

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sondern auch für die Rechtsgemeinschaft von Wert sind; sie legt dem Staate des weiteren schwere Sorgen wegen des Strafvollzugs auf und bebürdet ihn mit großen Opfern am Vermögen. Das Strafrecht auszuüben ist für den Inhaber der Strafgewalt eine empfindliche Last, die er nach eigener Auffassung nur dann auf sich nehmen darf, wenn er dies für notwendig erkannt hat. Dann freilich muß das Straf­ recht sich für ihn in Strafpflicht verwandeln. 4. Und hier stehen wir an einem bisher wenig beachteten Punkte. Das Delikt erzeugt ein Strafrecht; mit Nichten aber verpflichtet es den Staat zur Strafe; sonst müßte eben jedes Delikt Verbrechen sein, und die Gnade wäre ein Unding. So muß erklärt werden, was denn außerhalb des Delikts diese Umwandlung des Strafrechts in eine Straf­ pflicht bewirkt, was den Staat seines Erachtens nötigt, den Mörder zu töten und Brandstifter, Räuber, Diebe ins Zuchthaus oder ins Gefängnis zu setzen. Da der Staat nur dann ein Übel auf sich nehmen darf, wenn er dadurch ein größeres von sich abwendet, so kann er sich zur Strafe nur dann für verpflichtet achten, wenn ihm das Übel der Nichtbestrafung noch größer deuchte als das der

Bestrafung. Nun kann die Nichtbestrafung als Übel nur unter zwei Gesichtspunkten erscheinen: entweder weil die Rechtsgüter, wie Leben oder Freiheit, welche dem unbestraften Delinquenten verbleiben, für die Gesellschaft Gefahr drohen. Allein die Gefährlichkeit des Delinquenten zwingt den Staat wol zu sichernden Maßnahmen für die Zukunft, aber nicht zur Strafe. Müßte ihretwegen Strafe eintreten, so müßte die Schwere der Strafe der Gefährlichkeit des Sträflings für die Zukunft proportional sein, wovon unser Strafrecht so wenig weiß wie seine Geschichte, und notwendig müßte künftige Ungefähr­ lichkeit einen Strafausschließungsgrund bilden, was äs IsZs lata nicht zutrifft. Denn auch der Verbrecher, der aller Vor­ aussicht nach nie mehr rückfällig werden wird, auch der 6*

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Mörder, dem ein Schlaganfall beide Arme gelähmt hat, wird in Strafe genommen. In der Persönlichkeit des Verbrechers liegt also der Zwang zur Strafe nicht. Ist diese aber nichts anderes als das staats­ seitig geltend gemachte Recht auf Achtung vor dem Gesetze, so kann die unterlassene Strafverfolgung nur als unterlassene Geltendmachung der Gesetze als ein Übel erscheinen. „Gesetz

ohne Strafe ist Glocke ohne Klöppel", sagt das deutsche Sprich­ wort — zum Teil unrichtig: denn selbst die Is^ss ünpsrisotas üben, und zwar deshalb, weil die meisten Menschen sei's aus Selbstsucht, sei's aus Rechtssinn ihnen nachleben wollen, eine sehr heilsame und häufig gerade die Wirkung aus, auf die es dem Staate ankommt. Aber allerdings, das Interesse des Staates an der Be­ folgung feiner Verbote und Gebote ist nicht gleich groß: die Autorität der Norm gegen Tötung beispielsweise muß soweit aufrechterhalten werden als nur irgend geht, weil jede Tötung die Rechtswelt aufs schwerste schädigt, während sich das Recht begnügen kann, den Kaufmann, der unerlaubterweise keine Handelsbücher führt, straflos sich selbst und seiner Unordnung zu überlassen. Grade die Strafe ist der Ausdruck und das Maß des Interesses, welches der Staat an der Befolgung der einzelnen Gesetze nimmt. Soweit seiner Ansicht nach die ruhige Hinnahme des Unrechts mit der Heiligkeit und Unverbrüchlichkeit des Gesetzes in unerträg­ lichem Widerspruche stehen, oder soweit dauernde Straflosigkeit die Autorität eines Gesetzes mehr abschwächen würde, als dieses ertragen kann, soweit ist für ihn die Straf Pflicht begründet. So ist der Anspruch der Norm auf ihre Befolgung Vor­ aussetzung des Delikts und zugleich Gegenstand der Verletzung durch dasselbe. Das Recht auf Strafe ist nichts als das durch die Unbotmäßigkeit des Delinquenten verwandelte Recht auf Botmäßigkeit gegenüber dem Gesetz. Das Strafrecht ist also die spezifische Rechtsfolge grade desDelikts.

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So läßt sich die Strafe definiren als das gegen den Delinquenten geltend gemachte Recht auf Be­ folgung der staatlichen Normen behufs notwendiger Bewährung der Autorität des jeweilen verletzten Gesetzes. Gegenüber dem Verbrecher rechtfertigt sie sich lediglich durch dessen Tat: weil er das Recht mißachtet hat, empfindet er dessen Macht am eigenen Leibe, und diese Macht kann ihm nur dadurch bewiesen werden, daß dasselbe Recht, welches ihn mit Gütern ausstattet und ihn in deren Besitz schützt, ihn nun dieser Güter und des ihnen gewährten Schutzes entkleidet. Man würde mich völlig mißverstehen, wenn man als meine Ansicht ausgäbe, die nötige Abschreckung verwandle das Strafrecht in eine Strafpflicht. Die Strafe soll nicht ab­ schrecken und kann es nicht: denn die meisten Verbrechen werden in der Hoffnung der Verheimlichung, also der Straf­ losigkeit, begangen. Vielmehr soll die Strafe die Vorstellung von der Heilig­ keit und Unverbrüchlichkeit der mit ihr ausgestatteten Pflichten erhalten und verstärken und so darauf hinwirken, daß sich die größtmögliche Anzahl von Menschen aus eigener besserer Einsicht dazu bestimme, jenen Pflichten konform zu leben, somit statt verbrecherische Pläne zu fassen sich vielmehr der Autorität der Gesetze zu beugen. Es wäre eine unzulässige Präsumtion, anzunehmen, daß die Strafe in jedem einzelnen Falle ihrer Verhängung dem durch das Verbrechen verletzten Gesetze so viel Stabilität zurückgäbe oder auch nur zurückgeben sollte, als ihm davon vielleicht durch das Verbrechen genommen worden ist, daß sie also Heilung wäre oder sein sollte. Aber richtig ist, daß wie die Verbrecher die Gesetze zu untergraben suchen, so die Strafe bemüht ist, sie in ihrer weithin herrschenden Kraft zu stätigen. So trägt die Strafe allerdings, wie Heinze sagt, ein Janushaupt. Das Strafrecht entspringt allein dem be­

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gangenen Verbrechen, die Strafpflicht zugleich der Rücksicht auf die gegenwärtige und künftige Autorität der Gesetze. Die Strafanwendung hat also ihren Rechtsgrund nicht allein im Delikt, sondern ist doppelt bedingt. Und dies ist der richtige Kern in den sog. Vereinigungstheorien. Eine der dringendsten Aufgaben der gegenwärtigen Strafrechtswissenschaft ist es aber, auf Grund des gesamten positiv-rechtlichen Materials zu untersuchen, aus welchen sachlichen Motiven der Staat das ihm aus Delikten erwachsene Strafrecht bald ignorirt, bald in eine Strafpflicht umwandelt. Erst wenn diese mühevolle Untersuchung, die kaum begonnen hat, einmal abgeschlossen ist und jene Gründe ins Bewußt­ sein erhoben hat, erst dann wird uns ein Urteil darüber zustehen, ob die Grenzlinie zwischen strafbarem und straf­ losem Unrecht so stark im Zickzack laufen muß, wie sie dies gegenwärtig tut. Bei dieser Untersuchung dürfte sich ergeben, daß die Strafgesetzgebung zu einem nicht geringen Teil unsystematische Gelegenheitsgesetzgebung ist^, daß sie infolgedessen schwer strafwürdige Delikte nicht selten unbeachtet, also straflos läßt, daß andrerseits die Opportunitätserwägungen für oder gegen die Strafbarkeit bestimmter Delikte, die den Ausschlag nach der einen oder der andern Seite gegeben haben, oft ungemein anfechtbar sind. Seltsam berührt den Kritiker eine unverkennbare Lust des Gesetzgebers, grade die erbärmlichsten Delikte mit Strafe, oft sogar mit ganz unverhältnismäßiger Strafe auszustatten!

XII. Darf man nun die Strafe als die spezifische Rechts­ folge des Delikts und den Zweck der Strafe als die Unter­ werfung des Sträflings unter die Rechtsmacht zur Aufrecht­ haltung der Autorität der verletzten Gesetze bezeichnen, so hat man damit eine sichere Position gewonnen, um den letzten Bestandteil des Strafproblems in Angriff zu nehmen: S.

darüber mein Lehrbuch des Strafrechts 1 bes. S. 20 ff.

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nämlich die Strafe abzuscheiden von der Nichtstrafe, und ihr Verhältnis zu Erscheinungen festzustellen, welche leicht als mit der Strafe verwandt, vielleicht gar als ihrem Gebiet zugehörig aufgefaßt werden. Auch in diesen Untersuchungen sind wir noch begriffen, doch glaube ich, daß bestimmte Re­ sultate — wenn auch vielleicht noch nicht voll anerkannt — doch mit der Zeit Anerkennung finden werden, und ich will versuchen, sie zu formuliren. I. In den verschiedensten Lebeusverhältnissen, besonders denen des öffentlichen Dienstes, aber auch in denen der Kirche, der Familie, bestimmter Vereine und Verbände, begegnet die sog. Disziplinarstrafe. Sie knüpft sich durchaus nicht lediglich an Delikte, sondern au Ordnungswidrigkeiten der verschiedensten Art an. In ihren leichtesten Formen hat sie nicht einmal die Schuld zur Voraussetzung. Ihr Zweck kann demnach auch nicht der der Genugtuung zur Aufrechterhaltung der Autorität der Gesetze sein: er ist vielmehr die Ordnungs­ mäßigkeit, Würdigkeit und Reinhaltung der Amts-, der Dienst­ oder Lebensführung. Sie ist also auch nur präven­ tiver Natur. Sie will zunächst den Disziplinirten, in­ direkt auch seine Genossen auf den rechten Weg weisen und auf ihm halten, durch ihr äußerstes Mittel aber, durch seine Ausstoßung, den Stand reinigen. Ihre Verhängung ist nicht ausschließlich Sache des Staates. Wird sie wegen eines Delikts verhängt, so schließt sie die Verbrechensstrafe grundsätzlich nicht aus, sondern konkurrirt mit ihr kumulativ. Gewiß bedarf diese Disziplinarstrafe noch eingehenderer Untersuchung; sie ist von der Strafe im Rechtssinne wesentlich verschieden, aber schon heute steht fest: sie ist auch aus ihr in keiner Weise abgeleitet, sondern ganz originär aus selbständigen Bedürfnissen erwachsen. Sie hieße weit richtiger Disziplinarmaßregel als Disziplinar­ strafe. Weil sie keine Strafe ist, sind auch die Gliedstaaten des

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Deutschen Reiches für ihre Disziplinarstrafgesetze nicht wie für ihre wirklichen Strafgesetze an die Strafarten gebunden, welche das Reich der Landesgesetzgebung überwiesen hat °. 2. Im heftigsten Kampfe befindet sich aber die heutige Wissenschaft über das Verhältnis der Strafe zu einer andern umfassenden Rechtsfolge: der Schadenersatz-, richtiger der Reparationsverbindlichkeit. Es ist dies die rechtliche Verpflichtung, einen dem Rechte nicht entsprechenden Zustand, dessen Aushebung möglich ist, durch den rechtgemäßen Zu­ stand oder durch ein gesetzlich anerkanntes Surrogat zu er­ setzen. Der Dieb, der Brandstifter, der Betrüger, sie werden nicht nur gestraft, sondern müssen auch dem Geschädigten sei's wiedergeben, was sie ihm genommen, sei's ersetzen, worum sie sein Vermögen verringert haben. Und gar mancher, der ein strafloses Unrecht begangen, beispielweise eine Spiegel­ scheibe fahrlässig eingestoßen hat, ist wenigstens den Ersatz schuldig. Nun weiß ja jedermann, daß die Ersatzverbindlichkeit sehr häufig da begründet ist, wo eine widerrechtliche Handlung gar nicht vorliegt: so wenn ich einem Pächter zu ersetzen verspreche, was ihm der Hagel an Saaten vernichtet hat. Daß dieser Schadenersatz mit der Strafe auch nicht einmal verwandt ist, wird allgemein zugegeben. Wenn nun aber der Geschädigte durch ein Delikt ge­ schädigt worden ist? Fungirt die Ersatzverbindlichkeit nicht wenigstens dann als Strafe für den Delinquenten? Daß diese an das Delikt geknüpfte Ersatzverbindlichkeit geschichtlich zu einem großen Teil aus der Privatstrafe heraus­ gewachsen ist und den Strafcharakter nur sehr allmählich ab­ geworfen hat, wenn sie ihn überhaupt abgeworfen hat, was ja bestritten ist, daß dann die Ersatzverbindlichkeit noch lange Zeit — abgesehen von ihrer vertragsmäßigen oder rein gesetz­ mäßigen Statuirung — als Deliktsfolge betrachtet wurde '' S- EG z. StrGB 8 6.

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und zum Teil noch als solche betrachtet wird, sei hier hervor­ gehoben. Aber mich interessirt an dieser Stelle das ganze Institut in seiner heutigen Ausgestaltung. Nun lassen sich bezüglich des Verhältnisses von Strafe und Ersatz für diese Fälle nur drei Ansichten aufstellen. Die Ersatzverbindlichkeit ist Deliktsfolge und zwar nur eine Art der Strafe, oder sie ist zwar eine Deliktsfolge, aber von der Rechtsfolge derStrafe wesentlich verschieden, oder aber sie ist keine Deliktsfolge, also auch keine Strafe. Die Frage hat außer einer großen dogmatischen eine nicht geringere praktische Bedeutung. Ist der Schadenersatz eine Art der Strafe, fo kann sich der Gesetzgeber in vielen Fällen, wo er eine Ersatzverbindlichkeit anerkennt, damit begnügen und braucht öffentliche Strafe nicht anzüdrohen. Freilich müßte dann der von dem Verurteilten nicht beizutreibende Schaden in andere Strafe verwandelt werden, analog wie bei den römischen Privatstrafen an Stelle der nicht beizutreibenden Buße eine Leibesstrafe wirklich trat. Ferner müßte bei allen Verbrechen, welche einen ersetzbaren Schaden angerichtet haben, die Leistung des Ersatzes durch den Schuldigen, möchte sie freiwillig oder unfreiwillig ge­ schehen, als Grund des Wegfalls oder jedenfalls der Milde­ rung der öffentlichen Strafe erscheinen. Die beiden Kriminalisten, welche m. E. sich neben einem philosophischen Schriftsteller, Laistner, das größte Verdienst um die Behandlung des Strafproblems in neuerer Zeit er­ worben haben, Merkel und Heinze, treten beide ein für die wesentliche Gleichheit von Strafe und Schadenersatz. Das Delikt hat dann nur eine Rechtsfolge: die Strafe, welche in zwei verschiedenen Gestalten, einer strengeren und einer milderen, zur Verwertung kommt. Auch die mildere Form, der von Merkel sog. Zivilzwang, bekämpft dann nicht das äußere Faktum des Schadens, sondern die Objektivirung eines der Herrschaft des Rechts widerstrebenden Willens.

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Diese Ansicht ist besonders bequem zur Erklärung der Tatsache, daß ein Teil der Vermögensbeschädigungen, obgleich er Ersatzverbindlichkeit zur Folge hat, wie eine ganze Anzahl von Vertragsverletzungen, mit Strafen in strengerem Sinne verschont werden; und sie ist auch gerade zu diesem Zweck aufgestellt worden. Sie bildet das Gegenstück zu der besonders von Welcker vertretenen Theorie, daß Strafe und Ersatz gleichartig seien, weil die Strafe sich als eine Art des Er­ satzes darstelle. Allein beide Ansichten sind unrichtig! Strafe und Ersatz sind in nicht weniger als allen wesentlichen Merkmalen ver­ schieden. Die Rechte auf Strafe und Ersatz haben immer ganz verschiedene Subjekte, ganz verschiedenen Inhalt, ganz ver­ schiedene Entstehungsgründe, und wenigstens häufig werden sie geltend gemacht gegen ganz verschiedene Personen. Sie haben verschiedene Subjekte. Ein Recht auf Strafe besitzt heute nur der Staat, ein Recht auf Ersatz kann diesem unmöglich als solchem, sondern nur als dem Ge­ schädigten zustehen. Wenn ein Dieb eine Ballgarderobe aus­ räumt, so hat der Staat gegen ihn nur eine Strafklage, während Ersatzklagen gegen den Stehler so viele entstanden sind, als Ballgäste jene Garderobe benutzt haben. Beide Rechte haben ganz verschiedenen In­ halt, obgleich sich Geldstrafe und Ersatz äußerlich sehr ähnlich sehen können. Das Recht auf Strafe geht dahin, einem ganz bestimmten Schuldigen, daß ich den weitesten Ausdruck ge­ brauche, einen Rechtsnachteil zuzufügen, und sie fügt ihn immer zu, während der Ersatz für den, der ihn leistet, nicht notwendig einen Vermögensnachteil bedeutet. Wer nur her­ ausgeben muß, was er durch eine rechtswidrige Handlung erlangte, hat delinquirt, ohne infolge des Ersatzes ärmer geworden zu sein als er vor dem Delikt gewesen ist. Die Strafe fall eine Wunde schlagen, der Schadenersatz eine andere heilen, womöglich ohne eine zweite zu verursachen.

in. Das Problem der Strafe in der heutigen Wissenschaft.

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Das Wesen des Schadenersatzes besteht in seiner Bestimmung, zu repariren. Wer aber Strafe leidet, soll ja grade Genug­ tuung geben für den von ihm verübten irreparablen Rechts­ bruch. Wer Strafe einklagt, verfolgt sein Recht zum Zwecke der Unrechtsverfolgung; wer Ersatz einklagt, verfolgt fein Recht um seiner selbst willen: die Strafklage ist selbstlos, die Ersatzklage egoistisch. Demgemäß bestehen auch für die Bemessung des Inhaltes beider Rechte ganz verschiedene Maßstäbe. Die Strafe bemißt sich nach der Schwere der Schuld und der Bedeutung des übertretenen Gesetzes, die beide an bezifferten Maßstäben nicht abzulesen sind. Dagegen ist der Schaden eine mathematisch bestimmte, wenn auch hie und da schwer zu berechnende Größe, und sie allein, und nicht die Verschuldung, die vielleicht dem Beklagten zur Last fällt, bestimmt die Größe der Ersatzforderung. Beide Rechte haben endlich ganz verschiedene Entstehungsgründe. Die Strafe nur das Delikt samt dem Bedürfnis des Staates, dagegen zu reagiren; die Ersatz­ verbindlichkeit meiner Überzeugung nach nie das Delikt, auch bei sog. Deliktsobligationen heutzutage nicht mehr. Nicht aus dem Konflikt des Schädigers mit der Norm, sondern aus dem Konflikt seiner Handlung mit dem Rechtskreis des Geschädigten entsteht dessen Anspruch. Nicht in der Schuld des Schädigers, sondern in seiner Verursachung des Schadens liegt die Quelle der Ersatzpflicht. Am deutlichsten zeigt sich das eben grade in der Ver­ schiedenheit der mit Strafe und Ersatzforderung in Anspruch zu nehmenden Personen. Den Unschuldigen strafen ist Justiz­ mord; die Strafe ist ausnahmslos eine höchst persönliche Leistung des Delinquenten: denn das Delikt kann nur seinen Urheber verpflichten. Dagegen nimmt das Recht gar keinen Anstoß daran, die Ersatzklage vielfach auch gegen völlig Schuldlose sowie gegen einen andern als den Schädiger zu

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Erste Abteilung.

Strafrecht.

gewähren, und wenn ein Dritter, um dem Schädiger zu helfen, dem Geschädigten Ersatz leistet, begeht jener keine verbotene Begünstigung, und kann dieser das Angebot nicht zurückweisen, um sich allein an den Schädiger zu halten. Wäre die Ersatzforderung an das Delikt geknüpft und strafartig, so müßte sie wegfällig werden sowol durch Wahn­ sinn des Schädigers als durch seinen Tod. Beides aber ist nicht der Fall. Auch der Wahnsinnige und der Erbe des Schädigers haften für Ersatz. So ist der Ersatz keine Strafe, und so kann er auch weder Strafausschließungs- noch Strafmilderungsgrund sein. Vielmehr bauen sich nebeneinander auf zwei sich ebenbürtige, gleich einheitliche, gleich wich­ tige, aber wesentlich voneinander verschiedene Rechtsfolgen: heilende Besserung und schneidige Strafe! 3. Der neueste Kampf gegen die Strafe, wie sie uns die Geschichte als scharf geschliffene Waffe wider das Unrecht über­ liefert hat, — geführt von einem Teile der Deterministen —, galt ihrer Verwandlung in eine sog. sicherndeMaßnahme gegen den die Rechtsordnung gefährdenden Menschen. Die repressive Natur der Strafe sollte in eine rein präventive verwandelt werden. Die relative Theorie sollte ihren end­ gültigen Triumph feiern. Dieser von ganz unhaltbaren Ausgangspunkten aus­ gegangene Versuch mußte jämmerlich scheitern. Er hat aber eine gute Folge gehabt: eine große Lücke des Rechtsschutzes für die Gesellschaft wurde in umfassenderem Maße als bisher bloßgelegt: ihr ungenügender Schutz gegen gefähr­ liche Menschen, und Vorschläge zur Ausfüllung der Lücke wurden gemacht. Es leuchtet ein, daß diese sichernden Maß­ nahmen grundsätzlich D eliktsfo l g en nie sind. Auch der schwerste Verbrecher läßt vielleicht nicht die geringste Gewalttat von seiner Seite mehr befürchten.

III. Das Problem der Strafe in der heutigen Wissenschaft.

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Die sog. sichernden Maßnahmen sind Charakter-, nicht Tatfolgen. Die Gefährlichkeit des Charakters kann sich durch verbrecherische Tat enthüllt haben, sie kann aber grade so gut auch ohne sie erkennbar gewesen sein, und der Schuldunfähige ist oft viel gefährlicher als der Schuldfähige. Diese Maßnahmen können äußerlich echten Strafmaß­ nahmen sehr ähnlich sehen, wie ja auch der Ersatz mit der Geldstrafe große äußere Ähnlichkeit aufweist. Aber ihr ganzerAusbau und ihr Zweck sind von denen der Strafe fundamental verschieden. Bei diesem Kampfe ist aber noch eine weitere Tatsache schärfer als bisher hervorgetreten, nämlich die, daß zeitweise das Strafrecht durch die Aufnahme gewisser angeblicher Strafmittel — man denke besonders an die Stellung unter Polizeiaufsicht und an die sog. korrektionelle Nachhaft — diesen Schutz der Gesellschaft gegen den gefährlichen Menschen zu einem Teil recht ungeschickt und natürlich sehr unzuläng­ lich zu leisten versucht hat. So sind infolge dieses Kampfes die beiden großen Auf­ gaben, die Bestrafung des Delinquenten und der Schutz der Gefellschaft vor dem ihr gefahr­ drohenden Menschen, klarer wie bisher in ihrer funda­ mentalen Verschiedenheit einander gegenübergetreten, und eine schärfere Scheidung der Strafmittel und der Sicherungsmittel ist angebahnt worden. Aber mit der Verbrechensverfolgung hat die sichernde Maßnahme nicht das Geringste zu schaffen. XIII. Ich stehe am Ende und ziehe den Schluß: es gibt nur ein straffälliges Unrecht, das Delikt, und nur eine Strafe! Nicht zwei Schwerter ließ — um mit dem Sachsenspiegel zu sprechen — Gott auf Erden, eines dem Papst und eines dem Kaiser: das Schwert ist allein des Kaisers, will sagen des Staates. Nach seinem Gutdünken entscheidet er, wo er strafen will und wie er strafen will. Niemand kann die Autorität seiner Entscheidung anfechten; formell ist die Kompetenz des Staates, Handlungen zu ver-

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Erste Abteilung.

Strafrecht.

bieten und Delikte zur Strafe zu ziehen, unbeschränkt. Aber grade die Fülle der Gewalt legt ihrem Inhaber eine schwere Verantwortung auf: es ist nicht gegen die Kompetenz, aber gegen den Beruf des Staates, Strafen zu verhängen, wo sie entbehrlich sind, oder die Strafen auch nur ein weniges über Gebühr zu verschärfen. Daß der Staat seinem Berufe nach dieser Richtung hin treu bleiben kann, hat die Wissenschaft zu ermöglichen. Es ist ein Vorzug der Jurisprudenz, daß selbst von den Gipfeln der Abstraktion der Weg leicht und rasch abwärts führt ins praktische Leben. Je mehr es ihr gelingt, die Grundgedanken des Rechts zu enthüllen, desto reichere und wichtigere Konsequenzen kann sie ziehen, damit das bunte Leben in seinen tausend Gestalten zweckmäßig geregelt werde. Es ist ein Vorzug der deutschen Strafrechtswissenschaft, daß ihre Früchte unserem ganzen Vaterlande zugute kommen, weil dieses im wesentlichen nur ein Strafrechtsgebiet dar­ stellt. Und so wird auch die weitere Forschung über das Problem der Strafe ihren Teil beitragen zur Erreichung des anzustrebenden Zieles, daß die Achtung vor dem Gesetze in Deutschland gewahrt bleibe, so weit es geht, ohne Strafe, so weit es zulässig, mittelst gelinder Strafe, so weit es aber nötig, mit der Schärfe des Schwertes: damit das Deutsche Reich, ebenso fern von einer Schwäche, die ihm nicht ansteht, als von einer Härte, deren es nicht bedarf, Rechtsstaat sei im edelsten Sinne des Wortes!

(Abgeschlossen 1. März 1915.)

IV.

Das bedingte Verbrechen.

Die Grundlage des Folgenden bildet ein Vortrag, gehalten am 29. Januar 1912 in der Juristischen Gesellschaft zu Leipzig, gedruckt im Gerichtssaal I^XXIII (1906) S. 1—26. Der Vortrag erscheint hier nicht unerheblich ergänzt und erweitert.

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Das bedingte Verbrechen'. Gar manchmal bei meiner wissenschaftlichen Arbeit hat sich mir der Eindruck aufgedrängt, daß meine Augen Eigen­ willigkeit und Eigensinn miteinander verbänden. Ohne daß ich es bewußt gewollt hatte, machten sie von selbst Halt vor einer Erscheinung, die bisher unbeachtet geblieben war, und stutzten nach dem ersten Male von selbst wieder vor Er­ scheinungen, die jener glichen, und zwar so lange, bis die Wahrnehmung die Schwelle des Bewußtseins überschritten hatte. Und diese Eigenheit behielten sie bei, bis ich mich entschloß, mir über die Erscheinung Rechenschaft zu geben. Zu gar mancher Untersuchung, die ich schließlich angestellt, bin ich durch sie allgemach gedrängt worden: die Wahr­ nehmung nahm die Vernunft behufs ihrer Deutung in ihren Dienst. * Nach meiner Abhandlung sind über das bedingte Verbrechen zwei Abhandlungen erschienen, beide Leipziger Dissertationen: E. Laue, Das bedingte Verbrechen im StrGB. für das Deutsche Reich v. 15. Mai 1871, Leipzig 1906 (ganz tüchtig, mehr dem Nachweis des unechten bedingten Ver­ brechens gewidmet), und H. Sommer, Das bedingte Verbrechen. Eine Studie auf dem Gebiete des deutschen Strafrechts, Leipzig 1908, eine feine Arbeit, die den frühen Tod des so tüchtigen Verfassers (er starb 30 jährig am 6. Oktober 1913) auch wissenschaftlich bedauernswert erscheinen läßt. — Einen Abschnitt über das bedingte Verbrechen soll enthalten Kozymuski, Österreich. Strafrecht, 3. Aufl. 1911. — Zum bedingten Verbrechen vgl. mein Lehrbuch des besonderen Teils I S. 142. 149. 419. 422. 426. 429. 430. 435; II S. 67. 69. 103 N. 1. 191. 208. 451. 468. 534. 647. 659. 682. 689. 718. 850. 859. 863. 708. — Interessant Beling, Z.f.StrRW. XXVIII (1908) S. 604ff.: „Bedingte Tatbegehung". Vgl. desselben „Grenzlinien zwischen Recht und Unrecht in der Ausübung der Strafrechtspflege", 1913, S. 36 ff. — Sehr übel das Gerede von Baumgarten, Verbrechensaufbau S. 52. Btnding, Strafrecktliche und strafprozessuale Abhandlungen.

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Strafrecht.

Und was ich im folgenden besprechen möchte, das ist eine solche Wahrnehmung verbunden mit einer wissenschaftlichen Erklärung des Wahrgenommenen. I . Diesen Gegenstand bitte ich als bedingtes Ver­ brechen bezeichnen zu dürfen Der Einfachheit halber schlage ich vor: die Bedingung zunächst nur als eine auf­ schiebende zu denken. Ob es auch resolutiv bedingte Verbrechen gibt, mag am Schluffe kurz untersucht werden. Da die wesentliche Rechtswirkung des Verbrechens die Auslösung des staatlichen Strafanspruchs ist, hat man unter einem bedingten Verbrechen eine rechtswidrige Hand­ lung zu verstehen, deren Strafbarkeit erst von einem künftigen, nochungewissen, außerhalbder deliktischen Handlung liegenden Ereignisse ab­ hängig Es handelt sich um bedingte Entstehung des staat2 Mein Vortrag hat seinerzeit lebhaften Widerspruch, aber andrerseits auch Anklang gefunden. Einen interessanten Einwand, der mir damals gegen die Bezeichnung „Bedingtes Verbrechen" gemacht wurde, teile ich mit Genehmigung seines Urhebers gerne mit. Reichsgerichtsrat (später Senats­ präsident) vr. Kaufmann schrieb mir unter dem 30. Januar 1902: „Sollte es nicht sachgemäßer sein, von bedingt strafbaren und bedingt straf­ freien Handlungen zu reden? Damit würde auch das leidige ,suspensiv* und ,resolutiv* in Wegfall kommen und für die theoretische Konstruktion folgende Begriffsreihe gegeben sein: Handlung, Strafbare Handlung, Bedingt strafbare Handlung, Bedingt straffreie Handlung, Bedingt qualifizirte Straftat." Der Einwand ist sehr beachtlich, die Vorschläge sind gut. Wenn ich den Titel dennoch einstweilen festhalte, so tue ich es nur, weil ich auf die Gefahr der Ungenauigkeit hin die kurze Bezeichnung für die ganze Gruppe der in Betracht kommenden Erscheinungen sehr schwer zu entbehren vermag. Die drei letzterwähnten Handlungsgruppen Kaufmanns sind Unterarten des von mir sog. bedingten Verbrechens: aber ganz erschöpfen sie seinen Kreis nicht. Denn es gibt nicht nur bedingte Strafbarkeit, sondern auch bedingte Rechtswidrigkeit. Und so gebe ich ohne weiteres zu, daß die Flagge die Ware nicht ganz deckt, möchte sie aber trotz­ dem nicht ganz streichen. 2 So auch Laue a. a. O. S. 12. — Wach, V. D. A. T. VI S. 54

IV. Das bedingte Verbrechen.

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lichen Strafrechtes, genauer um die bedingte Entstehung des Strafrechtsverhältnisses zwischen dem Staat und dem Schul­ digen. Nur eine Modifikation dieser Erscheinung stellt es dar, wenn eine schon bei ihrer Begehung straf­ bare Handlung vorliegt, eine künftige ungewisfe Tatsache aber die Wirkung der Strafschärfung zu üben ver­ mag. Man kann dann von bedingten qualifizirten Verbrechen redend II. Die Erscheinung klar zu stellen, bedarf zunächst der schärferen Begrenzung, und zwar nach zwei Seiten. I. Sorgsame Analyse des Tatbestandes der bejahenden Strafgesetze, d. h. des ersten Teiles der Strafe drohenden Ge­ setze zeigt, daß zwar in der großen Mehrzahl der Fälle die Entstehung des staatlichen Strafrechts durch die Begehung eines bestimmten Deliktes allein bewirkt wird — volles Kausalverhältnis von Delikt und Strafrecht—, daß aber auch manchmal neben dem Delikte vom Gesetze das Vorhandensein noch anderweiter Bedingungen zur Be­ gründung des Strafrechtes verlangt wird. Soll ein vom In­ länder im Auslande begangenes gewöhnliches Verbrechen oder Vergehen im Jnlande strafbar werden, so muß auch das Ge­ setz des Begangenschaftsortes es mit der Strafe bedrohen (G.B. 8 4 Nr. 3); soll der Deutsche für feindliche Handlungen gegen befreundete Staaten zur Rechenschaft gezogen werden können, so reicht sein Delikt, etwa die Beleidigung des aus­ wärtigen Monarchen, zur Strafbegründung nicht aus, falls nicht dem Deutschen Reiche in dem Staate, der selbst oder dessen Oberhaupt angegriffen wird, die Gegenseitig­ keit verbürgt ist (GB. ß 102 u. 103). N. 2 zitirt Sommers Definition falsch. Dieser definirt S. 4 das bedingte Verbrechen als rechtswidrige Handlung, deren Strafbarkeit von einem künftigen, noch ungewissen Ereignisse (nicht Erfolg, wie Wach ihm imputirt) abhängt. Auch Sommer denkt das Ereignis als außerhalb der deliktischen Handlung liegend, wie auch ich es stets angenommen habe. * Sommer S. 23 N. 2 irrt, wenn er sagt, daß ich diesen Ausdruck nicht gebraucht hätte. S. Gerichtssaal LVIII S. 3. 7*

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Strafrecht.

Diese Fälle sind von mir seinerzeit die der doppelt bedingten Strafdrohungen genannt mordend Ihnen ist charakteristisch, daß das Delikt allein das Strafrecht aus­ zulösen nicht vermag, daß aber die zweite Bedingung, die das Gesetz neben dem Delikt fordert, zur Zeit von dessen Be­ gehung vorhanden sein muß: ein künftiges ungewisses Ereignis spielt hier keine Rolle. Deshalb scheiden diese doppelt bedingten Strafdrohungen für die folgende Betrachtung vollständig aus. Natürlich noch weit entschiedener die Fälle der doppelt be­ dingten Strafklagrechte: wie die sogenannten Antrags­ und Ermächtigungsverbrechen °. 2. Wer die Ursache eines verbrecherischen Erfolges setzen will, hängt tausendfältig von dem Ablauf der Kausalitäten ab, die er angestoßen hat, einerlei ob er es beabsichtigt oder nicht. Ob der Vergiftete an dem Gift sterben, ob die brennende Zündschnur den Zündstoff in Brand setzen, ob die Lüge den zu Betrügenden täuschen wird, das sind Fragen, welche die deliktische Handlung an die Zukunft stellt, und von deren un­ sicherer Beantwortung ihre Strafbarkeit zum Teile, vielleicht auch ganz abhängt. Bleibt der Vollendungserfolg aus, fo kann keinesfalls die Strafe der Vollendung Platz greifen, und handelt es sich um ein Vergehen mit leider straflosem Versuche, so kommt der Strafanspruch gar nicht zur Entstehung. Die Entscheidung hängt hier in der Tat von künftigen ungewissen Tatsachen ab: aber diese Tatsachen sind un­ lösbar verwebt in die deliktische Handlung, deren Bestandteilesiebilden. Wissenschaftlich vollständig über­ wunden ist die seltsame Jdentifizirung von Handlung im ° Normen I- S. 232 ff. ° Wer Antrag und Ermächtigung als Bedingungen für die Entstehung des Strafanspruchs faßt, müßte in den sog. Antrags- und Ermächtigungs­ verbrechen natürlich bedingte Verbrechen erkennen.

IV. Das bedingte Verbrechen.

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Rechtssinne mit einer Körperbewegung: der Verlauf der in zurechenbarer Weise angestoßenen Kausali­ täten, insbesondere auch der Erfolg gehört zur Handlung^. Mit dem eigentümlich bedingten Verlaufe derselben bei der normalen Verbrechensbegehung haben wir es hier auch nicht zu tun. Ich bitte, einstweilen einmal die suspensive Bedingung, bei deren Eintritt ein Delikt straf­ bar wird, als ein Ereignis jenseits und nicht innerhalb der deliktischen Handlung zu denken. Anomale Begehungsweisen der Verbrechen werden uns freilich noch beschäftigen müssen. I II. Alsbald erheben sich Zweifel bezüglich einer Gruppe von Strafdrohungen, die ihrem Wortlaute nach unmißversteh­ bar auf bedingte Verbrecher gemünzt sind. Ich habe auf sie schon im Handbuche hingewiesen und dort gesagt, es fände sich im Strafgesetzbuche öfter, daß Ereignisse als das Straf­ recht mitbegründend genannt würden, welche nach Lage der Sache mögliche, ja nicht unwahrscheinlich wirkliche Folgen der verbrecherischen Handlung wären, ohne daß jedoch das Gesetz die meist sehr schwer beweisbare Ursächlichkeit forderte. Im Gesetzbuch treten uns folgende Fälle entgegen: 1. Nach Z 87, 2 wird der Deutsche, der sich mit einer ausländischen Regirung einläßt, um sie zum Kriege gegen das Deutsche Reich zu veranlassen .... mit lebenslänglichem Zuchthaus bestraft, „wenn der Krieg ausgebrochen ist". 2. Der Z 139 bestraft die unterlassene Anzeige bevor­ stehender Verbrechen nur: „wenn das Verbrechen oder ein strafbarer Versuch desselben begangen wurde"". ' " d -°

S. meine Normen II 2. Aufl. S. 83 ff. Handbuch I S. 590. S. dazu mein Lehrbuch des besonderen Teils II S. 467. Lehrbuch II S. 682/3,

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Erste Abteilung.

Strafrecht.

3. Der ß 154, 2 bedroht den Meineid zn Ungunsten des Angeschuldigten mit geschärfter Strafe, „wenn der An­ geklagte zu Tod, Zuchthaus oder einer anderen mehr als 5 Jahre betragenden Freiheitsstrafe verurteilt" worden ist". 4. Absichtliche Anreizung zum Zweikampf bedroht § 210 nur mit Strafe, „falls der Zweikampf stattgefunden hat"". Endlich ist 5. Nach ß 227 die Teilnahme am Raufhandel nur dann strafbar, wenn „durch den Handel der Tod eines Menschen oder eine schwere Körperverletzung ver­ ursacht wurde"", Gewiß können diese Erfolge, der Ausbruch des Krieges, die Nichthinderung des Verbrechens ohne ursächliche Beziehung zu der deliktischen Handlung eingetreten sein: aber auch das Umgekehrte ist möglich. Ja, ich neige der Ansicht zu, daß der Gesetzgeber hier einen Kausal- oder mindestens einen Be­ dingungszusammenhang zwischen dem delikti­ schen Verhalten und dem hervorgehobenen Er­ folge mit Ausschluß des Gegenbeweises präsumirt, diese Erfolge als Bestandteile der deliktischen Hand­ lung in sie einbezieht, also nicht an Bedingtheit der Ver­ brechen denkt. Aber der energischen konditionalen Fassung der Tatbestände im Gesetze entspricht doch wol allein, hier nach der lax lata bedingte Verbrechen anzunehmen. Doch sei gern zugegeben, daß auch die gegenteilige Auffassung möglich ist: wir bewegen uns hier auf einem GrenzgebieteJeden­ falls entsteht das Strafrecht erst mit dem Erfolge und die Verjährung der Strafklage beginnt nicht vorher zu laufen". " Lehrbuch II S. 158. »2 Lehrbuch I S. 73/4. » Lehrbuch I S. 76. " Ich war anfangs unsicher und habe ursprünglich hier keine echten bedingten Verbrechen annehrnen wollen. Handbuch I S. 838.

I V. Das bedingte Verbrechen.

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IV . Treten wir jetzt hinüber auf das Gebiet des zweifellos echten bedingten Verbrechens! Ich mache zunächst aufmerksam auf zwei Gruppen von Erscheinungen, die darin übereinstimmen, daß die Bedingung, von deren Eintritt die Strafbarkeit abhängt, eine persön­ liche Eigenschaft des Delinquenten ist, die ihm nach Abschluß seiner Handlung anwächst (stehe unten «üb H.. und L., beachte auch das sub 0. Gesagte). Wenn das Gesetz seine Strafdrohung auf Personen mit bestimmten Qualitäten berechnet, denkt es dabei in der Regel, daß diese Personen bei ihrer deliktischen Handlung die ver­ langten Eigenschaften schon besitzen müssen. Der Beamte muß, um ein Amtsverbrechen verüben zu können, Beamter schon sein, wenn er delinquirt; bestraft das Gesetz ausdrücklich und allein die Schwangere, die sich die Frucht abtreibt, so muß sie eben, um als Subjekt dieses Verbrechen verüben zu können, zur Zeit der Tat schwanger schon sein. Aber dem ist nicht immer so: Zunächst nicht bei dem Teilnehmer an fremdem Verbrechen. 1. Der Gehilfe muß nicht, aber kann sehr wol seine Tätigkeit abgeschlossen haben, ehe der Täter handelnd wird! Vielleicht jahrelang vor Begehung des Verbrechens! Es ist bei dieser vorzeitigen Beihilfe — Vorhilfe — nicht einmal nötig, daß jemand den Täterwillen schon hat: sie kann sozu­ sagen in blanoo geleistet werden'°. Es ist auch schlechter­ dings nicht nötig, daß der Gehilfe den „Teilnehmerwillen", richtiger den Wunsch gehabt haben muß, es solle — richtiger möge — das Verbrechen begangen werden, obgleich das so oft behauptet wird. 2. Der Anstifter im Gegensatze zum Gehilfen muß seine Anstiftungstätigkeit abgeschlossen haben, ehe ihm ein Täter erstehen kann. Diese Tätigkeit hat nun allerdings zum Zwecke, für den Anstifter den Täter zu schaffen. S. RG I vom 26. März 1896 (Entsch. XXVIII S. 287).

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Strafrecht.

Das strafrechtliche Schicksal des Gehilfen wie des Anstifters hängt dann vollständig ab vom freien Verhalten einer dritten Person. Bleibt der Täter aus, so bleiben sie selbst straflos. Bricht die Täterhandlung im Versuchsstadium ab, so sind sie nur Anstifter und Gehilfen zum versuchten Verbrechen. Führt der Täter das beabsichtigte Vergehen in Gestalt einer Übertretung aus, so wird zwar der Anstifter strafbar, der Gehilfe aber bleibt straflos. Vollbringt der Täter etwas wesentlich anderes als Anstifter und Gehilfe gewollt haben, so defizirt die Bedingung. Entbehrt der Ausführende der Handlungsfähigkeit — ist er vielleicht latent wahnsinnig —, so wird der scheinbare Anstifter zum Täter oder zum „Ur­ heber", der Gehilfe aber geht straflos aus. Nun sind wir allerdings so gewöhnt Beihilfe und An­ stiftung als Anhängsel des Täterverbrechens zu betrachten, daß es uns nicht ganz leicht wird, dieses sozusagen zur Be­ dingung für die Strafbarkeit jener Teilnahmehandlungen herabzuwürdigen. Wach weist auch diesen Gedanken weit von sich". Prüft man aber die Genesis des Strafbarwerdens der Anstifter- und der Gehilfentätigkeit, so wird diese doch allein bedingt durch den Beginn der Täterhandlung. Erst mit dem Täterverbrechen entsteht auch ein Straf­ klagerecht gegen Anstifter und Gehilfen. Also nicht vom Tage der Beihilfehandlung und vom Tage der gelungenen An­ stiftung, sondern vom Tage des Abbruches des Täter­ verbrechens beginnt die Klage gegen sie zu verjähren. Cs erhebt sich hierbei die intrikate Frage, wie die ein­ tretende Bedingung aufzufassen ist, insbesondere ob die Täter" Vergleich. Darstell. Allgem. T. VI S. 54 N. 2. Doppelt unrichtig ist der Grund: „Soweit Teilnahme, soweit Gemeinsamkeit der Absicht, daß das Verbrechen begangen werde." Der Täter braucht vom Gehilfen und seiner Tat gar nichts zu wissen und der Gehilfe den Täter nicht zu kennen. Und wenn sie einander kennen, braucht eine Gemeinsamkeit der Absicht nicht zu bestehen.

IV. Das bedingte Verbrechen.

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Handlung ein inländisches Strafrecht erzeugen muß, wenn Anstiftung und Beihilfe nach deutschem Rechte als straf­ bar erscheinen sollen? Ein in Deutschland wohnender Fran­ zose hat von hier aus zu einem von einem anderen Fran­ zosen in Bordeaux verübten Morde angestiftet. Wider den Täter steht dann nur Frankreich ein Strafanspruch zu. Aber nicht die Entstehung eines Strafanspruchs gegen den Täter ist die Bedingung, deren Eintritt die Strafbarkeit des An­ stifters und des Gehilfen bedeutet, sonderndieBegehung der nach unserer Auffassung strafbaren Handlung, an der sich der im Inlands lebende Ausländer beteiligt^. Ist dies richtig, dann müssen wir allerdings auch die im Jnlande tätig gewordenen Anstifter und Gehilfen bestrafen, welche zu einer nach unserer Auffassung strafbaren, aber am ausländischen Begehungsort straflosen Handlung angestiftet oder beigeholfen haben. Sonst wären wir ja auch genötigt, von zwei Personen, die beide in Deutschland zum Duell mit Erfolg angereizt haben, die eine zu strafen, die andere aber straflos zu lassen, je nachdem das Duell bei uns oder in einem Lande, das den Zweikampf nicht bestraft, zum Austrage gekommen wäre.

L. Aber nicht nur dadurch, daß jemand in ein fremdes Verbrechen hineingezogen wird, durch sozusagen nach­ trägliche Verwandlung aus einem Nichtteil­ nehmer in einen Teilnehmer, sondern auch durch andere Umwandlungen nach der Tat kann jemand der Strafe verfallen. Besonderes Interesse beanspruchen in dieser Richtung die Strafsatzungen über den Bankrott und die des Depot­ gesetzes vom 5. Juli 1896. I. Das allein der Strafe verfallende Subjekt des Bank­ rotts ist ein Schuldner, der seine Zahlungen ein­ gestellt hat, oder über dessen Vermögen Konkurs Vgl. Handbuch I S. 424. 425. S. auch Lehrbuch I 2. Aufl. S. 426 ff

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Strafrecht.

eröffnet ist. Bevor diese Wandlung in der Rechtsstellung des Schuldners sich vollzogen hat, ist ein Konkursverbrechen ebenso in der Form des Versuches wie der Vollendung un­ denkbar Es darf als anerkannte Wahrheit gelten, daß diese Zahlungseinstellung eine deliktische Handlung ebensowenig zu sein braucht, als die Folge der ihr zeitlich vielleicht vor­ aufgegangenen Bankrotthandlungen als Ursache. Der Hand­ lung des Schuldners, der Zahlungseinstellung, steht ja die Handlung des Gerichtes, die Konkurseröffnung, in der kriminellen Wirkung auch vollständig gleich. Diese Wirkung reicht nun ungemein weit. Ich darf mich vielleicht bei ihrer Darlegung der Kürze wegen auf den be­ trügerischen Bankrott beschränken (K.O. 8 239). Der Schuldner muß in der Absicht die Gläubigerschaft zu benachteiligen, 1. entweder Vermögensstücke verheimlicht oder beiseite geschafft haben, oder 2. Schulden oder Rechts­ geschäfte anerkannt oder aufgestellt haben, die ganz oder teil­ weise erdichtet sind, oder 3. Handelsbücher zu führen unter­ lassen haben, deren Führung ihm gesetzlich oblag, oder 4. die Handelsbücher, die er geführt, vernichtet oder verheimlicht oder so geführt oder verändert haben, daß sie keine Über­ sicht des Vermögenszustandes mehr gewähren. — Diese Handlungen will ich die Bankrotthandlungen nennen. Außerordentlich häufig hat der Schuldner eine ganze An­ zahl dieser Handlungen vorgenommen, ehe er im Abgrund der Zahlungsunfähigkeit oder des Konkurses versinkt. Alle diese Handlungen tragen den Delikts­ charakter an sich. In einer 1898 erschienenen Abhandlung findet sich zwar der Satz, wo keine Strafbarkeit, ist keine Rechtswidrigkeit 2°; So auch Wach, V- D. B. T. VIII S. 67. Ich kann das materiell ja zweifellos gerechte RG II v. 26. Okt. 1906 ^"s, Originell ist 8 35 des GE. Er will der „einhellig miß­ billigten" Praxis des Reichsgerichts entgegentreten, wegen Anstiftung zu strafen den Gefangenen, der einen Andern be­ stimmt, ihn zu befreien oder seine Entweichung zu fördern, ebenso den Gläubiger, der den Gemeinschuldner bestimmt, ihn vor den übrigen Gläubigern zu begünstigen, endlich den, der den Kuppler bestimmt, ihm selbst Kuppeleidienste zu leisten 193 Der GE. bedroht die psychologischen Vorbereitungshandlungen am „Verbrechen" überhaupt in sehr großem Umfang: so jede Komplott­ stiftung zu einem „Verbrechen" (s. H 181; vgl. H 115, 1) und jede Banden st iftung zur Begehung von solchen (I 181). S. Motive S. 55.

VII. Die drei Grundformen des verbrecherischen Subjekts.

Zgl

Insoweit ist der Paragraph durchaus zu billigen. Aber was er will, bringt er ganz ungenügend zum Ausdruck. Er sagt, das Gesetz bestimme, jene Personen sollten straflos bleiben, wenn sie sich als Gehilfen beteiligten; deshalb müßten sie auch als Anstifter straflos bleiben. Zunächst ist der Schluß von dem minus auf das maius logisch ungerechtfertigt. Dann kann ich von dieser gesetzlich erklärten Unfähigkeit zur Beihilfe gar nichts finden. Der Gefangene, der zusammen mit seinem Wärter sich befreit, begeht das Delikt der Selbst­ befreiung als Täter, und soll doch straflos bleiben. Es kommt hier ein großes Auslegungsprinzip in Betracht, welches für alle Fälle gilt, worin der verbrecherische Tat­ bestand ein Handeln von Person zu Person darstellt, Strafe aber nur Einer dieser Personen gedroht wird. Dann bleibt die Andere, auch wenn sie als Mittäterin, Urheberin, Gehilfin gedacht werden könnte, straflos So ist ß 35 als Opposition gegen das RG. verdienstlich, inhaltlich aber formell und materiell ungenügend "°. 0. Beihilfe. Der Vorschlag des Entwurfes über die Regelung der Bei­ hilfe ist so vollständig mißlungen, und was der Entwurf unter der „Beteiligung" am fremden Verbrechen versteht, bleibt so dunkel "7, daß sich die Kritik erübrigt. Das weitaus wichtigste Gebiet der Beihilfe ist ja durch Z 31 zur „Auchtäterschaft" geschlagen: es bleibt wesentlich die Beihilfe als Vorbereitungs105 S. mein Lehrbuch I S. 442, bezüglich KO. 8 241. io« Zur Materie Urheberschaft im GE. bemerke ich noch: 1. die intellektuelle Urkundenfälschung begegnet im § 211; 2. die, Verleitung zum Falscheid ist, offenbar weil durch Z 32 ge­ deckt, weggelassen; 3. die öffentliche Aufforderung zum Hochverrat, zur Auflehnung gegen Gesetze, Verordnungen oder obrigkeitliche Anordnungen, zu „Verbrechen und Vergehen", zur Aufbringung von Geldstrafen, die Auf­ forderung an einen Soldaten zur Verletzung einer Dienstpflicht, die öffentliche Aufreizung von Bevölkerungsklassen zu Gewalttätigkeiten gegeneinander und die Aufreizung zum Zweikampf sind in den Z8 115,2. 142. 153. 178. 179. 186 u. 264 unter Strafe gezogen. 107 Trotz der Ausführung der Motive S. 54.

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Handlung oder als Unterstützung der Vorbereitungshandlung, und doch soll die Versuchsstrafe den Gehilfen auch fernerhin treffen. Die Bestimmung über den freiwilligen Rücktritt des Gehilfen (ß 33, 2) ist ungenügend. II. Relatives Strafmaß der Teilnehmer. GE. § 34 kann sich nicht entschließen, die Satzung des GB.s ß 50 auch auf die sachlichen Schärfungs-, Milderungs- und Strafausschließungsgründe auszudehnen und bleibt so auf halbem Wege stehen"». III. So steht, was die M 31—35 des GE. wirklich sagen, nicht auf der Höhe der guten Gedanken, welche die Verfasser der Regelung der Materie zugrunde legen wollten. Der Ent­ wurf ist ja in sehr kurzer Zeit ausgearbeitet, und dies macht sich nicht nur an dieser Stelle fühlbar. Trotzdem hat er sich ein großes Verdienst erworben.

8 20. 3. Der Entwurf zu einem dentschen Strafgesetzbuch nach den Beschlüssen der Strafrechtskommission, Berlin 1913. I. Diesem seit zwei Jahren fertigen Entwurf gegenüber ist der Mann der Wissenschaft in verlegenster Stellung. Über ihn wacht das Reichs-Justizamt wie der Drachen über

dem Goldschatz der Sage, damit ja kein unberufenes, vielleicht auch kein berufenes Auge ihn zu sehen bekommt. Ein er­ neutes Ersuchen meinerseits, mir den Entwurf für wissen­ schaftliche Zwecke zugänglich zu machen, wurde durch Schreiben vom 4. Mai 1915 abgelehnt. Möchte wenigstens der Goldgehalt des Entwurfs der Mühe des grimmen Wächters wert fein! So bin ich auf die fünf Viertelseiten angewiesen, welche Reichsgerichtsrat Dr. Ebermeyer, ein Mitverfasser des Ent­ wurfes, offenbar mit höherer Genehmigung im Jahre 1914 darüber geschrieben hat 2°". "° S. Motive S. 55. los Die Ausarbeitung der Motive hat der Krieg bisher gehindert. 200 „Der Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuches" S. 22—23.

VII. Die drei Grundformen des verbrecherischen Subjekts.

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Daß die große Materie in dem Entwurf in wahrhaft fortschrittlichem Geiste glücklich behandelt worden wäre, kann ich nicht finden. Ich glaube, auf Schritt und Tritt Kom­ promissen zu begegnen — und zwar Kompromissen zwischen besserer und schlechterer Einsicht! Aber der gute Wille des Fortschreitens war zweifellos vorhanden, und einzelne Fort­ schritte sind auch unleugbar gemacht! Der größte besteht meiner Schätzung nach darin, daß die Setzung des objektiven Tatbestandes bei der Regelung der Materie Berücksichtigung gefunden hat. Die Mittäterschaft soll Mittäterschaft, die Anstiftung Anstiftung und die Bei­ hilfe Beihilfe bleiben, auch wenn der Mittäter, der An­ gestiftete und der Unterstützte schuldlos gehandelt haben. Das ist ein großer Fortschritt! Es fehlt aber auch nicht an unbedingt notwendigen, jedoch unterbliebenen Fortschritten, ja sogar nicht an bedauerlichen Rückschritten! Ein ganz außerordentlicher Mangel an Fortschritt be­ steht darin, daß die ganze Materie durch das ewige Auf­ tauchen des Schuldmomentes, wo es gar nicht hingehört, auch hier wieder gründlich verdorben wird. Der alte konser­ vative Schlendrian zieht so auch wieder in den Entwurf ein — freilich doch nicht ganz unbestritten —, und so schreitet der Entwurf von einem Widerspruch zum andern. Das ist bezüglich dieses Gegen­ standes seine Signatur. II. Sehe ich recht, so bestimmt der Entwurf die Begriffe des Täters, des mittelbaren Täters, des Mit­ täters, des Anstifters, des Gehilfen. Dann muß noch eine höchst seltsame Bestimmung über „fahrlässiges Zusammenwirken" Aufnahme gefunden haben. Der „Täter", „der eine strafbare Handlung selbst begeht", steht im Gegensatz zum mittelbaren Täter und zum Mittäter: er ist also der eigenhändige Allein­ täter. Terminologisch wirkt dies verkehrt: denn der mittelbare

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Erste Abteilung.

Strafrecht.

und der Mittäter sind doch begrifflich auch nichts als Täter. Somit fehlt die brauchbare Täterdefinition. L. Verwundersam tritt der mittelbare Täter auf den Plan. Durchaus verdienstlich will der Entwurf denen, welche die Eigenhändigkeit bei der Täterschaft überschätzen, die uneigenhändige Täterschaft vor Augen stellen 201. Wie das aber geschieht, ist verfehlt. Nach dem Entwurf ist mittelbarer Täter, wer vor­ sätzlich veranlaßt, daß die Tat durch einen Andern zur Ausführung gelangt, der nicht selbst die strafbare Handlung mit dem zum Tatbestände erforderlichen Vorsatz^ begeht, oder der wegen fehlender Zurechnungsfähigkeit, jugendlichen Alters oder wegen Taubstummheit nicht schuld­ haft handelt. Kürzer gefaßt: durch einen Andern, der den Tatbestand fahrlässig oder schuldlos setzt. Dieser Vorschlag ist unlogisch, unvollständig, an einer Stelle höchst bedenklich, auch im Ganzen sehr schwerfällig ge­ faßt; er bringt die ganze Materie in große Unordnung, und die gegebene Definition erweist sich zum Schluß als ganz unnötig gegeben. Er ist 1. unlogisch. Dem Entwürfe ist Täter nur der schuldhafte Täter. Nun fordert eine mittelbare Täterschaft die unmittel­ bare zur unentbehrlichen Ergänzung. Die echte mittelbare Täterschaft — das heißt Täterschaft durch Täter­ schaft im Sinne des Entwurfs — steckt nicht voll­ ständig, aber zum großen Teil in der Anstiftung des Entwurfs. Die Meinung des Entwurfs geht aber offenbar dahin, daß mittelbare Täterschaft nicht Täterschaft mittels Täterschaft sei. Wenn ich jedoch „vorsätzlich ver­ anlasse", daß ein Anderer fahrlässig Brand stiftet, fo bin ich doch nach dem Entwürfe vorsätzlicher mittelbarer Täter, der sei Diesem verdienstlichen Bestreben widerstreitet freilich gleich die Begriffsbestimmung des Täters. 20- zgie schwerfällig!

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Mittelsmann aber ist fahrlässiger Selbsttäter. Da haben wir also mittelbare Täterschaft durch Täter­ schaft. — Der Vorschlag ist 2. ganz unvollständig. Gibt es etwa keine mittel­ bare fahrlässige Täterschaft? Wenn zwei 17 jährige Lehr­ burschen eine nichtkrepirte Granate finden, der eine nun den andern „veranlaßt", sie zum Schrecken des Meisters diesem durchs Fenster zu werfen — im Vertrauen, daß die anläßlich des Schusses nicht geplatzte auch durch den Wurf nicht platzen wird —, und wenn nun durch den Wurf des einen die furcht­ bare Katastrophe erfolgt, während beide die Gefährlichkeit ihrer Handlungsweise hätten erkennen können und müssen — was ist denn der Veranlasser in Wahrheit anders als fahrlässiger mittelbarer Täter? Nach dem Entwurf ist er aber weder Täter, noch mittelbarer Täter, noch Mittäter, noch Anstifter. Soll er am Ende straflos ausgehen? Und wie den verantwortlich machen, der einen Andern zu einer Handlungsweise bestimmt, deren Verbrecherischkeit der Bestimmende hätte einsehen müssen, aber nicht eingesehen hat, während der Mittelsmann sie klar er­ kannt hat? — Der Vorschlag ist 3. in den Worten: „wer vorsätzlich veranlaßt" be­ denklich weit gefaßt. Der analoge Paragraph über die An­ stiftung sagt richtig: wer den Andern bestimmt hat. Das sollte auch hier stehen. Das vorsätzliche „Anlaßgeben" ist viel weniger als das Bestimmen zur Benutzung des gegebenen Anlasses. Die Schwerfälligkeit der Fassung ist augenfällig. — Der Vorschlag 4. verwirrt die Materie. Die Zersprengung der mittelbaren Täterschaft ist schon oben ond 1 hervorgehoben. Er verwirrt aber auch den Täterbegriff. Wenn ein Privat­ mann den geisteskranken Staatsanwalt, dessen im übrigen unbekannte Krankheit er aus seinem Umgänge mit ihm erkannt hat, zur Erhebung der falschen öffentlichen Klage bestimmt hat, wird er doch nicht Täter der öffentlichen Falsch­

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Strafrecht.

klage. Als solchen aber, nicht als Anstifter, bezeichnet ihn der Entwurf. Es ist eben ohne den Urheberbegriff nicht länger auszukommen, und so bedaure ich — nicht als Patron dieses Begriffs, sondern im Interesse der Sache —, daß der Entwurf nicht damit arbeitet. Der Entwurf 5. erklärt endlich seine ganze Definition für völlig unnötig. Denn — fagt der Entwurf — wenn der Mittelsmann doch gegen die Annahme dessen, der ihn benutzt, vorsätzlich gehandelt hat, dann soll der „Veranlasser" doch als mittelbarer Täter gestraft werden. Also gibt es vorsätzliche mittelbare Täterschaft durch vor­ sätzliche unmittelbare Täterschaft, und man fragt sich ver­ geblich, warum der Entwurf dies zu leugnen versucht, und in der großen Masse dieser Fälle Gewicht darauf legt, diesen mittelbaren Täter Anstifter zu nennen. Es ist um so schwerer verständlich, da ja der Anstifter „gleich einem Täter" be­ straft werden soll. 6. Bezüglich der Mittäterschaft enthielt der Ent­ wurf erster Lesung die durchaus vernünftige, gut gefaßte, fast vollständige Bestimmung: „Mittäter ist, wer mit

einem andern einen gemeinsamen Täterwillen gemeinsam verwirklicht." Und nun siegt in der zweiten Lesung wahrhaftig wieder die Reaktion und die Rückständig­ keit, und die so grundverfehlte Bestimmung wird ausgenommen: „Mittäter ist, wer mit einem andern den Vor­ satz, gemeinsam eine strafbare Handlung zu be­ gehen, gemeinsam verwirklicht." Und um der harten Notwendigkeit — hart für so viele Unbelehrbare! — zu ent­ gehen, klipp und klar eine fahrlässige Mittäterschaft anzuerkennen, wird grundsätzlich eine Bestimmung über „fahr203 So bei Eber meyer S. 23. Soll das was anderes bedeuten, wie „als Täter"? 204 „Fast" — da ja auch in gewissen Fällen der mittelbaren Täterschaft Mittäterschaft schon vorliegt.

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lässiges Zusammenwirken" ausgenommen, bei deren Lesung einem doch wahrlich sehr schlimm zumute wird! „Wenn mehrere mit- oder nebeneinander (!!) den Tatbestand einer strafbaren Handlung fahrlässig verwirklichen, fo ist jeder als Täter strafbar." Wo bleibt denn bei dieser wundervollen Regelung die gemischte Mittäterschaft, wobei vorsätzliche und fahrlässige Mittäter zusammenwirken? Und wenn der Zufall will, daß zwei Leute gleichzeitig fahrlässig einen Dritten verletzen und dieser an der Summe der Wunden stirbt — das wird doch ungefähr dem Nebeneinander des Entwurfs entsprechen? —, dann soll jeder der beiden wegen fahrlässiger Tötung ver­ urteilt werden! Tun wir denn das Gleiche, wenn Beide un­ abhängig von einander vorsätzlich verwundet haben? Ich erhebe energischsten Protest dagegen, die stümperhafte und teilweise so abscheulich ungerechte Behandlung der Delikts­ obligationen im BGB. zum Vorbild für ein Strafgesetz­ buch zu wählen! So muß das häßliche „fahrlässige Zusammenwirken" verschwinden und eventuell die Fassung erster Lesung wieder­ hergestellt werden.

v. Bei'Anstiftung wie Beihilfe finden sich wieder die seltsamsten Rückschritte und die seltsamsten Widersprüche Gegen den Vorentwurf wird für die Anstifter wie für die Gehilfen verlangt, daß sie vorsätzlich zu vorsätz­ licher Tat anstiften oder beihelfen müssen. Man greift sich an den Kopf, wenn dann aber gleich zugefügt wird, der An­ stifter bleibe Anstifter, auch wenn sich nachträglich ergibt, und der Gehilfe bleibe Gehilfe, selbst wenn er von Anfang auch gewußt hat, daß der Täter fahrlässig handle. Das sind doch Muster von Definitionen, wie sie nicht gegeben werden dürfen! Über die Strafbarkeit des Gehilfen wie des Anstifters sehe ich nicht klar, schweige ich also. 20» über die Fortschritte s. oben S. 393.

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L Eine eigentümliche Satzung bringt der Entwurf in Ergänzung des VE. ß 80, dahingehend: daß, wenn besondere Eigenschaften oder Verhältnisse, welche die Strafbarkeit be­ gründen, bei dem mittelbaren Täter, dem Anstifter und dem Gehilfen nicht vorliegen, die genannten Personen trotz­ dem strafbar bleiben, die Strafe der beiden Erstgenannten aber dann nach den für die Bestrafung der Beihilfe geltenden Grundsätzen gemildert werden darf. Die Bestimmung ist ganz inhaltlos für den Gehilfen, für den sie sich von selbst versteht, sie ist bezüglich des An­ stifters nur für die Bestrafung bedeutsam, und für ihn durchaus zu billigen, wenn anders der schlechte Anstiftertypus durchaus beibehalten werden foll, für den mittelbaren Täter abep ist sie zu beanstanden. Sie dehnt den Begriff desselben weit in das Gebiet der Urheberschaft aus und verdirbt ihn dadurch Denn die besonderen Eigen­ schaften — Beamten-, Soldaten-, Untertanen-, AngehörigenQualität —, welche die Strafbarkeit begründen, sind nie anders denn als Eigenschaften des Täters gefaßt worden, können also bei diesem unmöglich fehlen. III. So muß das Urteil über die Vorschläge des neuesten Entwurfs über die Teilnahme — und zwar über alle ohne Ausnahme — dahinausfallen, zunächst, daß sie technisch höchst unvollkommen sind, dann aber, daß sie trotz des guten Willens zum Fortschritt, dem sie ihren Ursprung verdanken, doch auch inhaltlich sich durchaus nicht zur gesetzlichen Sanktion eignen. Sie sind dazu nicht genügend ausgetragen!

8 21.

L. Gesetzesvorschlag.

Wer die mühsame gesetzgeberische Arbeit Anderer kritisirt, und überzeugt ist, um des Gewichtes der Sache willen scharfe Kritik üben zu müssen, hat m. E. die Ehrenpflicht, S. oben S. 317.

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gleicher Kritik auch sich selbst auszusetzen, also zu versuchen, es besser zu machen, wie die, deren Werk seine Beurteilung galt. I. Ich will mich dieser Pflicht nicht entziehen. Die wissenschaftliche Grundlage für meinen Versuch hat die Ab­ handlung gegeben. Sie nötigt mich zwiefach, einen neuen Weg einzuschlagen. 1. Ich breche insofern mit dem bisherigen Täterbegriff, als ich ihn über die verbrecherische Täterschaft auf den Täter des objektiven Verbrechenstatbestandes erweitere. Diese Er­ weiterung ist eine praktische Notwendigkeit, sie begründet zu­ gleich die Möglichkeit wünschenswertester Vereinfachung des ganzen gesetzgeberischen Problems. 2. Ich führe den neuen Typus des Urhebers ein — des Urhebers, der grade Täter nicht ist, doch aber die Begehung einer Täterhandlung verursacht, sich also in gleicher Schärfe von dem Täter wie von dem Gehilfen abhebt. Dabei erschwert mir die Traditionslosigkeit, an einem Punkt leicht verständlich zu werden. Wir sind bisher nicht gewöhnt gewesen, den Täterwillen, der auf Eigentat gerichtet ist, von dem Urheberwillen, der nur fremde Tat verursachen will, scharf zu scheiden. Der schlechte, weil zweizüngige Anstifterbegriff hat uns daran ge­ hindert. Ich habe den Gegensatz beider Willen früher genau festgestellt und setze im folgenden dessen Kenntnis voraus Ich nehme an, daß im Gesetzbuche Bestimmungen sx protssso über die Schuld nicht fehlen können, und daß der Gegensatz der beiden Verursachungswillen dort klargestellt wird.

II. Die Frage, in welchem Umfange die Beihilfe zur Bestrafung gezogen werden soll, lasse ich, soweit sie von der Schuld des Gehilfen unabhängig ist, in dem folgenden Vor­ schlag beiseite. Bezüglich der Strafbarkeit der Gehilfen vertrete ich den Standpunkt, daß der Gehilfe erheblich geringer bestraft werden S. oben bcs. S. 319 ff.

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muß als der Täter des Versuchs. Ich kann also in dem folgenden Vorschlag das Blankett der Gehilfenstrafe schlechter­ dings nicht ausfüllen, da mir die Position der Versuchs­ strafe fehlt.

III.

Mein Vorschlag lautet aber dahin :

8 1-

Alleintäter ist, wer den Tatbestand einer straf­ baren Handlung eigenhändig, mittelbarer Täter, wer ihn durch einen unmittelbaren Täter ganz oder teilweise verwirklicht hat.

Nur der schuldige Täter ist strafbar. 8 2.

Mittäter ist außer dem unmittelbaren und dem mittelbaren Täter, wer mit einem ihnen gemeinsamen Täterwillen hat. Jeder schuldige Mittäter (§8 I und 2) Strafgesetze zu strafen, das ihn als treffen würde.

Andern den verwirklicht ist nach dem Alleintäter

8 3.

Urheber ist, wer einen Täter zur Verwirk­ lichung des Tatbestandes einer strafbaren Hand­ lung bestimmt hat, zu deren unmittelbaren Be­ gehung ihm entweder die gesetzlichen Täter­ eigenschaften oder der Täterwille fehlt.

Nur der vorsätzliche Urheber oder Miturheber ist strafbar. Seine Bestrafung bestimmt sich nach dem Ge­ setze, das ihn als vorsätzlichen Täter treffen würde, kau« aber nach den Grundsätzen über die Bestrafung des Versuchs gemildert werden. 8 4.

Gehilfe ist, wer einem Täter oder Urheber die Täterschaft oder Urheberschaft erleichtert.

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Nur der vorsätzliche Gehilfe zu schuldhafter oder schuld­ loser Täterschaft oder Urheberschaft ist strafbar. Seine Bestrafung bestimmt sich nach dem Ge­ setze, das ihn als vorsätzlichen Täter der unter­ stützten Tat treffen würde, muß aber nach den Grundsätzen über die Bestrafung der Beihilfe gemildert werden.

IV. Mir scheint, daß dieser kurze Vorschlag alle mög­ lichen Formen des Verbrechenssubjektes berücksichtigt, und daß keine Kombination ihre sachgemäße Regelung nicht erhält. Daß die Täterschaft alle andern Formen der Teilnahme, und daß die Urheberschaft die Beihilfe konsumirt, braucht im Gesetze doch kaum zum Ausdruck gebracht zu werden.

Binding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen.

26

vm.

Über den Irrtum bei Delikten im heutigen Strafrecht und in dem der Zukunst.

Grundlage des Folgenden ist ein Vortrag, den ich am 21. Februar 1913 in Berlin gehalten habe, und der unter Einschaltung notgedrungener Weg­ lassungen im Gerichtssaal I^XXXI, 1913, S. 19 ff. zum Abdruck gekommen ist. Neu ist — von kleinen Änderungen abgesehen — nur S. 449 Note 24. Da ich hoffe, den Gegenstand bald ausführlicher behandeln zu können, habe ich von weiteren Ergänzungen abgesehen. 26*

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Ein Gelehrtenleben mag man kurzweg einen fortgesetzten Kampf mit dem Irrtum nennen: im Sinne des hochmütigen Gelehrten den Krieg eigener Unfehlbarkeit gegen fremden Irrtum, im Sinne des andern den dauernden, ihn ganz ausfüllenden, ihn allein bewegenden Kampf mit der eigenen Unwissenheit und dem eigenen Irrtum. Werden diese Mängel freilich von Andern geteilt, dann dehnt sich der Streit not­ gedrungen aus auch auf deren Irrtümer und auf deren Gründe, daran festzuhalten. Tritt der Irrtum autoritativ auf — und ich habe ihn immer wegen seines Talentes bewundert, sich auf den Sesseln der Autorität, sei's des Dogmas, sei's der sittlichen Norm, sei's des Gesetzes, anspruchsvoll auch für seine groteskesten Ausgestaltungen den breiten Platz zu sichern —, so muß der Wahrheitssucher, sei es ihm lieb oder leid, dem Irrtum und seiner angemaßten Herrschaft die Fehde ansagen. Denn die Wahrheit, so bescheiden sie auftritt, trägt den Anspruch der Alleinherrschaft in sich und kennt schlechterdings keine Autori­ tät, vor der sie sich in den Staub werfen dürfte. Sie ist die einzige von der ganzen Menschheit anerkannte Monarchin über der Menschen zahlloses Geschlecht! Will sie aber den Irrtum überwinden, so muß sie ihn zunächst nach seinen Gründen und in seinen Wirkungen ver­ standen haben. Diese Aufgabe, den Irrtum zu verstehen, erwächst vor allem auch den großen Machtgebieten der Autoritäten, die den menschlichen Glauben und das menschliche Handeln regeln wollen, deren Sollgebote ihn grundsätzlich verwerfen, die aber die Fehlbarkeit des Menschengeschlechts doch nicht außer Rechnung stellen können. Sie müssen sich deshalb

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Erste Abteilung.

Strafrecht.

für berufen halten, zu bestimmen, wann ein nach ihrer Auffassung bedeutsamer Irrtum bei einem ihrer Untertanen vorliegt, und welche Folgen sie ihm beilegen sollen? — ein sehr delikater und sehr selten unanfechtbar ausgeübter Beruf! So gibt es nicht nur Irrtümer in autoritativem Ge­ wand, sondern auch eine autoritative Behandlung des Irrtums. Und die wahrheitssuchende Wissenschaft kann genötigt sein, diese Behandlung selbst der Irrigkeit zu bezichtigen, sie als autoritativen Irrtum über den Irrtum zu bezeichnen. Nun habe ich Sie eingeladen, mit mir den prüfenden Blick zu werfen gerade auf die autoritative Behandlung des Irrtums bei Delikten in der neueren deutschen Strafgesetz­ gebung und Judikatur, um an der Hand der Kritik ein Ur­ teil über die Behandlung zu gewinnen, die er in einem zu­ gleich logisch denkenden und gerecht wägenden neuen deutschen Strafgesetzbuch finden müßte.

Erster Abschnitt.

Dogmatik. I. Ich beschränke mich heute auf den Irrtum bei widerrechtlichen Handlungen und Unterlassungen, und erbitte mir die Erlaubnis, im Interesse der Kürze des Ausdrucks diese etwas ungenau unter dem Namen des Delikts zusammenfassen zu dürfen. Ungenau deshalb, weil dem Delikt die Schuld wesentlich ist, ich aber stets von der Setzung des objektiven Deliktsbestandes ausgehe. Die Lehre vom Irrtum bei Rechtsgeschäften sowol öffent­ licher wie privater Natur bleibt beiseite. Nur soweit sich das Delikt in das Gewand des Rechtsgeschäfts kleidet, wie z. B. beim Betrug, bei dem echten, aber widerrechtlichen Haftbefehl, gilt, was ich sagen werde, auch für das Rechts­ geschäft. Dabei bin ich der Letzte, zu verkennen, daß die

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Grundgedanken der Jrrtumslehre für alle rechtlich bedeut­ samen Handlungen genau die gleichen sein müssen: noch aber fehlt für solche große Gesamtirrtumslehre der feste Unterbau. Gibt es doch kein Gebiet so voll von Streit, größter Unsicherheit und verkannter oder dissimulirter Ungerechtigkeit als grade die Lehre vom Irrtum bei Delikten! II. Die strafbaren Delikte, die ich trotz StrGB. Z I alle ohne jede Ausnahme Verbrechen nennen werde, bilden ja nur einen großen Ausschnitt der Delikte; denn nicht ent­ fernt stehen diese alle unter Strafe. Aber es gibt kein Ver­ brechen, das nicht zugleich Delikt wäre! Alle beim Delikt überhaupt möglichen Irrtümer sind deshalb auch bei allen Verbrechen gleich möglich. Und es fragt sich nur, ob die eigentümliche Ausgestaltung von De­ likten zu verbrecherischen Tatbeständen noch eine besondere Art des Irrtums zuläßt, die beim reinen Delikt — Sie ge­ statten mir freundlichst den Ausdruck! — nicht vorkommen kann? Diese Frage wird später bejaht werden. III. Welcherlei Irrtümer nun bei einer menschlichen Handlung unterlaufen können, das hängt wesentlich von dem Verhältnis dieser Handlung zu unserem Vorstellungs­ leben ab. Das ist eine Frage, auf die lediglich die psycho­

logische Untersuchung die Antwort geben kann. Der Gesetzgeber, der die Behandlung des Irrtums bei rechtlich bedeutsamen Handlungen regeln will, ist an diese Antwort insoweit gebunden, als er psychologisch unmögliche Irrtümer nicht schaffen, also nicht fingiren kann. Wol aber liegt es in seiner Macht, psychologisch mög­ liche Irrtümer zu ignoriren, also ihnen die Wirkung abzusprechen. Über die logische Wirkung eines Irrtums aber fehlt ihm die Macht. Wenn jemand bei einer widerrecht­ lichen Handlung sich über deren Widerrechtlichkeit irrt, so kann der Gesetzgeber nicht sagen: diese Handlung ist doch be-

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Erste Mteilung.

Strafrecht.

wußt widerrechtlich begangen. Sie ist es eben nicht! Aber findig, wie er ist, wenn es gilt, seine Macht zu bewähren, kann er sich dieser Macht der Logik entziehen, indem er sagt: „Magst du geirrt haben oder nicht: ich glaube dir nicht, daß du geirrt hast; vielmehr hast du gewußt, und demgemäß verneine ich, daß die logischen Jrrtumswirkungen bei dir ein­ treten." Dieses Verfahren, den Irrenden wider die Wahrheit der Wissenschaft zu zeihen, wider­ spricht der Wahrheit wie der Gerechtigkeit. Der Gesetzgeber pflegt die Lüge und zwingt den Richter, sie zu pflegen: das aber läuft wider Beider hohen Beruf! Diese Methode, den Irrtum auf dem Umweg über das prozessuale Beweisverfahren durch das Mittel der sog. Präsumtion zu eskamotiren, indem man ihn für unbewiesen oder gar noch brutaler für un­ beweisbar erklärt, hat in der Geschichte der Jrrtumsbehandlung von der Zeit der Römer bis zur Gegenwart eine große, verhängnisvolle, weil die Justiz erniedrigende Rolle gespielt. Und diese Methode — ich möchte dies doch nicht ungesagt sein lassen! — hat sich im Laufe der Geschichte leider nicht ge­ mildert, sondern in steigendem Maße noch verhärtet. Ich komme auf den Standpunkt des römischen Rechtes später noch eingehender zu sprechen. Aber der häßliche Götze, zu dem sich der Satz srror juris noost ausgewachsen hat, ist ein relativ sehr junger Götze. Die Glosse stellt ohne das geringste Bedenken den Satz auf: guaelibst iKnorantia otiam smis sxonsst a äolo. Und die ganze Postglossatorenschule hat diesen Satz anerkannt. Die 066 kennt keine Schuld­ präsumtion. Erst die spätere Doktrin und die neuere Gesetz­ gebung haben den Satz srror jurig noost zu dem kaudinischen Joch ausgebaut, unter dem die Gerechtigkeit mit gebrochenem Rücken durchkriechen soll und wirklich durchkriecht. IV. Nun steht die Lehre von dem Irrtum beim Delikt im engsten Zusammenhang mit den Lehren von der Ver-

VIII. über den Irrtum bei Delikten.

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antwortlichkeit und der Schuld. Wie weit hindert der Irr­ tum die Zurechnung zur Schuld überhaupt, wie weit die Zurechnung zum Vorsatz? Wie weit be­ gründet er die Fahrlässigkeit? Das sind die drei einzigen Jrrtumsfragen beim reinen Delikt. Bei dem Verbrechen gesellt sich noch die vierte hinzu: wie weit schließt er die Annahme von Strafschärfungs- und von Strafmilderungsgründen aus? Für die radikalen Deterministen, welche die Verantwort­ lichkeit und die Schuld leugnen, kann der Irrtum nur als Symptom für das Maß der Gefährlichkeit des Irrenden in Betracht kommen. Kein positives Recht hat sich je auf diesen Standpunkt gestellt! Neuerdings ist mehrfach behauptet worden, die ganze Jrrtumslehre sei nur „die Doluslehre vom negativen Standpunkte aus betrachtet"', und unsere wertvollsten Kommentare behandeln die Lehre vom Vorsatz ganz im An­ schluß an den 8 59 des Strafgesetzbuchs. Gegen letzteres Ein­ wendungen zu erheben, wäre verkehrt, weil ja das Gesetz­ buch leider keinen besonderen Vorsatzparagraphen kennt. Aber nur genau zu einem Drittel beschäftigt sich die Jrrtumslehre mit dem Ausschlusse des Vorsatzes, und die Doluslehre vom negativen Standpunkt aus umfaßt doch viel mehr als die Lehre vom Ausschluß des Vorsatzes durch den Irrtum!

V. Aus welchem Rechtskreise stammen aber die Gedanken, welche bis in die neueste Zeit die Grundlage wie für die dogmatische so für die gesetzgeberische Behandlung des Irrtums beim Delikt gebildet haben? Jedenfalls nicht aus dem germanisch-deutschen Rechte. Für dessen bisher so stark vernachlässigte Schuldlehre ist es ein schwerer Schaden, daß über den Irrtum bei der Missetat * Kohlrausch, Irrtum und Schuldbegriff Bd. I S. 7 ff.

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in der Zeit vor wie nach dem Sturze der sog. IsZss bardaroruw bisher so wenig Aufschluß gewonnen worden ist, ja daß darüber vielleicht überhaupt zu wenig gewonnen werden kann. Ich kenne einige kerngesunde Entscheidungen: aber es läßt sich zu wenig Allgemeines daraus ableiten. Die 660 von 1532 schwieg sich über den Irrtum aus; sie erklärte das römische Recht für ihr subsidiär, und so trat dieses, traten besonders der Pandektentitel 22,6 und der Kodextitel 1,18 äs juris st kaoti iMorantia in die Lücke ein. Die römische Jrrtumsbehandlung ist wesentlich für das Privatrecht aus­ gebildet, aber allerdings auf das Deliktsrecht übertragen worden. Sieht indessen der Mann der Wissenschaft genauer zu, so findet er, daß nicht die römische, für unsere Art materiellrechtlicher Betrachtung wahrlich nicht leicht zu ver­ stehende Behandlungsweise des Irrtums in den römischen Quellen, sondern ein böses Zerrbild derselben für die spätere strafrechtliche Doktrin und Gesetzgebung maßgebend geworden ist. Dieser Punkt ist so wichtig, daß ich bei ihm verweilen muß. Ich glaube sagen zu dürfen, daß ich die Quellen mit der Gewissenhaftigkeit studirt habe, die mich in den Stand setzt, mir ein eigenes Urteil zu erlauben. 1. Über der materiellrechtlichen Ausdrucksweise der Quellen in den Titeln DiZ. 22,6 und 6oä. 1,18 darf nie übersehen werden, daß die Römer, die so gewohnt waren, die Rechts­ erscheinungen von der prozessualen Seite her zu fassen, auch den Irrtum von dieser Seite her, also in der Einklei­ dung einer prozessualen Jrrtumsbehauptung zu betrachten gewohnt waren. Daraus allein erklärt sich, daß der Jrrtumstitel der Digesten sich mit den ihm un­ mittelbar voraufgehenden Titeln Ds probationibns ot prassnmtionibus, Do üäo instrnwsntorum und Ds tsstibns DiZ. 22, 3, 4 und 5 zum Ganzen zusammenschließt. Es handelt sich auch in ihm um Beweisregeln für die Be­ urteilung von Jrrtumsbehauptungen. Dadurch

VIII. über den Irrtum bei Delikten.

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wird freilich die Sachfrage: „Wie wirkt vorhandener Irrtum?" durch die Beweisfrage: „Wie wirkt die Be­ rufung auf einen vielleicht auch nicht vorhan­ denen Irrtum?" in sehr bedenklicher Weise zurückgedrängt! Der Satz: „Der Irrtum schadet", besagt in ungehöriger materiellrechtlicher Einkleidung die prozessuale Regel, der Jrrtumsbehauptung wird kein Glauben ge­ schenkt, d. h. der Irrtum ist ein affektirter, er wird als nicht vorhanden angenommen; der Satz aber: „Der Irr­ tum nützt", bedeutet, seiner Behauptung wird Glauben geschenkt, d. h. er wird als vorhanden angenommen. Die ganze Unterscheidung von srror juris und srror taoti dient ausschließlich zur Orientirung über die Glaubwürdigkeit der Jrrtumsbehauptungen, ist also nur für die Beweisfrage, somit für den Prozeß erdacht, und entbehrt jeder materiellrechtlichen Bedeutung. Das ergibt sich ja für jeden genauen Ausleger schon einfach daraus, daß die Berufung auf Rechtsirrtum, wo ihr geglaubt wird, bei den Männern unter 25 Jahren, bei den Frauen, bei den Rustikanen, dieselben Wirkungen auslöst wie die Berufung auf faktischen Irrtum seitens eines nicht ganz leichtgläubigen Mannes. Die erste große Verzerrung der römischen — darf ich sagen? — Jrrtumslehre bestand nun darin, die Unterschei­ dung von orror juri8 und srror taoti nicht zu fassen als Ein­ teilung der Jrrtumsbehauptungen auf die Gründe ihrer Glaubwürdigkeit hin, sondern als Einteilung des Irrtums selbst. Das durchaus prozessual Gedachte wurde gewaltsam ins Materiellrechtliche umgestempelt — das so häufige Los der Präsumtionen! 2. Daraus ergab sich dann eine Konsequenz, fast noch verhängnisvoller als die erste Umdeutung. Der rechtlich relevante Irrtum erhielt mit den zwei Arten auch zwei ganz verschiedene Gegenstände, bezüglich deren

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die Wirklichkeit und die Vorstellung des Irren­ den angeblich auseinandergingen. Der srrorjuris wurde dann zum Irrtum oder zur Unkenntnis des objektiven Rechts­ satzes, und der srror kaoti zum Irrtum oder zur Unkenntnis eines historischen Vorgangs oder eines sonstigen Faktums. Dieses „Faktum" aber entzieht sich jeder näheren Bestimmung. Der Erlaß des Rechtssatzes ist doch auch ein Faktum; das nackte Faktum aber ist juristisch ohne alle Bedeutung, be­ deutsam allein ist das juristisch, also durch den Rechtssatz gestempelte Faktum! An der geradezu abscheulichen Unlogischkeit des Gegen­ satzes und an der absoluten Vagheit des Faktums wird kein Anstoß genommen, auch daran nicht, daß die Quellen ganz unbekümmert davon sprechen, wie jemand bei demselben Irr­ tum in taoto MLAis, guam in jurs errat! Die Römer aber dachten viel richtiger und viel feiner.

Ihr Rechtsirrt«« und ihr faktischer Irrtum find beides Irr­ tümer, die fich ganz auf denselben Gegenstand beziehen, auf einen Gegenstand, den die römischen Quellen auch gar nicht unausgesprochen lassen, der deshalb mit Händen zu greifen ist. Das regelmäßige eine Objekt aber, worauf sich in den Quellen beide Irrtümer beziehen, ist ursprünglich das sub­ jektive Recht des Irrenden, das jus suum gewesen. Seine Rechtspflicht dürfte dem bald an die Seite getreten sein. Ich belege dies gleich mit der ersten Paulusstelle des Titels. Jemand hat ein Erbrecht: er weiß es nicht, weil er nicht weiß, daß der Erblasser gestorben ist: error taati, oder er weiß es nicht, weil er das Recht über die Erbfolge nicht kennt: srror juris. Aber der einzige Gegenstand der rechtlich relevanten Un­ wissenheit ist hier natürlich nicht der Todesfall oder der Rechtsfatz: sondern das eigene Erbrecht. Denken wir uns, zwei Personen, die wegen zu naher Verwandtschaft sich nicht heiraten dürfen, schließen die Ehe

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doch. Kennen sie das Verbot nicht, so verzeihen die Römer diesen Rechtsirrtum dem Mann nicht, aber der Frau; er­ kannten beide ihre Verwandtschaft nicht, so ist dieser srror taoti beiden zu verzeihen. Der rechtlich relevante Irr­ tum besteht aber in allen Fällen allein in Beider Glauben, eine erlaubte Ehe zu schließen. So ist dies aber in allen Fällen. Der Rechtswie der faktische Irrtum sind den Römern durchweg materiellrechtlich ganz irrelevante Grund­ irrtümer für den allein rechtlich relevanten Folgeirrtum, der in den Quellen zumeist durch den Be­ stand eines subjektiven Rechts oder einer subjek­ tiven Pflicht gebildet wird. Klar ausgesprochen fand ich diese wichtige Wahrheit für die römischen Quellen in der großen zivilistischen Jrrtumsliteratur allein in der Abhandlung eines jungen, früh ver­ storbenen Studenten Weil aus dem Jahre 1855. Sie ist wol wegen ihrer Kürze und wegen der Jugend des Verfassers ganz unverdienterweise unbeachtet geblieben^. Dogmatisch hatte ich den einzigen Gegenstand des recht­ lich relevanten Irrtums längst gefunden, als ich auf diese mir sehr erfreuliche Bestätigung meiner Ansicht in den römischen Quellen stieß. Ist man erst einmal darauf aufmerksam ge­ worden, so begreift man kaum, wie man die Quellen so miß­ deuten konnte. So hat sich — angeblich auf die Autorität der römischen Juristen hin, in Wahrheit in voller Verkennung ihrer im Grund durchaus richtigen Sachanschauung — der häßliche Irrtum in der Jrrtumslehre eingenistet, der rechtlich relevante Irrtum hätte zwei und nur zwei grundverschiedene Gegen­ stände: den Rechtssatz und das Faktum. Hie und da taucht auch einmal die Erkenntnis auf, daß es etwas wie einen Subsumtionsirrtum gibt. Der fatale Wechsel2 Sie ist enthalten in der Zeitschrift für Zivilrecht und Prozeß N. F. Bd. XII 1855 S. 377-394.

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balg wird dann kategorisch entweder zum faktischen oder zum Rechtsirrtum geschoben, damit der Störenfried aus dem Weg komme. Aber ganz will er sich nicht beseitigen lassen!

VI. Auf der Basis dieses absolut unrömischen Dualis­ mus des rechtlich relevanten Irrtums hat sich nun, woran die Römer ganz unschuldig sind, in allerjüngster Zeit eine vollständige Umbildung der alten Auffassung des Rechtsirrtums vollzogen. Sie hängt mit der wachsenden Bedeutung der Strafgesetze zusammen, die wieder in den Anschauungen schon des 17., dann des 18. und des anfangenden 19. Jahrhunderts von der Ausgabe der Strafdrohung, die Verbrechensneigung der Gesetzesuntertanen zu balanciren, in der von mir sog. Balancirtheorie wurzelt Der deliktsbegründende Rechtssatz, d. h. der Rechtssatz, der den Untertanen höchstpersönlich zu erfüllende Handlungs­ oder Unterlassungspflichten auflegt, ist ein einfaches Verbot oder Gebot — gleichgültig ob in der Form „des Gesetzes — einschließlich der Verordnung —, wie so zahllos in der neueren Gesetzgebung, oder in der Form des ungesetzten Rechts zur Erklärung gekommen. Dem Ver- oder Gebot steht in der pflichtbegründenden Wirkung der verbindliche Befehl gleich. Jene höchstpersönliche Pflichten begründenden Rechtssätze habe ich auf den kurzen und bezeichnenden Namen der Normen getauft. Wem der Name nicht gefällt, mag sie anders nennen : mir ist dies ganz gleichgültig! Aber selbst wenn man diesen Normen, sofern sie gesetzlicher Formulirung ermangeln, während ihre Übertretungen mit Strafe „gesetz­ lich" bedroht sein müssen, die Selbständigkeit abspricht und sie zu Annexen der Strafgesetze, statt diese zu Annexen der Normen stempelt, sind sie schlechterdings etwas anderes wie die Strafgesetze. Sie können der „gesetzlichen" Form ent­ behren, das moderne Strafgesetz leider nicht. Sie können sehr b Man sehe darüber mein Handbuch des Strafrechts I S. 17 ff.

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wol ohne Strafgesetz, das Strafgesetz kann nie ohne den pflichtbegründenden Nechtssatz bestehen. Der Adressat der Norm ist der zu verpflichtende Gesetzesuntertan, der Adressat des Strafgesetzes der, dem gegen den pflichtwidrig gewordenen Untertanen ein Strafrecht oder eine Strafpflicht erwachsen soll. Für den pflichtigen Volksgenossen ist die Kenntnis der Norm ebenso wichtig, wie ihn die Kenntnis des Strafgesetzes gar nicht berührt. Für den pflichtigen Volksgenossen ist die Kenntnisnahme und das Verständnis der meist ebenso ein­ fachen als klaren Normen ebenso leicht, als die Kenntnis­ nahme und das Verständnis der oft sehr komplizirten Straf­ gesetze für ihn schwer ist. Letztere ist die Geheimkunst des Kriminalistenstandes, die Kenntnis der Rechtspflichten meist leicht erlangter Gemeinbesitz des ganzen Volkes. Es handelt sich eben um zwei Rechtssätze, die ganz verschiedenen Lebens­ gebieten angehören, von denen der eine prävenirend wirken, der andere für den Fall mißlungener Prävention dem in­ dividuellen Missetäter Strafe drohen will. Den Römern war dieser Gegensatz als der zwischen lox und sanotio IsZis absolut geläufig. Gegen die lex richtete sich der Delinquent; diese mußte er soisns äolo malo über­ treten haben. Nur wer vom römischen Recht gar nichts weiß und jedes Verständnisses für dasselbe bar ist, kann behaupten, dem römischen äolus malus sei das Bewußtsein der Rechts­ widrigkeit nicht wesentlich gewesen. Alle großen Ausleger der Quellen von der Glosse bis auf v. Savigny und v. Keller, bis auf Windscheid und Re g els b erg er, bis auf Theodor Mommsen, Pernice und Mitteis lehren das Gegenteil. Daraus erklärt sich die Bedeutung der Berufung des Römers auf Rechtsunkenntnis gegenüber der Delikts­ beschuldigung: er beruft sich auf Unkenntnis des pflichtbegründenden Rechtssatzes, der Norm, da­ mit auf Unkenntnis seiner Pflicht, die Unkenntnis des Strafgesetzes spielt bei den Römern nicht die geringste

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Rolle. Auch dazu, das zuletzt Gesagte einzusehen, bedarf es nur weniger Kenntnis des römischen Strafrechts! Nun kannten die Römer zwar fahrlässige Delikte, wie z. B. die fahrlässige Sachbeschädigung, aber keine fahrlässigen Verbrechen. Die oulpa blieb bis zuletzt ungenügende Grundlage für das orimon, d. h. für die An­ klage auf öffentliche Strafe. So bedeutet ihnen der Irrtum, der den äolus ausfchloß — und der srror Mris non allsotatus schloß ihn immer aus! —, zugleich den Ausschluß der kriminellen Verschuldung! Dieser srror zuris, die wirkliche Unkenntnis der Norm, ist auch der einzige, beim Delikt mögliche Rechtsirrtum der Postglossatorenzeit, die durchweg an dem Satz der Glosse fest­ hält: gnaslibot i^norantia stiam ^'uris oxou8Lt a äolo; er bleibt es durch die folgenden Jahrhunderte auch in der Zeit des alten gemeinen Strafrechts, bis zuerst gegen Ende des 17. Jahrhunderts, dann besonders im 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts dem strafdrohenden Gesetz im Geiste Feuerbachs die geschichtlich bis dahin nie dagewesene Funk­ tion zugewiesen wird, durch die angedrohte Strafe die Verbrecherneigung der Volksgenossen zu paralysiren. Diese Auffassung allein ist die Quelle der furchtbaren Verderbnis der Lehren von äolu8 und Irrtum. Durch diese vollständige Ver­ kennung und Überschätzung des Strafgesetzes wird nun plötzlich die deliktische Handlung des Täters aus der Beziehung ledig­ lich zum pflichtbegründenden Rechtssatz vollständig heraus­ gerissen und in engste Beziehung gesetzt zum Strafgesetz, mit dem sie vom Standpunkt des Delinquenten aus gar nichts zu tun hat und nichts zu tun haben kann. Diese Tat, die nach dem Strafgesetz nur gestraft werden kann, weil sie dessen erstem Teil absolut konform läuft, wird sinnloser- und abgeschmackterweise zur Übertretung des Strafgesetzes — was sie nie ist und nie werden kann. Auch unser Strafgesetzbuch und unsere Praxis tragen kein

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Bedenken, diese perverse Vorstellung noch immer mit der üblichen Pietät gegen verhärtete Irrtümer beizubehalten. Auf keine Materie des ganzen Strafrechts mußte aber die vollständige Verkennung des vom Delinquenten über­ tretenen Rechtssatzes eine zerstörendere Rückwirkung üben als auf die Lehren von der Schuld und vom Irrtum. Dem rechtswidrigen Vorsatz mußte man dann, wollte man folgerichtig bleiben, das Attribut des Bewußtseins der Strafgesetzwidrigkeit beilegen, und hat dies ja auch getan, freilich nicht ohne die praktisch unerträgliche Ver­ derbnis des Begriffs durch die prassumtio äoli oder durch die Präsumtion der Kenntnis des Straf­ gesetzes mehr als zu paralysiren. Betete man aber weiter zu dem Satze srror juris uoost, so traten nun an Stelle der so einfachen, leicht verständlichen und allgemein verstandenen pflichtbegründenden Rechtssätze die komplizirten Strafgesetze, die nun die armen Rechtsgenossen aufs Haar scharf auslegen mußten. Der einfache Irr­ tum über den Bestand der Pflicht verlor alle Be­ deutung. Der Rechtsirrtum gewann ein absolut anderes Objekt und verhundertfachte sich. Jede Verkennung der Merk­ male eines Verbrechensbegriffs ward zum unverzeihlichen Irrtum über das Strafgesetz — ein Standpunkt, auf dem in nicht beneidenswerter Hartnäckigkeit auch das Reichsgericht grundsätzlich beharrt 4 Man steht starr, wenn man beobachtet, welche Jnterpretationskunst betreffs strafrechtlicher Begriffe das Reichsgericht bei allen Volksgenossen, auch halbwüchsigen Burschen, voraussetzt, und zwar muß dann die Inter­ pretation stets mit der des Reichsgerichts übereinstimmen, auch wenn dieses seine Ansicht selbst mittlerweile geändert hat! Ein paar Beispiele mögen diese Behauptung rechtfertigen: 1. „Eine irrige Auffassung in bezug auf den rechtlichen Begriff des Unzüchtigen würde sich als ein Irrtum hinsichtlich des Strafgesetzes dar­ stellen und deshalb dem Angeklagten nicht zugute kommen können" (RG. II vom 22. Oktober 1907, E XO S. 326). 2. Das gewöhnliche Studentenduell hatte das Reichsgericht ursprüng­ lich nicht den ZZ 201 ff. des StrGB.s unterstellt. Es nahm den Schläger Binding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen. 27

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Dessen ganz in der Luft stehende, dem geltenden Recht schnurstracks zuwiderlaufende Einteilung des srror snris in einen Irrtum über das Strafgesetz und über außerstrafrecht­ liche Rechtssätze, von welch letzterem es unglaublicherweise be­ hauptet, er sei ein faktischer Irrtum, während er Unkenntnis der außerhalb des Strafgesetzes gesetzlich formulirten Norm, also grade der allerechteste Rechtsirrtum im Sinne der Römer ist, lasse ich hier auf sich beruhen. Diese Praxis bewegt sich auf so unmöglicher Grundlage, sie ist dogmatisch so uninter­ essant und unergiebig, daß ich mir jedes Wort der Kritik sparen kann. Die ganze deutsche Wissenschaft bricht darüber den Stab. Wenn das Reichsgericht daraus den Mut schöpft, sie beizubehalten, so ist dies tief bedauerlich. Noch tiefer aber ist zu beklagen, daß das einzige ganz großzügig gedachte Urnicht als tödliche Waffe, was er ja auch nicht ist, falls die nötigen Vorsichts­ maßregeln getroffen sind. Nun kommt der berühmte Plenarbeschluß vom 6. März 1883: der Schläger ist tödliche Waffe. Nun lag ein Duellfall da­ mals beim I. Senat. Die erste Instanz hatte die Studenten freigesprochen wegen guten Glaubens, sie hätten nicht mit tödlichen Waffen gefochten. Im Urteil vom 12. April 1883 (Rechtspr. V S. 230) führt der I. Senat aus: die Frage der Tödlichkeit der Waffe sei unzweifelhaft eine Rechtsfrage. Sonach handelt es sich „um einen Irrtum in der Auslegung des Straf­ gesetzes — den das Reichsgericht vorher gerade so begangen hatte —, also um einen Rechtsirrtum, welcher nach bekannten Grundsätzen (mo!!) die An­ geklagten nicht zu entlasten vermag". — Jedenfalls erhebe ich den ent­ schiedensten Protest wider die Jdentifizirung jedes Irrtums über einen im Strafgesetz verwandten Rechtsbegriff mit dem unverzeihlichen Rechtsirrtum! Wir geraten ja da in eine wahre Sündflut unverzeihlicher Irrtümer über das Strafgesetz hinein! 3. Knaben und Lehrlinge hatten Kugeln aus Kugelfängen der Truppen ausgegraben. Die erste Instanz sprach Gott sei Dank frei, weil den Tätern das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit gefehlt habe. Das Reichsgericht III vom 19. Mai 1892 (GA. XI^ S. 159) führt aber aus: „Wer die Aneignung in der allgemeinen Meinung der Dereliktion vornimmt, befindet sich nicht in einem Irrtum über das bürgerliche Recht, sondern in einem unentschuld­ baren Irrtum über die Bedeutung des Strafgesetzes." Man traut seinen Ohren nicht! Man schaudert bei dem Gedanken, wie vielen Verurteilungen wegen vorsätzlicher Rechtsbeugung sich die Mitglieder des Reichsgerichts bei Findung der Urteile durch falsche Auslegung des Strafgesetzes aussetzen!

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teil des III. Strafsenats vom 15. Februar 1883 (Spieß) über den Irrtum nicht die Basis einer neuen gesunden Ju­ dikatur des Reichsgerichts geworden ist. Das hätte es zu werden verdient! S. Entsch. VIU S. 104 ff. So weisen Lehre und Praxis bezüglich des Irrtums eine dogmatische Verderbnis auf, wie fie heute auf keinem andern Gebiete des Straf­ rechts auch nur annähernd in gleichem Umfange nachweisbar ist. Der srror juri8 ist angeblich immer nur Irrtum über das Strafgesetz, auch wenn reine Normunkenntnis vorliegt. „Der Irrtum über das Strafgesetz ist bedeutungslos." Dieser an sich richtige Satz wird in der abscheulichsten Zweideutig­ keit dann auch als selbstverständlich ausgegeben für den Irr­ tum über den pflichtbegründenden Rechtssatz, für den er schlechterdings nicht paßt! Und mit der Flagge des falschen Dogmas werden Un­ gerechtigkeiten in Hülle und Fülle gedeckt, d. h. dissimulirt. Aber wer Ohren für die Stimme der Gerechtigkeit hat, dem klingen ihre Klagen laut im Ohr. Und jede ruft: 3'aoou86! Gott sei Dank hat jedoch seit einiger Zeit der große Fortschritt in der Erkenntnis der schwierigen Materie be­ gonnen ! Ruhmvoll eingeleitet hat ihn die treffliche Abhand­ lung von Rudolf Heinze im Gerichtssaal des Jahres 1861. Sein Fortgang knüpft sich meines Erachtens am meisten an die Namen von Oetker, Woldemar Engelmann, Allfeld und Köhler. Ganz besonders erfreulich erscheint, daß die Verfasser der drei zurzeit verbreitetsten Lehrbücher: Allfeld, in sehr feiner Ausführung Finger, in sehr energischer Verneinung der Duplizität von Tat- und Rechts­ irrtum v. Liszt der traditionellen Lehre energische Absage getan haben. Von dem Irrtum der irrenden Doktrin wende ich mich zur Untersuchung des Irrtums in der Welt der Wirklichkeit. 27*

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VH. Jenseits der pflichtenbegründenden Rechtssätze nun gibt es auch keine Pflichtverletzung. Die Normen aber schaffen stets ganz konkrete Pflichten: nicht zu töten, nicht Brand zu stiften an gewissen Gegenständen, fremde Sache sich nicht an­ zueignen, sie nicht zu beschädigen, nicht zu wildern, keinen fremden Wildstand zu vernichten, keinen Inzest zu begehen, Verbrechen nicht zu begünstigen, wol aber von bestimmten erkundeten Verbrechensplänen Anzeige zu machen usw. Ob die Übertretung strafbar oder nicht, interessirt für die Be­

trachtung des Irrtums bei Delikten gar nicht. Jede Norm kann nur genau durch die Handlung oder Unterlassung übertreten werden, die sie verbietet oder deren Gegenteil sie gebietet. Welcher Irrtum oder welche Irrtümer, wenn es mehrere sind, lassen sich nun bei diesem konkreten widerrechtlichen Verhalten denken? Ich gestatte mir, wie unsere Strafgesetz­ bücher ja alle tun, die Unterlassungen gleichfalls dem Handlungsbegriff zu unterstellen, ohne den etwas umständlichen, aber schlüssigen Beweis für die dog­ matische Berechtigung dazu anzutreten °. 1. So handelt es sich also nur um den Irrtum bei einer verbotenen Handlung. Dieser kann nur sein ein Irr­ tum über die verbotene Handlung: sie ist dem Gegenstände nach das einzige Objekt des beim Delikt möglichen Irrtums. Bei Rechtsgeschäften kann es trotz der Erkenntnis der Handlung in allen ihren rechtlichen Merkmalen unter Um­ ständen, z. B. bei einer letztwilligen Verfügung, zu einem rechtlich bedeutsamen Irrtum kommen, der sich lediglich auf das Motiv der Handlung bezieht. Ein Ana­ logon dazu auf dem Deliktsgebiet ist schlechterdings unmöglich. Wenn ich mir klar bin, eine konkrete Pflicht durch meine Handlung zu verletzen, so mag ich auf das denkbar irrtüm° Ich habe ihn zu führen gesucht in den Normen I11 (2. Aust.) S. 99 bis 112.

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lichste Motiv hin gehandelt haben: das Delikt ist irrtums­ frei begangen. Dies ist ja auch sozusagen allgemein an­ erkannt, und der Satz findet besonders bei den sog. Ver­ wechslungsfällen, den sehr schlecht sog. Fällen des (un­ echten) srror ia odssoto, Anwendung. Wenn ich meinen Pseudonebenbuhler prügele, so weiß ich genau, daß ich die Gesundheit dieses Angegriffenen rechtswidrig verletze. Wo sollte da ein Irrtum stecken? 2. Nun gibt es bei Begehung eines konkreten Delikts überhaupt nur einen rechtlich bedeutsamen Irrtum: näm­ lich den, daß meine Handlung dies konkrete Delikt nicht sei. Ich bin dann überzeugt, daß ich diese konkrete Pflicht nicht verletze. Ich subsumire meine Handlung nicht unter den pflichtbegründenden Rechtssatz, unter den sie fällt. Der einzige bei Begehung eines konkreten Delikts denkbare Irrtum besteht in irriger Nichtfubsumtion der Handlung unter das Pflicht­ gebot, ist alfo, wie ich dies fchon 1877 ausgesprochen habe, ein Subsumtionsirrtum, der stets den gleichen Inhalt hat. 3. Seine an sich irrelevanten Grundirrtümer zerfallen in drei Gruppen. Für zwei derselben ist charakteristisch, daß sie den Handelnden nicht hindern, sich den Handlungsverlauf als geschichtliches Ereignis in vollkommener Übereinstimmung mit der Wirklichkeit vorzustellen. Er irrt nur über die juristische Natur der Handlung. In der dritten Gruppe verzerrt der Irrtum das Handlungsbild in der Vorstellung, und allein deshalb wird die widerrechtliche Natur der Handlung verkannt. a. Der erste Grundirrtum besteht in wirklicher Unkenntnis der Norm, welche grade auf die vom Täter begangene Handlung gemünzt war. Ein Pferdehändler, von großer Reise zurückgekommen, führt noch verbotenerweise Pferde aus, weil er nicht weiß, daß ein Pferdeausfuhrverbot inzwischen in Kraft getreten ist. Dieser Grundirrtum bewirkt die absolute Unmöglich­

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keit, die Handlung unter das Verbot zu subsumiren. Auf ihn wird alsbald zurückzukommen sein °. b. Der zweite Grundirrtum wird dadurch möglich, daß alle pflichtbegründenden Rechtsfätze Regeln sind, die von rechtlich anerkannten Ausnahmen durchbrochen werden. Neben dem Ver­ bot der Aneignung fremder Sachen stehen anerkannte An­ eignungsrechte, neben den verbotenen Tötungen unverbotene, ja sogar erlaubte, ja sogar gebotene! Hier weiß der Täter, daß er sich eine fremde Sache an­ eignet, aber er glaubt fälschlich dafür einen Rechtstitel zu haben, oder er weiß, daß er einen Menschen tötet, ist vielleicht erpicht darauf, ihn zu töten, aber er glaubt fälschlich in Not­ wehr zu sein, oder der Vorposten vor dem Feinde glaubt auf einen heranschleichenden Feind zu schießen, während er auf den Offizier der Ronde anlegt, oder der Lehrer glaubt fälsch­ lich ein Züchtigungsrecht zur Ausübung zu bringen. Die Nichtsubsumtion des verbotenen, im äußerlichen Ver­ lauf klar vorgestellten Verhaltens unter die Norm, unter die es fällt, gründet in seiner fälschlichen Subsumtion unter eine der verschiedenen Ausnahmen — gleichgültig unter welche. Eine falsche Subsumtion macht die richtige unmöglich. Beiläufig sei bemerkt, daß grade diese große Gruppe von Jrrtumsfällen, aber natürlich nur, soweit den Irrenden Schuld trifft, zusammen­ fällt mit der großen Gruppe fahrlässiger Ver­ brechen, bei denen der Täter den rechtswidrigen Erfolg — nur nicht als solchen — mit voller Klar­ heit vorausgesehen und seinen Eintritt beab­ sichtigt hat. Es ist nicht wahr, dem fahrlässigen Delikt eigne der unvorhergesehene rechtswidrige Erfolg. Wer dies behauptet, ermangelt, wie die meisten Doktrinäre, der Gabe, das Leben zu beobachten. « S. unten S. 425 ff.

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o. Der dritte Grundirrtum besteht darin, daß der Handelnde nicht alle wesentlichen Merkmale der verbotenen Handlung erkennt, und sie des­ halb nicht als die konkrete Pflichtwidrigkeit, die sie ist, erfaßt. Hierher gehören a. vor allem die Fälle des echten error in objsoto. Der Täter hat ein zur deliktischen Verletzung taugliches Ob­ jekt vor sich, hält es aber für ein untaugliches: er konkumbirt mit einer Fremden, während er sie für seine Ehefrau hält. Daran reiht sich /?. der Irrtum über die ursächliche Qualität der Handlung für den Erfolg, welch letzterer infolge davon nicht vorausgesehen wird; daran endlich der Irrtum des Täters über seine Taug­ lichkeit zur Deliktsbegehung. Er verkennt sich als taugliches Subjekt, hält sich für einen Nichtbeamten, einen Nichtsoldaten, einen Nichtdeutschen. Alle diese Vorirrtümer erzeugen genau den gleichen, allein rechtlich bedeutsamen Folgeirrtum: die begangene konkrete Pflichtwidrigkeit sei diese konkrete Pflichtwidrigkeit nicht. 4. Diese irrtümliche Nichtsubsumtion unter die Norm, unter welche die Handlung fällt, kann sich mit ihrer irrigen Subsumtion unter eine Norm, unter die sie nicht fällt, verbinden. Der Täter tötet widerrechtlich, will aber nur eine Körper­ verletzung begehen; er glaubt zu wildern, der Hirsch steht aber im Eigentum. 5. Umgekehrt kann sich mit der richtigen Sub­ sumtion eine Nichtsubsumtion der Handlung unter eine andere Norm verbinden, der sie auch zuwiderläuft: nämlich dann, wenn der Täter nur ein von ihm richtig erkanntes Delikt zu begehen glaubt, zu diesem aber unabsichtlich noch ein anderes gesellt.

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Die wichtigsten Fälle dieser Art sind die bekannten Aberrationsfälle. Daß hier zwei Handlungen vorliegen, wird am besten klar, wenn man an Aberration bei der Not­ wehr denkt. Hier konkurrirt zweifellos eine berechtigte Not­ wehrhandlung, die vielleicht sogar zur Verletzung des An­ greifers geführt hat, mit unbeabsichtigter rechtswidriger Ver­ letzung eines Dritten. VIII. Wie wirkt denn nun aber dieser einzig relevante Irrtum bei Delikten? Bevor ich auf seine einzelnen Wirkungen eingehe, betone ich seine Allgemeinwirkung: er bewirkt stets eine un­ bewußte Vornahme der verbotenen Handlung oder Unterlassung als solcher. Nun gibt es auf dem ganzen Deliktsgebiet bei der Beurteilung der Schuld des Täters keinen tiefer greifenden Unterschied als den zwischen bewußter und unbewußter Pflichtverletzung. Logisch unanfechtbar ist der Satz, daß der bewußte Delin­ quent — wir nehmen im übrigen, wie der Methodiker muß, die gleiche Schwere des objektiven Tatbestandes an — sich viel schwerer an der Pflicht versündigt als der unbewußte. Logisch ist es also einfach geboten, bei dem konkreten Delikt den rechtswidrigen Vorsatz für die schwerste Schuldform zu erklären. Logisch ist dem rechtswidrigen Vorsatz das Bewußtsein der Normwidrigkeit, der Rechts­ widrigkeit, der Pflichtwidrigkeit wesentlich — das ist ja alles identisch, wenn man nicht unerlaubterweise die moralische Pflichtwidrigkeit in die rechtliche einschmuggelt! Es ist dem Gesetzgeber — und dem Zivilgesetzgeber nicht weniger als dem Strafgesetzgeber — dringend zu empfehlen, diesem logischen Postulat sich ruhig zu fügen und den Vor­ satz als den Willen zu einer konkreten Pflicht­ verletzung verbunden mit dem Bewußsein dieser konkreten Pflichtverletzung anzuerkennen. Er

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mag noch so lange suchen, er wird in der Seele des Täters, soweit sie zum Rechte Stellung nimmt, keine Verschiedenheit finden, die an Tiefe und Bedeutung mit dem Gegensatze be­ wußter und unbewußter Auflehnung gegen die Pflicht zu wetteifern vermöchte! Grade deshalb fordert nicht nur die Logik, sondern mit gleicher Entschiedenheit die Gerechtigkeit die Aner­ kennung des Bewußtseins der Rechtswidrigkeit zum Vorsatze. Die eine unbedingt und in allen seinen Anwendungs­ fällen eintretende Wirkung des Deliktsirrtums ist der Aus­ schluß des rechtswidrigen Vorsatzes in seiner richtigen Fassung. Erst jetzt betrachte ich die einzelnen Fälle! Da will ich denn vor allem dem furcht­ barsten, dem unverzeihlichsten Irrtum, der an­ geblich Niemandem je zur Entschuldigung ge­ reichen kann: dem Irrtum über die Rechtswidrig­ keit der Handlung wegen wirklicher Unkenntnis des pflichtbegründenden Rechtssatzes — der Norm — mit den Fackeln zugleich der Wissen­ schaft und der Gerechtigkeit in das Gorgonenantlitz leuchten. 1. Diese Unkenntnis ist nur dann vorhanden, wenn je­ mand das Dasein der Norm nicht kennt, auch nicht annimmt, daß sie vorhanden sein muß oder wenigstens sein kann. Auch bei letzterer Annahme wäre noch eine Übertretung mit

ckolus 6v6ntuaÜ8 denkbar. 2. Fehlt aber diese Kenntnis, dann mag der Täter das größte Genie der Welt sein, dann ist ihm die Erkennt­ nis der Pflichtwidrigkeit seiner Handlung ab­ solut unmöglich. Das absolut Unmögliche birgt aber nie eine Schuld in sich. Die wirkliche Unkenntnis der Norm begründet also bei dem Unwissenden die Unfähigkeit, diese Norm deliktisch zu übertreten: sie hebt für dieses

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konkrete Deliktsgebiet seine Deliktsfähigkeit vollständig auf. Denn pflichtwidrig handeln heißt, sein Handeln einem als autoritativ bekannten Willen nicht unter­ ordnen. 3. Sofort beginnt für ängstliche Gemüter der Staat in seinen Grundfesten zu beben, und die Autorität der Gesetze verflüchtigt sich in die Luft wie ein losgelassener Kinderballon. Treten denn nicht die Gesetze — so grollen sie zitternd — ihre Herrschaft mit dem Tage des Inkrafttretens an? Warum kannte er das Gesetz nicht? 8ua umxima oulpa! Mag man ihm auch für den Zeitpunkt der Aktion die Deliktsfähigkeit für dies konkrete Delikt absprechen: so hat er sich ja doch in diesen Zustand der Deliktsunfähigkeit versetzt, und demgemäß müssen zum mindesten die Grundsätze der actio libora in oau8L auf ihn Anwendung finden. Diese letzte Begründung ist mir in der Literatur noch nicht entgegengetreten. Ich halte sie aber für ganz richtig, wenn sich jemand absichtlich um seine Pflichten nicht kümmert, um sich möglichst frei bewegen zu können. Dann willigt er in die eventuelle Pflichtwidrigkeit der Hand­ lung, und diese ist ihm zum Vorsatz zuzurechnen. Aber die Erfüllung des Gebotes, von seinen Pflichten Kenntnis zu nehmen, unterbleibt meist aus Fahrlässig­ keit oder ganz schuldlos — letzteres insbesondere, wenn der, dem die Pflicht zugedacht war, keine Möglichkeit hatte, da­ von Kenntnis zu nehmen, oder wenn die Norm — was ja in unseren Zeiten klassischer Gesetzgebungskunst vorkommt — so gefaßt war, daß der gesunde Menschenverstand sie miß­ verstehen mußte, ja der Gesetzgeber vielleicht selbst sie nicht verstand. Daß in letzterem Falle weder schuldhaft unter­ lassene Kenntnisnahme vom Gesetz, noch schuld­ hafte Übertretung von diesem selbst vorliegt, dürfte denn doch ganz unleugbar fein. Unterblieb aber die Kenntnisnahme fahrlässig, so

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liegt ein fahrlässiges Unterlassungsdelikt vor. Dieses, aber nur für den Fall der Übertretung der ver­ kannten Norm — also in doppelt bedingter Straf­ drohung —, mit Strafe zu bedrohen, ist dringend geboten. Solange dies nicht geschehen ist, hindert uns die Strenge des Satzes nuUa posua ains ls^s, es unter Strafe zu ziehen. Absolut undenkbar aber ist es, aus der oulpa bei jenem Unterlassungsdelikt und dem objektiven Tatbestand der Übertretung des etwa mißkannten Verbotes ein fahrlässiges

Begehungsdelikt zu machen. Es werden da ja zwei Hälften von zwei ganz verschiedenen Delikten in unerlaubter Weise zu angeblich einem Delikt zusammengeschweißt. Wer fahrlässig eine Norm sich nicht zur Kenntnis bringt, ist ganz außerstande, vorauszusehen, daß er eine konkrete Pflichtwidrigkeit begehen wird. Und so ist ihm diese nie zur Fahrlässigkeit zuzurechnen: grade wieder wie bei den astionss lidoras in oausa, wenn solche Voraussicht ausgeschlossen ist. So ist von allen Irrtümern die wirkliche Un­ kenntnis der Norm im Gegensatz zur herrschen­ den Lehre nicht der wirkungsloseste, sondern der wirksamste: er hebt die Deliktsfähigkeit für ein konkretes Deliktsgebiet vollständig auf. Die unterlassene Kenntnisnahme aber bildet den ob­ jektiven Tatbestand eines Unterlassungdeliktes, welcher ebenso vorsätzlich als fahrlässig, als ohne jede Schuld gesetzt sein kann. Das ist es, was Wissenschaft und Gerechtigkeit über jene Gorgo zu sagen haben! L. So stellt sich die weitere Frage dahin: wie wirkt die irrige Nichtsubsumtion der rechtswidrigen Handlung unter die dem Täter bekannte Norm? Hier tut die Wissenschaft gut, den inhaltlich stets gleichen Irrtum in den unvermeidlichen, den verzeihlichen und den unverzeihlichen zu scheiden. 1. Ging die Vermeidung des Irrtums über des Täters

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Fähigkeit, so fehlte ihm die Zurechnungsfähigkeit aä Koo — also für diesen einzelnen Fall. 2. Hätte der Täter nach Begabung und Ausbildung bei Aufwendung der durch die konkrete Sachlage gebotenen Auf­ merksamkeit unter Berücksichtigung der ihm für die Fassung seines Entschlusses gebotenen Zeitspanne die Deliktsqualität seiner Handlung erkennen können und sollen, so ist sein Deliktsirrtum ein unverzeihlicher, andernfalls ein ver­ zeihlicher. Der rechtlich relevante Irrtum schöpft feine Verzeihlichkeit oder Unverzeihlichkeit aus der Verzeihlichkeit oder Unverzeihlichkeit seiner Vorirrtümer. Das wenigstens haben schon die Römer klar erkannt. Nun gibt es keine Frage, die individueller und konkreter zu beantworten wäre, als die nach der Verzeihlichkeit des Irrtums. Es erhellt aber sofort: a. der verzeihliche Deliktsirrtum ist überall der gleiche, mutz also logisch und sollte nach dem Gesetz überall die gleiche Wirkung üben, und d. die Aufstellung von Rechtsvermutungen für die Unverzeihlichkeit gewisser Vorirrtümer, aus denen der Deliktsirrtum entspringt, wider­ spricht ebenso dem Streben nach materieller Wahrheit als nach materieller Gerechtigkeit.

Das ganze Jrrtumsgebiet mutz absolut präsumtionsfrei bleiben. Die Schuldpräsumtion schändet die Gesetzgebung, die sich ihrer bedient, und erniedrigt die Praxis, die sie gegen bessere Ein­ sicht anwenden muß! 3. Die Wirkung des verzeihlichen Delikts­ irrtums geht dahin, nicht die Zurechnungsfähigkeit aä lloo, aber alle Schuld und damit die konkrete Zurechnung aufzuheben. 4. Die Wirkung des unverzeihlichen Delikts­ irrtums bestimmt sich nach der Abgrenzung der Schuldarten von einander.

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a. Der rechtswidrige Vorsatz und der Delikts­ irrtum vertragen sich nie bei derselben Hand­ lung: sie sind Todfeinde — unter der Voraussetzung freilich nur, daß der Vorsatz, wie allein logisch, wie allein gerecht, gefaßt wird, als der Wille, ein Delikt zu begehen, verbunden mit dem Bewußtsein der konkreten Pflichtwidrigkeit des Handelns. In dieser Ausprägung hat auch der Vorsatz die ganze deutsche Strafrechtsgeschichte beherrscht, und zwar bis tief in das 19. Jahrhundert. Wenn aber dann die Doktrin irr wurde und einige Strafgesetzbücher — nicht das deutsche, das den ganz richtigen Vorsatzbegriff sanktionirt hat — dem Vor­ satz jenes Bewußtseinsmoment genommen haben, so geschah das auf beiden Seiten nur aus Angst vor dem dräuenden Götzen: srror juris nosst. Werfen wir diesen Götzen auf den Kehricht, wohin allein er gehört, dann wird auch endlich die Jrrtumslehre gefunden: dann schließt der unverzeihliche Deliktsirrtum den Vorsatz stets vollständig aus. b. Wird aber der Vorsatz etwa gefaßt als das Wollen der rechtswidrigen Handlung einschließlich ihres Erfolges, dessen Rechtswidrigkeit sich aber in der Seele des Handelnden nicht gespiegelt zu haben braucht, dann übt der unverzeih­ liche Deliktsirrtum nicht immer die Wirkung aus, die ihm dogmatisch bestimmt ist und gesetzgeberisch zuerkannt werden sollte: nämlich die, immer den Vorsatz auszu­ schließen, aber immer die Fahrlässigkeit zu be­ gründen, sondern die Wirkung des gleichen Irrtums ist dann eine verschiedene: bald schließt er den Vorsatz aus, bald bewirkt er, daß dogmatisch reine Fahrlässigkeitsfälle ungerechterweise als vorsätzliche Verbrechen angesehen und bestraft werden. 5. Ich fasse zusammen: Der Irrtum des Täters, trotz Kenntnis der Norm, eine konkrete Rechts­ widrigkeit nicht zu begehen, schließt aus:

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I. wenn unvermeidlich, die Zurechnungsfähig­ keit aä Koo; 2. wenn verzeihlich, Schuld und Zurechnung; 3. wenn unverzeihlich, den Vorsatz, begründet aber dann 4. die Fahrlässigkeit, die ohne diesen Delikts­ irrtum dogmatisch so wenig denkbar ist wie der Vorsatz mit diesem Irrtum. IX. Ich wende mich jetzt vom reinen Delikt zu dem vom Strafgesetzgeber zum Bau bejahender Strafgesetze ver­ wendeten— ich darf vielleicht sagen: dem angewandten — Delikte. Und da möchte ich nur rasch die kurze Bemerkung vorausschicken: die kriminellen und zivilistischen Folgen eines Delikts bestimmt der Gesetzgeber nach seinem Ermessen. Ein Irrtum des Delinquenten über diese Folgen ist dem­ gemäß nicht ein Irrtum über seine Handlung, soweit sie von ihm abhängt, sondern ein Irrtum über den Willen des Gesetzgebers, der sich an sein Delikt anschließt. Daß dieser Irrtum juristisch bedeutungslos ist, ergibt sich aus dem Ver­ hältnis des Einzelnen zu dem Willen der rechtlichen Autorität. So ist der Irrtum über die Strafbarkeit des Delikts und über Art oder Maß der Strafe be­ deutungslos und jedenfalls kein Irrtum über Bestandteile der Handlung. L. Analysirt man nun aber die Merkmale der einzelnen Verbrechenstatbestände, so zeigt sich alsbald, daß — am wenigsten bei den ganz leichten, in wachsendem Verhältnisse aber bei den schwereren — zu den Merkmalen, mit welchen Verbot oder Gebot die Handlungen charakterisiren, die unter­ bleiben oder vorgenommen werden sollen — etwa einen andern Menschen zu töten oder an der Gesundheit zu be­ schädigen, eine fremde Sache sich anzueignen, im Kriege dem Landesfeind keinen Vorschub zu leisten —, noch weitere Merk­ male hinzutreten, die mit der Charakterisirung der Rechts-

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Widrigkeit der Handlung gar nichts zu tun haben, denn diese steht auch ohne sie fest, sondern lediglich dazu verwandt werden, um das Delikt in Stücke zu schlagen, damit jedem Stück die nach Auffassung des Gesetzgebers gerechte Strafe zuteil werden kann. Ich habe sie Strafbarkeitsmerk ­ male genannt. Die markantesten, nicht die einzigen, ja nicht einmal die wisfenschaftlich beachtlichsten sind die Schärfungs- und die Milderungsgründe. Der Anschaulichkeit halber will ich aber bei diesen stehen bleiben. I. Aus den Schürfungsgründen scheiden für unsere Betrachtung diejenigen aus, die Neben­ delikte zum Hauptdelikt bilden, wie die vorsätzliche Sachbeschädigung und der vorsätzliche Hausfriedensbruch beim Diebstahl mit Einbruch, wie die durch die Einsperrung be­ wirkte schwere Körperverletzung bei dieser. Für diese Neben­ delikte gilt vom Irrtum das gleiche wie von allen Delikten überhaupt. Wer unabsichtlich beim Diebstahl die Tür sprengt, die er ohne Gewalt öffnen wollte, begeht eben das vorsätz­ liche Nebendelikt nicht: sein Diebstahl bleibt ein einfacher. 2. Wenn aber der Totschlag an Aszendenten unter schwerere, wenn Mord und Totschlag an dem den Tod ernst­ lich und ausdrücklich Verlangenden, oder begangen seitens der Mutter am unehelichen Kind in oder gleich nach der Geburt, unter leichtere Strafe gestellt werden, wenn bei der Brand­ stiftung die Strafe verschieden bestimmt wird, je nachdem sie an Gebäuden, Schiffen oder Hütten begangen wird, die zur Wohnung von Menschen dienen oder nicht dienen, wenn Diebstahl und Raub mit Waffen wieder unter schwerere Strafe gezogen, dagegen Diebstahl und Unterschlagung wider Verwandte absteigender Linie und am Ehegatten sogar für straflos erklärt werden, wenn die schwere Körperverletzung erheblich schwerer bedroht ist wie die leichte, so zeigt sich zu­ nächst, daß alle diese Momente sich nicht immer mit Not­ wendigkeit im Bewußtsein des Täters widerspiegeln müssen.

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3. Und so läge ja nahe, sich vorzustellen, daß bei allen strafbaren Delikten, zu deren Aufbau neben den reinen Deliktsmerkmalen auch noch Strafbarkeitsmerkmale zur Ver­ wendung gekommen sind, neben dem Qualitätsirrtum über das Delikt noch ein zweiter genauer zu untersuchender Irrtum treten könnte, den man vorläufig einmal als Quantitätsirrtum anzusprechen geneigt sein möchte. Aber sofort erheben sich große Bedenken darüber, ob ein solcher Irrtum irgendwelche Wirkungen ausüben, irgend­ welche Berücksichtigung wird finden können? Denn die Straf­ barkeitsmerkmale schafft der Gesetzgeber — dabei freilich sehr häufig vorgebildete Anschauungen in seinen Volkskreisen nur sanktionirend —, und zwar allein deshalb, um seine eigene Anschauung über die relative Schwere der bestimmten Gruppe der Deliktsart zum Ausdruck zu bringen. Wird nun der Gesetzgeber diese seine Wirkung abhängig machen von dem Umstand, daß der Täter die zur Wertung verwendeten Tat­ umstände auch kennt und parallel mit der gesetzlichen An­ schauung von der Wertung der ganzen Deliktsgruppe zur Wertung seiner eigenen Handlung verwendet? Und wenn Gesetzgeber und Täter die gleiche Tat verschieden wägen, kann dann dem Gesetzgeber zugemutet werden, sich dem Irrtum des Täters zu fügen? Das Gegenteil versteht sich von selbst. Und so läßt sich die dogmatisch unanfechtbare Regel aufstellen: ein Irrtum des Täters über vorhandene strafschärfende und strafmildernde, straferhöhende und straf­ mindernde Tatumstände, ein Quantitätsirrtum in diesem Sinne ist rechtlich vollständig be­ deutungslos. Aber gar nicht unmöglich wäre, daß das schwerere oder leichtere Gewicht der Tat vom Gesetzgeber in einem psycho­ logischen Momente: etwa grade in einer täterischen Wissenschaft von einem Tatmerkmal gefunden würde. Und diese Möglichkeit wird sehr häufig zur Wirk­

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VIII. Über den Irrtum bei Delikten.

lichkeit, und diese Wirklichkeit gebiert wieder leicht zwei große Irrtümer: 1. zunächst den, daß es bedeutsame, rechtlich wirksame Irrtümer über Schärfungs- oder Milderungsgründe gäbe, und dann 2. den andern, daß dieser Irrtum gleichfalls ein Sub­ sumtionsirrtum wäre. Wie der echte Deliktsirrtum die Subsumtion der Handlung unter die Norm, so hindere dieser Irrtum ihre Subsumtion unter das Strafgesetz. Freilich würde dadurch plötzlich gegen alle Tradition und gegen alles geltende Recht der Irrtum über das Strafgesetz doch in einer großen Anzahl seiner An­ wendungsfälle zum rechtlich wirksamen Irrtum. Um beide Irrtümer (sud 1 und 2) gemeinsam am ein­ fachsten Fall aufzuklären, nehmen wir an, der Täter töte vorsätzlich seinen Vater, den er in der Dunkelheit nicht er­ kannt habe. Dann irrt er ganz bestimmt nicht über das Dasein eines Schärfungsgrundes, denn dieser besteht nicht in der Vatereigenschaft des Erschlagenen, sondern in der Wissen­ schaft des Täters, daß er sich an einem Verwandten auf­ steigender Linie vergreift. Hätte er den Vater für den Groß­ vater gehalten, so läge der Schärfungsgrund ja doch vor. Und das Strafgesetz droht seine schwere Strafe nicht jedem, der seinen Vater erschlägt, sondern dem, der ihn wissentlich erschlägt. Da der Täter diese Eigenschaft nicht kennt, ist es durchaus richtig, daß er feine Handlung nicht dem 8 215 unterstellt. Es liegt also gar kein Subsumtionsirrtum be­ züglich des Strafgesetzes vor — ganz abgesehen davon, daß dieser nie rechtlich bedeutsam sein könnte'! ? Ich weiß sehr wol, daß es unter Umständen sehr bequem ist, die Unwissenheit, von der ich hier allein spreche, als „Irrtum über Strafbarkeits­ merkmale" zu bezeichnen. Der Ausdruck ernpfiehlt sich durch seine Kürze. Ist man sich seiner Ungenauigkeit bewußt, so schadet er auch nichts. Des­ halb trage auch ich kein Bedenken, ihn zu benützen. Nimmt man ihn aber wörtlich, so wird der Verwirrung Tür und Tor geöffnet. Binding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen.

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Wie aber beim Aszendententotschlag, wie beim Kinds­ mord findet der Gesetzgeber auch sonst noch in zahlreichen Fällen den Schärfungs- oder den Milderungsgrund in der Wissenschaft des Täters von einem Tatumstand: etwa von der Fürstenstellung des Beleidigten, dem Anvertrautsein der unterschlagenen Sache, der Beamtenstellung des Unterschlagen­ den oder des Hausfriedensbrechers. Es gibt jedoch auch Schärfungs- und Milderungs- und Strafausschließungsgründe ganz objektiver Art, auf welche die Vorstellung des Täters ohne jeden Einfluß bleibt: so z. B. die Schwere des Erfolgs bei der Körperverletzung, der leichte Erfolg bei der als einer schweren beabsichtigten Körper­ verletzung, so der Rückfall, so die Tatsache, daß die gestohlenen oder unterschlagenen Sachen einem Verwandten absteigender Linie oder einem Ehegatten gehören, und zahlreiche andere. Das Schwerste bei dieser zweifellos vorhandenen Unter­ scheidung besteht darin, sie mit Sicherheit zur Durchführung zu bringen, da die Gesetzgeber die Ausleger so unendlich häufig im Unklaren lassen, ob sie das Wissen von einem Tat­ umstand oder diesen selbst als Schärfungs- oder Milderungs­ grund betrachten. Oft dürften sie sich diese Frage nicht einmal selbst gestellt haben. Vor langen Jahren habe ich diese Unter­ suchung sorgsam begonnen, sie ist aber von niemandem anders sorgsam weitergeführt worden. Bei aller Hochachtung vor den Bestimmungen des all­ gemeinen Teils der Strafgesetzbücher und des Z 59 des deutschen Strafgesetzbuchs insbesondere ist aber ganz allein die Auslegung des einzelnen schärfenden oder mildernden Strafgesetzes entscheidend. Fragt man nun, wie die Unwissenheit, in deren Gegen­ teil der Strafgesetzgeber den Schärfungs- oder Milderungs­ grund findet, wirkt, so ist die Anwort selbstverständlich, und doch wird sie zum Teil falsch gegeben. 1. Sie betrifft nur einen und zwar für das Delikt als solchen unwesentlichen Punkt: sie kann also nie die

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Deliktsfähigkeit aä üoo ausschließen. Ebensowenig aber 2. den rechtswidrigen Vorsatz. Diese Wahrheit verkennt die grundfalsche Lehre, beim vorsätzlichen Delikt bestehe der Vorsatz in dem Wissen und Wollen aller nach dem Strafgesetz wesentlichen Merkmale des verbrecherischen Tatbestandes — (natürlich mit Ausnahme des wichtigsten, des Merkmals der Rechtswidrigkeit!). Es ist dies Eine der bekannten Lehren, welche die ungern Denkenden durch ihre plausible Allgemeinheit bestechen, die deshalb unendlich oft kritiklos nachgesprochen werden, ob­ gleich sie die größte Ungenauigkeit in sich tragen und auf gradezu barocke Anschauungen hinauslaufen. Eine große Anzahl wesentlicher Merkmale vorsätzlicher Verbrechen braucht sich gar nicht im Bewußtsein des vorsätzlich Delinquirenden ge­ spiegelt zu haben. Das Moment der Schwere bei der Körperverletzung ist allein schon durchschlagendes Beispiel! Die barocke Anschauung aber, worauf diese Lehre hinaus­ läuft, besteht darin, daß es so viel verschiedene Vorsätze als Arten qualifizirter oder privilegirter vorsätzlicher Verbrechen gäbe. Der Tötungsvorsatz aber beispielsweise ist bei allen Arten vorsätzlicher Tötungen aufs Haar derselbe. Gäbe es jedoch einen besonderen Vorsatz des Aszendententotschlags, so würde der Totschläger, der seinen Erzeuger erschlagen wollte, ihn aber bei der Tat mit einem andern verwechselt hätte, diesen gemeinen Sterblichen nicht mit dem nötigen Vorsatz erschlagen haben, die Handlung mit dem Vorsatze des Aszendenten­ totschlags wäre aber nicht am tauglichen Objekt zur Aus­ führung gekommen — lauter wunderbare Konsequenzen! Und wenn der musterhafte Gatte feine Ehehälfte hat be­ stehlen wollen, dabei aber Sachen dritter Personen in An­ eignungsabsicht mitergriffen hat, so fehlt ihm doch mit Bezug auf diese nicht der Diebstahlsvorsatz! Der Vorsatz wird 28»

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eben nur durch den Qualitätsirrtum über das Delikt aus­ geschlossen. 3. Die einzige Wirkung, die das Fehlen jener Wissen­ schaft üben kann, ist eine negative: die Nichtentstehung eines Schärfungs- oder Milderungsgrundes. Und diese negative Wirkung ist von der Verzeihlichkeit oder Un­ verzeihlichkeit der Unwissenheit natürlich ganz unabhängig. Daraus ergibt sich aber ipso jurs die Nicht­ anwendbarkeit des schärfenden oder mildernden Strafgesetzes. Darin erschöpft sich die Wirksamkeit des Nichtwissens. X. Mehr als die beiden Irrtümer, die zur Darstellung gebracht sind, gibt es für das Strafrecht nicht. Sieht man genauer zu, so ist der wichtigste, der Deliktsirrtum, nicht wesentlich krimineller Natur: er eignet gleichermaßen dem ganzen Gebiete der straflosen wie der strafbaren Delikte. Spezifisch strafrechtlich ist nur die Unwissenheit, die ein Strafbarkeitsmerkmal nicht zur Entstehung kommen läßt. Zweiter Abschnitt.

Gesetzgeberische Behandlung des Irrtums. Wie aber stellt sich zu diesem ganzen ebenso feinen wie schwierigen Jrrtumsproblem die Strafgesetzgebung — ins­ besondere die deutsche? Es wäre ebenso ermüdend, als es in der Kürze unmöglich ist. Ihnen einen Aufriß der Jrrtumsbehandlung in der deutschen Partikulargesetzgebung von 1751 bis zur Gegenwart zu geben, zumal ihre Darstellung im engsten Verband mit der Darstellung der Dolusbehandlung gehalten werden müßte. Nur einige charakteristische Eigentümlichkeiten bedürfen der Hervorhebung: an allererster Stelle die, daß die Ent­ wicklung im großen und ganzen sich als fort­ schreitende Verschlechterung darstellt bis zum deutschen Strafgesetzbuch.

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I. Die ganze Jrrtumsbehandlung fußt von Anfang an auf dem angeblich römischen Axiom: srror ^'uris noest, srror Loti non nosst. Es steht immer im Hintergrund — bald etwas klarer, bald etwas weniger klar erkennbar, bald etwas treuer, bald etwas freier verwendet. II. Der durch den Verbrecher übertretene Rechtssatz wird noch in den bayrischen und österreichischen Gesetz­ büchern von 1751 und 1768 ganz richtig in dem pflicht­ begründenden Rechtssatz gefunden. Eine Kenntnis des­ selben wird präsumirt. Ist nur „die innerliche Boßund Strafmäßigkeit der Handlung" nicht unbekannt oder darf sie es nicht sein, so ist die besondere Gattung derselben Strafe zu wissen nicht nötig. Nun beginnt aber alsbald die oben (S. 416 ff.) dargelegte grundfalsche Auffassung des Strafgesetzes auch in den Gesetzen durchzugreifen. 1. Das Strafgesetz, das keine andere Aufgabe hat, als Strafen zu normiren, das sich also seit Verschwinden der Privatstrafe nur an den Staat wendet, desfen erstem Teil die verbrecherische Handlung deshalb allein unterstellt werden kann, weil sie ihm konform ist, also grade nicht zuwider­ läuft, wird unerhörterweise als der Rechtssatz gefaßt, den der Verbrecher übertritt. Wie diese Mißdeutung ein Erzeugnis der Aufklärungszeit gewesen ist, so beginnt das erste große deutsche Aufklärungsgesetz, das preußischeLandrecht, damit, sie gesetzlich zu sanktioniren. Das österreichische Strafgesetzbuch von 1803 folgt; Feuerbachs bayrisches Strafgesetzbuch von 1813 erhebt diese Anschauung zur absolut siegreichen; sie wird von da im wesentlichen festgehalten bis zum hamburgischen Straf­ gesetzbuch von 1869 und tritt erst in den neuesten Strafgesetz­ entwürfen mehr zurück. Die dogmatische Konsequenz, die sich daraus notwendig für den Vorsatz ergab, war, daß ihm „das Bewußtsein der Strasgesetzwidrigkeit" ge­ geben werden mußte. Der Täter hatte dann streng genommen vor seiner Tat die Aufgabe einer Subsumtion derselben unter

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das Strafgesetz, wie sie in Wahrheit der Richter nach dieser Tat vorzunehmen hat. Da dieser Vorsatzbegriff sich praktisch nicht verwerten ließ, mußte durch Prä­ sumtionen oder durch Nichtbeachtung der Kon­ sequenz geholfen werden. 2. Damit wird der srror juris zum Irrtum über das Strafgesetz in dieser eigentümlichen Mißdeutung. Der Sinn des srror juris bei Delikten im römischen Recht wird in der gewaltsamsten Weise verzerrt. Bayern 1813 und Oldenburg 1814 begnügen sich noch mit einer starken Vermutung gegen die Glaub­ würdigkeit vorgeschützter Unwissenheit des Strafgesetzes. Sie verdichtet sich in der Folge zur prasLumtio jnris 6t äs jurs etwa in der Fassung: Unbekannt­ schaft mit dem Strafgesetz entschuldigt nicht, — nur um dem wichtigsten Irrtume, den es überhaupt gibt, dem über die Rechtswidrigkeit, jede Wirksamkeit abzu­ sprechen! Nur Hannover verlangt ausdrücklich und ver­ dienstlich, die vorsätzlich rechtswidrige Handlung müsse mit dem Bewußtsein, „daß sie unerlaubt sei", be­ gangen sein. Eine teilweise Rückkehr zu der allein richtigen Ansicht findet sich im bayrischen Polizeistrafgesetzbuch von 1861 Art. 21. Hier wird als Gegenstand der Übertretung

nicht ein Strafgesetz, sondern eine Polizeivorschrift ge­ nannt. Die Unkunde stark latenter Polizeivorschriften be­ rechtigt den Richter zur Freisprechung, „sofern der Täter die übertretene Vorschrift nicht leicht in Erfahrung bringen konnte". Eine richtige Ahnung, daß die von dem Verbrecher über­ tretenen Rechtsvorschriften wenigstens nicht immer im Straf­ gesetz enthalten wären, dämmert in den sächsischen Straf­ gesetzbüchern von 1855 und 1868 auf. Ist die Hand­ lung „aus einem Rechtsirrtume hervorgegangen, welcher sich nicht auf das Strafgesetz, sondern auf andere bei der Hand­

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lung in Betracht kommende Rechtsgrundsätze bezieht" — so tritt geminderte Zurechnung ein b. Daran und an die Praxis des Reichsgerichts ? knüpft der deutsche Vorentwurf Z 61 an. „Hält der Täter die Handlung für erlaubt, weil er sich über nicht strafrechtliche Rechtssätze oder deren Anwendbarkeit irrt, so liegt Vorsatz nicht," aber vielleicht Fahrlässigkeit vor. „Hält der Täter die Handlung für erlaubt, weil er sich über das Strafgesetz irrt, so können die Grundsätze über den Versuch angewendetwerden." Es ist eine starke Zumutung an das 20. Jahrhundert, eine absolut widersinnige Praxis zur Gesetzgeberin stempeln zu wollen! 3. Der Irrtum über Art oder Maß der Strafe wird in dieser ganzen Periode der Gesetzgebung ganz stereotyp für irrelevant erklärt. Vom Stand­ punkte der Balancirtheorie ist dies ganz unrichtig. 4. Die Bezeichnung für die zweite Art des Irrtums neben dem über das Strafgesetz schwankt. Zum ersten Male benennt ihn das bayrische Strafgesetzbuch von 1813 Art. 42 genau nach römischem Vorbilde den „Irrtum über ge­ wisse Tatsachen". Bald darauf bezeichnet es ihn als Unwissenheit eines Tatumstandes (Art. 72)'°. Dieser Ausdruck kehrt auch sonst wieder". SachsenAltenburg Art. 68 spricht „vom Irrtum über faktische Umstände"; Baden Art. 72 vom Irrtum über Tat­ sachen oder tatsächliche Verhältnisse; Preußen 1851 §44vomJrrtum über „Verhältnisse und Umstände"'?; " Man beachte die furchtbare Konsequenz. ° Vgl. oben S. 417 ff. io Grade so Oldenburg 1814 Art. 55 und 66. Vgl. Württem­ berg 1839 Art. 99 und 100 („Bei mangelnder Kenntnis des Strafgesetzes"; „Beim Irrtum über Tatsachen"); Braunschweig von 1840 W 31 und 32 (II. „Wahn und Rechtsunwissenheit"; III. „Irrtum in Tatsachen"); Baden 1845 88 72 und 73. " Hessen 1841 Art. 42; Nassau 1849 Art. 39; Bayern 1861 Art. 69; (österreichischer Entwurf von 1912 8 8. io Ebenso unklar Oldenburg 1858 8 43 und Lübeck 1861 8 3-

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Sachsen 1855 und 1868 und Hamburg vom Irrtum über Tatsachen; der Schweizer Entwurf Art. 20 vom Irrtum „über den Sachverhalt". Der Ausdruck „Tatumstand" könnte ja allenfalls auf Be­ standteile der täterischen Handlung bezogen werden Aber das ist offenbar nirgends gemeint: es handelt sich nur um verschiedene Verdeutschungen des srror Laoti. Bezüglich der Wirkungen des Tatsachenirrtums wird regel­ mäßig auf dessen Verzeihlichkeit oder Unverzeihlichkeit ab­ gestellt. Der verzeihliche schließt die Strafbarkeit, der un­ verzeihliche wenigstens den Vorsatz aus. 5. Zwei Gruppen von Irrtümern finden meistens eine besondere Behandlung: a. Die Verkennung von Strafschärfungsgründen" bei vorsätzlichen Verbrechen bewirkt die Zurechnung nur nach des Täters Absicht, schließt also die schärfere Strafe aus. Hier bezieht sich wenigstens der Irrtum direkt auf Eigenschaften der täterischen Handlung. b. Schon der 6oäsx jnris Lavarioi crim. von 1751 bestimmt, daß der Irrtum alle Strafe aufhebe, wenn der Täter iu kaoto lioito st iuou1p080 versirt. Beruht aber der Irrtum auf einer Fahrlässigkeit, so trete mildere Strafe ein. Ihm folgen die Theresiana und das Josephinische Gesetzbuch. Und auch in einer Anzahl späterer Strafgesetz­ bücher wird anerkannt, daß der Irrtum dessen, der rechtmäßig zu handeln glaubt — oder wie Hannover Art. 84 sagt, der annimmt, „die Handlung sei nach bürgerlichen Gesetzen erlaubt" —, mindestens die Zurechnung zum Vorsatze aus­ schließt. In diese Kerbe schlägt auch Z 23 des LisztKahl schen Gegenentwurfs Schaut man für einen Augenblick zurück, und läßt man 's zu sein. "

Am ehesten scheint mir das bei Bayern 1861 Art. 69 möglich

Vgl. oben S. 430 ff. Dessen kurzer Wortlaut geht dahin: „Hält der Täter sich zur Vor-

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den Irrtum über die Schärfungsgründe als den weit un­ wichtigeren einmal beiseite, so wird sofort deutlich: mit alleiniger Ausnahme des letzten Falles 8nb d, wo in der Tat ein Subsumtionsirrtum über die Handlung begangen wird, bewegen sich sämtliche Strafgesetzbücher durch­ aus in den Vorhöfen des rechtlich bedeutsamen Irrtums. Sie beschäftigen sich mit der Verzeihlichkeit oder Unverzeihlichkeit von lauter irrelevanten Grundirrtümern — bald über das Strafgesetz, bald über Art und Maß der Strafe, bald über irgendwelche tatsächlichen Momente. Der recht­ lich relevante Folgeirrtum und dessen materiell­ rechtliche Wirkung bleibt als solcher ganz außer Betracht. Man muß das scharf im Auge behalten, um das deutsche Strafgesetzbuch zu verstehen und seinen § 59 richtig zu würdigen.

Dritter Abschnitt.

Fundamentale Änderung in der Behandlung der Irrtumsfrage durch das Reichsstrafgesetzbuch. Nun hatte das preußische Strafgesetzbuch sich jeder Bestimmung über den sog. Rechtsirrtum enthalten: „da die Unwirksamkeit desselben schon gemeinen Rechtens sei" (!)", in seinem Z 44 aber eine sehr dürftige Bestimmung über den tatsächlichen Irrtum ausgenommen. Noch mehr „verdürftigt", wenn ich so sagen darf, war der entsprechende Z 52 des ersten norddeutschen Strafgesetzbuchentwurfs". In der vom Bundesrat einberufenen Juristenkommission erhielt aber dieser § 52 genau die Redaktion, in welcher er als § 59 in das norddeutsche Strafgesetzbuch übergegangen ist. Die Absicht einer fundamentalen Redaktionsänderung nähme der Handlung berechtigt, so liegt Vorsatz nicht und Fahrlässigkeit nur dann vor, wenn der Irrtum auf Fahrlässigkeit beruht." S. Goltdammer, Materialien I S. 434. " Vom Juli 1869.

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bestand weder hier, noch dachte man an eine solche in der Kommission des Reichstags. Schwarze^, der in beiden gesessen hat, bezeugt das, und erwähnt gegen mich, ins­ besondere habe kein Mitglied daran gedacht, unter die Tat­ umstände des Z 59 auch das Verbotensein der Handlung zu rechnen. Das beliebteste, wenn auch schlechteste Auslegungs­ mittel für ein Gesetz, die Motive (zu Entw. Z 47), versichern, man habe den sachlichen Grundsatz des ß 44 im preußischen Strafgesetzbuch in keiner Weise ändern wollen, die Änderungen seien nur redaktioneller Natur! Infolge davon ist lebhaft gewarnt worden, den 8 59 zu überschätzen: er enthalte nur eine dürftige Vorschrift über Tatirrtum Es wäre aber ja immerhin möglich, daß das Gesetz wieder einmal, wie ich dies bezüglich des berüchtigten Fahrlässigkeits­ paragraphen im Preßgesetze nachgewiesen habe, viel klüger wäre wie die, die es gemacht haben, und deren Nachbeter. Daß man aber ein vernünftiges Gesetz aus dem Unverstand seiner Urheber auslegt und dadurch diese sehr sterbliche Un­ vernunft zur unsterblichen macht, ihr also auf die Dauer Gesetzeskraft beilegt, ist das Gegenteil der Aufgabe der Aus­ legung, die vielmehr ein unvernünftiges Gesetz in das Ver­ nünftige auszulegen berufen ist. Also bei aller Hochachtung vor den vorhandenen oder nicht vorhandenen Intentionen der Urheber des Gesetzestextes kommen diese für eine wirklich gesunde Auslegung des Gesetzes selbst gar nicht in Betracht. Ganz abgesehen davon, daß die berühmten „Materialien" zu ß 59 geradezu nichts enthalten. I. Ich muß zunächst darauf Hinweisen, daß der ß 59 in seiner Fassung von allen früheren deutschen Strafgesetzbüchern wesentlich abweicht. Diese sprechen wol auch von einem tat­ sächlichen Irrtum oder von einem Irrtum über TatKommentar zum StrGB. 5. AufL. S. 254 N. 4. So v. Hippel, Vergleich. Darstellung A. T. III S. 548.

Olshausen zu Z 59 N. I.

Ähnlich

Vin. über den Irrtum bei Delikten.

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umstände oder faktische Verhältnisse. So dunkel diese Ausdrücke auch lauten, darüber konnte kein Zweifel sein: Gegenstand des Irrtums, dem die rechtliche Regelung galt, war nicht eine Eigenschaft der deliktischen Handlung, sondern waren tatsächliche Voraussetzungen derselben, deren irrige Auffassung dann einen Irrtum über die strafbare Tat aus sich entließ. Wie der Irrtum über das Strafgesetz ist auch der faktische Irrtum der früheren Gesetz­ bücher lediglich ein an sich irrelevanter Vorirrtum für den daraus folgenden relevanten Irrtum. Das Strafgesetzbuch § 59 weicht darin vollständig ab. Im Gegensatze zu allen seinen Vorgängern definirt es zu­ nächst haarscharf, was es unter Tatumständen versteht. II. Aus dieser Definition ergibt sich aber, daß diese „Tatumstände" wirklich Umstände, das heißt

Eigenschaften der konkrete« verbrecherischen Tat find. Und in demselben Augenblick wird für den, der das Jrrtumsproblem beherrscht und seine gesetzliche Behandlung seit 1751 genau kennt, klar, daß damit eine fundamental verschiedene Behandlung des ganzen Problems eingetreten ist. Denn zum ersten Male ist an Stelle der dualistischen Behandlung der Vorirrtümmer im Gesetz, also an Stelle der indirekten, mit unzulässigen Präsumtionen arbeitenden, der „symptomatischen" Behandlung des rechtlich relevanten Irrtums die einheitliche direkte Behandlung von diesem selbst getreten. Im Sinne des § 59 gibt es keinen andern strafrechtlich relevanten Irrtum als den über Tatumstände, die zum gesetzlichen Tatbestände gehören oder die Strafbarkeit erhöhen — sagen wir schärfen — oder die Strafbarkeit abmindern — die Wissenschaft sagt mildern. Den letzteren hat § 59 zu nennen vergessen. So fehlt in ß 59 die Behandlung von einem Viertel des Problems.

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Nichtsdestoweniger aber spricht § 59 das lösende Wort inso­ fern, als er zuerst unter den deutschen Strafgesetzbüchern wieder die direkte Jrrtumsbehandlung beginnt. Diese Tat ist in der Geschichte gesetzlicher Jrr­ tumsbehandlung ganz zweifellos epochemachend. Und wenn sich die Urheber der Fassung dessen, was sie taten, sicher nicht voll bewußt waren, so möchte ich zu ihren Ehren annehmen, daß ihr Instinkt sie leitete, das zu tun, was ihre Reflexion damals zu leisten noch außerstande war. Der Instinkt ist sehr häufig der Schrittmacher für die Er­ kenntnis! Daß der Redaktion des § 59 selbst mancherlei Mängel anhaften, bin ich der Letzte zu verkennen. 1. Nun ist die Einteilung der Tatumstände in Z 59, wenn wir vom Fehlen der Milderungsgründe absehen, als eine absolut vollständige Einteilung der wesent­ lichen Merkmale aller strafbaren Handlungen gedacht, über die ein Irrtum überhaupt möglich ist 2°. Einem wirksamen Irrtum entzogen ist aber nur das Schuldmoment: über alle andern kann geirrt werden. Es gibt keinen einzigen strafrechtlich relevanten Irrtum, defsen ß 59 nicht Erwähnung tut, außer dem Irrtum über Straf­ milderungsgründe. 2. Das Strafgesetzbuch getraut sich den ganzen straf­ rechtlich relevanten Irrtum, soweit es ihn behandelt — also außer den über Milderungsgründe —, einheitlich zu regeln. Es scheidet zwischen allen nur vorsätzlich begeh­ baren Verbrechen einerseits und allen auch fahrlässig begeh­ baren und dann strafbaren andererseits. a. Bei den ersteren schließt der Irrtum über den zum gesetzlichen Tatbestand gehörigen Tat20 Es fällt mir nicht ein, die Einteilung der Verbrechensmerkmale des StrGB.s 8 59 mit der dogmatisch allein richtigen in Deliktsmerkmale und Strafbarkeitsmerkmale für identisch erklären zu wollen. Aber der Irrtum über den zum gesetzlichen Tatbestand gehörigen Tatumstand dürfte in weit­ aus den meisten, wahrscheinlich in allen Fällen ein Irrtum über ein Delikts­ merkmal sein.

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umstand nicht nur die Strafbarkeit wegen vor­ sätzlichen Rechtsbruchs, sondern die Strafbarkeit überhaupt vollständig aus, ohne jede Rücksicht auf Verzeihlichke it oder Unverzeihlichkeil des Irrtums; der Irrtum über den Schärfungsgrund schließt die geschärfte Strafe aus b. Bei den Delikten, die auch, wenn fahrlässig begangen, strafbar sind, zerlegt das Gesetz den Irrtum in den verzeihlichen und den unverzeih­ lichen, den es wenig gut den durch Fahrlässigkeit ver­ schuldeten nennt. Der verzeihliche Irrtum wirkt schuld- und strafausschließend, der unverzeihliche über beide Arten von Merkmalen bewirkt die Zurechnung derselben selbst zur Fahrlässigkeit^. Darauf, wieweit diese Satzungen zu weit gehen gegen­ über den Strafschärfungsgründen, und darauf, wie sie zu er­ gänzen wären bezüglich der Strafmilderungsgründe, will ich heute nicht weiter eingehen. 3. Wol aber ist hervorzuheben, daß es gar kein für einen positivrechtlichen Verbrechensbegriff wesentliches Merkmal(-Tatumstand) gibt, das nicht im Sinne des Gesetzbuchs zum gesetzlichen Tatbestände gehörte, auch wenn es in den Ge­ setzestext keine Aufnahme gefunden hätte. Das Reichsgericht hat dies selbst zugegeben. RG. Hl vom 3. März 1884 (Entsch. X S. 235): „Der gesetzliche Tatbestand im Sinne des Z 59 besteht nun aber nicht bloß aus den im Strafgesetz ausdrücklich hervorgehobenen Merkmalen, sondern aus allen tatsächlichen Momenten, welche für den Begriff der betreffen­ den strafbaren Handlung in objektiver und subjektiver Hin­ sicht wesentlich sind." Oder wer wollte leugnen, daß zum Man beachte dazu das oben S. 433 und 434 Gesagte. Mit Bezug auf Schärfungsgründe kommt aber dieser fahrlässigen Unkenntnis nur eine ganz beschränkte Bedeutung zu.

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gesetzlichen Tatbestand der unterlassenen Anzeige nach Gesetz­ buch ß 139, daß zur Bigamie, zum Ehebruch der rechtswidrige Vorsatz zu zählen ist, obgleich das Gesetz seiner geschweigt? In einer größeren Anzahl seiner Paragraphen gebraucht ja das StrGB. „Gesetz" —synonym mit Rechtssatz und „ge­ setzlich" synonym mit gemäß Rechtens —, ganz einerlei in welcher Form der Rechtssatz auftritt. S. die HZ 2, 4 N. 3, 5 N. 2, 110, 119, 123, 129, 155, 170, 346, 354, 355. 4. So gehört denn auch — so tief betrübend dies auch für die Fanatiker des Satzes srror juris noost sein muß — das Moment der Rechtswidrigkeit zu den unent­ behrlichen Merkmalen des „gesetzlichen Tat­ bestandes" bei jeder rechtswidrigen Handlung. Ich möchte doch den, der das leugnet, bitten, mir einmal zu sagen, wo­ durch sich der Mord von der Hinrichtung des Scharfrichters unterscheidet, als durch das — ich gebe ja zu: so unbedeutende — Merkmal der Rechtswidrigkeit, und ich frage sie, ob sie dem deutschen Vorposten, der aus Irrtum auf den Mann der eigenen Ronde fchießt, der also über gar nichts anderes irrt als über die Rechtswidrigkeit seiner Tötungshandlung, nicht den § 59 zugute kommen lassen, ihn vielmehr wegen voll­ endeten Mordes zum Tode verurteilen wollen^? Freilich bereitet diese Wahrheit noch vielen Andern bitteren Kummer: denn schon allein aus § 59 ergibt sich, wenn es nicht auch anderweit aus den Quellen voll beweis­ bar wäre: daß zum rechtswidrigen Vorsatz unseres positiven Rechtes das Bewußtsein der Rechts­ widrigkeit unbedingt gehört. Die Kummervollen dürsten eben über das Maß der Ge­ rechtigkeit nach der Vorsatzstrafe, während ich mich über jeden Fall freue, in dem sie entbehrt werden kann. 22 Es ist mir neuerdings genau ein solcher Fall aus dem Felde ge­ meldet worden, und ich hörte zu meiner größten Freude, daß das Kriegs­ gericht den armen Vorposten — man denke nur, wie entsetzlich! Der Staat fängt an in seinen Grundfesten zu wanken! — freigesprochen hat!

VIII. über den Irrtum bei Delikten.

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5. Es fehlt nun nicht an Versuchen, die absolut vollständige Behandlung aller strafrechtlich rele­ vanten Irrtümer in § 59 des Strafgesetzbuchs mit Ausnahme derer über Milderungsgründe zu einer unvollständigen zu stempeln. Es wird behauptet, er bezöge sich nur auf den faktischen Irrtum, und werde ergänzt durch den stillschweigend vom Gesetzbuch vor­ ausgesetzten Satz: Unbekanntschaft mit dem Strafgesetz ent­ schuldigt nicht oder durch einen Satz ähnlicher Fassung. Diese Behauptung aber entspringt der größten Willkür, ist weiter gar nichts als eine pstitio priuoipü der fanatischen Verteidiger des von ihnen bis zur Unmenschlichkeit verzerrten Satzes srror suri8 uoost; außerdem aber liegt ihr ein schwerer methodischer Fehler zugrunde. Im Vereinszollgesetz vom 1. Juli 1869 § 163 — da findet sich im Reichsrecht die Bestimmung, daß die Unbekannt­ schaft mit den Vorschriften dieses Gesetzes Niemandem, auch dem Ausländer nicht, zur Entschuldigung gereichen könne — eine häßliche Normenpräsumtion als prassuiutio jnris st äs jure. Im Strafgesetzbuch keine Spur davon! Und der Schluß aus Z 59 auf den Satz, srror juris uoost, wäre ja nur dann möglich, wenn der Z 59 sich mit dem alten srror tasti be­ schäftigte. Er hat aber mit ihm gar nichts zu tun. Und daß man dies verkennt, hängt eben aufs engste mit dem methodischen Fehler zusammen, der eben gerügt wurde. Dieser besteht darin : mit der vollständigen direkten Behandlung der Wirkungen des strafrechtlich allein relevanten Handlungsirrtums ist eine daneben herlaufende gesetzliche Behandlung der irrelevanten Vorirrtümer überhaupt und nun gar in Gestalt einer prassurutio juris st äs jur« für ihre Unbeachtlichkeit absolut unverträglich! Der § 59 verbietet gradezu jeden Versuch, mit der alten Scheidung von srror juris und srror taoti weiterzuarbeiten : er hat die Periode dieses technisch und unter dem

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Erste Ableitung.

Strafrecht.

Gesichtspunkt der Gerechtigkeit gleich erbärm­ lichen Versuchs, des Jrrtumsproblems Meister zu werden, zunächst abgeschlossen. Und dafür sollten ihm Wissenschaft und Praxis großen Dank wissen! Die Frage ist nur, ob die Periode abgeschlossen bleibt, oder ob nicht das alte Molochdogma, das ja eine Art religiöse Weihe erhalten hat, einst reviviszirt? Alte Irrtümer verjähren ja fast zur Wahrheit! Jedenfalls haben sie eine Begabung zur Auf­ erstehung, wie kein anderer Toter in der Geschichte!

Vierter Abschnitt.

Ausblick in die Zukunft. I. Die Hauptaufgabe für die künftige deutsche Straf­ gesetzgebung ist: den Standpunkt, den das deutsche Strafgesetzbuch mehr durch glückliche Fügung als durch den Scharfblick seiner Urheber erreicht hat, für alle Zeiten festzuhalten. Die Wirkungen des vorhandenen Irrtums sind strafgesetzlich festzu­ stellen. Seine Vorirrtümer haben ganz außer Betracht zu bleiben. Insbesondere hat ihre ebenso unlogische als un­ durchführbare Scheidung in Rechts- oder faktische Irrtümer endlich vollständig zu verschwinden! Wir haben uns des Un­ fugs, den diese Scheidung durch die Jahrhunderte geübt, und der schweren Ungerechtigkeiten, die sie während ihrer langen unberechtigten Herrschaft verschuldet hat, aufs tiefste zu schämen. Allein methodisch richtig, wie allein gerecht ist die direkte Behandlung der rechtlich allein relevanten Handlungsirrtümer selbst. Es bedarf dies um so energischerer Betonung, als alle neueren Entwürfe in dieser für die ganze Ausgestaltung der Materie der Schuld so eminent wichtigen Frage weit hinter das deutsche Strafgesetzbuch zurückgehen: sehr bös der deutsche

VIII. über den Irrtum bei Delikten.

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Vorentwurf, am schlimmsten aber der österreichische Entwurf von 191224. II. Wäre nun unsere Praxis wie unsere Wissenschaft nicht so stark imprägnirt von der falschen, angeblich auf römische 24 So hatte ich damals geschrieben. Zu meinem größten Leidwesen muß ich mich berichtigen und sagen: am allerschlimmsten der „Ent­ wurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch nach den Beschlüssen der Strafrechtskommission", Berlin 1913, in Z 114 (Abschnitt: Straf­ bemessung!!!). Knapp werden wir darüber von Ebermayer, Der Entwurf eines Deutschen Strafgesetzbuches, Berlin 1914, S. 14. 15. 27 unterrichtet, länger verbreitet sich darüber Lucas, Der Rechtsirrtum nach den Be­ schlüssen der Strafrechtskommission, DIZ. 1914 Sp. 249—256. — Der Para­ graph will offenbar die Frage entscheiden, wie zu verfahren, wenn der Täter nachweislich (! s. Ebermayer S. 159, Lucas Sp. 251) in dem Glauben gehandelt hat, die Tat sei erlaubt, weil er sich über das Gesetz oder dessen Anwendbarkeit irrte. — Daß diese Frage, die aufs tiefste mit der Materie der Schuld verwachsen ist, in den Titel über die Strafbemessung verschlagen wird, wirkt ja schon gradezu verblüffend. Auch Lucas a. a. O. Sp. 253 findet dies „auffallend". Noch merkwürdiger ist aber offenbar der Inhalt der Bestimmung. Der unentschuldbare Irrtum schließt nicht etwa die Anwendung der Strafdrohungen gegen die vorsätzliche Missetat aus, sondern nur die Anwendung gewisser Strafarten (Tod, Zuchthaus, Ehren­ strafen, Arbeitshaus usw.) für die vorsätzliche Begehung. Der entschuld­ bare Irrtum, also der die Schuld ausschließende Irrtum, läßt aber den Borsatz auch bestehen, berechtigt jedoch den Richter — die Strafe zu mildern, ja vielleicht den Schuldlosen für straffrei zu erklären!! — Diese Bestimmung geht ja an Gerechtigkeit noch über die Zoll- und Steuergesetze, die bei er­ brachtem Unschuldbeweis doch nur noch auf eine Ordnungsstrafe zukommen. Entschuldbarkeit des Irrtums und Zuerkennung der ordentlichen, nur ge­ milderten Strafe!? Diese Regelung der so schwierigen Materie enthält nicht nur keinen Fortschritt, sondern den stärkst denkbaren Rück­ schritt. Sie ist ein gradezu unglaubliches niederschmetterndes Kompromißprodukt. Auch Lucas polemisirt dagegen. Aber ihm, dem von der neueren Schuldlehre ganz Unberührten, verkennt der Entwurf viel zu stark „die Staatsnotwendigkeit der Nichtberücksichtigung der Strafrechts­ irrtümer" (Sp. 252) — ein Problem, das nicht aus wissenschaftlichen Er­ wägungen, „sondern hauptsächlich aus staatsmännischen Rücksichten zu lösen ist" (Sp. 253). Lucas plaidirt zugunsten des Vorentwurfs, also zugunsten der Praxis des Reichsgerichts, obgleich dieses öfter einen strafrechtlichen Irrtum angenommen habe, „während ebensogut das Gegenteil geschehen konnte" (!). — Daß altmodische Angstmeierei noch heute Jemanden zum „Staatsmann" stempelt, muß ich freilich bezweifeln. Binding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen. 29

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Erste Abteilung.

Strafrecht.

Autorität zurückgehenden dualistischen Behandlung des Irr­ tums, und dächten unsere Praktiker überhaupt zugleich kühner und feiner — was ich, von einzelnen großzügigen Ausnahmen abgesehen, so sehr vermisse —, so könnte man sich auf zwei kleine Bestimmungen beschränken. Es wäre zu sagen: 1. bei der Behandlung der Zurechnungsfähigkeit: daß wirkliche Unkenntnis des übertretenen Verbotes oder Gebotes die Zurechnung ausschließt, daß aber bei absichtlich verschuldeter Unkenntnis die Strafe der vorsätzlichen Übertretung, bei fahrlässig verschuldeter die und

die Gefängnis- oder Geldstrafe für das Unterlassungsdelikt zur Anwendung kommen soll; 2. daß dem Vorsatzbegriff in allen Fällen das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit wesentlich sei. Der Ausbau des Fahrlässigkeitsirrtums und die Beur­ teilung des Irrtums über Strafbarkeitsmerkmale straf­ schärfender oder strafmildernder Art^ könnte dann ruhig der Wissenschaft und der Praxis überlassen werden. Aber ich traue dem Erfolg dieses Zutrauens nicht! Und so würde ich den beiden eben vorgeschlagenen Bestimmungen doch noch zwei weitere folgen lassen und sagen: 3. dem fahrlässigen Delikt eignet der nach Lage des Einzelfalls und der Persönlichkeit des Täters unverzeihliche Irrtum über die Rechts­ widrigkeit der Handlung. 4. Der sog. Irrtum über strafschärfende oder strafmildernde Eigenschaften der Handlung schließt — einerlei ob verzeihlich oder unverzeihlich — die härtere oder mildere Strafe aus, wenn das Gesetz den Grund der Strafschärfung oder Strafmilderung in dem Wissen des Täters grade von diesem Tatumstande findet. Im Zweifels­ fall ist dies anzunehmen. -° S. oben S. 430 ff.

VIII. über den Irrtum bei Delikten.

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Ich habe, sehr verehrte Herren, Ihre Geduld sehr lange in Anspruch genommen. Vielleicht haben Sie den Eindruck gewonnen, daß es mir bei meinem Kampf mit den Irr­ tümern über den rechtlich relevanten Irrtum zwar natürlich auch um die wissenschaftliche Klärung der Materie, aber noch mehr um die Steigerung der Gerechtigkeit in der Behandlung des Delinquenten zu tun war. Nach dem Maße seiner Schuld soll er bestraft werden, aber nicht nach dem Maße ungerechter Schuldvermutung! Daß ein Staat durch das Wachstum der Gerechtigkeit statt zu erstarken Schaden leiden könne, dafür schiebe ich denen die Beweislast zu, welche diese ungeheuerliche Be­ hauptung aufstellen. Daß die gerechte Behandlung der wirklich Irrenden die Zahl der Berufungen auf affektirte Irrtümer im Prozeß steigern werde — man hört ja oft von den Verehrern des Moloch srror juris noost, gäbe man den Satz auf, so werde sich jeder Angeklagte auf den Irrtum berufen —, halte ich für fehl unwahrscheinlich. Jedenfalls wäre diese Steigerung ganz vorübergehend, denn die Lüge hat immer kurze Beine, und daß sie nur solche hat, merkt sie vor Gericht gar bald. An den Kampf mit der Lüge in jeder Form ihres prozessualen Auftretens aber ist der Strafrichter vollkommen gewöhnt, und er läßt sich durch sie nicht werfen. Wenn auch noch ein paar Lügen mehr dazu kommen sollten, würde er nur um so mehr auf der Hut fein, ihnen zu glauben. Etwas übertreibend hat Goethe im Wilhelm Meister gesagt: „Niemand weiß, was er tut, wenn er recht handelt; aber des Unrechten sind wir uns immer bewußt." Mit dem Wahrheitskern in diesem Satze werden unsere Richter zu rechnen wissen.

29»

IX.

Zur Lehre vom Betrug — für und gegen das Reichsgericht.

Das Folgende gibt unverändert wieder meine Ausführung in der Deutschen Juristen-Zeitung XVI (1911) Sp. 553—565.

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Eine Revolution in der Rechtsprechung des Reichsgerichts über den Betrug. 'Wie stark das Streben nach sachlicher Gerechtigkeit der

Urteile in unseren Gerichten lebendig ist, das zeigt sich am klarsten, wenn sie sich gedrungen fühlen, mit ihrer bisherigen Rechtsprechung zu brechen. In manchmal gradezu schroffer Begründung zeihen sie sich dann selbst des Irrtums und bemühen sich ernsthaft, die neue Ansicht besser zu begründen, als die Urteile nach der alten angeblich begründet waren. Als eine sehr merkwürdige Betätigung dieses unaufhalt­ samen Gerechtigkeitstriebes des Reichsgerichts stellt sich der Beschluß der vereinigten Strafsenate des Reichs­ gerichts vom 14. Dezember 1910 dar*. Diese Plenar­ entscheidung ist nicht dadurch herbeigeführt worden, daß ein Senat etwa von der Rechtsprechung eines andern hätte ab­ weichen wollen. Sie bedeutet vielmehr einen Bruch mit der einheitlichen Rechtsprechung aller fünf Strafsenate, die be­ gründet wurde durch das Urteil des 3. Strafsenates vom 27. April 1889 (E XIX S. 186 ff.). I. Den auf den ersten Blick einleuchtenden Grund­ gedanken dieser Praxis kann man kurz dahin bezeichnen: wo kein Vermögensrecht, da keine betrügerische Vermögensbeschädigung. Es ist die Lehre der großen Theoretiker, denen wir die wissenschaftliche Klarlegung des so schwierigen Betrugs­ begriffes im vorigen Jahrhundert verdanken: die Lehre Köstlins 2 und in noch schärferer Ausführung die Adolf > Vgl. Zaeschmar, DIZ. LVI S. 77 u. 328. 2 S. Köstlin, Abhandl. S. 141, Tübingen 1853 (der Getäuschte muß „zu einer seinen Vermögensrechten nachteiligen Handlung oder Unterlassung

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Erste Abteilung.

Strafrecht.

Merkels s. Sie ist die herrschende geworden, aber doch auch in der Theorie nicht unbestritten geblieben^. Das Reichsgericht ist ihr ursprünglich nicht gefolgt. So sagt RG. I vom 17. Februar 1887 (E XV S. 318/19): „Die Vermögensbeschädigung ist vom Urteile überall darin erblickt worden, daß die über die tatsächliche Beschaffen­ heit der ihnen gereichten Mittel getäuschten Mitangeklagten für die fast wertlosen, angeblich zur Abtreibung der Leibesfrucht geeigneten Mittel an die Täuschende namhafte Preise gezahlt haben, welche sie nicht bezahlt haben würden, wenn sie über die Beschaffenheit der Mittel auf­ geklärt gewesen wären." Und nun vollzieht sich die seltsame Wandlung. Im Ur­ teil vom 27. April 1889 (E XV S. 186 ff.) nimmt mit ein­ gehender Begründung der dritte Strafsenat den ent­ gegengesetzten Standpunkt ein. Ihm folgen der erste Strafsenat, Urteil vom 1890, der vierte, Ur­ teil vom 3. Juli 1903, der zweite, Urteil vom 18. Dezember 1903, und endlich der fünfte, Urteil vom 24. Mai 1907^. Nachdem das Gericht diese Judikatur 18 Jahre lang gleichmäßig festgehalten hat, wirft der neue Plenarbeschluß diese ganze Praxis mit einem energischen Ruck um, und schwenkt genau auf den Standpunkt des 1. Senates im Ur­ teil vom 17. Februar 1887 (s. oben) wieder ein. Und wieder ist es der Handel mit angeblichen, aber durchaus untäugbewogen" werden). Vgl. S. 152 ff. Interessant die Bemerkung S. 153: „Dagegen kann daraus, daß das auf Grund oder Zweck eines unerlaubten Geschäfts Gegebene nicht zurückgefordert werden kann, nicht darauf geschlossen werden, daß eine in solchem Falle durch Täuschung veranlaßte Vermögens­ beschädigung keine Rechtsverletzung und deshalb keinen Betrug enthalte." (Vgl. dagegen Merkel, Abhandl. II S. 222 ff.) S. noch S. 154: durch reine Besitzerlangung kann Betrug nicht verübt werden. Krim. Abhandl. II S. 99 ff., 196 ff., 222 ff. S. Gryziecki, Betrug S. 40ff.; H. Meyer, Lehrbuch 4. Aufl. S. 710, vgl. 6. Aufl. S. 480. 5 S. E XXI S. 161 ff., XXXVI S. 342 ff., XXXVII S. 30/31; Goltdammer, Archiv I^IV S. 418 ff.

IX. Zur Lehre vom Betrug — für und gegen das Reichsgericht. 457

lichen Abtreibungsmitteln, der kriminalistisch als Betrug ge­ wertet wird. II. Der Angeklagte L. hatte in verschiedenen Zeitungen in verhüllter, aber für Eingeweihte wol erkennbarer Form Abtreibungsmittel angepriesen und zum Verkaufe angeboten. Er hatte dann an einige Frauenspersonen, die sich für schwanger hielten und solche kaufen wollten, zur Abtreibung ganz unbrauchbare Pulver, deren Verkaufswert etwa 30 bis 40 Pfennige betrug, für den unverhältnismäßig hohen Preis von durchschnittlich 10 Mark verkauft. Das Landgericht (wol Berlin) hatte ihn entgegen der Ansicht aller Strafsenate des Reichsgerichts wegen Betruges verurteilt — eine Selbständigkeit, die dem Gerichte hoch an­ gerechnet werden muß. Das Urteil der kühnen ersten In­ stanz findet Anklang beim 2. Strafsenat des RG., an welchen der Fall in der Revisionsinstanz gediehen war. Der 2. Straf­ senat veranlaßt Plenarentscheidung, und das Plenum stellt sich wie ein Mann auf die Seite der ersten Instanz. Ich will nicht leugnen, daß mir dieser Vorgang sehr imponirt — sowol die Freiheit der ersten Instanz als die Vorurteilslosigkeit des Reichsgerichts, das kein Bedenken trägt, alle seine Senate zu gleicher Zeit auf das energischste zu desavouiren. Diese Rücksichtslosigkeit im Streben nach der Gerechtigkeit verdient die höchste Anerkennung und ge­ reicht der Rechtsprechung der deutschen Gerichte — und ich hebe ausdrücklich hervor: der deutschen Gerichte, die mit rechtsgelehrten beamteten Staatsrichtern besetzt sind — zur höchsten Ehre! III. Dem Plenum waren zwei Fragen vorgelegt: I. Ist die zum Tatbestände des Betruges erforderliche Vermögensbeschädigung ausgeschlossen, wenn der Käufer ge­ zahlt hat, um ein taugliches Abtreibungsmittel zu erwerben, während das gelieferte Material nicht tauglich war? II. Ist in Fällen dieser Art der ursächliche Zusammen­ hang zwischen Jrrtumserregung und Vermögensbeschädigung

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rechtlich ausgeschlossen, wenn sich der Zahlende bewußt war, keinen Anspruch auf Lieferung des Abtreibungsmittels zu haben? Das Plenum hat in Übereinstimmung mit dem An­ träge der Oberreichsanwaltschaft beide Fragen verneint, und zwar die erste wol einstimmig — wie mir wenigstens glaub­ haft versichert worden ist —, die zweite gegen 4 oder 5 Stimmen.

IV. Ehe auf diese Entscheidung und die ihr gegebene Begründung näher eingegangen werden soll, lohnt es, einen Augenblick bei der Entstehung beider zu verweilen. Das Plenum war gebildet aus 5 Senatspräsidenten und aus weiteren 34 Räten: also aus 39 Mitgliedern. Das ist kein Gericht mehr, sondern ein Parlament. Bei der Motivirung solcher Beschlüsse ist es rein unmöglich, die Ent­ scheidungsgründe so zu fassen, daß alle Miturheber des Be­ schlusses ihre Ansichten darin wiederfinden. Die Entschei­ dungsgründe behalten im ganzen durchaus den individuellen Charakter des Referenten. Aber sie treten amtlich als Gesamtmotivirung des Plenarbeschlusses durch das Plenum auf — eine Tatsache, die zu denken gibt, weil die Kritik nur immer an den amtlichen Gründen des Plenarbeschlusses ge­ übt werden kann.

V. Für den Inhalt der Beschlußfassung war maßgebend die Empfindung von der Straf­ bedürftigkeit solcher Handlungen. Schon die erste Instanz hat deren Bestrafung als im öffentlichen Interesse dringend geboten bezeichnet. Griffe die Staatsgewalt in Fällen wie diesen nicht ein, so habe dies zur Folge, daß sich Tausende wie der Angeklagte L. mühelos und straflos durch Täuschungen leichtgläubiger Frauen eine ergiebige Einnahme­ quelle verschafften. Der 2. Strafsenat des RG. hat diese Entscheidung ge­ billigt und deshalb das Plenum veranlaßt. Der Bestim­

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mungsgrund der ersten Instanz ist dann zum Bestimmungs­ grund für das ganze Plenum geworden. Unleugbar aber birgt der Versuch, die Strafbarkeit einer Handlungsweise aus deren Strafwürdigkeit herzuleiten, die Gefahr in sich, da uns ja in unglaublicher Kurzsichtigkeit die Pönalisirung psr analogiam durch K 2 StrGB. unter­ sagt ist, die Handlung einem Verbrechensbegriff zu subsumiren, unter den sie nicht fällt. Wenn ich meine Überzeugung dahin ausspreche, daß

diese Gefahr durch das Plenum diesmal Wirklichkeit ge­ worden ist, fo befinde ich mich in erfreulicher Bundesgenossenschaft aller fünf Senate des Reichsgerichts in ihrer Recht­ sprechung bis zum 14. Dezember 1910, und das stärkt mir den Mut, als Einzelner meine Zweifel an der Richtigkeit des Plenarbeschlusses zum Ausdruck zu bringen. Die Ent­ scheidungsgründe des Plenarbeschlusses enthalten eine An­ zahl kühner Sätze, die jedenfalls der Nachprüfung dringend bedürftig sind. VI. Indem der Angeklagte L. Abtreibungsmittel an­ kündigt, also Mittel zur Begehung eines „Verbrechens" i. S. des StrGB. § 1, erweckt er den Anschein, versteckt zur Be­ gehung eines „Verbrechens" aufzufordern, oder wenn man das für zuviel gesagt ansehen wollte, sich jedenfalls zur Teilnahme am Verbrechen — nämlich zur Liefe­ rung der Abtreibungsmittel — zu erbieten (StrGB. ß 49 a). Ob man nun diesen Tatbestand in Fällen, wie dem vorliegenden, als verwirklicht anerkennt, hängt von der Stellung zur Frage des untauglichen Versuchs ab. Die Mittel, die L. ausbot, waren ja zur Tötung der Leibes­ frucht untauglich. Ihre Anwendung aber mit dem Pseudodolus der Abtreibung würde nach der Auffassung des RG. doch ein „Verbrechen" sein. Dann ergäbe sich die Kon­ sequenz, daß der Angeklagte L. sich nach H 49a strafbar gemacht hätte. Diejenigen freilich, die mit mir den untauglichen Versuch

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für das Gegenteil eines Versuchs halten, würden gegenüber der Anklage gegen L. aus 8 49a zur Freisprechung gedrängt werden. Aber der ersten Instanz und dem Plenum des Reichs­ gerichts erschien an der Handlungsweise des L. die Aus­ beutung der Schwangeren, die sich an ihn gewandt hatten, als das strafbedürftige Verhalten. Diese Personen hatten zweifellos Vorbereitungshand­ lungen zum Verbrechen der Abtreibung verübt; sie wollten sich oder andern echte Abtreibungsmittel gegen Geld ver­ schaffen; L. hatte sie ihnen in Aussicht gestellt. Das straf­ bare Gebaren des L. erblickt nun das Reichsgericht darin, daß er ihr Geld nahm, ihnen aber echte Abtreibungsmittel dagegen nicht verabfolgte. Hätte er sie ihnen gegeben, so wäre er von der Vetrugsklage loszuzählen gewesen. Da er aber gehindert hat, daß die Vorbereitungs- zu Versuchshand­ lungen sich entwickelt haben, ist er straffällig geworden. Ob es nur mein individuelles Rechtsgefühl ist, das sich durch diese Argumentation stark getroffen fühlt? Adminikulirend wirkt bei der Entscheidung des Plenums doch wol auch der Umstand mit, daß die Pulver, die L. den Käuferinnen verabfolgte, nur 30—40 Pfennige wert waren, L. aber seinen Kunden dafür durchschnittlich 10 Mk., also mehr als das Dreißigfache des Verkaufswertes, abnahm. Hätte er für echte Abtreibungsmittel 100 oder 1000 oder 10000 Mk. gefordert und erhalten, so würde das Reichs­ gericht offenbar seine Strafbarkeit nach StrGB. 8 263 ver­ neint haben. Jedenfalls würde sich dann eine Betrugs­ konstruktion nur bei ganz besonderen täuschenden Vorspiege­ lungen über die Kosten der Herstellung ermöglichen lassen. Aber die kolossale Überteuerung der Abnehmerinnen

legt hier eine andere Frage — nämlich die der wuche­ rischen Ausbeutung — nahe. Ihr gegenüber käme es auf Echtheit oder Unechtheit des gelieferten Abtreibungs­ mittels gar nicht, sondern nur auf das auffällige Miß-

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Verhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung an. Bejahte man sie, dann würde die Strafe die rücksichtslose Gewinn­ sucht des Täters treffen, und die Käuferinnen des Mittels um den wucherischen Preis würden nicht als in ihren be­ rechtigten Erwartungen getäuschte Vorbereiterinnen der Ab­ treibung, sondern als stark Ausgebeutete in Betracht kommen und nur als solche sog. Strafschutz finden. Diese Behand­ lung der Fälle hätte den Vorzug, daß sich die Rechtsprechung nicht zur Annahme eines Rechtes auf Abtreibungsmittel und einer Rechtspflicht, sie zu liefern, bekennen müßte. Und das will mir als ein sehr großer Vorzug erscheinen! Da nun der Verkäufer von Abtreibungsmitteln regel­ mäßig auf die Notlage, den Leichtsinn oder die Unerfahren­ heit der Käuferinnen spekuliren wird, um sie auszubeuten, und da er den Verkauf fast ausnahmelos gewerbsmäßig vornimmt, so steht, sofern der gezahlte Preis mit dem Wert des erhaltenen Mittels sich in auffälligem Mißverhältnis befindet, die Anwendbarkeit des K 302 s außer Frage. Zur Verfügung stände dann die energische Strafe des ß 302ä: Gefängnis von 3 Monaten bis 5 Jahren und Geld von 150 bis 15000 Mk. 4- fakultativem Verlust der Ehrenrechte. Daß der Sachwucher nur im Falle der gewerbsmäßigen Begehung gestraft werden kann, wird doch sicher im neuen Strafgesetzbuch geändert werden. Aber bei dem Angeklagten L. ist die Gewerbsmäßigkeit ja erwiesen. VII. Nun ist das Wesen der rechtswidrigen Schädigung und des rechtswidrigen Vermögcnsvorteils bei Erpressung und Betrug wirklich nicht leicht festzustellen Deshalb halte ich mich streng an den Typus der zu be° Lehrreich dafür ist wieder die mühselige, recht verdienstliche, aber sich viel zu sehr auf den rein rechnerischen und viel zu wenig auf den juristischen Boden stellende Dissertation von Jeh le, Der rechtswidrige Vermögens­ vorteil bei Erpressung und Betrug, Reutlingen 1905, die von dem Verf. der Gründe des Plenarbeschlusses sicher benutzt worden ist, obgleich der „Beschluß" sie nicht zitirt. Vgl. auch Frank, Kommentar 5./7. Aufl. zu § 263 V ff.

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urteilenden Fälle, während die Gründe des Beschlusses be­ strebt sind, der ganzen früheren Betrugspraxis den Garaus zu machen. Ein „Unrechtsgeschäft"' wird dahin abgeschlossen: für eine verbotene Leistung — hier eine bedingte Beihilfe zu künftiger Abtreibung —, die der eine Teil (L.) zu machen verspricht, aber nur dem Schein nach macht, verspricht der andere Teil (A.), der das Verbotensein der Leistung klar er­ kennt, auf Grund der Vorspiegelung gutes Geld und zahlt es. Vorweg sei betont, daß für die Beurteilung dieser Fälle gleichgültig sein muß, ob L. den A. durch Vortäuschung des echten Leistungswillens zur Eröffnung der Verhandlungen über das Unrechtsgeschäft erst bestimmt hat, oder ob die Initiative dazu von A. ausgegangen ist. Auch wenn die Pseudokäuferinnen sich anfragend an L. gewandt hätten, ob er ihnen Abtreibungsmittel abgeben könne, er diese Fragen bejaht, und ihnen untaugliche Mittel als taugliche für Geld verabfolgt hätte, wäre die Lage ganz dieselbe: nur erschiene L.s Strafwürdigkeit etwas gesteigert. VIII. Um nun die Verurteilung L.s wegen Betrugs zu rechtfertigen, erklären die Gründe 1. den bisher hochgehaltenen Begriff des „rechtlich geschützten Vermögens" für hinfällig; 2. stellen sie einen besonderen Vermögensbegriff und 3. einen besonderen Schadensbegriff auf; 4. behaupten sie, bei jedem zweiseitigen Lieferungsgeschäft bedeute jede Liefe­ rung eine Minderung für das Vermögen des Leistenden — also einen „Schaden" — denn beides behandelt das Ge­ richt als identisch —, „solange der Leistende nicht für das Hingegebene einen gleichwertigen Ersatz empfängt" ; 5. stellen i S. mein Lehrbuch II S. 709 ff. s Dabei wird freilich zugegeben, daß bei zweiseitigen Verträgen es als genügender Ausgleich anzusehen sei, wenn der Leistende für das, was er geleistet, einen gesicherten Gegenanspruch eintauscht. Immerhin wirke das Bestehen des Gegenanspruchs nur als Ausgleich des Schadens. Das gemeine Recht habe da von einer compensatio luori eum äamno gesprochen. — Dies trifft nicht zu!

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sie den Satz auf, daß das Strafrecht einen Begriff des Ver­ mögensschadens kenne, der von dem des Privatrechts un­ abhängig sei, und münden bei der These 6., „der ursächliche Zusammenhang zwischen Jrrtumserregung und Vermögens­ schaden" sei dann rechtlich nicht ausgeschlossen, „wenn der Leistende sich bewußt war, keinen Anspruch auf die Gegen­ leistung zu haben". So schneiden die Entscheidungsgründe eine Fülle der schwierigsten Rechtsfragen an, die sie natürlich nicht erschöpfen können, ebensowenig wie diese bescheidene Besprechung dies tun kann. Diese will vielmehr nur meine persönliche Stellung zu einer Anzahl von ihnen kurz markieren. IX. Der Vermögensbegriff des Plenar­ beschlusses. Ob es notwendig war, auf den Vermögens­ begriff einzugehen, um Fälle wie die inkriminirten des An­ geklagten L. zu entscheiden, bleibe dahingestellt. I. Aber zweifellos gehen die Gründe des Beschlusses bei diesem Versuche fehl. Sie machen den großen methodischen Fehler, Rechtsbegriffe entweder ihrer juristischen Natur zu entkleiden oder sie auf unjuristischen Grund und Boden zu stützen. „Der Vermögensbegriff — sagen die Gründe — ist in erster Linie ein Begriff des wirtschaftlichen Lebens. Ver­ mögen ist wirtschaftliche Macht, ist alles das, was für die wirtschaftlichen Verhältnisse einer Person Wert hat, ist somit ein Inbegriff von Werten oder, da im System der Geldwirt­ schaft jeder Wert in Geld ausgedrückt werden kann: die Summe der geldwerten Güter einer Person."^ Dagegen ist zu sagen: Der juristische Vermögensbegriff ist geschichtlich viel älter als der wirtschaftliche. Im übrigen läuft hier sehr vieles kraus durcheinander. Eine wirtschaft­ liche Machtstellung kann Vermögen schaffen, ist aber selbst b Diese Worte klingen sehr an Kronecker, GA. XXXIV S. 408 und an Dörr, Über das Objekt usw., Breslau 1897, S. 19 an. S. mein Lehrbuch I S. 238, 239.

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noch keines. Das Vermögen ist — in demselben Augenblick, wo es als Ganzes betrachtet wird — nicht nur etwas Posi­ tives, sondern auch etwas Negatives. Für den Rechtsbegriff des Vermögens sind die Schulden gradeso wesentlich wie die Rechte. Vermögen ist eben für den Juristen nur die Summe von Vermögensrechten und vermögensrechtlichen Pflichten"). Deshalb tut er gut, sich die schillernden, stets so aufdringlichen und die Alleinherrschaft prätendirenden nationalökonomischen Anschauungen vom Leib zu halten. Auch gibt es Rechte an nicht geldwerten Gütern, z. B. das Eigentum. 2. Das Vermögen kann in Geld geschätzt werden, aber stets nur das Vermögen in einem bestimmten Zeitpunkt. Diese Geldsumme ist, so oft dies auch verkannt wird, in keiner Weise identisch mit dem Vermögen, sondern nur dessen Gewicht auf der Geldwage. An diesem Gewicht nehmen eine Anzahl von Rechten gar keinen Teil — z. B. das Eigentum an nicht geldwerten Sachen, zurzeit ganz wertlose Forde­ rungsrechte —, andere nur zu einer größeren oder kleineren Quote. Der Rechtswert eines Rechtes — vielleicht darf ich einmal ungenau dafür sagen: sein Nominalwert — ist dann viel größer als sein Geldwert. So Forderungsrechte wider faule Schuldner. Sie können zu Haufen bestehen und wiegen zurzeit vielleicht gar nichts. Es ist auch möglich, daß der Kurswert eines Rechtes — man gestatte den Ausdruck! — viel höher ist als der Betrag, worauf es ursprünglich ging. Dasselbe Vermögen mit ganz demselben Bestand an Rechten und Pflichten kann im Laufe der Zeiten die ver­ schiedensten Geldwerte repräsentiren. Papiere, die heute nichts wert sind, können in zehn Jahren sehr hohen Geldwert haben und umgekehrt. 10 Damit steht durchaus im Einklang, daß öfter Rechtsgüter geschützt werden, deren Besitz und Verwertung zur Quelle des Erwerbes von Ver­ mögensrechten werden kann, wie der Kredit, der Besitz einer Kundschaft, das Betriebsgeheimnis. S. mein Lehrbuch I S. 239.

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Aus dieser Verschiedenheit zwischen Vermögen und seinem momentanen Geldwert ergeben sich zwei sehr wichtige Sätze: a. Vermögensminderung und Minderung des Geldwertes eines Vermögens sind nicht identisch. Nichts ist unrichtiger als die Behauptung, Vermögensminderung liege nur vor, wenn der Geldwert eines Vermögens nach einem bestimmten Ereignis kleiner geworden sei, als er vorher war. Denn b. eine Vermögensminderung liegt auch dann vor, wenn ein zurzeit Geldwert entbehrendes Recht verloren gegangen ist. Sehr wol kann ich um zurzeit wertlose Forderungs ­ rechte betrogen werden. Vielleicht bringt mich grade der darum, der weiß, daß sie später Geldwert erhalten werden. Vermögensbeschädigung und Minderung des Geldwertes des Gesamtvermögens sind also in keiner Weise gleich­ bedeutend. 3. Seinen Vermögens begriff verwendet das Reichsgericht besonders auch dazu, um die Verbrechensbeute für den Täter als Bestandteil seines Vermögens zu vindiziren. „Auf einem Mißverständnisse beruht es namentlich, wenn... hin und wieder gesagt wird, wer eine Sache oder eine Forderung widerrechtlich erworben habe, dem könne sie nicht von anderer Seite durch Betrug entzogen werden. Einen so weitgehen­ den Satz, der den Verbrecher mit Bezug auf sein Vermögen friedlos machte (welche Entgleisung!), hat das Reichsgericht nicht vertreten.""

Daß aber „fremde" bewegliche Sachen keine Bestandteile des Vermögens des Diebes, Räubers, des Unterschlagenden, des Hehlers bilden, dürfte auch bei der weitherzigsten Auf­ fassung des Vermögens zuzugeben sein, wie ebenso feststeht, daß durch Betrug erlangte Sachen und Forderungsrechte dem Vermögen des Betrügers zuwachsen. Dem Dieb kann die Sache natürlich nicht gestohlen werden: denn sie wird stets dem Eigentümer gestohlen; " Nebenbei gesagt auch die Doktrin nicht I Bin ding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen.

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diesem kann sie aber wol ein zweites Mal gestohlen werden. Abbetrogen kann sie dem Dieb nicht werden, weil sie ihm nicht gehört, und dem Eigentümer nicht, weil er nicht ge­ täuscht wird. Wer sie aber dem Diebe abgewinnt, hehlt oder unterschlägt sie, verletzt also das Vermögen des Eigentümers und nicht das des Diebes. Das ist natürlich gegenüber dem Betrüger, der Eigen­ tümer und Forderungsberechtigter geworden ist, ganz anders. X. Der Schadensbegriff des Plenarbeschlusses. Dieser wird nicht scharf bestimmt, sondern stets mehr um­ schrieben. Nicht grade verwunderlicher Weise wird hier genau derselbe Fehler gemacht, wie bei der Behandlung des Ver­ mögensbegriffs. Was Vermögensschaden ist, bestimmt zu allererst und ganz allein das Vermögensrecht. Anders die Motive. Sie sagen: „Denn der Schaden ist zunächst immer etwas Tatsächliches (?), etwas dem Menschen wirtschaftlich Fühlbares"; deshalb lasse sich auch der Gegensatz zwischen tatsächlichem (wirtschaftlichem) Schaden und Schaden im Rechtssinn nicht aufrechthalten. Deshalb ist der arme Dieb in feinem Vermögen geschädigt, wenn ihm etwa die Diebes­ beute durch ehrliches oder unehrliches Spiel abgewonnen wird. „Für den strafrechtlichen Begriff des Vermögensschadens (Z 263 StrGB.) ist es ohne Bedeutung, ob das bürgerliche Recht ihn als der Ausgleichung fähig und bedürftig erachtet. Die privatrechtliche Verfolgbarkeit des Betrugsschadens bildet keine unbedingte Voraussetzung der strafrechtlichen Verfolg­ barkeit. Ein so weitgehendes Abhängigkeitsverhältnis zwischen bürgerlichem Rechte und Strafrecht... besteht nicht." Diese Hinüberschiebung des Schadens auf das Gebiet des „wirtschaftlich Fühlbaren" ist aber einfach unerträglich. Schon oben ward gezeigt, wie ein Vermögensschaden durch­ aus nicht im Moment seiner Entstehung zugleich ein wirt­ schaftlicher Schaden zu sein braucht; ist er es aber, so bleibt er es, auch wenn er als solcher nicht empfunden wird. Schaden ist ja nur das Ergebnis der Schädigung, und

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diese war ursprünglich im Rechte rein gedacht als Schädi­ gung im Rechtenbestand durch einen Dritten. Der Begriff der Schädigung aber ist ja in Wahrheit mit den Begriffen des subjektiven Rechts und der subjektiven Pflicht gegeben. „Im Rechtssinne ist jeder an seinem Vermögen ge­ schädigt, der ohne die Billigung des Gesetzes um sein Ver­ mögensrecht oder um die Sache, an der es besteht, oder um die Möglichkeit seiner vollen Ausübung gebracht wird, sowie derjenige, dem nicht geleistet wird, was er rechtlich zu fordern hat, und dem grundlos eine Leistungspflicht aufgelegt wird — ganz einerlei, ob wirtschaftlich jene Einbuße... sich nur als Verlust oder aber ausnahmsweise als Gewinn darstellt." Der Schadensbegriff wurde aufgestellt ursprünglich, um darauf eine Straf-, später, um darauf eine Ersatzklage wider den Schädiger zu begründen. Viel später erst entstanden der Begriff der Selbstbeschädi­ gung durch zweck- und vernunftwidrige Verwendung des Ver­ mögens und das Problem, wann er sich vielleicht repariren lasse und wie die Reparation in die Wege zu leiten sei? Nun identifizirt der Plenarbeschluß in seiner Begrün­ dung durchweg Vermögensminderung und Schaden, ganz einerlei, ob sie vom Vermögensinhaber oder von einem Dritten bewirkt worden ist. Dabei bleibt ganz unbeachtet, daß der Dritte — von be­ stimmten Ausnahmen abgesehen — kein Recht hat, in fremdes Vermögen schädigend einzugreifen, während der Berechtigte seine Rechte preisgeben darf, soweit er nicht Dritte damit schädigt und ihm dies nicht auch ohne Schädigung Dritter aus Gründen des öffentlichen Wohls untersagt ist. Die Akte der freien Preisgabe als Akte der Selbstbefchädigung zu bezeichnen, hat aber juristisch weder Sinn noch Wert. Ich möchte den Kaufmann kennen lernen, der ein glänzendes Kaufgeschäft abgeschlossen, dem Verkäufer Lieferungsfrist ge>2 S. mein Lehrbuch I S. 740.

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währt, aber sofort 10000 Mk. Kaufpreis angezahlt hat, und der sich sagte: Heute habe ich einen Schaden von 10000 Mk. erlitten, aber freilich kann ich ihn kompensiren mit der sicheren Anwartschaft auf einen Gegenstand im Werte von 15000 Mk. Jeder Lieferungsaustausch bestände dann in zwei Selbstbeschädigungen der Kontrahenten, die höchstens durch Kompensation wettgemacht werden könnten. Mir scheint das eine ganz ungesunde Betrachtung zu sein! Wer einem armen Teufel einen Taler schenkt oder dem Kaiser-Wilhelms-Institut für Forschungszwecke eine halbe Million zuwendet, der wird sich doch nicht hinstellen und klagen, er habe einen Schaden von 3 oder von 500000 Mk. erlitten, sondern er wird sagen, er habe einen Teil seines Ver­ mögens zu diesem oder jenem Zwecke vernünftig verwendet. Das Vermögen ist ja doch nicht dazu da, in ungemindertem Bestand erhalten zu werden, sondern es soll dienen, soll zu Zwecken seines Inhabers oder Anderer oder der Gemein­ schaft verwendet werden. Solche Verwendung ist aber doch wahrhaftig das Gegenteil einer Vermögensbeschädigung im Rechtssinne. Und so ist für eine gesunde juristische Betrachtungsweise, womit übrigens eine gesunde wirtschaftliche ganz überein­ stimmt, die Anschauung völlig ausgeschlossen, daß jede Ab­ minderung eines Vermögensstandes eine Vermögensschädi­ gung sei. Ich brauche ja nur an produktive Kapitalanlagen zu erinnern! So operiren die Entscheidungsgründe mit einem Schadens­ begriffe, den es nicht gibt. Daraus allein erklärt sich auch, daß sie den hochbedenk­ lichen Konflikt zwischen Strafrecht und Zivilrecht in Bestim­ mung des Begriffs des Vermögensschadens heraufbeschwören und dadurch das Verhältnis der beiden Rechtsteile zueinander umkehren. Auf einmal wird das Strafrecht für angebliche Vermögensschäden empfindlich und reagirt darauf, die im Vermögensrecht gar keine Rolle spielen!

IX. Zur Lehre vom Betrug — für und gegen das Reichsgericht.

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Es dürfte nun aber doch unleugbar sein, daß es Sache des Vermögensrechts und nicht Sache seines Schutzrechts, des Strafrechts ist, zu bestimmen, wann ein Vermögensrecht als „verletzt" betrachtet werden soll Wie das Strafrecht kein Eigentumsrecht und kein Forderungsrecht kennt als die, die das öffentliche oder das bürgerliche Recht ihm entgegenbringt, so ist es auch bezüglich des schädigenden Eingriffs in diese Rechte von dem Vermögensrecht vollständig abhängig. Des­ halb kann sich die Theorie auch durch die Autorität des Reichsgerichts nicht dazu bestimmen lassen, von diesem Maße der Abhängigkeit des Strafrechts vom Vermögens-, ins­ besondere dem Zivilrecht das geringste nachzulassen. Das ginge wider das Gesetz der Wissenschaft!" XI. Die strafrechtliche Bedeutung der Ver­ sagung des Nückforderungsrechts. Bei dieser Proklamirung der Unabhängigkeit des strafrechtlichen Schadens­ begriffes vom zivilrechtlichen spielt die Versagung des Rück­ forderungsrechts nach BGB. eine große Rolle. So ist nach BGB. 817 dem das Rückforderungsrecht versagt, dessen Leistung gegen ein gesetzliches Verbot oder gegen die guten Sitten verstoßen hat: also grade in Fällen, wie sie der An­ klage gegen L. zugrunde lagen. Ähnlich bestimmt BGB.

§ 762: „Das auf Grund des Spiels oder der Wette Geleistete kann nicht deshalb zurückgefordert werden, weil eine Ver­ bindlichkeit nicht bestanden hat." Es liegt nun nahe, grade in Fällen der ersten Art die Ansicht des Gesetzgebers dahin zu fassen, daß der Leistende — und zwar durch sich selbst — geschädigt worden sei, daß Ich möchte hier doch betonen, daß ich unter Vermögensrecht hier sowol das öffentliche als das private Vermögensrecht verstehe. Aber das öffentliche Vermögensrecht haben die Gründe beiseite gelassen. " Im Lehrbuch I S. 261 habe ich energisch darauf hingewiesen, daß „trotz der zweifellosen Abhängigkeit vieler Vermögensverbrechen von zivilistischer Satzung" „auch für sie die Eigenartigkeit strafrechtlicher Betrachtungs­ weise und ihre Selbständigkeit zu betonen" sei.

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dieser Schaden auch an sich reparationswürdig sei, daß der Geschädigte aber zur Strafe seinen Schaden selbst tragen solle. Dann könnte der Kriminalist — sogar ohne sich mit dem bürgerlichen Recht in Widerspruch zu setzen — einen Vermögensschaden doch als vorhanden annehmen. Es läßt sich aber auch eine ganz andere Auffassung jenes Ausschlusses verteidigen: die nämlich, daß der Gesetzgeber eine Vermögensschädigung, die irgendwie für die Frage der Re­ paration in Betracht komme, gar nicht annimmt, sondern in der Zahlung des angeblichen Kaufpreises für ein Abtreibungsmittel, in dem Spiel und der Wette, verbunden mit Auszahlung des Verlustes, Vermögensdispositionen sieht, die der Täter auf eigenes Risiko macht — Geschäfte, über deren Ausfall resp. Fehlschlag der, der sie macht, sich ebensowenig beklagen kann, wie wenn ihm ein aleatorisches Geschäft fehlgeschlagen wäre. Nicht zur Strafe wird ihm die Kondiktion versagt, sondern weil die Vermögensversügung mit klarer Erkenntnis als solche gewollt und vorgenommen war, so daß von einer Schädigung, die irgendein Forderungsrecht auslöste, keine Rede sein kann. Ich halte die zweite Auslegung für die bessere. Der Strafgesichtspunkt ließe sich noch eher verteidigen bei der Kondiktionsversagung im Falle von Leistungen für rechtsund sittenwidrige Gegenleistungen als bei den gezahlten Spielgeldern. Bei ihnen versagt er m. E. vollständig. Wer aber Geld zahlt, um ein Abtreibungsmittel zu er­ halten, weiß genau, daß er dies nicht erhalten darf. Wenn er es also nicht erhält, so kann er nicht enttäuscht sein: denn eine rechtlich beachtliche Rechnung auf Vornahme verbotener Handlung gibt es nicht. Jedenfalls ist die Versagung der Kondiktion eine Er­ klärung des Gesetzgebers dahin, daß bei gewissen Akten der Selbstbeschädigung nach der Anschauungsweise des Ver­ mögensrechts auch nur ein billiger Anspruch des Geschädigten auf Reparation des Schadens durch Rückforderung des Ge­

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leisteten nicht begründet sei, mit andern Worten, daß er den Schaden zu tragen habe, auch wenn die gesetzwidrige Gegenleistung — wie ja das Recht verlangt — unterbleibt. Welche Berechtigung der Gesetzgeber eines andern Rechts­ teils haben könnte, dem Gesetzgeber des Vermögensrechts hierin das Konzept zu korrigiren, läßt sich schlechterdings nicht absehen. Das Recht bildet doch ein Ganzes, und Spezialfragen werden von dem Rechtsteil beantwortet, der die ssäs8 watsrias bildet. XII. Die Bedeutung der Vorspiegelung, eine gesetzwidrige Leistung zu machen. Nun könnte man aber einwenden: so einfach liegt der Fall hier nicht. Die Käuferinnen der Abtreibungsmittel sind vielmehr durch arg­ listige Täuschung, L. habe echte Abtreibungsmittel zur Ver­ fügung, und werde sie gegen Bezahlung von 10 Mk. liefern, zu dem Unrechtsgeschäft veranlaßt worden: nur im Vertrauen auf die Zusage haben sie die Zahlung geleistet. Letzteres ist ohne weiteres zuzugeben. Nur fragt sich, ob hierbei ein rechtlich relevanter Irrtum bei ihnen erzeugt worden ist. Und das muß verneint werden! Die Unzulässigkeit der Gegenleistung war ihnen klar: sie mußten jeden Augenblick damit rechnen, daß dem Pseudoverkäufer das Gewissen schlug und er die Leistung weigerte oder sie nur zum Schein machte. Ihnen ist weder ein Recht auf Leistung unerfüllt geblieben, noch sind sie auch nur in einer rechtlichen Erwartung getäuscht worden: nur eine Hoffnung, wider das Recht die Gegen­ leistung doch zu erlangen, hat sich ihnen nicht erfüllt. Wenn sie auf diese Hoffnung hin 10 Mk. setzten und sie verloren, so trat nur das ein, was sie erwarten mußten. Daß dann das Recht diese Vorbereiterinnen der Abtreibung, diese Be­ treiberinnen eines klaren Unrechtsgeschäfts als zu Unrecht durch den angeblichen Verkäufer geschädigt betrachten könnte, ist m. E. eine Unmöglichkeit. Es liegt eine unverantwort­ liche Selbstschädigung vor, für die das Recht mit bestem Grunde die Remedur versagt. Wie diese Personen selbst die

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Sachlage auffassen, ist gleichgültig. Aber ich möchte glauben, sie kämen sich selbst nicht als zu Unrecht geschädigte Unschuld­ lämmer vor! Die Annahme eines Betruges in derartigen Fällen ist nur dadurch möglich, daß man sagt, der Verkäufer habe den Käuferinnen eine Gegenleistung vorgespiegelt und sie da­ durch rechtswidrig geschädigt, daß er nicht erfüllt habe. Mit andern Worten: der Verkäufer wird als zur verbotenen Leistung verpflichtet erklärt — und das ist ein unerträglicher Widerspruch! Die Gründe des Plenarbeschlusses haben diesen Punkt gar nicht berührt, und so hinterlassen sie einen zwiefachen peinlichen Eindruck. Sie treten auf die Seite derer, die ein schweres Verbrechen vorbereitet haben, und erklären sie für dadurch zu Unrecht geschädigt, daß sie verbotene Auf­ wendungen für einen verbotenen Zweck gemacht, diesen Zweck aber nicht erreicht haben, und sie verurteilen den, der die verbotene Leistung nicht gemacht und jedenfalls, wenn auch aus sehr häßlichen Motiven, das Gelingen der Abtreibung in den Fällen, worin die unschädlichen Mittel angewandt worden sind, erfolgreich hintertrieben hat. Diese Verurteilung aber ergeht nur deshalb, weil er jene Leistung nicht gemacht, also das Äquivalent für die gezahlten je 10 Mk. den Frauen

nicht gegeben habe. XIII. Ich leugne nicht, daß mir die frühere Judikatur in Fällen dieser Art in der Gerechtigkeit sicherer und tiefer begründet erschienen ist, und daß ich in dem Plenarbeschluß einen Fortschritt nicht zu erkennen vermag. Daß ich dem Treiben des L. die Strafe gönne, wenn das Gesetz solche androht, und daß ich feine Strafbarkeit für begründet ansehe — aber nicht durch StrGB. 8 263, sondern durch StrGB. Z 302 s —, habe ich oben schon dar­ gelegt. Vielleicht darf ich nochmals betonen, daß ich nur von Fällen gesprochen habe, in denen die Leistung bewußt für

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eine verbotene Gegenleistung gemacht worden und diese aus­ geblieben ist. Ich vertrete in keiner Weise die Ansicht, ein Betrug könne nie angenommen werden, wo kein Recht auf Gegen­ leistung besteht. Wird der Irrtum erregt, diese Gegenleistung sei zulässig, oder die tatsächlich unmögliche Leistung sei mög­ lich, so fehlt m. E. nichts am Tatbestände des Betrugs. Kommt eine Person, die an das Orakel der Karten fest glaubt, zu einer Kartenlegerin und läßt sich für ein paar Mark die Karten schlagen, so fehlt die Jrrtumserregung seitens der Kartenlegerin, sie profitirt nur von einem ohne ihr Zutun entstandenen Irrtum, dem sie nicht entgegentritt. Dann fehlt Betrug. Wenn aber solch Weib den Glauben an das Karten­ orakel erst erzeugt, wenn der Geisterbeschwörer oder der Hexenmeister dem Bauer das Geld ablockt, weil er ihm vor­ spiegelt, er könne den Geist Verstorbener zitiren oder sein krankes Vieh gesund hexen, so verurteile ich unbedingt wegen Betrugs. In allen diesen Fällen sind rechtlich relevante Irr­ tümer erzeugt worden. Grade deshalb hätte ich lieber gesehen, der neue Plenar­ beschluß hätte nicht der ganzen alten Praxis in Bausch und Bogen den Krieg erklärt, sondern sich strenger und ausschließ­ licher an die zu beurteilenden Fälle gebunden. Aber eine größere Anregung wird zweifellos von ihm ausgehen, und vielleicht führt sie zu solcher Klärung der An­ schauungen, daß das Reichsgericht später doch wieder an die gesunden Teile der alten Praxis die Anknüpfung findet. Durch die Art der Begründung dieses Beschlusses hat sich das Reichsgericht selbst dies freilich leider sehr erschwert. Ich bedaure aber noch ein Weiteres: diese ganze Art, Massenbeschlüsse mit bindender Wirkung für die Hälfte der Mitglieder des Reichsgerichts zu erzeugen. Der ganze krimi­ nalistische Bestandteil des Reichsgerichts ist nun bis zu einem neuen Plenum juristisch freilich nur an die zwei Beschlüsse,

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Erste Abteilung. Strafrecht. — IX. Zur Lehre vom Betrug.

moralisch und tatsächlich aber auch an ihre Begründung ge­ bunden. Diese Begründung geht an manchen Hauptstellen zweifellos stark fehl, an andern entspricht sie ebenso zweifel­ los nicht den Rechtsanschauungen aller 39 Richter, die nun das Joch des Plenarbeschlusses auf dem Nacken tragen. Lebendige Gerechtigkeit üben heißt für den Richter frei fein in allen seinen Entschließungen. Diese ganzen Plenar­ beschlüsse sind eine grundverfehlte Einrichtung. Kein Wunder, daß darüber bisher kein günstiger Stern geleuchtet hat! Das liegt nicht an den trefflichen Männern, die solch Plenum bilden, sondern an der — darf ich einmal sagen parlamen­ tarischen — Art, wie seine Beschlüsse zustande kommen, und an der notgedrungen unvollkommenen Art ihrer Begründung.

X.

Anzüchüge Handlungen und unzüchtige Schriften. Ein Gutachten.

Das folgende Gutachten ist von mir verfaßt, von dem Leipziger Spruchkolleg seinerzeit abgegeben, und mit seiner Genehmigung von mir in der Zeitschrift für Strafrechtswissenschaft II (1882) S. 450—472 veröffentlicht worden. Es mußte natürlich unverändert abgedruckt werden.

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Vorbemerkung. Je nach der Auslegung, welche die Staatsanwälte und

die Richter dem sehr unbestimmten Z 184 des deutschen Straf­ gesetzbuchs geben, kann dessen Strafdrohung entweder nur zur Bekämpfung des Vertriebes der wirklich schmutzigen Literatur oder aber auch zu schwerer Beunruhigung des anständigen Buchhandels dienen. Infolge mehrerer auf den 8 184 gestützten Anklagen, die in jüngster Zeit in Leipzig erhoben worden sind, wurde das Leipziger Spruchkollegium aus dem Kreise der Interessenten heraus um ein Gutachten angegangen. Es sollte sich aus­ sprechen über den Begriff der unzüchtigen Handlung und den der unzüchtigen Schrift; zugleich aber waren zwei Werke namhaft gemacht behufs Prüfung, ob sie zu den unzüchtigen Schriften des 8 184 gehörten oder nicht. Das Kollegium hat geglaubt, dieses Ansuchen nicht ablehnen zu sollen. Mir wurde nun der Auftrag erteilt, das Gutachten zu entwerfen; dem Entwürfe ist das Kollegium beigetreten. Da die angeregte Frage von weittragender Bedeutung, in der Literatur aber wenig besprochen ist, denke ich Manchem zu Sinne zu handeln, wenn ich das Gutachten dem Drucke übergebe. Daß ich dies nicht ohne ausdrückliche Genehmigung des Kollegiums tue, versteht sich von selbst.

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Gutachten. Der Leipziger Juristenfakultät sind drei Fragen zur Beantwortung vorgelegt worden: 1. Existiren Spezialschriften über den Z 184 des RStrGB.s oder über den 13. Abschnitt des deutschen Strafgesetzbuchs („Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit")? 2. Was versteht man unter unzüchtigen Schriften und unter Unzucht im Sinne des ß 184? 3. Sind als unzüchtige Schriften die Werke: s,. Boccaccio, Dekameron, und b. Louvet deCouvrey, Chevalier Faublas, im Sinne des ß 184 des StrGB.s zu betrachten?

Bezüglich der ersten Frage wird auf Note 1 verwiesen *. Die zweite Frage kann in der engen Fassung, in der sie gestellt ist, nicht beantwortet werden. Sie ist mindestens zu der andern zu erweitern: was versteht das Strafgesetzbuch 8 184 unter * Literatur über die Unzuchtsverbrechen, soweit sie für vorliegendes Gutachten in Betracht kommt: v. Wächter, Abhandlungen aus dem Straf­ rechte I. Leipzig 1835. — Häberlin, Grundsätze des Kriminalrechts III (Leipzig 1848) S. 224 ff., bes. aber S. 315 ff. — Interessant der anonyme Aufsatz über „die Fleischesverbrechen und Sittlichkeitsverletzungen nach den neuen Bayer. Gesetzbüchern" in der Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechts­ pflege des Königreichs Bayern IX (1867) S. 219 ff. 427 ff. 618 ff. (des. S. 679—681). — Man vergleiche auch die Kommentare von Weis, Stenglein und Dollmann-Risch zu Art. 204 ff., bes. zu Art. 253 des Bayer. Strafgesetzbuchs vom 10. Nov. 1861. — S. ferner Dalcke, Goltdammers Archiv XVII (1869) S. 400 ff. — Meyer, Lehrbuch des Straf­ rechts, 2. Aufl. S. 610 ff. — Schütze, Lehrbuch des Strafrechts, 2. Aufl. S. 330 ff. — v. Schwarze in v. Holtzendorffs Handbuch des Strafrechts III S. 289 ff., bes. 321 ff. — Villnow, im Gerichtssaal XXX (1878) S. 106 ff., bes. aber S. 158—159. — Außerdem sind zu beachten die Kom­ mentare zum 13. Abschnitt, bes. zu ßZ 174 u. 184 des deutschen Strafgesetz­ buchs, von Oppenhoff, Schwarze, Puchelt, Rüdorff, Rubo, Olshausen, und endlich Meves, Die Strafgesetznovelle vom 26. Febr. 1876 (Erlangen 1876) S. 174 ff. — Die einschlagenden Präjudizien werden in der Folge zitirt werden. — Die 16 Fakultätsgutachten zu Z 180 des Reichsstrafgesetzbuchs (Kuppelei), abgedruckt in: „Das deutsche Strafgesetzbuch und die polizeilich konzessionirten Bordelle", Hamburg 1877, geben außer dem Straßburger (S. 72 ff.) für den Begriff der Unzucht nichts aus.

X. Unzüchtige Handlungen und unzüchtige Schriften.

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Unzucht und unter der Verbreitung unzüchtiger Schriften? Sie zerlegt sich somit in die drei Fragen nach den drei Be­ griffen der Unzucht (s. unter I), der unzüchtigen Schrift (s. unter II. I) und der Verbreitung un­ züchtiger Schriften (s. unter II. 2). Die dritte Frage findet ihre Beantwortung zum Teile mit der zweiten. Im übrigen s. man unten unter III. —

Die Satzung des 8 184 des Strafgesetzbuchs leidet an einer doppelten Unklarheit. Das Gesetzbuch läßt den Begriff der „Unzucht" und des „Unzüchtigen" ganz unbestimmt; des weiteren schweigt es sich über die Schuldseite des Täters aus. I. Verwendet wird der Begriff der „Unzucht" in den 88 175, 180, 181, I. u. 2., 236, 237, 361, 6. „Unzüchtige Handlungen" stehen in den 88 174, I. 2. 3., 176, 1. u. 3. unter Strafe; das öffentliche Erregen von Ärgernis

durch unzüchtige Handlungen in 8 183; das Ver­ breiten „unzüchtiger Schriften, Abbildungen oder Darstellungen" in 8 184. Ein Unterschied zwischen der „Unzucht" und „den un­ züchtigen Handlungen" läßt sich nicht nachweisen: die Unzucht umfaßt als Kollektivbegriff alle unzüchtigen Handlungen. Diese aber kennt das Strafgesetzbuch in einem engsten, einem weiteren und einem weitesten Sinne. Die weiteste Ausdehnung des Unzüchtigen soll erst unter II besprochen werden. Daß den unzüchtigen Handlungen zunächst im Sinne des Gesetzes eine Beziehung auf das Geschlechtsleben wesentlich ist, wird allgemein anerkannt, und auf zwingende Gründe hin 2. Schon die Theorie des früheren gemeinen Rechts identifizirte Fleischesverbrechen und Unzuchtsverbrechen Mit Recht bemerkt Olshausen, Kommentar zu 8 174 N. 2, daß Rubo, Kommentar S. 688—690, nur im Ausdruck, nicht aber der Sache nach von der herrschenden Ansicht abweicht. Vgl. auch die Literaturnotiz daselbst. s So zuerst wol Martin, Lehrbuch Z 276, dann Wächter, Lehrbuch II (1826) S. 549.

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Im weitesten Sinne wurden unter Fleischesverbrechen alle ge­ setzwidrigen Befriedigungen des Geschlechtstriebes verstanden*. Diese weite Gruppe umfaßte die sehr heterogenen Ver­ brechen des Ehebruchs, der Bigamie, des Inzestes, der Notzucht, der sog. unfreiwilligen Schwächung, der Sodomie, der Kuppelei, des Konkubinates, der einfachen Schwächung und der Hurerei. Diese Ver­ brechen werden nun in der neueren Gesetzgebung, soweit sie darin beibehalten sind, bald als Unzucht, bald als Verletzungen der Sittlichkeit oder als Angriffe gegen diese bezeichnet. So auch im deutschen Strafgesetzbuche. Schon die enge Verbindung mit Ehebruch, Bigamie, Inzest, Notzucht würde über die Natur der Unzucht in dieser Beziehung keinen Zweifel lassen. Außerdem wird im StrGB. W 236 u. 237 bei der Entführung ein scharfer Unterschied gemacht, je nachdem die Entführte „zur Unzucht" oder „zur Ehe" gebracht werden soll. Das eine bezeichnet die geschlechtliche Benutzung innerhalb der Ehe, das andre die geschlechtliche Mißbrauchung außerhalb derselben. Endlich liegt die geschlechtliche Beziehung bei der widernatürlichen Unzucht und bei der durch Kuppelei be­ förderten Unzucht klar zutage^. So gehören zunächst zur Unzucht alle außer­ halb des normalen ehelichen Geschlechtslebens vorgenommenen Handlungen, die gerichtet sind auf Befriedigung des Geschlechtstriebes, sei es des Täters, sei es der andern Person, mit Bezug auf welche die Handlung stattfindet, einerlei ob diese Handlungen in Gestalt der natürlichen oder der widernatürlichen Unzucht auftreten, ob die Handlungen strafbar sind oder nicht. Feuerbach, Lehrbuch ß 449. S. auch Wächter a. a. O. II S. 550. 6 Die Tatsache, daß die „unzüchtigen Handlungen" in HZ 174 u. 176 Nr. 3 den außerehelichen Beischlaf einbegreifen, während sie in Z 176 Nr. 1 vgl. 8 177 ihn nicht umfassen (Unzucht im engsten Sinne), ist deshalb für die Definition der Unzucht gleichgültig, weil § 177 nur die Absicht hat, die Notzucht als einen Fall der durch Gewalt begangenen unzüchtigen Hand­ lungen mit geschärfter Strafe zu belegen.

X. Unzüchtige Handlungen und unzüchtige Schriften.

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Aber es ist nicht nötig, daß die unzüchtige Handlung auf Befriedigung des Geschlechtstriebes gerichtet sei; sie kann auch lediglich die Reizung der Sinnenlust zum Zwecke haben. Grade für derartige unzüchtige Handlungen ist die Ab­ grenzung schwer. In dieser Beziehung ist für die Praxis, die sich an das Reichsstrafgesetzbuch anschließt, ein Präjudiz des Reichsoberhandelsgerichts vom 16.Februar 1872 — s. Stenglein, Zeitschrift für Gerichtspraxis u. Rechts­ wiss. Neue Folge Bd. I (1872) S. 231 — bedeutsam geworden, wo es heißt, daß „unter unzüchtigen Handlungen nach der Begriffsbestimmung, wie sie bereits unter Herrschaft des preußischen Strafgesetzes sich festgestellt hatte, eine das Scham- und Sittlichkeitsgefühl in geschlechtlicher Beziehung gröblich verletzende Handlung zu ver­ stehen ist".

Genau ebenso hat sich ein Urteil des obersten bayrischen Gerichtshofes vom 27. April 1878 aus­ gesprochen. (Sammlung von Entscheidungen des obersten Gerichtshofes für Bayern. VIII S. 206 ff.) — Ganz ähnlich das Reichsgericht in seinem Erk. des 3. Strafsenates vom 28. Februar 1880. (Rechtsprechung des deutschen Reichs­ gerichts I S. 404.) ° Daselbst heißt es: „Die Mehrzahl der vormaligen obersten Gerichtshöfe hat sich in Übereinstimmung mit der in der

Revisionsschrift angezogenen Entscheidung des Reichsober­ handelsgerichts dahin ausgesprochen, und das Reichsgericht hat sich dieser Auffassung angeschlossen, daß zu dem Begriff der unzüchtigen Handlung neben der gegen Sitte und An­ stand, gegen das Scham- und Sittlichkeitsgefühl gröblich ver­ stoßenden Eigenschaft nur die geschlechtliche Beziehung der° In einem früheren Urteile vom 15. Dez. 1879 (Rechtsprech. I S 149 bis 151) wird freilich „ein besonderer Grad der Verletzung von Schamhaftigkeits- oder Sittlichkeitsgefühl" nicht verlangt. Damit soll aber nur gesagt sein, daß ein solcher Erfolg nicht Begriffsmerkmal des in Z 184 aufgestellten Vergehens sei. Binding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen. 31

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selben erfordert wird. Danach genügt es, daß durch die Vor­ nahme der Handlung der Geschlechtstrieb angereizt oder er­ regt werde; es ist nicht nötig, daß der Handlung eine Richtung auf Befriedigung des Triebes beiwohne." Allein diese Begriffsformulirung leidet an doppelter Schwäche: sie enthält das relative Merkmal der gröblichen Verletzung, und sie läßt dunkel, wessen Scham- und Sittlich­ keitsgefühl verletzt werden muß. Richtig aber ist die Hervorhebung der geschlechtlichen Be­ ziehung, so daß alle ungeschlechtlichen Unanständigkeiten und Unflätigkeiten, mögen sie vor aller Augen oder geheim ver­ übt sein, nicht zu den unzüchtigen Handlungen zu rechnen sind. So das Verrichten der Notdurft am Wege, das nackte Baden usw Um dem Begriff der unzüchtigen Handlungen größere Bestimmtheit zu geben, soll zunächst festgestellt werden, daß I. nicht erforderlich ist die Erregung öffent­ lichen Unwillens durch die unzüchtige Handlung oder auch nur die Verletzung des Schamgefühls irgendwelcher den Akt wahrnehmenden Persön­ lichkeit. Damit soll aber durchaus nicht gesagt sein, daß jener Erfolg, wenn er eingetreten ist, der rechtlichen Bedeutung ermangele. Stellt doch StrGB. ß 183 die Erregung öffent­ lichen Ärgernisses durch unzüchtige Handlungen unter ganz

energische Strafe, und muß doch auch die Verletzung des Schamgefühls einzelner Zeugen der Tat als Straferhöhungs­ grund angesehen werden, vorausgesetzt, daß der Täter von der Anwesenheit dieser Zeugen Kunde hatte. Wenn somit die Praxis jede unzüchtige Handlung „das Scham- und Sittlichkeitsgefühl" gröblich verletzen läßt, so kann sie dabei nur an das Scham- und Sittlichkeitsgefühl in einer Art Perfonifizirung denken, oder an die sittlichen Anschauungen der­ jenigen, die zur Beurteilung der Handlung aufgerufen werden. Diese Gefühlsverletzung würde dann aber nicht das Maß ? Richtig v. Schwarze bei v. Holtzendorff, Strafrecht III S. 322.

X. Unzüchtige Handlungen und unzüchtige Schriften.

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der Strafbarkeit der unzüchtigen Handlung bestimmen, sondern deren Grund sein. Und so enthüllt sich eine weitere Schwäche jener Definition, indem danach das subjektive Empfinden und Ermessen des Richters einem gesetzlich, also objektiv bestimmten Verbrechensmerkmale substituirt wird. 2. Ebenso unwesentlich ist, daß die Unzucht Anstoß erregt bei demjenigen, mit dem sie ver­ übt wirds. Wenn zwei sittlich ganz verkommene Indi­ viduen in größter Heimlichkeit miteinander Päderastie treiben, so begehen sie zweifellos unzüchtige Handlungen. So bedeut­ sam der Gesichtspunkt der sittlichen Korruption für die Gesetz­ gebung bezüglich der Unzuchtsverbrechen sein muß^, so ge­ wichtig der Mißbrauch eines Nichteinwilligenden zur Unzucht als Straferhöhungsgrund in die Wagschale fällt, so gibt es zweifellos Unzucht mit solchen, die sie gerne dulden. 3. Nicht wesentlich ist der unzüchtigen Hand­ lung, daß der Täter sie mit einer andern Person verübe. Bildet dieser Umstand auch häufig ein Begriffs­ merkmal einzelner Verbrechen (s. z. B. ZZ 172, 173, 174, 176, 177, 178, 182), so ist doch die Konkurrenz einer zweiten Per­ son, an der oder mit der die Unzucht verübt wurde, für die Unzucht als solche gleichgültig (Bestialität, Onanie). — Zu demselben Zwecke, die Grenzlinien des Unzuchtsbegriffs deutlicher hervortreten zu lassen, sollen jetzt Handlungen be­ trachtet werden, die zur Reizung des Geschlechtstriebes be­ stimmt sind, oder im gereizten Geschlechtstriebe wurzeln, nichtsdestoweniger aber nicht „unzüchtige" im Sinne des Strafgesetzbuchs sind. Hierher gehören vor allem 1. alle Erregungen des Geschlechtstriebes durch Eingebung sinnenreizender Mittel. Es hängt das damit zusammen, daß die Person, deren geschlechts So richtig Erk. des Preuß. Obertribunals vom 24. Nov. 1864 (Oppenhoff, Rechtssprech. V S. 295). » Beachte bes. StrGB. 8 176 Nr. 3 u. 8 182! 31*

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liche Aufregung erzeugt wird, dadurch in keiner Weise an einem unzüchtigen Treiben beteiligt wird. Nicht die geschlecht­ liche Aufregung, sondern die Betätigung derselben durch sitten­ lose Handlungen ist unzüchtig.

2. Aus dem gleichen Grunde können geschlecht­ lich aufgeregte oder den Täter aufregende Be­ tastungen einer andern Person der Unzüchtigkeit ermangeln. Das entscheidende Kriterium, ob unzüchtig oder nicht, muß hier darin gefunden werden, ob durch die Betastung die betastete Person geschlechtlich bloßgestellt wird oder nicht. Eine unzüchtige Betastung ist eine solche, die nach allgemeiner Auffassung eine Person, falls sie solche duldete, als willentliches Werkzeug oder Objekt fremder Wollust kenn­ zeichnen, somit als sittlich anrüchig und unrein erscheinen lassen würde. So z. B. die Betastung der Geschlechtsteile, der Beine, der weiblichen Brust, falls sie geschieht, um ge­ schlechtliche Aufregung zu steigern, zu befriedigen oder zu er­ regen. Auch ist gleichgültig, ob diese Teile der Berührung unmittelbar, also in ihrer Nacktheit, zugänglich gemacht oder durch die Kleider befühlt werden. Dagegen ist ein wollüstiger Kuß auf den Mund oder ein Streicheln der Wange eine un­ züchtige Handlung nicht, auch wenn sie in der Sinnenlust wurzeln und sich vielleicht als tätliche Beleidigungen dar­ stellen würden". Bei derartigen Betastungen ist übrigens durchaus nicht unmöglich, daß dieselbe Handlung in der einen Gegend als prostituirend gilt, in der andern aber als harmlos angesehen 10 Das Stuttgarter Obertribunal (Erk. vom 26. Nov. 1877: s. Württem­ berg. Gerichtsblatt XIV S. 55; auch zitirt bei Oppenhoff, Kommentar zu Z 174 N. 1) hat das Betasten einer weiblichen, durch Kleider verhüllten Brust nicht als eine unzüchtige Handlung im Sinne des 8 174 des StrGB.s betrachtet. Es ist dies wol richtig, beweist aber nichts gegen die Qualität der Unzüchtigkeit jener Betastung, sondern nur dafür, daß, der schweren Strafdrohung des 8 17k entsprechend, zum Tatbestände auch schwerere Un­ züchtigkeiten gefordert werden, über deren quantitatives Ausmaß hier zu handeln kein Anlaß ist.

X. Unzüchtige Handlungen und unzüchtige Schriften.

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wird. Grade gegenüber den Begriffen des Züchtigen und Un­ züchtigen wird man der Sitte eine Art authentische Auslegung nicht versagen können". Ist doch das ganze Gebiet des ge­ schlechtlichen Verkehrs und der geschlechtlichen Beziehungen in seiner Feinheit nur durch die Regeln des Anstandes, dagegen durch Rechtsvorschriften nur im gröberen normirt! Diese Rechtssurrogate aber, wie man die sog. „Gesetze des Anstandes" wol bezeichnen kann, können grade so partikulär sein als das Recht selbst! Von diesen durch die partikulare Sitte gebilligten Hand­ lungen sind die zur Gewohnheit gewordenen Unzüchtigkeiten einer in ihrer Majorität verdorbenen Bevölkerung, die sich an der Unsittlichkeit bewußtermaßen erfreut, scharf zu scheiden. Sehr richtig sagt das Reichsgericht in seinem Erkenntnis vom 28. Februar 1880 (Rechtsprech. I S. 405): „Es ist vielmehr davon auszugehen, daß es allerdings unsittliche und unzüchtige Handlungen gibt, deren absolute, objektive Strafbarkeit selbst durch den in einer Gemeinde oder in einem Bezirke allgemein verbreiteten Zustand von Unsittlichkeit und von Verderbtheit der Auffassung über Sitte und Schamgefühl nicht aufgehoben würde." 3. Aus dem Gesagten dürfte sich nun auch entscheiden lassen, wie weit Entblößungen sich als unzüchtige Handlungen darstellen. Sie sind es nicht, wenn die Entblößung lediglich behufs Befriedigung des natürlichen Bedürfnisses stattfindet ", auch dann, wenn der Täter weiß, daß fein Verhalten von Zeugen wahrgenommen wird, oder wenn sie geschieht lediglich in der Absicht, dem entblößten Körperteil eine Züchtigung angedeihen zu lassen, oder durch " Mit Recht heben Rubo, Kommentar zu H 174 N. 11, und Ols­ hausen, Kommentar zu Z 174 N. 4, hervor, daß eine unzüchtige Handlung, welche nicht den objektiven sittlichen Grundsätzen — den „Normen" des Anstandes könnte man sagen — widerspricht, nicht denkbar ist. Zu weit geht kaum in der Beurteilung des Falles, wol aber in den Motiven das Erk. des Sachs. OAG. Dresden vom 8. Juni 1877 (Annalen 2. Folge V S. 29), dem Rüdorff, zu Z 183 N. la folgt.

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Zuwendung des entblößten Hintern eine symbolische Be­ leidigung zu begehen. Konkurrirt aber auch nur mit dieser Absicht die andre, durch die Entblößung bei andern Wollust zu erregen, so wird die Handlung unzüchtig, einerlei ob die Geschlechts- oder andre regelmäßig bedeckte Körperteile entblößt werden. Ebenso wenn der Täter dritten Personen, sei es diesen bewußt oder unbewußt, die regelmäßig von Kleidern bedeckten Körperteile, besonders die Schamteile, die weibliche Brust, den Anus auf­ deckt, um wollüstigen Kitzel bei sich, ihnen oder dritten Zu­ schauern zu erregen. So hat das badische Oberlandesgericht in seinem Erkenntnis vom 3. Oktober 1879 (Badische Annalen XOV S. 339; auch zitirt bei Oppenhoff, Kommentar 8. Aufl. zu § 174 N. 1) ganz mit Recht eine unzüchtige Handlung gefunden „in dem Anblicken der Geschlechtsteile eines Kindes durch einen Mann, falls dieser den Anblick in unzüchtiger Weise durch äußere Handlungen, z. B. durch Auf­ heben der Röcke oder durch Verleitung des Kindes, den Körper seinen Blicken freiwillig auszusetzen, sich verschafft habe." Es dürfte jetzt möglich sein, die unzüchtige Handlung in allen ihren Richtungen auch positiv zu definiren. Unzüchtige Handlungen sind 1. alle außerhalb des normalen ehelichen Lebens vorgenommenen Handlungen be­ hufs Befriedigung des Geschlechtstriebes, und 2. alle erregtem Geschlechtstriebe entsprungenen oder zur Erregung des Geschlechtstriebes bestimmten Handlungen, welche nach den anerkannten Regeln des geschlechtlichen An­ standes jedenfalls den Täter und außerdem noch, falls er die unzüchtige Handlung mit einer Person vorgenommen, diese selbst im Falle ihrer in Verstandesreife erteilten Ein­ willigung als sittlich unrein erweisen.

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Der Begriff läßt sich wesentlich vereinfachen, wenn man die Innehaltung jener Regeln des geschlechtlichen Anstandes als die Wahrung der Geschlechtsehre bezeichnet. Spricht man doch ganz allgemein von „weiblicher Ehre" in dem Sinne, daß eine Frau außerehelich von niemandem ge­ schlechtlich gebraucht worden sei, und steht doch nichts im Wege, diesen Ehrbegriff zur Geschlechtsehre im oben fest­ gestellten Sinne überhaupt zu erweitern! Die Geschlechtsehre des einzelnen wäre dann ein sog. Rechtsgut, und bestünde in einem dreifachen: in der Regelung des eigenen geschlechtlichen Lebens innerhalb der Schranken des Rechtes und der Sitte; ferner darin, daß man nicht als evidentes Werkzeug oder Objekt fremder Wollust gedient hat; und endlich darin, daß man nicht behufs Befriedigung, Steigerung oder Erregung des Geschlechtstriebes fremde Ge­ schlechtsehre verletzt hat. Man gewinnt durch Einführung dieses Begriffes ein ein­ heitliches Angriffsobjekt für die unzüchtigen Handlungen und könnte sie einfach als alle Verletzungen der Geschlechts­ ehre definiren. Sie zerfielen dann in einseitige oder zweiseitige, je nachdem nur die Geschlechtsehre des Täters verletzt oder außerdem noch die Geschlechtsehre dritter Per­ sonen in Mitleidenschaft gezogen wurde. Auf die einzelnen Arten der unzüchtigen Handlungen näher einzugehen, ist hier nicht der Ort. Die Feststellung der unzüchtigen Handlung sollte aber nur den Weg bahnen zur Beantwortung der Frage: II. Was versteht das Gesetz unter der Ver­ breitung unzüchtiger Schriften, Abbildungen oder Darstellungen (8 184 des Strafgesetzbuchs)? Es ist nicht unwichtig, den engen Zusammenhang zwischen den §8 183 u. 184 und die Tatsache zu beachten, daß die 88 170—182 sich mit unzüchtigen Handlungen, also mit Ver­ letzungen der Geschlechtsehre, und mit der Kuppelei als

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der Beförderung solcher Verletzungen befassen, daß aber in den 88 183 u. 184 das Angriffsobjekt ein ganz andres wird, und daß somit die Untersuchung nicht umgangen werden kann, ob nicht der Begriff der Unzucht sich demgemäß in diesen beiden Paragraphen anders gestaltet als in den vor­ hergehenden Paragraphen. 8 183 sagt ausdrücklich, daß er nur Anwendung finden wolle, wenn durch eine unzüchtige Handlung öffentlich ein Ärgernis erregt sei. Er erfordert somit eine Verletzung des Anstandsgefühls Dieser Erfolg ist zwar zur An­ wendung des § 184 nicht erforderlich ; allein die Verbreitung unzüchtiger Schriften und Abbildungen kann nur aus einem Gesichtspunkte heraus verboten und unter Strafe gezogen werden: das ist der der möglichen Verletzung oder Erschütterung oder Untergrabung oder gar der Beseitigung des Anstandsgefühles in weiterem Kreise. 8 183 setzt den Eintritt der normalen Reaktion gegen öffentliche Unzucht voraus, 8 184 fürchtet gleichmäßig, daß solche Reaktion gegen Verbreitung unzüchtiger Schriften her­ vorgerufen werden oder aber die Fähigkeit zu solcher verloren gehen könne. Der Tatbestand des 8 183 ist als sog. Verletzungs­ vergehen formulirt, der des 8 184 als sog. Polizei­ vergehen: dort ist das Anstandsgefühl wirkliches, hier mögliches Angriffsobjekt. Diese Änderung des Angriffsobjektes nötigt aber aller­ dings, der Unzucht der 88 183 u. 184 eine etwas weitere Ausdehnung zu geben als der Unzucht der §8 171—181 — eine Notwendigkeit, die ziemlich allgemein verkannt oder wenigstens nicht betont wird Nimmt man an, daß ein Beischlaf unter frecher Nicht'3 Was Cohn, Zur Lehre vom versuchten Verbrechen I (Breslau 1880) S. 562. 563 dagegen einwendet, ist nicht verständlich. " Gut Rüdorff, Kommentar zu Z 183 N. 2.

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achtung der Öffentlichkeit verübt wird, so muß die Verletzung

des Anstandsgefühles ganz die gleiche sein, mögen Eheleute oder Nichteheleute miteinander konkumbiren: den Zeugen wird regelmäßig ganz unbekannt bleiben, in welchem Verhältnis juristisch die Konkumbenten stehen. Ihr Anstandsgefühl wird eben grade dadurch und nur dadurch verletzt, daß eine Ge­ schlechtshandlung, welcher die absolute Einsamkeit ansteht, öffentlich vorgenommen wird, und daß sie zur Zeugenschaft bei solcher genötigt werden. Ja, wenn eine Dirne sich öffent­ lich preisgibt, so wird dies relativ noch minder anstößig sein, als wenn solche öffentliche Hurerei zwischen Eheleuten unter der Firma der Ausübung des Eherechtes geschieht. Genau so verhält es sich mit den unzüchtigen Schriften. Ein Autor, der „pikant" schreiben und den Geschlechtstrieb seiner Leser erregen will, kann dies Ziel gradeso gut erreichen und grade ebenso verwüstend wirken, mag er die Personen, deren Lüsternheit er schildert, miteinander verheiratet sein lassen oder nicht. Am evidentesten aber ist die Notwendig­ keit dieser Ausdehnung des Unzuchtsbegriffs bezüglich der un­ züchtigen Bilder, die ganz mit dem gleichen Maße gemessen werden müssen, mag sich der Beschauer die in unzüchtiger Stellung Abgebildeten als verheiratet denken oder nicht. Der Akt des Verlöbnisses und der Eheschließung existirt für die Kunst nicht, sofern sie ihn nicht wie Raphael in seinem be­ rühmten Sposalizio darstellt. Somit umfaßt die Unzucht der 183 u. 184 auch das in die Öffentlichkeit, in die Publizistik und in die darstellende Kunst gezogene Geschlechtsleben der Eheleute (s. oben S. 477/8). Der zwingende Grund dieser erst engeren, dann weiteren Begrenzung der Unzucht liegt darin, daß die Geschlechtsehre der Frau durch das normale Geschlechtsleben mit ihrem Manne nie verletzt werden kann, während das Anstands­ gefühl Dritter und ihre sittliche Festigkeit ebensowol durch Profanation des ehelichen Geschlechtslebens als durch Unzuchts­ handlungen im engeren Sinne getroffen werden können.

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Somit ist der Ausschluß des ehelichen Geschlechtslebens aus der Unzucht im e. S. ebenso notwendig als seine Einbeziehung in die Unzucht der 183 u. 184. Von nun an bleibt H 183 beiseite, und die Betrachtung widmet sich ausschließlich dem Vergehen der Verbreitung un­ züchtiger Schriften. Die Aufstellung dieses Vergehens, welches durchaus nicht allen deutschen Strafgesetzbüchern dieses Jahrhunderts be­ kannt war, wirkt bei richtiger Auslegung des Tatbestandes ebenso heilsam und woltätig als bei engherziger, beschränkter, die geschichtlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Bedürf­ nisse verkennender Wortexegese beunruhigend und störend. Der Tatbestand des § 184 nötigt, zwischen der unzüchtigen Schrift und der Verbreitung derselben scharf zu scheiden. Von den Fällen abgesehen, wo der Verfasser der unzüchtigen Schrift zugleich der Verbreiter ist, muß demgemäß das Augenmerk auf zwei Persönlichkeiten gerichtet werden: den Urheber der Schrift und den Verbreiter derselben. 1. Begriff der unzüchtigen Schrift. Jedes Schrift­ stück soll sein ein Gedankens- oder ein Willensausdruck. Das Gesetz spricht nun in Z 184 nicht von Schriften, worin ver­ einzelte Unzüchtigkeiten vorkommen, sondern von Schriften, die unzüchtig sind. Das Prädikat bezieht sich auf die Schrift im ganzen'^. Eine solche Einschränkung aber ist ein Glück und durchaus notwendig, sonst würde das Alte Testament, sonst würden die Werke der edelsten Dichter und Denker mit diesem Prädikate gebrandmarkt werden müssen. Diese Ein­ schränkung ist auch fest im Auge zu behalten bei solchen Schriften, welche aus selbständigen Teilen, etwa aus einzelnen Erzählungen bestehen. Eine unzüchtige Schrift ist somit eine solche, welche wesentlich dazu bestimmt erscheint, entweder unzüchtige Hand­ lungen in dem Sinne, der oben entwickelt wurde, darzustellen, Auch dies ist allgemein anerkannt. S. bes. VikLnow, Gerichtssaal 1878 S. 158.

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oder zu unzüchtigen Handlungen, sei es direkt, sei es indirekt, sei es offen, sei es verschleiert, aufzufordern. Auf die Zu­ rechnungsfähigkeit des Autors, ferner darauf, ob er die Un­ züchtigkeit seiner Schrift als solche erkannt hat oder nicht, kann nichts ankommen; denn der Verfasser der unzüchtigen Schrift ist straflos: er kommt nur in Betracht als Bereiter des literarischen Giftstoffes, womit der Verbreiter später Un­ heil stiftet. Die Unzüchtigkeit einer Schrift ist insoweit ein objektives Merkmal derselben und steht prinzipiell unabhängig vom Bewußtsein ihres Urhebers. Wenn aber auch bei diesem keinerlei Dolus gefordert wird, so hindert doch die konsequente Durchführung bestimmter Absichten des Autors, die Schrift für eine unzüchtige zu erachten. a. Kein taugliches Objekt der wissenschaftlichen Betrachtung und Belehrung darf dieser vorenthalten werden. Eine wissen­ schaftliche Darstellung der menschlichen Geschlechtsteile, des Geschlechtslebens (man denke an die Physiologie der Zeugung), der Auffassungen der verschiedenen Zeiten über das Geschlechts­ leben und die Geschlechtsliebe (es sei z. B. auf das Werk von A. Lindwurm: Über die Geschlechtsliebe in sozialethischer Beziehung. Leipzig 1879 verwiesen), ja eine wissenschaftliche Darstellung über das Unzuchtsleben der Vergangenheit wie der Gegenwart (Darstellung der Prostitution, der Sitt­ lichkeitsverbrechen in medizinisch-forensischen und kriminalisti­ schen Werken, Darstellung einzelner Strafprozesse über Un­ zuchtsverbrechen) ist nie eine unzüchtige Schrift im Sinne des Gesetzes, mag auch vielleicht ein schwacher Leser seine Sinnlichkeit an der Schrift oder an den ihr beigegebenen sachlich gehaltenen Abbildungen entzünden. Glücklicherweise ist die letzterwähnte Wirkung nicht zum Kriterium der un­ züchtigen Schrift erhoben worden und kann vom Gesetzgeber nie und nimmer dazu erhoben werden, sonst müßte ein ebenso großer und wertvoller Teil unsrer Literatur auf den Scheiter­ haufen. Wissenschaftliche Darstellungen sind aber nur solche, welche

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sich lediglich an das menschliche Erkenntnisvermögen wenden. Bergen sich unter wissenschaftlicher Gewandung Anleitungen oder Aufreizungen zur Unzüchtigkeit, so ist die Schrift keine wissenschaftliche, sondern eine unzüchtige. Die Statthaftigkeit solcher wissenschaftlicher Werke über das Geschlechtsleben in gutem und schlimmem Sinne ist, so­ viel zu erkennen, für naturwissenschaftliche Werke unbestritten. Einen weniger sichern Stand haben in dieser Beziehung die historischen Werke, ganz besonders die Selbstbiographien. Aber auch für diese ist lediglich festzustellen, ob sie wesentlich der geschichtlichen Darstellung oder unter dem Deckmantel der Geschichte der Erregung der Sinnlichkeit dienen. Im ersten Falle statthaft, werden sie im zweiten unzüchtig. Das Geschlechtsleben spielt wie in der Geschichte der Völker, so auch oft in der Entwicklung des einzelnen eine solche Rolle, daß seine Jgnorirung eine Fälschung des Bildes sein würde. Wenn jemand, wie z. B. Casanova, der ein buntes und oft unreines Abenteurerleben geführt hat, dieses sein Leben wahrheitsgetreu zu schildern unternimmt und dabei nicht ohne zynische Offenheit auch die unlautern und unlautersten Erlebnisse schildert, so wäre es höchst verkehrt, diese außerordentlich wichtige Geschichtsquelle um deswillen zu den unzüchtigen Schriften zu stoßen. Die Sittenlosigkeit des einzelnen wie der Gesellschaft bildet eben einen Teil der Geschichte. Sehr treffend heißt es in einem Urteile der Leipziger Strafkammer wider Klemm vom 8. November 1880 : Der Ge­ richtshof hat Bedenken getragen, die Casanovaischen Memoiren in ihrer Gesamtheit als unzüchtiges Werk zu betrachten. Man würde zu weit gehen, „wollte man ein Werk als un­ züchtig verfolgen, welches in einigen, welches vielleicht in zahlreichen Stellen Unzüchtigkeiten enthält, im allgemeinen aber einen andern Zweck verfolgt." Casanova hat beim Schreiben nicht die Absicht gehabt, „das sittliche Gefühl seiner Leser zu verletzen und deren geschlechtliche Lüsternheit zu er­

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regen." — Kommt es nun auch allerdings nicht sowol auf Casanovas Absicht, als auf die objektive Tendenz des Werkes an, so ist diese eine historische und das Werk kein unzüchtiges. Genau dasselbe gilt beispielsweise von den so hochinter­ essanten Memoiren Vidocqs, zuerst 1828 in vier Bänden zu Paris erschienen. Wollte jemand aber aus derartigen Werken etwa „pikante Blütenlesen" zusammenstellen, so würden diese natürlich un­ züchtige Schriften werden. b. Ebensowenig sind unzüchtige Schriften solche, welche praktisch-sittliche oder sanitäre Zwecke verfolgen, auch dann, wenn sie Vorschläge bezüglich des Geschlechtslebens enthalten. Dabei wird an die bekanntermaßen ja vorhandenen Ratgeber bezüglich des ehelichen Geschlechtslebens, ferner an die Schriften über Einschränkung oder strenge Kontrollirung der nun ein­ mal nicht zu vertilgenden Unzucht, über Fernhaltung der leicht ganze Generationen vernichtenden Syphilis, über die Verhütung der Übervölkerung usw. gedacht. Wieder aber ist der Vorbehalt nötig, daß diese Schriften ihrer Tendenz treu bleiben, und daß der Ratgeber gegen die Unzucht und ihre Gefahren sich nicht in einen Ratgeber zur Unzucht verwandele. Es ist hier der Platz, um gewisser Arten von Annoncen Erwähnung zu tun, die zum öfteren Gegenstand richterlicher Kognition geworden und zu den unzüchtigen Schriften ge­ rechnet worden sind. Eine solche lautete in einem Falle, in welchem das Reichsgericht unterm 15. Dezember 1879 — (s. Rechtsprechung I S. 149 ff.) — erkannt hat: „Gummiwaren­ fabrik von A. in B. Import von Pariser Gummiartikeln besonderer Spezialitäten. Vorsichtspräparate von verschiedenem Material" usw. Diese sehr geschäftsmäßig und harmlos aussehende An­ nonce wurde vom Reichsgericht als unzüchtige Schrift be­ trachtet, weil das Gericht annahm, daß sie eine Aufforderung zum Ankauf von Nachbildungen männlicher und weiblicher

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Geschlechtsteile in Gummi und von sog. Präservativs und somit eine Anreizung zur Ausübung der Unzucht enthalten hätten Diesem Urteile muß im vorliegenden Falle beigetreten werden. Unleugbar gibt es eine latente Unzüchtigkeit in Schriften, und eine verschleierte Aufforderung zur Unzucht muß als solche betrachtet werden. Ebenso unleugbar liegt in der Anbietung solcher „Spezialitäten" eine derartige Auf­ forderung. Dagegen läßt sich wol denken, daß eine Emp­ fehlung sog. Präservativs lediglich aus hygienischen Gründen geschehe, und somit eine gedruckte Empfehlung derselben nicht notwendig als unzüchtige Schrift betrachtet werden muß". 6. Eine dritte Gruppe von Schriften, die genauerer Be­ trachtung bedarf, bilden die Erzeugnisse der Dichtung im weitesten Sinne genommen, die Dichtungen in Versen und in Prosa. Da die Grundsätze der Beurteilung, ob die Er­ zeugnisse der Kunst unzüchtig sind oder nicht, ganz dieselben sein müssen für Dichtungen wie für die Werke der bildenden Kunst, und die Beleuchtung der einen Gruppe stets auch Licht auf die andre wirft, so empfiehlt es sich, hier zugleich die Bilder und plastischen Werke kurz mit in den Kreis der Be­ sprechung zu ziehen. Der menschliche Körper bildet den edelsten Vorwurf der sog. bildenden Kunst, und die Liebe einen nie veralten­ den Gegenstand der Dichtung. Die künstlerische Phantasie ist ohne gesteigerte Schönheitsempfindung, diese aber ohne größere Erregbarkeit des Empfindungslebens überhaupt, der Sinnlichkeit in edlerem Sinne, undenkbar. Da der Künstler aus den Eindrücken seiner Sinne und der Umdichtung der­ selben nach Maßgabe seiner Empfindung und seines Schön­ heitsideals seine Bilder formt, so muß — wie ja auch die io Vgl. auch die Urteile des Preuß. Obertribunals vom 19. Juni 1874 und vom 8. Nov. 1876 bei Oppenhoff, Rechtsprech. XV S. 430. 431 u. XVII S. 720. — Urt. des Reichsgerichts vom 26. März 1881 (Rechtsprech. III S. 165). Beachte Urt. des OAG. Dresden (bezüglich des Z 183) vom 5. Aug. 1878 (Annalen 2. Folge VI S. 215. 216).

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Geschichte aller großen Kunstepochen lehrt — der Zusammen­ hang der Kunst mit der Körperschönheit und der Liebes­ leidenschaft, mit dem Gegensatze der Geschlechter und der Auf­ hebung desselben in ihrer Verbindung ein dauernder und unlösbarer sein. Der Dichter aber wie der Maler und der Bildhauer wollen ihre Empfindungen grade im Herzen der Hörer und Beschauer nachklingen lassen: sie wenden sich nicht an den Verstand und die Urreilskraft, sie wollen ein für Schönheit empfängliches Gemüt möglichst tief bewegen zu Freude oder Mitleid. Darin liegt die Gefahr, daß das in edlerer Sinnlichkeit konzipirte Kunstwerk bald edlere, bald unedlere Sinnlichkeit wecke. Diese Gefahr ist ebenso dauernd als unvermeidlich: keine Maßregeln der Sittenpolizei wie des Gesetzgebers vermögen sie zu wenden. Grade wegen jenes Zusammenhanges aber ist es bei den Kunstwerken am schwierigsten, die Grenze zu fixiren, bis zu welcher der Künstler gehen kann, ohne sein Werk zu einem unzüchtigen zu machen. Der juristischen Beurteilung älterer literarischer Werke in dieser Beziehung hat die Geschichte bemerkenswert vor­ gearbeitet. Es ist für ein Buch schwer, für einen Schrift­ steller noch schwerer, zu den „klassischen" der Weltgeschichte gestellt zu werden. Die Kritik der Generationen ist eine un­ barmherzige: sie verwirft das Schwache ebenso sicher wie das Gemeine. So dürften wir wenig Grund haben, nachzuprüfen, ob die klassischen Werke der Literatur der Griechen, etwa des Aristophanes, der Römer, etwa des Horaz, der Italiener, etwa Ariosts rasender Roland oder Boccaccios Dekamerone, der mittelalterlichen Minnesänger, der Engländer, etwa die nicht dramatischen Werke Shakespeares, der Franzosen, etwa Voltaires usw. usw. nicht vielleicht unzüchtig seien. Das Ur­ teil darüber steht vielleicht schon Jahrhunderte hindurch fest, und zwar in dem Sinne, daß sie es nicht sind". Bezüglich des Art. 223 des Bayr. Strafgesetzbuchs sagt der oben N. 1 zitirte Aufsatz aus der Zeitschrift für Gesetzgebung IX S. 679: „Kunst-

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Gesetzt aber, daß ein großer Schriftsteller auch einmal ein unzüchtiges Werk geschrieben haben sollte — dies Werk ist Quelle der Literaturgeschichte geworden, ist vielleicht außer­ dem eine wichtige Fundgrube für den Kulturhistoriker, und der Buchhändler, der ein solches Werk wegen dieser Eigen­ schaft wieder auflegte und verbreitete, damit die selten ge­ wordene Quelle nicht ganz verloren gehe, würde jedenfalls keinen Tadel verdienen. Brennender und schwieriger wird die Frage gegenüber den Erzeugnissen der Gegenwart und der jüngsten Vergangen­ heit, sowie gegenüber den älteren Erzeugnissen zweiten und dritten Ranges. Jene wollen ja grade die Mitwelt packen, und diese Mitwelt muß sich in Form der künstlerischen und nötigenfalls auch der richterlichen Kritik erklären, ob die be­ absichtigte Wirkung vielleicht statt einer segensreichen eine verderbliche ist. Bei allen Kunstwerken nun sind der Gegenstand und die Art seiner Behandlung gleichzeitig ins Auge zu fassen, auch wenn nur ein Urteil über ihre Züchtigkeit oder Unzüchtigkeit abzugeben ist. Es liegt deshalb die Ansicht sehr nahe, eine Schrift oder ein Werk der bildenden Kunst sei ein unzüchtiges dann, wenn entweder der Gegenstand oder die Darstellung oder beide sich als unzüchtige darstellten. Allein sie ist teilweise falsch. Die Kunst wirkt an erster Stelle durch die Art der Darstellung, und auf sie ist deshalb auch bei Findung des Urteils das Augenmerk hauptsächlich zu richten. Vielleicht sagte man besser: durch den Geist der Darstellung — denn unrichtig wäre der Glaube, es käme auf die Schönheit oder Unschönheit der Form an. Es sind Bilder von großer Schön­ heit geschaffen worden, die trotzdem zweifellos den Charakter der Unzüchtigkeit tragen, und ein lüsternes Gedicht kann durch die Weichheit der Sprache an sinnenentflammender Kraft bewerke in Sammlungen oder die durch die Presse vervielfältigten Werke der klassischen Literatur sollen durch den Art. 223 nicht berührt werden."

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deutend gewinnen! Die ideale Darstellung aber kann auch einen unreinen Gegenstand so veredeln, daß der Beschauende nur noch das Schöne der Form und gar nicht oder kaum mehr das Anstößige des Gegenstandes empfindet. Wie oft ist nicht — um nur ein Beispiel aus vielen herauszugreifen — die Sage von Leda und dem Schwan in diesem Sinne dar­ gestellt worden, und bei wie vielen Bildern findet erst der reflektirende Verstand das Anstößige des Vorwurfs heraus! Nichts ist abschreckender als die Prüderie, die alles Nackte als unzüchtig betrachtet ; sie stellt sich durch ein unfreiwilliges Geständnis selbst an den Pranger! Lediglich die Art der Darstellung entscheidet, ob ein tief ergreifendes Kunst­ werk entsteht, oder etwa das Bild eines lüsternen Weibes, lediglich gut, um den Gaumen der Sinnlichkeit zu kitzeln So entscheidet auch bei den Werken der Kunst die Ten­ denz, die ihr Schöpfer ihnen durch die Art der Darstellung willentlich oder unwillentlich eingeflößt hat. Ist diese ge­ richtet auf geschlechtliche Erregung der Leser oder Beschauer, dann ist die Schrift oder das Bild un­ züchtig, sonst nicht. Nicht entscheidet demgemäß die zufällige Wirkung des Werkes auf den Einzelnensondern die Wirkung, die es nach sachverständigem Urteil auf die Menge derjenigen üben wird, zu deren Kenntnisnahme es bestimmt und denen es deshalb zugänglich gemacht worden ist^. Suchen wir das Gesagte noch etwas näher für Schriften künstlerischen Ursprungs zu erläutern. Auch der Dichter ist Darsteller von Geschehnissen und Erlebnissen, sollten sie sich auch nur in seinem Innern ab19 S. Puchelt, Kommentar zu 8 164 N. 1; v. Schwarze bei v. Holtzendorff IH S. 352; Meyer, Lehrbuch S. 626 N. 30; Villnow, Gerichtssaal 1878 S. 158; Oppenhoff zu 8 184 N. 1. *0 „Kein verdorbener Sinn verstand jemals ein Wort in der richtigen Bedeutung." Boccaccio, Dekamerone, in seiner Selbstverteidigung am Schlüsse des Werkes (Ausgabe von Witte III S. 302). 2i Auf diesen Punkt wird unten unter 2 noch näher eingegangen werden. Bin ding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen. 32

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gespielt haben. Auch für ihn wie für den Geschichtsschreiber gilt das Gesetz der Wahrheit. Auch er sieht an den Menschen Glanz und Flecken, Kraft und Leidenschaft. Schildert er den unreinen Vorgang, etwa einen Ehebruch, mit der Farbe der Wahrheit als einen hassenswerten Fehltritt, oder berichtet er offen, ehrlich und ungeschminkt, aber nichts weniger als im Dienste der Lüsternheit, einen vielleicht recht bedenklichen Vor­ gang seines Geschlechtslebens (man denke an das neuerdings viel besprochene „Tagebuch" Goethes), so wird seine Schrift wahrlich eine unzüchtige nicht sein. Stellt er das Laster dar, um es durch die Satire zu brandmarken oder um durch das Konterfei seine Mitwelt von ihm abzuschrecken, so kann viel­ leicht grade die detaillirte Darstellung der einzelnen un­ züchtigen Handlungen zur Herbeiführung des Gesamteffekts unentbehrlich werden. Aber der Verfasser sehe sich vor, daß es ihm nicht gehe wie neuerdings einem französischen Romancier mit seinem viel gelesenen und viel berüchtigten Romane (Nana) —, auf daß nicht seine Tendenz gut sei, aber das Werk ihr nicht entspreche und wesentlich im Sinne der sittlichen Verderbnis wirke! Grade gegenüber den Werken der Kunst aber darf der zum Urteil vielleicht angerufene Strafrichter nie vergessen, daß das Leben in allen Höhen und Tiefen der Vorwurf des Künstlers ist, und daß sein Werk nie schon dann als ein un­ züchtiges aufzufassen, wenn es in diese Tiefen hinabsteigt, sondern erst dann, wenn es für die Unzucht Propaganda macht. Auch der weitherzige Richter aber sei eingedenk des in änbio mitiu8^. 2. Diese Ausführung über das Wesen der unzüchtigen Schrift läßt aber das Wesen des in ß 184 bedrohten Deliktes noch vollständig im Dunkeln. Dasselbe besteht in einem 22 Dafür, daß Schriften und Abbildungen, welche lediglich wissen­ schaftliche und künstlerische Zwecke verfolgen, der Unzüchtigkeit ermangeln, sprechen sich alle neueren Schriftsteller aus, die den Punkt überhaupt be­ rühren. Es kann hier auf S. 405 N. 19 verwiesen werden. Vgl. außerdem Olshausen, Kommentar zu H 184 N. 2.

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Verbreiten oder Ausstellen der unzüchtigen Schrift. Nimmt man aber auch — was im vorliegenden Gutachten zulässig ist, da diese Begriffe dem Herrn Frage­ steller keinen Anlaß zur Frage gegeben haben, — den Sinn von Verbreiten und Ausstellen als bekannt an, so bedarf doch ein Zwiefaches noch genauerer Aufklärung: die Schuld des Verbreiters, und die Frage, ob die Art des Verbreitens imstande sei — sit vsnia vsrdo! —, ein im ganzen nicht un­ züchtiges Werk mit anstößigen Stellen in ein unzüchtiges im Sinne des ß 184 zu verwandeln? a. Die Schuld des Verbreiters. Über diese sagt

8 184 kein Wort. Es greift demgemäß die allgemeine Regel Platz, daß überall da, wo das Gesetz nicht ausdrücklich oder doch wenigstens durch unmißverstehbare Wortfassung die Fahrlässigkeit mit unter Strafe zieht, die Strafdrohung nur der vorsätzlich rechtswidrigen Handlung gilt. In Anwendung auf den ß 184 insbesondere herrscht darüber, daß er Vorsatz des Täters verlange, allgemeinste Übereinstimmung. Dieser Vorsatz ist das bewußte Wollen der Verbreitung der Schrift mit dem Bewußtsein, daß sie eine unzüchtige Schrift sei und deshalb nicht verbreitet werden dürfe. Der Vorsatz fehlt deshalb ebenso, wenn der Täter die Schriften verbreitet, ohne es zu wissen, als wenn er sie ver­ breitet ohne Kenntnis ihres Inhaltes, als wenn er zwar einzelne unzüchtige Stellen des Werkes kennt, dasselbe aber nicht im Ganzen als ein unzüchtiges erachtet S. bes. Erk. des Reichsgerichts vom 15. Dezember 1879 (Rechtsprechung I S. 151) ; Olshausen, Kommentar, zu 8 184 N. 3 und die dort Angeführten. b. Relativ unzüchtige Schriften. Will das Straf­ gesetz durch die Bedrohung der Verbreitung unzüchtiger Schriften und Abbildungen das Anstands- und Sittlichkeits­ gefühl — soweit es in seinen Kräften steht — vor Er­ schütterung sicherstellen, so darf der Strafrichter bei Aus2b Vgl. auch Olshausen, zu 8 184 N. 3.

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legung dieses Gesetzes nicht unbeachtet lassen, daß dieselben Schriften und Abbildungen auf verschiedene Lebenskreise je nach der Verschiedenheit ihres Verständnisses sehr verschiedene Wirkungen üben können. Nicht wird hier an die Verschieden­ heit der Wirkung auf bestimmte Personen gedacht, sondern an die verschiedene Durchschnittswirkung derselben Werke auf die verschiedenen Klassen, für deren Kenntnisnahme Bücher und Bilder berechnet sind Enthält ein im Ganzen nicht unzüchtiges Werk unzüchtige Stellen oder Darstellungen geschlechtlicher Vorgänge, und es wird in Kreise geschleudert, die für das Ganze kein Verständ­ nis haben, sondern aller Voraussicht nach nur die sog. pikanten Stellen würdigen und sich daran erhitzen werden, so wirkt es eben auf diese Kreise als unzüchtiges Werk, und ist die Verbreitung desselben dem 8 184 zu unterstellen^. Der Versuch der Verbreitung unzüchtiger Schriften als solcher be­ tätigt sich dann nicht selten in einer Beschränkung der un­ anstößigen Teile, in einer Aufhebung des Zusammenhanges des Ganzen, in einer Hervorhebung der Unzüchtigkeiten durch die Art des Druckes, in Jllustrirung des pikanten Textes durch pikantere Bilder, in Veranstaltung ganz billiger sog. Volksausgaben, somit durch Berechnung des Werkes auf Kreise, die in ihm lediglich oder überwiegend die aufdring­ liche Unzüchtigkeit, nicht aber die tiefer liegende sittliche Ten­ denz erkennen werden. Der Richter hat deshalb bei Beurteilung eines relativ unzüchtigen Werkes durchaus nicht nur dessen Inhalt und dessen voraussichtliche Wirkung dem normalen Leserkreis gegen­ über ins Auge zu fassen, sondern er hat sich die Frage vor­ zulegen: ist das Werk nach Inhalt und Art der Ver­ breitung als ein unzüchtiges zu betrachten? " S. Oppenhoff, zu Z 184 N. 2 a. E. 2° S. Rüdorff, zu § 184 N. 1; Urteil des Reichsgerichts vom 16. Februar 1881 (Rechtsprech. I S. 52 ff. Bestätigt das oben zitirte Urteil des Leipziger Landgerichts wider Klemm.)

X. Unzüchtige Handlungen und unzüchtige Schriften.

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So würde kaum ein Zweifel möglich sein, daß in einer isolirten Herausgabe und Verbreitung des Goetheschen Tage­ buches in Gestalt einer billigen Volksausgabe das Vergehen der Verbreitung unzüchtiger Schriften gefunden werden müßte, während es durchaus ungerechtfertigt wäre, den § 184 auf denjenigen anzuwenden, der das neu aufgefundene Gedicht in Druck legt und durch Verbreitung den Literaturkennern zugänglich macht. Ebenso könnte Casanova durch die Art der Herausgabe zu einem unzüchtigen Werke werden. Derartige Werke und Bilder mag man in Analogie mit der „relativen Beleidigung" relativ unzüchtige Werke und Bilder nennen. Die Aufstellung dieses Begriffes steht mit den obigen Ausführungen, daß die Unzüchtigkeit eine objektive Eigen­ schaft der Schrift oder des Bildes sei, durchaus nicht in Widerspruch: denn oben wurden Schriften und Bilder ihrem normalen Leser- und Beschauerkreise gegenüber ins Auge gefaßt. Daß aber der Gesetzgeber bei Aufstellung des 8 184 an diese relativ unzüchtigen Werke und ihre Verbreitung in Kreisen, in denen sie großen Schaden stiften können, gedacht habe, dürften die allerdings sehr kurzen Motive zu Z 182 des Entwurfs ergeben, die vollständig so lauten: „Eine Strafvorschrift gegen die Verbreitung unzüchtiger Schriften, Abbildungen oder andrer Darstellungen erschien nicht wol entbehrlich, zumal wenn man erwägt, daß bei der gesteigerten Leichtigkeit, diese Art von Produkten billig her­ zustellen, jene gemeinschädlichen Schriften und Abbildungen eine viel weitere Verbreitung finden und in Kreise ein­ dringen können, in denen die Gefährdung der guten Sitten als besonders nachteilig sich zeigt." III. Wenden wir uns nun zur letzten Frage nach der Unzüchtigkeit der uns vorgelegten deutschen Ausgaben des Faublas und des Dekamerone, so müssen wir es natürlich ablehnen, in eine literarische Würdigung beider Werke ein­ zutreten. Die Fakultät gibt nur ihr Urteil unter kurzer Be­ gründung dahin ab:

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1. „Leben und Abenteuer des Chevalier Faublas" von Louvet de Couvray ist ein unzüchtiges Werk im Sinne des § 184, und zwar nicht ein relativ, sondern ein absolut unzüchtiges. Der Verfasser führt den Leser von einer unzüchtigen Situation zur andern, und der uneheliche Beischlaf ist permanent. Dabei malt er die Un­ sittlichkeit stets mit sichtbarem Behagen nicht selten bis ins kleinste Detail, und immer mit der unverkennbarsten Absicht, die Sinnlichkeit des Lesers zu reizen. Besondere Belege für die Richtigkeit dieses Satzes brauchen nicht angeführt zu werden: sie bieten sich auf Schritt und Tritt. Der Gegensatz zwischen der angeblich reinen Liebe des Faublas zu seiner Sophie und den so und so vielen un­ reinen und liederlichen Liebschaften des Ritters hat weder Kraft, noch ist er wirklich ernst gemeint. Es ist nicht mög­ lich, neben einer solchen dissoluten Lebensweise eine ernstere Liebe festzuhalten. Außerdem hat Faublas vor seiner Sophie nicht einmal so viel Achtung, daß er sie nicht geschlechtlich entehrte, und sie hat nicht einmal so viel Kraft, dem An­ sinnen eines Mannes, den sie als Wüstling kennt, zu wider­ stehen. Nachdem der Verfasser seinen Helden durch alle Gossen geschleift, hebt er sich gegen den Schluß (Briefe des Barons an den Grafen: II S. 342 ff.) auf ein etwas höheres Niveau. Aber die wenigen Seiten können nicht gut machen, was Bände gesündigt! 2. Weniger einfach liegt die Frage bezüglich der uns vor­ gelegten billigen „deutschen Volksausgabe" des Boccaccioscheu Dekamerone. Handelte es sich um die Wittesche Ausgabe (3. Aufl. Leipzig bei Brockhaus 1859), so wäre ganz zweifellos die Frage nach der Unzüchtigkeit des Buches zu verneinen. Aber es kann nicht in Abrede gestellt werden, daß das Dekamerone durch die Art und die Tendenz der Herausgabe ein unzüchtiges Buch werden kann.

X. Unzüchtige Handlungen und unzüchtige Schriften.

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Die vorliegende Ausgabe nun unterscheidet sich von der Witteschen (von deren wertvollen Einleitung bei Witte S. I—0 abgesehen) durch ein Dreifaches: In ihr fehlt der reizvolle Nahmen der Erzählungen; diese werden nicht in das Tagesleben der zehn Flüchtlinge vor der Florentinischen Pest eingeflochten wie im Original, sondern einfach hintereinander abgedruckt, allerdings nach Tag und Zahl numerirt. Es fehlen ferner die Überschriften, auf die Boccaccio in seinem schönen Schlußworte selbst Gewicht legt, wenn er sagt : „In­ zwischen möge doch, wer in diesen Geschichten liest, diejenigen liegen lassen, welche ihm anstößig sind, und nur die lesen, welche ihn ergötzen. Sie tragen, um niemand zu täuschen, an die Stirn gezeichnet, was sie in ihrem Schoß verborgen halten" 2°. Endlich fehlt der ganze bedeutsame „Schluß des Verfassers" -V Der Ausstattung nach ist das Buch auf einen weniger bemittelten Leserkreis berechnet. Irgendwelche Hinweise auf bestimmte Novellen als besonders interessante und lesens­ werte sind nicht vorhanden. Durch den Mangel der Über­ schriften wird der Leser veranlaßt, alle Erzählungen, also auch die anstößigen, zu lesen. Die Aufnahme der Überschriften aber könnte grade Veranlassung bieten, letztere nur allein zu lesen. So liegt in der Art der Ausgabe nicht das Geringste, den sittenlosen Bestandteilen des Buches eine besondere Wirkungs­ kraft zu sichern. Es fragt sich so nur noch, ob die Tendenz des Buches, wie es vorliegt, im Ganzen darauf gerichtet ist, die Sinnen­ lust zu reizen? Wenn nun aber auch nicht verkannt werden soll, daß manche Leser sich auf das Buch werfen werden, um den trüben Schaum abzuschlürfen und es dann beiseite zu schleudern, so muß doch die Unzüchtigkeit des Buches im Ganzen selbst dann geleugnet werden, wenn man weniger gebildete Leser im Auge hat Bei Witte III S. 304.

Das. IV S. 300-306.

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Erste Abteilung.

Strafrecht.

Scheidet man die hundert Novellen nach der Sittlichkeit ihres Inhalts, so stehen ungefähr dreißig anstößige siebenzig nicht anstößigen gegenüber^. Von jenen dreißig gehen die neun in der Note durch * hervorgehobenen in Unzüchtigkeit sehr weit. Aber auch in ihnen fällt eine diskrete Art des Erzählens auf. Der Verfasser freut sich daran, auch das Derbste auf feine Art zu sagen. Seiner Meinung nach „gibt es nichts so Unehrbares, daß es mit ehrbaren Worten vorgetragen für irgendwen ungeziemend fei" so überhaupt ist die Lust an der feinen Erzählung bei

Boccaccio ebenso groß als die Kunst derselben. Anderseits befindet sich unter den an Zahl weit über­ wiegenden unanstößigen Novellen eine größere Anzahl von wunderbarer Schönheit bi, andre von köstlichstem Humor Die Einleitung über die Pest in Florenz ist gradezu groß­ artig, die Sprache durchweg graziös und fein. Daß alfo die Tendenz der Erregung der Sinnlichkeit das Werk ganz oder auch nur zum größten Teile durchziehe, kann nicht behauptet werden. Es ist das Buch in vielen Einzelheiten anstößig, aber im Ganzen ein unzüchtiges nicht. Zu seiner Verteidigung sagt Boccaccio selbst: „Kein Feld war je so wolbestellt, daß sich in ihm nicht Nesseln, Disteln oder einige Dornsträuche unter die besten Kräuter ge­ mischt finden." So fällt nach Ansicht der Fakultät auch die ihr vorgelegte unvollständige Ausgabe des Dekamerone von Boccaccio unter den ß 184 des StrGB.s nicht. sZu S. 503.1 Dies ist der einzige Punkt, bezüglich dessen im Kollegium eine Stimme dissentirte. Die Meinungsverschiedenheit betrifft aber nur solche Ausgaben, welche das Dekamerone nicht in seiner ursprünglichen Gestalt ab­ drucken. 20 Als anstößig werden hier betrachtet: Tag I. Erzählung 4. II. 2(?). 5. 7». 10. III. 1*. 2(?). 4. 5. 6. 8. 10". IV. 2. V. 4**. 6(?). 10*. VI. 7. VII. 1. 2**. 3. 6. 7. 8. 9. 10. VIII. 1. 2. 8*. IX. 2. 6**. 10***. Schlußwort, bei Witte III S. 300. 301. " Man s. z. B. II. 6 u. 8. IV. 5 u. 6. V. I. 2. 9. IX. 7. X. 3. 4. 5. 7. 9. 10. re S. z. B. VI. 4. 5. 6. 10.

XI.

Anhang.

1. Zum hundertjährigen Geburtstage Paul Anselm Feuerbachs. 2. Zu Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht. 3. Emil Brunnenmeister 1- 22. Januar 1896.

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1. Zum hundertjährigen Geburtstage Paul Anselm Feuerbachs'. (Geb. 14. November 1775 zu Hainichen bei Jena.) „^ors ornnidu8 ex natura aegualis. Odlivione apuck postsroZ

Alle sterben wir denselben Tod: nur wird er bei den einen die Pforte zur Vergessenheit, bei den andern zu unsterblichem Nachruhm. So sagt Cornelius Tacitus vom Tode; so schreibt im Juli 1797 ein 21jähriger Jüngling noch in seinem Tagebuch, bebenden Herzens, was ihm der Tod einst bringen werde. Es ist der Sohn eines Advokaten in Frank­ furt a. M. Kaum siebenzehnjährig, war er der Zucht des väter­ lichen Hauses entflohen — Liebesstürme und Durst nach Wissen, Taten und Ruhm im jungen heißen Herzen; dabei voll männ­ lichen Muts, mit dem rauhen Schicksal in Gestalt väterlicher Un­ gnade und völliger Mittellosigkeit, rein auf sich gestellt, den Kampf um die Zukunft zu wagen. „Wie wenig bin ich noch! wie viele Felder des Wissens habe ich noch nicht betreten, wie viele nur oberflächlich berührt! Ge­ schichte, Politik, Literatur, Philosophie! Wie wenig, wie gar so wenig bin ich noch hierin. Aber Muth! Muth! . . . Du hast erst 22 Jahre gelebt." So klagt derselbe Anselm Feuerbach um dieselbe Zeit, ungerecht gegen sich und seinen Genius. Denn von seinem Eintritt in die Kreise der Universität Jena im November 1792 an begann für ihn ein so stürmisches Fortschreiten, wie es nur bei einem Manne möglich ist, dessen rezeptive und produktive Kraft ganz außergewöhnlich, dessen Ehrgeiz, zu den Besten seines Volkes gezählt zu werden, gleich groß ist wie jene, und der, ohne jede Rücksicht auf seine Gesundheit, seinen großen Zielen entgegenringt. Unter seines verehrten Lehrers Reinhold Leitung wirft er sich ganz der Philosophie in die Arme. Kanischer Geist nährt ihn. Reinhold wird ihm „sein Führer zum Guten, sein väterlicher Freund". „Ihm danke ich es," — schreibt Anselm vol §Ioria äistinAuitur."

* Der folgende schwer zugänglich gewordene Nachruf ist erschienen in der „Beilage zur (Augsburger) Allgemeinen Zeitung Nr. 318. Sonntag, 14. November 1875", Sp. 4965—4968.

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(2. März 1794) an seinen Vater — „daß ich besser geworden bin; ihm danke ich die Ausbildung meines Geistes und die Schärfung meiner Denkkraft, ihm danke ich es endlich, daß ich warmer Freund reeller Wissenschaften, Freund des eigentlichen, angestrengten Denkens geworden bin." In demselben Jahre tritt er schon zeitweise aus den Lernenden unter die Schaffenden, und seine philosophischen Erstlinge finden in Meißners Zeit­ schrift „Apollo" Aufnahme. Schon im Jahre darauf (12. Sep­ tember 1795) wird der noch nicht zwanzigjährige Jüngling Doktor der Philosophie und läßt seine erste selbständige rechtsphilosophische Schrift in die Welt gehennoch ein Jahr weiter, und eine zweite Schrift enthält seine erste große Entdeckung. Mit sicherer Hand löst der junge Autor das Recht von dem Sittengesetz, als dessen Ausfluß es bisher betrachtet worden war, gibt beiden Ge­ bieten, dem des Rechts und dem der Moral, ihre Selbständig­ keit zurück und bringt Licht in eine chronisch gewordene Ver­ wirrung. Unmittelbar nach Erlangung der philosophischen Doktorwürde erhalten aber seine Studien eine andere Richtung. Der Vater zürnt über den Sohn als Philosophen und über seine Torheit, den schlüpfrigen Pfad des akademischen Lebens betreten zu wollen. Der Sohn soll als praktischer Jurist in die Vaterstadt zurück­ kehren. Nicht ohne schmerzliche Bewegung, aber mit festem Ent­ schluß und vollem Selbstvertrauen bringt Anselm seine Lieblings­ neigung der väterlichen Liebe zum Opfer. „Es wird mir ein Leichtes sein, bald in der Jurisprudenz das zu werden, was ich jetzt in der Philosophie geworden bin," schreibt er am 1. Januar 1796 dem Vater. Für die ganze künftige Tätigkeit Feuerbachs auf juristischem Gebiete war es maßgebend, daß er von Seiten der kritischen Philosophie her zum Rechtsstudium gekommen war. Sie gab ihm die Weite des Blicks und das eindringende Ver­ ständnis in den geistigen Zusammenhang der Rechtssätze. Ihr rühmt er selbst im Juni 1796 nach: „Die Philosophie hat mich auf einen Punkt gestellt, von welchem aus ich die Weisheit, Con­ sequenz und Harmonie unseres Rechtsspstems verstehe und durch den todten Buchstaben der Gesetze zu ihrem lebendigen Geist vor­ dringen kann. Ich sehe in dem Oorpus zuris nicht mehr ein ooukusum Olmos von Verordnungen, die nur in der Laune oder Willkür des Herrn der römischen Welt ihre Quelle haben, sondern ein Product der tiefsten Weisheit, der innigsten Kenntniß des Menschen und seines Geistes und der feinsten Politik, die allen Über die einzig möglichen Beweisgründe gegen das Dasein und die Gültigkeit der natürlichen Rechte. Leipzig und Gera 1795. Kritik des natürlichen Rechts als Propädeutik zu einer Wissenschaft der natürlichen Rechte. Altona 1796.

XI. Anhang. I. Zum hundertjähr. Geburtstage Paul Anselm Feuerbachs. 509 Gesetzgebern künftiger Jahrhunderte zum unsterblichen Muster dienen wird." Den Abschluß erreichen diese juristischen Studien durch die Erlangung der juristischen Doktorwürde am 15. Januar 1799, nicht ohne daß schon Jahrs zuvor zwei selbständige Schriften, der „Anti-Hobbes" und die „Untersuchungen über den Hochverrath" erschienen wären. Auch hatte sich der Student der Rechte durch heimliche Verheiratung hinter des Vaters Rücken inzwischen einen Hausstand gegründet. Es dauert kaum noch ein Jahr, so erwächst der vierundzwanzigjährige Dr. jur. und Privat­ dozent der Rechte in Jena unmittelbar zum ersten Kriminalisten nicht nur seiner Zeit, sondern des 19. Jahrhunderts überhaupt. Um das Jahr 1800 liegen die weltgeschichtlichen literarischen Leistungen Feuerbachs: seine „Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts" (1799 und 1800), seine Schrift „Über die Strafe als Sicherungsmittel" (1800), seine ganz geniale Abhandlung „Über die juristischen Schuldbegriffe" (1800), sein eminentes „Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts" (1801); endlich die über sein späteres Leben entscheidende „Kritik des Kleinschrod'schen Ent­ wurfs zu einem peinlichen Gesetzbuchs für die kur­ pfalz-bayerischen Staaten" (8 Teile, 1804). Das äußere Leben Feuerbachs zerfällt von dieser Zeit an in drei ziemlich scharf von einander abgehobene Perioden. Der junge Doktor wird erst akademischer Lehrer; er kann den Rück­ tritt in die gewöhnliche juristische Praxis nicht über das Herz bringen; er kehrt in seine geliebte Vaterstadt Frankfurt nicht zurück. Von 1799 bis 1802 besitzt ihn Jena, wo er 1801 Pro­ fessor wird; von 1802 bis 1804 Kiel; dann ruft ihn Bayern nach Landshut, wo 1805 seine akademische Tätigkeit schließt. Von da an verwandelt sich der große akademische Lehrer in den nicht minder großen Gesetzgeber, und die Stätte seiner Wirksam­ keit verlegt sich nach München. Durch Kabalen und Intriguen von dort weggedrängt, be­ ginnt er 1814 den letzten Lebensabschnitt: er tritt in den Richter­ stand, erst als zweiter Präsident des Appellationsgerichts in Bamberg und vom April 1817 bis zu seinem Tode (29. Mai 1833) als erster Präsident des Appellationsgerichts zu Ansbach. Schon im Juni 1832 trifft ihn ein Schlaganfall, der den rechten Arm und die Zunge lähmt. Der Zustand bessert sich aber wieder. Im März 1833 schreibt er der Schwester als „ein halb todter Mann": „Worauf ich hoffe, das bist Du, und daß ich Dich und mein Frankfurt wiedersehe, und dort vielleicht auch einen Theil meiner verlornen Gesundheit wiederfinde." Dort traf ihn am

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Pfingstmontag auf einer Spazierfahrt nach dem reizenden Taunus­ ort Königstein ein neuer Schlaganfall; in der Nacht des folgenden Tages starb Deutschlands größter Gesetzgeber. Der „alte Vesuv", wie ihn die Freunde und er selbst sich scherzweise nannte, war ausgebrannt, und ein heißes, vielgeprüftes Herz ward still im Frieden. Am heutigen Tag aber ziemt es sich für sein Volk, nicht nur für seine Zunftgenossen, dem Toten öffentlich einen Ehrenkranz der Erinnerung aufs Grab zu legen: er hat ihn wie wenige ver­ dient. Denn er war nicht nur einer der größten Rechtsgelehrten, die wir je besessen, sondern er hat auch, mit Hintansetzung aller persönlichen Interessen, nach den verschiedensten Richtungen für sein Volk gearbeitet, und seine streitbare Natur in ihrem Kampf wider alle Gegner gesunder politischer Entwicklung in Deutsch­ land mag uns Vorbild sein in den Kämpfen der Gegenwart! Um zu verstehen, was Feuerbach geleistet, muß man einen Blick auf die Zustände der Rechtswissenschaft, Gesetzgebung und Praxis werfen, die er vorfand, als er sein Wirken begann. Bis zum Sturze des Deutschen Reiches, 1806, und noch darüber hin­ aus, war die peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. von 1532 — eine für ihre Zeit ganz geniale gesetzgeberische Leistung — Quelle des gemeinen deutschen Strafrechts, deren Lücken durch das erbärmliche römische Strafrecht Ausfüllung finden sollten. Das sehr grausame Strafensystem der Karolina, worin die ver­ schiedenartigsten Todes- und Verstümmlungsstrafen die Hauptrolle spielten, hatte nicht nur nicht die so nötige Reform durch die spätere Reichsgesetzgebung gefunden, sondern selbst Partikulargesetz­ gebungen aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts Überboten sie noch an nutzloser Grausamkeit. Da nun diese Strafen mit dem milderen Zeitgeist in immer schrofferen Widerspruch traten, hatte sich die Praxis in ungemessener Willkür von den geltenden Gesetzen emanzipirt, indem sie dieselben scheinbar festhielt, in Wahrheit auf Schritt und Tritt fälschte. Diese ganz verschobene Stellung des Richters zum Gesetz hatte eine nicht minder gefähr­ liche Verschiebung des Verhältnisses zwischen den Landesregierungen und den Gerichten zur Folge. Denn das böse Gewissen der Richter suchte nach einem Rückhalt und fand ihn in der Mit­ teilung der Richtersprüche an die Landesregierungen behufs Ge­ nehmigung oder Abänderung, sei es im Sinne der Schärfung, sei es in dem der Milderung. Zu der Willkür des RichterIums gesellte sich also, das Unheil verschärfend, die Willkür der Kabinettsjustiz. Neben dieser heillosen Praxis stand eine Wissenschaft, die ihr den Rücken kehrte. Die sog. Nalurrechtslehre — der Ratio­ nalismus auf dem Gebiete der Jurisprudenz —, die ihr Rechts­

XI. Anhang. 1. Zum hundertjähr. Geburtstage Paul Anselm Feuerbachs. 511 system immer aus den Fäden eigner Erfindung, statt aus den Sätzen des positiven Rechts spann, stellte sich vornehm über die Gesetze, um höchstens naserümpfend auf sie herabzukritisiren. So entstand zwischen der Welt des bestehenden Rechts und der Welt, wie sie sich in den Augen einer zu maßloser Verwegenheit ausgearteten, zur Reform unfähigen, deshalb revolutionären Kritik als die allein mustergültige darstellte, eine gradezu unüberbrück­ bare Kluft. In nächster Zukunft erhoffte, ja forderte man alles Ernstes von dieser selbstgewissen, das Bestehende mit Fug und Recht herb tadelnden Wissenschaft vollkommene Strafgesetz­ bücher: damit das Ende aller Strafrechtsgeschichte und aller Strafrechtswissenschaft. Man griff nach den Sternen, ohne zu merken, daß Unzurechnungsfähigkeit mit solchen Bemühungen untrennbar verbunden ist. Es stand also für den kriminalistischen Reformator des neun­ zehnten Jahrhunderts bei dessen Beginn eine dreifache Aufgabe zur Lösung. Vor allem galt es, das Gesetz in die ihm gebührende Herrschaft nach oben und unten wieder einzusetzen, d. h. den Richter an das Gesetz zu binden und die Gerichte von den Ein­ flüssen der Regierung unabhängig zu stellen. Dann mußte die Wissenschaft durch Ergründung und klare Darstellung des geltenden Rechts dem Richtertum helfend zur Seite treten. Und endlich — die schwierigste Aufgabe von allen —: es galt, die negative Kritik des bestehenden Rechts in eine positive zu verwandeln, und von ihren Höhen herab den Weg zu finden, nicht zur Aufstellung eines vollkommenen, wohl aber zur Schöpfung eines guten zeitnnd zweckgemäßen Kriminalgesetzbuches. Jeder, der auch nur eine dieser Aufgaben gelöst hätte, würde sich ein außerordentliches Verdienst um das deutsche Recht des neunzehnten Jahrhunderts erworben haben. Um so mehr will es sagen, wenn ein Mann, wie Feuerbach tat, alle drei be­ wältigte. Er wurde zunächst Begründer der gesetzlichen Autorität im modernen Sinn, und zwar durch Aufstellung und siegreiche Ver­ fechtung der sogenannten psychologischen Zwangstheorie. Es dürfen, lehrt Feuerbach, im Staat absolut keine Verbrechen geschehen; auf alle mögliche Weise ist deshalb den künftigen Missetaten entgegenzuwirken; physischer Zwang reicht dazu nicht aus; ihm muß psychologischer Zwang ergänzend zur Seite treten. Alle Verbrechen entspringen der Sinnlichkeit; die Lust an der künftigen Tat kann im Individuum nur durch die Wissenschaft erstickt werden, daß die Tat für ihn Übel erzeugen wird, welche größer sind als der Genuß des Vollbringens der Handlung. Dieses Übel anzudrohen, ist Sache der Strafgesetzgebung. Die Strafgesetze sollen also durch ihre Drohung künftige Verbrechen unmöglich machen.

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Aus dieser höchst anfechtbaren Strafrechtstheorie entsprangen nun aber die heilsamsten Konsequenzen für das Verhältnis des Gesetzes zum Delinquenten und zum Richter. Ohne ein solches Strafgesetz mit ganz bestimmtem Strafäquivalent konnte nach Feuerbach ein Verbrechen gar nicht gedacht werden; nur das Gesetz, welches der Verbrecher gekannt und mißachtet hatte, durfte auf ihn Anwendung finden; und so ward der Richter, dem an der gesetzgebenden Gewalt kein Teil zukommt, verpflichtet, das übertretene Strafgesetz, und nur es, auf den Verbrecher zur An­ wendung zu bringen. Jede willkürliche Strafschärfung oder Milde­ rung seitens des Richters war damit abgeschnitten, jeder Eingriff der Kabinette in die Rechtspflege als unzulässig zurückgewiesen. Es kann nicht wundernehmen, daß dieses Streben, den Richter aufs strengste an die Gesetze zu binden Feuerbach als Gesetz­ geber zu einer übertriebenen Einengung des richterlichen Ermessens für das Gebiet der sog. Strafzumessung geführt hat. In glänzender Darstellung zeigt nun Feuerbach dem Richter das anzuwendende Recht in seinem Lehrbuch des Strafrechts. Durch konsequente Durchführung der Grundgedanken, durch knappe Schärfe in den Definitionen, durch jenen Feuerbach überhaupt eigen­ tümlichen klassischen Stil ist das Buch zum Muster eines Lehr­ buches geworden und Muster geblieben, bis es unter das Wasser Mittermaierscher Noten gesetzt ward. Man kann nur aufs tiefste beklagen, daß gute Lehrbücher veralten; denn Feuerbachs Buch hat nur in seines Kollegen Grolmans „Grundzügen der Criminalrechtswissenschaft" einen fast ebenbürtigen Nebenbuhler, aber keinen ebenbürtigen Nachfolger gefunden. Mit dem Lehrbuche schließen im wesentlichen Feuerbachs rein dogmatische Arbeiten ab: seine späteren Werke haben alle die praktische Tendenz, eigene oder fremde gesetzgeberische Arbeiten zu fördern oder vorzubereiten. Und so verweilen wir noch einen Augenblick bei Feuerbach als Mann der reinen Wissenschaft, ehe wir ihn als Gesetzgeber und als Richter ins Auge fassen. Hervorstechender Zug ist hier durchweg dramatische Großartigkeit in der Konzeption, glänzende Folgerichtigkeit in der Durchführung. Grade deshalb sind seine Irrtümer in den Ausgangspunkten so verhängnisvoll, weil das später errichtete Gebäude von seinen Fundamenten um keines Haares Breite abweicht. Diese eigen­ sinnige Starrheit wird aber durch die wärmste Liebe zur Wahrheit als solcher gemildert. Nie sehen wir den von Natur eigenwilligen Mann eine Ansicht länger festhalten, als er ernstlich von ihr überzeugt bleibt. Und während er, neunzehnjährig, von sich selbst ge­ steht: er gerate über fremden Widerspruch so sehr in Hitze, daß er sich kaum enthalten könne, mit tödtlichen Waffen auf seinen Gegner loszugehen, widmete er imJahre 1801 seinem entschiedensten

XI. Anhang. 1. Zum hundertjähr. Geburtstage Paul Anselm Feuerbachs. 513

und größten Gegner, Grolman, sein Lehrbuch des Strafrechts mit den schönen Worten: guum invioein 86 mutui8 6xkortatLonidu8 amioL aä amorein V6vitati8 oxaouuut.^ Von der Großartigkeit Feuerbachs scher literarischer Pläne geben auch seine ausgedehnten Forschungen über die universal­ historische Entwicklung der Entstehung und Ausbildung der Gesetze und Rechtsverhältnisse, besonders der europäischen und asiatischen Völker, Kunde: sie zeigen den großen Gesetzgeber und Dogmatiker als Urheber ausgedehnter historischer Forschungen und als einen Anhänger vergleichender Rechtswissenschaft größten Stiles. Tief aus dem innersten Wesen des tatendurstigen Mannes er­ klärt sich, daß die Schriftstellerei allein, obgleich er einmal mit seinem köstlichen Humor von sich sagt: „Das Büchermachen liegt nun einmal in meiner Natur wie das Schnurren in der Natur einer Katzenseele", ihn nicht befriedigen konnte. Er bedurfte der praktischen Einwirkung auf die Welt, nicht nur der geistigen, und die dringende Hoffnung nach Gesetzesreform vor allem auf dem Gebiete des Strafrechts ließ ihn schon früh den Gedanken fassen, nicht nur für ein deutsches Land, sondern für Deutschland der ersehnte Reformator zu werden. Der Anlaß, sich auf diesem Gebiete zu versuchen, lag nahe. Im Jahre 1802 erschien, in offiziellem Auftrage verfaßt, der Entwurf eines peinlichen Gesetzbuches für die kurpfalz-bayrischen Slaaten von dem verdienten Kriminalisten Hofrat Kleinschrod. Ein Preis war von Regierungswegen für die beste Kritik dieses Entwurfs ausgesetzt; schon im November 1802 finden wir Feuerbach nicht nur mit dieser Kritik, sondern zugleich mit einem Gegenentwurf beschäftigt In der Vorrede jener zeigt sich sofort der durchdringende Blick des genialen Mannes: „Nur wer noch Wünsche des Herzens auf Kosten des Verstandes wagt, kann auf eine Reform der gemeinen Kriminalgesetzgebung durch eine neue gemeine Kriminalgesetzgebung hoffen. Auf die einzelnen Nationen sehe jetzt der Freund des Besseren mit seiner Hoff­ nung hin!" Des Preises ging Feuerbach verlustig, weil die Regirung — ihn selbst zum Preisrichter wählte! Es beginnen damit die Trakasserien in Bayern, die ihn oft bis aufs Blut quälten, und ihm so vielfach die Früchte seiner Arbeiten entzogen. Lassen wir heute die Menschen jener bajuwarischen Patriotenpartei uno ihre elenden Mittel, einen Mann womöglich zu stürzen, jedenfalls zu peinigen, nur weil er ihnen zu groß und frei von ihrer Er­ bärmlichkeit war, im Grabe der Vergessenheit schlummern! „Das Unglück, das uns die Natur bereiten kann" — schreibt Feuerbach über sie er­ schütternd am 4. März 1825 an.Elisa v. d. Recke — „ist bestimmt — durch Zahl und Maß begrenzt. Die Übel, welche der Menschen Witz ersinnt, sind unerschöpflich und unergründlich wie der schwarze Abgrund menschlicher Bosheit." Bin ding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen.

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Vorahnend aber sah schon damals der künftige Gesetzgeber von Bayern die Wege voraus, die wieder zu einem gemeinen deutschen Strafrecht führen sollten. „Eine weise Kriminalgesetz­ gebung eines einzelnen Staates" — fährt er fort, der stillen Hoffnung lebend, selbst der Urheber dieses Gesetzes zu werden —, „haltbar in ihren Gründen, bewährt durch ihre Folgen, breitet sich vielleicht dereinst über Deutschland woltätig aus und gibt der längst entflohenen strafenden Gerechtigkeit von neuem ihre Herr­ schaft wieder!" Da Feuerbachs legislatorische Überlegenheit über Klein­ schrod und dessen sonstige Kritiker durch Feuerbachs eigene Kritik hell wie der Tag hervortrat, erhielt er im Jahre 1804 selbst den offiziellen Auftrag, ein Strafgesetzbuch für Bayern aus­ zuarbeiten. Im Jahre 1807 ist der Entwurf vollendet; erst im Jahre 1813 erhielt er, freilich gegen Feuerbachs Willen durch eine Kommission mannigfach zum Nachteil verändert, Gesetzeskraft. Mit allgemeinem Jubel wird das Gesetz in Deutschland aus­ genommen; andere Staaten schicken sich an, es bei sich gleichfalls einzuführen: der Verfasser darf hoffen, ein Werk für Deutschland geschaffen zu haben. Und es war in der Tat ein ganz eminentes Werk sowol seinem Inhalt als seiner Form nach. Nicht nur ist die Neu­ prägung der teils schwankend gewordenen, teils immer schwankend gewesenen Verbrechensbegriffe in hohem Maße gelungen, sondern auch der schwerste Teil der Aufgabe, die Ausarbeitung des Strafen­ systems und die Austeilung der Strafen an die einzelnen Ver­ brechen, ist in einer Weise bewältigt, wie sie damals kaum erwartet werden durfte. Galt es doch, die schwer zu handhabende Frei­ heitsstrafe zum Mittelpunkte des Strafensystems zu machen und den Übergang zu den sog. relativ bestimmten Strafen zu bewerkstelligen. Die früheren Strafgesetze drohten nämlich entweder für eine ganze Verbrechensart unwandelbar eine und dieselbe Strafe (Tod, Landes­ verweisung usw.) an, oder sie stellten die Wahl sowol der Strafari als des Strafmaßes in das richterliche Ermessen. Sollte der Richter gebunden bleiben an das Gesetz und doch den Strafzumessungs­ gründen des einzelnen Falles gerecht werden können, so mußte der Gesetzgeber ihm sür jede Verbrechensart eine bestimmte Zahl von Strafgrößen zur Wahl stellen, und dieses „relativ bestimmte Strafgesetz" ist das Strafgesetz der neueren Zeit, in dessen Hand­ habung uns wesentlich Feuerbach belehrt hat. Daß Feuer­ bach noch zu ängstlich war in der Begrenzung des richterlichen Ermessens, daß er vom Standpunkte seiner psychologischen Zwangs­ theorie grade bei den am häufigsten drohenden Verbrechen im Dienste der Abschreckung die Strafen überspannte, das waren Fehler, die sich zwar praktisch sehr fühlbar machten und dem be­

LI. Anhang. 1. Zum hundertjähr. Geburtstage Paul Anselm Feuerbachs. 515 gonnenen Siegeslauf des bayrischen Gesetzbuches von 1813 bald Einhalt taten: aber der erste Fehler war gradezu, wenn nicht ein Wunder geschehen sollte, unvermeidlich, denn auch die Gesetz­ gebungskunst will erlernt sein, uud zu diesem Behufe muß Lehr­ geld gezahlt werden; der zweite Fehler ist nur die Kehrseite der wiedergewonnenen Autorität des Gesetzes. Und endlich — die formelle Seite des Werkes! Es ist wahr, oft spricht der Lehrer an Stelle des Gesetzgebers, und der dem Gesetz eigentümliche Imperativ läßt sich mannichfach vermissen. Und doch ist Feuerbach der Schöpfer unserer Gesetzessprache. Wie sicher ist der Ausdruck gewählt, wie trifft er den Nagel auf den Kopf, wie ist er verständlich und endlich bei aller Faßlichkeit wie knapp! Kleinschrods Entwurf zählt 1563 Paragraphen, der sächsische Strafgesetzentwurf von Tittmann aus dem Jahre 1813 zählt gegen 2000 (!); der noch dazu unvollständige Erhardsche Ent­ wurf, gleichfalls für Sachsen, aus dem Jahre 1816, weist 2449 Artikel auf(!); Feuerbach drängt seinen Stoff in 459 Artikel zusammen. Fieberhaft hat seit 1813 die deutsche Strafgesetzgebung ge­ arbeitet. Etwa 90 Strafgesetzentwürfe und Strafgesetzbücher sind seitdem erschienen: nicht ein einziges aber, welches Feuerbachs Einfluß zu entgehen vermocht hätte, und auch nicht ein einziges, welches formell so vollendet redigirt wäre! Mit 1813 bricht aber Feuerbachs legislatorische Tätigkeit jäh ab; da seine Beihilfe so eminent war, glaubte der Staat auf sie verzichten zu können. In den Zeitraum von 1805—1813 fällt aber noch eine Reihe höchst bedeutender gesetzgeberischer Ar­ beiten. Ein günstiges Geschick — er hat seine Gunst selten genug erfahren! — behielt ihm vor, gleich bei seinem Eintritt in München die Aufhebung der Folter zu veranlassen, deren Abschaffung dort erst am 7. Juli 1806 unterzeichnet wurde. Friedrich II. war 66 Jahre früher schon mit gutem Beispiel vorangegangen. Die politischen Beziehungen Bayerns trugen Feuerbach eine neue Aufgabe auf dem Boden des Zivilrechts ein. Der 6oäv Napoleon sollte „1808 in größter Schnelligkeit auf Bayern angepaßt werden", und Feuerbach übernahm die Riesenarbeit allein und vollendete sie in unglaublich kurzer Zeit — um dann nach der Umgestaltung der politischen Konstellationen und nach Aufgebung jener Pläne im Verein mit seinen beiden größten Feinden den Locksx UaxiuManeus revidiren zu müssen. Auf dem Gebiete des Strafprozesses war Feuerbach ein wahrer Verteidiger von Öffentlichkeit und Mündlichkeit; er be­ wunderte das Geschworenengericht in dem Land, in dem es ge­ wachsen war, widerstrebte aber aufs energischste und bewaffnet mit den besten Gründen seiner Verpflanzung nach Deutschland 33*

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und ebenso der Teilnahme der Laien an der Strafrechtspflege überhaupt. Mit gewohnter Schärfe stellt und entscheidet er die Frage. „Fragt sich aber, ob über Schuld oder Nichtschuld einer Person sicherer und gründlicher geurteilt werden könne von Männern, welche weder Kenntnis der Gesetze haben, noch in deren Anwendung geübt sind? so beantwortet sich die Frage von selbst. Denn sie lautet mit andern Worten: ,Kann ein Gegenstand, dessen gründliche Beurteilung bestimmte Kenntnisse und Übung im Ge­ brauch derselben voraussetzt, sicherer beurteilt werden von den Unwissenden und Ungeübten oder von dem Unterrichteten und Geübten?'" Seine im Jahre 1812 erschienenen Betrachtungen über das Geschworenengericht sind noch bis auf den heutigen Tag, trotz des seltsamen Schwankens des Verfassers zwischen konstruirender Bewunderung und praktischer Ablehnung der Jury, das Genialste der unendlich reichen Literatur über diesen Gegen­ stand. Seine schon in richterlicher Stellung geschriebenen „B e trachtungen über Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege" 1821 und „Über die Gerichts­ verfassung und das gerichtliche Verfahren Frank­ reichs" 1825 gehören noch heute unbestritten zu den allerbesten prozessualen Werken. Es kennzeichnet den Menschen Feuerbach, daß er jenes Werk nochmals in ergreifend schöner Widmung seinem größten wissenschaftlichen Gegner Grolman dedizirte — seinem Gegner in dem „redlichen Friedenskampf im Dienste jener hohen Unsichtbaren, deren Schleier ganz aufzuheben keinem Sterblichen je vergönnt ist". „Wir schieden endlich", sagt er, „Freundschaft im Herzen, aus dem unentschiedenen Streit — jeder seine Straße ziehend, doch beide zu dem einen Ziel, welches heißt: das Wahre, Rechte und Gute." Es war Feuerbach nicht mehr vergönnt, für die Einführung des reformirten Strafprozesses in Bayern tätig zu werden, nicht einmal die angestrengten Bemühungen des bayrischen Gesetzgebers, dem neugeregelten heimlichen Jnquisitionsprozeß ein mündliches Schlußverfahren zu verschaffen, führten zum Ziele. Ein Jahr nach der Erlassung des bayrischen Strafgesetzbuches erschien 1814 Savignys berühmte Schrift, welche seiner Mit­ welt alles gesetzgeberische Talent absprach — eine seltsame Be­ hauptung zu jener Zeit, wo das größte legislatorische Talent, das Deutschland je besessen, mitten in kräftigster Wirksamkeit stand. Selbstverständlich gehörte Feuerbach zu den Gegnern der histo­ rischen Schule und des von ihm persönlich sehr hochgeachteten Savigny. Er nahm in einer kleinen Schrift 1816 den Hand­ schuh gegen Savigny auf, und zwar in einer Weise, der die unbefangene Gegenwart das Zeugnis nicht wird versagen können,

XI. Anhang. I. Zum hundertjähr. Geburtstage Paul Anselm Feuerbachs. 517 daß sie im Rechte war. Er packt die Gegner an der schwächsten, persönlichsten Seite und vergleicht mit feinem Humor den Idealjuristen nach dem Rezept der historischen Schule mit ihren an­ geblichen Mustern, den Römern Paulus, Julianus und ihren großen Genossen. „Nicht (nur) durch Geschichte, Altertumskunde, Kritik und Grammatik als geschichtliche Rechtswissenschaft" — ruft Feuerbach siegreich aus —, „sondern durch Erfahrung, Philo­ sophie und Logik ward das römische Recht zur Reife gebracht. .. Auch in Rom waren es nicht Theoretiker, am wenigsten historische Rechtsgelehrte im Sinne einer deutschen Schule, sondern vom Geiste der Philosophie beseelte, mit scharfem Weltverstand ge­ rüstete, an den Brüsten der Erfahrung genährte, in der Übung des tätigen Lebens gewandte Staats- und Geschäftsmänner — welche den Bau ausgeführt, der, wiewol er nicht für uns ent­ worfen, folglich für uns nicht mehr durchaus bequem und wohnlich ist, doch stets ein Gegenstand höchster Ächtung und Bewunderung bleiben wird." Der unbeugsame Gerechtigkeitssinn, in dessen Dienst Feuer­ bach seine Gesetze verfaßt und seine Werke geschrieben hat, prädestinirte ihn zum Richter in großem Stil. So hat er denn auch 20 Jahre nach seiner Entfernung von München diesem Berufe gelebt, getreu den Grundsätzen, die der sein Amt antretende Präsident am 21. April 1817 seinen Räten entwickelt hat. „Die Seele (seines) unseres Wirkens", sprach er damals, „ist nicht jene das Zufällige beachtende, nach Zeit und Umständen sich bequemende, geschmeidige Klugheit, von welcher die Staatsverwaltung not­ wendig geleitet wird, sondern allein jener einfache Sinn, der nirgendshin als hinauf zum Gesetz und von da zur Tat herunler­ blickt; jene Rechtlichkeit der Gesinnung, welche unbefangen als Recht ausspricht, was sie als das Recht erkennt; jene Stärke des Willens, welche mit festem, keinem Einfluß weichenden, durch keine Gewalt zu beugenden Arm die Wage der Gerechtigkeit stets in sicherem Gleichgewicht hält." Und nachdem er noch insbesondere die Kabinetsjustiz verworfen hatte, schließt er versichernd: „Dies sind meine der Seele Innerstes durchdringenden Überzeugungen von der Heiligkeit des Rechts und des Richteramtes hoher Würde: diese Grundsätze habe ich unter allen Verhältnissen meines Lebens in Wort und Tat behauptet; sie im Geist und Herzen, trete ich in Ihre Mitte." Den Räten aber schärft er ein als erste Richter­ pflicht die gründliche reife Überlegung; als zweite prompte, aber nicht übereilte Rechtsprechung; denn „ein verspäteter Rechtsgewinn ist öfters verderblicher als ein zeitiger Rechtsverlust", und „ein eilfertiger Rechtspruch ist sehr oft nur ein eilendes Unrecht". Seiner Neigung für das praktische Rechtsleben und den kon­ kreten Rechtsfall entsprangen zwei verschiedene Sammlungen

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„merkwürdiger Kriminalfälle", deren Darstellung durch die feinste psychologische Entwicklung und die kunstvollste Gruppirung des Stoffs wahrhaft meisterhaft zu nennen ist. Fast übertrifft in ihnen der Künstler den Juristen. An sie reiht sich dann 1832 die viel­ besprochene Schrift: „K. Hauser, ein Beispiel eines Ver­ brechens am Seelenleben." Feuerbach hat sich in dieser Sache täuschen lassen; denn Hauser war nicht nur kein badischer Prinz, sondern zu einem großen Teil Schwindler. Aber wir wollen dabei nicht vergessen, daß Feuerbach es war, der zuerst auf systematische Nachforschung drang, um dem Rätsel des Findlings auf die Spur zu kommen; daß edle Entrüstung über die schmäh­ liche Behandlung eines Kindes wol imstande ist, auch sonst scharfblickenden Männern den Blick zu trüben; daß das damalige Leben nicht so durchsichtig war wie bei unsern fabelhast ge­ steigerten Verkehrsmitteln das heutige, und daß wir heute eine reiche polizeiliche Erfahrung vor Feuerbach voraus haben. Wir dürfen den Irrtum des Mannes beklagen; wer aber diesen Irrtum selbst anzweifelt, und einem Manne, der jederzeit ein glühendes Rechtsgefühl hatte, den Vorwurf der wala üäs3 an den Kopf schleudert, sollte etwas sorgsamer sein in der Handhabung der historischen Kritik und sich Verständnis verschaffen für das Gold im Charakter des Mannes! Er, dessen innerstes Wesen die feurigste Begeisterung für edle Großheit ausmacht, die sein ganzes Wesen und Sein, Dichten und Trachten, fast möchte ich sagen, unbarmherzig beherrscht, sollte, weil es im Sinne des Hofes lag, Hauser für einen badischen Prinzen ausgegeben haben? Hat denn Feuerbach je um einen fürstlichen Gnadenblick seine Überzeugung verleugnet? Ist denn nicht sein mächtiger Ehrgeiz dadurch verklärt, daß er stets, wo persönliche Interessen mit den Gegenständen seiner heiligsten Be­ geisterung in Konflikt geraten, unbekümmert um die Folgen „seiner Heiligen" treu bleibt? War es etwa klug von dem bayrischen Staatsrat und im Sinne des Hofes, daß der deutsche Mann in ihm aufjauchzet, als die Schlacht bei Leipzig geschlagen war, und er von München eine Flugschrift ausgehen ließ: „Über die Unterdrückung und Wiederbefreiung Europens", auf deren Titel als Druckort „Deutschland" angegeben ist? War es im Sinne der bajuvarischen Politik, wenn er darin die Verse Schubarts zitirt: „Und schon ist sie da, göttliche Freiheit, Die heilige Stunde deiner nahen Erscheinung! Schon donnert in Thuiskons Hainen Dein Feldgeschrei: der Deutsche Bund!" War es der vor dem absoluten Fürstentum gebückte Hof­ mann, der am Schluffe dieser Schrift den Fürsten als Lehre der

XI. Anhang. 1. Zum hundertjähr. Geburtstage Paul Anselm Feuerbachs. 519 neuesten geschichtlichen Entwicklung zuruft: „Was die Throne be­ festigt und aus (den) großen Gefahren rettet, ist nicht bei diesem oder jenem Stande, sondern bei der Gesamtheit der Untertanen, in dem Gemeinsinn der Bürger, in der Liebe und Begeisterung für Fürsten und Vaterland." Feuerbach wußte damals, daß er um seine Münchner Stellung va bangue spielte. Hielt es ihn auf, ihn, den Vater einer zahlreichen Familie, das zu tun, was not tat und er für recht hielt? Im Gegenteil! An das bayrische Volk wandte sich der hohe bayrische Beamte, während man im Hause des Ministers Montgelas hohnlacht über die nun wieder aufkommende „fatale Deutschheit", und er belehrt es: „Was sollen wir?" Die Folgen schildert Feuerbach selbst: „In München sucht man die Verbreitung dieser Schrift zu hindern: sie darf nicht in den Zei­ tungen angekündigt werden. Gleichwol durchflog sie in vielen tausend Ab- und Nachdrucken alle Provinzen, alle Stände. Noch größere Sensation, Begeisterung in jungen Gemütern, sichtbarer Einfluß auf den Fortgang der Bewaffnung. Ich selbst ergreife das Gewehr." Als aber Paris eingenommen ist, läßt er eine markerschütternde Leichenrede ausgehen auf „die Weltherrschaft das Grab der Menschheit" (1814). „Seitdem wird die politische Luft schwül, und ich merke, daß sich Gewitter zusammenziehen." Dennoch erhebt der unerschütterte Patriot nochmals seine freisinnige Stimme und schreibt bei Eröffnung des Wiener Kongresses (Oktober 1814) „Über teutsche Freiheit und Vertretung teutscher Völker durch Landstände". „Wie ein der Gefangenschaft Entlassener darum allein noch nicht das Glück seines Lebens preisen darf, so hat eine Nation dadurch, daß sie sich aus dem Zwang eines fremden Volkes losgewunden und die Dränger von sich ausgestoßen hat, noch keineswegs das Gut sich angeeignet, dessen sie bedarf, um der äußeren Selbständigkeit wahrhaft froh und würdig zu sein. Dieses Gut ist die Tat des lebendig wirkenden eigenen Selbst, strömt aus der Quelle heimischen Lebens, ist die Frucht der Saaten, welche das Volk auf seinem eigenen Boden sich erzieht, mit einem Wort, das Geschenk der inneren, staats­ bürgerlichen Freiheit, welcher eine mit Weisheit geordnete Ver­ fassung ihren Tempel baut." Diese Verfassung soll aber nicht Wiederaufrichtung der alten Landstände bedeuten: „Das Alte darf nicht mit seinen alten Gebrechen, sondern es muß gereinigt, ge­ läutert, in einem neuen, kräftigen Körper wieder auferstehen. Alle Stände im Staate, der Adel wie der Bürger, der Besitzer des freien Grundeigentums wie der freie Besitzer des unfreien Guts (der Bauer) müssen nach gleichem Recht vor dem Souverän vertreten sein, wenn die Nation als vertreten betrachtet werden soll."

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Diese Schrift „vollendet das Begonnene und macht den Sturm ausbrechen". Der Lohn seines Patriotismus ist seine „Verbannung" nach Bamberg. Fern vom Hof, als Richter, fährt er fort, für das zu kämpfen, was er in Staat und Gesellschaft für das Rechte hält. Im bayrischen Konkordat sieht er im Jahre 1818 „ein alle menschliche Denkbarkeil beinahe übersteigendes Unglück . . . Am Hellen Mittag der Geisterwell Hal die Hölle ihren Rachen geöffnel und auf einmal sieben volle Jahrhunderte verschlungen, so daß das heutige Jahr nicht mehr 1818, sondern 1073 ist, wo Papst Gregor VII. wieder als Statthalter Christi uns regiert. Leibhaft ist er aus seiner Verwesung auferstanden, das blutige Kirchenschwert in der einen, den Bannstrahl in der andern Hand, sein Fuß auf eines Königs Nacken . . ." Und nun stellt er sich „an die Spitze der Oppositionspartei gegen die römischen Finster­ linge", versäumt daneben aber nicht, über „dem Nest voll kleiner Päpstlein, das der in unsere (protestantische) Kirche sich eindrängende Geist des Papismus ausgeheckt hat", die Rute zu schwingen. Frei­ heit innerhalb des Gesetzes, Freiheit von kirchlichen Herrschafts­ gelüsten und von pfäffischem Hochmute: das war sein politisches, das war das kirchliche Glaubensbekenntnis des religiösen Mannes! Wenn heute Zeugnis gegeben werden soll von den Gaben, die wir Feuerbach verdanken, so muß neben seinen Schriften, neben seiner politischen Wirksamkeit auch seines Hauses gedacht werden. Wenige große Väter haben, wie er, der Welt fünf Söhne geschenkt, die alle von seiner Bedeutung und von seiner Natur ein gutes Teil mitbekommen haben. Daß ich nur zwei davon nenne, Ludwig, den Philosophen, und Anselm, den genialen Verfasser des „vatikanischen Apollo". Die Söhne waren die Liebe, der Stolz, aber auch durch unverschuldetes schweres Unglück ost der Anlaß herzbrechenden Kummers des Vaters. Es ist erhebend, zu sehen, wie er ihnen in schwerer Lebenslage Helfer, Tröster und Führer wird, und kaum wird man einen ergreifenderen väterlichen Brief lesen können als den Brief vom 17. April 1819 an seinen Sohn Anselm, der durch übermäßiges und übel geleitetes Studium (der Theologie) schwerer Gemütskrankheit entgegenging. Wie freundlich mahnt er den Jüngling, von dem er sagt : er sei mit wunder Seele von ihm gegangen, weil er ihn vielleicht miß­ verstanden habe: „Halte Dich an die Schrift, aber suche in ihr ja nicht bloß das, was Dir schon im voraus von andern gegeben ist; forsche in ihr mit freiem, eigenem Geiste, denn dieser eigene Geist ist es, an den sich Christus wendet, wenn er sagt: Suchet und forschet. . . Laß Dir die Bibel alles in allem sein; Du irrst nicht, wenn Du glaubst, sie sei ein göttliches Buch; Deinen Geist wird sie erleuchten, Dein Herz erwärmen, Deinen Willen in allem Guten stärken. Nur hüte Dich, daß nicht Deine Überzeugung sich

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in ein flammendes Schwert des Geistes verwandle, und laß den Sokrates, Zoroaster, Confutse, Menu, Mamo-Kapak und andern Männern Gottes, deren sich die Vorsehung bediente, um das Menschengeschlecht zu veredeln und ihm das Göttliche zu bringen — laß ihnen ja noch ein Plätzchen in dem Himmel übrig! Lebe wohl! Dich leite der Geist der Erkenntnis und der Tugend!" Wie die Liebe aber Liebe erzeugt, so hingen die Kinder mit innigster Pietät am Vater: ein schönes Werk derselben, ein ehrendes Denkmal für Vater und Sohn ist das Leben des Vaters, aus Briefen und Tagebüchern von seinem Sohne Ludwig zusammengestellt^. Die Söhne hat alle schon vorzeitiger Tod hin­ weggerafft: aber der Geist des Vaters lebt noch heute in dem Enkel, in seinen Bildern von ernst-heiterer Großheit und in der edlen Frau des ältesten Sohnes — einer „Stiefmutter", wie es wol kaum je eine gegeben hat. Das war der Mann, dessen Gedächtnis wir heute feiern. Was man gewöhnlich Glück nennt, ward ihm nicht zuteil: der heileren Lebensfreude ist es so oft zu heiß in der Nähe des Genius, und so geht er stark seinen einsamen Weg durch die Wetter des Schicksals. Aber das Glück, das sich der neunzehn­ jährige Jüngling mit inbrünstiger Hoffnung ersehnte, das ist ihm geworden: „Stundenlang", schreibt er damals in seiner merk­ würdigen Selbstschilderung, „kann ich herumgehen und mich an den Bildern meiner Hoffnung ergötzen. Ich denke mir dann, wie ich von der Welt gerühmt, von der Nachwelt als Beförderer der Wissenschaften gepriesen werde, wie man meine Werke zitirt, meinen Namen im Munde führt, und mir eine ehrenvolle Stelle unter den Wohltätern des Menschengeschlechts und den Männern anweist, die den menschlichen Geist auf höhere Stufen geführt haben. O wie selig, wie unaussprechlich glücklich bin ich dann!" Möge seine begeisterte Liebe für alles Edle in unserm Volke, möge seine Gedankenkühnheit in der deutschen Rechtswissenschaft, möge sein freier Blick und seine plastische Kunst, dem Rechte die knappe Form des Gesetzes zu geben, in unsern Gesetzgebern, möge sein Unabhängigkeitssinn und sein Juristenstolz in unsern Richtern lebendig bleiben. „Mein Weg" — durfte er von sich sagen — „bleibt immer die Bahn der Ehre": er bleibe der unsrige! Leipzig, November 1875. 6 Zwei Bände.

Leipzig 1852.

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2. Zu Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht. Untersuchungen zur allgemeinen Rechtslehre. Weimar, bei Bühlau, 1878, XVII und 374 S. 8^. Drang der Not und durchaus nicht allein die deutsche Neigung zur Abstraktion treibt heutzutage unsere Rechtswissenschaft zu stets wiederholten Versuchen, frischen Anlaufes die höchsten Gipfel der Erkenntnis zu erklimmen. Sie hat es erfahren müssen, daß schein­ bar sehr einfache praktische Fragen sich nicht lösen lassen wollten ohne vorherige Aufschließung ganz entlegener Gebiete, und daß die Vernachlässigung des allgemeinen Teils einer Wissenschaft sich stets rächt an allen Versuchen, die präjudizirten Fragen klar und nett zu beantworten, bevor die präjudiziellen gestellt, geschweige gelöst sind. Aber freilich, der gute Wille, das Versäumte raschnachzuholen, und die ehrliche Anstrengung, dies zu tun, reichen nicht aus; die gute Schulung zu solcher Arbeit muß vorangegangen sein, soll der Mühe ein Lohn werden. Und gar manchmal haben wir es in jüngster Zeit erleben müssen, daß das große Wollen unserer Be­ griffsrevisoren zu ihrer Fähigkeit des Vollbringens in umgekehrtem Verhältnisse stand. Diese traurige Erfahrung wiederholt sich zu unserer Freude nicht an dem Buche, dem die folgende Besprechung gewidmet ist, wenn auch seine Stärke nicht auf Seite der Methode liegt. Ausgehend von einer Betrachtung der Form aller Sätze des objektiven Rechts, die nach Thon alle einen und denselben Grund­ typus wiederholen, schreitet der Verfasser dazu fort, alle unsere bisherigen Anschauungen über objektives Recht und subjektive Rechte über den Haufen zu werfen. Das Buch ist ein vollständig revolutionäres. Kleine Ansätze zu einem wissenschaftlichen Umstürze in der Thonschen Richtung hat der scharfe Beobachter unserer neuen Literatur schon vor seinem 6 Im Jahre 1872 mar der erste Band meiner Normen erschienen. Mit diesem Namen hatte ich alle die Rechtssätze bezeichnet, welche den Gesetzes­ untertanen höchstpersönliche Unterlassungs- oder Handlungspflichten auflegen. Eine spätere Theorie — von Thon und Bierling energisch und geistvoll verteidigt — behauptete, alle Rechtssätze seien Normen. So entstand die sog. Jmperativentheorie, die großen Anklang fand — seltsamsterweise auch unter den Zivilisten, obgleich sie jedes Privatrecht verneinen mußte. Sie hat sehr viel Unheil angerichtet! Niemand aber hatte dringenderen Anlaß, sich mit ihr auseinanderzusetzen, als ich selbst. Ich habe es in der Kritik des Thonschen Buches getan, und weil sie mehr ist als nur die Be­ sprechung eines bedeutenden Werkes, bringe ich diese Kritik hier nochmals aus der Krit. VJSchrift XXI 1879 S. 542 ff. zum Abdruck — und zwar absichtlich ganz unverändert.

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2. Zu Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht.

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Werke wahrnehmen könnenDiese in der Luft liegenden Ideen aber hat Thon zu packen verstanden: nicht lediglich zu dem Zwecke, um sich daraus eine Waffe gegen den alten Glauben zu schmieden, sondern um zugleich die bis dahin vereinzelten Elemente zu einer großen wissenschaftlichen Gesamtanschauung auszubauen. Darin liegt ein bleibendes doppeltes Verdienst: die Aufdeckung tiefer prinzipieller Gegensätze nicht nur in ihrem Dasein, sondern auch in ihrer vollen Tragweite. Daraus erhellt schon, daß Thon nicht nur stürzen, daß er auch bauen will. Indem er uns belehrt über I. Die Norm und die Rechts­ folgen ihrer Übertretung S. 1—70; II. Schuldloses Unrecht S. 71—107; III. Öffentliche und private Rechte S. 108—146; IV. Die einzelnen Privat rechte S. 147—222; V. Der Anspruch S. 223—287; VI. Der Genuß S. 288—324; VII. Befugnis und Rechtsgeschäft S. 325—374, legt er einen Grund, der — wenn überhaupt trag­ fähig — wohl imstande sein müßte, den ganzen Neubau einer exakten Rechtsphilosophie zu tragen. Und diesen Neubau aufzuführen, ist der Verfasser bestrebt. Und zwar in klaren Zügen, ernst und nüchtern, dabei stets be­ tätigend einen Drang nach Wahrheit, eine Sachlichkeit und Fähig­ keit, Maß zu halten, eine Weite des Blickes und Feinheit der Beobachtung der verschiedenartigsten Vorgänge auf dem Gebiete der Rechtswelt, daß das Buch unter allen Umständen als ein be­ deutendes bezeichnet werden mußb. Damit es nicht scheine, als unterliege ich in der Folge der fatalen Neigung so mancher Kritiker, ihr allgemeines Lob durch besonderen Tadel allgemach umzustempeln aus einem Ausdrucke ihrer Überzeugung zu einem Trostworte ihrer Bonhommie an den Verfasser, so bekenne ich gleich hier, daß ich sämtliche Grund­ anschauungen Thons für wissenschaftlich nicht haltbar erachte. Dies mindert an meiner Überzeugung nichts, daß das Werk ein gutes ist. Der Feingehalt wissenschaftlicher Bücher fällt nicht rein zusammen mit ihrem Wahrheitsgehalt (ist doch leider die Trivialität auch Wahrheit!); er bestimmt sich vielmehr nach dem Werte des Autors und nach der Reichhaltigkeit der Quelle wissenschaftlichen Fortschrittes, welche in solchem Werk sprudelt. Eine Auseinander­ setzung mit den Ansichten, welche Thon zum System erhoben, ist schon vor seinem Werke unumgänglich gewesen, und sie ist mit Aussicht auf Erfolg erst möglich geworden durch Thon. Dabei ? Ich denke hier ganz besonders an Len el, Ursprung und Wirkung der Exceptionen, Heidelberg 1876, S. 1—14, und an So hm, Der Begriff des Forderungsrechtes, in Grün Huts Zeitschrift I V (1877) S. 456 ff. ° Durch das ungerechte Urteil in Jherings Jahrbuch XVI S. 326 tritt Kohler sich selbst zu nahe.

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enthält das Wert auch eine ganze Anzahl von Ausführungen bleibenden Wertes: trotz der Unrichtigkeit der Grundgedanken.

I. Die Norm als einziger Rechtssatz. Die beiden grundlegenden Abschnitte des Werkes sind die beiden ersten, die zusammen ein Ganzes bilden. Und da ja natürlich das ganze Rechtssystem in höchster In­ stanz abhängt von dem objektiven Rechte, so ist die prinzipiell be­ deutendste These in diesen ersten Abschnitten die über Form und Inhalt der Gesetze — Gesetze hier im weitesten Sinne für alle möglichen Rechtssätze verwendet. Da aber alle Form nur Ausdruck des Gedankens ist, so be­ deutet die Frage nach den Formen der Gesetze zugleich eine solche nach deren Inhalt, wenn sie auch letztere nicht erschöpft. Und so erscheint Thon immerhin berechtigt, mit einer formellen Be­ trachtung der Gesetze den Umsturz unserer bisherigen Rechts­ anschauungen zu beginnen. Wer dies will, hat sich vor allem mit den trotz ihrer Kürze gradezu epochemachenden Aufstellungen von Thöl in seiner Ein­ leitung in das deutsche Privatrecht (Göttingen 1851) auseinander­ zusetzen. Thöl zerlegt alle Rechtssätze in die drei großen Massen der berechtigenden, der verneinenden, der begriffs­ entwickelnden'. — Thon — ohne sich in tiefere Polemik ein­ zulassen — nennt auf S. 347 N. 51 diese Einteilung „un­ fruchtbar". Er schließt sich ihr ebensowenig an wie der Dreiteilung der Rechtssätze, die Bring, Pandekten I § 18 (2. Ausl. S. SO), aufstellt, wonach die Gesetze zerfallen in Verbote, Gebote und Gewährungen. Thon ist vielmehr Monist: es gibt nur eine Form, also auch nur einen Inhalt der Rechtssätze, das ist der pflichtbegründende Befehl. „Das gesamte Recht einer Ge­ meinschaft ist nichts als ei« Komplex von Imperativen — die der Verfasser nach Vorgang des Referenten Normen nennt —,

welche insofern miteinander verknüpft «nd verbunden find, als die Nichtbefolgung der einen für andere häufig die Voraus­ setzung des Befohlenen bildet" (S. 8>. „Mit ihren Impera­ tiven wendet sich die Rechtsordnung lediglich an Menschen. Wie alles Recht von Menschen ausgeht, so werden auch seinen Satzungen nur Menschen unterworfen" (S. 3). — Dies der Kernsatz des Buches, dessen Rest bestimmt ist, ihn zu bewähren und seine Kon­ sequenzen zu entwickeln. Er verhält sich zu dem Satze meiner Normen: die Norm ist » Diese Einteilung ist bekanntlich sehr vielfach adoptirt, z. B. von Wind scheid, Pandekten I § 27 (4. Aust.).

XI. Anhang. 2. Zu Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht. 525 Voraussetzung für das Strafgesetz, und ihre Übertretung Voraus­ setzung für das Wirksamwerden des Strafgesetzes, wie das all­ gemeine Prinzip zu einem wichtigen Anwendungsfalle desselben, und niemand dürfte geneigter sein als ich, diese Verallgemeinerung mit Freuden als richtig anzuerkennen — falls es in der Tat möglich wäre, die ganze Rechtsordnung aus Befehlen und Pflichten aufzubauen. Davon aber ist — wie sich alsbald zeigen wird — keine Rede! Es gab für Thon nur einen Weg, jenen Satz von der Alleinherrschaft der Norm festzustellen: den der exaktesten Unter­ suchung. Es galt, genau den Sinn der zu stellenden Fragen zu fixiren und mit größtem Bedacht darauf die Antwort zu geben. Daß nicht alle unsere Rechtssätze imperativisch einherschreiten, lehrt ja der oberflächlichste Blick auf unsere Gesetzbücher. Die Form der Gewährung und Erlaubnis kommt darin mindestens so oft vor, als die Form des Geheißes und Befehls. Es galt also, an der Hand sorgsamster Auslegung dieser „Gewährungen", wie ich diese Sätze einmal vorläufig mit Brinz nennen will, nachzu­ weisen, daß bei ihnen allen der Gesetzgeber sich falsch ausgedrückt habe; d. h. es mußten auf dem Wege berichtigender Auslegung alle Gewährungen in Normen verwandelt oder mindestens der Weg dazu gezeigt und die Notwendigkeit, ihn in allen Fällen zu betreten, nachgewiesen werden. Es konnte dies auf zwei Weisen geschehen: entweder die „Ge­ währung" wurde als ein lediglich an Höflichkeit des Gesetzgebers krankender Befehl enthüllt, oder aber es wurde ihre Selbständig­ keit als Rechtssatz bestritten und sie selbst umgewandelt in den Vordersatz einer Norm. Möglich auch, daß von sämtlichen Ge­ währungen ein Teil auf die erste, der andere auf die zweite Art beseitigt wurde. In dieser Beziehung nun hat Thon, was ihm oblag, nicht erfüllt. Die formelle Untersuchung der Rechtssätze läßt sehr viel zu wünschen übrig: ja sie wird gar nicht ernsthaft in Angriff ge­ nommen. Der so wichtige Unterschied zwischen einteiligen und zweiteiligen, d. h. zwischen unbedingten und bedingten Normen wird als solcher gar nicht erörtert; eine Analyse des Konditional­ satzes in den letzteren: „Wenn dies oder jenes ist, so sollst du!" wird nicht versucht; die Aufgabe, die sog. Gewährungen zum Teil als Konditionalsätze in zweiteiligen Normen, zum Teil als ver­ hüllte Normen auszudeuten, wird kaum gestreift. Zwar erkennt Thon Rechtssätze an, denen die Form des Imperatives fehlt — Rechtssätze, die er auf folgende Typen zurückführt: „Du kannst" (s. bes. S. 335 ff.), „Du kannst nicht" (S. II ff.) „Du kannst, aber du darfst nicht" (S. 14). In allen diesen Fällen fügt er die Versicherung bei: ein solcher Rechtssatz enthält keinen Imperativ

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und ist mithin (also reine petitio prinoipü!) kein selbständiger Rechtssatz (s. S. 13. 346). Die unbequeme Existenz solcher Sätze mit der Alleinherrschaft der Norm in Einklang zu bringen, wird ganz gegen Ende des Buches an falscher Stelle ohne Energie, weil ganz beiläufig und ohne Gründlichkeit versucht (s. VII o. 9 S. 345—350): „Die Gewährungen (also die Sätze „du kannst"; dasselbe soll aber laut S. 13 N. 31 auch von den Sätzen „du kannst nicht" gelten) sind selbständige Rechtssätze nicht. Sie be­ stimmen nur die Vorbedingungen für den Eintritt und das Ende gewisser Imperative."^ Mit drei (allerdings sehr) „einfachen Beispielen" wird der Beweis geführt. Es gibt keinen selbständigen Rechtssatz: „Du darfst eine herrenlose Sache okkupiren", „Du darfst deine Sache derelinquiren", „Du darfst ein Forderungsrecht übertragen" " : der erste Satz bezieht sich vielmehr lediglich auf die Entstehung, der zweite auf die Endigung der das Eigentumsrecht bildenden Im­ perative, der dritte auf eine subjektive Umstellung der die Obli­ gation begründenden Imperative. „Dieselbe Erscheinung wieder­ holt sich immer und stets bei jeder Befugnis" (S. 349). So leichten Kaufs wird aber Thon nicht durchkommen! Zunächst sind seine Beispiele sehr unglücklich gewählt. Ganz ab­ gesehen einmal von der Tatsache, daß energische Gegner Thons die Existenz selbständiger subjektiver Rechte zur Okkupation — das Jagdrecht beiseite gesetzt! — und zur Dereliktion ebenso leugnen werden wie er, daß sie also durch diese Beispiele weder belehrt noch geschlagen werden, ist es ja eben doch wieder nur eine sehr fragwürdige Behauptung, daß jene Akte lediglich Vorbedingungen für das Lebendigwerden oder Hinsinken von Imperativen abgäben. Thons Grundsatz wird eben nur behauptet, er ist eine subjektive Anschauung. Und es ist dies nicht der einzige Fall dieser Art in dem Buche. Ich kenne keine einzige bedeutende Erscheinung in unserer neueren Rechtsliteratur, worin die xotitio prinoipü eine so große Rolle spielte, und wo dies dem Leser zu­ gleich leichter entginge als in Thons Rechtsnorm. Alle Rechtssätze sind Normen — alle Rechtsfolgen einer Normübertretung be­ stehen im Lebendigwerden neuer oder im Hinsinken bisheriger Imperative — Normübertretungen sind sowol alle Tatbestände, woran der Strafzwang als die, woran der Erfüllungs-, ins­ besondere der Entschädigungszwang geknüpft ist, das Delikt sowol ro „Es ist m. E. ungenau, die Gewährungen mit den Geboten und Verboten auf eine Linie zu stellen. Nur die letzteren enthalten das Recht." So Thon S. 346: offenbar selbst sehr ungenau. Denn die Bedingung des Imperativs und ihre Regulirung rst doch wol auch Sache und Inhalt des Rechts. n Der letztere Fall wird nur hypothetisch gesetzt.

XI. Anhang. 2. Zu Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht. 527 als das Zivilunrecht — da das Zivilunrecht häufig der Schuld ermangelt, so gilt die Norm dem Handlungsfähigen ebensogut als dem Narren, als dem Säugling —: von allen diesen Haupt­ sätzen des grundlegenden Teiles des Tho nschen Buches ist keiner bewiesen, und — was in dem ernsten Werke auffallend ist — von allen außer dem letzten ist ein methodischer Beweis nicht einmal versucht worden. Sie sind denn in der Tat auch alle falsch! Nichtsdestoweniger werden diese höchst interessanten Anschauungen des Verfassers im weiteren Verlaufe des Werkes als ausgemachte Wahrheiten behandelt. Die Folgerungen ergeben sich dann aber nur aus des Verfassers Anschauungen und teilen mit diesen den Nachteil des Beweismangels. Das Werk ist mehr Frucht der Intuition eines guten wissenschaftlichen Kopfes, der nachher mit Erfolg bemüht ist, die Tatsachen zu sammeln, die seinen Intuitionen entsprechen, als die Frucht methodischer Unter­ suchung. Und darin liegt seine schwache Seite! Dieser methodische Fehler wirkt aber zunächst sehr günstig auf den Leser. Er erhält in fesselnder Darstellung eine scheinbar fest­ geschlossene, in sich folgerichtige Gesamtanschauung und wird nicht durch mühsame Detailuntersuchung ermüdet. Ungleich schlimmer ist der Beurteiler des Werkes daran. Ihm bleibt Vieles und Schweres zu tun übrig, was billigerweise der Verfasser bewältigt hätte, und er muß dem Leser zumuten, den bequem erlangten Besitz einer Hoffnung zu opfern. Es ist dies für beide Teile schlimm, aber unvermeidlich. Und so kehren wir jetzt zu Thons Behauptung zurück: „Das gesamte Recht ist nichts — als ein Komplex von Imperativen." Ich will zeigen, daß dieser Satz in zwei ganz verschiedenen Bedeutungen genommen werden kann (die Thon durchaus nicht mit der nötigen Schärfe auseinanderhält), daß er in einem Sinne ebenso altbekannt als richtig (s. I), in dem andern Sinne ebenso neu als falsch ist. Der letztere Nachweis wird von zwei Seiten aus geführt werden: von feiten sowol des objektiven Rechts als der subjektiven Rechte. Ich hoffe zu zeigen, daß es Rechtssätze gibt, die schlechterdings keine Normen sind, und daß die Fülle der subjektiven Rechte aus den eintönigen Normen nicht abgeleitet werden kann. Da das Thonasche Buch eine solche Menge wichtiger Fragen berührt, daß eine Kritik, die nicht selbst wieder ein Buch werden will, sich unmöglich mit ihnen allen be­ schäftigen kann, beschränke ich mich auf Thons zwei bedeutendste Thesen: die über die Norm und die über subjektives Recht.

1. Der Gesetzesbefehl in allem Recht. Jeder Rechtssatz — also auch jedes Gesetz — besteht in Wahr­ heit aus zwei ganz verschiedenen Sätzen. Diese Wahrheit hätte

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den Ausgangspunkt für eine Revision der Lehre von den Rechts­ quellen zu bilden, nicht der Satz, den Lab and (Staatsrecht II, S. 5) an die Spitze stellt: „Man verschließt sich jede wissenschaft­ liche Erkenntnis der Lehre von der Gesetzgebung, wenn man das Wesen des Gesetzes in der Schaffung eines Rechtssatzes erblickt. Gesetzgebung ist vielmehr lediglich die Ausstattung eines Rechtssatzes (310!) mit verbindlicher Kraft, mit äußerer Autorität; sie besteht in der Sanktion eines Rechtssatzes." Denn Lab ands Satz ist nicht haltbar: die Gesetzgebung ist in fast allen Fällen Schöpfung eines neuen Rechtssatzes, in ganz wenigen eine Novation der Form des Rechtssatzes, eine Verwandlung ungesetzten Rechts in Gesetzesrecht, nie aber Sanktion eines schon bestehenden Rechtssatzes Von diesen beiden Sätzen, durch deren Verbindung der Rechts­ satz entsteht, mag man den einen den Ausdruck des Rechts­ gedankens, den andern den Ausdruck des Rechtswillens der Quelle nennen. Laband unterscheidet sie als Gesetz­ inhalt und Gesetzesbefehl^, und man mag sich dem an­ schließen, wenn man sich nur bewußt bleibt, daß in Wahrheit der Gesetzesbefehl auch zum Inhalt des Gesetzes gehört. Genauer scheint mir die Unterscheidung zwischen Rechtsgedanken- und Rechts willens-Erklärung. Das Verhältnis dieser beiden Sätze wird am klarsten, wenn man sich vorstellt, daß ein Gesetzentwurf unverändert die Kammerberatung durchläuft, und man sich nun die Frage vorlegt: wo­ durch das publizirte Gesetz von dem wörtlich ihm gleichlautenden Entwürfe des Gesetzes sich unterscheidet? Die Rechtsgedanken in beiden sind inhaltlich und formell aufs Haar übereinstimmend: das Gesetz aber enthält einen kleinen folgenschweren Satz mehr als der Entwurf. Wir finden ihn nicht im sog. Kontext des Ge­ setzes, sondern entweder in einem Publikationspatent oder in zwei Teile zerrissen vor und hinter dem Kontext des Gesetzes. Dieser kleine Satz lautet: Ich, der Gesetzgeber verordne, was folgt. Er enthält die feierliche Erklärung des autoritativen Gesetzgeberwillens: „Wie es geschrieben steht, soll es Recht sein" (ita^'u8 68to). Dadurch wird nicht einem Rechtssatze die Sanktion erteilt, sondern ein Rechtsgedanke zum Rechtssatz erhoben. Die Erklärung dieses Willens ist in den modernen Staaten ein Formalakt: die drei wesentlichen Bestandteile der Form sind Er­ klärung in einer Urkunde, Unterzeichnung der Urkunde durch be­ stimmte Personen (sog. Ausfertigung), Veröffentlichung der *2 Daß aber das Gesetz aus zwei Sätzen besteht, hat Laband II S. 20 richtig erkannt, wenn es auch nicht richtig ist, daß die Sanktion „allein Gesetzgebung im staatsrechtlichen Sinne des Wortes sei". II S. 6. Staatsrecht II S. 5 ff.

Ll. Anhang.

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Urkunde in bestimmter Form". Mit der Publikation — nicht früher — kommt das Gesetz zustande: die Publikation bildet aber nur den Schlußakkord der formellen Erklärung ita jus vsto Faßt man nun diesen zweiten Satz als einen Befehl des Ge­ setzgebers an seine Untertanen auf, so kann man die Behauptung „alle Rechtssätze sind Normen" in doppeltem Sinne fassen. Ent­ weder sagt man nur: der zweite Teil jedes Rechtssatzes ist ein Imperativ, ein Gesetzesbefehl; oder man sagt: nicht nur der zweite Satz ist ein Befehl, sondern auch der erste: alle Rechtsgedanken in den Rechtssätzen sind gleichfalls Befehle, und durch den Gesetzesbefehl wird ihnen verbindliche Kraft beigelegt. Das letztere ist offenbar die Meinung Thons. — Ob er dieselbe auch verteidigt haben würde, wenn er sich nicht immer auf die imperativische Form der „Gesetzesbefehle" hätte zurück­ ziehen können, ist mir sehr zweifelhaft. Unter allen Umständen bedarf es der Untersuchung (die wir allerdings von Thon er­ wartet hätten!): wie weit auch der Rechtsgedanke, der keinen Be­ fehl enthält, durch seine Verbindung mit dem „Gesetzesbefehl" imperativisch wird? Bei der Durchsicht unserer Literatur fällt mir auf, daß dieser „Gesetzesbefehl" nur äußerst dürftig behandelt wird. Ob man sein Wesen für unzweifelhaft ansieht, was es leider durchaus nicht ist? Lab and identifizirt „ein Staatsgesetz er­ lassen" mit „den staatlichen Befehl seiner Befolgung erteilen", und schildert die Sanktion des Entwurfes als den Akt, wodurch „die Befolgung seiner Vorschriften befohlen und angeordnet wird Verstehe ich recht, so enthielte dann jeder Rechtssatz eine Vorschrift für handlungsfähige Menschen in größerem oder kleinerem Kreise, sich danach zu richten: jeder Rechtssatz würde durch den Gesetzesbefehl zur Norm. Indessen scheinen mir zwingende Gründe dieser Annahme im Wege zu stehen. Angenommen — aber nicht zugegeben —, daß jeder Rechtssatz einen solchen Befolgungsbefehl enthielte, an­ genommen ferner, daß jeder Rechtssatz durch Aussprechen eines solchen Befehls entstünde: wie würde sich erklären, daß der Rechts­ satz entstehen kann, lange bevor er in Kraft tritt", daß es Ge­ setze gegeben hat, die nie praktisch gegolten haben"? Der Be" Labands „Promulgation" (s. Staatsrecht II S. 12 ff. 41 ff.) dürfte sich keine Anhänger werben. '° Es ist deshalb unrichtig, aber unschädlich und praktikabel, das Gesetz statt vom Tage der Publikation, vom Tage der Ausfertigung zu datiren. Staatsrecht II S. 6; vgl. S. 29. " Das badische Strafgesetzbuch vom 6. März 1845 ist am 1. März 1851 in Kraft getreten. " Das badische Gerichtsverfassungsgesetz und die badische Strafprozeßordnung vom K. März 1845 sind nie in Kraft getreten. Binding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen. 34

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fehl, einem Satze als Rechtssatz nachzuleben, ist doch identisch mit dem Befehl, der Rechtssatz solle in Kraft treten; dieser letzte Befehl ist aber ein ganz anderer als der feierliche Imperativ: ita zus esto! Es ist sehr wol möglich und gar nicht unerhört, daß Gesetze publizirt werden, also zur Entstehung kommen, und über den Tag ihres Inkrafttretens gar nichts bestimmt wird, daß also der Besolgungsbefehl vollständig mangelt. Über die Schwierigkeit, solche Gebilde mit unseren Vorstellungen vom Rechte zu vereinen, mache ich mir keine Illusionen: sie existiren nun aber einmal. Und — lassen wir sie einmal beiseite! — so viel steht fest: der Gesetzesbefehl, der das Werden des Rechtssatzes, und der andere Befehl, der sein Inkrafttreten anordnet, sind zwei ganz verschieden­ artige Befehle: der „Gesetzesbefehl" ist also ein Be­ folgungsbefehl nicht, also keine Norm. Er ist überhaupt kein Befehl: er ist eine feierliche Willens­ erklärung, daß etwas, was Recht bis dahin nicht war, die Qualität des Rechtssatzes fürderhin an sich tragen soll: er ist ein Schöpfungs­ akt, und der Imperativ „its. su« esto« erklärt sich nur aus dem Zweifel vor demselben, den er zurückscheucht: er entscheidet die Frage, ob — oder ob nicht? Man kann allenfalls befehlen, daß etwas Recht werden soll, denn da ließe sich allenfalls eine Tätigkeit zwecks Ausführung dieses Befehls denken; man kann nicht „befehlen", daß etwas Recht sein soll: denn solcher Be­ fehl läßt sich gar nicht ausgeführt denken; wohl aber kann man etwas zum Rechte machen. Indem der Gesetzgeber ein Gesetz schafft, schafft er zunächst eine ideale Ordnung: die Ordnung, wie sie im Gesetze gedacht ist, erscheint ihm als die der Ge­ rechtigkeit am besten entsprechende: deshalb erhebt er sie zur idealen Rechtsordnung. Dies geschieht zwar im Hinblick auf eine künftige praktische Durchführung dieser Ordnung: allein die Gesetzessanktion bedeutet zunächst nichts weiter als: diese Ordnung ist die gerechte Ordnung, und deshalb wird sie gebilligt. Daß diese Willenserklärung keinen Befolgungsbefehl darstellt, wird noch durch eine andere Erwägung deutlich. „Ich will, daß etwas Recht sei —" dieser Satz kann zum Befolgungsbefehl nur dadurch werden, daß das, was Recht sein soll, ein Be­ folgungsbefehl ist. Wenn ein Rechtssatz sagt: der König hat das Begnadigungsrecht; er hat kein Abolitionsrecht; der Kaiser hat das Recht der Kriegserklärung; die deutschen Männer über 25 Jahren haben das politische Wahlrecht; die Wahnsinnigen sind unfähig, Rechtsgeschäfte zu schließen: wie ist es denn irgend möglich, in solchem Rechtssatz eine Norm zu erblicken? Wem werden darin Pflichten auferlegt? Dem Kaiser, dem König, den deutschen Wählern, den Wahnsinnigen? Bedeutet etwa die Zuteilung des

XI. Anhang. 2. Zu Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht. 531 Kriegsrechts an den Kaiser, des Wahlrechts an die Untertanen nichts anderes als den bedingten Imperativ: „Wenn der Kaiser den Krieg erklärt, soll der Soldat das Schwert ziehen"; „wenn der Deutsche wählt, soll der Wahlkommissär den Zettel aufmachen und nicht für ungültig erklären?" Wer dies annähme, verschöbe in der unglaublichsten Weise den juristischen Schwerpunkt, der bei jenen Rechtssätzen liegt in dem Recht des Kaisers, des Wählers, in der Unfähigkeit des Wahnsinnigen —, und nicht in ganz vagen Pflichten irgendwelcher Personen, welche durch die Ausübung jener Rechte vielleicht entstehen können, vielleicht auch nicht entstehen. Wenn man also behauptet: alle Rechtssätze sind Normen, so will dies sagen, der zweite Satz im Rechtssatz, der Gesetzesbefehl ist keine Norm, der erste Satz, der Gedankensatz enthält immer einen Befehl. Diese Behauptung ist wenigstens un­ mißverständlich, wenn sie sich auch schon jetzt als sehr unwahr­ scheinlich erweist.

2. Der „Befehl", das Gesetz solle in Kraft treten. Nennt man die Norm, wie i ch dies proponirt, einen Rechts­ satz, der irgendwelchen handlungsfähigen Menschen eine Handlung oder Unterlassung anbefiehlt, oder läßt man mit Thon die Norm in demselben Sinne auch zu Handlungsunfähigen sprechen: jeden­ falls muß man sich klar werden, daß jene Pflichten der Menschen nicht begründet werden durch die Ent­ stehung der Normen, sondern durch ihr Inkraft­ treten. Wäre es nun vielleicht geboten, den „Befehl", das Gesetz solle in Kraft treten, selbst als eine Norm zu bezeichnen? Durch­ aus nicht! Das Gesetz tritt nicht durch die Tätigkeit von Unter­ tanen oder von Staatsorganen in Kraft, sondern es tritt un­ mittelbar durch die Erklärung des Gesetzgebers, daß es von einem bestimmten Tage an gelten solle, in Wirksamkeit", Wie das ita ins esto nur eine authentische Erklärung über das Da­ sein des Gesetzes, so der sog. Befehl, es solle in Kraft treten, nur eine authentische Erklärung über den Anfang seiner Rechtswirksamkeit. Wie sollte man auch an einen Be­ folgungsbefehl denken, wenn das in Kraft tretende Gesetz be­ stimmte Kreise als wahlberechtigt bezeichnet, den Wahnsinnigen die Handlungsfähigkeit abspricht usw.? Ein Befolgungsbefehl liegt also nur in der Norm selbst,

" Daß davon die Ausführungen in meinen Normen II S. 55 (jetzt 2. Aufl. S. 134 ff.) nicht berührt werden, liegt auf der Hand. 34'

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nicht in dem Satz, sie solle in Kraft treten: aber allerdings rechts­ wirksam wird jene Norm nur durch diesen Satz.

3. Angebliche Identität von Rechtssähen «nd Normen. Das Recht ist eine Ordnung menschlicher Freiheit. Die Frei­ heit als das „Dürfen" ist dem Gesetzgeber als Mittel zu seinen Zwecken ebenso unentbehrlich wie die Beschränkung der Freiheit, das „Müssen", — das subjektive Recht ebenso wie die subjektive Pflicht. Im Rechte lediglich Normen erblicken, heißt es zur un­ erträglichsten Zwangsanstall stempeln und seine alleinige Aufgabe in stets fortschreitender Verringerung freiheitlicher Bewegung finden. Solche Theorie ist des Rechtes nicht würdig, seinem Bestände selbst aber gefährlich. Wenn jedes neue Gesetz neue Pflichten bringt zu den ererbten, wo bleibt dem Menschen da die nötige Luft, um in der Rechtswelt zu atmen, und wo die Lust, sich darin zu bewegen, wo bleibt das Recht, wenn allein die Pflicht herrscht? Dem stets heischenden Plaggeist würde die allgemeine Empörung antworten. Die Zeilen, wo die Pflichten in falschem Übergewichte über den Rechten gestanden haben oder wenigstens zu stehen schienen, sind bei gesunden Völkern dem Ausbruch der Revolution immer nur kurz vorausgegangen. Diese allgemeinen Bestimmungen, die eine strenge Beweis­ führung natürlich nicht zu ersetzen vermögen, werden durch eine sorgsame Analyse des positiven Rechts nur bestätigt. Schon oben ist eine ganze Anzahl von Rechtssätzen angeführt worden, die der Umbildung in die Norm widerstreben (s. S. 530/31); ich will an dieser Stelle noch einige Satzungen der Reichsverfassung be­ trachten — möglichst einfache, um an ihnen dieselbe Sprödig­ keit nachzuweisen. „Art. 1. Das Bundesgebiet besteht aus den Staaten usw." ? Ein begriffsentwickelnder Rechtssatz ist dies nicht: es wird damit vielmehr der Territorial- und der Staatenbestand des Reichs verfassungsmäßig geschlossen. Eine bedeutsame Eigen­ schaft des Reichs wird rechtlich festgestellt, wie anderweite Rechts­ sätze Fähigkeiten und Eigenschaften von Privatpersonen feststellen. Ich bemühe mich vergeblich, den Art. 1 der Reichsverfassung in einen Imperativ zu verbauen. Etwa: diese 25 Staaten haben die Pflicht, stets Mitglieder des deutschen Reichs zu bleiben! Das will damit gar nicht gesagt sein. Denn sie bleiben solche Mit­ glieder, bis sie untergehen oder entlassen werden. Oder etwa: Keiner soll das Territorium dieser 25 Staaten angreifen, er be­ geht sonst Landesverrat gegen das Reich! Es fällt aber der Reichsverfassung gar nicht ein, in Art. 1 gleich an ein Verbot des Landesverrats zu denken. Art. 2. „Innerhalb dieses Bundesgebietes übt das Reich

XI. Anhang. 2. Zu Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht. 533 das Recht der Gesetzgebung in bestimmtem Umfange und mit bestimmter Wirkung." Dem Reiche wird hier jedenfalls eine Pflicht nicht auferlegt, sondern seine Rechts-Macht wird anerkannt. Oder geschieht dies lediglich, um dem Reiche einzuschärfen, daß es die Grenzen seiner Macht nicht überschreite? Ist nicht rechtens der Satz: das Reich hat die Gesetzgebungsgewalt, sondern statt seiner die Norm: das Reich soll in die Gesetzgebungsgewalt der einzelnen Staaten nicht eingreifen? Indessen ist das Reich auf gewissen Gebieten dazu ganz außer Stande, z. B. auf dem Gebiete des Strafrechts, denn seine Kompetenz ist hier unbeschränkt. Dann hätte jene Norm hier gar keinen Sinn. Enthält denn vielleicht Art. 2 nur eine Norm für die Einzelstaaten, in der Errichtung von Partikulargesetzen hübsch vorsichtig und enthaltsam zu sein? Gewiß haben die Einzelstaaten sich dies gesagt sein zu lassen: aber der Reichsverfassung ist die Positive die Hauptsache und nicht die Negation! Genau ebenso, wenn A. 4 dem Reich das Recht der Oberaufsicht beilegt, wenn A. 5 die Ausübung der gesetzgebenden Gewalt regelt, wenn A. 7 die Kompetenz des Bundesrates, A. 9 die Rechte der Mitglieder des Bundesrates, A. II die Rechte des Kaisers normirt. Muß etwa der Bundes­ rat einen Gesetzentwurf sanktioniren? Oder wird das Sanktions­ recht des Bundesrates lediglich als Voraussetzung der kaiserlichen Publikationspflicht erwähnt? Und wie in aller Welt kann man A. 6, der die Stimmen im Bundesrat verteilt, als Norm fassen, oder in einer solchen unterbringen? Hat man sich etwa die deutschen Regierungen als den verkörperten Neid vorgestellt, um jeder die Pflicht aufzulegen, die Stimme Preußens für 17, die Bayerns für 6 Stimmen zu rechnen? Ich kann hier nur wieder­ holen, was ich oben gesagt: eine solche Verlegung des Schwer­ punktes aus der positiven Seite des Rechts in die negative ist ungesund! Thons Auge ist weitsichtig. Alle Rechtssätze lassen sich — wenn man mit der nötigen Einbildungskraft an sie heran­ kommt — mit Normen in nähere oder entferntere Verbindungen bringen, ohne daß sie dadurch Normen oder Teile von Normen würden. Thon ist diesen Zusammenhängen tiefer nachgegangen als ein Anderer vor ihm, er hat sie teilweise ganz vortrefflich klar gelegt, aber sein suchendes Auge hat schließlich über der Fähig­ keit, Normen in der Ferne zu entdecken, die Gabe verloren, be­ rechtigende Rechtssätze in unmittelbarster Nähe zu sehen. Thon sieht überhaupt seltsamerweise stets die negative, nicht die posi­ tive Seite der Sache. Thons These: „Alle Rechtssätze sind Normen" ist in jedem Sinne genommen unhaltbar.

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II. Normen und subjektive Rechte. Den strikten Gegenbeweis gegen jene These führt Thon selbst durch den interessanten, aber notwendig mißlingenden Ver­ such, mit jenen monotonen Normen ein reichentwickeltes System subjektiver Rechte in Verbindung zu bringen. Thon nimmt es mit seinen Normen so ernst, daß ihm der Begriff des subjektiven Rechts, insbesondere des subjektiven Privatrechts, in der Hand zer­ bricht. Die Konsequenz seiner Anschauung ist die: es gibt nur Pflichten und keine Rechte. Diese Folgerung ist ihm aber ebenso unerträglich als uns allen. Rechte müssen herausspringen. Es fragt sich nur wie?

1. Natürliche Rechte und positive Pflichten. Nun lassen sich subjektive Rechte mit einer Normenordnung auf zwei ganz verschiedene, einander widersprechende Weisen zu­ sammenreimen. Die Weisen schließen einander deshalb aus, weil nach der einen die Norm lediglich und ausschließlich als ver­ bietender Satz, nach der andern zugleich als solcher und als be­ rechtigender Satz gedacht wird. Man kann mit den Naturrechtslehrern ausgehen von der Vor­ stellung, daß ursprünglich Alles erlaubt gewesen und dem posi­ tiven Recht nur die Aufgabe geblieben sei, dies Übermaß indivi­ dueller Freiheit und subjektiver Rechte zu beschränken. Dann und nur dann erscheinen Verbote und Gebote als die normalen Rechtssätze. Mit einem Kapital natürlicher subjektiver Rechte aus­ gerüstet, tritt dann das Menschengeschlecht in die Ära der Herr­ schaft des positiven Rechts: was nicht verboten ist, das ist er­ laubt, der Wegfall der Norm bedeutet den Wiedereintritt der natürlichen Freiheit. Diese krasse Naturrechtslehre, die man, wenn auch nicht von den Rechtsphilosophen, so doch von den Juristen als überwunden annehmen durfte, ist neuerdings wieder von Lenelvorgetragen worden. — Da sich hier eine nahe Verwandtschaft Thon'scher und Len el'scher Anschauungen zeigt, teile ich die Sätze des letzteren wörtlich mit: „In jedem subjektiven Recht ist ein Zwei­ faches enthalten: ein Befehl des Staates und ein Wille des Staates, zu zwingen. Man wird ein Drittes ver­ missen . . .: die Erlaubnis, das Wollendürfen. Allein es läßt sich leicht zeigen, daß diese Vorstellung auf Täuschung be­ ruht. Erlaubnis ist die bloße Negation des Verbotes?'. 2« Exceptionen S. 34. Daß das Recht bloße Negation des Unrechts sei, behauptet auch Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung I Z 62 S. 400. Ich

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2. Zu Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht.

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Da nun, wenn wir uns die positive Rechtsordnung wegdenken, positivrechtlich nichts verboten und also alles erlaubt wäre, so er­ hellt, daß jede im positiven Rechte enthaltene Erlaubnis nur ent­ weder ein verschleiertes Gebot oder Verbot oder eben die Auf­ hebung eines bisherigen Verbotes, d. h. die Wiederherstellung des Status guo ante bedeutet. Eine wirkliche bloße staatliche Er­ laubnis ohne solchen Hintergrund wäre für die Berechtigten gänz­ lich wertlos." Ganz ähnliche Vorstellungen bei Thon, nur weniger konsequent und insofern mit Thons weiteren Auf­ fassungen in Widerspruch, als er — wenn ich so sagen darf — für die subjektiven Rechte prinzipiell durch eigentümliche Kon­ stellationen der Normen Raum schaffen will. Thon sagt2?: „Ein bloßes Erlauben ist niemals Sache des Rechts. Die natürliche Freiheit des Menschen besteht rechtlich überall fort, bis ihr durch die Rechtsordnung eine Schranke gesetzt ist. Was nicht verboten ist, ist ebendeswegen erlaubt (freilich „nicht alles, was erlaubt ist, kann auf ein Recht zurückgeführt werden", S. 18). Eine aus­ drückliche Erlaubnis hätte nur den Sinn, wo vordem ein Ver­ bot bestand. Dann aber würde sie die Rücknahme jenes Verbotes bedeuten, mithin keine Rechtssetzung, sondern eine Rechtsaufhebung sein" 2». Notwehr ist nach Thon kein Recht, sondern nur natür­ liche Freiheit des Abwehrenden. Wäre sie ein Recht, so hätte sie den Sklaven nicht zustehen können — was unrichtig ist 2^; und wäre sie ein Recht, so müßte sie durch die Rechtsordnung nicht bloß gestattet, sondern durch den Rechtsbefehl gewährleistet werden, der Angreifer habe die Notwehr zu dulden^. Da aber der An­ greifer durch Abstehen vom Angriff die Ausübung der Notwehr jederzeit kupiren kann, da es ferner gegen Notwehr keine Not­ wehr gibt, so ist ja der Angreifer juristisch verpflichtet, die Not­ wehr zu dulden — die Notwehr ist also ein betätigtes Recht. finde es, zum mindesten gesagt, höchst unmethodisch, allen Sprachen zum Trotz das Unrecht zum Positiven, das Recht aber zum Negativen zu stempeln. 22 Die Stellen sind durch das Buch zerstreut; vgl. S. 17—19. 187; bes. aber S. 292. 293. 22 Vgl. auch Thon S. 222: „Zwischen der verbotenen und der rechtlich geschützten Willensbetätigung liegt das unendlich weite Feld des Erlaubten oder, genauer gesagt, des Nrchtverbotenen: das Feld der natürlichen, durch keinen Rechtssatz beschränkten Freiheit." 24 Der Sklave war nicht absolut Sache und konnte es nicht sein. Seine Menschennatur, seine Rechtssubiektsaualität muhte sich durchringen. So war der Sklave delikts-, also auch rechtspflichtfähig, so mußten ihm gewisse öffentliche Rechte, wie das der Notwehr, eingeräumt werden. Legt ihnen ja das Römische Recht in gewissen Fällen die Notwehrpflicht auf (so Thon selbst S. 18 N. 50)! 22 S. darüber Thon S. 14—18. Übrigens gebt Thons Satz: „Die Verhinderung einer Normwidrigkeit kann nicht selbst eine Normwidrigkeit sein" selbst dann zu weit, wenn man zu Verhinderung „maßvoll" ergänzt.

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Ganz anders verhält sich die Sache nach Thon bei der er­ laubten Selbsthilfe behufs Durchsetzung eines Privatrechts. Diese erlaubte Selbsthilfe ist „ein Anspruch" ?«, den die Rechts­ ordnung wieder durch Zurücknahme von Normen erteilt — und zwar zu dem Zwecke, damit es dem Privatberechtigten ermöglicht werde, dadurch zu dem Seinigen zu kommen. Thon nimmt hier offenbar ein Recht der Selbsthilfe an: die „natürliche Freiheit" ist also bald ein Recht, bald nicht. Man sollte nun glauben, Notwehr behufs Rückerlangung von Sachen, die sich schon in den Händen des Diebes befanden, sei doch mindestens natürliche „Frei­ heit", erteilt zu demselben Endzwecke wie jener seltsame Selbst­ hilfeanspruch, sei also doch auch Recht. Dies leugnet aber Thon. Noch in dritter Anwendung begegnet uns die „natürliche Freiheit" bei Tho n. Gegen seine Familiengenossen hat der xatvr kamüias keine Rechte: „Die Imperative der Rechtsordnung mochten auch den Hauskindern gelten. Allein Rechtsmittel zur Erzwingung des gebotenen Verhaltens hatte der Hausvater nicht ... der Hausvater blieb den Seinen gegenüber ... auf sein natürliches Können beschränkt." 27 Die ganz umfassende Rechtsgewalt des Hausvaters gegen die Kinder, die ich einmal als eminente Dis­ ziplinargewalt bezeichnen will, deren Ausübung einen dritten Fall erlaubter Eigenmacht darstellt, ist für Thon Recht und Rechts­ ausübung ebensowenig wie die Notwehr, sondern „natürliches Können". Es kommt mir nun nicht zu Sinne, anläßlich einer Spezial­ kritik den Kampf aufzunehmen gegen die Anschauungen der Natur­ rechtslehre. Ich kann hier nur meine Überzeugung dahin aus­ sprechen, daß diejenigen, welche sich einen solchen Naturrechts­ zustand ausspintisiren, und diejenigen, welche an der Hand ge­ schichtlicher Forschung sich die Gewißheit verschafft haben, daß ein solcher Zustand nie wo anders als in ungesunder Phantasie existirt hat und nie wo anders eristiren konnte, durch die un­ überbrückbare Kluft voneinander getrennt sind, welche zwischen Dichtung und Wahrheit gähnt. Hier gibt es keine Verständigung. Nur das Eine muß hier gegen Thon gesagt werden. Thon hütet sich sorgfältig, natürliche Rechte anzuerkennen, er spricht von natürlichem Können. Es gibt ihm prinzipiell außer dem Herrschaftsgebiet der Normen kein Recht. Und doch rechnet er mit dieser „natürlichen Freiheit" als einem juristisch in Be­ tracht kommenden Faktor. Auf das Gebiet dieser natürlichen Frei2« unklar. läufig: nie em -7

Gegen wen? Gegen den Staat, gegen den Schädiger? Es ist dies Wir kommen aber auf Thons „Anspruch" unten noch zurück. Bei­ das Recht der Selbsthilfe in allen Formen ist ein öffentliches, privates. S. Thon S. 186-188.

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2. Zu Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht.

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heit wendet er die juristische Kategorie des Erlaubten an. Darin liegt ein Widerspruch. Thon täuscht sich und uns über das Resultat dessen, was er Zurücknahme eines Im­ peratives nennt 28. Wenn die Norm allein Rechtens ist, so entsteht durch die Rücknahme der Norm nie und nimmer etwas Anderes als das juristische Nichts: nie ein „Erlaubtes", nie ein „Anspruch" 2s, nie ein Etwas, womit der Gesetzgeber, über­ haupt der Mann des Rechts für das Gebiet des Rechtes etwas anfangen könnte. Wir rechnen mit Rechten und Pflichten, und das sind die Münzen, geprägt aus dem Metall objektiven Rechts, die „natürliche Freiheit" ist Häckerling auf unserm Rechtsgebiete. Wir können also Thon die Möglichkeit nicht einräumen, durch Rücknahme von Imperativen zu subjektiven Rechten, zu Ansprüchen, zu Erlaubnissen zu gelangen. Solche bedeuten Rechtsgebietsverlust — und nichts anderes!

2. Die Norm als berechtigender Rechtssah. Auf ganz anderem Wege können subjektive Rechte direkt aus den Normen abgeleitet werden. Man läßt der durch die Norm begründeten Pflicht ein Recht auf Pflichterfüllung, ein „Gehor­ samsrecht" des Befehlenden korrespondiren. Dadurch erscheinen die Normen allerdings nicht mehr lediglich als Imperative, als reine Freiheitsbeschränkungen um ihrer selbst willen, sondern um der Rechte des Befehlshabers willen. Die Norm ist zugleich berechtigend er Rechtssatz. Dies ist meine Auffassung von den Normen, von deren Richtigkeit ich felsenfest überzeugt bin. Wie sich Thon zu ihr stellt, erörtert er auffallenderweise an keinem Punkte seines Buches eingehender, obgleich es sich hier um eine prinzipielle Frage handelt. Der Berfasser darf uns also unsere Klage nicht übel nehmen, daß er uns über diesen eminent wichtigen Punkt im Unklaren läßt. Da aber Thon Straf-, Erfüllungs­ und Entschädigungszwang aus der Normübertretung entstehen läßt, da letztere zwar darüber Aufschluß geben kann, gegen wen, aber nicht, von wem der Zwang in jenen verschiedenen Formen geübt werden darf, da Thon nichtsdestoweniger nur ganz be­ stimmte Subjekte jener Zwangsgewalt kennt, so müßte eben auch nach Thons Meinung die Norm außer der Pflicht eine solche Gewalt — ein Gehorsamsrecht, wie wir es nennen — konstituiren. Damit steht freilich in Widerspruch, wenn Thon S. 121 von allen Imperativen, deren Übertretung keine Rechts2« Beiläufig: die Zurücknahme einer Norm ist nach Thon Rechtssatz, ist selbst keine Norm; wir haben hier also wieder eine ganze große Gruppe von Rechtssätzen, die nicht Normen sind. S. indessen Thon a. a. O. S. 4.

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folge nach sich zieht, behauptet, „das, was wir eine subjektive Berechtigung nennen, begründen sie nicht, weder eine solche der Gesamtheit, noch die eines Einzelnen." Lesen wir dann aber auf S. 142: „In der Norm, die der Staat sich setzt, kann aber mehr liegen wie die Verkündung eines Entschlusses. Sie kann zugleich im Interesse Einzelner diesen die Verheißung eines ge­ wissen staatlichen Verhaltens geben. Lautet die Zusicherung so, daß der Einzelne auf die Erfüllung derselben zu bauen vermag, und ist sie zugleich in dieser Absicht gegeben, so verpflichtet sich der Staat mit dieser Norm gegen den, dem die Zusicherung gilt. Letzterer bekommt ein Recht gegenüber dem Staate," so wird die Norm wieder berechtigender Rechtssatz, und der Leser weiß wirklich nicht mehr, was er denken soll, und warum nur die Normen, welche den Staat verpflichten, als berechtigende anerkannt werden. Jedenfalls ist die Auffassung der Norm als eines berechtigenden Rechtssatzes für den, der außer Normen keine Rechtssätze kennt, die einzige, welche zu subjektiven Rechten anderer Personen als der Verpflichteten führt^. Gerade deshalb aber ist es unbedingt notwendig, uns der Konsequenzen dieser Auffassung bewußt zu werden. Dieses Recht auf Befolgung der Normen kann allein ihrem Urheber zustehen. Regelmäßig — und dieser Fall sei hier allein berücksichtigt — ist dies der Staat. Dieses Recht entsteht mit dem Inkrafttreten der Norm, besteht so lange als sie, und ist ganz zweifellos als das Recht des Befehlshabers gegen den Untertanen ein öffentliches Recht. Dieses Recht kann durch Normverletzung nie beseitigt werden, dadurch wol aber im einzelnen Falle insofern eine Verwandlung erfahren, als an Stelle des Rechtes auf Gehorsam ein Recht auf Besserung oder Strafe des Ungehor­ sames tritt Dieses Recht kann vom Staate an Private über­ tragen werden, und das übertragene Recht auf Befolgung der Normen zum Schutze des Eigentums würde dann zum Rechte des Eigentümers, das Recht auf Erfüllung der Schuldnormen so Aus den Normen Rechte der Verpflichteten zur Erfüllung ihrer Pflichten abzuleiten (Bierling, Grundbegriffe I S. 156 ff.), ist m. E. zu­ lässig, aber fördert uns wenig, falls es außer diesen Rechten reine andern gibt. Wenn aber Bierling oaselbst meint, überall sei eine Ableitung des Dürfens aus dem Sollen möglich, und jede Norm sei insofern berechtigender Rechtssatz, als sie dem Verpflichteten alles erlaube, was sie nicht verböte, so ist dies dieselbe verkehrte naturrechtliche Auffassung, wie wir sie oben bei Len el und Thon bekämpfen mußten, und jede zweite Norm neben der ersten ist ein strikter Gegenbeweis gegen Bierlina. Man gestatte diesen absichtlich sehr vagen Ausdruck.

XI. Anhang. 2. Zu Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht. 539 zum Gläubigerrecht usw. Berechtigt sein hieße: mit Normen zu seinen Gunsten bewaffnet sein! Auf diese Weise ließen sich aus den Normen unzählige teils originäre, größeren Teils abgeleitete subjektive Rechte heraus­ spinnen. Freilich alle diese Rechte hätten genau denselben In­ halt: sie wären reine oder novirte Gehorsamsrechte, und jede Ein­ teilung derselben in öffentliche und private wäre unstatthaft: denn sie alle wären öffentliche Rechte. Dies zu beachten ist besonders wichtig für das Obli­ gationenrecht. Grade bei ihm liegt die Versuchung so nahe, den Schuldner durch die Norm gebunden und den Gläubiger mit dem Rechte aus der Norm bewaffnet zu sehen. Wer aber im Schuldner nicht den Untergebenen des Gläubigers erkennen will, wer Berechtigte und Verpflichtete auf gleichem Boden der Koordination stehen sieht und ein Über- und UnterordnungsVerhältnis beider nicht anerkennen will, wer m. a. W. das Obli­ gationen- zum Privatrecht ziehen will, der muß auf die Entwick­ lung der Obligationen aus Normen allen Ernstes verzichten. Man erschwert sich m. E. auf zivilistischem Gebiete die richtige Er­ fassung des Forderungsrechtes dadurch ungemein, daß man statt, wie allein zulässig, das Recht des Gläubigers in den Vordergrund zu stellen, die Konstruktion des ganzen Rechtsverhältnisses auf die Pflicht des Schuldners stützt. Es ist nun sehr auffallend, daß, obgleich Thon sein Ge­ bäude subjektiver Rechte auf anderm Grunde aufzuführen glaubt, nichtsdestoweniger alle seine „Rechte" bei ihm genau denselben Ursprung, den gleichen Inhalt und die gleiche Natur des öffent­ lichen Rechts haben, und daß, wenn wir das Loch im Zentrum eines Normenkreises, als welches sich Thon das subjektive Recht denkt, aus einem natürlichem llorror vaoui mit Rechtssubstanz ausfüllen wollen, dieses Etwas nur ein Gehorsamsrecht desjenigen Wesens sein kann, was sich Thon als in jenem Zentrum residirend vorstellt. Dies will sagen, daß, wenn Thon neben seinem „natürlichen Können" noch „subjektive Rechte" erhalten wollte, er den Weg hätte einschlagen müssen, die Norm als einen Gehorsamsrechte schaffenden Rechtssatz nachzuweisen. Diese Not­ wendigkeit hat er vielleicht gefühlt, aber ihr gebeugt hat er sich nicht, die notwendige Folge aber dieses Widerstrebens hat ihn er­ eilt, denn

III. Thons subjektive Rechte sind keine Rechte. Es muß dies von vornherein erwartet werden. Ist alles Gesetz Imperativ und der Imperativ lediglich Befehl und nicht zugleich Erlaubnis, so kann keine Macht der Erde aus dem Ge-

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setz die subjektiven Rechte entwickeln. Dann gibt es vielleicht „natürliches Können", und dies fängt überall da an, wo das rechtliche Müssen aufhört oder fehlt. Dies natürliche Können duldet aber keine juristische Distinktion, es ist rechtlich gleich indifferent, es ist nur im Laiensinne „erlaubt", nirgends aber auf ein subjektives Recht zurückzuführen. Dieses „natürliche Können" schließt dann insbesondere alles das ein, was wir bisher Rechts­ genuß genannt haben. Daß aber der Eigentümer seine Sache gebraucht oder veredelt, ist juristisch grade so viel (d. h. grade so nichts wert), als daß jemand einen Bart trägt, einen Gedanken faßt, sich freut oder härmt oder einen Purzelbaum schlägt. Nennt man dies „natürliche Können" mißbräuchlich ein subjektives Recht, nun so sind diese zahllos wie die Sandkörner der Düne, und jedenfalls befindet sich eine Masse von Genußrechten darunter. Von Allem nun, was von Thon zu erwarten gewesen, tut er originellerweise das Gegenteil. Statt alle subjektiven Rechte zu leugnen, erkennt er sie an; statt die ruckis nuÜAostagus molos der „natürlichen Kunst" ganz beisammen zu lassen, lehrt er, „nicht alles, was erlaubt ist, kann auf ein Recht zurückgeführt werden"; statt den Rechtsgennß für Inhalt eines natürlich nur natürlichen Rechtes zu erklären („was nicht verboten ist, ist ebendeswegen er­ laubt"), sagt Thon auf S. 288: „Der Genuß des rechtlich ge­ schützten Gutes gehört niemals zu dem Inhalte des Rechts." Auch hier wird übrigens die Besprechung des Thonschen Werkes dadurch ungemein erschwert, daß die Fragen teils in falscher Reihenfolge, teils gar nicht gestellt werden. „Ehe ich mich aber zu der Bestimmung der einzelnen Privatrechte wende, scheint es rötlich, zuvor noch — vorbehaltlich späterer Feststellung des Begriffs des subjektiven Rechtes selbst — die beiden Gruppen des letzteren, die öffentlichen und die Privatrechte, voneinander zu scheiden" (S. 108). Erst aber war der Gattungsbegriff, dann die Artbegriffe festzustellen, während Thon von letzteren anhebt, um in einem Werk, welches Rechtsnorm und subjektives Recht heißt, den Begriff desselben ox pi-ofosso gar nicht zu besprechen. Dieser Mangel ist um so bedauerlicher, als Thon dadurch nicht genötigt worden ist, sich selbst darüber klar zu werden, was er unter sub­ jektivem Rechte versteht. Das Buch steckt in dieser Beziehung voller Widersprüche und voll Unmöglichkeiten. Die Grundanschauung, soweit ich sie zu erfassen und ohne Rücksicht auf die vielfach einander widersprechenden Ausführungen zu formuliren vermag, geht dahin: der durch die Norm be­ gründeten Pflicht, die ich Gehorsamspflicht nenne, entspricht ein Recht nie. Das „Recht" entspringt immer erst aus der Norm­ verletzung, d. h. das subjektive Unrecht (zu welchem Thon

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2. Zu Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht.

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unterschiedslos das verschuldete und das sog. objektive Unrecht zählt) ist die Quelle alles subjektiven Rechtes. Alles subjektive Recht ist Recht auf Negation des Unrechts 02, vor welchem es nicht besteht. Das Recht auf Negation des Unrechts nennt Thon „Anspruch". Alles subjektive Recht ist also „Anspruch"^. Alles, was nicht aus dem Unrecht entstandener Anspruch ist, ge­ hört nicht zum subjektiven Recht, insbesondere nicht der sog. Rechtsgenuß, nicht das „rechtliche Können", abgesehen vom An­ spruch, die von Thon sog. „Befugnis". In der Verschiedenheit des Anspruchs gründet der Unterschied zwischen subjektiven öffent­ lichen und privaten Rechten. „Der Privatanspruch ist das Kennzeichen des Privatrechts 34. Der Privatanspruch wird zu definiren ge­ sucht, das öffentliche Recht nur negativ als Nichtprivatanspruch bestimmt. Alle Anspruchserteilung geschieht durch Rücknahme von Imperativen (s. oben S. 537) oder durch Aufstellung neuer be­ dingter Imperative, d. h. der Anspruch ist nur Voraussetzung für das Lebendigwerden neuer Imperative (s. S. 224). So sucht Thon die Einwendung abzuschneiden: der den Anspruch ge­ währende Rechtssatz sei keine Norm. Er ist — so behauptet er — neue und zwar bedingte Norm. Werden beispielsweise die Normen zum Schutze des Eigentums verletzt, so lautet die zweite Norm: klagt der 801-äisaut Eigentümer, so soll ihm gerichtet werden. Thon lehrt also: nimmer gewähren die primären Normen subjektive Rechte, wol aber die sekundären, welche für den Fall der Übertretung der ersten Norm gewissen Personen die Möglichkeit gewähren, durch „Ansprüche" Imperative lebendig werden zu lassen. Das will sagen: dem Gesetzgeber ist die Anspruchs­ erteilung durchaus Nebensache, das subjektive Recht rückt auf eine Linie mit allen andern Voraussetzungen für das Lebendigwerden von Imperativen. Diese Grundanschauung Thons annehmen zu sollen, ist aber wirklich eine Zumutung, die wir mit aller Energie zurückweisen müssen: sie würde uns statt zu fördern in ein Meer von Ver­ wirrung stürzen. Wenn das subjektive Recht erst durch die Berunrechtung ent­ stehen soll, was besteht dann vor dieser, und was entsteht durch 22 Etwas anders Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung (Sämtliche Werke II S. 400). Der Begriff des Unrechts ist der positive, das Recht nur Negation des Unrechts. ns An direktem Widerspruch mit sich selbst behauptet Thon S. 218, das subjektive Recht sei mit Anspruch nicht identisch, sondern könne schon vor ihm existiren. So S. 133. Jedenfalls ungenau. Man lese: „Der Privatanspruch ist das Privatrecht." Er ist nicht Symptom desselben, sondern es selbst!

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diese? Der glückliche Eigentümer, der gestorben ist, ohne daß ihn jemand in seinem Eigentume angegriffen hätte — er ist nie In­ haber eines Eigentums r e ch t e s gewesen; der Gläubiger einer be­ tagten Forderung — er hat noch kein Recht gegen den Schuldner, und er erhält nie eines, wenn der Schuldner rechtzeitig zahlt, und der Schuldner befriedigt auch dadurch kein Recht, und keines geht dadurch unter! Ein Imperativ hat aufgehört zu leben: das ist alles! Im gültigsten Testament ist mir ein Legat vermacht; der Testator ist verstorben; die Erbschaft angetreten: ich habe aber kein Recht auf das Legat; ein Recht erhalte ich erst dadurch, daß der Erbe die Zahlung weigert oder zu wenig zahlt. Wenn aber der arme Rechtlose, den wir Eigentümer nennen, das Glück hat, infolge der Eigentumsverletzung berechtigt zu werden, — ist dann das Recht, was ihm entsteht, ein Eigentumsrecht? Mit Nichten! Es ist nach Thon ein „Anspruch" auf Eigenmacht oder auf richterliche Hilfe. Es gibt also ein Eigentumsrecht nach Thon überhaupt nicht mehr, ja wir müssen weiter gehen, — es gibt nach ihm überhaupt kein dingliches Recht mehr. Denn vor der Verletzung ist es nicht da, und durch die Verletzung kann es nicht entstehen. Endlich müssen wir allen dinglichen Rechten alle obligatorischen nachwerfen. Denn wenn mein Schuldner nicht zahlt, so geht mein „Anspruch" auf richterliche Hilfe, und gegen den Schuldner eventuell auf Einlassung in den Prozeß. Dieser Anspruch ist aber doch wahrhaftig kein „Forderungsrecht". Thon beseitigt also alle privaten und einen großen Teil der öffent­ lichen subjektiven Rechte, nämlich alle, welche sich nicht unter seine „Ansprüche", die ja — obgleich er dies leugnet — alle öffentlichrechtlich sind, subsumiren lassen. Der Leser wird fragen: wie ist es dem Verfasser möglich, solche abwegigen Vorstellungen auch nur für sein Buch festzuhalten? Nur dadurch, daß er mit den vollständig abweichenden landläufigen Vorstellungen Fühlung zu halten sucht (s. Thon S. 131 oben). In welcher Weise dies geschieht, wollen wir an Thons Kon­ struktion des Privatrechts, insbesondere des Eigentums und des Forderungsrechtes, etwas näher betrachten. Wir sahen oben, daß nach Thon die Verunrechtung Quelle des subjektiven Rechts ist: es gibt also vor der Eigentums­ verletzung kein Recht des Eigentümers, kein Eigentum. „Das Eigentum besteht — sagt Thon S. 336 — aus Verboten"! „Zum Rechte des Geschützten wird das Eigentum erst, soweit die Rechtsordnung aus einer Verletzung der Norm dem Geschützten einen Anspruch gewährt" (S. 178). „Stets hat der Anspruch eine Normwidrigkeit zur Voraussetzung. Ist er doch das dem Verletzten gewährte Mittel, den normwidrigen Zustand zu be­ seitigen" (S. 250). Vor der Verletzung „wäre kein Grund vor-

XI. Anhang. 2. Zu Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht. 543 Handen, statt allein von Normenschutz von einem Rechte des Ge­ schützten zu sprechen, wenn nicht für den Fall der Normübertretung die Herbeiführung des Erfüllungszwanges der Initiative des Interessenten überlassen worden wäre. Um seiner möglichen Ansprüche willen sprechen wir schon jetzt von seinem Rechte" (S. 258, 254). Grade aus dem letzten höchst charakteristischen Satze geht her­ vor, daß dieser Sprachgebrauch ein ungenauer ist: die Gegenwart wird Recht genannt, weil die Zukunft Rechte möglicherweise bringen kann. „Erst die Privatansprüche des Eigentümers auf fernere (sio!) Unterlassung der Anmaßung totalen oder teilweisen Ge­ nusses, welche, klagweise verfolgt, in der rei vinckioatio und actio neZutoriu ihren Ausdruck finden, erheben das Eigentum zum Privatrecht" (S. 156). Allein an andern Stellen des Werkes gewinnt es den Anschein, daß nicht erst die sekundäre, sondern schon die primäre Norm das Recht begründe, also nicht nur befehlender, sondern auch gewährender Rechtssatz sei. Thon braucht eben genau so wie wir Alle notwendig ein subjektives Recht, welches besteht schon vor der Normwidrigkeit. Da wird ihm denn der Normenschutz zum subjektiven Rechte dadurch, daß „dem Geschützten im Falle der Normübertretung ein Anspruch gewährt wird", „der Normenschutz begründet ein Privatrecht (sie!) unter der Voraussetzung . . .", das subjektive Recht wird durch die Ver­ heißung „eventueller Ansprüche begründet", das subjektive Recht „kann vorhanden sein und ist meistenteils vorhanden, noch ehe ein Anspruch erwachsen ist" (s. bes. S. 133, 134, 143, 216, 217, 2l8, 222 u. sonst). Nun gerät aber Thon bezüglich der Frage, ob denn die primären oder die sekundären Normen das subjektive (Privat-) Recht begründen, derart ins Gedränge, daß er S. 138 bei dem Satze anlangt: das Privatrecht besteht aus der Summe von Verpflichtungen der Einzelnen, „deren Erzwingung herbeizuführen, falls sie nicht freiwillig erfüllt werden, dem einzelnen Interessenten überlassen wird". Deutet man das „Privatrecht" als objektives Recht, so kann es nicht aus Verpflichtungen be­ stehen, deutet man es als subjektives Recht, so ist dasselbe zu sagen! Jedenfalls entsteht durch die primäre Norm nie ein Privatrecht, weil überhaupt nach Thon kein Recht. Daß „der Normenschutz zum subjektiven Rechte des Geschützten werde", ist überhaupt eine ganz unklare Vorstellung. Der Normen­ schutz nach Thon scher Auffassung wird gewährt einem normfreien Gebiete — man kann auch sagen einem Menschen auf norm­ freiem Gebiete — durch einen Kreis von Imperativen, die allen andern Menschen den Zutritt zu jenem Gebiete versagen. Geht nun jenes Recht, zu welchem der Normenschutz wird,

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gegen den Staat als Urheber der Norm? Doch gewiß nicht! Oder aber gegen die Untertanen als mögliche Verletzer derselben, — wird der Normenschutz zum Gehorsamsrecht des Geschützten? Dies verneint Thon mit Lebhaftigkeit. Der Eigentümer hat vor Übertretung der Eigentumsnormen keinen Anspruch, daß sich niemand mit seinem Eigentum in tatsächlichen Widerspruch setze: er hat also kein abgeleitetes Gehorsamsrecht (s. S. 156 ff.). Vor der Normwidrigkeit kann also der Normenschutz unmöglich zum subjektiven Recht werden! Es gibt also subjektive Rechte erst nach der Verletzung, und nur um mit der herrschenden Lehre einiger­ maßen in Einklang zu bleiben, läßt sich Thon zu der Ausstellung verleiten, sie existirten schon vorher. Was hat es denn nun aber für eine Bewandtnis mit dem Tatbestände, den wir heutzutage subjektives Recht nennen, der nach Thon nicht durch berechtigende Rechtssätze zustande kommt, sondern nur durch Verbote und Gebote, und aus dessen Verletzung der „Anspruch" erwächst? Dies soll am Thon'schen Eigentum etwas genauer untersucht werden (s. Thon S. 154 ff.). Die hier einschlagenden Normen ergehen zum Schutze eines Gutes, und dieses Gut ist „der Vollgenuß einer körperlichen Sache (richtiger hieße es vielleicht: die Möglichkeit des Vollgenusses), dessen Beeinträchtigung durch Genußanmaßungen Dritter durch Normen verboten wird. Es erfolgt dies zugunsten desjenigen, dem die Rechtsordnung den Vollgenuß der Sache nach seinem Be­ lieben überlassen will", und „den also Geschützten selbst nennen wir den Eigentümer der Sache" (s. Thon S. 155). Zunächst drängt sich hier dem Manne der Praktikabilität die Bemerkung auf, daß nach Thon der Gesetzgeber gradezu genötigt wird, die Kirche ums Dorf zu tragen. Es kommt ihm darauf an, eine Sache einer Person ausschließlich „zum Vollgenuß" zu über­ weisen (ich würde lieber sagen: die Sache der Gewalt eines Menschen zu unterwerfen und dadurch ein Recht dieser Person an der Sache zu konstituiren): allein das darf der Gesetzgeber nicht sagen — unter keiner Bedingung! Denn es bedarf dazu keines Imperatives, und nur um die Untertanen anzuherrschen, besitzt der Gesetzgeber seine Sprachwerkzeuge. Das Verhältnis des Mannes zu seiner Sache rechtlich zu gestalten, ist zwar sein Haupt­ zweck: allein der Gesetzgeber verrät das nur dadurch, daß er durch einen komplizirten Normenapparat ihn zu erreichen sucht, aber nicht erreicht. Nennt man das eine natürliche Betrachtung der Dinge? Vielleicht aber kommt der Gesetzgeber doch auf diesem müh­ seligen drei- und vierfachen Umweg beim Ziel an? Sehen wir zu! Dem so außerordentlich schwer zu definirenden Eigentums­ begriffe kommt Thon so bei: „Eigentümer einer Sache ist

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derjenige, welcher gegen den Genuß der Sache seitens dritter Personen^ in relativ weitestem Umfange durch Normen geschützt wird. Eigentum im Sinne von Eigentumsrecht bezeichnet den also gewährten Schutz" (S. 161). Ich füge im Sinne Thons bei: Eigentümer ist nur der, dem im Falle der Eigentumsverletzung ein Anspruch zukommt. Von allen Versuchen über den Eigentumsbegriff dürfte dieser der mindest gelungene sein. Er hält nach keiner einzigen Seite hin Stand. „Damit der Eigentümer beliebig genießen könne, ist jeder beeinträchtigende Genuß des Andern untersagt" (S. 161): also souveräne ungebundene Willkür des Eigentümers, völlige Ge­ bundenheit aller Andern. Weder das Eine noch das Andre trifft zu. 1. Zunächst ist die Vorstellung einfach falsch, daß die Normen zum Schutze des Eigentumes sich, ohne den Eigentümer zu be­ rühren, um diesen herumlegen, damit er sich nun in seiner Feste frei bewegen könne. Ebensowenig wie Thons Behauptung (S. 148) richtig ist, es gäbe keine Freiheitsberaubung eines Ein­ willigenden (man denke nur an den Fall, wo der Gefängnis­ wärter wissentlich einen Freund des Verurteilten für diesen die Strafzeit absitzen läßt), ebensowenig ist wahr, der Eigentümer werde dadurch zum Eigentümer, daß er dürfe, was den Andern im Interesse des Eigentumes verboten sei, daß das Eigentum — wie Thon S. 336 sagt, indem er wieder wie so oft objektives und subjektives Recht ineinander fließen läßt — aus „den all­ gemeinen Verboten bestünde, welche in ihrer Gesamtheit die Un­ antastbarkeit der Sache für jedermann mit Ausnahme des Eigen­ tümers begründen". Die Beschädigung der Sache kann dem Eigen­ tümer ebenso untersagt sein wie Fremden: wir haben nicht nur strafbare Brandstiftung an der eigenen Sache, sondern auch — was Thon völlig übersieht — strafbare einfache Sachbeschädigung an ihr (s. RStrGB. § 304). In allen diesen Fällen ist natürlich auch die Einwilligung des Eigners in die Verletzung der Sache durch Dritte ohnmächtig, der Handlung den Deliktscharakter zu nehmen. Ebenso können dem Eigentümer gewisse Genußformen grade so untersagt sein wie allen Dritten^. Wenn aber den 3b Man beachte darin den Übergang Mr Negation. Oben sollte der Mann in seinem Vollaenuß geschützt, hier sollen andere von dem Teilgenuß abgehalten werden. Vgl. Thon S. 166, wo er ausdrücklich hervorhebt, die Normen lauteten nicht, es sei dritten Personen verboten, den Eigentümer im Genusse seiner Sache zu behindern. Anders wieder — soviel ich sehen kann — S. 175 Z. 14 von unten. — Außerdem muß hier erwähnt werden, daß Thon (S. 161 N. 27) auch im Beschädigen und Zerstören einer Sache eine Genußanmaßung sieht, und nur anheimgibt, an Stelle des Genießens der Sache „das Einwirken auf dieselbe zu setzen". 3« S. darüber auch Thon S. 165 N. 36 und sonst, der seine Erkenntnis nur nicht zur Definition verwertet. Binding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen. 35

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wichtigsten Eigentumsnormen gegenüber der Eigentümer gleich­ falls gebunden sein kann und gebunden ist, — wo kommt dann der normfreie Raum her, auf welchem der Eigentümer nach Thon sich allein als solcher bewährt? Wenn die Normen den Eigen­ tümer mitergreifen, ihn von seiner Sache fernhalten — so ist selbst für den, der vorher an die gegenteilige Möglichkeit gedacht hat, evident, daß das Band zwischen Eigentümer und Sache nicht durch Verbote geschlungen werden kann. Das Eigentum muß be­ grifflich vor den Normen bestehen, durch die es ge­ schützt werden soll: behaupten, daß die Schutznormen für das Eigentum dasselbe begründen könnten, heißt die Dinge einfach auf den Kopf stellen. 2. Ist Eigentümer derjenige, welcher „relativ am meisten" gegen den Genuß der Sache seitens Dritter geschützt ist, so sind — um den herrschenden Sprachgebrauch beizuhalten — alle zars. in re (zu denen man mit Thon auch das Recht des Mieters wol zählen mag, obgleich es durch Vertrag entstanden ist) nur quanti­ tativ und nicht mehr qualitativ von einander verschieden. Ebenso gibt es dann keinen wesentlichen Unterschied zwischen Eigentum und Besitz: der Besitzer ist nur ein relativ weniger geschützter Eigentümer. Sind der Eigentümer und der in ro sllsua Be­ rechtigte gleich stark gegen fremde Genußanmaßung geschützt, so muß Thon sagen, keiner von beiden ist Eigentümer. Bestellt der Eigentümer an seinem Grundstück einen usao truotus, so ist nun natürlich der Usufruktuar gegen fremde Genußanmaßung — be­ sonders gegen die des Eigentümers — in bei weitem größten Um­ fang gesichert: folglich ist der Usufruktuar — so müßte Thon konsequent lehren — Eigentümer geworden, und der frühere Eigen­ tümer ist — ja! was dieser jetzt ist, vermag ich nicht zu sagen —: jedenfalls aber hat er aufgehört, Eigentümer zu sein. Diesen Konsequenzen sucht Thon natürlich zu entfliehen — wie mir scheint, ohne allen Erfolg. Zunächst erkennt er selbst an, daß Emphyteuta nnd Superfiziar in demselben Umfange wie der Eigentümer geschützt werden. „Damit schwindet aber auch die Möglichkeit, einen Unterschied der Rechtsstellung der letztgedachten Berechtigten und des Eigentümers gegenüber dritten Personen aufzustellen." Seltsam! Thon müßte dann m. E. behaupten: also ist Emphyteuse und Superfizies Eigentum, Eigentümer und Emphyteuta sind Miteigentümer. Ja eigentlich müßte er noch weiter gehen. Wenn der Emphyteuta gegen Dritte geschützt ist wie der Eigentümer, und außerdem auch den Eigentümer von dem Genusse der Sache abhalten kann, so ist er der relativ am meisten Geschützte, also Eigentümer, und der bis heute sog. Eigentümer hat das Nachsehen: er ist bei lebendigem Leibe beerbt. — Ganz dasselbe hätte von dem Vasallen zu gelten!

XI. Anhang. 2. Zu Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht. 547 Bezüglich der übrigen jara in rs bemerkt Thon: wenngleich dadurch der ökonomische Wert des Eigentums weit geringer sein könne, als der des beschränkenden dinglichen Rechtes, so zeichne sich doch stets der Eigentümer in seiner rechtlichen Stellung vor dem dinglich Berechtigten im Verhältnis zu dritten Personen aus. „Diese sind dem Inhaber des jus in rs LÜsvL gegenüber nur zur Unterlassung gewisser Genußhandlungen verpflichtet ... Dagegen sind dem Eigentümer gegenüber stets alle Genußhandlungen dritter Personen verboten .. . Auch dem beschränktesten Eigentums ent­ spricht mithin die Verpflichtung einer unbestimmten Anzahl von Personen, und zwar mit einem weitergehenden Inhalte, als der Verpflichtung infolge eines beschränkenden dinglichen Rechts ge­ meinhin zukommt" (S. 164). Daß die rechtliche Stellung des Eigentümers Dritten gegenüber sich von der des Usufruktuars und Usuars usw. wesentlich unterscheidet, ergibt sich für uns als die gebotene Folge des verschiedenen Inhalts ihrer Rechte, hat also für uns gar nichts Befremdliches. Dagegen kann durchaus nicht zugegeben werden, daß diese Verschiedenheit identisch sei mit dem relativ umfassendsten und dem relativ weniger umfassenden Schutze gegen den Genuß der Sache seitens dritter Personen. Da der Ususfrukt dem Eigentümer so ziemlich den ganzen Genuß ent­ zieht, der Eigentümer dadurch, daß er sich den Nießbrauch gefallen lassen muß, jenen Schutz grade nach der Seite verliert, nach der er ihm vom größten Werte gewesen wäre, andrerseits der Usufruktuar diesen Schutz gegen fremden Genuß grade nach der ge­ fährlichsten Seite des Eigentümers gewinnt, da — um aus der unerträglichen ewigen Negation herauszufallen — der Eigentümer nicht genießen kann, ohne das Recht des Usufruktuars zu verletzen, der Nießbraucher aber wol genießen kann, ohne in die Rechts­ sphäre irgend eines Andern einzugreifen, so ist grade er in relativ weitestem Umfange gegen den Genuß der Sache durch Dritte ge­ schützt. Ich werde kaum der Einzige sein, dem unter dem Gesichtspunkt des Genußschutzes (oder wie Thon lieber will: des Schutzes gegen fremden Genuß) der Schutz des Usu­ fruktuars gegen den Eigentümer einerseits und gegen alle Andern, die mit seinem Nießbrauch kollidiren andrerseits, zehnmal so schwer wiegt, also der Schutz des Eigentümers gegen Genußanmaßung seitens Aller, ausgenommen den Usufruktuar. Es zeigt uns diese Betrachtung zwei Schwächen der Thonschen Eigentumstheorie gleichzeitig. Da kein Mensch — also auch kein Jurist — ewig in der Negation bleiben kann, so haben auch nach Thon die Eigentums­ normen nicht nur die Tendenz der Abschreckung, sondern sie er­ halten auch einen positiven Zweck. Der Eigentümer soll nicht nur gegen den Genuß Dritter, er soll vielmehr im eigenen Ge35*

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nusse geschützt werden. Daß der Eigentümer Eigentümer bleibt, auch wenn ihm die ganze Genußmöglichkeit rechtlich entzogen ist, beweist zur Genüge, daß eben durchaus nicht Schutz des Genusses oder Schutz gegen den Genuß Zweck der ganzen Eigentumsordnung sein kann. Des weiteren aber erhellt, daß Thon bei seiner lediglich quantitativen Bestimmung des Eigentumsbegriffes gar nicht ab­ lehnen kann, jedesmal in die Kontroverse einzutreten, welch ding­ lich Berechtigter am meisten geschützt und damit Eigentümer sei, und daß er seinen Gegner, der das relative Schutzgewicht anders taxirt, nie wird überführen können, daß also das ganze Eigen­ tumsrecht in gradezu verhängnisvolle Abhängigkeit von der Ein­ sicht oder dem Eigensinne jener Gewichtstaxatoren gerät. Da aber Thon sich Alles, was wir dingliche Rechte nennen, nach Analogie des Eigentums konstruirt, und jeder dinglich Be­ rechtigte ein solcher ist, der nicht in relativ größtem Umfange aber doch immerhin etwas gegen den Genuß Dritter geschützt ist, so erhellt, daß Thon nicht nur den Begriff des dinglichen Rechts vollständig in das Vakuum eines normfreien Raums aufgehen läßt, sondern auch alle qualitativen Verschiedenheiten zwischen den­ selben untereinander und zwischen ihnen und dem Besitz leugnen muß. So faßt denn auch Thon den Besitz — der weder ein Faktum, noch ein Recht, sondern ein Rechtsgut ist — als ein Recht, und stellt ihn auf eine Linie mit den Servituten (S. 182). Wie weit diese Theorie mit den Tatsachen stimmt — wie weit insbesondere die Ansprüche aus den sog. dinglichen Rechten und dem Besitz sich lediglich und allein quantitativ unterscheiden — diese Frage mag jeder Leser sich selbst beantworten. 3. Das Eigentum wird nach Thon zum subjektiven Rechte, sofern der Eigentümer im Falle der Verletzung einen Anspruch hat. In große Verlegenheit gerät deshalb der Verfasser dem ganz unleugbaren Eigentum gegenüber, welches im Falle der Verletzung des Anspruchs ermangelt. Thon findet sich damit höchst un­ genügend ab. Wenn der Eigentümer sein in fremdes Gebäude verbautes Material nicht vindiziren darf, wenn nach gemeinem Recht demselben ein Ersatzanspruch wegen Verletzung seines Eigen­ tums im Notstände nicht gewährt wird, wenn nach deutschrecht­ lichen Quellen der Wandrer sein Pferd auf fremder Wiese grasen lassen und selbst fremde Frucht zu seiner Nahrung brechen darf, so muß jedenfalls in Konsequenz der Thonaschen Ansicht dem Eigentümer diesen Kontravenienten gegenüber das subjektive Eigen­ tumsrecht abgesprochen werden: denn des letztern alleiniges Kenn­ zeichen ist der Anspruch im Falle der Verletzung. Es mag hier gegen Thon ein für alle Male bemerkt werden: der Anspruch im Falle der Verletzung ist lediglich ein Symptom

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für das Recht des Verletzten; dieses Symptom aber kann fehlen: das Recht bleibt Recht auch ohne solchen Anspruch; dieses Sym­ ptom muß sogar vielfach fehlen; denn es gibt Rechte, aus deren Nichtachtung ein Anspruch des Berechtigten gar nicht erwachsen kann. Wenn statt des Kaisers der Bundesrat den Krieg erklärte, welchen Inhalt sollte sein Anspruch gegen den Bundesrat haben? Werfen wir noch einen Blick auf Thons Obligationenbegriff (S. 191 ff.). Nachdem Thon gegen Hartmann und Sohm auszuführen gesucht hat, daß der Begriff der „Spannung" für die Konstruktion der Obligation unbrauchbar sei, schreitet er zu einer interessanten und selbst den auf dem Normengebiete leidlich heimischen Leser höchst frappirenden Ausführung fort. „Der Gegensatz zwischen Rechten mit Spannung auf die Zukunft und Rechten ohne solche — meint Thon — ist kein imaginärer. Falsch ist nur, den Gegensatz mit Forderungsrechten und dinglichen Rechten identifiziren zu wollen. Dingliche Rechte gehören ausnahmslos in die zweite Kategorie; obligatorische Rechte gehören zum größten Teil in die erste (Rechte mit Spannung auf die Zukunft), doch auch zum Teil in die zweite. Der Gegensatz hat mithin mit dem Be­ griffe der Obligation nichts zu tun. Er entspricht den bei­ den Arten der rechtschaffenden(?) Imperative, dem Gegensatz zwischen Verbot und Gebot ... Die den Sach­ genuß schützenden Imperative sind lediglich Verbote" (S. 196, 198). Es ist schade, daß Thon diesen Gedanken nicht energischer verfolgt hat. Wenn wirklich die Normen andre subjektive Rechte als solche auf Gehorsam schaffen, dann müssen den zwei wesentlich verschiedenen Arten der Normen, den Verboten und Geboten, doch selbstverständlich zwei fundamental verschiedene Arten subjektiver Rechte entspringen: der „Gegensatz zwischen Rechten mit Spannung auf die Zukunft und Rechten ohne solche" (S. 136) ist zu vag und zu unbedeutend, als daß er jenem Normengegensatze parallel gehen könnte. Ganz anders wäre es schon, wenn sich daraus der Gegensatz von dinglichen und obligatorischen Rechten ableiten ließe. Dies leugnet indessen Thon mit Recht. Wo steckt denn aber der fundamentale Gegensatz zwischen den subjektiven Rechten, der wegen Verschiedenheit der Normen erwartet werden darf? Er kann nicht aufgezeigt werden — ein sehr nahes Indiz gegen jede rechts­ begründende Kraft der Normen im Sinne Thons. Wenn nun aber als wahr zugegeben würde, daß dingliche Rechte nur durch Verbote, obligatorische durch Ver- und Gebote geschaffen werden könnten, so müßte selbstverständlich die dingliche Klage stets die Übertretung eines Verbotes, die obligatorische — außer bei der geringen Zahl „negativer Obligationen" (s. Thon S. 194) — die Übertretung eines Gebotes voraussetzen. Ich leihe jemandem mein Buch; er restituirt nicht, weil er es unter-

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schlägt: wenn ich vindizire, rüge ich die Verletzung eines Verbots; erhebe ich die aotio oommoäati, dann die Verletzung eines Gebots: in beiden Fällen wird aber gleichmäßig wegen Nichtrestitution geklagt! Thon definirt die Obligation — also ein subjektives Recht! — als „die von der Rechtsordnung einzelnen Personen auferlegte Verpflichtung", die der Interessent im Falle der Verletzung anspruchsweise geltend machen kann (S. 202) Jedermann wird Thons Satz unterschreiben: „daß dieser Definition eine große Vagheit beiwohnt, ist nicht zu verkennen," wird ihm aber gewiß die Zustimmung weigern, wenn er fortfährt: „Die Unbestimm­ barkeit der Verpflichtung dürfte aber grade das Charakteristische der Obligation sein." Einigermaßen wird diese unter allen Umständen höchst un­ glückliche, weil ganz haltlose Begriffsbestimmung erläutert durch die Bemerkung auf S. 163 N. 30: für das dingliche Recht ist — „das Verbot an die unbegrenzte Menge zum Zwecke der Ermög­ lichung eines wenn auch beschränkten Genusses einer körperlichen Sache das Entscheidende". Da also das dingliche Recht wie das obligatorische durch Imperative entsteht, so muß bei Thons Obligationenbestimmung der Nachdruck auf die Verpflichtung des Einzelnen im Gegensatz zur unbestimmten Menge gelegt werden. Da Thons dingliches Recht sich ebensowenig durch seinen In­ halt bestimmt wie seine Obligation, so liegt also der einzige Differenzpunkt beider darin, daß jenes durch allgemeine, dieses durch höchst spezielle Normen begründet wird. Es leuchtet sofort ein, daß der Gegensatz zwischen dinglichen und obligatorischen Rechten wieder lediglich zu einem quantitativen zusammenschrumpft, daß also Thon nicht nur jeden wesentlichen Unterschied zwischen Eigentum, Servituten und Besitz, sondern ebenso jeden wesent­ lichen Unterschied zwischen dinglichen und obligatorischen Rechten aufhebt, daß es für ihn also nur eine Art von Privatrechten gibt. Prüft man nun nach, ob wirklich die obligatorische Klage stets nur die Verletzung einer höchst speziellen, für ganz einzelne Per­ sonen gemünzten Norm zur Voraussetzung hat, so bedarf es nur der Erwähnung der Deliktsobligation, um sofort die volle Un­ richtigkeit der Thonschen Behauptung einzusehen. Die Verbote der Sachbeschädigung, der Aneignung fremder Sachen usw. müssen aber nach Thon — der dies auf S. 181 bezüglich der Normen der lex ^quiüa freilich seltsamerweise leugnet — als die haupt­ sächlichsten das Eigentum begründenden Normen angesehen werden. Grade aus ihrer Verletzung entspringt aber die obligatorische Klage,

Daß diese Definition auf jeden dinglichen Anspruch grade so paßt wie auf jeden obligatorischen, bedarf kaum der Erwähnung.

XI. Anhang. 2. Zu Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht. 551

mit der unter Umständen die dingliche kumulativ konkurrirt. Da­ mit ist also jede Möglichkeit verschwunden, dingliches und obliga­ torisches Recht auf den Gegensatz von allgemeinen und besondern Normen zu gründen. Es ist schließlich auch gar nicht verwunderlich, daß bei Thon alle Rechte in eine indifferente Masse zusammenschmelzen. Alle „Rechte" sind ja nach Thon Schalen ohne Kern: „denn lediglich die Schale bildet das Recht, der Kern gehört nicht mehr zu ihm" (S. 219). Da jeder „Anspruch" eine Normverletzung voraussetzt, diese aber nur von ganz bestimmten Personen herrühren kann, so ist jedes Recht nach Thon ein Recht gegen Einzelne^ und dient der Geltendmachung der Normen gegen ihre Verletzer. Wenn man Thons Negative in die Positive überträgt, könnte man sagen, alles Recht ist Recht auf Beseitigung von Ungehor­ sam, also Gehorsamsrecht, also öffentliches Recht — wie oben ge­ zeigt worden ist. Gelingt es Thon also nur durch eine künstliche Rückziehung der Wirkungen seiner sekundären Normen — die ich vorschlagen würde, unreine Normen zu nennen, da sie nicht reine Befehle, sondern zugleich Gewährungen sind — auf die primären Normen zu dem zu gelangen, was wir subjektives Recht nennen, so ist es für ihn eine gradezu verzweifelte Aufgabe, aus den Normen Privatrechte und den Gegensatz zwischen Privat- und öffentlichen Rechten abzuleiten. Dieser Gegensatz ist ein solcher der subjektiven Rechte, und von da ausgedehnt auf die Rechtssätze, je nachdem sie öffentliche oder private Rechte begründen. Er hat also die Annahme der berechtigenden Rechtssätze zur Voraussetzung, und von ihnen allen und nur von ihnen, d. h. von allen nicht absolut verneinenden Rechtssätzen und allen nicht begriffsentwickelnden Rechtssätzen, be­ haupten wir, sie gehörten entweder dem öffentlichen oder dem privaten Rechte an. Die Normen begründen nach unserer Auf­ fassung lediglich öffentliche Gehorsamsrechte und Gehorsamspflichten. Thon erkennt letzteres S. 109 in seiner Weise an. „Es ist vollkommen richtig, wenn Binding sagt: jede Norm ist . . . öffentlichrechtlicher Natur, jede Normverletzung eine Verletzung des öffentlichen Rechts." Dann ist es für Thon unmöglich, zu Privat­ rechten zu kommen: denn für ihn gibt es ja nichts als Normen. Grade um dieser Konsequenz zu entgehen aber sagt er auf S. 113 das direkte Gegenteil. „Ja, wir sind schlechterdings nicht imstande, die Zugehörigkeit einer Norm zum öffentlichen oder zum Privatrechte zu bestimmen, wenn wir lediglich die Norm vor

Damit fällt natürlich der von Thon hochgehaltene Unterschied von absoluten und relativen Rechten zusammen.

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Augen haben ... Erst die Rechtsfolgen, die an die Übertretung der Norm geknüpft sind, ermöglichen eine Charakterisirung der letzteren." Auf S. 121 werden dann die Normen, deren Über­ tretung eine Rechtsfolge nicht nach sich zieht, weil sie gar keine subjektiven Rechte begründen, Normen „öffentlich rechtlicher Art" genannt, auf S. 114 N. 13 heißen „die ein Privatrecht begründen­ den Normen" „privatrechtliche Normen". Sehr klar ist dies alles nicht. Wollte Thon exakt sein, so mußte er von seinem Stand­ punkte aus lehren: „Auf alle primären Normen findet — weil sie nicht berechtigend sind — der Gegensatz von öffentlichem und Privatrecht gar keine Anwendung; die sekundären Normen allein dulden diese Unterscheidung: sie gehören dem öffentlichen, resp, dem Privatrecht an, wenn sie auch den in ihnen enthaltenen Be­ fehl doppelt bedingt sein lassen, einmal durch die Übertretung der ersten Norm, dann durch die Geltendmachung eines daraus ent­ springenden öffentlich- oder privatrechtlichen Anspruchs." Wären dann diese zwei Arten von Ansprüchen scharf auseinander gehalten worden, so wäre wenigstens Konsequenz in der Anschauung. So aber wird der falsche Schein erweckt, als gehörte auch ein Teil der primären Normen zum öffentlichen oder zum Privatrechte. Mag dies aber auf sich beruhen! Worin besteht denn nun das Wesen der Privatrechte, die Thon S. 108 ganz grundlos „die vollkommensten und ausgeprägtesten subjektiven Rechte" nennt, und worin das Wesen ihrer „Kennzeichen": der Privat­ ansprüche? Letztere tragen nach Thon drei wesentliche Merk­ male an sich, und da er nicht für nötig hält, den öffentlichen An­ spruch zu definiren, so muß angenommen werden, daß diesem jene drei Merkmale fehlen oder bei ihm sich gar ins Gegenteil ver­ kehren. Der Prioatanspruch ist ein Anspruch „Einzelner wider Einzelne", und zwar für den Fall der Normübertretung ein Mittel zur Beseitigung der Normwidrigkeit, von der Rechtsordnung demjenigen Einzelnen zu beliebigem Gebrauche überlassen, dessen Interessen wider Einzelne der Schutz der übertretenen Normen bestimmt warb». Ein solcher Privatanspruch ist nach Thon S. 204 ff. „die Rechtsverfolgung in Gestalt erlaubter Selbsthilfe", mag auch „diese Form der An­ spruchserteilung im heutigen Recht fast gänzlich verschwunden sein"; vor allem aber das, was wir zutreffend Klag recht des Verletzten nennen, Thon aber lediglich als einen Zuwachs seines „Könnens", seiner „rechtlichen (!) Macht" gelten lassen will. Der Anspruch ist „Macht zur Wachrufung der Imperative, welche dem Richter Rechtshilfe zu leisten befehlen" (S. 229).

»» Daß Thons Auffassung des Privatrechts mit Jherings, Wachs und Ahrens' Auffassung zusammenfalle, was Thon S. 133 N. 57 zu meinen glaubt, halte ich für eine Selbsttäuschung.

XI. Anhang. 2. Zu Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht. 553 Diesen seinen Weg hat aber Thon nicht glücklich gewählt. Denn nach seiner Definition hätte der Staat kein Privatrecht — eine Konsequenz, die Thon S. 139 auch prinzipiell zieht, um dann auszuführen, daß der Staat sich aus Utilitätsrücksichten gnädig zur Stellung des Einzelnen degradirt, indem er auch sich Privatrechte beilegt. Wenn der Staat aber Privatrechte hätte, gehörten die Rechte auf Steuern und auf Ableistung der Dienstpflicht dazu: denn sie treibt und führt er in Gestalt er­ laubter Selbsthilfe ein und durch"; nach Thon gehörte die Notwehr als zur Abwehr von Angriffen auf die Privatrechtssphäre behufs Wiedererlangung der in Besitz des Angreifers gelangten Sachen freigegebene Selbsthilfe zu den „Privatansprüchen". Endlich sind in Wahrheit Thons zwei Privatansprüche nichts als die Aus­ übung zweier öffentlicher Rechte. Alle berechtigte Eigen­ macht ist Geltendmachung der Autorität des objektiven Rechtes gegen den Renitenten, und jede Klagerhebung ist ein öffentlichrechtlicher Akt behufs Begründung der publizistischen Amtspflicht des Richters und der nicht minder publizistischen Defensionspflicht des Beklagten. Ein Prozeß mag sich um ein Privatrecht drehen: Prozeßrecht aber ist nie Privatrecht. Wenn der Staatsanwalt vor dem Strafrichter ein Verbrechen einklagt, so unterscheidet sich dieser Akt bezüglich der intendirten prozessualischen Wirkungen (Begründung der Richter- und Defensionspflicht) in nichts von der Klagerhebung im Zivilprozeß, und daß wir es hier mit einem publizistischen Akt zu tun haben, bezweifelt Niemand. Wer eben keine berechtigenden Rechtssätze kennt und trotzdem Rechte anerkennen will, wem alle diese „Rechte" dann Normen­ schutz sind, der darf sich nicht wundern, wenn alle diese Rechte aller qualitativen Unterschiede ermangeln. Dem uniformen ob­ jektiven Recht muß natürlich absolute Uniformität des subjektiven Rechts entsprechen. Sieht man in der Norm einen berechtigenden Rechtssatz, was Thon nicht will, so werden alle subjektiven Rechte gleichermaßen Gehorsamsrechte; sieht man aber mit Thon in allen subjektiven Rechten nichts als Reflexwirkungen des Normenschutzes, so wird eben alles Recht eine taube, leere Nuß, „eine Schale ohne Kern", und diese Schalen können sich nur durch ihren Umfang und ihre Dicke unterscheiden. So ist für Jeden, der an subjektive Rechte glaubt, weil er sie massenhaft sieht und greifen kann, und der weiß, daß nicht alle diese Rechte Gehorsamsrechte sind, Thons Theorie von der Alleinexistenz der Norm schlechthin unannehmbar: unannehmbar, wenn sie, konsequent durchgeführt, anlangte bei der Leugnung aller

" Daß sie zu dem öffentlichen Rechte gehören, nimmt Thon an S. 13S. 140.

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subjektiven Rechte, noch unannehmbarer aber, wenn sie in be­ ständigen Kompromissen mit den landläufigen Anschauungen dazu vorschreitet, die unterschiedlosen Vakua, die sie subjektive Rechte nennt, uns durch gefärbte Gläser zu zeigen, welchen die Etiketten öffentliche und private, dingliche und obligatorische Rechte ein­ gebrannt sind, damit wir uns des Glaubens vertrösten, alle Rechte, die wir früher besaßen, und die uns Thon alle vernichtet, existirten in ihrer bunten Mannigfaltigkeit weiter. Was aber die Kontroverse Thon gegen Thoel anlangt, so ergreife ich gern die Gelegenheit, um dem verehrten Meister in den Tagen, in welchen er sein fünfzigjähriges Jubiläum feiert, mit dem innigsten Danke für den Reichtum an Belehrung und Anregung, den wir Alle ihm schulden, noch besonders zu beglück­ wünschen dafür, daß seine so bedeutende Systematisirung der Rechtssätze jugendfrisch geblieben ist und sich auch wider die Gegner aus der jüngeren Generation siegreich bewährt hat". Leipzig, den 12. Juli 1879.

3. Emil Brunnenmeister

22. Januar 1896".

Die deutsche Strafrechtswissenschaft hat in den letzten Jahren Verlust über Verlust erlitten — leider ohne daß von jungem Zu­ wachse gesprochen werden könnte, der die Lücken vollauf zu er­ gänzen vermöchte. Voran ging der treffliche A. v. Kries, gestorben in seinem 38. Jahre zu Kiel am 7. Januar 1894, dessen stetes Vorwärtsund Aufwärtsschreiten so erfreulich zu beobachten war. Es folgte am 19. März 1895 zu Würzburg der wackere Carl v. Risch. Das mörderischste Jahr aber war das letzte: am 22. Januar 1896 starb 42jährig Emil Brunnenmeister zu Wien, am 30. März 1896 zu Straßburg — kaum 60 jährig — weitaus der Bedeutendste aller der jüngeren nachhegelianischen Kriminalisten Adolf Merkel, mit dessen Gedankentiefe und Gedankenreichtum keiner in Rivalität treten konnte, endlich im Sommer 1896 Rudolf Heinze in " Es hieße, dem Leser dieser Zeitschrift Ungehöriges zumuten, wollte ich mich hier gegen Thons zahlreiche Angriffe auf Sätze meiner Normen ausführlich wehren. Ich möchte nur bekennen, daß sie mich an keinem der­ selben von einiger Bedeutung irre gemacht haben. Mit Entschiedenheit möchte ich mich nur noch gegen die beiden Sätze erklären, daß die Normen sich auch an die Handlungsunfähigen richten, und daß auch die Zivilklage eine Norm­ widrigkeit verfolge. Beide sind völlig haltlos. Für sehr wertvoll halte ich Thons Untersuchung über die verschiedenen Arten der sog. Rechtsfolgen. «2 Sonderabdruck aus dem Gerichtssaal I-Ill (1897) S. 459—467.

XI. Anhang. 3. Emil Brunnenmeister 's 22. Januar 1896.

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Heidelberg, der lange literarisch füll geblieben war, uns aber noch nach seinem Tode mit einer feinsinnigen und weitsichtigen Ab­ handlung über „Universelle und partikuläre Strafrechtspflege" beschenkt hat. Zu ihnen allen, außer zu Risch, stand ich in näherer per­ sönlicher Beziehung. Heinzes Nachfolger bin ich in Leipzig ge­ worden, und gern haben wir später unsere Ansichten ausgetauscht. Mit Merkel ward ich, seit ich ihn durch Bülows Vermittlung als Privatdozenten und jungen Freund Jherings in Gießen kennen gelernt, trotz aller Verschiedenheit unserer Naturen und Denkweisen sehr nahe befreundet, v. Kries hat in Leipzig studirt und bei mir gehört. Brunnenmeister ist mein lieber Schüler und Freund gewesen. So drängt es mich, grade ihm, bei Wiederkehr seines Todes­ tages, noch ein kurzes Wort des Gedächtnisses zu widmen". Es kommt so spät, weil ich gewünscht habe, mich erst noch über den literarischen Nachlaß zu vergewissern. Und ich tue es in tiefer Bewegung. Wie trügerisch sind die menschlichen Voraussagungen! Wie oft habe ich mir gesagt: „Um den brauchst du dich nicht zu sorgen! Die Liebe der Menschen kommt ihm entgegen. Der ge­ diegene Erfolg auf wissenschaftlichem und akademischem Gebiete ist ihm gewiß. Er ist ein Sonntagskind, und Glück wird sein Leben sein." Er ist auch ein Sonntagskind gewesen! Liebe und Erfolg haben ihm wahrlich nicht gefehlt, — einen der ersten Lehr­ stühle des Strafrechts hat er ruhmvoll ausgefüllt! — Und doch in der Blüte seiner Jahre ist er in tiefer Einsamkeit — die treff­ liche Schwester, die ihn so treulich gepflegt, war durch andre, dringender scheinende Pflichten von dem Krankenlager in Wien nach der Heimat gerufen — jammervoll gestorben! Seit Monaten kannte er sein Schicksal und die furchtbare Form, in der es ihn erreichen würde (eine Erkrankung der Schling­ organe machte schließlich die natürliche Ernährung unmöglich). Erschütternd war der Kampf zwischen der Todesgewißheit und der Sehnsucht nach gesundem Leben und Wirken. Als er ihn wie ein Helo ausgekämpft, zog er sich wie ein weidwunder Hirsch in die Einsamkeit zurück, um allein zu sterben. Der Bescheidene wollte Andre nicht quälen, indem er sie Zeugen seiner eigenen Qual werden ließ! So zeigt dies Leben einen jähen tragischen Bruch. Denn harmonische Gesundheit — Gesundheit des Körpers, der Empfindung, des Denkens —, das war die Signatur Emil Brunnenm ei st ers!

" Ich benütze dazu außer meiner Korrespondenz mit Brunnen­ meister auch schöne Aufzeichnungen, die mir die Schwester freundlichst zur Verfügung gestellt hat.

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Als Sohn eines Handwerkerhauses ist er am 5. Mai 1854 in Kreuzlingen am Bodensee, Kanton Thurgau, geboren worden. Das Verhältnis der trefflichen Eltern — der Vater war Tischler­ meister — zu dem Sohne, dessen Begabung sich früh zeigte, ist ein wunderschönes gewesen. Er hat ihnen nur einen schweren Schmerz bereitet: den seines tragischen vorzeitigen Todes. Wie glücklich schrieb der Sohn, längst nachdem er in Amt und Würden gelangt, wenn er die Ferien, wenn er besonders das Weihnachts­ fest in dem trauten Hause bei den Eltern, mit der geliebten Schwester in der schönen Heimat verleben konnte! In diesem Hause wohnte auch Jakob Etter, der Präsident des Thurgauischen Bezirksgerichtes: er war des Knaben Pate, später sein Vorbild, wol sein Führer zur Jurisprudenz, für die sich in dem Knaben eine frühe Neigung entwickelte. Seinem „väterlichen Freunde und Lehrer" hat er 1879 „in tiefster Dank­ barkeit" seine „Quellen der Bambergensis" gewidmet. Dieser Zug ist typisch für Brunnenmeister. Er gehörte zu den Menschen — sie sollten die Regel bilden und sind doch so selten! —, denen die Dankbarkeit, die Treue der Gesinnung ein Bedürfnis, ein Genuß ist. Wem er sein Herz zugewandt hatte, der durfte sich in allen Lebenslagen auf ihn verlassen. Erklärte er den Eltern schon nach dem Austritt aus der Primärschule: „Ich möchte Jurist werden," so spannten sich schon aus dem Konstanzer Lyceum, das Brunnenmeister mit Aus­ zeichnung durchlief, seine Wünsche höher. „Wenn Ihr die Opfer nicht scheut," sagte er den geliebten Eltern, „so werde ich meiner­ seits meine ganze Kraft einsetzen, um das lockende Ziel eines akademischen Lehrers zu erreichen." Und die Eltern brachten die Opfer freudig und sind dafür reichlich belohnt worden. Denn der Sohn hatte damit seinen wahren Beruf gefunden. Nach Verlassen des Konstanzer Gymnasiums, an dem er die feierliche Abschiedsrede zu halten hatte, ging Brunnenmeister auf die Akademie zu NeufchLtel. Dort eignete er sich besonders die französische Sprache an. Seine anmutige Feinheit der Um­ gangsformen hat er wol schon dorthin mitgenommen. Dann wandte er sich nach Deutschland und studirte in Heidelberg, Göttingen und Leipzig. Den tiefsten Einfluß während der Studien­ zeit dürften Windscheid, Wach, Roscher und dann ich selbst auf ihn gewonnen haben. Später, als er schon Privatdozent in Basel geworden, hat noch Andreas Heusler, den er sehr lieb gewonnen, tiefer auf ihn eingewirkt. Besonders auf dem Gebiete des Zivilprozesses betrachtete er sich gern als dessen Schüler. In dem Verzeichnisse der Teilnehmer an meinem Praktikum finde ich Brunn enmeister im Winter 1875 auf 1876. Seine schriftlichen Arbeiten waren schon damals zum Teil ausgezeichnet.

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Gern hat er sich auch an den Plaidoyers beteiligt, und es be­ durfte keiner großen Prophetengabe, um ihm die Prognose der Beredsamkeit zu stellen. Er ist später ein ausgezeichneter Dozent geworden: er sprach klar, einfach, der Rede vollkommen mächtig, mit feinem Sinne für die Schönheiten der Sprache, überzeugend, weil nach allen Seiten gründlich durchdacht, erwärmend und er­ hebend, weil ihm die Wissenschaft Herzenssache und heilig war. Die schönen, schwungvollen Worte, die er später am 22. Dezember 1888 bei Windscheids 50 jährigem Doktorjubiläum als Dekan der Hallenser Fakultät an den Jubilar gerichtet, haben bei Jedem, der sie hörte, den tiefsten Eindruck hinterlassen. Nun hatten Wach und ich unter dem 23. November 1875 für die Teilnehmer am kriminalistischen Seminar die Preisfrage nach den „Quellen der Bambergensis und der Art ihrer Ver­ wendung" gestellt. Sie wurde das Thema, an dessen Bearbeitung Brunn enmeister sich zum wissenschaftlichen Forscher ausbildete. Sehr rasch arbeitete er sich in den ihm ganz fremden, zum Teil gar nicht leicht zu bewältigenden Quellenapparat ein. Mit der Ge­ wissenhaftigkeit einer gründlichen Natur verband er einen weiten Überblick. Er ließ sich von den Quellen belehren, um sie dann frei zu meistern, und so hat er in verhältnismäßig sehr kurzer Zeit eine sehr gute Arbeit fertig gestellt, die zunächst den Preis erhielt, und die nach einer sorgfältigen Umarbeitung zu einem Musterwerke der deutschen rechtsgeschichtlichen Literatur geworden ist. Als „Die Quellen der Bambergensis. Ein Beitrag zur Ge­ schichte des deutschen Strafrechts" erschienen — die Vorrede datirt vom Jakobitage 1879 —, war der Verfasser kaum 25 Jahre alt. Anderthalb Jahre vorher hatte er die Studienzeit abgeschlossen und in Leipzig am 31. Dezember 1877 mit dem bei uns sehr selten erteilten Prädikate suuuua cum lauäs promovirt. Unschlüssig, wo er sich niederlassen wollte, nahm er nach der Promotion die Stelle eines Hilfsarbeiters an der Bibliothek zu Göttingen an. Michaelis 1878 habilitirte er sich für Strafrecht in Basel. Dort hat er sich außerordentlich wol gefühlt: er erwarb sich die allgemeine Achtung und fand alsbald Beifall bei den Studenten. Als er nach kaum Jahresfrist den Ruf als Nach­ folger Osenbrüggens nach Zürich erhielt, löste er sich schwer von der ihm lieb gewordenen Rheinstadt, und auch dort hätte man ihn gern gehalten. Er ging Ostern 1880 nach Zürich und wurde 1882 durch einen Ruf nach Halle für Deutschland zurück­ gewonnen, dem er ein treuer Sohn geworden ist. Sieben Jahre ist er dann in Halle geblieben, eine für ihn sehr glückliche Zeit! Er wurde ein beliebter Lehrer, hatte be­ sonders großen Erfolg in seinem Praktikum, das er musterhaft

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leitete, stand in den angenehmsten persönlichen Beziehungen zu den Kollegen, und die Nähe von Leipzig ermöglichte ihm, mit den alten Lehrern in der so erwünschten Fühlung zu bleiben. Schon in Zürich (Juni 1881) war er mit wahrer Begeisterung auf meinen Antrag eingetreten, die Bearbeitung des römischen Strafrechts und Strafprozesses für mein Handbuch zu übernehmen. Der strafrechtlichen und der prozessualen Anschauungen völlig mächtig, philologisch gut geschult, in kritischer Behandlung schwieriger Quellen geübt, erschien er als der gegebene Bearbeiter dieses schwierigen Gebietes, nachdem Theodor Mommsen da­ mals abgelehnt hatte, zu seiner ersten Liebe zurückzukehren. Diese römischen Studien haben Brunnenmeister bis an das Ende seines Lebens nicht mehr losgelassen. Aus ihnen ist außer einer eingehenden Kritik von Landsbergs Injuria" seine zweite größere Monographie hervorgewachsen: „Das Tötungs­ verbrechen im altrömischen Recht." Leipzig 1886. Bei ihrer Übersendung schrieb er am 11. März 1886: „Eines werden Sie aus dem Buche ohne weiteres entnehmen können, das nämlich, daß ich auf diesem Gebiete nunmehr heimisch bin, und daß ich mich durch Schwierigkeiten, auch wenn sie von nicht­ juristischer Seite entgegentreten, nicht schrecken lasse. Ich kann wol sagen, ich habe durch das nun vorliegende Buch, das die Lösung einer kleinen, aber, wie Mommsen selbst sagt, recht schwierigen und dornenvollen Frage versucht hat, den Mut und die moralische Überzeugung gewonnen, daß ich auch noch der größeren Arbeit Herr werden werde." Der Verfasser war zu dieser Überzeugung voll berechtigt. Es ist bekannt, welche Fülle von Kontroversen sich an das altrömische Parrizidium knüpfen. Ganz werden sie wol nie erlöschen. Aber die Behandlung des ganzen Problems durch Brunnenmeister ist wieder durchaus mustergültig. Die Annahme, daß Parrizidium ursprünglich die Tötung des Geschlechtsgenossen bedeute, wird zu hoher Wahrscheinlichkeit erhoben —, das Ganze stellt sich als ein ehrenvolles Stück echter, in die Tiefe dringender deutscher Ge­ lehrtenarbeit dar. Und doch ist Brunnenmeisters Hoffnung mit Bezug auf die Bewältigung der ganzen Materie getäuscht worden, und da­ mit leider auch die Hoffnung der deutschen Wissenschaft! In einem Briefe vom 30. Mai 1893 aus Wien hatte er mir geschrieben: „Ich habe über die zwei ersten Perioden (Königszeit und Republik inkl. der zwei ersten Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung) so viel gelesen, gesammelt, exzerpirt und partien­ weise ausgearbeitet, daß mir die Herstellung eines druck-

" Zeitschrift für Rechtsgeschichte XXI, Rom. Abt. S. 265 ff.

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fertigen Manuskripts in diesen Grenzen in kurzer Zeit nicht schwer fallen würde; aber meine Arbeiten hören da auf, wo bei der großen Masse der Quellen die Schwierigkeiten beginnen, bei der Kaiserzeit. Ehe ich mich da nicht einigermaßen zurechtgefunden, darf ich an eine abschließende Redaktion nicht denken." In dem handschriftlichen Nachlasse, den mir die Angehörigen zur Durchsicht zusandten, fand ich zunächst gar nichts zur Sache gehöriges (selbst die Vorarbeiten zu den Tötungsverbrechen fehlten und fehlen), und erst in einer Nachtragssendung stieß ich auf Aus­ führungen, die wol als grundlegende Einleitung zur Geschichte des Strafprozesses gedacht waren, die aber ganz kurz sind und des wissenschaftlichen Apparates gänzlich entbehren. Ob mehr dagewesen und nun verschwunden ist, vermag ich nicht zu sagen; doch dünkt es mir unwahrscheinlich. Den Grund des langsamen Fortschreitens dieser nie vernach­ lässigten Arbeiten enthüllte mir erst der Nachlaß. Ihn bildeten Brunnenmeisters peinliche, fast übergroße Gewissenhaftigkeit bei der Erledigung aller seiner Berufsgeschäfte und der große Um­ fang seiner Vorlesungen. Lasse ich einmal das Pandektenrepeti­ torium, womit er in Basel begann, beiseite, so hat er nicht nur ganz regelmäßig in Basel, Zürich und Halle deutsches Strafrecht, Geschichte desselben und deutsches Strafprozeßrecht gelesen, sondern auch in Zürich den ganzen Zivilprozeß vertreten und diesen Vor­ lesungskreis auch in Halle nicht ganz fallen lassen. An Stelle des deutschen Strafrechts und -Prozesses trat in Wien das österreichische Recht, und dort nahm er auch die Vorlesung über Rechtsphilosophie und ihre Geschichte sowie über Gefängniswesen auf. Kein Semester aber verging, ohne daß den dogmatischen Vorlesungen mindestens ein Übungskolleg, die Exegese der Karolina, das Strafrechts­ praktikum, das Zivilprozeßpraktikum an die Seite gestellt wird. Öfters waren es auch zwei. Und nun zeigt der Nachlaß, welche Sorgfalt Brunnen­ meister auf feine Vorlesungen gewandt hat. Da liegen die Hefte vor in sorgsamster Ausführung — Wort für Wort, wie er zu sprechen gedachte, aber wol nachher nicht gesprochen hat. Da ist jeder Praktikumsarbeit eine besondere Mappe gewidmet: darin finden sich ganz detaillirte Bearbeitungen der Fälle durch den Lehrer selbst, genaueste Literaturnachweise, Verweisungen auf analoge Fälle: eine Unmasse von Zeit und Mühe kostet der ein­ zelne Abend. Aber der Lehrer beherrschte dann seinen Gegen­ stand und die Köpfe seiner Schüler auch vollständig. Insbesondere zu der Vorlesung über Rechtsphilosophie finden sich die um­ fassendsten, zeitraubendsten Vorarbeiten! Und so erzählt uns dieser Nachlaß von der ernsten unablässigen, aber wenig heroortretenden Arbeit eines stillen, sich schwer genügenden Gelehrten. Ihre Früchte

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haben an erster Stelle die Zuhörer Brunnenmeisters ge­ erntet — wol ohne klares Bewußtsein der Fülle von Arbeit, die darauf verwandt worden war. Deucht doch dem deutschen Studenten das Beste stets nur für ihn grade gut genug! Eine große Erregung in dies stille Gelehrtenleben brachte die Berufung nach Wien. Am 24. Juni 1889 war der österreichische Ministerialrat Rittner in Brunnenmeisters Vorlesung zu Halle erschienen und hatte ihn nachmittags aufgefordert, zum nächsten Herbst eine der beiden in Wien erledigten Professuren (der Glaserschen und der Wahlbergschen) zu übernehmen. „Ich muß sagen," schreibt er am 26. Juni: „Wien lockt mich mächtig; aber Deutschland zu verlassen, ist hart. Wäre ich nicht in dem Alter, wo man das Experiment machen kann, nimmer­ mehr! Ich bin in freudiger Stimmung, ohne zu frohlocken!" Freilich schnitt ihm der Gedanke, von dem lieb gewordenen Halle zu scheiden, in die Seele. Aber 35 jährig an so große Stelle berufen zu werden — das ist nichts Kleines. Und als sich die Berufung nach österreichischer Art etwas hinzog, auch Berlin sich bemühte, den Berufenen in Halle festzuhalten, wurde der liebe Freund ganz gegen seine Gepflogenheit erregt bis zu lebhafter Ungeduld, und fast Tag um Tag flogen Briefe und Depeschen zwischen Halle und Leipzig hin und her. Die Berufung ward aber perfekt, und am 18. September 1889 schrieb Brunnen­ meister: „Meine Stunden in Halle sind gezählt, soeben werden meine Sachen nach der Bahn gefahren, ich selbst reise heute 5 Uhr. In wehmütiger Stimmmung blicke ich auf die 7 Jahre meiner Halleschen Wirksamkeit zurück!" Mit dieser Übersiedelung beginnt die Peripetie dieses bisher so glücklichen Lebens. Nicht als wären seine Hoffnungen auf große Wirksamkeit getäuscht worden! Seine Zuhörer zählten nach Hunderten, sein Praktikum gewann steigenden Beifall: ein großer Lehrerfolg ist ihm zweifellos zuteil geworden. Aber er zahlte dafür den teuersten Preis! Den neuen Wiener Professor erwartete eine große Last neuer Arbeit. Er mußte die Kollegien neu ge­ stalten, sich in ein längst veraltetes, wenig erquickliches Strafgesetz­ buch einarbeiten, und eine Fülle von Rigorosen wollte erledigt sein. Bei seiner großen Pflichttreue waren diese Arbeiten für ihn wol anstrengender als für manchen Andern. Das drückte um so schwerer, als ihn schon im letzten Quartal 1889 „seine sonst so solide Gesundheit stellenweise im Stich ließ" (Brief aus Wien vom 30. Dezember 1889: eine schwere Influenza hatte ihn am Besuche der geliebten Heimat gehindert). Die Klage wiederholt sich fast wörtlich ein halbes Jahr später (im Juli 1890), und in den Osterferien 1890 lag er schon infolge von Überanstrengung tief deprimirt darnieder —, und doch „wollte ich in der Probezeit

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nicht krank sein. Das alles hat mich sehr mitgenommen." Im Dezember 1890 plagt ihn ein Halsleiden (Pharyngitis), und wieder hält ihn eine heftige Erkältung in Wien fest. Nach Ostern 1891 aus Abazzia nach Wien zurückgekehrt, fühlte er sich zu elend, um seine Borlesungen zu beginnen, und mußte um Urlaub einkommen. Offenbar hatte sich eine schwere Krankheit langsam vorbereitet, und diese brach mit furchtbarer Heftigkeit im Mai 1891 in Gestatt einer schweren, sein Leben tief gefährdenden akuten Gehirnkrank­ heit aus. Bon der Zeit nach dem heftigsten Sturme schrieb er später: „Ich selbst fühlte die Gefahr sehr wol. Ich vermochte meinen Puls nicht mehr zu finden und meine Gedanken nur mit Mühe zu einem kurzen Abendgebet zu sammeln." Aber er genas und konnte als Rekonvaleszent im Winter 1891/92 in Meran seine wissenschaftlichen Arbeiten wieder aufnehmen. Dort hat er seinen „Grundriß zur Vorlesung über österreichisches Strafprozeßrecht" mit seinen klaren und lichtvollen Beilagen begonnen, der freilich erst 1893 in Wien erschienen ist. Er schrieb unter dem 29. Dezember 1891 von Meran: „Ich könnte wie seiner­ zeit Gambetta sagen : ostts »NUSS m'g, Ports mallwur, j'sl üLts ä'sn sortir; aber ich will nicht murren: ich fühle mich jetzt geistig, und körperlich so wol und frisch, daß ich dankbaren Herzens gegen die Vorsehung und guten Mutes ins neue Jahr hinübertreten darf." Voll Bewunderung studirte er damals auch Gold­ schmidts kapitale Universalgeschichte des Handelsrechts. Im nächsten Frühjahr konnte er die Vorlesungen wieder aufnehmen. Am 30. Mai 1893 schreibt er : „Ich habe diesen Winter, trotz anstrengender Berufsarbeit, alle die Fäden der Arbeit (über römisches Strafrecht), die ich bei meiner Erkrankung habe fallen lasten müssen, wieder ausgenommen. Aber jetzt, wo ich mich mit allen Details wieder vertraut fühle, droht eine neue Unterbrechung. Bitte, leihen Sie mir Ihren Rat." Es war an ihn die Frage gestellt worden, ob er das arbeitsreiche und zeitraubende Dekanat der Fakultät übernehmen wolle. Seine Gesundheit erlaubte ihm das, so durste er sich nicht weigern : mit allen gegen seine eigene Stimme ward er gewählt, und er hat das Amt bis Ende des Sommers 1894 leicht und mühelos verwaltet. Im Frühjahr 1894 hatten wir uns in Meran getroffen. Er sah blühend aus, war aber bei aller geistigen Frische kurzatmig, ohne daß ich einen beunruhigenden Eindruck gehabt hätte. Wir sind dann zusammen auf den herrlichen Mendelpaß ausgeflogen und haben dort am 6. April voneinander Abschied genommen. Keiner von uns ahnte, daß wir uns nie wieder sehen sollten! Schon im Juli 1895 brach er, nachdem er sich mit beispielloser Energie aufrechterhalten und rücksichtslos seine Pflicht getan hatte, zusammen. Bin ding, Strafrechtliche und strafprozessuale Abhandlungen.

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Erste Abteilung.

Strafrecht.

So fallen auf die Wiener Zeit tiefe Schatten —, aber nicht nur die, welche die Krankheit warf. Brunnenmeister hatte sich in Wien besonders an Exner, den „Lebenskünstler", wie er ihn so schön genannt hat, an Demelius und an Grünhut angeschlossen. Mit seinem Fachgenossen Lam masch stand er auf gutem Fuße, aber zu einem Freundschaftsverhältnis waren beide Naturen menschlich und wissenschaftlich doch wol zu verschieden! Da mußte ihn der doppelte Schmerz treffen, erst den ganz vor­ trefflichen Demelius und einige Jahre später auch den liebens­ würdigen Exner — einen in jeder Beziehung so woltuenden Freund — zu verlieren. In dem Brief vom 29. Dezember 1891 aus Meran schreibt er; „Daß ich in Wien meinen Freund und Kollegen Demelius nicht wiederfinden soll, schmerzt mich tief... Er war ein vortrefflicher Charakter .. . Während meiner Krank­ heit war er und seine Frau für meine Schwester und mich von solcher Güte und zarter Teilnahme, daß dafür kein Dank zu groß ist." Und in dem Briefe vom 29. Dezember 1894 klagt er: „Um eine Frucht meines Dekanates, nämlich ein wirklich warmes Ver­ hältnis zu Exner, das mich zu freudiger Hoffnung berechtigte, bin ich wenige Tage, nachdem ich die Geschäfte übergeben hatte, durch den jähen Tod des Trefflichen gekommen. Es ist ein Ver­ hängnis, daß grade die beiden Männer, an denen ich einen festen Rückhalt fand, in kurzer Aufeinanderfolge sterben mußten." Die Nachricht von Exners Tode hatte ihn in der Sommerfrische zu Vulpera getroffen und ihn wie uns alle aufs tiefste erschüttert. „Er konnte sich gar nicht beruhigen," meldet die Schwester, die auch damals bei ihm weilte. Bald sollte er selbst der dritte stille Mann sein! Wenden wir unsere Augen von dem wehmütigen Ausgange des Mannes nochmals auf seine Gestalt in ihrer ungebrochenen Kraft — mit dem schönen Kopfe, den Hellen Augen, die so klug und so herzlich blickten —, so sehen sie in Emil Brunnen­ meister den echten deutschen Gelehrten und Lehrer, wie er sein soll. Auch ihn hatte die Wissenschaft geadelt. Zugleich stolz und demütig hat er sie in Wort und Schrift vertreten. Alle Unlauter­ keit blieb ihm fern. Sein Blick war weit: ungewöhnlich tüchtig als Historiker weilte er gern bei dem Rechte der Vergangenheit; als geschulter Dogmatiker beherrschte er vollständig das der Gegen­ wart, und als warmer Freund fortschreitender Gerechtigkeit interessirten ihn alle Ideen einer gesunden Reform. Nichts ist un­ richtiger, als ihn einen Formalisten nennen zu wollen. Nur war er viel zu sicher in den juristischen Methoden, als daß er die Be­ trachtungsweisen seiner geliebten Wissenschaft an den Stellen ver­ leugnet hätte, an denen eine dilletantisirende Modeströmung dies vom deutschen Juristen verlangt. Er war eben auch als Jurist

XI. Anhang. 3. Emil Brunnenmeister 's 22. Januar 1896.

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ein Charakter.— maßvoll aber fest —, von aller Koketterie mit der Mode frei. Feindlich stand er aller Ungründlichkeit, allem Haschen nach Schein und der sich neuerdings so widerwärtig vor­ drängenden, die Gegenwart schmähenden, eine unmögliche Zukunft verhimmelnden Projektenmacherei gegenüber. Die Arbeit äs IsZs ksrsnäs. bedurfte nach seiner richtigen Überzeugung des vollen Verständnisses und der vollen Liebe zum schon gewordenen Rechte als ihrer unentbehrlichen Grundlage. Er glaubte an einen sichern, steten, aber ganz allmählichen Fortschritt. Mit feinem Lächeln ironisirte er die Torheiten derer, die von einem völligen Umsturz auf strafrechtlichem Gebiete faselten. Sah er, daß ein Gelehrter zu unwürdigen Mitteln, etwa zur Reklame oder zur Schmähung griff, so wandte er sich geekelt ab, und wenn es ihm nötig schien, verschritt auch feine sonst so friedfertige Natur zur mannhaften Zurückweisung solchen Unwesens. In dem schwersten Kampfe aber, in den der Freund fried­ lichen Daseins verwickelt wurde, in dem Kampfe mit seinem Ge­ schick, hat sich der Mann zum Helden entwickelt, und als Sieger ist er gestorben. An einem schweren, trüben Abende seiner Leidenszeit zitirte er Goethe : „Machet nicht viel Federlesens — Schreibt auf meinen Leichenstein: Dieser ist ein Mensch gewesen; Und Mensch sein, heißt ein Kämpfer sein."

Er war aber nicht nur ein Mensch — er war der edlen Menschen Einer!

Leipzig, den 1. Januar 1897.

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