Stilwandlungen und Irrungen in den angewandten Künsten [Reprint 2019 ed.] 9783486744262, 9783486744255


188 30 5MB

German Pages 97 [100] Year 1916

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Stilwandlungen
II. Stilforderungen
III. Stilirrungen
Schlußwort
Recommend Papers

Stilwandlungen und Irrungen in den angewandten Künsten [Reprint 2019 ed.]
 9783486744262, 9783486744255

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Stilwanbiungen und Arrungen tn den

angewandten Ikünlten

Von

1karl G. Ibartmann

flbftncben und Lerltn 1916 Druck und Verlag von N.Vldenbourg

Vorwort. Der große Krieg hat, wenn nicht alle Anzeichen trügen, auch hinter die Entwicklung der modernen Kunst einen Abschlußstrich gesetzt. Über ihre Ergebnisse wurde in einer ganzen Reihe kritischer Auslassungen eine Bilanz zu ziehen versucht. Sie lautet keineswegs günstig. Selbst in solche Kreise, die sich vorbehaltslos auf die Seite der modernen Bewegung gestellt hatten, ist all­ mählich die Erkenntnis eingedrungen, daß wir mit unserer heutigen Kunst, als Ganzes genommen, von der Er­ langung eines einheitlichen und stetigen, unserer Eigen­ art und unserm Kulturzustand entsprechenden Aus­ drucks weiter entfernt sind als je einmal, und daß wir deshalb auf dem bisherigen Wege nicht weiter gehen dürfen. Wenn hierin jemand noch einen Zweifel hätte Hegen können, so müßte die Kölner Werkbundtagung dieselben beseitigt haben. Fast überall macht sich eine starke Sehnsucht bemerkbar, herauszukommen aus der Verworrenheit und Zerstreutheit zu einer klaren, all­ gemeinverständlichen Kunstsprache, aus der raschen Ver­ gänglichkeit der Tageserfolge zu künstlerischen Dauer­ werten. Die Kunstkritik scheint, so reichlich sie auch eingesetzt Hat, über das, was nunmehr zu geschehen hat, nahezu

IV

Vorwort.

erschöpft zu sein. Mit mehr oder weniger geistreichen Andeutungen über den Dualismus in der deutschen Runft, über den Zwiespalt philosophischer Zeitprobleme u. dgl. können wir nichts ansangen. Es ist höchste Zeit, die Grundftage aufzuwerfen, was wir zu tun haben, um wieder zu einem einheitlichen, unserm Volkstum entsprechenden Kunstausdruck zu gelangen; es ist höchste Zeit, diese Frage den an der Entwicklung unserer Gemeinschaststultur und Kunstpflege interessierten Kreisen in das Licht eigenen Urteils zu stellen, wenn die hoch­ gespannten nationalen Stimmungen unserer Zeit nicht ungenutzt vorüber gehen sollen. Das Nächstliegende und für den Erfolg Wichtigste wäre nun, sich darüber klar zu werden, aus welchen Ursachen die fortgesetzten Stilwandlungen hervorge­ gangen sind und was an ihnen sich als irrig erwiesen hat. Hierin zu festen, das Wesen der Sache treffenden Auf­ fassungen zu gelangen, ist nicht nur eine Angelegenheit der Künstler, sondern aller. Langjährige, eingehende Beschäftigung mit Kunst-, Stil- und Zeitftagen, Beobachtungen im Wirtschafts­ leben und Erfahrungen im technischen und gewerb­ lichen Schulwesen legen es mir nahe, an der Lösung dieser Aufgabe mitzuwirken durch die Bearbeitung eines aus weite Verbreitung berechneten und deshalb in engem Rahmen gehaltenen Buches, welches die Wand­ lungen und Irrungen in den angewandten Künsten darlegen soll. Die Behandlung der in ihm aufgeworfenen Fragen geht nicht lediglich vom kunstästhetischen, sondern haupt­ sächlich vom nationalen und kunsterzieherischen Stand­ punkt aus. Die Darbietung des Stoffes soll in größter Sachlichkeit erfolgen. Das Buch will vor allem über­ zeugen, und zwar nicht nur die ausübenden Künstler,

V

Vorwort.

sondern auch die Kritiker und die Kunstlehrer, unter diesen nicht zuletzt die Lehrer an den gewerblichen Fachund Fortbildungsschulen ländlicher Bezirke. Wohl jedem ernsten Kunstfreund ist es ein Anliegen, nach Möglich­ keit dazu beizutragen, daß der auch für den Werdegang der Kunst Deutschlands große geschichtliche Moment nicht verpaßt werde durch ein kleines Geschlecht, und daß nicht zu unserm Schaden durch Unterlassung eine Ent­ wicklung gehemmt werde, die kommen muß, wenn das Deutschtum einen seiner Eigenart entsprechenden Kunst­ ausdruck wiedergewinnen soll. Es ist eine durch und durch nationale Tat, die dem Verfasser mit der Veranlassung zur Herausgabe dieses Buches, mit seinem Inhalt und seinen Zielen vorschwebt. Wer immer die darin niedergelegten Gedankengänge vom Gesichtspunkt unserer nationalen Gegenwarts­ aufgaben aufmerksam verfolgt und dieselben unbefangen aus ihre Richtigkeit nachprüft, darf des warmen Dankes des Verfassers sicher sein. Stuttgart, im September 1916.

Karl O. Hartmann.

Inhaltsverzeichnis. I. Sttlwandluuge«. Allgemeine Gmndlagen S. 1. gaben und Bestrebungen S. 4. ahmung S. 5.

Neue Verhältnisse, neue Auf­

Widerspruch gegen die Stitnach-

Entwicklung des modernen Stils S. 6.

züge des modernen Stils S. 7.

Grund­

Verbreitung des modemen Stils

S. 9. Ergebnisse des Jugendstils S. 11. Folgen der Nachahmung S. 12. Änderung der Forderungen S. 13. Ver Stil des Puris­

mus und seine Ergebnisse S. 14. Annäherung an den Biedermeier­ stil S. 16. Weitere Änderung der Grundforderungen S. 18. An­ näherung an den Barockstil S. 21.

Folgen der Stilwandlungen

S. 23.

II. Sttlforderungen. Wirkungen des Weltkriegs, Sehnsucht nach einer nationalen

Einheitstunst S. 29.

Forderung von künstlerischen Vauerwerten,

Abhängigkeit derselben vom Stil S. 31.

Wesen des Stils S. 32.

Volkstum und Stilbildung S. 32. Einfluß der Erziehung und der Überlieferung auf die Stilblldung S. 35. Historische Stile S. 37. Einflüsse der Gegenwart auf die Stilbildung S. 37. Entwicklung des geitstils S. 39. Ausprägung der Künstlerindividualität S. 41.

Stellung und Grenzen der

Individualität in der Kunst

S. 42.

Stilbildung und Kunstwitte S. 44. Persönlicher Einschlag und Eigen­

stil S. 46. Bedeutung des Eigenstils S. 47. Stll des Volkes S. 48.

Forderungen des geitstils S. 49.

III. Stilirrungen. Begriff der Stilirrungen S. 51.

Kennzeichen der Stilirrungen

S. 55. Ursachen der Stilirrungen S. 57. Abwendung von der Überlieferung S. 58. Folgen der Abwendung von der überliefe-

Inhaltsverzeichnis.

VIII rung S. 61.

Aussuchen des Gegensatzes zur Überlieferung S. 63.

Folgen des Gegensatzes zur Überlieferung S. 65. Irrigen S. 68.

Nichterkennen des

Die Forderungen der Zweckmäßigkeit, Material­

gerechtigkeit und technisch richtigen Behandlung und das künstlerische Schassen S. 69.

Unzulänglichkeit der technischen Forderungen S. 71.

Die moderne Kunstkritik und deren Wirkungen S. 73.

der Neuerungssucht S. 76.

mus S. 80.

Individualismus und Autoritäten S. 83.

nahme des Volkes zum Individualismus S. 84. Künstler und Volk S. 85.

Wirkungen

Wirkungen des modernen Individualis­ Stellung­

Entfremdung von

Herausbildung des Nationalen als Haupt­

aufgabe der angewandten Künste S. 86.

Schlußwort S. 88.

I. Stilwandlungen. Die Anfänge der Stilrichtung, in der die ange­ wandte Kunst unserer Zeit sich durchweg betätigt, reichen zurück ins 19. Jahrhundert. Gegen Ende desselben kamen mit zunehmender Stärke Neugestaltungsbestre­ bungen aus dem gesamten Gebiete der Kunst zum Aus­ druck, die bald zu einer allgemeinen Bewegung im Sinne eines scharfen Gegensatzes zu den seitherigen künstle­ rischen Anschauungen führten. Ihre tieferen Ursachen sind in jenen gewaltigen Umwälzungen im Geistesleben der mitteleuropäischen Völker zu suchen, die sich einige Jahrzehnte hindurch in der Literatur vorbereiteten. Schon seit Ausgang der fünfziger Jahre begannen neue Gedanken, neue Weltanschauungen die streng ge­ schichtliche Richtung der Literatur kräftig zu beeinflussen. Schopenhauers Philosophie, insbesondere sein Wert: „Die Welt als Wille und Vorstellung" drang um diese Zeit mit elementarer Macht in die weitesten Kreise der Gebildeten. Bald darnach folgte Nietzsche mit seiner Lehre von der möglichsten Herausbildung des „Ichs" und des Willens zur Macht, vom Herrenrecht des Über­ menschen. In Frankreich stellte sich Zola mit einem glänzenden Vortrag seiner Gedanken in den Dienst des sozialen Problems. Ähnliche Stimmen tönten aus Hartmann. StUwan-lungen. 1

2

Stilwandlungen.

Norwegen in Ibsens Bühnendichtungen und in be­ sonders lauter Weise aus Rußland in Tolstoj's Werken entgegen. In dem rücksichtslosen, eigenwilligen Dorwärtsdrängen der von den neuen Ideen entfachten Köpfe, in dem Ringen nach Befreiung von allen Fesseln, in der Ableugnung der Überlieferung und der Aufleh­ nung gegen die bis dahin geltenden Autoritäten ent­ brannte ein heißer Kampf der Geister. Dies geschah zu einer Zeit, in der sich auf dem gesamten wissenschaft­ lichen, technischen und gesellschaftlichen Gebiete grund­ stürzende Umwandlungen vollzogen und das Gefühl der Erhabenheit über die seitherigen Anschauungen in hohem Maße die Wissenschaften und Techniken erfüllte. Immer stärker erscholl der Rus, in der Literatur wie auch in den bildenden Rünftcn Neues an die Stelle der alten zu fällenden Bäume zu setzen. Es war der Re­ alismus mit seiner vornehmlich aus der Wirklichkeit und der sinnlichen Wahrnehmung schöpfenden Betrach­ tungsweise und in engem Bunde mit ihm der Naturalis­ mus und die von ihm geforderte Ausübung der Wissen­ schaften und Rünfte nicht nach erlernten Regeln, sondern nach natürlichen Anlagen, welcher im Widerstreit der Meinungen allmählich über den Idealismus den Sieg davontrug. In den bildenden Ränften trat diese realistische und naturalistische Geistesrichtung mit einer Bestimmt­ heit und Schärfe auf, wie es kaum je einmal der Fall war. Am ftühesten äußerte sie sich in der Malerei und Bildnerei. In der Malerei hatten ihr die Fran­ zosen Millet und Manet, in der Bildnerei der Belgier Meunier die Bahn gebrochen; eine Schar hochstrebender deutscher Rünftter ging die gleichen Wege. In der Bau­ kunst, die ihrer ganzen Natur nach zur Gewinnung neuer Ausdrucksformen eines längeren Zeitraumes be-

Allgemein« Grundlagen.

3

darf, kam der neue Geist später zur Erscheinung. Er äußerte sich aber dann mit fast noch größerer Entschieden­ heit, als in den beiden Schwesterkünsten. Schon seit einigen Jahrzehnten hatten ihm Änderungen in den Aufgaben, in den äußeren Verhältnissen und Bedin­ gungen der Baukunst den Boden vorbereitet und die Grundlagen für deren Entwicklung so umgestaltet, daß sie schon von sich aus zum Verlassen der seither eingehaltenen Geleise drängte. Vie wichtigsten Schauplätze künstlerischer Betäti­ gung, die Städte, hatten im letzten Viertel des 19. Jahr­ hunderts ihre ganze Erscheinung verändert. Der fabel­ hafte Aufschwung der Industrie und des diesem parallel sich entwickelnden Handels und der fortgesetzt steigende Verkehr machten die Erbauung riesiger, oft auf ganze Stadtteile ausgedehnter Fabrikanlagen, ungeheuerer Bahnhöfe, mächtiger Postgebäude und großartiger, für Hunderte von Reisenden berechneter Gasthöfe zur unabweislichen Notwendigkeit. Die Gebäude für den Handel, die Börsen und Danken, verlangten eine ihre Bedeutung in der Handelswelt repräsentierende Ge­ staltung. Ganz neue Anforderungen an die Anlage und Raumbildung stellten die großen Warenhäuser und Verkaufshallen aller Art. Die starke Zentralisation der Dolksmassen in den Städten und die gesellschaftlichen Zustände verlangten Bauwerke für große Menschen­ ansammlungen und für deren Unterhaltung und Er­ holung wie Vereinshäuser, Musik-, Wirtschasts-, Kaffee­ hallen u. dgl., die Befriedigung der in den breitesten Schichten außerordentlich gesteigerten Bildungsbedürf­ nisse Schulhäuser aller Art in ganz außerordentlichen Abmessungen und mit den höchsten hygienischen An­ sprüchen. Hierzu kommen noch weitere, allmählich eben­ falls ins Riesige gewachsene Gebäude der staatlichen

4

StUwandlungen.

und Gemeindeverwaltungen, für die Öffentlichkeit un­ bas Gemeinwohl. Ts lag im sozialen und demokratischen Geiste der Zeit, wenn sich das Interesse der Baumeister nunmehr auch in einem früher ungekannten Matze dem bürgerlichen Wohnhaus zuwendete. Die neuen Ausgaben führten von selbst zu neuen Methoden für ihre Lösung. Die vom IndusMalismus und Egoismus stark geförderte materialistische Denkungsweise drängte zu äußerster Ausnutzung von Raum, Zeit und technischen Mitteln. Unter diesen war es hauptsächlich der neuzeitliche Eisenbetonbau, der eine außerordentliche Steigerung der Tragfähigkeit der Stützen ermöglichte. Er brachte ein neues statisches Kräfteverhältnis, das auch die ästhetischen Forderungen der Baukunst von Grund aus umänderte. Dazu kam die fast unübersehbare Bereicherung der Materialien, wie sie von der aus dem Dollen des Weltverkehrs schöpfen­ den, rastlos vorwärtsschreitenden Industrie in zahl­ losen gewerblichen Erzeugnissen dargeboten wurde. Diese zum Teil tieseinschneidenden Änderungen in den Aus­ gaben, in den Grundlagen und Bedingungen der Bau­ kunst muhten von selbst zu Neuforderungen im künstle­ rischen Ausdruck führen. Ihre erste Folgeerscheinung war die Erkenntnis von der Unzulänglichkeit des bis jetzt hauptsächlich verwendeten Formenkreises der Hochrenaissance. Die schon von Semper mit weitausschauendem Blick erhobene Forde­ rung: „Die Lösung der modernen Aufgabe soll aus den Prämissen, wie sie die Gegenwart gibt, frei heraus entwickelt werden", setzte sich in die Tat um. Aber nicht im Sinne Sempers. Dieser wollte die Aufgaben lösen „mit Berücksichtigung jener traditionellen Formen, die sich Jahrtausende hindurch als unumstößlich wahre Aus­ drücke und Typen gewisser räumlich und struktivformeller

Neue Aufgaben und Bestrebungen.

5

Begriffe ausgebildet und bewährt haben". Gerade gegen diese lehnte man sich nunmehr auf. Der Wille zu eigener, gänzlich unbeeinflußter künstlerischer Gestal­ tung äußerte sich zunächst in einem scharfen Wider­ spruch gegen die fernere Verwendung der historischen Stilformen. Dieser Widerspruch, an sich eine Folgerung der vorausgegangenen tiefeinschneiden­ den Veränderungen im Geistesleben der Völker, wurde der ursprüngliche und am zähesten sestgehaltene Beweggrund der modernen Kunst. Er äußerte sich zunächst in einem heftigen literarischen Kampf mit den konservativ gebliebenen Kräften des künstlerischen Schaffens. Seine Anhängerschaft wuchs. Eine Reihe von Zeitschriften stellte sich allmählich in seinen Dienst. Um die Mitte der 90 er Jahre setzte er sich, wenn auch noch vereinzelt, um in die Tat. Sein Betätigungsfeld lag aber zunächst weniger in der Baukunst, in der man sich noch in den Mitteln zu sehr gebunden sah, als in dem ein freieres Schalten zulassenden Kunstgewerbe, nament­ lich in jenen Zweigen desselben, deren Gesamtheit man die neue Bezeichnung „Raumkunst gab. Sie umfaßte von nun an alle auf die innere Ausstattung sich beziehen­ den kunstgewerblichen Fachgebiete. Unter diesen nahm die Schreinerkunst die bevorzugteste und wichtigste Stel­ lung ein. An ihr bildete sich auch am klarsten und an­ schaulichsten jene Kunstweise aus, die nunmehr als „moderner Stil" ins Leben trat. Unter den frühesten in Deutschland gemachten Versuchen, die im Gegensatz zu dem Alten auftauchenden neuen Ideen in die Tat umzusetzen, haben die von Groß­ herzog Ernst Ludwig von Hessen in seinem Reuen Palais und zum Teil auch im Residenzschlosse zu Darmstadt ausgangs der 90 er Jahre eingerichteten neuen Ge­ mächer sowohl von den Anhängern wie von den Gegnern

Stilwand lungrn.

6 der

modemen Stllbewegung am meisten Beachtung

gefunden. Der kunstsinnige junge Fürst hatte sich von Anfang an al» eifriger Förderer auf deren Seite gestellt. Er berief eine Anzahl von Rünftkrn, die sich in den

Vordergrund

der

Bewegung

neuen

gestellt

hatten,

nach Darmstadt. Ls entstand dort die Darmstädter Künstlerkolonie, die durch mancherlei Dergünsttgung in den Stand gesetzt wurde, frei zu schaffen, nach eigenen künstlerischen Eingebungen, ohne Rücksicht auf die Wünsche

und den Geschmack de» taufenden Publikum». Im Jahre 1901 trat dieselbe auf ihrer Ausstellung auf der Mathilden-

höhe, die ihre Urheber selbst al» „ein Dokument deutscher Runft" bezeichneten, an die Öffentlichkeit. Sie erregte

große» Aufsehen; sie wurde gewissermaßen zum Geburts­ akt eine» neuen, nunmehr auch die Werke der Baukunst umfassenden Stil», de» Darmstädter „modernen Stil»",

den man nach kurzer Zeit allgemein mit dem Namen

„Jugendstil" belegte.

Wenn man seine Erscheinungsformen mit prüfen­ dem Auge darnach sichtet, inwiefern in ihnen ein Streben

nach neuer, ureigener Kunst zum Ausdruck kommt, so ergibt sich al» gemeinsamer Zug eigentlich nur eine bestimmt

ausgesprochene

Forderung,

diejenige

näm­

lich, daß alle Gebilde der idealen Nützlichteltvform möglichst nahezubringen sind, also im höchsten Sinne

zweckmäßig sein sollen.

Die Zweckmäßigkeit müsse so­

wohl der Gesamterscheinung der baulichen und kunst­ gewerblichen Schöpfungen, wie auch allen ihren Glie­ dern sich aufprägen, wenn dieselben eine auch im ästheti­

schen

Sinne

befriedigende

Wirkung

auȟben

sollen.

Denn die Schönheit liege in erster Linie in der inneren Wahrhaftigkeit de» künstlerischen Organismus, an dem

jeder einzelne Teil eine bestimmte Funktion zu über­ nehmen und zum Ausdruck zu bringen habe.

Damit

Grunbzüge des Jugendstils.

7

gewann die Konstruktion eine für die Formengestaltung grundlegende Bedeutung. Sie wurde als maßgebend dieser vorangestellt. Die Forderung der inneren Wahr­ haftigkeit, der Zweckmäßigkeit, galt aber auch hinsicht­ lich der Wahl und Ausnutzung des Materials. Um sie in bezug auf diese zu erfüllen, müsse der entwerfende Künstler eine gründliche Kenntnis der Materialeigen­ schaften sich aneignen, die eine ihnen entsprechende sachliche Behandlung sicherstelle. Mit besonderem Nach­ druck wurde unter Betonung dieser Forderung auf die schweren Versündigungen vieler Architekten des 19. Jahr­ hunderts hingewiesen, die bei Nachahmung der Kunst der Alten bisweilen zu den gewagtesten, ost rein auf Täuschung berechneten Mitteln griffen und nicht selten dem verwendeten Material mit Hilfe der Maschine die widernatürlichsten Formen und Farben aufpreßten. Die Form müsse nunmehr mit Folgerichtigkeit aus der Eigenart der Materialien und einer dieser entsprechenden Werkzeugbehandlung hervorgehen. Die Handarbeit, die schon deshalb den Vorzug verdiene, weil nur sie die Reize persönlichen Schaffens trage, sei wieder zu Ehren zu bringen; die Maschine dürfe nur da eingreifen, wo sie eine dem Wesen des Materials entsprechende Her­ stellungsart der gewollten Form verbürge. Alle Fort­ schritte der Technik habe sich die Raumkunst anzueignen, sofern sie Mittel für eine verständliche, neuzeitliche Aus­ drucksweise biete. Aus neuen Materialien seien neue, in deren natürlicher Erscheinung, namentlich auch in ihrer Farbe liegende Schönheitewerte zu erschließen. Die Farbe sei überhaupt als wichtiges, Harmonie und Stim­ mung erzeugendes Ausdrucksmittel in reichem Maße in den Dienst der modernen Raumkunst zu stellen. Da­ gegen müsse das Ornament, wenn es nicht ganz ent­ behrt werden könne, zurückweichen hinter der sachlichen

8

StUwandlungen.

Befolgung der technischen Gebote und insbesondere hinter den in den Materialien selbst liegenden äschetischen Wirkungen. Diese Forderungen waren nicht neu; Semper hatte sie schon erhoben und eingehend begründet, desgleichen Ruskin; William Morris, der von Hause aus durchaus Gotik« war, hatte sie 1859 bis 1861 seinem eigenen Haufe in Bexley Heath in England und seinen bahn­ brechenden kunstgewerblichen Arbeiten zugrunde gelegt und damit eine völlige Reform des englischen Runftgewerbes herbeigeführt. Die Kunstauffassung der in der vordersten Reihe der modernen Bewegung stehenden Künstler unterschied sich von derjenigen der eben ge­ nannten Künstler wesentlich dadurch, dah die Modernen diese Grundsätze erfüllen wollten unter möglichstem oder gänzlichem Ausschluh jeder historischen Stilsorm. Rur die eine Forderung wurde von ihnen als bindendes Stilgesetz anerkannt, daß die Formengestaltung und die ganze Ausstattung im höchsten Sinne dem Zweck (Gebrauchszweck), dem Material und der Technik zu entsprechen habe. Im übrigen sollten die Künstler völlig frei sein — frei im weitesten Sinne des Wortes —, Neues schaffen und in diesem ihre Individualität voll zur Geltung bringen. Kaum je einmal hat eine von wenigen Persönlich­ keiten erzeugte Kunstweise so rasche und ausgedehnte Verbreitung gefunden, wie die des Jugendstils. Sie war in der Tat, namentlich in den Werken des feinsinni­ gen, leider zu früh verstorbenen Patriz Huber, eine reiz­ volle Blüte rein individualistischen Schaffens. Und dieses Schaffen trug so, wie es sich in Darmstadt auf v«hältnismäßig eng begrenztem Raum darbot, viele Züge folgerichtigen Denkens an sich, wenigstens in bezug auf die von den Künstlern vorgeführten Werke. Fast

alles, was sie in ihren Häusern im einzelnen zur Schau stellten, hatte in der Architektur, der Innendekoration, der Ausstattung und dem Zubehör die zu den Beleuchtungs­ körpern, Tischgeräten und Bettbezügen herab ein ein­ heitliches Gepräge, einheitlich insofern, als alles die gleiche Zielstrebigkeit aussprach. Und es war auch alles eigenartig, alles neu oder machte in dieser Zusammen­ stellung und Verwendungsart völlig den Eindruck des noch nicht Dagewesenen. In ihrem Gesamteindruck wurde die Darmstädter Ausstellung von den begeistertsten Vertretern der modernen Bewegung als eine künstlerische Großtat gepriesen. Aber auch fernerstehende, ruhiger urteilende Köpfe sahen in ihr die Offenbarung eines neuen Kunstgeistes. Das Vorgehen der Künstlerkolonie in Darmstadt und der ihr zuteil gewordene Erfolg gab auch den an andern Plätzen Deutschlands gleichzeitig und in gleicher Richtung hervorgetretenen Bestrebungen einen mäch­ tigen Antrieb. So waren unter anderen in München, Dresden und Berlin Mittel- und Ausgangspunkte für freies, den historischen Stilen entsagendes, rein individuell sich ausprägendes Schaffen in der Architektur, Raum­ kunst und dem Kunstgewerbe entstanden, die wieder ihre eigenen Kreise zogen und sich gegenseitig in eifrigem Wettbewerb befruchteten. Den Darmstädtern siel aber, wenigstens für die Anfangsstusen der neuen künstlerischen Entwicklung, die Führerrolle zu. Der große Erfolg der Darmstädter Künstler lag sicherlich nicht oder jedenfalls nicht in erster Linie an der Überzeugungs- und Durchschlagskraft der von ihnen entwickelten künstlerischen Gedanken. Ihnen kam einer­ seits die Neigung der gebildeten und besitzenden Kreise zur Gegnerschaft gegen das Hergebrachte zu Hilfe, namentlich gegen die endlosen Wiederholungen des

10

Stilwandlungen.

Formenkreises der Renaissance, der in den Straßenbildern und in den Wohnungsausstattungen durch die unkünstlerische, geistlose und oft ganz übel angebrachte Nachahmung eine Langeweile ohne gleichen hervorge­ rufen und an dessen ewigem Lisenen- und Leisten­ kram man sich gründlich abgesehen hatte. Anderseits war es der unmittelbare Anreiz des Neuen, mit dem die Darmstädter Künstler ihre überraschenden und weit­ greifenden Wirkungen erzielten. Wenn der Hegelsche Satz, daß alle Daseinsformen die Tendenz haben, in ihr Gegenteil umzuschlagen, ganz allgemein in dem Bestand dessen, was jeweils als „Neues" anzusprechen ist, seine überzeugendste Be­ stätigung findet, so gab das weitere Schicksal des Jugend­ stils hierfür ein treffendes Beispiel. Es darf nicht ohne weiteres angenommen werden, daß die Mitglieder der Darmstädter Künstlerkolvnie nur Neues, um seiner selbst willen, schaffen wollten. Wenn man sich näher mit ihren Persönlichkeiten und ihren Zielen vertraut macht, so mutz man ihnen zuerkennen, daß ihnen erheb­ lich weitergehende Ziele vorschwebten, daß es ihnen vor allem um ein freies, um ein rein persönliches Schaffen zu tun war. Ihre Mit- und Nachstrebenden tonnten aber denjenigen Teil der künstlerischen Erscheinungen, der eben aus dem rein Persönlichen der Darmstädter Künstler hervorging, nicht oder nicht vollinhaltlich nach­ empfinden und jedenfalls die aus ihm entspringende treibende Kraft für das künstlerische Gestalten sich nicht zu eigen machen. Sie sahen nur das Neue, sahen in diesem die Ursache für den Beifall des großen Publikums und für die so deutlich hervorgetretenen künstlerischen Erfolge. Der Jugendstil wurde von ihnen als gleich­ bedeutend erachtet mit dem Inbegriff des Neuen. Da­ mit widerfuhr ihm auch das Verhängnis, das allem dem-

Ergebnisse de» Jugendstil».

11

fertigen auf dem Fuße folgt, was auf den Reiz der Neu­ heit berechnet ist, der raschen Vergänglichkeit und dem Verfallen ins Ungereimte, ins Lächerliche. Das Publikum, das dem Neuen nachjagt, ist be­ kanntlich — es liegt das im Wesen der Wirkung des Neuen — ein höchst unbeständiges und untreues. Reine andere Runftweise hat dies mehr erfahren müssen, als die des Jugendstils. Raum recht ins Leben gerufen, wurde dieser als eine künstlerische Großtat gepriesen, aus Grundsätzen hervorgegangen, die als unvergäng­ liche Norm echt künstlerischer Gestaltung Ewigkeitswerte in sich schließen würden. Aber schon ein halbes Jahr­ zehnt später setzte eine Bewegung gegen ihn ein, und noch war ein Jahrzehnt seines Daseins nicht abgelaufen, als er als eine Geschmacksverirrung bedenklichster Art bezeichnet wurde, und zwar selbst von denen, die vorher seine lautesten Lobredner waren. Man ist aber damit dem Jugendstil, soweit er durch die Darmstädter Richtung eingeleitet und namentlich auch so, wie er in München entwickelt wurde, mit der späteren abfälligen Beurteilung im Sinne einer strengeren Stilkritik nicht gerecht geworden. In den Werken seiner besten Vertreter hat er mit einer künstlerisch sehr be­ achtenswerten Blüte eingesetzt. Dieser Stil war aber viel zu persönlich und eigenartig, als daß er ohne weiteres hätte verallgemeinert werden können. Seine graziösen Linienführungen und zierlichen Ornamente waren für die Nachahmung im handwerklichen Schaffen zu schwierig; deshalb verloren sie unter den Händen weniger fein empfindender Nachstrebender ihren ganzen Stimmungs­ gehalt. Der Geist des Jugendstils wurde von diesen nicht erfaßt. Man sah nur dasjenige, was in scharfem Gegensatz zu den vorausgegangenen Auffassungen und Formen stand, das was „modern" war, und jagte kritiklos

12

Stilwan-lungen.

diesem nach. An Stelle ruhigen Abwägens der Formen auf Grund bewährter Gestaltungsgesetze und Erfahrungs­ ergebnisse trat ein nervöses, hastiges Streben darnach, um jeden Preis „Neues" -u bieten, und dieses führte von selbst bald dazu, anders zu sein, als andere. So ent­ stand eine höchst ungesunde Originalitätssucht, die aber nur -um Teil der Effekthascherei und Eitelkeit mancher Künstler auf Rechnung zu setzen ist. Sie entsprang viel­ mehr in überwiegendem Matze der unedlen Art des Wett­ bewerbs, zu dem man den Künstler drängte: zu lärmen­ den Schaustellungen des Kunstmarktes vor einem Publi­ kum, das nicht nach Kunstwerten, sondern nach Mode­ schlagworten seine Urteile abgibt, das aber durch seine Haltung und den Kauf die Wertung der Produktion be­ stimmt. Die Forderungen des Kunstmarktes führten allmählich auch zu einer Überladung mit einem Ornamentwerk, das man, damit es neu war, direkt der Natur entnahm, und welches um so rascher seinen Reiz ver­ lieren muhte, als die Naturformen nicht mit künstlerischem Feingefühl ausgewählt und streng stilisiert, sondern ost völlig gedankenlos, ohne Rücksicht auf die ästhetische Funktion des Ornaments, auf wohlabgestimmtes Relief und auf die Harmonie unter sich und zum Ganzen übertragen wurden. Dazu kam, dah die endlose Wiederholung einzelner Linien und Formen in der Massen­ produktion bald eine Ermüdung herbeiführen mußte. Einsichtigere Männer und weiterblickende Köpfe waren sich darüber klar, daß ein Ausweg aus diesen jeder gesunden Entwicklung echter Kunst hinderlichen Zu­ ständen nur gefunden werden kann durch ein zielbewuhtes gurückgehen auf die gediegene, von der Rück­ sicht aus die Massenherstellung wenig oder nicht beein­ flußte Arbeitsweise kunstgeübter, selbständiger Hand­ werksmeister.

Folgen der Nachahmung, Änderung der Forderungen.

13

Man forderte nunmehr die strengste Durchführung der Werk-und Materialgerechtigkeit; und dann wollte man nur die reine Zweckform gelten lassen. Alles Ornament müsse beseitigt werden. Soweit man in Holz arbeite, sei das einzige berechtigte Ornament die Maser. Diese müsse hervorgehoben werden. Selbst mit Hilfe von Ein­ reibungen verdunkelnder oder aufhellender Farben in den Masergrund, mit dem Sandstrahlgebläse und anderen Verfahren, suchte man die Maser besonders zur Geltung zu bringen. Hierbei verfiel man von einem Extrem ins andere. Früher fast alles geschliffen und poliert oder fein lackiert, nunmehr die Maser fast bis zur Relief­ erscheinung herausgearbeitet; früher bewegte Linien­ führung, die oft an den Bau der Gerippe erinnerte; nunmehr einfachste Form, mit Hervorkehrung des Ma­ terials und Sichtbarmachung der Konstruktion. In der Tat wurde von nun an der Hausrat auf die ursprünglichste Zweckform zurückgesührt. Auch die jetzt entstandenen Schöpfungen auf dem Gebiete der Innen­ kunst waren neu, namentlich neu in ihrem vollständigen Verzicht auf jegliche Schmuckform. In den äußersten Folgerungen dieser Richtung sah man zuletzt nichts als kahle Bretter, ohne jede Verzierungen und meist auch ohne umrahmende Leiste. Selbst an den Pianinos wurde die Wirkung von geschweiften Linien, die hier doch von selbst gegeben waren, sorgfältig vermieden. Die Möbel standen da, als wenn sie mit den allereinsachsten Werk­ zeugen, der Säge und dem Schropphobel aus dunkel gebeizten Hölzern auf die ursprünglichste Weise herge­ stellt worden wären. Auch in den übrigen Zweigen der angewandten Rünfte kamen die gleichen Grundsätze zur Geltung. Die Metallarbeiten verzichteten ebenfalls auf jegliches Ornament. An den Gitterwerken und den Gefäßen in

Stikvandlungm.

14

Bronze, Nickel und Silber wurde die Flächenverzierung durch HammerfchlLge bewirkt, die man dicht aneinander setzte, um die Handarbeit auffällig hervortreten zu lassen. In der Edelmetalltunst bekamen die silbernen Anhänger und Armbänder ost eine so absichtlich zur Schau getragene

Einfachheit und Schwerfälligkeit, al» hätte man sie mit den ursprünglichsten Schmiedewerk-eugen hergestellt und als wären sie in schwer bearbeitbarem Eisen und Stahl ausgeführt. Dieser „Stil des Purismus", so benannt nach seinem streng durchgeführten Grundsatz einer völligen

Reinigung der künstlerischen Ausdrucksmittel von allem Entbehrlichen und namentlich von jeglichem Omament, hatte allerdings ein noch kurzlebigeres Dasein als sein Vorgänger. Man war -war einerseits durchaus damit

einverstanden,

Linien- und

daß

man

sich von

dem

krausen Blattornament

des

ermüdenden Jugendstils

steimachen sollte, konnte sich ader anderseits mit dem neuen Stil der völligen Schmucklosigkeit nicht recht be-

steunden.

Bald fand er nur noch auf dem Papier seine

Verfechter und Lobredner, aber keine Käufer mehr für

feine Erzeugnisse. Das taufende Publikum wollte sich nicht auf die Dauer damit abfinden, daß äußerst« Kunstarmut als höchste Kunstleistung, daß die gänzliche Abwesenheit dessen, was sonst das Auge so unmittel­ bar erfreut, als der Inbegriff vollkommenster Schön­

hell hinzunehmen sei. Die Forderung, man müsse sich und müsse das große Publikum zu der Höhe diese»

Kunstgeschmackes für die Schönheit der reinen Form erziehen, machte keinen nachhaltigen Eindruck mehr.

Man sah bald, daß dieser Stil des Purismus auf die Dauer nicht mehr zu halten war. Man prüfte seine Grundsätze und fand, daß diese an sich zwar gut seien, aber viel zu engherzig aufgefaßt wurden. Man fand auch,

Der Stil des Purismus und seine Ergebnisse.

15

daß dieser Stil die im Wesen des Holzes liegende Kon­ struktionsweise, die Rahmenbildungen, zu wenig berück­ sichtigte. Das „Leistenwerk" hatte man ja früher im Jugendstil aufs strengste vermieden. Es war nun nicht mehr geraten, ihm noch länger auszuweichen. Man wollte dasselbe, aber nur ganz vorsichtig, wieder auf­ greifen; man führte wieder die Gliederungen ein. Diese sollten aber tunlichst unauffällig sein. Wichtig sei streng symmetrische Anlage, da diese einem ästhetischen Grund­ gefühl entspreche. Die konstruktive Form des Nühlichteitsideals mühte beibehalten werden. Die Leisten, an sich zurückhaltend und zart profiliert, mühten die strenge Form rechteckiger oder Kreis- und elliptischer Figuren erhalten. Leichte Schweifungen, z. B. an den Möbel-, besonders den Stuhlfühen, an den Lehnen usw. seien gestattet. Auch auf das Ornament brauche man nicht ganz zu verzichten. Es müsse aber sehr sparsam ver­ wendet und in strengen Formen gehalten sein. Über einfache Rosetten, modern gehaltene Flecht- und Wellen­ bänder, anspruchslose Vlattreihungen, ein an geeigneter Stelle eingelassenes Relief und dergleichen sollte man nicht hinausgehen. Selbst eine einfache Säule oder ein Pilaster brauche man, wenn die Betonung des klaren Ausbaues es verlangt und die Einzelformen neuartig durchgebildet werden, nicht unter allen Umständen zu vermeiden. Eine Forderung unserer Zeit der hochentwickelten Metall­ industrie sei die Heranziehung der Metalle für den Schmuck. Sorgfältig ausgewählte, feine, dem Material­ charakter entsprechend durchgebildete und durchziselierte Schmuckelemente aus vergoldeter Bronze, sollten an wenigen, geeigneten Stellen zur Betonung der Achsen, von Friesen, wichtiger Glieder wie der Kapitäle, Basen u. dgl. aufgesetzt werden dürfen. Eine gewisse, auf den Schmuck nicht ganz verzichtende aber zurückhaltende

16

StUwondlungen.

Domehmhest sei anzustreben, und diese sei nächst der in klarer Selbstverständlichkeit sich darbietenden Zweck­ form zu erreichen in erster Linie durch Schönheit des Materials und tadellose Behandlung desselben und in zweiter Linie durch weise Beschränkung der Ornamente. Hinsichtlich der Ausführung der letzteren war man sich darüber klar geworden, dah man mit der unmittelbaren Verwendung naturalistischer Formenelemente wie des krausen Brennessel-, Löwenzahn-, Klatschrosen- und Mohnblütenornaments nicht weiterfahren dürfe, daß man vielmehr alles Ornament je nach seiner Funktion streng zu stilisieren habe. Io dah es in und mit dem Ganzen eine wohlzusammengestimmte künstlerische Ein­ heit bilde. gn der Verfolgung dieser Grundsätze vollzog sich allmählich und zwar meist unbewußt und unbeabsichtigt, in den Werken solcher Stünftter, die völlig unabhängig voneinander waren und auch räumlich keinerlei Ver­ bindung hatten, fast allgemein im Kunstgewerbe, am deutlichsten aber in der Raumkunst, besonders im Haus­ rat, eine Annäherung an den Reuklassizismus, namentlich an den sog. Biedermeierstil. Daß gerade die Möbelkunst auf eine ähnliche Gestaltungsweise, wie sie der Biedermeierstil zeigte, wieder herauskam, hatte seine guten Gründe. Don den Grund­ sätzen der vorausgegangenen „Moderne" erhielten sich als vollberechtigt vor allem die Forderungen der Zwecke mäßigtest, Materialgerechtigkeit und der Einfachheit. Zweifellos waren diese in der Kunst des Biedermeier in weitgehendem Sinne erfüllt. Diese hatte die früheren, altertümlichen, konstruktiven Nützlichkeitsformen wieder aufgegriffen. Sie hatte das Material zweckmäßig aus­ genützt, die Formgebung dessen Eigenschaften angepaßt und von den überttiebenen Schweifungen und dem

Annäherung an den Biedermeierstil.

17

Schnörkelwesen des Rokoko gereinigt. Die Ausführung selbst ließ meist nichts zu wünschen übrig. Der Bieder­ meierstil war auch zu einer wohlabgewogenen Beschrän­ kung des Schmuckwerks und zu einer formenstrengen Läuterung desselben zurückgekehrt. Die Ähnlichkeiten in den Bestrebungen der neuzeitlichen Künstler mußten zu Ähnlichkeiten in den Kunstergebnissen führen. Dieselben kamen ebenso wie in der Schreinerkunst auch in den übrigen Zweigen der Raum- und Klein­ kunst, namentlich in den Dekorationen, den graphischen Künsten und in den Edelmetallkünsten zur Erscheinung. Wohl hielt man in den letzteren an dem, was sich als dauernd wertvoll erwies, an den in voller Freiheit ge­ bildeten Zweckformen fest, desgleichen an einer der Eigenart des Materials und der Technik entsprechenden Detailbehandlung. Hinsichtlich der Ausbildung der Orna­ mente war man sich aber inzwischen darüber klar ge­ worden, daß man sie, wenn man auch ab und zu einen kecken Naturalismus hereinspielen lassen konnte, doch im großen ganzen einer durchgreifenden Stilisierung unterwerfen müsse, um das Schmuckwerk mit dem Ganzen einheitlich zusammenzustimmen. Auch in den Gliederungen ging man an Hand der früher gemachten Erfahrungen zu strengeren Grundsätzen, zur Durchfüh­ rung symmetrisch und rhythmisch gebundener Teilungen und insbesondere zu einem in den Verhältnissen wohl­ abgewogenen Aufbau über. Was aus ihnen nunmehr hervorging, mutete nicht mehr so überraschend neu an, machte aber den Eindruck einer selbstverständlichen Klarheit und einer ruhigen, gemessenen Vornehmheit. Freilich zeigte sich auch hier in den so entstandenen Werken die zum Teil recht auffallende Übereinstimmung mit einer Kunstsprache der Vergangenheit, derjenigen der Biedermeierzeit. Hartmann, StUwandlungen. 2

18

Stilwandlungen.

Gerade diese Annäherung an den Diedermeierstil wurde zu einem Hemmnis für die weitere Verfol­ gung der eingeschlagenen Richtung. Die Überzeugtesten Vorkämpfer für selbständige, unserm Zeitgeist und unsern neuzeitlichen Mitteln entsprechende Ausdrucks­ formen in den angewandten Stünftcn stellten sich ihr ent­ gegen. Denn sie befürchteten daraus, daß man diese Übereinstimmung mit dem Biedermeierstil als zulässig hinnahm, einen Rückfall in historische Stilformen. Das müsse doch unter allen Umständen vermieden werden. Wahre Rünftter wollen und sollen „Neues" schaffen. Unsere Zeit sei reich genug an fruchtbringenden neuen Gedanken. Man solle dieselben nur herausholen, ihnen Leben und Form geben. Man suchte nun Einwendungen gegen diese Art des Schaffens, die so viele Ähnlichkeiten aufwies mit den verblaßten Erinnerungen einer längst entschwun­ denen Zeit. In der Tat hatte das Festhalten an einer Kunstsprache in einem ähnlichen Formenkreis, wie ihn die Biedermeierzeit aufwies, manches gegen sich und zwar gerade vom stilkritischen Standpunkt aus. Durch die früher erhobenen Forderungen großer Einfachheit und übersichtlicher Klarheit hatte man sich zu sehr an ein starres Stützen- und Architravsystem und in den Gliede­ rungen an die einfachsten geometrischen Figuren der Rechtecke, Dreiecke, Streife und Ellipsen gebunden. Die Zurückhaltung des Leistenwerks führte zu kraft­ losen, mageren, dem Holzcharakter nicht entsprechenden Profilierungen. Die Gliederungen waren bisweilen so streng und das Relief so flach, als hätte man nicht weiches bildsames Holz, sondern Metall, Bronzeplatten und Bronzeleisten vor sich. Die Künstler selbst drängten zu freieren Bildungen, insbesondere zu bewegteren Linienführungen. Die

Weitere Änderung der Grundforderungen.

19

steife Geradlinigkeit und öde Langeweile der Kreisund Ellipsenformen müsse überwunden werden und dafür der ideale Schwung rhythmisch bewegter Linien­ führung wieder zur Geltung kommen. Sie allein gebe dem Künstler Gelegenheit, auch seine Individualität durchzusehen, die in den starren geometrischen Figuren zu sehr gebunden sei. Diese entsprächen auch nicht mehr unsern heutigen Mitteln der Technik. Mit den neuzeit­ lichen Fräsemaschinen könne man auch geschweifte Leisten und Profile Herstellen, so schön und so leicht, wie einst die geradlinigen mit dem Kehlleistenhobel. Warum sollte man die Errungenschaften der Technik nicht ausnühen? Gerade sie heben uns rasch und sicher über das Alte und bringen uns wahren Fortschritt. Und dann könne man uns doch in unserer Zeit nicht zu­ muten, daß man sich mit dem mageren schüchternen Leistenwerk der Biedermeierzeit begnügt. Wir haben vielmehr einen Anspruch auf vollere, auf quellende Formen. Die Schönheit des Holzes müsse als solche her­ vorgehoben werden. Seine Struktur, seine Schmiegsam­ keit und leichte Bearbeitungsfähigkeit müsse in der Form­ gebung zum Ausdruck gebracht werden. Die Schreinerei gebe sich ein Armutszeugnis, wenn sie die hohe Leistungs­ fähigkeit der Holzbearbeitungsmaschinen nicht voll aus­ nützen wollte. Auch sei ein bescheidenes Matz von orna­ mentaler Steigerung des künstlerischen Ausdrucks durch­ aus nicht unberechtigt. Der Purismus fei überwunden. Sobald man Ornamente verwende, mühten diese aber mit dem Hauptmaterial, dem Holz, eine künstlerische Einheit bilden. Unter allen Umständen sei das Aufsehen von Metall- (vergoldeten Bronze-) Ornamenten aus das Holz zu vermeiden. Das Metall sei für die Bewegungs­ mechanismen (für die Beschläge) am Platze, nicht aber als Schmuck des Holzes. Wollte man es hiefür ver2*

20

Stilwanblungen.

wenden, so wie es in der Biedermeierzeit der Fall war, so ginge alle Bearbeitungseinheit verloren, die für einen ästhetisch vollkommen befriedigenden Eindruck not­ wendig fei. Solche Fehler der Vergangenheit dürsten in unserer aufgeklärten Zeit mit ihrer ungleich strengeren ästhetischen Schulung nicht mehr gemacht werden. Das Ornament müsse aus dem gleichen Stoffe, aus dem Holz bestehen, mit ihm verwachsen sein, aus ihm heraus­ quellen wie in einem lebendigen Organismus -er Natur. So kam also das im Jugendstil ganz verbannte und später stark zurückgedrängte, dem Charakter, der Konstruktionsweise und der Bearbeitungsart des Holzes fo sehr entsprechende Rahmenwerk wieder zur Geltung, ebenso aber auch das Ornament in enger Verbindung mit dem Rahmenwerk. Den Bau- und Möbelkünstlern kamen diese Hin­ weise auf eine neue Richtung für ihre Betätigung nicht ungelegen. Freiheit in der Formensprache, bewegte Linienführung, volle üppige Gliederungen unter Zu­ lassung von sein eingezeichneten oder einmodellierten omamentalen Schnitzereien — alles das entspricht ja nur zu sehr ihren Neigungen. Man fing nun an, im Rahmen­ werk, auf dem im Grunde genommen alle Schrein­ werkskonstruktionen beruhen, die starren geometrischen Einteilungen zu mildern. Die Rechtecköfüllungen wur­ den an den Ecken ausgerundet oder durch einspringende Diertelstreise gebrochen. Auch ganz freie Linienfüh­ rungen durch Einziehungen oder Sürsbauchungen der Leisten, namentlich an den Schmalseiten, wurden be­ liebt. Die Simsleisten der Kämpfer an den Türen und in den Krönungen der Möbel erhoben sich allmäh­ lich in Schweifungen. Ein lebensvolles Ornament nistete sich ein, wichtige Glieder, Punkte und Linien betonend und das Ganze schmückend. Alles mußte zu-

Annäherung an den Barockstil.

21

sammenwirken zu einem großzügigen, einheitlichen, vor­ nehmen Eindruck. Die so entstandenen Werke der Schreinerkunst gefielen allgemein. Man war froh, sich endlich wieder einmal frei bewegen zu können, mit kräftigen Profilen und kühnen Linienführungen zu wirken und namentlich auch allmählich wieder mit ornamentalen Schnitzereien herausrücken zu dürfen. Bei den Einkäufen machte sich auch eine gewisse Vorliebe für diese Möbel bemerkbar, die so „heimelig" sind und den Zimmern einen so behag­ lichen und eindrucksvollen Charakter geben. Sie hatten aber etwas an sich, das ihnen hinderlich wurde für ihre allgemeine Anerkennung; dieses lag darin, daß in ihrer Formengestaltung nicht nur in den Hauptzügen, sondern auch in manchen Einzelheiten eine gewisse Annähe­ rung an den Barockstil zum Ausdruck kam. Zwar gingen diese Anklänge völlig ungewollt und ohne be­ absichtigte Zuhilfenahme barocker Motive ganz von selbst aus den oben bezeichneten Bestrebungen hervor. In ihnen lagen aber die Angriffspunkte für die Rritit aus jenen Kreisen, die unter allen Umständen nur das absolut Neue gelten lassen wollten, die alles verwarfen, was irgendwie an eine Kunstübung vergangener Zeiten er­ innerte. Die Art dieser Kritik, ihr Inhalt und ihre Begrün­ dung wird vielleicht am treffendsten beleuchtet durch die Wiedergabe eines Zwiegesprächs zwischen einem dieser unentwegt dem Neuen nachjagenden Fachkritiker und dem Inhaber und Leiter eines größeren Ausstattungs­ geschäfts anläßlich des Besuchs seiner Ausstellungsräume: „Ja, was machen Sie denn da? Das ist ja ausgesprochener Barockstil! Diese geschweiften Formen, diese schwulsti­ gen Leisten und dieses verschnörkelte Ornament! Aus diesem Weg dürfen Sie nicht weitergehen. Dagegen

22

Stllwandlungen.

müssen wir energisch ankämpfen!“ — „Ja, was sollen wir denn machen? Wieder geradlinige Teilungsrahmen, magere Leisten, eckige Formen? Sollen wir wieder auf alles Schnttzwerk verzichten, an dem jede Braut, die eine Ausstattung bekommt, ihre Helle Freude hat?" — „Auf alte Geschichten dürfen Sie keinesfalls zurück­ kommen." — „Soll ich dann wieder im Jugendstil arbeiten lassen? Der ist ja so abgewirtschaftet, man mag ihn selber nimmer ansehen?" — „Sie werden hoffent­ lich nicht so rückständig sein, daß Sie nochmals den Jugendstil kopieren. Wenn ihr Zeichner keine besseren Entwürfe machen kann, so wenden Sie sich an Professor oder auch an das sind hochmoderne Äflnftfcr, die Ihnen unter allen Umständen etwas Neues bieten." — „Auf Bestellung mache ich das sehr gerne, wenn ich im voraus weiß, daß ich einen sichern Abnehmer dafür habe. Aber auf eigenes Risiko, auf Dorrst, möchte ich nach den Entwürfen dieser Herren nicht ohne weitere Garantien arbeiten. Ich habe darüber in meinem Ge­ schäft genug Erfahrungen; und Geschäftsfteunde von mir haben die gleichen Erfahrungen gemacht. Die dar­ nach hergestellten Möbel gefallen meist nur den Herren, die sie entworfen haben. Im übrigen stehen sie einem im Geschäft herum; nach 2 Jahren sind sie veraltet, und namentlich das vornehme und gebildete Publikum fragt wenig darnach, ob das von Professor oder einem anderen entworfen ist. Das tauft nach seinem eigenen Geschmack. Und den Gedanken, das Publikum zum Geschmack dieser Herren zu erziehen, habe ich längst aufgegeben. Wenigstens möchte ich das nicht auf meine Kosten tunl" — „Machen Sie was Sie wollen; wenn Sie aber eine angesehene Firma sein, vorwärts kommen und in der modernen Fachtritik Anerkennung und Be­ achtung finden wollen, so müssen Sie alles Alte ver-

meiden und nur Neues bringen! Andernfalls fordern Sie die Kritik heraus, und dann haben Sie den Schaden." — — Auf die Frage, welche Richtung nunmehr im raum­ künstlerischen Schaffen eingehalten werden soll, blieb der Fachkritiker die Antwort schuldig. Er half sich dar­ über hinweg, daß er sagte: „Neues, nichts als Neues." Dem Firmeninhaber vergegenwärtigten sich aber alle die schlimmen Erfahrungen, die er in den letzten 15 Jahren in der Jagd nach dem Neuen, wie sie von der modernen Bewegung eingeleitet wurde, machen mußte. In schnellem Gedankenflug zogen diese in dem bunten Wechsel ihrer Grundsätze und ihrer Schaffens­ art an seinem geistigen Auge vorüber, zuerst der von der damaligen Kunstkritik als „echte Blüte edler Sinnes­ art und vornehmer Gestaltungskraft" so hoch gepriesene Jugendstil, mit dem völligen Verzicht aus alles Leisten­ werk, den geschweiften und vergatterten Ausschnitten und dem wilden naturalistischen Pslanzenornament; dann der von denselben Kritikern geforderte Stil des Purismus mit seiner kahlen Sägebrettarchitektur und der peinlichen Scheu vor allem Schnitzwerk; hierauf der aus der Gesetzmäßigkeit des Materials, seinem parallelen Faserwuchs und seinem wichtigsten Werkzeug, dem Hobel abgeleitete, das Rahmenwerk wieder zur Geltung brin­ gende Stil, der kaum recht ins Leben getreten, seiner unvermeidlichen Anklänge an den Biedermeierstil wegen von der Kritik verdammt wurde, und schließlich der in Gegensatz zu ihm tretende Stil mit dem phantasievoll geschweiften und schwellenden Rahmenwerk und den kunstvoll eingeschnitzten Ornamenten, welcher nachher als „Barockstil", als in der Vergangenheit schon einmal dagewesen, das gleiche ablehnende Urteil seitens der modernen Fachkritiker erfuhr.

24

Stilwandlungen.

Was NUN? — Vie Einrichtungen hier, die ihm selbst so gut gefallen und für welche ihm bis jetzt nur Zustim­ mung und -war lebhafte Zustimmung ausgesprochen wurde, seien verfehlt. Neues solle er bringen, nur Neues 1 Er dachte an eine Reihe von Zimmereinrichtungen, teils im Jugendstil, teils in -em auf diesen folgenden Stil des Purismus, welche er in seinen Derkaufshallen noch stehen hatte und für die er keine Läufer finden kann. Eine Dame, der er sie unter anderen vor kurzem ge­ zeigt und zum Kauf angeboten hatte, hatte ihm ins Gesicht gelacht und gesagt: „Die sind reif für die Aus­ stellung der Geschmacksverirrungen V* — Und doch waren dieselben von Künsüern entworfen, die damals besonders geschätzt waren und welche auch heute noch mit an der Spitze der modemen Bewegung stehen; sie waren in einer der führenden Fachschriften als besonders schdn bezeichnet; er hatte sie auch liebevoll ausführen lassen. Er wurde nachdenklich und ernst. Dom Beginn der neuen Bewegung an hatte er sich vertrauensvoll auf deren Seite gestellt. Und doch hatte ihm dieselbe, ab­ gesehen von den paar ersten Jahren nach der Darmstädter Ausstellung, nur wenig Erfolg und Freude bereitet. Das kaufende Publikum wurde immer unsicherer und unschlüssiger bei der Wahl und — was ihm am pein­ lichsten war — immer unzuftiedener mit den Liefe­ rungen. gn der letzten Zeit wurde an ihn allen Ernstes wiederholl die Zumutung gestellt, er solle die vor kaum 10 Jahren gelieferten, damals hochmodernen Einrich­ tungen gegen solche in dem neueren Biedermeierslll um­ tauschen. Mit jenen sei man bös angegangen. Die­ selben seien jetzt so veraltet, daß man keinen Menschen mehr zu sich einladen könne. Es müsse diesen Einrich­ tungen sehr an Gediegenheit gefehlt haben; sonst wäre es nicht denkbar, daß man ihrer so rasch überdrüssig würde. —

Folgen bet Stilwandlungen.

25

Es war doch merkwürdig: Auch in der letzten Zeit noch fragte das kaufende Publikum, namentlich das der gehobenen und gebildeten Kreise, wenn es die Möbel­ hallen betrat, fast immer nach dem Neuesten. Sobald es aber zum festen Entschluß kam, entschied es sich meist für Einrichtungen, die weniger modern waren, die An­ klänge an das Alte aufwiesen. Mit diesen hatte er auch nicht entfernt das Risiko, wie mit jenen Wohnungs­ ausstattungen, die er nach Entwürfen von Künstlern ausführte, welche damals an der Spitze der modernen Bewegung standen und zum Teil heute noch an ihr marschieren. Soll er nun ungeachtet dessen den Forde­ rungen des oben erwähnten Fachkritikers folgen und noch weiter mitrennen in der Jagd nach dem Neuen und so mit Sicherheit die Bestände des für ihn schwer oder überhaupt nicht Verkäuflichen — der Geschmacks­ verirrungen — vermehren? Oder soll er seine vielfachen Erfahrungen mitsprechen lassen und auf den Geschmack seiner Kundschaft Rücksicht nehmen, der sich ersichtlich immer mehr von jener Art „Moderne" abwendet? Wir mußten, um die Lage der angewandten Künste unserer Zeit kennen zu lernen und richtig zu beurteilen, den Gedankengängen eines Mannes folgen, welcher mitten in ihrem gnteressenkreise steht, eines Mannes, der in einem Zweige derselben wirkt, welcher wie kein anderer seit Jahrhunderten und Jahrtausenden einen Hauptinhalt derselben erfüllt. Schon aus der Kunst­ übung jener Zeiten, in denen die zivilisierten Bölter aus ihren untersten Kulturstufen heraustraten in das Licht der Geschichte, sehen wir, wie die frühesten Archi­ tekturformen immer herausgebildet wurden aus einer Nach- und Umformung einer vorangegangenen Holz-, insbesondere Schreinerkunst. In allen späteren Ent­ wicklungsstadien der Gebrauchskunst spielte die Schreiner-

26

Stllwandlungen.

tunst eine hervorragende, wenn nicht maßgebende Rolle, und auch in der heutigen Raumkunst gibt sie den Haupt­ ton der Wirkung an. Wir haben also allen Grund, in unseren den neuzeitlichen angewandten Künsten gewid­ meten Betrachtungen den oben genannten Vertreter der Schreinerkunst und seine reichen Erfahrungen zu Wort kommen zu lassen. Und dieser ist nur einer der allmählich ins Unübersehbare gewachsenen Kreise der­ jenigen Männer des Kunsthandwerks und der Kunst­ industrie, welche mit der Umsetzung der von den hoch­ modernen Künstlern ausgegebenen Theorien, Meinungen und Entwürfen in die Praxis ganz die gleichen Erfah­ rungen gemacht haben. Bis jetzt hatten sie mit Ernst und Opferwilligkeit allen Beratungen und Einflüssen derselben gefolgt. Run aber sind sie an ihnen irre ge­ worden. Der Glaube an die Echtheit und den Bestand der von ihnen gepriesenen Kunstideale ist erschüttert worden; das Vertrauen auf die Zukunft der von ihnen jeweils vertretenen Kunstrichtung ist einem immer stärker gewordenen Mißtrauen gewichen. Sie hatten gesehen, wie selbst anerkannte Führer der modernen Bewegung ihre Kunstmeinungen alle paar Jahre änderten und wie dieselben heute in dem gleichen Brust­ ton unerschütterlicher Überzeugung dasjenige als falsch und irreleitend darstellten und begründeten, was sie wenige Jahre vorher als allein richtig und zutreffend bezeichnet und gewissermaßen als feststehende Grund­ sätze ausgegeben hatten. Man war sich nunmehr darüber klar geworden, daß die bisherigen Auffassungen und Bestrebungen zu einer Unrast des Schaffens und damit zu fortgesetzten, von einer Richtung in die andere und sogar ins Gegen­ teil umschlagenden Stilwandlungen führen mußten. Aus diesen heraus aber mußten nicht nur in künstlerischer

Hinsicht die ungesundesten, auf die Dauer unhaltbaren Zustände, sondern auch sowohl für den Erzeuger wie für die Allgemeinheit die schwersten wirtschaftlichen Schädi­ gungen hervorgehen. Mit dem Mißtrauen gegen die Führer kam die Unsicherheit des Kunstschaffens, des Kunsturteils und des Kunstgeschmacks. Dieselbe hatte ihren höchsten Grad erreicht und die weitesten Kreise ersaht, als urplötzlich und unvermittelt ein politisches Ereignis hereinbrach, das scharf eingriff in die Kunstpflege und welches die neuzeitliche Kunstbewegung vor einen bedeutsamen Wendepunkt stellte: der große Krieg. Derselbe übte mit seinem furchtbaren Ernst, seinen erschütternden Vor­ gängen, den tiefsten Eindruck auf uns als auf die Nächst­ beteiligten aus. Es ist, als hätte er uns ein anderes Auge gegeben für die Erscheinungen der Welt und ihrer Dinge, als hätte er unser ganzes Denken und Fühlen umge­ wandelt. Mit einem Schlage enthüllte er die uns, unserem nationalen und wirtschaftlichen Leben und dem Bestand unserer Geisteskultur von außen drohenden Gefahren. Er brachte uns zur Besinnung auf uns selbst, zur Läuterung unseres Geistes von seinen Schlacken, zur Um- und Einkehr. Wo ist jemals ein großes Bolt mit solch einmütiger Entschlossenheit einer Welt von waffenstarrenden Feinden gegenübergetreten? Wo hat das Gemeinsamkeitsgefühl stärkere Kräfte ausgelöst und so ungeheuere Ausgaben durchgeführt? Die gewaltige Erhebung, welche mit ungestümer und unwiderstehlicher Macht alle Kreise unseres Volkes durchdrang, entspannte die inneren Gegensätze; sie offenbarte uns mit zwingen­ der Überzeugungskraft die Notwendigkeit einer völkischen Einigkeit, Selbständigkeit und Eigenheit. Sie schärfte unser nationales Gewissen, insbesondere auch hinsicht­ lich der Übereinstimmung unseres Geistes- und Gefühls-

28

Stilwandlungen.

ausdrucks mit dem Wesen unseres Volkstums.

Und fo

warf sie auch die Frage auf, ob unsere Kunst die Denkungs­ art und das Gefühlsleben unseres Volkstums in seiner

Gesamtheit wiederspiegelt, ob insbesondere die ange­ wandte Kunst, die, als ganz im Dienste der Nützlichkeit

und der unmittelbaren Verschönerung unseres Daseins stehend, den Hauptteil unserer Lebensbetätigung ein­ nimmt, unseren nationalen Forderungen entspricht und geeignet ist, eine der wichtigsten Kulturausgaben unserer

Zeit zu erfüllen.

II. Stllforderrrngen. Die unmittelbare Wirkung des Weltkriegs auf die angewandte Shinft bestand zunächst in einer völligen Ablenkung des öffentlichen Augenmerks von ihren An­ liegen. Da, wo die großen und dringenden Fragen einer Sicherung des nationalen Daseins zur Erörterung stehen, müssen die Angelegenheiten der Kunst in den Hintergrund treten. Mit der nationalen Einigung aller Doltökräfte erschlossen sich aber allmählich auch wieder jene Geistesquellen, aus denen die nationale Kunst entspringt. Führende Männer sahen sich veranlaßt, ihre auf eine allgemeine Vertiefung unseres Geistes­ lebens und auf eine Läuterung unserer Kulturformen ausgerichteten Gedankengänge nunmehr auch auf die Kunstaufgaben unserer Zeit, namentlich auf die in so enger Verbindung mit all unsern Tagesbedürfnissen stehende angewandte Äunft auszudehnen. Es war naheliegend, sich die Frage vorzulegen, was zu geschehen hat, um die innere Organisation, die im politischen und sozialen Leben alle Kräfte hervorgezaubert und zusammengerafft hat, auch dem Kunstschaffen nutzbar zu machen und die Künstler zusammenzuführen zu ein­ heitlichem Wirken und zu gemeinsamen Idealen. In der Verfolgung derselben erschien es als erstes geboten,

30

Stilforderungen.

in eine Prüfung der neuzeitlichen Kunstrichtung dahin­ gehend einzutreten, inwieweit dieselbe ein verständlicher Ausdruck unseres nationalen Wesens ist und ihre Erzeug­ nisse auf jener Höhe stehen, die dem Stande unserer nationalen Kultur entspricht. Die Erkenntnis von der Notwendigkeit einer solchen Prüfung ist allerdings nicht lediglich eine Wirkung des Kriegs. Dieser hat sie nur beschleunigt und verall­ gemeinert. Sie hätte sich auch ohne ihn über kurz oder lang von selbst einstellen müssen, und zwar aus innern, entwicklungsgeschichtlichen Gründen heraus, angesichts der Zustände, in welche die deutsche neuzeitliche ange­ wandte Runft kurz vor Ausbruch des Krieges hinein­ geraten war. Es ist eine auch sonst im menschlichen Leben oft wiederkehrende Erscheinung, daß selbst große und starke Strömungen zerfallen, wenn die mit ihnen bewegten Massen den Glauben an ihre Führer verlieren. Bisweilen spalten sie sich in mehrere Gruppen, die in verschiedene Richtungen einlenken; nicht selten geraten sie nach einer Stauung, einem Stillstand, in eine rück­ läufige Bewegung. Hatte man bis dahin den Führern willig vertraut, oft unter Hintanhaltung eigenen Urteils und eigener Verantwortung, so traten mit den Miß­ erfolgen Zweifel an der Richtigkeit der von ihnen an­ gestrebten Ziele ein. Den Zweifeln folgt auf dem Fuße die Kritik, und da, wo diese einsetzt, forscht man nach Gründen und zwar sowohl für das Eintreten der Miß­ erfolge, wie auch für das, was sich an den gemeinsamen Idealen als erreichbar und erstrebenswert erwiesen hat. Bei einer solchen Kritik spricht namentlich in unserm Zeitalter der eingehenden Pflege der Ersahrungswissenschasten naturgemäß die Erfahrung ein gewichtiges Wort. Auch in der neuzeitlichen Kunstbewegung, die seinerzeit so kraftvoll angehoben hat, immer stärker anwuchs und

Forderung von Dauerwerten.

31

nunmehr in den Zustand der Hemmungen, der Spal­ tungen und zum Teil des Rücklaufs geriet, ist es die Er­ fahrung, welche von selbst zur Kritik drängt und diese in den von ihr am stärksten berührten Kreisen geradezu herausfordert. Die Erkenntnis, daß die fortgesetzten Wandlungen des künstlerischen Ausdrucks, welche die Hervorbringung von Dauerwerten fast unmöglich machen, zu den schwersten Schädigungen nicht nur der Erzeuger, sondern auch der Abnehmer führen müssen, ließ sich nicht mehr unterdrücken. Man wurde sich darüber klar, daß es Zeit ist, aus den gemachten Erfahrungen eine Lehre zu ziehen, sich zu fragen, woher es kommt, daß in unseren Tagen, ganz im Gegensatz zu früheren Zeiten, auch die besten Entwürfe so rasch veralten, woher es kommt, daß selbst in der Schreinerkunst, die doch nicht für heute und morgen, sondern für Generationen schafft, ein bis dahin unerhörter Wechsel eingetreten ist, fast wie in der Mode der Kleider. Darüber konnte kein Zweifel mehr obwalten, daß es sich bei den vorliegenden Mißerfolgen nicht um verunglückte Einzelerscheinungen, nicht um verfehlte Zufallsergebnisse handeln konnte. Sie mußten im innersten Wesen der ganzen Richtung liegen, in der Art ihrer Auffassung, in den Zielen, in den Grund­ sätzen und in deren Durchführung. Es fehlte dieser Rich­ tung offenbar an jener inneren Kraft, aus der die Dauer­ werte in der Kunst hervorgehen, es fehlte die stil­ bildende Kraft. Und deshalb fehlte auch ihren Er­ zeugnissen das kennzeichnende Gepräge eines ausge­ sprochenen, in seinen Wirkungen über die Tagesmeinun­ gen hinausreichenden Stils. In das Wesen des Stils, seine Grundlagen und das Verhältnis des Künstlers zu ihm müssen wir eindringen, um die tieferen Ursachen dieser Erscheinungen im Kunstschaffen unserer Zeit zu erkennen.

Das Wesen jedes Stils ist die Einheitlich­ keit*). Diese kann nur aus gleichen oder gleichartigen oder zum mindesten solchen Grundlagen des künst­ lerischen Schaffens hervorgehen, die in den wich­ tigsten Eigentümlichkeiten übereinstimmen. Diese Grund­ lagen sind gegeben einerseits in der Veranlagung der Künstler durch ihre Zugehörigkeit zu dem gleichen Volks­ tum, in ihrer Geistesverwandtschaft, in der Gemein­ samkeit der Bestrebungen bestimmter Künstlergeneratio­ nen und Künstlerkreise, bestimmter Zeitalter und Rulturepochen, anderseits in der Gleichartigkeit der künstle­ rischen Aufgaben selbst und den Bedingungen für ihre Lösungen.

Der wichtigste Faktor für die Stileinheit liegt in der durch die Abstammung und die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volkstum bedingten geistigen und schöpferischen Veranlagung der Künstler. Der Stil bildet in gewissem Sinne den Wesensausdruck der Völker; er wird als solcher selbst in den wissenschaftlichen For­ schungen (insbesondere der Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte) so sehr in Rechnung gestellt, daß man aus der Gleichheit oder Ähnlichkeit der von den Völkern entwickelten Stilformen die wichtigsten Schlüsse zieht auf die Urverwandtschaft der Völker. Die ganze Ent­ wicklungsgeschichte der Menschheit weist darauf hin, wie bei bestimmten Völkern von dem Zeitpunkt an, in welchem sie sich über den Urzustand hinaus auf eine höhere Kulturstufe erheben, einheitliche Runftformen entstehen, wie der so erworbene Kulturbesitz sich vermehrt, festigt und erhält, auf die Nachkommen vererbt, auf andere Verhältnisse übertragen und umgeformt wird und wie *) Über da» Wesen de» Stil» vergleich« auch Broder Thristlansen,

Philosophie der Äunft, Berlin, B. Behr (Friedr. Feddersen).

33

Wesen des Stil».

er in jedem Stadium charakteristisch ist für das Volkstum und seinen Kulturzustand. Innerhalb der Gesamtheit ist auch der Künstler, der geistige und materielle Urheber des Stils, in weit­ gehendem Matze abhängig von seinem Verhältnis zum Volkstum, aus dem er hervorgegangen und in welchem er aufgewachsen ist und wirkt. Sein Kompositions­ vermögen beruht im wesentlichen auf seiner Aufnahme­ fähigkeit für die ästhetischen Erscheinungen der Formen­ welt, innerhalb deren er sich bewegt, auf der Bildung fester, intuitiver Vorstellungen, auf der Gabe, diese mit früher aufgenommenen oder ganz neuen Formen zu kombinieren und sie schliehlich in sichtbare, also in Stoff erzeugte Erscheinungsformen, in Kunstformen, niederzuschlagen. Alle diese Fähigkeiten sind zurückzuführen auf die Veranlagung, auf den Einfluh der Erziehung und auf die Wirkung der von nutzen kommenden Anregungen. Aus ihnen entspringen die treibenden Grundkräfte für das künstlerische Schaffen. In der Art ihres Zusammen­ wirkens liegen die Voraussetzungen für die Erreichung der Stileinheit. Sie sind da in vollem Matze erfüllt, wo die Grundkräfte in gleichem Sinne wirken, wo also auch die Erziehung im Geiste des Volkstums geleitet wird, dem der Künstler entstammt, und wo außerdem noch der Künstler seine wichtigsten, von der Umwelt kommenden Eindrücke aus dem Rahmen seines Volks­ tums empfängt. Sind aber die Grundkräfte infolge äuherer Einflüsse nicht in demselben Sinne wirksam, so wird die Stileinheit beeinträchtigt, unter Umständen ganz aufgehoben. So wird der Japaner am einheit­ lichsten zu schaffen vermögen, wenn er — an sich rasse­ rein — zur Kunst von einem echt japanischen Meister erzogen wird und dann auch seine Dorstellungsbilder Hartmann, StUwandlungcn.

3

Stllforberungen.

34

feinem Volkstum entnimmt.

Ein Japaner, -er zwar

in seiner Heimat ausgebildet wurde, aber feine künst­

lerische Tätigkeit in Europa, etwa in London, entfalten würde, müßte aus der dortigen Umwelt, wenn auch vielleicht ungewollt und unbewußt, so viele seinem Wesen fremde Dorstellungsbilder in sich aufnehmen, -aß die Stileinheit seiner Schöpfungen immer mehr gefährdet würde.

Bekäme er aber auch seine Ausbildung aus

fremdem Boden, etwa in Spanien, und würde er bann

in fremdem Lande, in Rußland oder England, sich be­

tätigen, so müßte, wenn er sich den Einflüssen der Er­ ziehung und der Wirkung der von außen kommenden Bildeindrücke gegenüber als empfänglich erwies, die

Stileinheit

der

von ihm geschaffenen Werke gänzlich

verloren gehen. Aus dem Zusammenwirken von japani­ schen Empfindungen, Auffassungen, Grundsätzen und

Erinnerungsbildern mit

spanischen

Gestaltungsweisen

und mit russischen oder englischen Vorbildern als Mo­ tiven kann ein Kompositum, aber keine Stileinheit ent­ stehen. Völlig ein Unding wäre es, wenn der Japaner

sich in den Kopf setzen wollte, im hellenistischen Kunstgeiste tätig zu sein. Er dürste in Griechenland die besten Lehrer haben und sich zeitlebens dort aushalten, so käme er doch

über ein rein rechnerisches, von dem eigenen Empfin­

den losgelöstes Zusammensetzen erschauter fertiger For­ men nicht hinaus. Jeder etwa von ihm unternommene Versuch, felbstschvpferisch Kunstformen von der Art

der hellenistischen zu erzeugen, müßte restlos mißlingen, da diese eben nur aus dem ihm stemben hellenistischen Wesen, aus der hellenistischen Naturanlage hervorgehen können, gewissermaßen wie eine bestimmte Frucht aus

einer bestimmten Pflanzenart.

Selbst die Erziehung

erreicht keinerlei Dauererfolge, wenn sie nicht im Geiste der Veranlagung geleitet wird.

Die Veranlagung

Einfluß de» Volkstum» und der Erziehung.

35

bildet also stets die unmittelbarste und am nachhaltigsten wirkende Triebkraft des künstlerischen Schaffens. Für die ganze Zukunft des Künstlers ist es von größter Be­ deutung, daß er sich dieser Tatsache bewußt wird und aus ihr heraus völlige Klarheit darüber gewinnt, auf welche Richtung er seine Bestrebungen und seine Tätigkeit einzustellen hat, um keine Irrwege zu gehen und seine Straft zur höchstmöglichen Entfaltung zu bringen. Es ist aber auch noch weiter für ihn wichtig, daß er die Wesensart seiner Veranlagung richtig erkennt, um hier­ aus die entsprechenden Folgerungen für seine Ziele und seine Schaffensweise ziehen zu können. Die Veranlagung des Künstlers ist abhängig von den Rasseeigentümlichkeiten und den Geistes­ anlagen des Volkstums, dem er angehört. Sie bestimmt die Aufnahmefähigkeit für ästhetische Bildein­ drücke. Denn für den Künstler gilt nur diejenige Schön­ heit, die er in sich als solche empfindet, die seinen Grund­ trieben entspricht. Anders ist sie für den Japaner, als für den Araber, anders für den Spanier, als für den Skandinavier. Schon aus diesem Grunde kann sich der Künstler der Anerkennung dessen nicht entschlagen, was von seinem Volkstum an ästhetischen Werten ge­ schaffen wurde. Dieselben gewinnen auch auf seine Erziehung zur Kunstbetätigung einen starken und nachhaltigen Einfluß. Denn die Erziehung zum Äänftlet kann naturgemäß nur in der Richtung erfolgen, die von den Auffassungen und Ausdrucksmitteln seines Volkstums als Errungenschaften der Vorfahren vorge­ zeichnet ist, da diese ja den Niederschlag des ästhetischen Anschauens und Empfindens der Erziehenden, der Lehrenden bildet. Die künstlerischen Auffassungen, Arwdrucksmittel und Errungenschaften eines Volks­ tums erfüllen nun den Gefamtbegriff dessen, was wir 3*

36

StUfordrnmgen.

unter seiner „Überlieferung" verstehen. Damit ist auch die Stellung des Künstlers zur Üderlieferung, feine Abhängigkeit von dieser als einem grundlegenden Erziehungsfaktor, bestimmt. Die Überlieferung bietet aber dem Künstler nicht nur die Richtlinien für seine Ausbildung, sondern im weiteren noch das vorbildliche Material für die Sschetische Anschauung und Schulung, wie auch — nächst den Er­ scheinungen der Natur — den Hauptinhalt aller von außen kommenden Anregungen. Der Künstler wächst durch seine Herkunft und Erziehung in die Überlieferung hinein. Sie gibt ihm Halt und Festigkeit für seine eigenen Werturteile und die Grundlage für seine eigene Tätig­ keit; sie gibt ihm insbesondere auch eine Schule für das „Wie" des künstlerischen Schassens. Als solche ist die Überlieferung für den Lernenden unentbehrlich. Aber auch dem reifen Künstler steht sie als eine Autorität gegen­ über, da sie eine aus dem allgemeinen Empfinden seines Volkstums, seiner Kultur, seinen nationalen Eigentümlichkeiten und Lebensbedingungen herausge­ bildete Formensprache darbietet. Allerdings hat die Wirkung der Überlieferung auf den Künstler und damit auch auf die Stllbildung ihre Grenzen. Sie kann namentlich nicht die innern Trieb­ kräfte für das Hervorbringen von Kunstformen ersetzen. Sie gibt nur Vorbilder und Anleitung für dasselbe; sie gibt vor allem durch die in den Erzeugnissen der Allen liegenden Erfahrungsergebnisse einen zuverlässigen Maß­ stab für das, was in unserm eigenen Schäften dauernd wertvoll ist. Hierin liegt die Hauptbedeutung der Über­ lieferung als Grundlage der Erkenntnis und der Schulung. Sie bietet dem auf Eindrücke des Schauens hinarbeitenden Künstler die eindringlichste Lehre, da diese durch unmittel­ bare Anschauung spricht und uns so am verständlichsten

Einfluß der Überlieferung, historische Stile.

37

und überzeugendsten darüber aufklärt, was in den voran­ gegangenen Zeiten dem Kunstgeschmack, der Sinnesart und den Bedürfnissen seines Volkstums entsprach. Aus der Einheit des Volkstums hervorgegangen, zeigt die Überlieferung den sichersten Weg zu einem einheitlichen stilistischen Ausdruck; sie zeigt auch die auf diesem Wege vom Volkstum bisher erreichten Ziele in den nach bestimmten Zeitabschnitten seiner Vergangenheit er­ zeugten Einheitsformen seiner historischen Stile. Der Rünftter steht aber nicht nur unter dem Ein­ fluß seiner Erziehung und der aus der Vergangenheit sich ihm darbietenden Eindrücke, sondern auch unter dem Einfluß der Gegenwart und der vielseitigen, von ihr ausgehenden Anregungen. Die Erscheinungsformen der Umwelt, welche Tag für Tag in einem ununterbroche­ nen Strom mit der ganzen Frische und Unmittelbarkeit des Selbsterlebens aus ihn einwirken, vermitteln ihm immer neue Gedanken und Stoffe für sein Schaffens­ gebiet und erregen mit andauernden Reizen seine Schaffenslust. Der stete Wechsel in den äußern Erschei­ nungen und der unmittelbare Anreiz, der von ihnen ausgeht, erweckt und belebt im Künstler die Neigung, Neues und immer wieder Neues zu schaffen. Diese Neigung kann je nach der Stärke des Lebensgefühls und Lebensdranges des Künstlers und je nach der Nach­ haltigkeit der mit seiner Erziehung erworbenen Auf­ fassungen, Anschauungen und Grundsätze zu einem aus­ schlaggebenden Faktor des künstlerischen Schaffens wer­ den. Sie ist aber nur eine Komponente der ihm inne­ wohnenden künstlerischen Zeugungskraft. Der Zeu­ gungsakt selbst beruht auf der Verbindung und Durch­ dringung der aus dem Erschauten entsprungenen Form­ gedanken mit denjenigen, welche unmittelbar aus der Veranlagung als Kulturgut des Volkstums ihm gegeben

38

Stilforderungen.

sind oder durch die Erziehung anerworben wurden. Das Überwiegen des einen oder andern Schöpfungsfattor»

prägt sich dem entstehenden Werke auf.

Da die Äünftlet der gleichen Zeit fortgesetzt unter deren Einflüssen und Bedingungen stehen, müssen sich auch in chren Auffassungen und in ihrer Schaffens­ weise übereinstimmende Züge herausbilden.

Dieselben

werden um so deutlicher zum Vorschein kommen, je mehr jeder Künstler die einigenden, aus der Gemein­

samkeit der Veranlagung und ihrer Erziehung entspringen­

den Kräfte zur Geltung bringt und das, was ihn von -er Verfolgung der von ihnen gegebenen Richtlinien ab­ lenken könnte, zurückdrängt.

Freilich mutz eine dahin­

gehende Absicht den Künstler leiten, wenn nicht die Unmittelbarkeit und Einwirkungsstärke der Tagesinter­

essen ihn zerstreuen und zersplittern soll.

In der Viel­

seitigkeit und Verworrenheit der Eindrücke und Be­ strebungen, die den Künstler umdrängen und wslch« ihn

oft nach den verschiedensten Richtungen zu lenken ver­ suchen, findet derselbe dann den sicheren Leitfaden, wenn

er sich auf sein Volkstum besinnt und die aus dessen Ver­

gangenheit sich ergebenden Lehren zur Richtschnur seine» Schaffens nimmt. Sie verhelfen ihm zum Durchbruch jener Einheitsgedanken, welche ihn in den Stand setzen, die Massen der Gegenwartseindrücke zu meistern und zu sichten, den Blick aus das der Stilbildung Dienlich« auszu­ richten, dasselbe treffend auszuwählen, zu ordnen und durch Anpassung und Kombination in den intuitiven Kunstorganismus einzuverleiben. So entsteht aus der Einheitlichkeit gemeinsamer Grundlagen heraus, in den

Richtlinien bewährter Grundlehren, unter dem Einflutz der von der Gegenwart gestellten Bedingungen und

deren Erscheinungen und unter Benutzung de» aus dem Zeitgeiste geborenen Reuen eine slllisttsch deutlich

Einfluß der Gegenwart, Entwicklung de» geltstll».

39

ausgesprochene Schaffensart, in welcher sich der Geist unserer Zeit ebenso wiederspiegelt, wie in den histori­ schen Stilen derjenige der Vergangenheit; es entsteht jene Kunstweise, die wir als Zeitstil bezeichnen. Der Aeitstil gedeiht immer nur zu seiner Zeit. Wollten spätere Generationen ihn nachzuahmen ver­ suchen, so wäre das stets ein erfolgloses Bemühen. Die Künstler der römischen Kaiserzeit haben sich vergeblich abgemüht, den archaischen Stil wieder aufzunehmen. Wir selbst haben im 19. Jahrhundert dieselbe Erfahrung gemacht. Den Stilen derDergangenheit fehlt der belebende Pulsschlag, den nur die noch in ihrer Entwicklung be­ findlichen Zeiten geben können. Die Stile sind und bleiben tot. Sie bieten den nachfolgenden Generationen wohl die wertvollsten Anregungen und Lehren und können auch ab und zu Stimmungen besonderer Art erzeugen. Jedoch kann durch ihre Nachahmung niemals ein Zeitstil gebildet oder ersetzt werden. Der Zeitstil muß durch den Inhalt seiner Zeit be­ stimmt werden. Dieser muß ihm sein kennzeichnendes Merkmal abgeben. Für den Künstler ist es selbstverständ­ lich, daß er den Zeitstil wünscht; denn in ihm findet er den Inhalt und die Bedingungen verkörpert, von denen sein eigenes Schaffen abhängig ist. Er fordert den Zeit­ stil, weil dieser ihm den erwünschten großen Rahmen darbietet, in welchem er seine Persönlichkeit zur Geltung bringen kann. Die Forderung des Zeitstils ist auf dem Gebiete der angewandten Kunst drängend. Sie ist in dieser Hinsicht nicht nur eine Angelegenheit der Rünftkt, sondern der Allgemeinheit. Für die angewandte Kunst, insbesondere die Gebrauchs- und Nutzkunst, verlangt auch das Inter­ esse der Allgemeinheit den Zeitstil, nicht nur weil jeder einzelne in die Bedingungen seiner Zeit gestellt ist und

40

Stllforberungen.

diese seine Daseinsverhältnisse bestimmt, sondern auch, weil jeder bei den Geistesverwandten seiner Zeit An­ lehnung und Anregung sucht und diese mitstrebend wieder weitergibt. Wir Menschen von heute sind andere, als die de» Altertums und Mittelalters und andere, als die der Weimarer Zeit. Soll unsere Gebrauchs- und Nutzkunst, im weiteren Sinne unsere angewandte Kunst, volles Interesse für uns haben und unsern Bedürfnissen entsprechen, so muß sie sich nach uns richten. Wollte der Mensch sich nach ihr, nach dem Haus, dem Hausrat, nach der Tracht usw. richten, so entstände eine wunderliche, auf die Dauer unerträgliche Maskerade. Die ange­ wandte Kunst muh also stets die Forderungen des Zeitstils erfüllen. Ein Zeitstil kann aber nur dann zu voller Geltung kommen und Allgemeingut werden, wenn er in seinen Grundsätzen und seinen Formenkennzeichen leicht zu erfassen und mitteilbar ist. Denn er muß vor allem durch das handwerkliche Schaffen verbreitet werden. Seine Formen müssen also allgemeinverständlich, für die Allgemeinheit ansprechend und gefällig und so ge­ halten sein, daß sie durch die Verbreitung und durch Nachbildung an ihrem Wert und an ihrem Stimmungs­ charakter keine «Änbuße erleiden. Wir haben früher schon gesehen, daß unter anderm die Nichterfüllung dieser Forderung durch den Darmstädter Stil das Schicksal rascher Vergänglichkeit des aus seiner Verbreitung und Nachbildung entstandenen Jugendstils heraufbeschwor. Derselbe vertrug weder die Massenherstellung, noch den Massenvertrieb. Sobald dieser einsetzt, macht sich bei den Nachbildnern eine starke stilisierende Einwirkung bemerkbar. Die Formen werden vereinfacht, um­ gearbeitet und verlieren so ihre ursprüngliche Rein­ heit, ihre Originalität und damit den künstlerischen

Ausprägung der KünstlerinbIo idualität.

41

Reiz, wenn dieser hauptsächlich in der Originalität zu suchen ist. Aus der Forderung der Derallgemeinerungsfähigkelt des Stils und seiner Formen ergeben sich auch dem Schaffenden für die Ausprägung der Äflnftlerindividualität in den Runftoetten bestimmte Grenzen, wenigstens im Rahmen der angewandten Stonfk. Wollte der Künstler auf diese Forderung keine Rücksicht nehmen, sondern ganz frei nach der Höhe und Eigenart seines rein persönlichen Aussassungs- und Gestaltungsvermögens arbeiten, so würden seine Schöp­ fungen vielleicht angestaunt, aber nicht oder nur teilweise verstanden werden und blieben deshalb ohne tiefere Nachwirkung. Aber auch noch in einem weitergehenden Sinne ist das individuelle Schaffen an gewisse Grenzen gebunden. Will der Künstler die von seinem Werk hervorzurufende ästhetische Wirkung nicht ausschließ­ lich auf sich selbst, sondern auf die Umwelt berechnen, der das Werk dienen soll, so muß er sich an das Gefühls­ leben derselben wenden. Dieses wird ihm um so mehr gelingen, je enger er mit dem Volkstum verwachsen ist, an das er sich wendet, je mehr er mit dessen Stimmungs­ momenten vertraut ist, desgleichen mit den Grund­ stimmungen der Zeit, in der er wirkt, den Grundstim­ mungen eines Bekenntnisses, einer Gemeinschaft von Persönlichkeiten, vertraut auch mit der Geschmacks­ bildung der Menschen, für die er seine Werke schafft. So kann nur derjenige Architekt stimmungsvolle Kult­ räume für eine Religionsgemeinschaft — man denke nur an eine Wallfahrtskapelle, eine Synagoge, eine Moschee — hervorbringen, der die von ihnen auszulösenden Stimmungen mit- oder wenigstens nachempfinden kann, wie ja auch ein Künstler nur dann ein Kinderzimmer stimmungsvoll auszustatten versteht, wenn er sich liebe-

42

Stllforderungen.

voll in das Rinbergemüt zu versenken vermag. Auch hierin zeigt sich, daß die Erfolge -es Künstlers und seine Fähigkeiten für die Mitarbeit an der Entwicklung des Zeitstils in -er Sfchetischen Interessengemeinschaft zu seiner Umwelt wurzeln, und daß diese nur dann zu tieferer Wechselwirkung gelangen kann, wenn sie angeboren ist, also auf die Gemeinsamkeit des engeren Volkstums sich gründet, aus welcher sowohl -er Künstler wie auch sein Interessentenkreis hervorgegangen ist. Im Kunst­ leben einer Nation spielt also die Künstler­ individualität nur diejenige Rolle, die ihr durch das Wesen ihres Volkstums -ugewiesen ist; aus inneren, in der Künstlerpersönlichkeit selbst liegenden, wie aus äußeren, auf die ästhetische Veran­ lagung und Aufnahmefähigkeit seines Interessenten­ kreises sich beziehenden Gründen kann sie nur in dem vom Volkstum gegebenen Rahmen sich in weitestem Sinne auswirken. Wenn -er Künstler ost geneigt ist, der Einzelbegabung und individuellen Leistung in deren Besonderheiten gegenüber dem allgemeinen Zeitbild eine zu große Be­ deutung für die Kunstentwicllung beizumessen, so wird von chm übersehen, daß auch er mit den ihm von seinem Volkstum ererbten Anlagen, im Geiste seiner Zeit und mit deren Mitteln arbeitet. Es gibt keinen großen Geist, dessen Art nicht irgendwie durch seine Nationalität, seine Abstammung und den Boden, dem er entwachsen ist, bestimmt wäre. In der ganzen Entwicklungsge­ schichte -er Kunst sehen wir, wie bis in die neueste Zeit hinein die dauernden und epochemachenden Persönlich­ keiten gerade daraus erwuchsen, daß sich in ihnen der Geist ihres Volkes und ihrer Zeit potenzierte. Soweit wir auch in der Vergangenheit Umschau halten, von den Großmeistern der ostasiatischen Völker bis zu denen des

Ausprägung der KünstlerinbivibualitSt.

43

abendländischen Altertums, des Mittelallers oder der

neueren Zeit, zeigt sich uns, wie deren Erfolge darauf beruhten, daß sie das Wesen ihres Volkstums am treffend­

sten aussprachen. Von dem Zeitpunkt an, mit welchem das Volk in ihren Schöpfungen sein Wesen, den Ausdruck

seiner eigenen Gedanken erkannte, jauchzte es ihnen zu,

eiferte ihnen nach, verbreiterte und vervielfältigte ihre Werke und sah in diesen den Stil seiner Art und seiner Zeit. Aue diesen Erwägungen heraus ergibt sich, daß jeder Künstlerindividualität Grenzen gesteckt sind durch den Rahmen des Kunstgeistes desjenigen Volkstums, aus

dem sie hervorgegangen ist, und daß wahre Erfolge nur in den von diesem vorgezeichneten Bahnen zu erreichen

sind.

Wollte ein Künstler, um in jedem Fall originell,

eigenartig, anders als andere zu fein, in einen Gegen­

satz zu seinem Volkstum sich stellen, so würde er sich selbst zur Unfruchtbarkeit verdammen, wenigstens in bezug auf die Hervorbringung von Dauerwerten. Da die Über­

lieferung eines Volkstums den Niederschlag seines Äunftgeistes bildet, müssen die aus ihr sich ergebenden Lehren richtungweisend für das Schaffen des Künstlers sein.

Jeder etwa unternommene Versuch, ihnen auszuweichen,

müßte seine Fruchtbarkeit unterbinden und auf Abwege führen. Für den ernst strebenden Künstler, der darauf ausgeht, nach Möglichkeit mitzuarbeiten an den Kultur­

aufgaben seines Volkstums und feiner Zeit, muß es ein

wichtiges Anliegen sein, nicht nur nicht entgegen den aus der Überlieferung sich ergebenden Richtlinien,

sondern in deren Sinn zu wirken, um zu jener Stlleinheit zu gelangen, die sich im Zeitstil verkörpert.

Freilich muß der Künstler alsdann in seinem Schaf­ fen, wie auch sonst im Leben, wenn jemand berufen und

gewillt ist, an der Wahrung der gnterefsen einer großen

Gesamtheit mitzuwirken, vieles von seinen Augenblick»-

44

Stilfvrderungen.

wünschen und Neigungen zum Opfer bringen. Er muß die durch die Unmittelbarkeit der Tageseindrücke in rei­ chem Wechsel austauchenden Gestaltungseinfälle im Zaume halten, dieselben prüfend daraufhin beurteilen, was an ihnen brauchbar ist und mit vollem Erfolg ver­ wertet werden kann. Er muß Selbstzucht üben wie die von einem guten Willen zum Dorwärtskommen be­ seelte Jugend, welche aus der Unbestimmtheit und Unbändigkeit ihrer Anwandlungen und Gefühle heraus zu einer höheren Lebensauffassung sich durchzuringen sucht. Er muh vor allem mit kritischer Strenge seinen Schöpfungen gegenüberstehen und mit denselben nur das anstreben und herausbilden, was einer geläuterten Kunstauffasfung entspricht. Der Künstler wird also, selbst aus an sich gleichartigen und übereinstimmenden Grundlagen heraus und nament­ lich auch dann, wenn die Quellen seiner Gestaltungs­ kraft reichlich und fast überschäumend fließen, die Ein­ heitlichkeit in der Auffassung, der Schaffensweise und dem ganzen künstlerischen Ausdruck, also das, was den Inbegriff des „Stils" bildet, nur mit dem Einsatz eines einheitlichen und gleichgerichteten Kunstwillens voll erreichen. Tr muß fein Werk in der Absicht und mit der Erwartung der Stileinheit beginnen, und bei seinem ganzen Schaffen muß diese ihm als oberster Gestaltungs­ grundsatz vorschweben. Es muß von ihm alles geschehen, was die Stileinheit fördert und alles vermieden werden, was ihr abträglich wäre; fein Wille im gestaltenden Schaffen muß auf eine einheitliche Richtung und ein einheitliches Ziel ausgehen. Durch diese Ausrichtung des Kunstwillens auf die Einheitlichkeit des ästhetischen Gestaltens wird die dem Künstler innewohnende Schöpferkraft nicht etwa ein­ geengt und das Eigentümliche derselben nicht nieder-

Stilbildung und Kunftwille.

45

gehalten, sondern nur in fruchtbringende Bahnen ge­ leitet. Die fortgesetzte Übung im Aufsuchen des dem äschetischen Ertrag Förderlichen und im Hinwegsehen über das Ungeeignete und Unbrauchbare ist eine ausge­ zeichnete Schulung, welche, gestützt und bereichert durch die Wechselwirkung zwischen Erfahrung und Kunstwillen, die Schaffenslust belebt und die Fruchtbarkeit fortwährend steigert. Auch aus der Forderung, daß der Künstler im Geiste und in den Grenzen seines Volkstums zu schaffen habe, kann eine Beschränkung in der Entfaltung seiner Schöpferkraft sich nicht ergeben. Denn seine Fähig­ keiten liegen ausschließlich im Rahmen derjenigen seines Volkstums, können denselben niemals überschreiten, müssen vielmehr naturgemäß sich in einem engeren Bezirk als diejenigen des Volkstums selbst bewegen, wie ja auch ganz allgemein der Tätigkeitsbereich jeder einzelnen Persönlichkeit, sei sie auch noch so geistesmächtig, in engeren Grenzen liegen muß, als derjenige der Gesamt­ heit, innerhalb welcher sie wirkt. Rur sein eigenes Volkstum bietet dem Künstler die weitesten Entfaltungs­ möglichkeiten bis zur höchsten Stufe von dessen Leistungs­ fähigkeiten; es gibt ihm auch um so reichere Gelegenheiten zur Kunstbetätigung, je höher seine Rultut steht, je größere Anforderungen es an ihn stellt und je ausgiebiger die von ihm dargebotenen schönheitlichen Ausdrucksmittel sind. Das durch die Vererbung gegebene Verhältnis des Künstlers zu seinem Volkstum weist ihn somit von selbst auf den Weg, auf welchem er zu einer erfolg­ versprechenden Auswirkung seiner Persönlichkeit gelangen kann. Deshalb ist es in seinem Interesse gelegen, seinen Kunstwillen dementsprechend auszurichten, um seine Anlagen zu voller Entwicklung zu bringen. Der RunftwiUe steht ja von vornherein, solange der Künstler seinen unmittelbarsten Eingebungen folgt, ganz im

46

Stllforderungrn.

Banne des Volkstums und seines Geistes. Nur von außen

kommende Einwirkungen tonnen ihn ablenken und feine Auffassung vom Wesen der Künftlereigenart verändern. ®6 ist zwar auch in diesem Falle unausbleiblich, daß bei

jeder erzeugenden Tätigkeit aus dem Gebiete der Kunst, die ja vollständig auf dem persönlichen Empfinden be­

ruht, etwas von der Sonderart des schaffenden Künstlers

als persönlicher Einschlag mit einfließt. Dieser wird um so stärker zur Geltung kommen, je weniger der Künst­ ler sich gegenüber den Einwirkungen ihm wesensfiemder

Anregungen oder Forderungen als zugänglich erweist. Di« wahre Künftlereigenart gibt vor allem da» Eigene,

ohne Rücksicht darauf, wie andere

schaffen;

sie hält sich insbesondere tunlichst frei von der Verwen­ dung solcher Ausdrucksmittel, die als Bestandteile andern

Volkstums wesensfremde Züge tragen. Sie ist Stil­ einheit im höchsten Sinne, bezogen auf die Sonderart de» Künstlers und seine Schaffensweise.

SU» solche

bildet sie sich um so klarer heraus, je ausgesprochener und triebkräftiger die künstlerische Begabung ist und je

strenger diese unter der Jucht eine» einheitlich ausgerich­

teten Kunstwillens steht.

Denn e» fällt dann dem

5künftler um so leichter, die von außen kommenden An­ regungen, deren er al» frei nach eigenem Empfinden aber zielbewußt im Geiste seiner Zeit Schaffender fort­ während bedarf und welche zu immer neuer Befruchtung

seiner Schöpferkraft unerläßlich sind, nutzbringend auf

sich wirten zu lassen. E» gelingt ihm dann auch um so besser, die neu austauchenden Erscheinungen nach dem für chn Verwendbaren zu sichten, dieses mit treffsicherem Blick auszugreifen, seinem Gestaltungswillen entsprechend umzuformen und das so Erworbene, schon die Züge seiner

Persönlichkeit tragende Neue in seinen bisherigen Formen­ kreis einzuschmelzen. So erwirbt der Künstler, wenn in

PersSnlicher Einschlag und Elgenstil.

47

ihm ausgesprochene Begabung mit einem starken, grund­ satzfesten, aus seiner Wesensart und damit derjenigen seines Volkstums entspringenden Kunstwillen sich eint, einen seine Schaffensweife deutlich kennzeichnenden Stil, den Eigenstil. Zum Eigenstil setzt sich das Schaffen eines Künfüers um so eher durch, je mehr es ihm gelingt, durch Versenken und Einsühlen in die Denk- und Gmpfindungsweise seines Volkstums seinem Kunstwillen Ziel und Richtung zu geben. Dieser bewahrt ihn dann vor Zerstreuung und Zersplitterung seiner Formgedanken und wird von selbst zum Antrieb einer zielbewußten Schulung des Auges im raschen und sicheren Ersassen oder Ausscheiden dessen, was dem eigenen Wesen verwandt bzw. fremd ist. Der so geleitete Kunstwille wird damit, wenn folgerichtig durchgeführt, zu einem unablässig fortwirkenden Beweg­ grund gewissenhafter Selbsterziehung, welche bas Schaf­ fen erleichtert, die Fruchtbarkeit steigert und nament­ lich auch immer klarer das Persönliche im stilistischen Ausdruck herausbildet und ausprägt. Wie der noch im entwicklungsfähigen Alter stehende Mann am besten und sichersten durch eine wohlerwogene Selbsterziehung zu einer höheren Lebensreife auftteigt und sich zu einer charaktervollen Persönlichkeit heranbildet und als solche dann seine Wesensart am eindrucksvollsten durchsetzen kann, so reist auch der Künstler durch strenge Selbstzucht zu einem eigenartig schaffenden Meister heran. Seine Werke tragen, weil aus festen Grundsätzen hervorge­ gangen, alle Züge eines ausgesprochenen Eigenstils. Gegenüber den Arbeiten weniger reifer Künstler bilden sie eine ähnlich anziehende und achtunggebietende Erscheinung wie der Eharakterkopf im 5kreise einer auf ihre Abstammung stolzen und aus Wahrung ihrer Sonder­ vorzüge bedachten Familie.

48

StUforderungen.

Hat sich der Stünftier zum Eigenstil durchgerungen und hLlt er an ihm fest, so gidt er ihm Schuh vor Abirrungen; die Stileinhelt gewinnt immer mehr; das Fremde, Unharmonische und Aufdringliche verschwindet. Der Eigenstil wird aber nur für wahrhaft grotze, mit hoher schöpferischer Begabung waltende Persönlichkeiten frucht­ bar. Diese wirken durch ihr Beispiel und ihre Erfolge aneisernd auf die mittleren und kleineren Künstler; sie finden überall Nachstrebende, die ihre Schaffensweise ausbreiten, und zwar in dem Matze mit Verständnis und Erfolg, als dieselbe auch der eigenen Denkweise und dem Empfinden der letzteren entspricht, also die völkische Verwandtschaft und die Gemeinsamkeit der Geisteskultur -um Ausdruck bringt. So erhalten die zu bestimmten Zeiten aus völkisch einheitlichen Streifen hervorgegangenen Kunstwerke ein einheitliches Gepräge. Unter chnen stehen zeitlich die Werke der führenden Grotzmeister an erster Stelle. Diese drücken dadurch, daß sie am ftühesten und überzeugendsten das dem Zunftgeist ihres Volks­ tums und dem Zeitgeist Gemeinsame in ihren Werken verkörpern, bisweilen der ganzen Kunst chrer Zeit den Stempel des eigenen Schaffens auf. Auch in den Zeitläuften ruhiger künsterischer Ent­ wicklung, in denen die einzelnen Persönlichkeiten weniger bedeutsam hervortreten oder die Führung sich auf eine grötzere Anzahl vorbildlich wirkender Sträste verteilt, ergibt sich aus der Summe dessen, was die Stunst eines bestimmten Volkstums an gemeinsamen Zügen auf­ weist, jene Einheitlichkeit, die den Stil des Volkes ausmacht. Soweit derselbe sich auf das dem Volte dauernd Eigentümllche, also aus seiner Wesensart Ent­ springende bezieht, kann er nur sehr langsam in den Arbeiten von Stünstlergenerationen heranreifen. Was sich innerhalb desselben, entsprechend den Wandlungen

Stil d« Volke» und geitsM.

49

der Zeitverhältnisse und des Zeitgeistes, an Zeitsttlen herausbildet, ist in den Hauptzügen durch die Gemein­ samkeit der Grundlagen, insbesondere durch die Ein­ heitlichkeit der allgemeinen Kulturzustände gebunden, die in normal verlaufenden Zeitabschnitten, solange keine gewaltsamen politischen Umwälzungen eintreten, nur int langsamen Fortschreiten tiefer gehende und nach­ haltig wirkende Veränderungen erleiden. Darnach muh also auch der Ieitstil eine gewisse Stetigkeit in seiner Entwicklung zeigen. Er kann nicht innerhalb der kurzen Zeitabschnitte von wenigen Jahren eine durchgreifende Veränderung erfahren und keines­ falls unvermittelt in eine stark abseits weisende Richtung ablenken oder gar in sein Gegenteil umschlagen. Wo ein jäher Wechsel in den Stilformen sich zeigt, wurde das natürliche Wachstum des Stils unterbrochen; die Forderungen, die sich für den stilistischen Ausdruck au» der weitgehenden Beständigkeit der Grundlagen ergeben müßten, wurden außer acht gelassen, verleugnet oder nur wenig zur Geltung gebracht. Wenn solche Er­ scheinungen in den Werken eines Künstlers austreten, so sind sie kennzeichnend für seine Auffassung und für die Bedeutung seines Wirkens innerhalb der Zeitgeschichte. Sei es infolge eines Mangels an Selbständigkeit des Künstlers gegenüber von außen kommender, der einheit­ lichen Stilbildung nicht günstig gerichteter Einflüsse, sei es, daß es ihm an Durchschlagskraft seines Schöpfer­ und Kunstwillens oder an der Tiefe der Einsicht in die inneren Zusammenhänge der Kunst mit seinem Volks­ tum und dem Zeitgeist (nicht der Tagesmeinung l) fehlt, oder auch an Schars- und Weitblick im Runfturtdl, — in jedem Falle verläßt er mit der für die Stilbildung wichtigsten Forderung den Höhenweg zur wahren Kunst. Er betritt Pfade, die in unberechenbaren Wandel- und Hartmann, StUwandlungan. 4

50

Stilforderungen.

Irrgängen hinwegführen von den Zielen der hohen Kunst in ein Gelände, dessen Boden jene Triebkräfte fehlen, aus denen allein die Stoffe und Mittel für eine echte Äunft hervorgehen. Die rasch entschwindende Wert­ schätzung seiner auf diesem Boden geschaffenen Werke werden ihn und namentlich auch den in Kunstfragen kritischeren Teil der Allgemeinheit darüber belehren, auf welcher Stufe der Künstler steht und von welcher Art und Dauer seine Erfolge sind.

III. Sttltrrungen. Wenn ein Künstler herabsteigt von dem Höhenweg zur wahren Kunst auf den Boden der Tagesinteressen und seine Tätigkeit auf diese einstellt unter Hintansetzung der auf Läuterung im stilbildenden Sinne gerichteten Grundsätze, so unterwirft er sich dem Wechsel der Tages­ meinungen und seine Werke dem Schicksal rascher Ver­ gänglichkeit. In den Auffassungen und hinsichtlich der Stoffe und Mittel aus dem hervorgegangen und auf das abgestellt, was der Tag bringt und wieder verschlingt, haben seine Erzeugnisse auch nur Tageswert. Wohl wird der Künstler auch mit diesem Schaffen Anhänger finden, ja sogar aller Wahrscheinlichkeit nach einen größeren Kreis, als wenn er sich auf einer gewissen Höhe der Runft halten würde. Denn der Anspruchslosigkeit in Kunst­ sachen begegnet man naturgemäß in den Massen häufiger, als der Urteilsfähigkeit und dem feinentwickelten Gefühl. Dieser Anhängerkreis wird aber in seiner Gunst und in seinen Anforderungen sehr unverläßlich und unbeständig sein, da er seine Werturteile lediglich nach den wechsel­ vollen Tagesmeinungen abgibt. Will der Rünftlct seine ganze Schaffensweise nach diesen richten, so muß er allmählich den größten Teil der im Dorangegangenen dargelegten Grundforderungen für die Einheit im 4*

52

Stiltrrungen.

Miftischen Ausdruck preisgeben. Entschlagen muß er sich aber auch jeder Hoffnung, mit seinen Werken dauernd das äschetische Interesse zu fesseln. Freilich, wenn ein Künstler nur aus Gegenwartserfolge ausgeht, so ist er der Rücksichtnahme auf die Erfüllung jener Grund­ forderungen enthoben. Tr darf aber dann auf die Zu­ kunft auch keine Rechnung ausstellen. Er wird für die­ selbe so unbedeutend sein, wie die mitten im großen Strom der Massen schwimmende Einzelperson für den Verlauf der Menschheitsgeschichte oder wie das Leben der Ein­ tagsfliege in den Erscheinungen der Natur. Die Zukunft rechnet nur mit Dauerwerten, und diese werden und wurden von jeher bestimmt durch ihre Zugehörig­ keit zu einem schon entwickelten oder im Werden be­ griffenen Stil. Alle Erscheinungen, die sich nicht in der durch das Volkstum und den Zeitgeist bedingten Entwicklungsreihe eines Stils befinden, werden nur als Wildlinge, als Abnormitäten oder Kuriositäten ge­ wertet. Die Kunstgeschichte nimmt so gut wie keine Notiz von ihnen. Sowohl im entwicklungsgeschichtlichen Sinne, wie in bezug auf die Hervor­ bringung von Dauerwerten sind alle jene Schöpfungen im Bereiche der Kunst, die sich außerhalb des durch das Volkstum der Erzeu­ ger und den Geist ihrer Zeit gebundenen Stils stellen, als Fehlergebnisse anzusehen; und alle Bestrebungen, die zur Abwendung von seinen Grundlagen und von den aus ihnen sich er­ gebenden Folgerungen führen und so der Entwicklung dieses Stils entgegenwirken, ha­ ben als Irrungen zu gelten. Wo immer bei einem Volke, welches in seiner Vergangenheit hochstehende, sein Wesen deutlich ausprägende, Generationen über­ dauernde Kunstperioden auszuweisen hat, die angewandte

Begriff der Stilirrungen.

53

Kunst eine sprunghafte, sich überstürzende und selbst ins Gegenteil umschlagende Entwicklung nimmt, ohne daß diese durch tiefgreifende Veränderungen in den Grund­ lagen der Kunst veranlaßt wurde; wo keine Dauerwerte mehr geschaffen werden; wo die Einheit des Stils ver­ gebens gesucht wird; wo die Künstler in ihren Zielen und Wegen unsicher werden und zum Teil nach allen Rich­ tungen der Windrose auseinander gehen: da müssen Irrungen in den Kunstausfassungen vorliegen. Diese Irrungen müssen nicht nur vom Künstler selbst, sondern auch von seinen Auftraggebern, namentlich auch von den Führern und Erziehern zur Runft, erkannt und als solche beurteilt werden; sie müssen nach ihren Ursachen und auch darnach aufgeklärt werden, was der Gewin­ nung der Stileinheit entgegensteht. Aus dieser Erkennt­ nis heraus sind als deren wichtigstes Ergebnis die er­ forderlichen Lehren und Nutzanwendungen zu ziehen, wenn die Kunst wieder in gesunde, Dauererfolge ver­ sprechende Dahnen geleitet werden soll. Kein Zeitalter im Rahmen der vieltausendjährigen Geschichte der angewandten Künste hat solche Lehren in eindringlicherer Weise gegeben, als das ausgehende 19. und das beginnende 20. Jahrhundert für das Kunst­ leben in Deutschland. Diese Zeit, an sich erfüllt von ebenso hoch wie weit gespannten künstlerischen Antrieben und Erwartungen und von einer ausnehmend günstigen wirt­ schaftlichen Entwicklung, welche die fruchtbarste künstle­ rische Entfaltung ermöglicht hätte, brachte der deutschen Kunst eine Verworrenheit und Zerfahrenheit ohne gleichen. Mit einer für die tiefer und weiter Schauenden geradezu überraschenden Deutlichkeit traten deren Folgen in den Kunstzuständen kurz vor Ausbruch des großen Weltkrieges zutage. Nach nahezu zwei Jahrzehnten ruhelosen Schaffens, fortwährenden Experimentierens,

54

©Hortungen.

mehrfachenUmkehrens aller Grundsätze, und nach einem in solch kurzem Zeitraum unerhörten Wandel in den Kunst­ bestrebungen und im Kunstausdruck, war man zuletzt an einem Schluhpunkt angekommen, wo man nicht mehr wußte, wo ein und aus, an einem Zustande völliger Ratlosigkeit. Wir möchten zwar die neue Bewegung an sich, insbesondere die Abwendung von der unmittelbar voran­ gegangenen Auffassung und das Suchen nach anders­ artigen, der veränderten Auffassung entsprechenden Formen keineswegs als unberechtigt bezeichnen und die von ihr hervorgerufenen Umwälzungen nicht von vornherein als irrig ansehen. Grohe und starke Bewe­ gungen leiten sich gerne mit Umwälzungen ein und ver­ fallen oft in Extreme, ohne dah daraus aus das End­ ergebnis sichere Schlüsse gezogen werden könnten. Auch sonst gibt es im Geistesleben der Völker wie im Organismus des menschlichen Körpers und der Gesell­ schaft Vorgänge, die sich erst nach einiger Zeit als Krank­ heiten offenbaren und wieder andere, die man irrig für solche hält, welche sich aber schliehlich als notwendige Entwicklungsstufen erweisen. Fast alle kraftvollen neuen Bestrebungen haben im Verlaufe ihrer Entwicklung Entgleisungen und Auswüchse im Gefolge. Dieselben sind gewissermaßen deren Kinderkrankheiten; sie stoßen sich später von selber ab, wenn der Zustand der Reise eintritt. Freilich ist dieser von innen heraus wirkende Ausscheidungs- und Gesundungsprozeh nur von einer solchen Bewegung zu erwarten, die aus berechtigten Gründen hervorgegangen ist, deren treibende Kräfte festen und erreichbaren Zielen zustreben und dement­ sprechend ihre Mittel und Wege wählen. Wo diese Voraussetzungen fehlen, begegnen ihr unüberwindliche Hemmungen und Widerstände, und die Bewegung ver-

läuft im Sande, wenn sie nicht rechtzeitig in ihren Irrun­ gen erkannt, aus dem falschen Geleise herausgehoben und in erfolgversprechende Bahnen geleitet wird. Sehen solche Bewegungen aus dem Gebiete der Kunst ein, so schließt der aufmerksame und tiefer schau­ ende Beobachter zunächst aus der Art und Weise, wie in dem unsicheren Tasten und Suchen nach neuen Aus­ drucksmitteln das Ergebnislose ausgeschieden wird, auf die der Bewegung innewohnende Kraft. Und im weite­ ren sieht er namentlich daran, wie an den neuen Er­ scheinungen das Zusagende sestgehalten und in wachsen­ dem Maße verstärkt wird, und wie allmählich die Ziele deutlicher hervortreten, die Kräfte sich sammeln und immer mehr in einer einheitlichen Richtung zur Aus­ wirkung kommen, die sichersten Anzeichen für die Ge­ sundung im Entwicklungsprozeß und für die Annähe­ rung an den Reifezustand. Wird er aber gewahr, daß wohl fortwährend Ausscheidungen stattfinden, indem immer wieder nach anderem, nach Neuem gesucht wird, während für eine Sammlung und Vereinheitlichung der Kräfte nur unsichere oder überhaupt keine Ansätze zu erkennen sind, wenn nach jähre-, ja jahrzehntelangem Verlaus die Ziele selbst immer verschwommener werden und die Bewegung nach einem unstäten Zickzackgang zu­ letzt jedem einzelnen ihrer Gefolgschaft es überläßt, ohne Rücksicht auf die Interessen der Gesamtheit eigene Wege zu gehen und selbstgewählte Ziele zu verfolgen, dann weiß er mit untrüglicher Sicherheit, daß die Bewegung selbst am Zustande ihres völligen Verfalls angekommen ist. Wir haben im ersten Abschnitt dieses Buches die Wandlungen verfolgt, welche die moderne Kunst seit jener Zeit durchmachte, in welcher sie, mit entschlossenem Schritt heraustretend aus den Geleisen der vorange­ gangenen Runft, ihren eigenen Entwicklungsgang ein-

56

Stilirrungen.

geleitet hatte. Diese Wandlungen enthüllen uns ein Bild von äußerster Unbeständigkeit in den Auffassungen, von größtem Wechsel scharfer Gegensätze, von fort­ währendem Ringen und Suchen nach Neuem, unter Aufgabe des bis dahin Erreichten. An keiner Stelle ist aber ein Herausbilden einheitlicher Grundsätze, ein Festhalten und Verstärken bestimmter Errungenschaften, ein Zusammenwirken der Kräfte und eine Klärung der Ziele wahrzunehmen. Hiefür fehlen fast alle Anzeichen. Dagegen kommt allmählich eine gänzliche Auslösung -er Kräfte und ein Preisgeben aller auf die Verfolgung gemeinschaftlicher Ziele gerichteten Bestrebungen immer deutlicher zum Vorschein. Don einer Gesundung und einer Annäherung an den Reifezustand kann also keine Rede sein. Im Gegenteil! Alles deutet daraus hin, daß die Entwicklung den entgegengesetzten Weg ein­ geschlagen hat. Für uns erhebt sich nun die wichtige Frage: Woran liegt es, daß die moderne Kunstbewegung, die doch ganz zweifellos in den Absichten ihrer Urheber darauf ausglng, eine Hauptforderung für unsere ange­ wandte Kunst, diejenige des Zeitstils zu erfüllen, so er­ sichtlich auf Irrwege geriet? Diese Erscheinung kann nicht lediglich auf Zufälligkeiten beruhen. Wenn eine geistige Strömung, die mit solcher Kraft wie die moderne Kunst einsetzte, welche so weite Kreise ergriffen und fast die ganze schaffensftohe junge Künstlerwelt mit sich fortgerissen hat, nach Ablauf von nahezu zwei Jahr­ zehnten so wenige feststehende Ergebnisse als Dauer­ werte auszuweisen hat, wenn sie am Ende dieses Ent­ wicklungsganges in noch viel geringerem Maße als an ihrem Ausgangspunkte Bestimmtheit und Klarheit dar­ über zu erkennen gibt, welchen Zielen sie eigentlich zu­ strebt, so sind die Gründe für die Mißerfolge zweifellos

Arsachen der Stlllrrungen.

57

in den Hauptzügen und Hauptforderungen der ganzen Bewegung zu suchen. Diese müssen wir näher ins Auge fassen, um die tieferen Zusammenhänge zwischen Ur­ sache und Wirkung, zwischen Wahrheit und Irrtum klar und mit einwandfreier Sicherheit zu durchschauen. In unsern dahingehenden Betrachtungen haben wir von den aus unseren früheren Erörterungen sich ergebenden Grunderkenntnissen auszugehen, daß die Ziele wahrer Kunst nur in der Schaffung von Dauerwerten liegen, und daß diese nur im Rahmen des durch das Volkstum und den allgemeinen Kultur­ stand seiner Zeit gebundenen Stils erreicht werden, ferner, daß die Richtung für den stilistischen Aus­ druck in der angewandten Runft nur durch das Volkstum der Erzeuger bestimmt werden kann und von allem dem, was in seiner Wesensart liegt, und schließlich noch, daß Irrungen in der Runft immer dann entstehen, wenn sich in derselben Kräfte auswirken, die in anderen als den durch das Volkstum bezeichneten Richtungen sich bewegen und andern als den durch seine Wesenseinheit bestimmten Zielen zu­ streben. Hinsichtlich der modernen Kunst haben wir also die tieferen Ursachen der Irrungen darin zu suchen, daß und inwieweit ihre Hauptzüge und Hauptforderungen von den aus den obigen Grunderkenntnissen hervor­ gehenden Zielen und Richtungen sich entfernen oder in Gegensatz zu denselben treten. Drei Forderungen sind es, durch welche hauptsächlich die moderne Kunstrichtung von Anfang an nach Inhalt und Form bestimmt wurde: als erste die grundsätzliche, tunlichst auch alle Anklänge an das Alte vermeidende Abwendung von der Überlieferung, als zweite das un­ entwegte Suchen nach Neuem, noch nicht Dagewesenem und als dritte die möglichst stete Herausbildung und

58

Stiltrrungen.

Ausprägung der Künfllerind ividualität nach ihrer beson­ deren Eigenart. Unter diesen Forderungen war es vor allem die bewußte und gewollte Abwendung von der Über­ lieferung, die am einschneidendsten und maßgebend die veränderte Auffassung und die Art und Weise des neuen künstlerischen Schaffens bestimmte. Man er­ klärte sich zwar zunächst nicht unmittelbar gegen die Überlieferung als solche in deren Gesamtinhalt, sondem nur gegen die fernere Verwendung der historischen Stilsormen. Dieses tat man aber so unnachsichtig und mit solcher Schärfe, daß man glaubte, jeder Beschäfti­ gung mit der Überlieferung völlig entraten zu können. Ja, man ging sogar so weit, daß man sie geradezu als nachteilig für das moderne Schaffen ansah, da sich aus ihr doch wieder in den eigenen Dorstellungsinhalt und damit in den eigenen verfügbaren Formenkreis Ele­ mente von der Kunst -er Alten einschleichen könnten, die man unter allen Umständen ausmerzen müsse. Man gab also in den Reihen der überzeugtesten Vertreter der neuen Anschauungen das Studium der Überlieferung, in diesem Falle der Kunstgeschichte, als wertlos oder gar als schädlich auf. Namentlich die Fugend wollte man vor deren nachteiligen Einflüssen bewahren. Wo, wie an manchen Kunstgewerbeschulen, ein Vortrag in Kunst­ geschichte mit Rücksicht auf die Wünsche maßgebender Persönlichkeiten und vielleicht auch, um nach außen hin den Anschein einer gewissen Höhe und Wissenschaftlich­ keit zu wahren, beibehalten wurde, entkleidete man den­ selben vielfach in den Augen der Schüler jeglicher Be­ deutung, indem man an allen Ecken und Enden vor der Anwendung der aus ihr sich ergebenden Formenbehand­ lung warnte. „Studieren dürst Ihr die Kunstgeschichte; aber lernen könnt Ihr aus derselben nur das, wie Ihr

es nicht machen sollt." Der Gedanke blieb nicht un­ ausgesprochen — und er lag sicherlich auch nicht außer­ halb der Meinung der auf der äußersten Grenzlinie der Modernen marschierenden Künstler —, daß es höch­ stens insofern einen Sinn habe, die Werke der Alten zu studieren, um zu wissen, welche Formen man nicht zu verwenden habe. Es ist geradezu rätselhaft, wie es möglich war, daß selbst an öffentlichen, an staatlichen, der Erziehung zur Kunst dienenden Lehranstalten der hohe Wert des kunst­ geschichtlichen Studiums für jede Art ernsten künstlerischen Schaffens so verkannt und dasselbe so in den Hinter­ grund gedrängt oder ganz ausgeschaltet werden konnte. Nur der stark ausgesprochene, in den weitesten Streifen eingetretene Überdruß an den in der Stilnachahmung der vorangegangenen Zeit entstandenen gemüt- und geistlosen Werken gibt hiefür eine einigermaßen ein­ leuchtende Erklärung. Der Tragweite eines solchen Vor­ gehens war man sich jedenfalls nicht oder nicht immer bewußt. Es ist anzunehmen, daß da oder dort der Ge­ danke leitend war, man müsse so radikal verfahren, um überhaupt mit Sicherheit vom Alten loszukommen und Rückfällen in dasselbe vorzubeugen. Man war aber hierin zu weit gegangen. Man hätte, nachdem die Stilnachahmung überwunden war, das Steuer wieder wenden müssen. Statt dessen hat man sich ganz von der Überlieferung losgesagt und damit auf den reichen In­ halt verzichtet, den sie neben den in der Vergangenheit erzeugten Stilformen noch an Geistes- und Gefühls­ werten für das Kunstschaffen darbietet. Man hatte mit dem Bade das Kind ausgeschüttet. Die Folgen waren unabsehbar. Sie äußerten sich, was uns im Zusammenhang mit unsern oorausgegangenen Betrachtungen am nächsten

60

Stllirrungen.

liegt und auch am tiefsten eingriff in die nachfolgende Entwicklung, in der Unterbindung des Haupt- und Le­ bensnervs echter Äunft, des ihr aus dem Volkstum zu­ fließenden Inhalts. Will ein Künstler im Geiste und in der Sinnesart seines Volkstums arbeiten, so muß er sich tief in dasselbe versenken. Hierzu bieten ihm selbst dann, wenn er auf der Höhe seines Lebens und seiner aus vieljähriger Erfahrung gewonnenen Reife steht, die Tageseindrücke und die unmittelbaren persönlichen Be­ obachtungen in seiner Umwelt nur in unzulänglichem Maße Gelegenheit. Denn den nivellierenden Zeit­ strömungen ist von unserm Volkstum so viel Gesundes, Kernhastes und künstlerisch Wertvolles zum Opfer ge­ fallen, daß das Charakterbild des Volkstums nur noch in einer sehr verwischten und schwankenden Weise zur Erscheinung kommt. Die Überlieferung ist dagegen die freue Bewahrerin der Summe dessen, was das Volks­ tum in seiner Vergangenheit den Nachkommen an denk­ würdigen Ereignissen, Erfahrungen und Gefühlswetten hinterlassen hat. Sie erschließt uns einen Einblick in das Sinnen und Trachten der Vorfahren, in das, was sie anstrebten und was sie bekämpften, in den Inhalt ihres Geisteslebens, in die Ausgestaltung ihres äußeren Lebens, in ihre Sitten und Gebräuche, ihre Feste und ihre Trauer. Sie läßt in gedrängter Kürze und dadurch am eindrucks­ vollsten und ttarsten das Fühlen, Denken, Schauen und Schaffen des Gesamtvolkes und seiner führenden Persön­ lichkeiten erkennen. Aus diesem Grunde gibt auch die Überlieferung für die Beurteilung dessen, was an neuen Ausdrucksmitteln der Wesensart eines Volkstums ent­ spricht, den zuverlässigsten Maßstab ab. Wer im Sinne eines bestimmten Volkstums wirken will, der empfängt aus seiner Überlieferung die sichersten und umfassendsten Lehren. Nur dann könnte ein Künstler diese Lehren ohne

Folgen der Abwendung von der Überlieferung.

61

Nachteile für sein Schaffen entbehren, wenn er in einer ganz vom Geistes- und Gefühlsleben seines Volkstums erfüllten Umgebung aufgewachsen wäre, sich in der­ selben bewegen und aus ihr seine Anregungen und Vorstellungen empfangen würde; denn dann würden ihm die aus der Überlieferung zu ziehenden Lehren auf anderem Wege zusließen. Dieser Fall wäre jedoch nur in einem enggeschlossenen Rulhit- und Wirkungskreise denkbar, wie z. B. in der Handwerkskunst völkisch ein­ heitlicher Kreise in Gegenden, die vom großen Weltver­ kehr wenig oder gar nicht berührt sind. In unserer Zeit des ungeheueren, über alle ethnographischen und geo­ graphischen Grenzen hinwegschreitenden geistigen und wirtschaftlichen Verkehrs wirken die von außen kommen­ den Eindrücke der Entwicklung volkstümlichen Sinnes, Empfindens und Schauens geradezu entgegen. In solchen Zeitläuften ist es doppelt nötig, aus den sich durch­ kreuzenden und zersetzenden Einflüssen des Tages durch liebevolles Eindringen und Versenken in die Überliefe­ rung die Richtung und die Wege zum Volkstum zu suchen, aus dessen Boden als Nährquelle der Künstler die beste Rtoft für sein Schaffen zieht. Zwar könnte man sagen, der Künstler schaffe im Grunde genommen schon seiner Abstammung nach, sogar ganz unbewußt im Geiste seines Volkstums. Das wäre aber nur da und auch nur so lange der Fall, wo er sich frei überlassen bleibt, so daß er, weder nach rechts oder nach links abgedrängt, seinen unmittelbaren Eingebungen folgen kann. Wenn man ihm aber sagt, das, was schon einmal da war, darfst Du keinesfalls brin­ gen, was Dein Vater und Großvater getan haben, keinesfalls tun; Du mußt vielmehr Deinen Geschmack in eine ganz andere Richtung lenken und tust am besten, wenn Du auch alle Anklänge an das Alte vermeidest,

62

StUirrungen.

— dann benimmt man ihm die Freiheit des Schaffens nach seinem angeborenen, von der Vererbung und Er­ ziehung ausgegangenen Empfinden. Er muß ja darauf bedacht sein, alles auszuscheiden, was ihm von feinen Vorfahren und überhaupt von früher her in den Sinn kommen könnte, und zwar selbst dann, wenn es ihm gegen den Strich ginge. Für den Kunstjünger erwuchsen hieraus die schwersten Schädigungen. Der in ihm schlummernde, im jugend­ lichen Tatendrang so leicht entzündliche Funke volks­ tümlichen Gestaltens wurde nicht nur nicht entwickelt, sondern unterdrückt, ertötet. Und woher und womit sollte ein Ersatz für ihn geboten werden? Aber auch in dem angehenden und reiferen Künstler mußten all­ mählich und zwar in dem Maße, in welchem er sich den neuen Forderungen als zugänglich erwies und sich von ihnen leiten ließ, das Gefühl für das Volkstum und seinen Lebensinhalt verloren gehen; er mußte sich dem­ selben immer mehr entfremden. Hieraus entstand auch in bezug auf die Leistungen der vorangeschrittenen Künstler eine der bedenklichsten Folgen der Abwendung von der Überlieferung, sowohl für die Errungenschaften der Kunst im einzelnen wie auch in der Gesamtheit: die Erlahmung jener starken Triebkraft des künstlerischen Gestaltens, welche der Sonder­ art des Volkstums entsprießt. So vollzog sich nach und nach selbst in den Grundlagen und zwar in einem der wichtigsten Teile derselben eine Veränderung, die als eine Einschnürung oder Beschränkung in der vollen Auswirkung der Veranlagung zur Geltung kam. Den aus diesen Grundlagen entstandenen Werken fehlte etwas, was wir in unseren ftüheren Erörterungen als ein Hauptziel der Kunstbetätigung und als unterste Voraussetzung für die Hervorbringung von Dauer-

Aufsuchen des Gegensatze» zur Überlieferung.

63

werten erkannt haben, die Ausprägung des Wesens­ inhaltes vom Volkstum der Erzeuger. Man konnte hierin, je nach der persönlichen Auffassung des Auftrag­ gebers oder des Beschauers, lediglich einen Mangel erblicken, der vielleicht da und dort weniger stark oder überhaupt nicht empfunden wurde, solange das Werk im übrigen eine gewisse schönheitliche Gestaltung aufwies und man nicht aus künstlerische Dauerwerte Anspruch erhob. Aber auch über diesen Mangel hinaus hatte die Art und Weise, wie man sich zur Überlieferung stellte, noch eine weitere, in der Entwicklung der modernen Kunst immer deutlicher hervortretende Wirkung, die­ jenige des Aufsuchens solcher künstlerischer Aus­ drucksmittel, die zur Überlieferung in einem Gegensatz stehen. Man hatte diese Wirkung ur­ sprünglich wohl nicht beabsichtigt. Sie war aber un­ ausbleiblich. Auch sonst im Leben pflegen Grundsätze, wenn sie stark überspannt werden, sich in ihr Gegenteil umzukehren. Die Forderung, unter keinen Umständen etwas zu bringen, was schon einmal da war, wurde am sichersten erfüllt, wenn man sich nicht nur abseits der Überlieferung, sondern in einen gewissen Gegensatz zu ihr stellte. Derselbe kam bald ebensowohl in der Aus­ wahl der Formen, wie auch in der Art ihrer Verwendung zum Ausdruck. Wo man bisher eckige Bildungen zu sehen gewohnt war (an Türen, Fensterleibungen, Mö­ beln usw.), begegnete man nunmehr Rundungen, an Stelle von Vorsprüngen, z. D. als Gesimsabschlüssen, zurückgesetzten Friesen, von vertieften Füllungen er­ höhten Platten. Flächen, die früher verziert waren, ließ man womöglich glatt; Schmuckwerk ordnete man aber da an, wo man es nach der bisherigen Übung nicht er­ wartete. Auch die Farbe wurde für den Ausdruck des Gegensätzlichen zum Dorausgegangenen verwertet. Das

64

StUtrrungen.

sonst braune oder rote Holzfachwerk der Giebel wurde blau oder grün angestrichen, die früher weih gehaltenen Zimmerdecken ost mit einem satten Gelb, Grau, Grün oder Rot. Der Hausrat schillerte bald, ohne jede Rück­ sicht auf das Material, in allen erdenklichen „modernen*' Farben. gm ganzen waren das aber nur Absonderlichkeiten, die den Eindruck nicht in entscheidender Weise bestimmten. Die Farbe tonnte man ja auch leicht wieder erneuern, wenn sie auf die Dauer nicht zusagte. Als weit folgen­ schwerer erwies sich aber die aus dem Gegensatz zum Alten allmählich heroorgetretene und bei den weniger gefestigten Künstlern bedenklich weit um sich greifende Außerachtlassung oder selbst Umkehrung jener Grund­ sätze, die als Hauptzüge alles künstlerischen Gestalten» von Urzeiten her in Geltung waren: der Symmetrie, des Rhythmus, der Proportionalität und Harmonie. Man sah an den Fassaden, an den Möbeln, am Schmuck usw., daß ein Heraustreten aus der Symmetrie, aus der Anordnung gleichweiter und der Einhaltung durch­ gehender Fensterachsen besonders deutlich die Abwen­ dung von der Überlieferung sich zeigte und glaubte sich zu solchen Freiheiten berechtigt. Ebenso überging man unbedenklich die früher so sorgfältig durchgeführte Ab­ wägung eines wohlgefälligen Verhältnisses der Telle zum Ganzen und unter sich, des bloß Schmückenden zu den Gliedern, des Reliefs zu den Bedingungen seiner Wirkung. Allerdings konnten unter Umständen und je nach dem Zweck aus den Händen besonders feinfühliger Künstler auch bei Nichtachtung der Symmetrie und des Rhythmus wohlbestiedigende Werke entstehen, wenn die Symmetrie durch ein gewisses Gleichgewicht ersetzt wurde und der Rhythmus aus besonderen Gründen als entbehrlich erschien. Diese Gründe mußten aber stets

Folgen des Gegensatzes zur Überlieferung.'

65

im Kunstwerk selbst, in seiner Bestimmung und den Bedingungen seiner Iweckerfüllung liegen und deutlich «rkennbar sein. Wo dieses nicht der Fall war, wo ledig­ lich der Gegensatz zur Überlieferung den Anlaß für die Nichtachtung der Symmetrie und des Rhythmus gab, da entstanden immer schwere künstlerische Irrungen. Diese wurden noch vermehrt durch die zahllosen, gegen die allerbescheidensten Forderungen der Proportionali­ tät und Harmonie begangenen Versündigungen, wie sie uns an modemen Bauten, im Hausrat, im Schmuck usw. in einer geradezu erschreckenden Häufigkeit vor Augen treten. Es wäre zuviel behauptet, wenn man diese Er­ scheinungen als von vornherein gewollte Früchte der modernen Bewegung erklären würde. Entgleisungen und Irrungen sind auch sonst in der Runft, namentlich in den Anfangsstusen neuer Richtungen wahrzunehmen. Sie sind aber dort Ausnahmen, während sie nunmehr vielfach den Haupteindruck dessen bestimmen, was als das eigentlich Moderne angesehen wird. Es kann aber auch nicht gesagt werden, daß diese Erscheinungen völlig außerhalb der Blicklinie der Führer der neuen Bewegung liegen würden. Denn diese spendeten den hierin am weitesten gehenden Äünftkm den lebhaftesten Beifall. Man hörte von ihnen die Kühnheit der Formgedanken rühmen, die Freiheit des Ausdrucks, die Unmittelbarkeit und Frische der Erfindung. Und sie zogen weitere Rreifc in ihren Bann. Man bestaunte und pries alles, was anders war als früher, und nur deshalb, weil es anders war, anders sowohl in bezug auf die Formen, wie in der Art ihrer Verwendung, anders auch in den Farben und in den Ornamenten. Diese Art des Schaffens in den angewandten Äünften Hätte zweifellos nicht eine solche Beachtung und immer H-itmann, etlln>anblung«n.

5

66

Stilirrung«n.

weitere Verbreitung gefunden, wenn sie sich nicht im Gesamtgebiete der Kunst, insbesondere auch in der Dichtkunst aus eine ähnliche Auffassung hätte stützen kön­ nen. Auch dort trat der Gegensatz zur Überlieferung, das Überschreiten aller bis dahin aufgerichteten Schranken, das in jeder Hinsicht Ungebundene, das Absonderliche und selbst das offenkundig Widerspruchsvolle in den Vorder­ grund. Wie bezeichnend hat doch die feinsinnige schwä­ bische Dichterin Auguste Supper ihrem Unwillen über eine solche Art Kunst Ausdruck gegeben: „Grüne Him­ mel und blaue Bäume und Schlangenmenschen, Lust­ spiele, die so traurig waren, daß einem das Herz wehe tat, oder doch so schmutzig, daß man den Ekel tagelang nicht los wurde, Tragödien, deren Probleme ein Spa­ nischröhrlein hätte lösen können, deren Konflikte vor einer Handvoll ehrlicher Arbeit in eitel Dunst zerflossen wären, — all das hast du dir bringen lassen, mein Deutsch­ land, und noch Unzähliges dazu. Harmloses, Belang­ loses,das im Gewand der Heiligkeit feierlich einherschrei­ tet... Ein Faustschlag ins Gesicht riß dich aus deinem Wahn.« Die Dichterin sieht die Äußerungen einer aller Fes­ seln entledigten und dadurch außer Rand und Band geratenen Shmft als „Wahn" an. Sie verbindet damit den Inbegriff des Irrtums, der Täuschung, des Trug­ bildes, des gänzlich Unhaltbaren. Für ihre Urteile nahm sie das zum Maßstab, was ihr aus langer, auf Grund eingehender Beschäftigung mit der Runft erworbener Erfahrung als schön erschien. Die Übereinstimmung oder der Widerspruch mit ihrem persönlichen Gut an Blick und Gefühl für das Schöne bildeten ihre Entscheidungs­ gründe. Sie hat dieses Gefühl sprechen lassen, ohne es unter die Kontrolle neuer, nach ihrem Ermessen nicht einwandfreier und durch die Erfolge nicht bestätigter

Folgen des Gegensatze» zur Überlieferung.

67

Lehren zu stellen. Sie ist in ihrem Empfinden und Shmfturteil selbständig geblieben und hat so die Objettivität des Kunsturteils in bezug aus das Schöne sich bewahrt. Anders verfuhren und urteilten die Künstler, welche sich in einen Gegensatz zur Überlieferung stellten. Diese haben die Ergebnisse des Kunstschaffens früherer Zeiten und damit das, was bis dahin als schön angesehen wurde, als für unsere Zeit nicht mehr schön hingestellt. Wenn sie demselben doch noch einen Schönheitswert auch für unsere Zeit zuerkannten, so haben sie die hieraus sich ergebenden Folgerungen nicht gezogen. Sie wollten An­ deres bringen und legten sich so beim Suchen nach Schön­ heit Schranken auf. Sie waren nicht mehr frei, auch nicht in bezug auf das selbständige Walten des eigenen Schön­ heitsgefühls. Denn es ist undenkbar, daß dieses Schön­ heitsgefühl, sofern es überhaupt genügend entwickelt und durch eigene künstlerische Erfahrung gefestigt war, in der kurzen Zeit des Eindringens und Verbreitens der neuen Forderungen sich so von Grund auf hätte ändern können. Das ihnen innewohnende und großenteils unter der Mitwirkung der Überlieferung entwickelte Schönheitsgefühl wurde vielmehr teils eingeengt, teils unter­ drückt oder ausgeschaltet. An Stelle des damit entfallen­ den Fattors für das Kunstschaffen und Kunsturteil traten die Forderungen neu konstruierter oder angenommener Lehren. Die Gefühlskunst wurde abgelöst durch die Ver­ standeskunst. Jeder Verstandeskunst fehlt aber, wenn sie nicht durch einen starken und für die Gesamtwirkung ent­ scheidenden Einschlag freier, einem geläuterten Kunst­ empfinden entspringender Beweggründe bestimmt wird, der Stimmungsgehalt. Wir haben dies mit den rein verstandesmäßigen Stilnachahmungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Überdruß erfah-

s*

68

Stilirrungen.

ren. In dem Ausfallen des Stimmungsgehalts ist aller­ dings zunächst nur ein Mangel zu erblicken. Wenn aber eine ZÜmstbewegung wie diejenige, die sich in den letzten

15 Jahren vor unseren Augen vollzog, aus Grundlehren entstanden ist, deren Richtigkeit nicht bewiesen war und welche, wie die fortwährenden Stilwandlungen dartun, nicht haltbar waren, so müssen Fehlergebnisse die Folge sein. Aus unsicheren und unhaltbaren Urteilsgründen müssen unausbleiblich Irrungen im Urteil, in diesem Falle im Kunsturteil des Schaffenden, in seinen Auf­ fassungen und in der Ausführungeweise hervorgehen. Wo immer sonst im Leben sich Irrungen heraus­ stellen, so pflegt man, um solche für die Zukunft zu vermeiden, die ftüher gemachten Erfahrungen zu Rate zu ziehen. Auf dem Gebiete der Stunft wäre hierüber die Überlieferung, d. i. die Kunstgeschichte, zu beftagen. Diese entscheidet über den Wert der künstlerischen Leistungen als objektive Richterin. Sie führt, unbeküm­ mert um die Meinungen des Tages und den Lärm des Marktes das über Gebühr Gepriesene auf die richtige Wertschätzung zurück, so daß das Inhaltslose ohne Spur versinkt und nur die wahre Kunst, also das, was als dauernd wertvoll erscheint, zur Geltung kommt. Mit -er Ablehnung der Überlieferung und deren Bedeutung für die Gegenwartskunst verschloß man sich aber die tiefere Ein­ sicht in das Werden und Vergehen int Leben der Kunst, sowie die Nutzbarmachung ihrer Erfahrungen für das eigene Schaffen. Die Irrungen wurden infolgedessen nicht mehr als solche erkannt und, wenn es ausnahms­ weise der Fall gewesen wäre, nicht mehr deren Ursachen. Es wurden neue Versuche unternommen, von denen man nicht voraussehen konnte, ob sie auf erfolgver­ sprechende Wege führen oder ebenso fruchtlos wie die vorangegangenen verlaufen werden.

Unzulänglichkeit der technischen Forderungen.

69

$ Die Irrungen im Kunsturteil benahmen nicht nur den Schaffenden die über den Tageseindruck hinauswir­ kenden Erfolge ihrer oft mit so vieler Hingabe und Sorg­ falt vollbrachten Arbeiten; sie führten auch in der All­ gemeinheit und zwar auch in den Kreisen der Gebildeten, selbst bis in deren Oberschichten hinaus, zu einer immer auffallender werdenden Unsicherheit und schließlich zu einer noch nicht dagewesenen Begriffs- und Geschmacks­ verwirrung. Über das, was als gut oder schlecht anzusehen ist, war man sich weniger als je im klaren. Hatte man sich früher aus den Ergebnissen der Überlieferung eine gewisse Geschmacksschulung erworben, so mußte deren Einwirkung aus das Kunsturteil um so mehr zurücktreten, als man den gegen die Lehren der Überlieferung gerich­ teten Zeitströmungen Raum gab. Der Maßstab, welcher mit den Runftkiftungen der Alten gegeben war, ging so immer mehr verloren. Auf der anderen Seite wurde ein vollwertiger Ersatz nicht geboten. Keinesfalls konnte ein solcher in dem vielbesprochenen Hauptgrundsatz für das moderne Schaffen liegen, daß die Werke der an­ gewandten Künste lediglich die Forderungen höchster Zweckmäßigkeit, der weitgehenden Rücksicht­ nahme aus die Materialeigenschasten und einer diesen voll entsprechenden technischen Behand­ lung zu erfüllen haben. Wenn diese in der Tat ganz unmittelbar einleuchtenden Forderungen bei Austauchen der neuen Bewegung so stark betont wurden und ihr aus den Kreisen aller Einsichtigen, namentlich auch der höher Gebildeten so viele Freunde und Förderer zu­ führten, so beweist das nur, wie schwer man sich gegen sie in der vorangegangenen Kunst während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, im Zeitalter der sklavi­ schen Stilnachahmung, versündigt hatte. War man doch damals beispielsweise dazu übergegangen, eiserne Stützen

70

Stiltrrungen.

von Maschinenteilen in die Formen streng nach der Marmorarchitektur gezeichneter dorischer Säulen oder in die Maßwerke gotischer, aus Sandsteinsormen hervor­ gegangener Kirchenfenster einzukleiden. Das Deutsche Museum zu München stellt mehrere derartige Leistungen einseitigster Verstandeskunst zur Schau. Keine einzige der früheren selbstschöpferischen Runftpcrioben hat sich ähnliche Widersprüche gegen jede gesunde Logik zuschul­ den kommen lassen. Man hielt die Erfüllung aller For­ derungen der Zweckmäßigkeit, Materialgerechtigkeit und technisch richtigen Ausführung für selbstverständlich; sie ergab sich auch von selbst aus der ganzen Art des frühe­ ren Schaffens. Diese Forderungen konnten sich jedoch einstens wie auch heute noch nur auf das Allgemeine in der Anlage, in den Abmessungen, den Verhältnissen, auf die durch die Gebrauchsweise bestimmte Formgebung und das Konstruktive beziehen. Das eigentlich Künstlerische ent­ springt einem darüber Hinausgreisenden, unter Um­ ständen selbst einem anderen Schassensbezirk des mensch­ lichen Geistes; nicht selten hat es sich gegen die oben­ bezeichneten Forderungen durchzusetzen. So wird bei der Errichtung eines großen Bauwerks je nach dessen Bestimmung ein tüchtiger Ingenieur alle Anforderungen der Zweckmäßigkeit in der Anlage und im Aufbau, so­ wie der Materialgerechtigkeit und technisch einwand­ freien Gestaltung zu erfüllen vermögen. Wird aber ein solcher Bau auf einem Platz errichtet, an welchem eine künstlerische Durchbildung geboten erscheint, so ist diese die Sache des Architekten, der nunmehr mit seinem Kunstempfinden eingreist. Dem Walten des­ selben stehen aber nicht selten die Forderungen der Zweckerfüllung usw. im Wege. Der Architekt muß sich mit ihnen auseinandersetzen und Vergleiche schließen.

Unzulänglichkeit der technischen Forderungen.

71

Die Art und Weise, wie es ihm gelingt, die allgemeinen Forderungen des Zweckes, des Materials und der Technik mit denen der Runft in Einklang zu bringen, bestimmt die Höhe seiner Leistung. Meist wird die Schöpfung am glücklichsten, wenn sie nur einem Geiste ent­ springt. Aber auch in diesem Falle ist das Künstlerische das Höhere, das über das bloß Zweckmäßige Hinaus­ greifende, das Lebengebende. Will man das Künst­ lerische studieren, so darf man an den Forderungen der Zweckmäßigkeit usw. nicht Halt machen. Sie müssen zuerst ins Auge gefaßt werden, um die Bedingungen für das künstlerische Schaffen kennen zu lernen. Über diese Bedingungen hinaus können sie nichts geben, weder den künstlerischen Gedankeninhalt, noch die Art seiner Aus­ drucksweise. Das Zweckmäßige, Materialgerechte und Technische kann mit Bezug auf bestimmte Werke von einem Chinesen oder einem Araber ebenso vollkommen erfüllt werden, wie von einem Münchener Künstler. Welche Unterschiede liegen aber dann in der Form­ gebung und deren Ausgestaltung sowohl im Ganzen wie in den Einzelheiten! Sehen wir beim Vergleich dieser Werke von dem Zweckmäßigen usw. als Selbst­ verständlichem ganz ab und fassen wir nur das ins Auge, was ihnen der Chinese, der Araber, der Münchener von ihrem Eigenen gegeben haben, so erhalten wir das, was das eigentliche Künstlerische ausmacht. Wollte man auf dasselbe verzichten, so würde man den Werken ihre Kunstwerte nehmen. Es wäre eine arge Verkennung und Herabwürdi­ gung des Wesensinhaltes der Kunst, und es mühte selbst zu deren Entweihung führen, wenn man ihre Ausgabe als mit denen der Forderung der Zweckmäßigkeit usw. als erfüllt ansehen wollte. Der Purismus (vgl. S. 14) erhob diese Forderung zu einem Stilgrundsatz in seiner

72

Stllirrungen.

nacktesten Gestalt. Er verzichtete auf alles Entbehrliche oder Überflüssige. Für entbehrlich hielt er alles das, was sich nicht unmittelbar mit seinem Stilgrundsatz rechtfertigen ließ, insbesondere auch alles Ornamentale. Hier zeigt sich besonders deutlich, auf welche Wege man kommt, wenn man sich den Lehren der ÜberlieferunK geflissentlich entzieht. Diese hätte darüber aufklären müssen, daß die Schmuckkunst, der schon die rohesten und bedürfnislosesten Völker einen gewaltigen Auftvanb an Zeit und Rroft widmen (Körperbemalung, Tätowie­ rung), welcher dann bei den hochzivilisierten Völkern immer mehr gesteigert wird, nicht etwa eine für das Dasein unwesentliche Betätigung zufälliger Neigungen darstellt, sondern daß sie die Befriedigung eines in der Natur der ganzen menschlichen Gesellschaft begründeten Bedürfnisses in sich schließt, das sich vielleicht zeitweilig zurückdrängen, aber niemals auf die Dauer unterdrücken läßt. Die Folgen einer solchen Verkennung der Natur des Künstlerischen durch den Purismus traten denn auch rasch und entscheidend für die Lebensdauer dieses Sttls in Erscheinung. Kaum ins Leben gerufen, ver­ schwand er wieder von der Bildfläche, und zwar ungleich schneller und gründlicher, als sein unmittelbarer Vor­ gänger, der Jugendstil. Das Bedürfnis, den der ganzen Menschheit angeborenen Kunsttrieb zu beftiedigen, ist eben ein so starkes, daß man sich lieber und aus längere Zeit mit einer an sich mangelhaften Kost begnügt, als auch auf das Mindestmaß dessen zu verzichten, was die künstlerische Verklärung gibt. Die Werke des Purismus in den angewandten Künsten müssen wir, sofern sie mit dem Maßstab des Künsüerischen gewettet werden wollen, nach unseren früher gegebenen Begriffsbestimmungen fast durchweg unter diejenigen der Stilirrungen ein-

reihen. Sie zeigen die weiteste Abirrung von demjenigen Wege, der durch die Überlieferung vorgezeichnet war. Die durch die Auflehnung gegen die Überlieferung entstandenen Unsicherheiten und Trübungen des Runfturteils hätten nicht zu einer solchen Begriffs- und Ge­ schmacksverwirrung in der Allgemeinheit geführt, wenn die öffentliche Meinung geleitet worden wäre durch eine in ihrer Gesamtheit vorsichtig abwägende und maßvolle Kunstkritik in der Presse. Die Urheber und An­ hänger der modernen Bewegung waren sich von An­ fang an darüber klar, daß diese nur dann mit vollem Erfolg vorwärts zu bringen sei, wenn ihr durch die Presse der Boden bereitet und etwaigen Hemmungen gegenüber ein starker Rückhalt gegeben würde. Sie ver­ folgten ursprünglich — es muß dies ohne Vorbehalt zugegeben werden — die lautersten Absichten für die Gewinnung eines unserm Zeitgeiste entsprechenden Aus­ drucks in den angewandten Künsten, und sie haben sich durch die Überwindung der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingerissenen sklavischen Stilnach­ ahmung unvergängliche Verdienste erworben. Es lag in der Natur der Sache, daß sie ihre Forderungen scharf formulierten und dieselben nicht nur in der Tagespresse, sondern auch in periodisch erscheinenden Fachschriften vertraten, die ausschließlich ihren Forderungen Raum gaben. Unter denselben stand die Abwendung von der Überlieferung an erster Stelle. Man konnte gegen die Überlieferung nur auskommen, wenn man das Schaffen nach Art des Alten grundsätzlich verwarf, auch Anklänge an dasselbe mißbilligte und hinsichtlich der künstlerischen Wertung das im Sinne der modernen Bewegung Ge­ schaffene stets über das Alte stellte. Auf alles, was als modern anmutete, wurde mit reichem Lob hingewiesen, das um so verschwenderischer ausfiel, je mehr es sich

74

6tilIrrungen.

von jeglichem Einfluß der Überlieferung freihielt. Jede Berechtigung einer Korrektur des Urteils an Hand der kunstgeschichtlichen Erfahrungen wurde aber von vorn­ herein rundweg abgelehnt. Die Folge hievon war eine unter den modernen Künstlern allmählich sich breit machende Überhebung und Dünkelhaftigkeit ohne gleichen. Die Zeitschriften der letzten 15 Jahre geben ergötzliche Belege hierfür. Wie herrlich weit hatte man es gebracht! Ein völlig freies, in keiner Hinsicht gebundenes Schaffen, ohne den lästigen Zwang zu gründlichem Studium und ohne ernste Kritik! Es ist eine Lust zu leben! — Mit fliegenden Fahnen und klingendem Spiel zog die ganze Jugend hinüber in das Lager der Modernen, in dem ihr ungeahnte Erfolge winkten, die Jugend, der die zur Schaffung hochwerti­ ger Kunstleistungen unentbehrliche Schulung noch fehlte, die keinen Maßstab hatte für ihre Selbsteinschätzung, insbesondere keinen Maßstab für die Grenzen des eigenen Könnens. Im höchsten Grade verwöhnt durch die öffentliche Kritik und ihres Beifalls sicher, gingen moderne Maler dazu über, auch in der Bildnerei und der Baukunst nach Lorbeeren zu suchen, — „Michel­ angelo hat ja auch gebaut!" — Es zeugte von einem erstaunlichen Tiefstand des Einblicks in die großen Raum­ probleme der Architektur, wenn man glaubte, dieselben mit der sich zugeschriebenen Meisterschaft in den Formen und Förmchen, den Farben und Dekorationen lösen zu können, gar nicht zu gedenken der Werke, welche aus der Übersetzung der dem leicht geführten Pinselstrich folgenden Flächenkunst in die körperliche Darstellung hervorgegangen waren. Wie sehr die wahre Runft unter dem immer mehr um sich greifenden Dilettantismus, der auf allen Gebieten „mustergültig Modernes" schaffen wollte, gesunken ist, darauf wird einmal die Äunft-

geschichte einer Zeit Hinweisen, die diesem Kunstgebaren nicht mehr so nahe steht und deshalb klarer sieht, wie die unsrige. Auch dieser Dilettantismus fand seine Lobredner. Die der modernen Bewegung ergebene Kritik pries nunmehr in ihrer grundsätzlichen Heraus­ streichung alles dessen, was aus den Händen der von ihnen gefeierten Künstler hervorging, mit großen Worten die wiedergewonnene „Einheit in der ctunft". Den viel­ fach ganz offenkundigen Mängeln ihrer Schöpfungen gegenüber drückte sie ein, ost beide Augen zu. Die besonneneren, durch eigene Schulung und Er­ fahrung gereiften Köpfe sahen sich außerstande, der immer breiter werdenden modernen Strömung ent­ gegenzutreten. Die Modernen hatten die Presse für sich, also auch die Macht. Sie nützten dieselbe zu ihren Gunsten aus und zwar mit jener Rücksichtslosigkeit, welche die Jugend als ein Recht für sich in Anspruch zu nehmen pflegt. Wo Stimmen vernehmbar wur­ den, die sich gegen dieses Kunstgebaren und gegen die dasselbe schützende Kritik wendeten, so wurden sie, namentlich dann, wenn sie von einer sonst viel beachteten Stelle kamen, weniger sachlich als tempera­ mentvoll und unnachsichtig niedergekämpst. Dieses ge­ schah um so leichter, als man keine andere Autorität als diejenige anerkannte, die sich in ausgesprochenster Weise zu der modernen Auffassung bekannte. Den An­ dersdenkenden wurde es immer schwerer, in der Öffent­ lichkeit Gehör zu finden. Wenn es ihnen nicht zusagte, als Prediger in der Wüste zu reden, so stellten sie sich abseits, um eine Zeit abzuwarten, in der die Steine zu reden beginnen. Viele von ihnen glaubten besser zu tun, sich der neuen Bewegung anzuschließen. Sie suchten sich mit mehr oder weniger Geschick und Glück in die Eigenart der modernen Auffassung hineinzufinden und

76

Stikrrungen.

machten als ausübende Rünfttet, Schriftsteller oder Rritiker die schon besprochenen Wandlungen mit durch und mit chnen auch die Irrungen. Für alle diese Kunstinteressenten war es fast immer die öffentliche Rtitif, die in der einen oder anderen Rich­ tung entscheidend einwirkte auf ihre Stellungnahme zur modernen Bewegung. Der Anteil der Kritik an den Schicksalen der modernen Kunst, insbesondere an den Folgen der Auflehnung gegen die Überlieferung, kann gar nicht überschätzt werden. Wir hätten uns noch weiter mit ihr zu besassen, wenn nicht der knappe Raum dieses Buches uns Beschränkung auferlegen würde, um uns noch andern Ursachen der aus der modernen Be­ wegung hervorgegangenen Stilirrungen zuwenden zu können. Die Ablehnung der Überlieferung hatte unmittelbar die Sucht nach dem Reuen zur Folge. Das Reue konnte nur den beiden Quellgebieten des künstlerischen Dorstellungsinhaltes, der Technik und der Natur, ent­ nommen werden. In bezug auf die Technik muhten diejenigen Formen, die schon früher in der Runft Ver­ wendung gefunden hatten, vermieden werden, und zwar selbst dann, wenn sie sich bewährt hatten und dem Gegen­ wartsbedürfnis voll entsprachen. Man war also, um absolut Neues hervorzubringen, auf die allerneuesten Errungenschaften der Technik angewiesen. Mit ihnen konnte aber der grohe Bedarf an Neuheiten nicht gedeckt werden. Man war genötigt, aus weniger Bewährtes, das früher keinen Eingang in die Runft gefunden hatte, sogar auf Fragwürdiges zurückzugreifen. Soweit man um die Verwendung früherer Motive nicht herumkam, — man denke nur an die Säulen und die Pfeiler — war man genötigt, selbst dann, wenn ein sachlicher oder ästhetischer Grund nicht vorlag, sie so umzuformen, daß

Wirkungen der Neuerungssucht.

77

das Urbild als solches nicht mehr kenntlich oder minde­ stens stark verwischt war. Die Künstler hatten also nicht die volle Freiheit in den Ausdrucksmitteln. Sie mußten weniger wählerisch sein und wurden weniger kritisch. Für alles Gestalten war der Grundsatz, Neues zu bringen, fast immer in erster Linie maßgebend. Auch in bezug auf die der Natur entnommenen Motive, die haupt­ sächlich für die Formenelemente der Schmuckkunst Ver­ wendung sanden, hatte man keine freie Hand. Denn man mußte auch hier tunlichst von allem absehen, was die Kunst der Vergangenheit schon vorweg genommen hatte. Unter diesen Umständen vermochte die Auswahl der Mittel und die Art und Weise ihrer Verwendung das aus das Schöne an sich ausgerichtete Kunstempfinden nicht immer und nicht in vollem Umfang zu befriedigen. Man suchte deshalb fortgesetzt andere Lösungen. Diese drängten von selbst den Schassenden immer mehr auf eine Jagd nach dem Neuen hin. Mit dieser wurde zuletzt ein Tempo angeschlagen, dem weder der einzelne Künstler, noch der Kunstfreund, soweit er „modern" bleiben wollte, zu folgen vermochte. Die damit eingerissene Art der Kunstbetätigung mußte zu schweren Schädigungen und Irrungen führen. Unbefriedigende, unpassende und unzweckmäßige Lösun­ gen waren die Folge. Jedem aufmerksamen Beobachter sind zahlreiche Beispiele hierfür bekannt. Man hat aber auch vielfach das von der modernen Runft ge­ schaffene Gute und Wertvolle aufgegeben, nachdem ihm der Reiz der Neuheit nicht mehr anhastete. Es sei hier u. a. nur an die sog. Unitapete erinnert, die durch ihre Einfarbigkeit und den Verzicht auf ornamentale Muste­ rung eine sehr günstige, die Ruhe und Einheitlichkeit in hohem Grabe fördernde Wirkung hervorries. Sie mußte weichen, als sie nicht mehr neu war.

78

Stilirrungen.

Am nachteiligsten wurde die Jagd nach dem Neuen für die (Erfüllung der Hauptbedingung jeglicher Erzeu­ gung von hochwertigen Kunstwerken, für die Stileinheit. Diese ist stets das Endergebnis langsamer, ruhiger, aus höchste Abrundung und Vollendung ausgehender Arbeit. Alles, was die Ruhe derselben aufstöbert, alles hastige Schaffen wirkt ihr entgegen. Denn dieses behindert die sorgfältige, wohlbedachte Auslese des Wirkungs­ gleichen und Anpassungsfähigen und insbesondere die viele Zeit und ein liebevolles Eingehen auf alle Einzel­ heiten erfordernde folgerichtige Durchstilisierung aller Bestandteile nach dem künstlerischen Einheitsgedanken. Im Künstler selbst wird die Aufmerksamkeit auf die Stileinheit und das Empfinden für sie in dem Mähe beeinträchtigt, als die Sucht nach dem Neuen zum Hauptgrundsatz seines Schaffens wird. Wer nur Neues haben will, wer gegenüber dem an sich Schönen und Entsprechenden, der Stileinheit Dienlichen sich unter allen Umständen für das noch nicht Dagewesene entscheidet, der unterliegt der Gefahr, das Unschöne dem Schönen vorzuziehen. Denn er sucht und sieht nicht mehr in erster Linie die Schönheit, sondern die Neuheit. Die weitere Verfolgung solcher Auffassungen muh zu Widersprüchen mit den in der Natur des Menschen begründeten und durch die Erfahrungen aller Zeiten bestätigten Grundlehren der Kunst führen. Irrungen sind dann unausbleiblich. Wenn bei der Wahl und Aneinanderpassung der Formen im Widerstreit der Motive überwiegend der Eindruck des Neuen den Aus­ schlag gibt, so bieten die Rücksichten auf Symmetrie und Rhythmus, Proportionalität, Geschlossenheit und Einheitlichkeit keine Schranken mehr. Vielmehr wird oft in sehr einfacher und überraschender Weise durch ein Hinwegsetzen über sie der Eindruck des Neuartigen er-

zielt. Bisweilen begründete man die genommenen Frei­ heiten mit Geboten der Zweckmäßigkeit; man glaubte dann um so eher von der Erfüllung der Hauptforderungen des ästhetischen Schaffens absehen zu können. Daß dieses stets auf Kosten der Runft geschah, wurde man bald nicht mehr gewahr. Hatten schon die Führer der modernen Bewegung die in der Natur des Künstlerischen liegenden Grenzen weit überschritten, so kannten die Nacheiferer keinen Halt mehr. Bei jenen war das Hervorgebrachte immer noch durch einen starken persönlichen Einschlag gebunden; bei den letzteren fiel dieser weg. Sie sahen nur die auffallendsten Neuerungen und ahmten diese ost in wahlund verständnislosen Zusammenstellungen und in einer das Neuartige stark übertreibenden Weise nach. Aus die große Öffentlichkeit, insbesondere das kau­ fende Publikum wirkte diese Art Kunst — sie war der Masse nach vorherrschend — aufs bedenklichste im Sinne einer äußersten Geschmacksverwirrung und Verwilderung ein. Man sah Werke vor sich, deren Entwürfe man auf hochgepriesene Künstler zurückführte oder welche man Fachschriften entnommen hatte, die als erstklassig galten. Und fast alle Urheber dieser Werte konnten sich auf Lobeserhebungen durch die Rritit berufen. Das Publi­ kum bestaunte das Neue, das Fremdartige. Es mußte, weil ihm die Sicherheit des eigenen Urteils von vorn­ herein fehlte oder abhanden gekommen war, dasselbe als „schön" hinnehmen; es wurde als schön betrachtet, weil es modern war. Man ordnete sich allmählich der Forderung des Modernen so unter, wie man es der Kleidermode gegenüber gewohnt war. Die Äunft lief schließlich selbst Gefahr, zur Mode zu werden. Schlim­ meres hätte ihr nicht widerfahren können. So weit war man gekommen mit der vorbehaltslosen Sucht nach

80

Mllirrungen.

dem Neuen. Ihr Anteil an den Stilwandlungen und Irrungen in den angewandten Künsten war kaum ge­ ringer als derjenige, welcher auf die Auflehnung gegen die Überlieferung zurückzuführen ist. Fassen wir nun auch die dritte der von den Füh­ rern der modernen Bewegung erhobenen Forderungen ins Auge, so sehen wir, dah sie durch die übertriebene Hervorkehrung und Ausprägung der Künstler­ individualität die schädliche Wirkung der beiden schon besprochenen Forderungen auf die Öffentlichkeit und das Gesamtbild der Runft nur noch verstärkte. Man ver­ langte von jedem Künstler eine seiner Persönlichkeit entsprechende Formensprache. Wir dürfen nun nicht verkennen, dah der Anspruch aus vollständige Auswir­ kung der Persönlichkeit einem allgemeinen Menschheits­ ideal entspricht und datz dieses im Künstler besonders mächtig ist und stark hervortritt. Es darf hiebei aber nicht übersehen werden, dah auch der energiegesättigte Mensch ausgeht in der nächst höheren Erscheinungsform des Individualismus, im Volkstum. Jedes Hinaustreten aus dem Boden des diesem Gemeinsamen führt, wie wir früher schon dargelegt haben, zur künstlerischen Un­ fruchtbarkeit und in stilkritischem Sinne zu Irrungen. In der Art und Weise, wie die Forderung von der mög­ lichsten Herausbildung des Ichs von den Künstlern auf­ gefaßt und durchgeführt wurde, lief dieselbe darauf hin­ aus, dah jeder unter allen Umständen „originell", also anders sein wollte, als der andere. Statt das allen Gemeinsame herauszuarbeiten, um zu einer allgemeinen, unserer Zeit und unserm Volkstum entsprechenden For­ mensprache zu gelangen, wurde das Gemeinsame tun­ lichst vermieden und dafür das Trennende hervorgekehrt. So trat nicht nur eine ungeheure KrSstezersplitterung ein; es wurde auch noch die Zerfahrenheit vervollstän-

Wirkungen de» Individualismus.

81

digt, in die man durch das Verlassen der alten Geleise gemeinsamer Kunstideale und durch die unstete Neue­ rungssucht dineingeraten war. Wie auf die Allgemeinheit, so übte der übertriebene Individualismus auch auf den einzelnen Rflnftkt einen sehr ungünstigen Einfluß aus. Gr verwirrte ihn, da er ihn nicht nach Gutdünken arbeiten ließ, unbekümmert darum, ob etwas schon dagewesen ist oder was andere tun, sondern ihn zwang, „eigenartig" zu sein, vor allem das zu bringen, was ihn von andern unterscheidet. Je mehr er einer solchen Eigenart zustrebte, desto weiter entfernte er sich von der Kunstauffassung der andern Künstler, desto mehr verzichtete er daraus, von diesen und von der Allgemeinheit verstanden zu werden. Für das kaufende Publikum ging mit der Aufnahme des Indi­ vidualismus im Kunstschaffen die Einheitlichkeit der Kunstsprache und damit also das verloren, was man unter dem „Stil" derselben versteht. Wenn ein halbes Hundert Möbelkünstler eine Ausstellung von Zimmer­ einrichtungen veranstaltet, so finden sich auf ihr ebenso viele Stile — wenn man hier überhaupt von Stil sprechen kann — zusammen, weil jeder sich bemüht, etwas Beson­ deres zu bieten, „individuell" zu sein. Das Publikum steht dann vor einem kaleidoskopartigen Sammelsurium, in welchem es sich nicht mehr zurechtfindet. Es sieht hier nicht das, was seiner Gesamtvorstellung entspricht, sondern nur, was die einzelnen Äünftkr für schön halten, und dieses ist, was am meisten auffällt, fast bei jedem etwas anderes. Hatten schon die Auflehnung gegen die Überlieferung und die Neuerungssucht die Stil­ begriffe aufs äußerste verwirrt, so ging nunmehr das, was von chnen etwa noch verblieben war, vollends ver­ loren. „Sagen sie mir einmal, Herr Professor, woran erkennt man denn den modernen Stil?" fragte in einer 8«*tm«nn, etilnxm»lung