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German Pages [402] Year 2015
Stiftsgeschichte(n) 250 Jahre Theologisches Stift der Universität Göttingen (1765 – 2015)
herausgegeben von Bernd Schröder und Heiko Wojtkowiak unter Mitarbeit von Ole Großjohann und Lars Röser
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 4 Abbildungen Umschlagabbildung: Portal des Theologischen Stifts Göttingen, © Dr. Heiko Wojtkowiak Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-57037-1 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Grußwort der Universitätspräsidentin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I: Stiftsgeschichte 1765 – 2015 Heiko Wojtkowiak Gemeinsames Leben und Studieren im Wandel der Zeiten . . . . . . . . .
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Dietrich Korsch Religion der Freiheit erleben und gestalten: Über theologische Bildung im Theologischen Stift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil II: Stiftsbiographien Martin Keßler Johann Philipp Gabler (1753 – 1826) – historisch-kritische Exegese zwischen Dogma und Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Joachim Ringleben Philipp Konrad Marheineke (1780 – 1846) – die Zuflucht im Begriff . . . .
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Rudolf Smend Heinrich Ewald (1803 – 1875) – der „Lehrer ohne Gleichen“ . . . . . . . .
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Hans Otte Gerhard Uhlhorn (1826 – 1901) – „Nicht Repristination, nur Fortentwicklung“: Liebestätigkeit im Horizont des Gottesreichs . . . . . .
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Ekkehard Mühlenberg Theodor Zahn (1838 – 1933) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6
Inhalt
Reinhard Gregor Kratz Julius Wellhausen (1844 – 1918) und die Geschichte . . . . . . . . . . . . . 105 Thilo Alexander Rudnig Bernhard Duhm (1847 – 1928) – „Die Propheten sind das Fundament von Israels Religion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Joachim Weinhardt Ferdinand Kattenbusch (1851 – 1935) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Heiko Wojtkowiak William Wrede (1859 – 1906)
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
Frieder Ludwig Carl Mirbt (1860 – 1929) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Christian Schäfer Alfred Rahlfs (1865 – 1935) und die historisch-kritische Edition der Septuaginta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Martin Laube Rudolf Otto (1865 – 1937) – das Rationale und das Irrationale in der Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Matthias Wilke Emanuel Hirsch (1888 – 1972) – „Jene zwei Göttinger Stiftsinspektorenjahre haben die Liebe zu Göttingen für immer in mir erweckt […] Aber […]“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Reinhard Feldmeier Erik Petersen (1890 – 1960) – „Eine merkwürdige Randgestalt […] in diesem Äon“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Stefan Dietzel Kurt Dietrich Schmidt (1896 – 1964)
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
Peter Gemeinhardt Hans Freiherr von Campenhausen (1903 – 1989) als Stiftsinspektor . . . . 221 Dietrich Korsch Carl Heinz Ratschow (1911 – 1999) – Gott als wirkende Wirklichkeit
. . . 235
Inhalt
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Bernd Schröder Wolf-Dieter Marsch (1928 – 1972) – Theologie und Kirche als „Ort[e] des Übergangs“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Jan Hermelink Dietrich Rössler (*1927) – Theorie der pastoralen Praxis im Kontext des gegenwärtigen Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Gerard den Hertog Hans Joachim Iwand (1899 – 1960) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Dietz Lange Wolfgang Trillhaas (1903 – 1995) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Christoph Elsas Carsten Colpe (1929 – 2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Ed Noort Walther Zimmerli (1907 – 1983) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Florian Dinger Christoph Bizer (1935 – 2008) – christliche Religion wahrnehmen und gestalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Annette Steudel Hartmut Stegemann (1933 – 2005) – ein Leben für die Erforschung der Texte vom Toten Meer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Teil III: Stiftsthemen Andrea Bieler Spiritualität im Theologiestudium
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337
Hans-Martin Gutmann Stiftsarbeit in interreligiöser Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Lars Röser Im Takt der Zeit – Musik im Theologischen Stift . . . . . . . . . . . . . . 353
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Inhalt
Yves Töllner / Michael Lapp Selbstverwaltung im Spannungsfeld von Spiritualität und politischem Engagement – Reminiszenzen an eine Zeit des Umbruchs . . . . . . . . . 359 Emanuel Hübner „Himmlisches Haus“ und Ernst-August-Hospital – Die Geschichte der Gebäude des Theologischen Stifts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 Ole Großjohann Stiftsarbeit als Bruderdienst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Repetenten, Inspektorinnen und Inspektoren sowie Ephoren des Theologischen Stifts der Georg-August-Universität Göttingen (1765 – 2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395
Vorwort
Für eine Universität sind 250 Jahre kein Alter, reicht doch die europäische Universitätsgeschichte, so im Falle der Universität Bologna, bis ins Jahr 1088 zurück, die deutsche, so im Falle der Universität Heidelberg, bis 1386. Für ein Theologisches Stift hingegen stellen 250 Jahre eine bemerkenswert lange Zeit des Bestehens dar. Gegründet im Jahr 1765 ist das Theologische Stift Göttingen nur 28 Jahre jünger als die Alma mater Gottingensis insgesamt, die 1737 inauguriert wurde.1 Das Stift ist – nach der Universitätsbibliothek (gegr. 1734), dem Botanischen Garten (gegr. 1736) und dem Waisenhaus (gegr. 1747)2 – die viertälteste Einrichtung der Georg-August-Universität Göttingen und das viertälteste unter den gegenwärtig existierenden Theologischen Stiften an Universitäten in Deutschland. Die älteste, beispielgebende unter diesen Einrichtungen entstand 1529 in Marburg, also im Zusammenhang mit der Gründung der ersten protestantischen Universität („Hessische Stipendiatenanstalt“),3 die zweitälteste 1536 in Tübingen („Evangelisches Stift Tübingen“)4 und die drittälteste besteht seit 1717 in Halle/S. („Evangelischer Konvikt – Studienhaus der Kirchenprovinz Sachsen in den Franckeschen Stiftungen“).5 Marburg und Tübingen sind aus dem Geist und der Initiativkraft der Reformation entstanden, Halle aus dem Pietismus, Göttingen aus der Aufklärung. 1 Vgl. hierzu Hartmut Boockmann: Göttingen – Vergangenheit und Gegenwart einer europäischen Universität, Göttingen 1997. 2 Vgl. Markus Meumann: Universität und Sozialfürsorge zwischen Aufklärung und Nationalsozialismus: das Waisenhaus der Theologischen Fakultät in Göttingen 1747 – 1938, Göttingen 1997. 3 Lars Hillebold (Hg.): aufgeschlossen. Festschrift zum Jubiläum. 475 Jahre Hessische Stipendiatenanstalt Marburg, Ebsdorfergrund 2004. 4 Vgl. dazu etwa Joachim Hahn und Hans Mayer: Das Evangelische Stift in Tübingen: Geschichte und Gegenwart – zwischen Weltgeist und Frömmigkeit, Stuttgart 1985, und: Volker Henning Drecoll, Juliane Baur und Wolfgang Schöllkopf (Hg.): Stiftsköpfe, Tübingen 2012. 5 Friedrich de Boor und Michael Lehmann (Hg.): Studien- und Lebensgemeinschaft unter dem Evangelium. Beiträge zur Geschichte und zu den Perspektiven des Evangelischen Konviktes in den Franckeschen Stiftungen zu Halle (Saale), Halle 1998.
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Vorwort
Die Geschichte des Theologischen Stifts der Georg-August-Universität lässt sich auf mindestens dreierlei Weise erzählen – in Grundzügen sei dies hier jeweils vorweggenommen.
Stiftsgeschichte anhand seiner Aufgaben Im Jahr 1765 entstand das heutige Stift als „collegium theologicum repetentium“, also als Einrichtung, die der Übung der Theologiestudenten vor allem im Bereich ihrer altsprachlichen Kenntnisse und der Förderung examinierter junger Wissenschaftler dienen sollte. Nach beinahe 100 Jahren wurde dem Repetentenkollegium 1859 auf Anregung des Theologieprofessors August Isaak Dorner ein Wohnheim zugeordnet. Sowohl die Repetenten als auch die ihnen anvertrauten Theologiestudenten konnten fortan somit gemeinsam wohnen, arbeiten und leben. Damit kam dieser Einrichtung wie ihrem Vorbild, dem Evangelischen Stift Tübingen, neben der intellektuellen Aufgabe des Lehrens und Lernens auch die ökonomisch-leibliche Funktion des subventionierten Wohnens und Verpflegens („Stipendium“) sowie die geistliche Dimension der vita communis zu. 1876 wurde das Repetentenkollegium förmlich aufgelöst; stattdessen wurde das „Theologische Stift“ konstituiert. 1878 wurde ein „Reglement“ für das Stiftsleben erlassen, das die neuen Aufgaben festschrieb. Seitdem besteht es mit jener Trias der Funktionen fort. Allerdings kamen wiederum etwa einhundert Jahre später nochmals zwei Aufgaben hinzu: Stand das Stift lange fraglos unter Leitung seiner Lehrenden wuchs ab Mitte des 20. Jahrhunderts die Verantwortung der Bewohner. Zunächst kam diese nur dem aus der Mitte der Bewohner gewählten „Senior“ zu, doch bald begann dieser ein „Kabinett“ aus sog. Ministern zu ernennen, die sich die wichtigsten Aufgaben des Hauses teilten. Seit dem Ende der 1960er Jahren gehört diese Form der studentischen Selbstverwaltung zu den Markenzeichen des Stiftes. Sie ist die Basis dafür, dass das Stiftsleben heute ein breites Spektrum von Aktivitäten umfasst: wöchentlicher Stiftsabend, „Kulturabend“ und Sozialprojekt sind nur einige Beispiele. Seit den Nachkriegsjahren gehören stets auch ausländische Studenten zu den Stiftsbewohnern: England, Frankreich, die Schweiz, die USA, seit Ende der 1950er Jahre Äthiopien und andere Länder mehr sind vertreten. Seit 1969 sind auch weibliche Bewohnerinnen zugelassen; in den 1990er Jahren kamen Studierende hinzu, die nicht (Ev.) Theologie studieren und nicht-christlichen Religionen angehören. Seit 1978 besteht ein förmlich besiegelter Austausch zwischen der Theologischen Fakultät und der Candler School of Theology, Emory University, Atlanta (USA), seit 2004 auch mit der Escola Superior de Teologia de São Leopoldo (Brasilien). Die auswärtigen Austauschteilnehmenden leben im
Vorwort
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Theologischen Stift, es entwickelt so sukzessive eine inklusive Dimension. Heute hat es vor allem ein internationales und ökumenisches, phasenweise interreligiöses Profil.
Stiftsgeschichte anhand seines Sitzes und seiner Finanzierungsquellen Als Repetentenanstalt war das Stift zunächst gleichsam virtueller Natur, unterhalten aus Mitteln der Universität. Es bestand dort, wo die Repetenten ihrer Arbeit nachgingen – und das wiederum war jeweils dort, wo ihr Seminar bestand. Erst 1878 wurden die Bibliothek[en] und Seminarräume der Fakultät in einem „Theologischen Seminar“ und damit auch in einem Gebäude zusammengeführt,6 das sich zunächst am Nikolausberger Weg, ab 1936 am Friedländer Weg, seit 1966 am „Platz der Göttinger Sieben“ befand bzw. befindet. Kurz vor der Umbenennung in ein „Theologisches Stift“ fand das Collegium 1859 seinen Sitz in einem Wohnhaus am Stumpfebiel 2, das zuvor als Professoren-Wohnsitz und universitäres Hospital gedient hatte. Nach mehr als einhundert Jahren wurde dieses von den Bewohnern „Stiller Ochse“ genannte Anwesen 1967 baufällig, sodass die Zimmer der Studierenden vorübergehend in ein Studienhaus der Ev.-Lutherischen Landeskirche Hannovers sowie ein weiteres Haus am Kreuzbergring ausgelagert wurden. Erst 1982 konnte das Theologische Stift im ehemaligen Ernst-August-Hospital in der Geiststraße 9 unter einem Dach rekonstituiert werden – ermöglicht wurde dies durch erhebliche Zuschüsse der „Konföderation der evangelischen Kirchen in Niedersachsen“, der zur Theologischen Fakultät gehörigen „Waisenhausstiftung“ und des „Allgemeinen Hannoverschen Klosterfonds“. In der Geiststraße 9 residiert das Stift auch im Jubiläumsjahr 2015; bis heute ist es eine Einrichtung der Georg-August-Universität, die dementsprechend für seine grundständige Finanzierung Sorge trägt.
6 Dazu Rudolf Smend: Kurze Geschichte des Fachbereichs Theologie der Georgia Augusta, in: Hans-Günther Schlotter (Hg.): Die Geschichte der Verfassung und der Fachbereiche der Georg-August-Universität zu Göttingen, Göttingen 1994 (Online-Ausgabe München 2009), 46 – 53, hier 50 f.
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Vorwort
Stiftsgeschichte anhand seiner Angehörigen Von 1765 – 1867 definierten sich die damalige Repetentenanstalt sowie von 1867 – 1877 auch das Theologische Stift über ihre (bis zu drei) Repetenten, angefangen von Christian Peter Polchow (1765) bis zu Leberecht Kluth (1875 – 1877). Darunter finden sich viele Namen, die Göttinger Universitäts-, Kirchenoder Theologiegeschichte geschrieben haben, etwa Johann Philipp Gabler, Philipp Konrad Marheineke, Fr. Wilhelm Gesenius, Heinrich Ewald, Julius Wellhausen, Gerhard Uhlhorn, Theodor Zahn, Bernhard Duhm und Ferdinand Kattenbusch. Ab 1859 prägen auch die studentischen Bewohner des Wohnheims das Bild. Anfangs waren es zwölf, heute sind es etwa fünfunddreißig in jedem Semester. Bis heute haben damit ca. 4.000 Studierende das Stift durchlaufen, die nach Ende ihres Studiums ganz überwiegend die Pfarrlaufbahn, dies wiederum zumeist, aber keineswegs ausschließlich in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers eingeschlagen haben. Seit 1878 begleitet statt der Repetenten ein sog. Stiftsinspektor die „Stiftis“, der für zunächst zwei, später drei bzw. vier Jahre angestellt wurde. Hier reicht das Spektrum von Prof. Dr. Arnold Jacobshagen (1878 – 1880) bis zu Dr. Heiko Wojtkowiak (seit 2013); wiederum ist darunter eine große Zahl berühmter Namen aus allen theologischen Disziplinen zu finden. William Wrede, Carl Mirbt, Alfred Rahlfs, Rudolf Otto, Emanuel Hirsch, Erik Peterson, Kurt Dietrich Schmidt, Hans von Campenhausen, Carl Heinz Ratschow, Wolf-Dieter Marsch und Dietrich Rössler werden in diesem Band vorgestellt; etliche weitere, heute als Professoren tätige frühere Inspektoren, porträtieren für diesen Band frühere Kollegen bzw. Facetten des Stiftslebens, so Edward Noort, Dietrich Korsch, HansMartin Gutmann und Andrea Bieler. Schließlich wurde im 20. Jahrhundert das Amt des Ephorus eingeführt. Er steht, jeweils für die Dauer von fünf Jahren aus dem Collegium der Theologischen Fakultät gewählt, dem Stiftskuratorium vor, in dem u. a. der Bischof der Hannoverschen Landeskirche, das Präsidium der Universität und der Dekan der Theologischen Fakultät vertreten sind. Das Amt des Ephorus bekleideten seit dem Zweiten Weltkrieg die Professoren Hans Joachim Iwand, Wolfgang Trillhaas, Kurt Galling, Carsten Colpe, Walther Zimmerli, Christoph Bizer, Hartmut Stegemann, Reinhard Feldmeier und (seit 2013) Bernd Schröder – mit Ausnahme der beiden Letztgenannten werden auch sie hier porträtiert.
Vorwort
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Das Theologische Stift als Bildungsinstitution Angesichts seiner Aufgaben, seiner Infrastruktur und seiner Angehörigen kann man das Theologische Stift guten Gewissens als „Bildungsinstitution“7 charakterisieren, für die eine staatliche bzw. als Stiftung verfasste Universität primär Verantwortung trägt, diese aber im Blick auf die inhaltliche Ausrichtung des Stiftslebens mit dem seit jeher theologisch inspirierten Stift und seinen Gremien teilt. Das Stift ist für seine Bewohnerinnen und Bewohner sowie für die Inspektorinnen und Inspektoren eine wichtige Etappe ihrer Studien- und Berufsbiografie; es lebt von der Dichte der bildenden Anregungen, die der vita communis, der ökumenischen Vielfalt seiner Bewohner und den eigens für das Stift konzipierten Übungen entspringen. Als Haus repräsentiert und symbolisiert es die Idee einer vielseitigen, universitär basierten Bildung in evangelischer Verantwortung. Der Rückblick auf 250 Jahre durchaus wechselvoller Geschichte ist Anlass zur Dankbarkeit: gegenüber der Universität, die auch als Stiftungsuniversität das Theologische Stift unterhält, gegenüber der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers, die sich finanziell, aber auch in vielen anderen Hinsichten für das Stift engagiert, gegenüber den Geldgebern für zahlreiche Baumaßnahmen, namentlich dem „Allgemeinen Hannoverschen Klosterfonds“ und einigen Privatpersonen, die ungenannt bleiben möchten, gegenüber den früheren Inspektoren und Ephoren, die sich für das Theologische Stift eingesetzt und es mit ihren Anregungen bereichert haben, und nicht zuletzt gegenüber den Studentinnen und Studenten, die das Theologische Stift mit Leben und – im besten Sinne des Wortes – mit Zeitgeist gefüllt haben. Auch dass diese 250 Jahre mit einer Festschrift in Erinnerung gerufen werden können, ist keine Selbstverständlichkeit: Wir danken dem „Verein der Freundinnen und Freunde des Theologischen Stifts“ für einen beträchtlichen Zuschuss zu den verlegerischen Kosten, den Schriftführern des Vereins, Ole Großjohann und Lars Röser, für Beratung und Korrekturlesen, dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, namentlich den Herren Jörg Persch und Christoph Spill, für die Bereitschaft zur Publikation, und schließlich Herrn Moritz Emmelmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Theologie und Religionspädagogik, für die nicht unerheblichen Mühen der Redaktion mit einem Werk aus der Feder Vieler. Schließlich bedanken wir uns bei den Autorinnen und Autoren der hier versammelten Beiträge für deren Abfassung. Erst ihr Engagement ermöglicht es, 7 Vgl. dazu die Überlegungen von Reiner Preul: Kirchentheorie, Berlin/New York 1997, 140 – 152 und Bernd Schröder: Religionspädagogik, Tübingen 2012, 253 f.
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Vorwort
250 Jahre „Stiftsgeschichte(n)“ ebenso unterhaltsam wie anregend Revue passieren zu lassen. Göttingen, im Januar 2015
Für die Herausgeber: Bernd Schröder
Grußwort der Universitätspräsidentin
Auf den 20. Mai 1765 ist die Gründungsurkunde des „Collegium theologicum repetentium“, die Keimzelle des Theologischen Stifts unserer Universität, datiert. Mit 250 Jahren Bestand gehört das Stift zu den ältesten Einrichtungen der Georgia Augusta, die ihrerseits 1737 inauguriert wurde. Über Jahrhunderte kam das Theologische Stift vor allem den Studierenden der Theologischen Fakultät zugute: Es war – und ist – ein Ort des intensiven Lernens und Lehrens, ein Ort des gemeinsamen, auch spirituellen Lebens und ein Ort, an dem die Bewohnerinnen und Bewohner sichtbar Verantwortung für ihre Gemeinschaft und Andere übernehmen. Kurz gesagt: ein Ort für solche Bildung, die über den Erwerb von Wissen und funktionalen Kompetenzen – so wichtig und unerlässlich beides ist – hinausgeht. Nicht zuletzt fördert das Stift Studierende auch finanziell. Das Mietstipendium erlaubt es ihnen, zu außergewöhnlich günstigen Konditionen mitten in der Stadt zu leben. Doch in den letzten Jahrzehnten ist das Stift noch mehr geworden. Dass Studierende aus dem europäischen und außereuropäischen Ausland im Stift leben und arbeiten, ist seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges selbstverständlich – anfangs kamen sie v. a. aus Frankreich, England und den USA. Gegenwärtig sind zudem u. a. Brasilien, die Niederlande, die Slowakei, Tansania, die Türkei und Weißrussland vertreten. In die Partnerschaften der Theologischen Fakultät mit der Emory University, Atlanta (USA) und der Escola Superior de Teologia, Sao Leopoldo (Brasilien) ist das Stift ebenfalls eingebunden. Es ist ein Ort, an dem die Internationalisierung universitären Lebens in besonderer Weise zum Ausdruck kommt und gepflegt wird. Das Stift war und ist auf unsere Theologische Fakultät bezogen. Die meisten Stiftsbewohnerinnen und -bewohner haben nach Abschluss ihres Studiums ein Pfarramt übernommen. Unbeschadet dessen hat das Stift in den letzten Jahren ökumenische, ja, interreligiöse Weite gewonnen: brasilianische und tansanische Lutheraner, weißrussische Orthodoxe, türkisch-sunnitische Muslime, Presbyterianer und Baptisten aus den USA leben hier mit Studierenden evangelischer Theologie (und anderer Fächer) aus den verschiedenen Regionen Deutschlands
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Grußwort der Universitätspräsidentin
zusammen. Das Stift hält diese ökumenisch-interreligiöse Komponente im studentischen Leben der Universität lebendig. Im Stift leben seit den 1960er Jahren nicht mehr nur Theologiestudierende, sondern auch Studierende anderer Fächer. Das Stift ist schon jetzt ein Ort, wo interdisziplinär aufeinander zu gedacht wird. Mit all dem steht das Theologische Stift wie die gesamte Universität für Internationalität und Weltoffenheit, Interdisziplinarität und Begegnung. Es bringt zusätzlich besondere Facetten zur Geltung: Ökumene und Interreligiosität, vita communis und die Pflege von Musik, Kultur und sozial-politischem Engagement nicht als bloße Privatsache, sondern als Teil gesellschaftlicher akademischer Existenz. In dieser Weise ist das Theologische Stift ein wichtiger Baustein im Leben unserer Universität und steht für die Vielfalt einer erfolgreichen Stiftungsuniversität. Deshalb gratuliere ich im Namen des Präsidiums herzlich zum 250. Geburtstag des Theologischen Stifts. Wir sind den Studierenden, den Inspektoren und Ephoren dankbar für ihr Engagement im und für das Stift – und wünsche ein gutes und erfolgreiches Stiftsleben für die kommenden 250 Jahre. Prof. Dr. Ulrike Beisiegel Präsidentin der Georg-August-Universität Göttingen
Teil I: Stiftsgeschichte 1765 – 2015
Heiko Wojtkowiak
Gemeinsames Leben und Studieren im Wandel der Zeiten
Die Geschichte des Theologischen Stifts der Georg-August-Universität Göttingen ist gleichzeitig eine Geschichte des gemeinsamen Lebens und Studierens. Nicht zuletzt zeugt sie von den unterschiedlichen Herausforderungen, vor die sich das Stift als Bildungseinrichtung und als Wohnort für Studierende über zweieinhalb Jahrhunderte hinweg gestellt sah.
1.
Vom Repetentenkolleg zum Theologischen Stift
Am 20. März 1765 trat das „Reglement vor das Collegium theologicum repetentium zu Göttingen“ in Kraft. Zweck des Repetentenkollegs, aus dem das Theologische Stift hervorgehen sollte, war zunächst die Heranbildung wissenschaftlichen Nachwuchses, indem Studenten im fortgeschrittenen Semester die Möglichkeit gewährt wurde, erste Lehrerfahrungen zu sammeln. Die Hauptaufgabe dieser Repetenten bestand darin, Lehrveranstaltungen der Professoren vor Studenten zu vertiefen. Dies diente gleichzeitig dazu, die Ausbildung aller Studenten und damit auch des Nachwuchses für den kirchlichen Dienst zu verbessern. So heißt es im Reglement: „Der wesentliche Zweck dieses Instituti soll also darin bestehen, daß die Membra deßelben […] sich eine mehrere Geschicklichkeit und Fertigkeit im Lehren erwerben, und dabey der studierenden Jugend nützlich werden.“1 Auf diese Weise sollte ein Beitrag dazu geleistet werden, dass der seinerzeit wahrgenommene „traurige Verfall der Religion und das ungesegnete Wachstum des Unglaubens und der Ruchlosigkeit“2 durch besser ausgebildete akademische Lehrer und Pfarrer eingedämmt werde.
1 Reglement vor das Collegium theologicum repetentium zu Göttingen, 20. 3. 1765, §1, Universitätsarchiv Göttingen, Theol. SA 0050. 2 Denkschrift zur Errichtung des Repetentencollegiums, 21. 2. 1765, Universitätsarchiv Göttingen, Theol. SA 0051.1.
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Wohnraum für Studenten bot das Kolleg lange Zeit nicht. Erst annähernd einhundert Jahre später, im Jahr 1859, konnten die Repetenten gemeinsam mit acht Studenten die Räume eines im Besitz der Universität befindlichen ehemaligen Hospitals im Stumpfebiel beziehen. Zeitgleich erfolgte eine Neuregelung der Aufgaben des Repetentenkollegs. Im neuen Reglement begegnen die Förderung von Nachwuchswissenschaftlern (u. a. durch die Möglichkeit eigenständigen Unterrichtens) und die Förderung der Studierenden im Hinblick auf ihren zukünftigen Dienst in der Kirche nunmehr als „doppelte[r], in untrennbarem Zusammenhang stehende[r] Zweck“3 des Repetentenkollegs. Der Lehrauftrag der Repetenten umfasst die Lektüre biblischer Bücher in der Ursprache, „Conversatorien“4 zu exegetischer, historischer und systematischer Theologie sowie mindestens einmal im Semester die Durchführung einer Disputation, anknüpfend an das historische oder systematisch-theologische Conversatorium.5 Für die Disputation sind lateinische Thesen vorzulegen, zumindest Einleitung und Abschluss der Disputation haben ebenfalls auf Latein zu erfolgen. Als weitere Aufgabe der Repetenten tritt die Korrektur wissenschaftlicher Ausarbeitungen der Studenten hinzu. Eine derartige Hausarbeit hat „jeder Theologie studierende Inländer jährlich“ binnen einer sechswöchigen Frist anzufertigen.6 Auch hier wird dem Lateinischen noch besonderer Wert zuerkannt. So muss mindestens eine Hausarbeit während des Studiums auf Latein verfasst werden.7 Die Erneuerung des Repetentenkollegs, die Einrichtung studentischen Wohnraums und die neue Aufgabenbestimmung gehen maßgeblich auf Bestrebungen des Systematikers Isaak August Dorner und des Praktischen Theologen Friedrich Ehrenfeuchter zurück. Dorner und Ehrenfeuchter, beide Vertreter der Vermittlungstheologie, waren zu dieser Zeit als Ephoren für das Kolleg zuständig. Aus dem Repetentenkolleg gingen eine Reihe namhafter Theologen hervor. In der Frühzeit des Kollegs waren als Repetenten neben anderen Philipp Konrad Marheineke (1804), einer der maßgeblichen Vertreter der auf eine Verknüpfung von philosophischen und theologischen Denkvoraussetzungen ausgerichteten Spekulativen Theologie, und Wilhelm Gesenius (1806) tätig. Letzterer ist als Verfasser des „Hebräischen und aramäischen Handwörterbuchs über das Alte Testament“ Studierenden bis heute vertraut. Nach der Reform des Kollegs und der Einrichtung von Wohnheimplätzen hatten sowohl Theodor Zahn (1865 – 68) als auch Julius Wellhausen (1868 – 70) Repetentenstellen inne.
3 Reglement für das theologische Repetenten-Collegium in Göttingen, 10. 3. 1859, §1, Universitätsarchiv Göttingen, Theol. SA 0128a.1. 4 Diese Form der Lehrveranstaltung entspräche heute in etwa einem Seminar oder einer Übung. 5 Vgl. Reglement 1859 (s. o. Anm. 3), § 7 – 10. 6 Ebd., §11. 7 Vgl. ebd.
Gemeinsames Leben und Studieren im Wandel der Zeiten
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1878 kam es zur Umwandlung des Repetentenkollegs in das Theologische Stift. Entscheidende Änderung war der Ersatz der drei Repetentenstellen durch die Stelle eines einzigen Inspektors. Hiermit erfolgte faktisch eine Abkehr vom einstmaligen Zweck des Kollegs, wissenschaftlichen Nachwuchs zu fördern. Zwar wurde für die Inspektorenstelle eine besondere wissenschaftliche Qualifikation gefordert, welche die Bewerber gegebenenfalls durch „eine theologische Abhandlung“ nachweisen mussten. Für den Inspektor bestand jedoch seitens der theologischen Fakultät ein Habilitationsverbot.8 Dieses wurde erst in den 1920er Jahren auf Betreiben Emanuel Hirschs, selbst Inspektor von 1912 – 1914, abgeschafft. In seinem Eintrag in das Inspektorenbuch beklagt sich Hirsch über das Verbot: „Schmerzlich habe ich es auch empfunden, daß mir so Paul Althaus um ein Jahr in der Habilitation zuvorkam.“9 Hirsch gibt zudem an, er habe die Stelle des Inspektors nur erhalten, weil sowohl Althaus als auch Paul Tillich diese wegen des Habilitationsverbots „nicht auf sich nehmen“ wollten.10 Mit dem Übergang vom Repetentenkolleg zum Theologischen Stift rücken zudem der den Studenten gewährte Wohnraum und die Organisation des Lebens in der Einrichtung in den Fokus. Zweck des Stifts ist, „einer Anzahl Studierender der Theologie unentgeltlich Wohnung im Stiftshause“ zu gewähren.11 Als Aufgabe des Inspektors erwähnt das Reglement noch vor der wissenschaftlichen Förderung der Studierenden, dass er sich um „Anstand und Ordnung im Hause […] und die sittliche Haltung der einzelnen im Stift befindlichen Studierenden“ zu kümmern habe.12 Die Grundstruktur des Stifts, wie sie das Reglement von 1878 festhält, ist bis heute weitgehend erhalten geblieben. Nach wie vor wird Studierenden unentgeltlich Unterkunft gewährt, d. h. aktuell unter Zahlung nur der Mietnebenkosten, der Kosten für die gemeinsamen Mahlzeiten sowie eines Beitrags zur Finanzierung des Gemeinschaftslebens. Weiterhin ist für die Betreuung der Studierenden ein Stiftsinspektor zuständig. Hinzu gekommen ist als Leiter der Einrichtung ein Professor der theologischen Fakultät als Ephorus. Auch manches Bedürfnis der Studierenden, welches in Zeugnissen der ersten Stiftsjahre begegnet, ist bis heute vertraut. So bemerkt William Wrede 1885: „Aber es gibt nicht wenige Studierende und auch im Stift solche, welche vor den Vorarbeiten zum ersten theologischen Examen überhaupt kaum jemals einen theologischen 8 Reglement für das theologische Stift bei der königlichen Universität zu Göttingen, 8. 6. 1878, § 6, Universitätsarchiv Göttingen, Theo. SA 0128a.1. 9 Emanuel Hirsch: Eintrag Inspektorenbuch, August 1930, Stiftsarchiv. Hirsch zufolge bestand der Grund des Verbots in der Befürchtung, „der Stiftsinspektor würde als Privatdozent den Ordinarien sonst zu große Conkurrenz machen.“ Ebd. 10 Ebd. 11 Reglement 1878 (s. o. Anm. 8), §1. 12 Ebd., §3.
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Aufsatz […] verfasst haben.“13 Wrede bittet daher die theologische Fakultät darum, „daß jeder Stipendiat des theologischen Stiftes […] in jedem Semester einen schriftlichen Aufsatz über ein theologisches Thema anzufertigen und an den Inspektor des Stiftes einzuliefern habe.“14 Wie bereits unter den Repetenten begegnen auch unter den Inhabern der Inspektorenstelle, trotz des Habilitationsverbots der ersten Jahrzehnte, zahlreiche berühmte Namen: Verbrachten zunächst mehrere (nachmalige) Mitglieder der Göttinger Religionsgeschichtlichen Schule eine Zeit als Inspektor am Theologischen Stift – neben Wrede sind dies Wilhelm Bornemann, Alfred Rahlfs, Heinrich Hackmann und Wilhelm Heitmüller – so bekleideten im zwanzigsten Jahrhundert unter anderem Emanuel Hirsch (1912 – 14), Hans von Campenhausen (1930 – 35) und Carl-Heinz Ratschow (1935 – 39) die Stelle des Stiftsinspektors.
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Gemeinsames Leben im Theologischen Stift
1882 bemerkt Wilhelm Bornemann in seinem Jahresbericht als Stiftsinspektor: „Vielmehr glaube ich, daß gerade die eigentümliche Ausgestaltung unseres Instituts mit seiner größeren Freiheit u[nd] seinem weniger straffen Zusammenhang seine volle Berechtigung u[nd] seine besonderen Vorzüge hat.“15 Bornemanns Charakterisierung der Institution Theologisches Stift wird bis in die Gegenwart Gültigkeit beanspruchen dürfen. Mit der Aufnahme in das Stift ist die Erwartung verbunden, das jeder Einzelne am Gemeinschaftsleben partizipiert. Gleichzeitig aber gehört zum Ethos der Einrichtung ein Freiheitsmoment, welches Anlass gibt, diese Erwartung nicht zu einem Zwang werden zu lassen. Die hierdurch bestehende Spannung zwischen Anspruch und Freiheit zieht sich als Kontinuum durch die Geschichte des Theologischen Stifts. Sie begegnet regelmäßig aufs Neue in der Frage, wie eine möglichst breite Partizipation am Gemeinschaftsleben bei gleichzeitiger Wahrung der Freiheit der Stiftsbewohner erreicht werden kann. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert tritt diese Frage insbesondere im Zusammenhang mit dem Verbindungswesen zutage. So waren die Stiftsbewohner mehrheitlich auch Mitglied in einer der Göttinger Studentenverbindungen. Hieraus ergab sich eine Konkurrenzsituation zwischen dem Gemeinschaftsan13 William Wrede: Jahresbericht, 15. 10. 1885, Universitätsarchiv Göttingen, Theol. SA 0128a.1, 30 f. Obige Bestimmung des Reglements von 1859 bzgl. der Hausarbeiten ist im Reglement des Theologischen Stifts entfallen. 14 Ebd., 30. 15 Wilhelm Bornemann: Jahresbericht, 2. 8. 1882, in: Gerd Lüdemann und Martin Schröder: Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen, Göttingen 1987, 48.
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spruch der jeweiligen Verbindung und demjenigen des Theologischen Stifts. So verweist Bornemann darauf, „daß Mitglieder einer Verbindung durch deren Charakter u[nd] Statuten stets gezwungen sind, bis zu einem gewissen Grad gegenüber dem Zusammenhang des Stifts ablehnend u[nd] zurückhaltend zu bleiben.“16 Bornemanns Nachfolger Wrede betont: „Für die Lebhaftigkeit der Verbindungen unter den Studierenden des Stifts wird es nämlich immer von Vorteil sein, wenn nunmal nicht zu viele studentische Verbindungen im Stift vertreten sind, sodann […] diejenigen Vereinigungen, welche ein exklusives Verhalten ihrer Glieder im Verkehre am wenigsten fordern und denselben über ihre Zeit die freieste Verfügung gewähren, am stärksten vertreten sind.“17 Nicht allein auf die Partizipation am Gemeinschaftsleben überhaupt, sondern auch auf das Verhältnis einzelner Bewohner zueinander konnte die Mitgliedschaft in Studentenverbindungen Auswirkungen haben. Heinz Weidemann, Inspektor von 1922 – 1925, berichtet davon, wie es an einem Stiftsabend „zwischen zwei ‚schlagenden‘ Studenten zu einer ‚Säbelforderung‘ kam.“18 Einen massiven Einschnitt für die Stiftsgemeinschaft bedeuteten die beiden Weltkriege. Exemplarisch sei hier auf die Situation vor hundert Jahren zu Beginn des ersten Weltkriegs verwiesen. Am 3. August 1914 meldete sich Emanuel Hirsch mit einem Großteil der Bewohner zum Kriegsdienst. Hirsch selbst wurde nicht angenommen.19 Hingegen lebten von 17 für das Wintersemester 1914/15 im Stift angemeldeten Bewohnern nur noch zwei dort. Hirschs Nachfolger Carl Sachsse weiß in seinem Bericht über dieses Semester am 18. Februar 1915 namentlich bereits von zwei gefallenen Stiftlern zu berichten.20 Das Verbindungswesen spielt für die Stiftsbewohner schon lange Zeit keine Rolle mehr. Die Frage der Partizipation an der Gemeinschaft begleitet jedoch weiterhin das Leben im Stift. Zeiten mit starker Teilnahme am Stiftsleben wechseln mit Zeiten, in denen sich nur ein Teil der Studierenden aktiv am Leben der Gemeinschaft beteiligt. Zu Letzterem vermerkt die Stiftschronik Ende der 1970er Jahre, im Hinblick auf die Plena sei das Lied aufgekommen: „Sag mir, wo die Stiftler sind, wo sind sie geblieben.“21 Zu diesem Zeitpunkt erlebte das Stift seine stärksten Umbruchs- und Krisenjahre. 1967 musste aufgrund von Baufälligkeit der größte Teil des alten Stiftsgebäudes geräumt werden. Die Mehrzahl der Bewohner wurde in zwei anderen Gebäuden am Kreuzbergring untergebracht, so dass die Stiftsgemeinschaft auf mehrere Orte innerhalb Göttingens verteilt war. Abgesehen von der Krise des Stifts als Institution, welche sich aus der weitge16 17 18 19 20 21
Ebd., 48. Wrede, Jahresbericht (s. o. Anm. 13), 26. Heinz Weidemann: Eintrag Inspektorenbuch, 16. 10. 1931, Stiftsarchiv. Vgl. Hirsch, Inspektorenbuch (s. o. Anm. 9). Vgl. Carl Sachsse: Semesterbericht WS 1914/15, 18. 2. 1915, Theol. SA 0128a.1. Stiftschronik WS 1977/78, Stiftsarchiv.
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henden Räumung des Stiftsgebäudes ergab – zeitweilig war der Fortbestand fraglich –, bedeutete die räumliche Trennung der Bewohner einen Einschnitt für das Gemeinschaftsleben. Eine Folge war die zeitweilige Einstellung der Stiftsandachten. Erst seit dem Einzug in das ehemalige Ernst-August-Hospital im Jahr 1982 sind alle Stiftler wieder gemeinsam an einem Ort untergebracht.22 Gleichzeitig war die Zeit der räumlichen Trennung auch eine Phase des Umbruchs und der Weiterentwicklung des Theologischen Stifts. Im Wintersemester 1969/70 zog mit einer finnischen Austauschstudentin die erste Bewohnerin ein. Heute liegt der Frauenanteil bei etwa 50 %. Angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen stellte sich den Bewohnern zusehends die Frage, welches Selbstverständnis für das Stift zukünftig leitend sein und welche Rolle die Einrichtung in einer sich wandelnden Gesellschaft einnehmen solle. Im Zuge dessen kam es zur Gründung einer Projektgruppe „Neues Stift“, innerhalb derer sich die Studierenden um ein neues, zeitgemäßes Leitbild bemühten. Hinzu trat die „aufbauorganisation revolutionäres stift“ (AORS; beachte: Kleinschreibung), mit dem Ziel der Umgestaltung der Stiftsgemeinschaft nach sozialistischen Grundsätzen. Neuer „zweck des stifts“ sollte „die revolutionäre umwälzung des systems“23 der Bundesrepublik Deutschland werden. Den Forderungen nach einer Umgestaltung des Theologischen Stifts fiel auch der Ochsenkopf zum Opfer, der dem umgangssprachlich „Stiller Ochse“ genannten Stift als Maskottchen diente. Dieser wurde im Wintersemester 1971/72 von einer kleinen Gruppe der Bewohner entwendet und verbrannt. Eine in den Stiftsbriefkasten eingeworfene Todesanzeige trägt den Text: „In den frühen Morgenstunden des 26. Januar 1972 wurde nach kurzem schweren Leiden unser vielgeliebter Stiller Ochse aus dem Leben dahingerafft. Die Einäscherung des leidgeprüften Dahingeschiedenen fand in aller Stille und im engsten Familienund Freundeskreis auf dem Göttinger Bono-Friedhof statt. Friede seiner Asche.“24
22 Die Möglichkeit, die von der teilweisen Räumung des Gebäudes im Stumpfebiel betroffenen Bewohner vorübergehend am Kreuzbergring unterzubringen, ging maßgeblich auf die Initiative Franz-Josef Schlotes zurück. Franz-Josef Schlote, der sich seit Kriegsende zunächst in seiner Rolle als Universitätsbediensteter und bis heute ehrenamtlich um die Belange des Stifts bemüht, führte gemeinsam mit dem damaligen Ephorus Walther Zimmerli auch die Verhandlungen um den Fortbestand des Stifts und den Umzug in die Geiststraße. In seinen Erinnerungen schildert Schlote, wie er bei einem „Gespräch im Kultusministerium […] auch die Meinung gehört [habe], dass u.U. ein Ende des Theologischen Stifts befürchtet werden müsse (Das Theologisches Stift 1949–2009, Stiftsarchiv, 5). 23 AORS, zweck und selbstverständninis des theol. stiftes, 30. 11. 1976, Stiftsarchiv. Unter Punkt 4 der Thesen zur Umgestaltung des Stifts heißt es: „das gesamte eigentum der stiftler wird sozialisiert, d. h. unter den interessen des revolutionären kampfes eingesetzt.“ 24 Vgl. Stiftschronik WS 1971/72, Stiftsarchiv. Die Anzeige ist überschrieben mit Hiob 1,21: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen; der Name des Herrn sei gelobt.“
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Mögen die vor vier Jahrzehnten erarbeiteten Entwürfe für ein neues Leitbild des Theologischen Stifts zwar zuweilen Befremdung auslösen,25 so zeigt sich aber gerade darin, dass es die Studierenden selbst sind, welche sich um das Selbstverständnis der sie beherbergenden Einrichtung bemühen, ein für die Stiftsgemeinschaft prägendes und sie auszeichnendes Element: Bis in die Gegenwart ist eine basisdemokratische Selbstorganisation der Studierenden ein Grundpfeiler des Lebens im Stift. Hier begegnet die von Bornemann erwähnte „größere [.] Freiheit“26 heute in ihrer positiven Variante als Freiheit zur Gestaltung des Stiftslebens und damit letztlich der Institution Stift überhaupt. Die Studierenden entscheiden selbst darüber, welche Abendveranstaltungen im Haus stattfinden; sie stimmen darüber ab, wozu die für das Leben im Haus zur Verfügung stehenden Mittel verwendet werden und verwalten diese Mittel selbst; sie kümmern sich um die Aufnahme neuer Bewohner, organisieren jedes Semester ein Sozialprojekt etc. Die Selbstorganisation der Studierenden und die Möglichkeit aller Bewohner, über die Gestaltung des Stiftslebens mitzuentscheiden, wird heute vielleicht als das entscheidende Element des Selbstverständnisses des Theologischen Stifts gelten dürfen. Die Freiheit zur Selbstorganisation ist fundamentaler Baustein des Ethos der Institution. Derzeit leben im Stift 36 Studierende. Neben der Aufnahme von Studierenden der Theologie oder Religionswissenschaft stehen bis zu fünf Plätze für Bewerber anderer Fachbereiche zur Verfügung. Es werden bis zu einem Drittel ausländische Bewerber aufgenommen. Für das Gemeinschaftsleben konstitutiv sind während der Vorlesungszeit gemeinsame Mahlzeiten, an welche sich an drei Tagen in der Woche ein Bewohnerplenum anschließt, zwecks der Beratung aktueller Anliegen. Einmal wöchentlich findet eine Abendveranstaltung statt. Ermöglicht die bewusste Aufnahme von Nicht-Theologen den Blick über das eigene Studienfach hinaus und den Dialog mit anderen Fächern, so macht die Aufnahme einer großen Zahl ausländischer Bewerber das Stift zu einem Raum, in dem ein Austausch zwischen Studierenden unterschiedlicher Länder und Kulturkreise stattfinden kann. Die Wahrnehmung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden im alltäglichen Leben ebenso wie in der Sicht auf religiöse und politische Fragen bedeutet eine große Bereicherung für das Stiftsleben; sie lässt sich als Teil des Bildungsangebots verstehen, welches das Stift seinen Bewohnern offeriert.
25 Die Forderung einer sozialistischen Orientierung ist, wenn auch nicht in der Schärfe, welche die AORS vorschlägt, Teil weiterer Thesenpapiere zur Neuausrichtung des Theologischen Stifts. So gibt es die Forderung zur Umwandlung in ein „Polit-theologisches Institut“, in welchem „der Auseinandersetzung um einen ‚christlichen Sozialismus‘ besondere Bedeutung“ zukommen solle (Thesen zum Zweck des Theologischen Stifts, 16. 1. 1974, Stiftsarchiv). 26 Bornemann, Jahresbericht (s. o. Anm. 15), 48.
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Studieren im Theologischen Stift
Kam im 18. und 19. Jh. den Repetenten die Aufgabe zu, den regulären Universitätsbetrieb ergänzende Lehrveranstaltungen anzubieten, so hatte ab 1878 auch der Inspektor „die wissenschaftlichen Studien der sämtlichen Mitglieder des Stiftes durch Repetierübungen […] zu beleben und zu unterstützen.“27 Letzteres hat sich seit einem halben Jahrhundert dahingehend verschoben, dass die Bewohner selbst jedes Semester mehrere Stiftsübungen anbieten. Der Inspektor bietet eine Lehrveranstaltung an der Theologischen Fakultät an; die Veranstaltung findet gegebenenfalls im Stift statt. Diese Verschiebung bedeutet letztlich eine Rückkehr zu Zielen, die einst die Repetentenanstalt verfolgte, nämlich dem akademischen Nachwuchs die Möglichkeit zu bieten, erste Lehrerfahrungen zu sammeln. Auch an den angebotenen Stiftsübungen lässt sich der Wandel der Zeiten erkennen: Ist hier zunächst ein theoretischer Schwerpunkt wahrnehmbar – im Wintersemester 1967/68 gab es Übungen zur Gottesfrage, über De servo arbitrio sowie eine Lektüre biblischer Texte28 –, so wurden in der Folgezeit verstärkt praktische Übungen angeboten und dabei der Bereich der Theologie hin zu den Sozialwissenschaften überschritten. Im Wintersemester 1974/75 fanden neben einer Übung zur theologischen Anthropologie und einer Hebräischübung Übungen „Zur Situation des alten Menschen in der Bundesrepublik Deutschland“ (inkl. Besuch von Altenheimen) und „Zum Problem kirchlicher Industriearbeit in der BRD“ (inkl. Industriepraktikum) statt.29 Diese Verschiebung spiegelt sich auch in den unterschiedlichen Entwürfen zur Reform des Theologischen Stifts wider, in denen die Forderung nach einem stärkeren praktischen Element innerhalb der theologischen Ausbildung unter Einbezug des Stifts zutage tritt.30 Derzeit wird eine besondere Herausforderung an das Theologische Stift als Bildungseinrichtung in der Frage zu sehen sein, wie sich unter deutlich veränderten Studienbedingungen eine Teilnahme der Studierenden an wissenschaftlichen Übungen ermöglichen lässt. Die hohe Belastung der Studierenden infolge der Bologna-Reform erschwert den Besuch von Lehrveranstaltungen, die über 27 Reglement 1878 (s. o. Anm.8), §3. 28 Vgl. Peter Diepold (Inspektor): Bericht über das Wintersemester 1967/68, 19. 3. 1968, 2, Stiftsarchiv. 29 Stiftschronik WS 1974/75, Stiftsarchiv. 30 Vgl. exemplarisch Überlegungen zum Zweck des Theologischen Stifts 1, Stiftsarchiv: „Auch die Rückkoppelung der theologischen Theorie mit der Praxis wird an der Fakultät nicht hinreichend geleistet. Dazu könnte das Stift einen Beitrag leisten, indem es sich – am besten in Zusammenarbeit mit einem ‚Praktologen‘ der Fakultät – begrenzte Projekte vornimmt und versucht, die in der Praxis auftauchenden Probleme (sozialpsychologisch, theologisch etc.) zu reflektieren.“
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den verpflichtenden Stundenplan hinausgehen. Ebenso ist es für Studierende schwierig geworden, eigene Veranstaltungen anzubieten. Das Primat der Ausbildung vor der Bildung zeigt hierin deutlich seine Schattenseite, insofern die Beschäftigung mit Texten und Themen, die nicht oder nur am Rand des Studiums vorkommen, nur noch eingeschränkt möglich ist. Neben dem interkulturellen Austausch und der Möglichkeit, Stiftsübungen anzubieten bzw. an ihnen teilzunehmen, offeriert das Theologische Stift weitere Bildungsmöglichkeiten in sozialer und religiöser Hinsicht. Im Rahmen der für das Selbstverständnis der Einrichtung konstitutiven studentischen Selbstorganisation können die Bewohner soziale Kompetenzen einüben und ausbauen. Hierzu zählt zum einen die aufgrund der basisdemokratischen Ausrichtung des Hauses stets aufs Neue geforderte Dialogfähigkeit. Zum anderen haben die Studierenden, welche Veranstaltungen organisieren oder für die Moderation der Plena verantwortlich sind, die Möglichkeit, ihre Leitungsfähigkeit zu entwickeln. In den wöchentlich von Bewohnern angebotenen Andachten können diese Erfahrungen in der Gestaltung und verantwortlichen Durchführung von Gottesdiensten und Predigten sammeln. Hierbei sind die Studierenden frei, unterschiedlichste liturgische Stile auszuprobieren und auf diese Weise die für sie selbst angemessene religiöse Ausdrucksweise zu finden.
4.
Rückblick und Ausblick
Binnen eines Zeitraums von 250 Jahren sah sich das Theologische Stift der Universität Göttingen als Ort gemeinsamen Lebens und Studierens vor vielerlei Herausforderungen gestellt. Gegründet als Repetentenkolleg mit dem Ziel der Förderung junger Theologen musste es sich unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen immer wieder mit der Frage nach seinen Zielen als Bildungseinrichtung befassen. Ebenfalls stellte sich stets aufs Neue die Frage, wie eine möglichst enge Gemeinschaft ohne Zwang gelebt werden kann. Diesen Herausforderungen wird sich das Stift auch heute und in Zukunft stellen müssen. Dann kann ihm gelingen, was der Alttestamentler Walther Zimmerli als Ephorus dem Stift 1982 beim Einzug in das neue Gebäude wünschte: „daß es […] das Vorrecht bewähre, in unserer Massenuniversität ein Ort zu sein, an dem 40 Studenten verschiedener Prägung miteinander reden können.“31
31 Walther Zimmerli: Einweihung „Neues Stift“ am 25. 10. 1982, 11, Stiftsarchiv.
Dietrich Korsch
Religion der Freiheit erleben und gestalten: Über theologische Bildung im Theologischen Stift
Es gibt Institutionen, die werden mit den Jahren nicht älter, sondern jünger. Nämlich dann, wenn die Idee, die einer solchen Institution zugrunde liegt, in späteren Zeiten auf eine neue Art so beansprucht wird, dass sich ihre Strahlkraft dann erst recht bewährt. Dass Verjüngung auch stets Veränderung einschließt, gehört zur Natur der Sache. Aber so ist es eben mit guten Ideen: Sie sind nicht auf ihre anfängliche Erscheinung festgelegt, sondern tragen künftiges Potential in sich. Das Theologische Stift der Universität Göttingen gehört zu diesen phönixartigen Einrichtungen. Man kann gar nicht glauben, dass es nun schon 250 Jahre alt wird. Durch all die Veränderungen hindurch, die es seit seiner Gründung durchgemacht hat, kommt aber die Intuition, die am Anfang stand, nun umso deutlicher zur Geltung: der spezifische Charakter theologischer Bildung als einer Erfahrung der Freiheit. Davon will ich im Folgenden handeln.
1. Das christliche Leben als Bildungsgeschichte Die Versuche, aus den in der ersten Schöpfungsgeschichte des Alten Testaments getroffenen Aussagen von der Bestimmung des Menschen zum Bild Gottes eine Anthropologie und Bildungstheorie herzuleiten, sind Legion. Es handelt sich dabei – auch das ist ein klassischer Fall von später Erneuerung einer alten Idee – um moderne Konstruktionen, in die zugleich eine Fülle von Rahmenumständen unserer Epoche eingegangen sind. Dies zu sehen, heißt jedoch nicht, den möglichen Wahrheitsgehalt der Menschenbild-These, wie ich sie einmal nennen will, geringzuschätzen. Umgekehrt: Gerade eine aufmerksame und zeitbewusste Interpretation dieser These hat dazu geführt, frühere substantialistische Deutungen abzubauen und darauf zu achten, dass es beim Menschsein ums Menschwerden geht. In diesem Diskurs möchte ich die knappe Formulierung verorten, die mir hier als Leitfaden für den Bildungsgedanken und als Schlüssel für
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theologische Bildung dient. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen besteht, so behaupte ich, in seiner göttlichen Bestimmung zur Selbstbestimmung. Ich will diesen Gedanken nur kurz so erläutern: Von Gott gilt, dass er durch sich selbst ist, was er ist. Er vollzieht seine eigene Selbstbestimmung. Menschen sind ebenfalls eigene Wesen; das betrifft jeden Menschen insbesondere sowie die Menschheit insgemein. Sie werden, was sie sind, durch ihre Selbstbestimmung. Das ist jedenfalls die Überzeugung, die sich in der wechselvollen und durchaus gewaltsamen Geschichte der europäischen Neuzeit herausgebildet hat und die inzwischen weltweit einen so kontrafaktischen wie normativen Anspruch darstellt. Die Pointe dieser Auffassung besteht darin, dass sie auch da gilt, wo sie noch nicht realisiert ist, wo also humane Selbstbestimmung noch keineswegs die empirische Wirklichkeit prägt. Sie kann aber dennoch nicht als utopisches Fernziel abgetan werden, sondern beschreibt eine irgendwie schon gegebene Realität des Menschseins. Man könnte sagen: Diese Bestimmung des Menschen zur Selbstbestimmung gilt unbedingt; sie macht das Wesen des Menschen aus, das sich in seinem Werden darstellt. Ihre Unbedingtheit ist dann auch der Grund dafür, dass man die Bestimmung zur Selbstbestimmung als geschöpfliche Bestimmung durch Gott verstehen kann; und das ist überdies genau der Weg, Gott selbst grundlegend auf die humane Wirklichkeit der Moderne zu beziehen. Dieser normative Gedanke der Selbstbestimmung wirkt sich in einer jeweiligen humanen Lebensgeschichte aus. Man kann das menschliche Leben als einen komplexen Prozess begreifen, in dem eine natürliche Herkunft immer schon in sozialen Kontexten erlebt wird, angeeignet und gestaltet werden muss. Dabei eröffnen natürliche Begabungen hinsichtlich körperlicher Ausstattung bestimmte Möglichkeiten – und verschließen andere. Nicht jeder ist zum Basketballspiel geeignet, und manchen fehlt die Musikalität fürs Klavier. Aus all dem aber etwas zu machen, indem das Mitgegebene angeeignet und dabei Veränderungen unterworfen wird, um Ziele zu erreichen: Das macht, von außen betrachtet, die Lebensgeschichte aus. Dabei gilt es, Anregungen der Umwelt zu verwerten, Wünsche abzustimmen mit anderen Menschen und den eigenen Bedürfnissen, Ziele im Auge zu behalten, sich mit Geschick durch wechselnde Situationen und ihre variierenden Anforderungen zu bewegen. Am Ende des Lebens wird dann ein Leben das gewesen sein, was durch solche Vorgaben und ihre Gestaltung aus einem Menschen geworden ist – ein Bildungsprozess, auf dem Menschen lebenslang bis zum Tod unterwegs sind. Dieser Weg ist aber nur dann verstanden, wenn zugleich seine Binnenperspektive in Rechnung gestellt wird, also die Impulse und Absichten ebenso wie die Präferenzen und die ihnen zugehörigen Selektionen. Natürlich klafft eine Lücke zwischen dem Verständnis, das ein Mensch von sich selbst hat, und dem Verstehen, das wir von anderen haben können. Ja, nicht einmal das eigene Selbstverständnis ist uns immer klar und zugänglich. Wohl aber können wir
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unterstellen, dass es allen Menschen so geht, wie wir es an uns selbst kennen: dass wir uns selbst für den Gang unseres Lebens verantwortlich machen können und müssen, wie immer er verlaufen mag. Geplant ist allemal eine Kontinuität, am besten zu konzipieren nach dem Schema der Fortschreitens und der Verbesserung. Aber es gibt auch, uns widerfahrend, Brüche im Kontinuierlichen, Abbrüche, Abgründe – und diese Widerfahrnisse verlangen nicht minder nach einer Stellungnahme, die sie uns als Teil unseres Lebens verstehen lässt. Und wenn die Kräfte nachlassen und Schwachheit unübersehbar wird, dann ist auch dies eine Herausforderung an die Lebensführung und Lebensdeutung. Als Fundament von Lebensplanung und Lebensführung aber kommt nur die Selbstbestimmung in Betracht, also die eigene, auf das individuelle Dasein bezogene Selbstverantwortung. Nimmt man die beiden genannten Perspektiven zusammen, das Leben als natürlich-soziale Geschichte, in die wir verwoben sind mit allen Einflüssen und Abhängigkeiten, und die eigene Selbstbestimmung als unser selbstverantworteter Verstehens- und Gestaltungswille, dann sieht man leicht, dass die Reichweite der Selbstbestimmung, so wenig ihr als normativer Verpflichtung widersprochen werden kann, durchaus begrenzt ist; viel enger, als man es sich wünschen wird. So dass man schon dann, wenn man sich auf eine solche Beschreibung beschränkt, vermuten kann, dass wir uns eigentlich nicht selbst in der Hand haben, obwohl wir doch immer mit uns selbst umgehen und davon gar nicht absehen können. Wie sehr wir uns selbst entzogen sind, kommt definitiv in solchen Abbrüchen zu Bewusstsein, denen wir gar nicht oder nur im Modus der Verzeihung begegnen können. Schuld zeichnet die Unvollendbarkeit humanen Lebens insbesondere aus; Schuld lässt sich nicht wegarbeiten, sondern markiert Zäsuren als Abgründe. Darüber hinauszukommen, rekurriert auf eine Kraft, die stärker ist als unser selbstbewusstes Vermögen, die sich aber gerade in gewährter oder erfahrener Verzeihung unserem selbstbewussten Leben öffnet. Es sind solche Erfahrungen, die sich als religiöse Erfahrungen bezeichnen lassen: durchaus im selbstbewussten Leben und ohne Verzicht auf dasselbe die Faktizität, die Kontingenz der eigenen Selbstbestimmung zu spüren. Es ist darum nicht zufällig, dass in der Kultur als humanem Lebensraum Religion präsent ist. Es ist auch nicht zufällig, dass sich die Erscheinungsweisen der Religion in der Kultur historisch verändern – in dem Maße, wie auch die Konstellationen des individuellen Lebens in der Gesellschaft Veränderungen unterworfen sind. Man kann sich gut vorstellen, dass zu früheren Zeiten das Finden und Verfolgen der Ziele menschlichen Lebens ebenso wie der Umgang mit Gelingen und Scheitern auf diesem Weg direkter religiös konnotiert waren als heute. Jedem Ziel, jedem Schritt haftete eine unbeherrschbare Kontingenz an, die religiös zu verstehen aufgegeben war. Von einem halbwegs vernünftigen Begriff der Säkularisierung aus geurteilt, müsste man für unsere Zeit sagen, dass
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diese kleinen Kontingenzen ihre religiöse Prägnanz verloren haben. Dies jedoch nur deshalb, weil sie sich in eine fundamentale Kontingenz zurückgezogen habe. Nicht nur und nicht erst die mangelnde Kraft der Selbstbestimmung zu einer durchgreifenden und konsequenten Lebensgestaltung ist deren Einfallstor, also das Scheitern an den Umständen, sondern die Faktizität der Selbstbestimmung selbst, ihre eigene Unmöglichkeit, sich aus sich selbst zu begründen, zeigt ihre Schwäche an. Je enger und dichter die gesellschaftliche Vermittlung wird, umso deutlicher wird die Restriktion der Reichweite eigener Selbstbestimmung – paradoxerweise gerade in dem Augenblick, in dem ihr normativer Status zu Recht als universal proklamiert wird. Darauf reagiert das Christentum mit einer Formveränderung, die erhebliche Folgen besitzt für Konzepte religiöser Bildung. Von seinen apokalyptischen Anfängen her verfolgte das Christentum die Idee einer Lebensgeschichte – und damit die Idee von Religion als Lebensbildung. Konnte man sich in frühester Zeit Gericht und Weltende nur als kosmische Katastrophen vorstellen, so kam es doch nicht auf diese Vorstellungsweisen an, sondern auf den Gedanken einer definitiven Bilanz gelebten Lebens durch Gott, den Richter; im Gericht zu bestehen, machte den Sinn christlicher Gerechtigkeit aus, die man nur von Gott erlangen konnte. In dem Maße, wie die Lebensführung selbst in den Blick christlicher Frömmigkeit geriet, als das Endgericht nicht nur kosmologisch in die Ferne rückte, ziehen auch die Kontingenzen des Lebens selbst die religiöse Aufmerksamkeit auf sich. Was man wünscht und mit welchen Mitteln man welche Ziele zu verfolgen befugt ist, das ist nun mit religiösen Kriterien zu beurteilen, die man lernen kann und anwenden muss. Es erscheint der eigene Lebensweg als ein von Religion begleiteter und geführter. Diese unmittelbare religiöse Schematisierung der Lebensführung gelingt heute nur noch in abgeschotteten sozialen Zusammenhängen – oder kann sich nur terroristisch gegen feindliche Umwelten behaupten wollen. An die Stelle kleinteiliger religiöser Lebensvorschriften tritt die Aufgabe, das eigene Leben auf der Basis der Selbstbestimmung zu lernen – und diese Aufgabe zugleich als religiöse Bildungsgeschichte zu verstehen. Das geschieht am deutlichsten dort, wo die Fundamentalität und die Kontingenz der eigenen Selbstbestimmung zugleich ins Bewusstsein treten. Also dort, wo erfahren und erkannt wird, dass die nicht aufzugebende Basis der eigenen Selbstbestimmung von einer Unbedingtheit ist, die durch keinen Erfolg oder Misserfolg der eigenen Lebensgeschichte erschüttert und zerstört werden kann. Das heißt dann: ein eigenes Leben vor Gott und mit Gott führen. Damit ändert sich allerdings die Vorstellung religiöser Bildung und das Bild christlichen Lebens als Bildungsgeschichte. Erhalten bleibt die Idee eines geschichtlichen Lebens, das in Kohärenz und Selbstverantwortung vor Gott gelebt wird – und so in jedem Moment (nicht erst im Gericht) in der Perspektive Gottes steht. Der Ablauf des Lebens aber wird
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vielfältiger und unberechenbarer; die globalen Bedingungen unserer humanen Existenz schränken die Wahl alternativer Lebensmöglichkeiten ebenso ein wie sie eine empirische Vielfalt der Lebenswege anbieten. Es kommt darum darauf an, in dieser widersprüchlichen Situation Gewissheit über die Verlässlichkeit eigener Selbstbestimmung zu gewinnen, unangesehen der Begrenzung ihrer Reichweite. Das kann nur geschehen, wenn die Gewissheit von Gottes Gegenwart in den Vollzügen des eigenen Lebens bewusst wird: Unser ganzes Leben wird vor Gott und von Gott her gelebt. Und das zeigt sich am deutlichsten da, wo die integrative Kompetenz unserer Selbstbestimmung an ihre strukturellen Grenzen kommt, also in den Abgründen von Schuld und Verzeihung. Christliche Lebensbildung geschieht am intensivsten in der Begegnung mit Schuld und ihrer – überraschenden – Verzeihung. Schuld aber begegnet unter modernen sittlichen und gesellschaftlichen Bedingungen nicht in seltenen Ausnahmesituationen, sondern gehört zur alltäglichen Signatur unserer Epoche. Wo es dann trotz dieser Lage und im Angesicht ihrer Herausforderungen zu einer als tragfähig verstandenen Selbstbestimmung kommt, kann man von geglückter Selbstbestimmung sprechen. Geglückte Selbstbestimmung – das ist eine Formel für erfahrene und selbst gestaltete Freiheit. Geglückte Selbstbestimmung, das ist – aufklärerisch gesprochen – eine Akkommodation der christlichen Grundidee vom Gerechtigkeit wirkenden Gott. Es kommt in ihr zum Vorschein, dass Gottes Gegenwart von unbedingter Art ist, also ebenso mit der Vorstellung eines kosmologisch-endzeitlichen Gerichtes verbindbar wie mit der Überzeugung einer Endgültigkeit humanen Handelns und Lebens in der Gegenwart. Damit wird aber das ganze Leben als christliche Bildungsgeschichte verstehbar. Alles, was wir tun, und alles, was wir leiden, dient der Darstellung dessen, wodurch wir bestimmt sind. Alle Gestaltungen des Lebens im Namen der Selbstbestimmung kommen von dort her und sind im Blick auf diese Herkunft zu verantworten. Selbstverantwortung und Verantwortung von Gott koinzidieren – gerade indem die Selbstverantwortung darum weiß, von wem sie zur Verantwortung (und damit zu eigener Identität) gerufen ist. Diese Gewissheit von Tragweite und Grenze der Selbstbestimmung bewährt sich, was immer die Nagelprobe darstellt, im Tod. Dann nämlich, wenn am Ende unserer leiblichen Selbstbestimmung die Kräfte und Fähigkeiten zu deren empirischem Vollzug negiert werden, sodass nur noch unsere Bestimmung übrig bleibt im Nachklang einer zu Ende gegangenen Lebensgeschichte – diese aber unwiderruflich und ewig.
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Christliches Leben und theologische Bildung
Das christliche Leben vollzieht sich als Bildungsgeschichte in der humanen Kultur. Es hat Anteil an den Bewegungen und Verschiebungen, die die späte Moderne unserer Epoche zumutet. Das ist nicht verwunderlich. Denn da es in der Kultur auch Religion gibt und weil sich Religion auf die kulturellen Lebensbedingungen bezieht, ist sie selbst Transformationen unterworfen. Für uns heißt das: Das christliche Leben partizipiert an der scheinbaren Lockerung materialer ethischer Vorgaben und der statt dessen eintretenden Figuration einer Umstellung auf strikte technisch-wirtschaftliche Außensteuerung einerseits und gestiegene Anforderungen an innere Kohärenz andererseits. Damit verändert sich die Vorstellung einer religiösen Lebensführung im Verhältnis zu früheren Generationen. Dieser Prozess vollzieht sich unwillkürlich; er ist auch kaum steuerbar. Fast unmerklich bauen sich Schwerpunktverlagerungen auf, die Christenmenschen in unerwartet neue Situationen hineinstellen. Irgendwie, so muss man sagen, werden diese nicht vorhergesehenen Herausforderungen auch bewältigt; man kann sich geradezu darüber wundern, in wie erfolgreichem Maße das tatsächlich geschieht. Konnte man vordem davon ausgehen, dass die christlichen Traditionsbestände, die sich gesellschaftlich bewährt hatten, auch künftige Entwicklungen zu beherrschen erlauben, so tritt inzwischen Neues vor Augen, über dessen Bewältigung man sich keineswegs sicher sein kann – jedenfalls nicht auf den schon immer eingeschlagenen Wegen. An die Stelle ethischer Ordnungen, denen man eine Orientierungsfunktion zutrauen mochte, rücken vor allem wirtschaftliche Automatismen, die sich wertneutral geben, darum aber unbegrenzt wertsetzend sind. Wie soll man sich, ohne die Überzeugung einer christlichen Lebensführung aufzugeben, dazu mit dem eigenen Leben verhalten? Tatsächlich findet schon immer eine Akkommodation des christlichen Lebens an die Gesellschaft statt. Nicht so, wie manche meinen, dass ein christliches Leben zunehmend verunmöglicht würde. Vielmehr wird auch heute gebetet und geglaubt, gesungen und gepredigt, und man könnte nicht behaupten, dass die, die das tun, aus der Zeit gefallen wären. Es gibt so etwas wie eine aus dem Lebensvollzug heraus stattfindende Transformation christlichen Lebens. Wenn es die gibt, dann geht sie auch auf irgendwelche mehr oder weniger bewussten Entscheidungen zurück. Wenn es durchaus Entscheidungen sind, die hier eine Rolle spielen, dann ist immer auch ein Moment der Reflexion, der Besinnung mit im Spiel. Christliches Leben ist nicht ohne ein Bewusstsein seiner selbst – auch und gerade in den Veränderungen, die es durchmacht, und auch dann, wenn nicht alle Rahmenbedingungen und Konsequenzen zu überblicken sind. Was muss in diesem Prozess des Überganges, wie ich ihn beschrieben habe, entschieden werden? Vielerlei, und der Zusammenhang zwischen dem Ver-
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schiedenen, was zur Entscheidung ruft, ist nicht leicht herzustellen. Zwar werden oft – man möchte sagen: normalerweise – diese Anpassungsprozesse unbemerkt vor sich gehen und erst im Nachhinein nach Begründung verlangen. Wenn aber das Erfordernis von Gründen empfunden wird, dann richtet sich das Augenmerk vor allem auf den Umgang mit der christlich-kirchlichen Tradition, oder sagen wir besser: mit den verschiedenen zur Verfügung stehenden Traditionen. Sie haben sich, zu ihrer Zeit und in einer von ihrer Zeit mitbestimmten Weise, als bedeutungsvoll für die Lebensführung erwiesen. Und nun kommt es darauf an, ihren Sinn auch für die Gegenwart zu ermitteln und zu behaupten. Das macht eine Sichtung und Kritik nötig. Die historisch-kritische Arbeitsweise der Theologie verdankt sich, systematisch gesehen, genau dieser Konstellation, in der die Unterscheidung von Faktischem und Geltendem durchzuführen verlangt wird. Das macht es aber auch nötig, sich der Prinzipien zu vergewissern, die eine solche Selektion und Fortschreibung von Deutungstraditionen leiten. Man kann die Aufgabe der Anpassung christlichen Lebens an die sich verändernde Gesellschaft auf unterschiedlichen Ebenen wahrnehmen, die mit abgestufter Reflexionstiefe arbeiten. Der Modus der Adaption, der sich einer relativ geringen Reflexionstiefe bedient, findet sich in den sogenannten Organisationsdebatten der Kirchenreform wieder. Hier geht das Gefälle eindeutig von der Frage des Überlebens einer Organisation unter verschärften Umweltbedingungen aus; was das für die Orientierung christlichen Lebens bedeutet, um deretwillen die Organisation doch benötigt wird, verschwindet in Formeln, die als Spielmarken innerbetrieblicher Kommunikation über den Tisch geschoben werden. Was stattdessen nötig ist, ist eine Wiedergewinnung theologischer Reflexionskompetenz. Diese muss sich dadurch auszeichnen, dass sie sich in der Reichweite ihrer Kritik und Besinnung nicht auf vordergründige Organisationsinteressen beschränken lässt. Die Theologie kann sich dazu neu mit dem Interesse christlichen Lebens verschwistern, das den Anforderungen der Moderne schon immer standhält, dafür aber einer Rückenstärkung und einer Steigerung der Kritikfähigkeit bedarf. Das verändert die Rolle der Theologie entscheidend: Sie wird selbst zu einem Aspekt aufgeklärter christlicher Bildungsgeschichte. Die Theologie geht damit nicht mehr von der Ordnung der Lehrbestände aus mit dem Interesse an einer möglichst kohärenten weltbildhaften Systematisierung, die als solche die Kohärenz einer der Lehre entsprechenden Lebensführung vorabbilden möchte – das ist die vormoderne Variante der Theologie. Jetzt geht es um eine christliche Lebensdeutung, die sich der für ihre eigene Prägnanz erforderlichen Leitideen der Frömmigkeit zu versichern strebt. Damit fällt das Selektionskriterium für systematisch triftige Gedanken nicht mehr in die Logik einer umfassenden Heilsgeschichte, sondern in die Anforderungen einer individuellen Lebensgeschichte, die den zugemuteten Brüchen und Vielspältigkeiten
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der Moderne standzuhalten vermag. Theologie dient der aktuellen Durchführung christlichen Lebens. Dazu muss sie sich selbst auf gegenwärtige Diskursstandards einlassen; ich hebe drei wesentliche Momente hervor. Wenn es um eine kritische Sichtung der traditionellen Bestände der Theologie zu tun ist, kommt alles auf die Bestimmung des Grundsatzes der Kritik an. Dieser muss so beschaffen sein, dass er die Anforderungen der Gegenwart nicht unterbietet und zugleich als Repräsentanz des Wesens des Christentums aufzutreten vermag. Als ein solcher Grundsatz kann die Formulierung in Betracht kommen, die uns jetzt schon länger begleitet hat: Dass die humane Selbstbestimmung, die als normative Wurzel des Menschwerdens gilt, als dem Menschen von Gott aufgegebene Bestimmung ausgelegt wird. Das Christentum ist Religion der Freiheit, um es in anderen Worten zu sagen. Daraus erfolgt die Kritik der Tradition, ihrer Vorstellungsangebote, ihrer begrifflichen Ordnung und der mit beiden verknüpften sozialen Organisation. Das verlangt eine Transformation der Rede von Abhängigkeit, die als Grund der Freiheit verstanden werden muss, ebenso wie den Abschied von einer normativen religiösen Vorstellungswelt und nicht minder die Kritik einer Kirche, die das christliche Leben per Vorgaben regeln will. Die Theologie, die sich auf diesen Grundsatz einlässt, kann für sich in Anspruch nehmen, den elementaren Bedingungen aufgeklärter Kommunikation in der Gegenwart zu entsprechen. Wissenschaftlich ausweisbares Selbstbewusstsein der Religion – das wäre der erste Aspekt einer Theologie im Prozess christlicher Lebensführung. Der zweite Aspekt hängt eng mit diesem zusammen. Denn genau eine solche Theologie ist in der Lage, Bildungsvorgänge christlichen Lebens zu fördern, die auf die Ausbildung einer selbstbewussten Selbstbestimmung hinauslaufen. Es kommt, wie alle wissen, darauf an, religiöse Bildung von der Schule an so anzulegen, dass sie mit dem Sinn und Rhythmus nichtreligiöser Bildungsprozesse kritisch kompatibel ist. Religiöse Bildung als Bildung zu einer als unbedingt erfahrenen Selbstbestimmung vermag es aber, den unterschiedlichen Aspekten, die durch das natur- und kulturwissenschaftliche Fächerspektrum repräsentiert werden, so etwas wie einen Cantus firmus zu unterlegen, der deren Sachhaltigkeit nicht einschränkt, zugleich aber deren Sinnhaftigkeit mit dem eigenen Leben zu vermitteln imstande ist. Christliche Bildung ist als Teil christlicher Lebensführung so zu begreifen, dass sie sich nicht allein in religiösen, kirchlichen Zusammenhängen aufbaut, sondern als kompetente Teilnahme an gesellschaftlichen Bildungsprozessen insgesamt versteht. Dazu gehört schließlich ein dritter Aspekt, nämlich die genaue theologische Bestimmung der religiösen Organisation, also der Kirche. Wenn man sich von einem Bild der Kirche verabschieden muss, die als religiöse Sozialisationsagentur zum Zwecke normierter Lebensführung vorzustellen ist, schon weil eine einzelne Organisation der Komplexität der Gesellschaft nicht standzuhalten vermag,
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dann kehrt sich das Gefälle, in dem die Kirche zu sehen ist, geradezu um. Nicht als Agentur der Beschränkung von Freiheit kommt sie in den Blick – eine Perspektive, die noch immer scheinbar emanzipative antikirchliche Polemiken dominiert – sondern sie verlangt, bestimmt zu werden als Agentin der Beförderung von Selbstbestimmung in Distanzierung von vorgegebenen Lebensführungsmustern. Das heißt auch, dass nicht die Kirche den Glauben vermittelt, sondern dass der selbstbewusste Glaube die Kirche wertschätzt als Ort der Kommunikation der Freiheit in intensiver Begleitung, aber auch kritischer Kommentierung der Gegenwart. Theologie ist Teil der christlichen Bildungsgeschichte, hieß es. Bildungsgeschichten gibt es nur als individuelle Lebensgeschichten. Darum kommt auch Theologie gar nicht anders in Betracht denn als Moment in Geschichten eigenen Lebens. Theologische Bildung ist ein reflexives Moment christlicher Bildung – mit dem besonderen Schwerpunkt, dass durch die Theologie Hintergrundüberzeugungen christlichen Lebens selbst in die reflexive Aufmerksamkeit gerückt werden. Theologie gibt es, ganz schlicht gesagt, nicht ohne Theologinnen und Theologen. Von den bisherigen Überlegungen her ergeben sich für das Konzept einer theologischen Bildung vier Schlussfolgerungen. Das erste Moment ist die Kenntnis der christlichen Tradition, und zwar gerade in ihren lebensbestimmenden Funktionen, wie sie diese in der Vergangenheit ausgeübt hat. Religion war erfolgreich in der Prägung des Lebens; und das Wissen um die historischen Bestände des Christentums ist genau darin aufschlussreich, wenn diese Funktion im Blick bleibt. Daher geht es in diesem ersten, scheinbar ganz herkömmlichen Aspekt theologischer Bildung, nämlich in dem Erwerb von Kenntnissen, nicht um eine positivistische Anhäufung von Materialien oder um die immanente Logik von Vorstellungen, sondern auf die Erkenntnis von deren Genese in religiösen Lebenszusammenhängen und ihren orientierenden Rückwirkungen auf diese. Das liegt freilich schon in der Konsequenz der historisch-kritischen Forschung, wenn man ihren Begriff ausbuchstabiert. Denn die historische Vielfalt des Christentums verdankt sich ja gerade unterschiedlichen Lebensverhältnissen, die trotz ihrer Vielfalt den Anspruch erheben können, als Repräsentanzen authentischen Christseins angesehen zu werden. Die historische Betrachtungsweise schließt den Gedanken an Entstehungs- und Verwendungszusammenhänge ein, weil sie weiß, dass sie selbst auf Bewertungsprinzipien beruht, die für eine Selektion und Modifikation der herkömmlichen christlichen Bestände gesorgt haben. Das historische Studium der Theologie ist also alles andere als ein antiquarisches Geschäft. Damit ergibt sich bereits der zweite Aspekt, der für theologische Bildung von Interesse ist. Es geht darin um das Bewusstsein der leitenden Kriterien für die Beurteilung der eigenen Gegenwart. Tatsächlich vollzieht sich ja im gesellschaftlichen Leben eine Fülle von wertgesteuerten Selektionen und Entschei-
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dungen. Sie folgen unterschiedlichen Logiken, für deren Verständnis man systemtheoretische Erwägungen fruchtbar machen kann. Diese – durchaus widersprüchlichen – Gestaltungsprinzipien bestimmen, wie vorhin schon im Ansatz zu sehen war, auch die Lebensbedingungen der Religionen. Und zwar durchaus so, dass sie normative Implikationen enthalten, zu denen sich religiöse Systeme verhalten müssen. In dieser uneindeutigen Lage kommt alles darauf an, über ein möglichst genaues Bewusstsein von der Verfasstheit, der Reichweite und dem zu rechtfertigenden Bestimmungsanspruch solcher Grundsätze zu verfügen, also über eine Kenntnis der „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“ oder der „geistigen Situation der Zeit“, um zwei prominente Titel aus unterschiedlichen Phasen der Moderne zu nennen. Erst im Bewusstsein dieser Bestimmungskräfte kann dann auch das historische Wissen um die christlichen Traditionsbestände (in ihrer damaligen historischen Funktionsweise) neu perspektiviert werden. Diese Perspektivierung erfolgt nun aber, und das ist der dritte Aspekt, im Interesse einer christlichen Bildungsgeschichte gegenwärtigen Lebens. Denn es kommt nicht auf einen mehr oder weniger theoretischen Vergleich der Wertsetzungen christlicher Tradition und gesellschaftlicher Moderne an, sondern auf die kritische Reflexion auf deren Interaktion in aktuellen Bildungsprozessen. Das christliche Leben besitzt auf alle Fälle eine Kontinuität in seiner Herkunft aus bestimmter Selbstbestimmung, sofern Gott selbst als Grund dieses Lebens angesehen wird. Damit ist zugleich ein Abstand zu den Bestimmungsprinzipien der Welt gegeben, der zu beurteilen ist. Es können sich nach diesem Urteil Analogien und Konsonanzen ergeben, etwa hinsichtlich des Grundbegriffs der Selbstbestimmung; es können aber auch Differenzen und Brüche erkannt werden, etwa im Blick auf die nicht konsequent verfolgte Maßgeblichkeit der Selbstbestimmung. Es ist dann nämlich zu fragen, wie sich eine christliche Bildungsgeschichte im Geflecht der teils übereinstimmenden, teils einander widersprechenden Grundorientierungen vollzieht. Das Wissen um die Mechanismen, denen gegenwärtig Bildungsgänge unterworfen sind, und der strategische Umgang mit ihnen gehört zum Repertoire theologischer Bildung. Der Fokus auf der Bildungsgeschichte ist auch und schon deshalb gegeben, weil die Orientierung hinsichtlich des historischen theologischen Wissens und des aktuellen Zeitbewusstseins für die Subjekte theologischer Bildung eine eigene Selbstbildung verlangt. Die drei bisher unterschiedenen Funktionen laufen deshalb in einer vierten zusammen. Weil in ihnen bereits ein intrinsisches Interesse an Selbstbildung enthalten ist, kommt das gebildete theologische Subjekt als Integration dieser drei ersten Prinzipien in den Blick. Das historische Wissen in seinen wirklichkeitsbestimmenden Wirkungen, die Selektionsprinzipien, die die gegenwärtige Welt erschließen, das alles wird ja gebraucht von Subjekten, die sich ihren Weg durch die Welt bahnen wollen – wozu sie selbst gebildet sein müssen. Theologische Bildung ist daher, der Sache nach, nichts anderes als
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christliche Lebensbildung im Modus expliziter Reflexion. Darum bilden auch die Persönlichkeiten der Theologinnen und Theologen Knotenpunkte für bewusstes christliches Bildungsgeschehen; in ihnen vollzieht sich exemplarisch und ausdrücklich, was sich bei anderen Christenmenschen undeutlicher und verschwiegener vollzieht. Gerade aber weil es diesen Unterschied in der planmäßigen Entwicklung und Pflege der Reflexion gibt – er aber auch in nichts weiter als der ausgearbeiteten Reflexion besteht! –, bleiben die gebildeten Theologinnen und Theologen im Kreis der Christenmenschen stehen, treten ihnen nicht gegenüber. Wohl aber helfen sie denen, deren Akkommodation an die Moderne sei es lautloser, sei es konfliktreicher sich vollzieht, durch ihr eigenes Lebensbeispiel dazu, die Prozesse eigenen Lebens bewusster und damit zustimmungsfähiger zu gestalten. Eine theologische Existenz gibt es nur im intersubjektiven Zusammenhang der Christenheit. Wie bildet sich nun eine solche theologische Existenz? Darauf gibt das Theologische Stift eine eigene Antwort.
3.
Das Theologische Stift in der christlichen Bildungsgeschichte
Als Aufklärungsgründung unterscheidet sich das Theologische Stift von seinen gut zweihundert Jahre älteren Vorbildern; die Denkschrift von 1765, die seiner Einrichtung vorausgeht, macht selbst von einer Akkommodation des Christlichen Gebrauch, wie wir gleich sehen werden. Die erste Einrichtung in Deutschland, die ein gezieltes Konvivium von Studierenden im Namen der Universität zustande brachte, war die von Landgraf Philipp dem Großmütigen 1529 ins Leben gerufene Hessische Stipendiatenanstalt in Marburg. Zwei Jahre nach seiner in reformatorischem Geiste betriebenen Universitätsgründung sah sich Philipp veranlasst, die Städte seiner Landgrafschaft planmäßig mit kompetenten Universitäts-Absolventen, vor allem Juristen und Theologen, zu versorgen und nahm zu diesem Zweck die Städte in die Pflicht, Stipendien für begabte junge Bürger zu finanzieren. Dem Marburger Modell folgte das Evangelische Stift in Tübingen im Jahr 1536, eine Gründung Herzog Ulrichs, bei dem der Gedanke im Vordergrund stand, reformatorisch gebildete Pfarrer zu gewinnen; so ist das Stift heute eine Einrichtung der Landeskirche in enger Kooperation mit der Universität Tübingen. Beide Einrichtungen, die Marburger und die Tübinger, sind, den Umständen ihrer Entstehung entsprechend, in die religiöse und soziale Gestaltwerdung der Reformation – im Gegenüber zur altgläubigen Kirche und ihrer Organisation – verwoben. Das war in Göttingen charakteristisch anders. Denn in der Denkschrift von 1765 findet sich die Beschreibung eines neuen Spannungsfeldes, nämlich von Wissenschaft und Religion. Dem Aufstieg der Wissenschaften kontrastiert ein
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„Verfall der Religion“, wie bemerkt wird. Und dieser Verfall hat zur Folge, dass sich die Gebildeten oder zu Bildenden von der Religion und ihrer amtsmäßigen Vertretung abwenden. Was dagegen hilft? Eine Förderung des möglichen Zusammenbestehens von Religion und Wissenschaft – durch die Bildung von Personen, nämlich, wie es auf Seite 1 heißt, Männern „von aufgeklärtem Verstande, tiefer Einsicht in die Heilige Schrift, großer Belesenheit, nicht geringer Beredsamkeit, erlauchtem Eifer für die göttliche Wahrheit und einer ungefärbten Gottseeligkeit“, die als „Stützen der sinkenden Religion“ wirken können. Es ist die Theologie als Wissenschaft, der es zugetraut wird, bei erfolgreicher methodisch-didaktischer Vermittlung solche Personen zu bilden, die unter den aktuellen Umständen der Aufklärung für eine authentische und überzeugende Vertretung der Religion einzutreten vermögen. Theologie wird selbst zum Bildungsmedium – und zwar so, dass zugleich das fromme Subjekt im Theologen zu seinem Recht kommt. Darum enthalten die Reglemente, die in den Jahren 1765, 1859 und 1878 die Idee der Denkschrift in Form bringen, auch durchaus detaillierte Anweisungen für die Durchführung von Repetitorien, kursorischer Lektüre, dogmatischem Unterricht, Disputationen und die Ergebnissicherung in Aufsätzen. Aus diesen hier nicht im Einzelnen zu verfolgenden Angaben geht jedenfalls dies hervor, dass es den Göttingern auf das an der Theologie als Wissenschaft orientierte gemeinsame Lehren und Lernen von fortgeschrittenen Studierenden als Repetenten (mit einem Inspektor an der Spitze) und Studierenden als Auditores ankam. Die Förderung der Repetenten, die einer Vertiefung und Verbreiterung der Theologie als Wissenschaft dienen soll, ist zugleich eine Förderung der Studierenden. In diesem Bildungskonzept spielen mündliche Darstellung und ihre Aneignung, historische Bibellektüre und ihre Kritik sowie das Ausprobieren des Angeeigneten in Disputationen eine tragende didaktische Rolle. Dies alles mit dem Ziel, „daß bey der Bildung eines rechtschaffenen Gottesgelehrten auf das Herz und Gottseeligkeit zu sehen“ sei (Abschrift der Denkschrift von 1765, 7). Die Fortführung des Stiftes in ein gemeinsames Leben eines Inspektors (oft mit Familie) und einer Anzahl von Studierenden liegt genau in der Logik dieses Anfangs und seiner Modifikationen im 19. Jahrhundert. Was nach aufklärerischem Muster eingerichtet worden war, transformierte sich nach dem dort grundgelegten Prinzip. Es zeigt sich bis heute, dass dieses Prinzip auch in den Umwälzungen, die die gegenwärtige theologische Bildung im Zusammenhang christlichen Lebens beschäftigen, standhält. Es lässt sich leicht an den Merkmalen theologischer Bildung zeigen, die soeben entwickelt wurden. Deren gemeinsame Zielbestimmung liegt in der Bildung zu einer reflektierten Religion der Freiheit mit den Mitteln der Theologie; oder, um die andere, äquivalente Formel zu gebrauchen, in der Wahrnehmung einer von Gott be-
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stimmten Selbstbestimmung. Dafür kommen, nun im Blick auf das Theologische Stift in seiner gegenwärtigen Verfassung, drei Komponenten in Betracht. Die erste wird eingebracht durch die wissenschaftliche Theologie, wie sie an der Theologischen Fakultät gelehrt wird und wie sie sich in den Stiftsübungen nachbildet. Dabei kommt es darauf an, die historischen Bestände des Christentums in ihrer systematisch-praktischen Funktion zu erkennen und zu beurteilen. Es wäre nicht verkehrt, wenn dieser integrative und kritische Aspekt der Wirksamkeit – ein Grundmerkmal historisch-kritischer Methode – gerade in Stiftsübungen besonders akzentuiert würde; die eigene Erfahrung lehrt, dass das in den Lehrveranstaltungen an der Fakultät nicht immer konzentriert möglich ist. Die zweite Komponente ist die Ausbildung eines wachen Zeitbewusstseins und eine daraus folgende Wahrnehmung der Rolle selbstbestimmten Lebens in der Gegenwart. Dazu trägt die Organisation des gemeinsamen Lebens im Stift bei. Die Selbstverwaltung, auf die die Stiftsinsassen zu Recht so stolz sind, ist nicht nur eine demokratische Errungenschaft, sie besitzt geradezu eine theologische Notwendigkeit. Denn in den Kontext dieser Stifts-Autonomie gehören ja auch die „langen Plena“, also die thematisch orientierten Versammlungen zur Erörterung von aktuellen Zeitfragen in Kirche und Gesellschaft. Hier kommt die dritte Komponente schon von selbst ins Spiel, nämlich der spezifische Charakter der Öffentlichkeit des Stifts. Zum Lernen gehört ja überhaupt das Ausprobieren, und für das theologische Lernen einer bestimmten Selbstbestimmung ganz besonders; alles, was die Äußerung und Darstellungsweise einer Person angeht, wird in diese Perspektive gestellt. Darum ist die Stiftsöffentlichkeit, die alle Personen im Stift umfängt und trägt, ein wesentliches Merkmal theologischer Bildung. Dabei ist es durchaus wohltuend, dass diese Öffentlichkeit auch wieder auf das Haus beschränkt bleibt, sich gewissermaßen im intermediären Raum zwischen Privatheit und (immer auch politisch akzentuierter) Öffentlichkeit insgemein bewegt. Wenn diese Komponenten zusammenspielen, dann kommen in ihrem Zusammenhang tatsächlich Menschen mit gebildetem Selbstbewusstsein zu sich, die ihre Selbstbestimmung verantwortlich wahrnehmen. Genau in dieser Hinsicht gebildete Personen aber sind heute für die Repräsentanz christlicher Religion in der Gesellschaft und für die Bildung von Religion innerhalb und außerhalb der Kirche maßgebliche Instanzen. Wie sich das alles ereignet? Unscheinbarer als man denkt. In meiner Erfahrung besitzt das Leben im Stift einen ausgesprochen profanen Charakter – und das ist auch sachgemäß. Denn in seiner aufgeklärten Tradition will das Stift nicht ein binnenkirchlich eingeschworenes Funktionärspersonal fördern, sondern freie und selbstbewusste Persönlichkeiten mit theologischer Bildung versehen. Eben diese leben aber im Stift in einem Klima, das, von außen betrachtet, ganz und gar an den Rahmenbedingungen der jeweiligen Gegenwart partizipiert.
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So war es zu Beginn meiner Inspektorenzeit Ende der 1970er Jahre der Göttinger „Häuserkampf“ um leerstehende Häuser in der Innenstadt, der die Stiftsbewohner herausforderte und zu Aktivitäten provozierte. Zumal damals das baufällige Haus am Stumpfebiel selbst für ein ähnliches Lebensgefühl sorgte, „das eigene Haus“ in die eigene Verfügung nehmen zu wollen. Die Auseinandersetzungen jener Zeit waren für alle Beteiligten nicht gerade angenehm, für die Verantwortlichen des Hauses am wenigsten. Aber, im Rückblick betrachtet, gehörte genau das, dieses Involviertsein in unbeherrschbare Zeitumstände, zu den maßgeblichen Umständen theologischer Bildung. Oder, zu Beginn der 1980er Jahre, harmloser gewiss, aber auch signifikant: Das gelbe Metallschild am Haupteingang der Geiststraße 9: Atomwaffenfreie Zone Theologisches Stift. Nach heißen Debatten angebracht – ein geradezu naives Bekenntnis zum Weltfrieden, aber von großer symbolischer Bedeutung. Zumal zur gleichen Zeit am Abend regelmäßige liturgische Andachten im Chorraum von St. Marien stattfanden. Auch dies, und beides zusammen, zu späterer Zeit ein Modell theologischer Bildung. Schließlich die internationale, ökumenische Dimension. Dass Studierende aus den USA, Brasilien, den Niederlanden und der Schweiz im Haus lebten, öffnete den deutschen Kommilitoninnen nicht nur theoretisch den Blick über Grenzen hinweg, sondern brachte (fromme) Lebensstile zusammen. Nicht immer hat das Theologische Stift seine – meist ja eher implizit bleibenden – Bildungsziele erreicht; da verhält es sich so wie bei aller Bildung, dass es auf die Selbsttätigkeit der Menschen ankommt, deren Wesen im Werden besteht. Wo sie aber geglückt ist, diese Bildung zu bestimmter Selbstbestimmung, da bleibt, vermutlich lebenslang, die Erinnerung an den Ort, der für diese Bildung einen Beitrag geleistet hat, ein Stiftsbewusstsein, dem man hier und da immer wieder begegnet. Was kann man mehr wollen? Was kann man mehr hoffen für die nächsten 250 Jahre?
Teil II: Stiftsbiographien
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Johann Philipp Gabler (1753 – 1826) – historisch-kritische Exegese zwischen Dogma und Mythos
1. „Dogmatik muß von Exegese, und nicht umgekehrt Exegese von Dogmatik abhängen.“1
Diese berühmten Worte werden als programmatische Forderung einer biblischen Theologie interpretiert, die auf einer freien Prüfung der historischen Überlieferung basiert. Johann Philipp Gabler veröffentlichte den Satz 1790, als er ein Werk seines Lehrers Johann Gottlieb Eichhorn, dessen „Urgeschichte“, in den Druck gab. Der Passus gilt nicht nur einem liberalen Ansatz historisch-kritischer Exegese; er erklärt auch Gablers eigenes Vorgehen. Denn ungeprüft und unkommentiert sollten die Ausführungen seines gerade ein halbes Jahr älteren Lehrers nicht wiedergegeben werden: „Einem Eichhorn, diesem großen Lichtschaffer in der biblischen Exegese, ist es nie um gewisse Meinungen, sondern um Wahrheit und Licht zu thun gewesen; Er verwarf selbst seine älteren Meinungen, und betrat neue Wege. Ihm habe ich ja, nebst meinem unvergeßlichen Lehrer Griesbach, diese freiere Richtung in der Exegese vorzüglich zu verdanken.“2 Eine autobiografische Skizze, die der 37jährige Gabler im selben Jahr drucken ließ, ergänzt einen dritten Lehrer: „Griesbach, Eichhorn und Ulrich waren also für seine [sc. Gablers] Bedürfnisse seine wichtigsten Lehrer, deren Unterricht er sich ganz zu eigen machen suchte, und die er auch bis in sein Grab verehren wird.“3
Interessant ist, dass der dritte Mann, Johann August Heinrich Ulrich, ein Philosoph war. Über seine Annäherung an diesen schreibt Gabler:
1 Johann Gottfried Eichhorn: Johann Gottfried Eichhorns Hofraths und Professors zu Göttingen Urgeschichte. Hg. mit Einleitung u. Anmerkungen v. D. Johann Philipp Gabler ordentlichem Professor der Theologie zu Altdorf, Bd. 1, Altdorf/Nürnberg 1790, XV. 2 Ebd., XIII. 3 Johann Georg Heinrich Müller: D. Johann Philipp Gabler, in: Schattenrisse der ietztlebenden Altdorfischen Professoren nebst einer kurzen Nachricht von Ihren Leben und Schriften, Altdorf 1790, 22.
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„Doch überwand er [sc. Gabler] sich, um bey seinem Eifer unpartheiisch zu scheinen, auch die neuern Philosophen und Theologen zu hören und zu studiren. Er besuchte deswegen des Herrn Hfr. Ulrichs Vorlesungen, Anfangs mit Argwohn und Widerwillen; endlich aber konnte er nach harten Kämpfen dem Licht der Wahrheit nicht widerstehen, und wurde nun, nicht aus Nachbeterey, denn er kannte das Alte, sondern aus fester Ueberzeugung, ein eifriger Anhänger dieses würdigen und um den guten Geschmack in der Philosophie so verdienten und zum Katheder gebohrnen Jenaischen Lehrers.“4
Bedeutsam an der Schilderung ist, dass Gabler in verschiedenen Wissenschaftsbereichen, in der Theologie wie der Philosophie, einen Kampf zwischen alten und neuen Ansätzen sah, in dem er selbst – ausgehend von der Philosophie – im Jenaer Studium zwischen 1772 und 1776 den Schritt vom Alten zum Neuen wagte.5
2. Diese Grundspannung sah Gabler bereits in seiner Kindheit und Jugend angelegt. Geboren wurde er 1753, vier Jahre nach Goethe, und wie dieser in Frankfurt am Main als Sohn eines Juristen. Über den Vater, der am Konsistorium arbeitete, und über die Schulzeit erklärte Gabler einschränkend: „Allein sein Vater war nur praktischer Jurist und in der Philosophie Reuschianer; und seine Lehrer verstunden nichts vom Interpretiren, exponirten bloß, und viele oft iämmerlich genug, es war ihnen mehr um Worte, als um Sachen zu thun: er hingegen wollte bey allem denken, wollte von allem Nutzen und Absicht wissen.“6
Dass er ausgerechnet in Jena vom Alten zum Neuen überging, mochte mit dem Vater zu tun gehabt haben. Denn dort hatte der von diesem hochgeschätzte Philosoph und Theologe Johann Peter Reusch von 1738 bis 1758 als ordentlicher Professor gewirkt. Gablers Vater hatte seit 1739 in Jena studiert.7 24 Jahre später nahm der Sohn seine Studien an der Salana auf. Einen Bruch mit der väterlichen Schultradition habe er nicht gesucht, beteuerte Gabler später, im Gegenteil:
4 Ebd., 19 f. 5 Vgl. Hans-Jürgen Dohmeier: Die Grundzüge der Theologie Johann Philipp Gablers, Diss. Münster 1976, 35 f. 6 Müller, Gabler (s. o. Anm. 3), 19. Dort auch das folgende Zitat. 7 Vgl. Otto Köhler: Die Matrikel der Universität Jena, Bd. 3: 1737 – 1746, Halle/Saale 1971, 338, Nr. 275: „Joh. Paul. Gäbler, Moeno-Francofurtensis“ (SoSe 1739). Für die Identifikation dieser Person mit Gablers Vater spricht die geografische, philosophische und biografische Plausibilität. Gablers Vater war zu diesem Zeitpunkt 24 Jahre alt. Zu den entsprechenden Vornamen vgl. Müller, Gabler (s. o. Anm. 3), 17. Vgl. ferner Ernst Kutsch: Gabler, Johann Philipp, in: NDB 6 (1964), 8.
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„mit der ganzen alten Philosophie und Theologie [wollte er] genauer bekannt […] werden, damit er desto nachdrücklicher gegen die theologischen und philosophischen Neuerer, die ihm damals äußerst verhaßt waren, zu Felde zu ziehen im Stande wäre.“
Die Begegnung mit Ulrich markierte einen Wendepunkt und eröffnete Gabler ein klares berufliches Ziel: er sei „gesonnen“ gewesen, „noch ein Jahr Philosophie für sich zu studiren, und dann philosophischer Docent zu werden.“8 Es kam anders. 1775 – zeitgleich mit Eichhorn – wechselte „sein unvergeßlicher Lehrer Griesbach nach Jena […] [und] so kehrte er zur Theologie wieder zurück, und begann erst recht seine theologische Laufbahn.“9 Mit der Entscheidung für die Theologie behielt Gabler das Ziel eines akademischen Lehramtes bei, das er wohl schon seit seiner Schulzeit verfolgt hatte. Da der Vater auf eine berufliche Absicherung drängte, promovierte Gabler mit einer Studie über den Hebräerbrief 1778 zum Jenaer Magister10 und legte sodann das kirchliche Examen in Frankfurt ab. Der autobiografische Rückblick verrät Unzufriedenheit mit dem väterlichen Plan einer kirchlichen Karriere in der Heimatstadt: „iedoch war sein Sinn immer auf die Rückkehr nach Jena gerichtet.“11 Abermals kam es anders: „Inzwischen öfnete sich eine vortheilhafte Aussicht für ihn in Göttingen“. Am Stift war eine der beiden Repetentenstellen frei geworden und die theologische Fakultät befand sich in der misslichen Lange, nur eine Bewerbung erhalten zu haben, an der einzelne Lehrstuhlinhaber fachliche Kritik übten.12 Während der Dekan im Umlaufverfahren darüber beraten ließ, ob man den einzigen Kandidaten eigens prüfen oder sofort einstellen solle, kontaktierte der zu diesem Zeitpunkt als Göttinger Neutestamentler wirkende Johann Benjamin
8 Müller, Gabler (s. o. Anm. 3), 21. Dort auch das folgende Zitat. 9 Eine Parallele bietet die spätere Selbstauskunft D. Johann Philipp Gabler in: Allgemeines Magazin für Prediger nach den Bedürfnissen unsrer Zeit 10/6 (1794), 118 f.: „Nach der Ankunft des würdigen […] Griesbach […] machte er nun durch dessen Unterricht desto raschere Fortschritte in der Theologie, von der er im Begriff war ganz abzutreten, weil sie ihm in der ältern Form izt nicht mehr gefallen konnte. Aber durch Griesbachs vortreffliche Vorlesungen über christliche Kirchengeschichte, über Hermeneutik, Kritik und Exegese des Neuen Testaments söhnte er sich wieder mit der Theologie aus.“ „Schon in den lezten Jahren seines Schullebens fühlte er in sich einen Trieb zum Dociren“. Ebd., 118. 10 Für eine archivalisch und universitätsgeschichtlich mustergültige Rekonstruktion des Vorgangs vgl. Ulrich Rasche: Johann Philipp Gablers Jenaer „Habilitationspromotion“ 1778 – eine Quellendokumentation zur Geschichte des älteren Promotionswesens in Jena, in: KarlWilhelm Niebuhr und Christfried Böttrich (Hg.): Johann Philipp Gabler 1753 – 1826 zum 250. Geburtstag, Leipzig 2003, 87 – 145. 11 Müller, Gabler (s. o. Anm. 3), 24. Dort auch das anschließende Zitat. 12 Hierfür und für das folgende Zitat vgl. Universitätsarchiv Göttingen, Theol. SA 51.2, Nr. 125, Missive des theologischen Dekans Walch vom 23. Februar 1780 mit Anmerkungen der Kollegen aus dem Umlaufverfahren, o. P.
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Koppe den ihm mindestens literarisch bekannten Gabler13 und vermeldete den Kollegen: „Ich finde mich im Stande, Ew. Hochwürden gehorsamst zu benachrichtigen, daß wir höchstwahrscheinlich noch vor Ostern einen zweiten Compatanten an einem gewissen M. Gabler aus Frankfurt erhalten werden, der in Jena studirt hat, und dessen sehr gut geschriebene Abhandlung über Ebr. 3,1[scil.: 3] – 6 ich in den hies.[igen] Anz.[eigen] im vorigen Jahr rezensiert habe. Er gedenkt hier als M.[agister] legens fortzustudiren und hat mir auch den Wunsch wegen der Repetenten Stelle bereits in einem Briefe geäußert.“
Koppe hatte Gablers Magisterarbeit in den „Göttingischen gelehrten Anzeigen“ gepriesen: „Rec.[ensent] erinnert sich nicht leicht eine exegetische Schrift gelesen zu haben, die so ganz mit seinen eigenen Grundsätzen und Gefühl übereingestimmt hätte, als eben diese.“14 Für seine Bewerbung reichte Gabler eine Studie über Röm 8 ein.15 Am 18. März 1780 wurden Gabler und sein Mitbewerber examiniert. Der erfolgreiche Kandidat hielt später fest, er „war so glücklich nach verschiedenen vorhergegangenen Probeübungen auf einstimmige Wahl der Theol.[ogischen] Facultät als Repetent angestellt zu werden“.16 Der Bericht des Dekans hebt die besonderen Hoffnungen hervor, die sich mit Gabler verbanden: „ob nun zwar beyde unsern Beyfall verdienten, so behauptete doch M. Gabler in allen Stücken einleuchtende Vorzüge und zeigte so gute Anlagen und durch Uebung erlangte Fertigkeiten zu einem [gestrichen: mit der Zeit] akademischen Docenten und gründlichen Theologen, daß wir einmüthig bewogen worden, […] M. Joh. Philip Gablern […] vorzuschlagen […], in der festen Ueberzeugung, daß an ihm und durch ihn die heilsamen Absichten dieser Anstalt mit Gottes Hülfe erreicht werden werden“.17
Für Gabler selbst besaß die Tätigkeit am Stift eine weichenstellende Bedeutung. Zum einen konnte er in der Universitätsbibliothek ein intensives Eigenstudium betreiben: „Hier boten ihm die reichen literarischen Schätze der Georgia Augusta erwünschte Gelegenheit dar, seine Kenntnisse in der Theologie, wie in der Pro-
13 Vgl. dazu Müller, Gabler (s. o. Anm. 3), 24 und Gabler, Prediger (s. o. Anm. 9), 120: „der selige […] Koppe […] ermunterte ihn in einem Schreiben, sich um diese Stelle zu melden.“ 14 Johann Benjamin Koppe: Zugabe zu den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen 1 (1779), 368. Zu weiteren zeitgenössischen Rezensionen vgl. Rasche, Habilitationspromotion (s. o. Anm. 10), 130, dort Anm. 147. 15 Das im Universitätsarchiv Göttingen, Theol. SA 51.2, Nr. 125, erhaltende Schreiben der theologischen Fakultät an die Regierung in Hannover, 20. März 1780, o. P., erklärt, Gabler habe eine Studie „über den siebenten Psalm“ eingereicht, sein Mitbewerber eine „über das achte Kapitel des Briefes an die Römer“. Dass hier eine Verwechslung vorliegt, ergibt sich aus dem Votum von Miller im Umlaufverfahren der Missive vom 23. Februar 1780 (s. o. Anm. 12), das die Psalmenexegese des zu diesem Zeitpunkt einzigen Bewerbers, Ruperti, kritisiert. 16 Müller, Gabler (s. o. Anm. 3), 24. 17 Universitätsarchiv Göttingen, Theol. SA 51.2, Nr. 125 (s. o. Anm. 15), o. P.
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fanliteratur, zu erweitern.“18 Zum anderen war es ihm erstmals möglich, die akademische Lehrtätigkeit aufnehmen, auf die das spezifische Format seines Jenaer Abschlusses gezielt hatte.19 Sich selbst attestierte Gabler im Rückblick: „Er ließ es auch an Fleiß im Studiren und in seinen Vorlesungen nicht fehlen; er las nicht nur als Repetent Exegetica über das A. u. N.T., und Examinatoria und Repetitoria über die Dogmatik; sondern auch als Magister legens Cursoria über das A.T., Hermeneutik und Kritik des N.T., hebräische Grammaticalia; gab mehrere Privatissima im Lateinischen, Griechischen, Hebräischen, in der Homiletik etc. […] und hielt beständig Disputatoria. Er predigte auch zuweilen in der Universitätskirche, und übte sich so viel es nur immer seine Geschäfte erlaubten, in der Profanliteratur, und im letzten Jahre seines Göttinger Aufenthalts auch im Syrischen und Arabischen, wozu er den Grund in Jena bei Eichhorn gelegt hatte, um auch diese Sprachen in seinen künftigen Vorlesungen zu lehren.“20
So breit die Lehrtätigkeit angelegt ist, waren die Göttinger Jahre doch in dreifacher Hinsicht eingeschränkt. Zum einen war die Anstellungsdauer – in dem für Repetenten üblichen Rahmen – auf zwei Jahre befristet und konnte allenfalls um ein Jahr verlängert werden. Für Gabler ergab sich eine Amtstätigkeit von Ostern 1780 bis Ostern 1783.21 Zum anderen litt Gabler während seiner Göttinger Jahre unter gesundheitlichen Schwierigkeiten. Es selbst spricht davon, dass er „so lange er in Göttingen war, beständig gekränkelt hätte. Hypochondrie schlug allen Muth und alles Emporstreben in ihm nieder; und bey aller angewandten medicinischen Kunst und strengen Diät wollte doch seine volle Munterkeit nicht wieder zurück kehren“.22 Drittens bedauerte Gabler, aufgrund seiner eingeschränkten Konstitution während der Göttinger Zeit nicht mehr publiziert zu haben. War seine erste exegetische Veröffentlichung die Jenaer Qualifikationsschrift von 1778, folgte in Göttingen 1782 eine zweite neutestamentliche Studie, sie galt dem zweiten Korintherbrief. Auf die nach der erledigten Repetentenstelle folgenden Monate blickte Gabler resigniert zurück: „[…] er war also im Sommer 1783 […] nur noch Privatdocent.“ Eine nächste Tür öffnete sich Gabler unter der Vermittlung des Mannes, den Herder ein Jahr zuvor als „Kanzler und Factotum“23 der Universität bezeichnet 18 Johann Philipp Gabler, in: Georg Gottlieb Güldenapfel (Hg.): Jenaischer Universitätsalmanach für das Jahr 1816, Jena 1816, 100. 19 Vgl. Rasche, Habilitationspromotion (s. o. Anm. 9), 113 – 115. 20 Müller, Gabler (s. o. Anm. 3), 24 f. 21 Zur Verlängerung von 1782 zu 1783 vgl. Universitätsarchiv Göttingen, Theol. SA 51.2, Schreiben der theologischen Fakultät an die Regierung in Hannover, 28. Februar 1782 [Konzept: 25. Februar], o. P. 22 Müller, Gabler (s. o. Anm. 3), 25 f. Dort auch das anschließende Zitat. 23 Herder an Christian Gottlob Heyne, 24. Mai 1782, in: Wilhelm Dobbek und Günter Arnold (Hg.): Johann Gottfried Herder. Briefe. Gesamtausgabe 1763 – 1803, Bd. 2, Weimar 1986, 220, Z. 31 f. (Nr. 216).
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hatte: Christian Gottlob Heyne. Gabler gehörte als Jenaer Schüler von Eichhorn, so unzeitgemäß dies in Anbetracht des langen, bis 1812 währenden Lebens und Wirkens von Heyne anmuten mag, in dessen akademische Enkelgeneration. Über Gablers akademische Kontakte in Göttingen weiß man wenig,24 nach eigener Auskunft verbrachte er aber viel Zeit in der von Heyne geleiteten Universitätsbibliothek.25 Heyne verdankte sich die Empfehlung in ein höheres Schulamt.26 Im Herbst 1783 erreichte Gabler ein Ruf als Philosophieprofessor an das Archigymnasium von Dortmund. Mit dem Lehramt verbanden sich supervisorische Aufgaben und die Erarbeitung einer neuen Schulordnung. Gablers Veröffentlichungen der Dortmunder Zeit gehören ganz der Philosophie an. Im Rückblick betont Gabler gleichwohl, dass „ein akademischer Lehrstuhl der Theologie immer sein Hauptziel geblieben war“ und „er auch die feste Ueberzeugung hatte, daß er weit mehr Nutzen auf einer Universität als auf einer Schule stiften könne.“27 Die Chance, in ein universitäres Lehramt der Theologie zu wechseln, ergab sich im August 1785. „[D]urch Verwendung wichtiger Freunde und Gönner“, darunter wiederum Heyne,28 erhielt Gabler den Ruf auf den dritten theologischen Lehrstuhl der Universität Altdorf.29 Sein Interesse an einer dortigen Tätigkeit hatte Gabler bereits als Göttinger Repetent 1782, zu Beginn seines dritten und letzten Amtsjahres, in Altdorf brieflich vorgetragen.30 1785 bewarb er sich nochmals, doch befand er sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem ersten Platz der Berufungsliste.31 Noch in Dortmund heiratete er die Tochter eines verstorbenen Amtsvorgängers.32 Auf der Reise nach Altdorf ließ er sich in seiner Heimatstadt Frankfurt ordinieren, um das mit dem Lehrstuhl verbundene Predigtamt versehen zu können. Im November 1785 traf Gabler in Altdorf ein und im Juli des Folgejahres wurde das älteste seiner sechs Kinder geboren. Ein weiteres Jahr später, am 30. März 1787, hielt er seine Antrittsvorlesung. Im Juni verteidigte er eine theologische Dissertation und wurde zum Dr. theol. promo-
24 Als Bezugspersonen in der theologischen Fakultät nennt die Diss. von 1782 Walch, Less, Miller und Koppe. 25 Vgl. Gabler, Universitätsalmanach (s. o. Anm. 18). 26 Vgl. Otto Merk: Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen, Marburg 1972, 46, Anm. 34. 27 Müller, Gabler (s. o. Anm. 3), 29. Zu den Tätigkeiten Gablers am Archigymnasium vgl. auch ebd., 26 f. 28 Vgl. dazu Merk, Biblische Theologie (s. o. Anm. 26), 46 mit Anm. 35. 29 Vgl. Müller, Gabler (s. o. Anm. 3), 28. 30 Vgl. Klaus Leder: Universität Altdorf. Zur Theologie der Aufklärung in Franken. Die Theologische Fakultät in Altdorf 1750 – 1809, Nürnberg 1965, 274, Anm. 9. 31 Vgl. ebd., 275. 32 Für die folgenden biografischen Angaben vgl. Müller, Gabler (s. o. Anm. 3), 29 f. sowie Kutsch, Art. Gabler (s. o. Anm. 7), 8. Der Vater seiner Frau war Gotthold August Hoffmann.
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viert. 1793 rückte er auf die zweite Professur und in das Archidiakonat auf.33 Zeitgleich war die dritte theologische Professur in Jena frei geworden. Nach einem schwierigen Abstimmungsverfahren,34 in dem fakultätsintern Gabler favorisiert worden war,35 erhielt Heinrich Eberhard Gottlob Paulus die Stelle, von der er 1798 auf die zweite Professur aufrückte.36 Einen hochdotieren Ruf nach Gießen schlug Gabler 1793 aus.37 Im Januar 1804 bemühte sich die Universität Dorpat, Gabler zu verpflichten. Die Bleibeverhandlungen in Altdorf gestalteten sich unbefriedigend. Falls Gablers „Sinn“ noch „immer auf die Rückkehr nach Jena gerichtet“38 war, bot sich nun die Chance. Der Wechsel Gottlob Paulus’ nach Würzburg hatte 1803 eine Vakanz der zweiten theologischen Professur mit sich gebracht und im Folgejahr erhielt Gabler den – auch von Goethe favorisierten – Ruf.39 Ein zweites Mal wurde Gabler in den Altdorfer Bleibeverhandlungen ein nur niedriger Aufschlag in Aussicht gestellt,40 und nun kehrte der 50-Jährige an seinen Studienort zurück. Gut sieben Jahre wirkte er in Jena neben seinem acht Jahre älteren Lehrer Griesbach, der ihn 1775 bewegt hatte, sich der Theologie zuzuwenden. Nach dessen Tod übernahm Gabler 1812 den führenden Lehrstuhl der Fakultät.41 Die Altdorfer Tätigkeit von 18 wurde von 22 Jahren im Jenaer Amt überboten. 1826 starb Gabler als mehrmaliger Rektor und Geheimer Konsistorialrat im Anschluss an eine Lehrveranstaltung. Zwei Zeitgenossen schildern die Umstände des Todes und suchten ihre besondere Wertschätzung zum Ausdruck zu bringen, indem sie auf Joh 19,30 und Christus selbst anspielten: „Am 17. Februar las er von 9 – 10 Uhr seine Dogmatik, begab sich nach Beendigung dieser Vorlesung auf sein Zimmer, setzte sich, um auszuruhen: Und er neigte sein Haupt und starb“.42
33 Vgl. Gabler, Prediger (s. o. Anm.9), 122. 34 Vgl. dazu Martin Keßler: Johann Gottfried Herder – der Theologe unter den Klassikern. Das Amt des Generalsuperintendenten von Sachsen-Weimar, Teil 1, Berlin/New York 2007, 242 – 245. 35 Vgl. W. Daniel Wilson (Hg.): Goethes Weimar und die Französische Revolution. Dokumente der Krisenjahre, Köln 2004, 534. 36 Vgl. Keßler, Herder (s. o. Anm. 34), 245. 37 Vgl. Leder, Altdorf (s. o. Anm. 30), 305. Zu den Bleibeverhandlungen vgl. ebd., 309. 38 Müller, Gabler (s. o. Anm. 3), 24. 39 Vgl. Karl Heussi: Geschichte der theologischen Fakultät zu Jena, Weimar 1954, 212 f. und 215 – 217. Zum Hinweis auf Goethe vgl. Joachim Bauer und Gerhard Müller: Aus der amtlichen Tätigkeit. Johann Philipp Gabler an der Universität Jena, in: Niebuhr/Böttrich, Gabler (s. o. Anm. 10), 147. 40 Vgl. Leder, Altdorf (s. o. Anm. 30), 305. 41 Vgl. Heussi, Fakultät (s. o. Anm. 34), 223 f. 42 Sonneborn und Henneberg: Johann Philipp Gabler (1828), in: Niebuhr/Böttrich, Gabler (s. o. Anm. 10), 86.
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3. Welcher Bereich seines wissenschaftlichen Werkes war Gabler zur Zeit seines Todes am wichtigsten? Ein Traum, den Gabler „kurz vor Weihnachten (1825)“ gehabt hatte und von dem er seinen Kindern berichtete, ist aufschlussreich: „Es sind mir zwei Engel erschienen von großer hehrer Gestalt; sie sagten zu mir: ‚Wir sind gekommen dir anzukündigen, daß du bald sterben wirst.‘ Darauf antwortete ich: So? und sagte: aber doch nicht so gar bald, damit ich meine Dogmatik noch hinauslesen kann und meine Zuhörer nicht zu kurz kommen. Die Engel antworteten: ‚das wissen wir nicht‘ und verschwanden.“43 Bezeichnend ist, dass Gabler vorrangig an seine akademische Lehrtätigkeit dachte, die er über vierzig Jahre ausgeübt hatte. Den seit der Schulzeit gewünschten Beruf des Dozenten erfüllte er mit Leidenschaft und Hingabe. Für die Altdorfer Zeit wird geschildert, wie akribisch sich Gabler vorbereitete und welch bedeutenden Teil seiner Arbeitszeit er in die Lehrveranstaltungen investierte.44 Bei einem Schwerpunkt im Neuen Testament deckte er die gesamte Breite der Theologie ab, indem er exegetische, dogmatische und kirchen- sowie dogmengeschichtliche Vorlesungen anbot und homiletische Seminare abhielt.45 Der akademischen Lehrtätigkeit entstammt auch Gablers berühmtester Beitrag, die Altdorfer Antrittsvorlesung von 1787. Die theologische Lehrbuchtradition der beiden letzten Jahrhunderte macht an ihr die programmatische Ausbildung einer Biblischen Theologie fest, die sich in kritischer und fachlicher Eigenständigkeit von der Dogmatik abzulösen begann.46 Die gegenwärtige Präsenz dieser „berühmten, viel besprochenen“47 Antrittsrede verdankte sich zunächst der inhaltlichen und argumentativen Auswertung des lateinischen Textes, die Rudolf Smend 1962 – ganze 175 Jahre nach der Vorlesung – vornahm, und dann der deutschen Übersetzung, die Otto Merk 1972 veröffentliche und die seither dreimal nachgedruckt wurde.48 43 44 45 46
Ebd., 90 f. Vgl. Leder, Altdorf (s. o. Anm. 30), 283. Zu Gablers homiletischem Seminar der Altdorfer Zeit vgl. ebd., 282. Für diese Beobachtung und eine vorzügliche literarische Übersicht vgl. Merk, Biblische Theologie (s. o. Anm. 26), 1, bes. Anm. 2. 47 Reinhard Gregor Kratz: Auslegen und Erklären. Über die theoretische Bedeutung der Bibelkritik nach Johann Philipp Gabler, in: Niebuhr/Böttrich, Gabler (s. o. Anm. 10), 55. 48 Für die Bedeutung des Beitrages von Rudolf Smend: Johann Philipp Gablers Begründung der Biblischen Theologie, in: ders.: Bibel und Wissenschaft. Historische Aufsätze, Tübingen 2004, 101 – 113, vgl. Merk, Biblische Theologie (s. o. Anm. 26), 2, Anm. 7. Für die Erstveröffentlichung von Merks Übersetzung vgl. ebd., 273 – 284. Zu dem vorletzten Nachdruck vgl. das Literaturverzeichnis dieses Beitrages. Der jüngste Nachdruck erschien in Otto Merk: Wissenschaftsgeschichte und Exegese, Bd. 2, Berlin/New York 2014, 149 – 161. Im weiteren Verlauf des Haupttextes folgt eine problemorientierte Zusammenfassung des knappen Beitrages von Gabler.
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Gablers Antrittsvorlesung entfaltet ein fachliches Selbstverständnis des Exegeten innerhalb der Theologie und eine Antwort auf die Frage, wie sich biblische Inhalte aus ihren geschichtlichen Zusammenhängen in die Gegenwart übertragen ließen. Gabler votiert für ein Fortschreiten von der exegetischen zur dogmatischen Theologie. Der Bibelwissenschaftler ist zunächst ein reiner Historiker und Philologe, der sich mit den entsprechenden Methoden um eine geschichtliche und inhaltliche Erschließung der Texte bemüht. Diese historische Annäherung an die biblische Überlieferung eröffne einen doppelten Verständnishorizont. Zum einen erlaube sie es die besonderen, zeitspezifischen und mithin partikularen Anteile der biblischen Überlieferung zu identifizieren; zum anderen seien davon allgemeine und universale Elemente abzuheben.49 Die Ergebnisse der biblischen Theologie zerfallen für Gabler in diese beiden Teile: Inhalte von einer eingeschränkten historischen und einer allgemeinen, stets gegenwärtigen Relevanz. Im letzteren, dem universalen Teil überschnitten sich nach Gablers Verständnis biblische und dogmatische Theologie, wobei der Arbeit des Dogmatikers die des Exegeten vorauszugehen hatte. Unser Einleitungszitat illustriert diesen Anspruch. Der Bibelwissenschaft öffneten diese Ausführungen einen fachlichen Freiraum innerhalb der Theologie, begründeten eine Vorrangstellung in der praktischen Arbeitsaufteilung und votierten für eine konstitutive Verbindung von Exegese und Dogmatik auf der inhaltlichen Grundlage einer konsequent angewandten historischen Kritik. Die Arbeit des Exegeten ist grundlegend für die Theologie im Ganzen; seine gesamte Arbeit ist gegenwartsrelevant. Nur ein Teil der Ergebnisse ist jedoch für die christliche Religiosität der Zeitgenossen von Belang: Es sind die allgemeinen und universalen Inhalte, die der Bibelwissenschaftler identifiziert und dem Dogmatiker mitteilt. Das historische Segment der exegetischen Forschung ist eine Voraussetzung der dogmatischen Arbeit und hat eine unmittelbare Bedeutung für die wissenschaftliche Theologie. Die christliche Religiosität der Gegenwart erfordert aber keine Kenntnis jedes historischen Details der exegetischen Forschung. Wenn Gabler als akademischer Enkel von Heyne vorgestellt wurde, so hat dies seine besondere Berechtigung darin, dass er von diesem den Begriff übernahm, mit dem er den historischen Bereich der biblischen Überlieferung zu benennen und zu differenzieren suchte: den Begriff des Mythos.50 Heyne hatte in seiner Beschäftigung mit der großen Literatur der klassischen Antike deren Grundsi49 Die Begrifflichkeit verdankt sich Rudolf Smend: Universalismus und Partikularismus in der Alttestamentlichen Theologie des 19. Jahrhunderts, in: ders.: Gesammelte Studien, Bd. 3, München 1991, 117 – 127. 50 Grundlegend für diese und die anschließenden Ausführungen sind die Forschungsergebnisse und Thesen von Christian Hartlich und Walter Sachs: Der Ursprung des Mythosbegriffs in der modernen Bibelwissenschaft, Tübingen 1952, 11 – 47. Für die nachfolgenden Zitate vgl. ebd., 14 f.
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gnatur in „mythischen Vorstellungs- und Redeweisen“ bestimmt, die einer frühen Entwicklungsphase des „Menschengeschlecht[es] im Zustande der Kindheit und Ro[h]heit“ korrespondierten. Heyne übertrug eine Seelenlehre des Menschen auf dessen Geschichte, insofern diese von sinnlichen Vorstellungswelten zu einem zunehmend reflektierten Wissen vorangeschritten sei. Heynes Schüler Eichhorn wandte dieses Deutungsmuster mit seiner eingangs zitierten, erstmals 1779 erschienenen „Urgeschichte“ auf die Schriften des Alten Testaments an, bevor Gabler – in einem dritten Schritt und somit in der Generation des Enkels – die Anwendung auf die neutestamentlichen Texte vollzog. Gablers Antrittsvorlesung von 1787 bietet den Begriff des Mythos nicht; sie unterscheidet aber die „Redeweisen“ der biblischen Überlieferung in voller Entsprechung zu den Grundtypen des Heyneschen Mythos, der in historische, philosophische und poetische Ausprägungen unterschieden wurde.51 Gabler differenziert in historische, didaktische und poetische Redeweisen.52 Die Aufgabe der Didaktik kommt bei Gabler der dogmatischen Theologie zu. Sie setzt an dem universalen Grundgehalt der biblischen Überlieferung an und bemüht sich um eine zeitspezifische Aktualisierung. Problemgeschichtlich zutreffend ist es, Gabler im Vorfeld der Entmythologisierungsdebatte des 20. Jahrhunderts zu sehen.53 Das Hauptproblem, mit dem Gabler selbst zu kämpfen hatte, war die Unterscheidung zwischen den historisch-partikularen und den universalen Wahrheiten der biblischen Tradition. Schon Zeitgenossen, wie der Theologe Christoph Friedrich Ammon, meinten sich auf Gabler berufen zu dürfen, wenn sie das allgemeine Proprium der Theologie philosophisch, rationalistisch, ja: kantianisch bestimmten. Gabler jedoch reagierte entrüstet und forderte den induktiven Weg von der biblischen Überlieferung zu den philosophischen Theoremen und nicht dessen deduktive, unkritische und unbiblische Inversion.54 Wie war Gablers Programm also einzulösen oder vielmehr: Wie löste er es selbst ein? Gerne wird über Gabler geklagt, er habe eine Biblische Theologie nicht selbst ausgearbeitet, was alleine dadurch einzuschränken ist, dass eine umfangreiche und verlässliche Vorlesungsnachschrift seiner „Biblische[n] Theologie“ aus dem Jahr 1816 erschlossen wurde.55 Ebenfalls bedauert wird: „Es gibt
51 Vgl. ebd., 18 f. 52 Vgl. Merk, Biblische Theologie (s. o. Anm. 26), 277. 53 Vgl. Kratz, Auslegen und Erklären (s. o. Anm. 47), 63. Vgl. auch Merk, Biblische Theologie (s. o. Anm. 26), 257 f. 54 Die Auseinandersetzung zwischen Gabler und Ammon rekonstruierte erstmals Smend, Begründung (s. o. Anm. 48), 105 – 109. Merk, Biblische Theologie (s. o. Anm. 26), 58 – 69 bietet eine archivalisch unterlegte Vertiefung zu Gablers Einschätzungen zu Kant und ebd., 82 – 90 weitere Hinweis zur Kontroverse mit Ammon. 55 Vgl. Merk, Biblische Theologie (s. o. Anm. 26), 58 – 69. Die Nachschrift stammt von Ernst Friedrich Christoph Netto, einem Schüler und Freund Herders; zu ihm und seinen persön-
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kein einziges großes wissenschaftliches Werk von seiner Hand.“56 Auch hier muss man differenzieren. Eine große Monografie hat er nicht vorgelegt, sieht man von der eingangs zitierten Überarbeitung der Eichhornschen „Urgeschichte“ ab. Über Jahrzehnte veröffentlichte Gabler jedoch wichtige theologische Periodika, die er als Herausgeber, Redaktor und Autor von Einführungen, Stellungnahmen, Rezensionen und Aufsätzen maßgeblich gestaltete.57 In Altdorf begründete er 1798 das „Neueste Theologische Journal“, das er bis 1800 betreute. 1801 bis 1803 folgte das „Journal für theologische Literatur“, bevor sich 1804 bis 1811 das „Journal für auserlesene theologische Literatur“ anschloss.58 Wer sich mit Gabler inhaltlich beschäftigen möchte, muss literarisch und seriell bei den Periodika ansetzen. Ein Teil der Beiträge wurde von Gablers Söhnen in den zwei Bänden der posthum veröffentlichen „Kleinere[n] theologische[n] Schriften“ zusammengestellt. Andere Beiträge, besonders die Rezensionen, sind bis heute nicht einmal bibliografisch erfasst. Aus den Periodika und den „Kleinere[n] theologische[n] Schriften“ bietet ein umfangreicher Aufsatz von 1798 die Chance, abschließend auf die im Traum erfahrende Todesahnung zurückzukommen und nach Gablers biblischem Verständnis von Engelsvisionen zu fragen. Mochte dieses dazu beigetragen haben, dass Gabler den Besuch der göttlichen Todesboten so gelassen entgegennahm? Der gemeinte Aufsatz steht unter dem Titel: „Ueber den Engel, der nach Luc. XXII, 43 Jesum gestärkt haben soll.“59 Der Text schließt in seinem argumentativen Proprium an Eichhorn an, der sieben Jahre zuvor einen Beitrag zu den „Engels=Erscheinungen in der Apostelgeschichte“ vorgelegt hatte.60 Eichhorn verstand darin, wie andere Exegeten vor ihm, die Schilderung von Engeln als „Jüdische […] Einkleidung“ einer „besondere[n] Fügung der Providenz eben so […], wie man [es] itzt noch in ähnlichen Fällen im gemeinen Leben thut, ohne dabey ausserordentliche oder wundervolle Einwirkung Gottes im Ernst behaupten zu wollen.“61 Eichhorn bewegt sich zwischen den beiden auch für Gabler
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lichen sowie amtlichen Bezügen zu Herder vgl. Keßler, Herder (s. o. Anm. 34), 166, 168, 409 f, 418 f und 704. Heussi, Fakultät (s. o. Anm. 39), 216. Vgl. Christfried Böttrich: Bibliographie Johann Philipp Gabler, in: Niebuhr/Böttrich, Gabler (s. o. Anm. 10), 172 – 200. Für die nachfolgenden Hinweise zur Herausgebertätigkeit vgl. ebd. sowie Leder, Altdorf (s. o. Anm. 30), 279, Anm. 29. 1804, während der Altdorfer Bleibeverhandlungen, erklärte Gabler seine „Schriftstellerey“, die ihm jährlich immerhin 500 Gulden einbrachte, aus finanziellen und familiären Notwendigkeiten. Vgl. Leder, Altdorf (s. o. Anm. 30), 309. Theodor August Gabler und Johann Gottfried Gabler (Hg.): D. Johann Philipp Gabler’s kleinere theologische Schriften, Bd. 1, Ulm 1831, 1 – 53. Eine gute Zusammenfassung bietet Merk, Biblische Theologie (s. o. Anm. 26), 70 – 74. Johann Gottfried Eichhorn: Allgemeine Bibliothek der biblischen Litteratur 3/3 (1791), 381 – 408. Eichhorn, Apostelgeschichte (s. o. Anm. 60), 407.
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entscheidenden Interpretationsoptionen: dem historisch Partikularen der jüdischen Religionsgeschichte und dem allgemeinen, universal Menschlichen, das davon abzuheben sei. Gablers Interpretation der nur von Lukas überlieferten Worte zu Jesus in Gethsemane, „Es erschien ihm aber ein Engel vom Himmel und stärkte ihn“ (Lk 22, 43), ergänzt den Mythenbegriff. An einem historischen Wahrheitsgehalt der Überlieferung zweifelt Gabler nicht, und so liegt für ihn eine „Mythe historischer Art [vor …], eine wahre Geschichte […], wo wir aber erst sorgfältig Einkleidung und spätere Erweiterung absondern müssen, um die reine Thatsache zu entdecken.“62 Der historische Gehalt beschränkt sich auf Jesu Tröstung im Gebet; die „jüdisch[e], oder orientalisch[e]“ „Einkleidung“ nahm die Gestalt eines Engels an, was sich dem Verständnis- und Deutungshorizont einzelner Jünger verdanken mochte. „Und so konnte wieder diese alte Sage, selbst unter den Schülern Jesu, entstehen“.63 Allgemein und universal ist der Hinweis auf den göttlichen Trost. Eine Möglichkeit übernatürlicher Boten wollte Gabler nicht ausschließen, für eine stimmige Erklärung der biblischen Stelle sei die Annahme jedoch unnötig. In Korrespondenz zu seiner Unterscheidung zwischen Theologie und Religion mahnt Gabler abschließend, „daß kein Mißbrauch […] in dem Volksunterricht gemacht werde. Man lasse hier diese Engelserscheinungen unbestritten, weil das Volk nicht gehörig unterscheiden kann; man hebe den Hauptgedanken aus: daß Jesus sich auf sein Gebet mächtig gestärkt fühlte, und suche diesen nur recht praktisch zu machen! Unsere bessere Einsicht darf nie andern schädlich werden!“64
4. Größe und Grenze des Gablerschen Werkes treten in dem zuletzt benannten Beispiel zutage. Mit Gabler gewinnt die exegetische Forschung eine Bedeutung – in Zusammenarbeit und im Gegenüber zur dogmatischen Theologie –, die dazu führte, dass die Altdorfer Antrittsvorlesung von 1787 zu einem epochalen Datum für viele enzyklopädische Selbstverständnisse einer kritischen Bibelwissenschaft wurde. Zugleich mag man eine Distanz gegenüber Gablers Methodik und dem Ideal empfinden, mit den Mitteln historischer Kritik zu einem universalen Kern christlicher Identität vorzudringen, in dem partikulare Elemente nicht auch als solche eine allgemeine und zeitlose Relevanz besitzen dürfen. Gablers theologiegeschichtliche Einordnung fällt schwer. Unbestritten ist, dass er eine rationalistische Bibelexegese vertrat, auf die Bezeichnung eines 62 Gabler/Gabler, Kleinere Schriften (s. o. Anm. 59), 33. Für das Folgende vgl. ebd., 38 f. 63 Ebd., 50. 64 Ebd., 52 f.
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Rationalisten aber nicht beschränkt werden kann. Rudolf Smend überführte diesen Umstand in ein einprägsames Bild: „Gabler, selbst Rationalist, schwimmt […] gegen die zu seiner Zeit reißendste Strömung des Rationalismus.“65 Falls Gabler kein reiner Rationalist war, so wurde angemerkt, müsse er Neologe, obschon Spätneologe gewesen sein.66 Auch in Betracht gezogen wurde, Gabler stünde zwischen Spätneologie und Rationalismus.67 Gemeinsam ist diesen Einschätzungen die Mittelstellung, wenn nicht gar die vermittelnde Position, die Gabler zukommt. In dieser wirkte er zusammen mit Heyne, Griesbach und Eichhorn und prägte damit eine Epoche der neuzeitlichen Bibelkritik.68 Dass es dazu kommen konnte, verdankte Gabler zahlreichen Weichenstellungen in seinem Leben. Eine entscheidende unter diesen war die Anstellung am Göttinger Stift. Ihr schuldete er, in seinen eigenen Worten, nicht weniger als „den Grund zu seinem künftigen Glücke“.69
Primärtexte Johann Philipp Gabler: Antrittsrede in Altdorf vom 30. März 1787 (lat./dt.), in: KarlWilhelm Niebuhr und Christfried Böttrich (Hg.): Johann Philipp Gabler (1753 – 1826) zum 250. Geburtstag, Leipzig 2003, 15 – 41. Theodor August Gabler und Johann Gottfried Gabler (Hg.): D. Johann Philipp Gabler’s kleinere theologische Schriften, Bd. 1, Ulm 1831. Digitalisate des Oxforder Exemplars abrufbar unter URL: http://dbooks.bodleian.ox.ac.uk/books/PDFs/600084910.pdf (Bd. 1) und http://dbooks.bodleian.ox.ac.uk/books/PDFs/600084911.pdf (Bd. 2).
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Smend, Begründung (s. o. Anm. 48), 110. Vgl. Leder, Altdorf (s. o. Anm. 30), 296. Vgl. Merk, Biblische Theologie (s. o. Anm. 26), 105, Anm. 312. Eine gute Übersicht bietet Rudolf Smend: Über die Epochen der Bibelkritik, in: ders.: Bibel und Wissenschaft. Historische Aufsätze, Tübingen 2004, 29 – 50. Vermissen mag man in der oben gebotenen Reihe Wilhelm Martin Leberecht de Wette. Dessen Bezüge zu Gabler müssen im Ganzen und damit auch für die Jenaer Frühzeit unbestimmt bleiben, vgl. Rudolf Smend: Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Arbeit am Alten und am Neuen Testament, Basel 1958, 16. Zu de Wettes Jenaer Dissertation, die in das Jahr nach Gablers Wechsel an die Salana fällt, vgl. Hans-Peter Mathys: Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Dissertatio critico-exegetica von 1805, in: Martin Keßler und Martin Wallraff (Hg.): Biblische Theologie und historisches Denken. Wissenschaftsgeschichtliche Studien aus Anlass der 50. Wiederkehr der Basler Promotion von Rudolf Smend, Basel 2008, 171 – 211. 69 Müller, Gabler (s. o. Anm. 3), 24.
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Sekundärtexte Rudolf Smend: Johann Philipp Gablers Begründung der Biblischen Theologie, in: ders.: Bibel und Wissenschaft. Historische Aufsätze, Tübingen 2004, 101 – 113. Klaus Leder: Universität Altdorf. Zur Theologie der Aufklärung in Franken. Die Theologische Fakultät in Altdorf 1750 – 1809, Nürnberg 1965. Otto Merk: Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen, Marburg 1972. Hans-Jürgen Dohmeier: Die Grundzüge der Theologie Johann Philipp Gablers, Diss. Münster 1976.
Joachim Ringleben
Philipp Konrad Marheineke (1780 – 1846) – die Zuflucht im Begriff
1. Um das vernünftige Wissen von Gott zu bestimmen, heißt es in § 115 der Einleitung zu Philipp K. Marheinekes Dogmatik: „In dem menschlichen Geiste ist Gott sich nicht durch diesen, sondern durch sich selbst offenbar und so auch dem menschlichen Geiste offenbar.“1 Theologische Erkenntnis ist nicht im menschlichen Bewusstsein zu begründen (wie bei Schleiermacher), sondern im Sich-Wissen und Sich-Offenbaren Gottes am Orte des menschlichen Geistes. So wird Theologie als „das vernünftige Wissen der Wahrheit“ streng von Gottes Offenbarsein durch sich selbst, also aufgrund seiner Selbst-Offenbarung gedacht, und sie ist „als Wissen von Gott das Wissen durch Gott.“2 Gott kann nicht im endlichen Denken als er selber erfasst werden; vielmehr nur durch sein Sich-von-sich-her-Vergegenwärtigen ist ein theologisches Wissen von ihm möglich: „In diesem Wissen […] ist das Ich über sich und die Subjectivität des isolierten Bewußtseyns seiner selbst hinaus, es ist in Gott und Gott in ihm.“3 Die Subjektivität menschlicher Vernunft ist im Geiste Gottes „aufgehoben“. Das besagt, erst wenn Gott als ihr absolutes Subjekt gedacht wird, ist theologische Wissenschaft von ihm wahr. Es geht entscheidend darum, Gott so zu denken, „daß die reine Substanz selbst sich als Subject zeige, er [sc. der Theologe] mit seinem Geiste sich dem göttlichen sujicire und ihm gelassen sei.“4 Damit ist das Programm des Hegelschen Denkens übernommen: „das Wahre nicht als Sub-
1 Philipp K. Marheineke: Die Grundlehren der christlichen Dogmatik als Wissenschaft, Berlin 2 1827, 67. 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Ebd. Die eigentümliche Wendung „ihm gelassen“ findet sich auch in § 138 als Entsprechung zu „von sich selbst loslassen“. Vgl. ebd., 82.
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Joachim Ringleben
stanz [Spinoza], sondern eben sosehr als Subjekt [Fichte, Schelling] aufzufassen und auszudrücken.“5 Im Lichte göttlicher Selbstoffenbarung ist von einer sich verstehenden Theologie zu sagen: ihr „wahres Wissen vom Absoluten ist selber ein absolutes.“6
2. Es war in jedem Sinne „naheliegend“, dass der am 1. Mai 1780 in Hildesheim Geborene sein Studium in Göttingen aufnahm.7 Hier blieb er von 1798 bis 18038 und seine theologischen Lehrer waren J.G. Planck,9 Chr.F. v. Ammon,10 K.F. Stäudlin und J.G. Eichhorn. Marheineke lebte und arbeitete als Student wohl im Theologischen Stift. Nach seinem Wechsel nach Erlangen erwirbt er dort 1803 mit einer Arbeit zur Moraltheologie den Grad eines Dr. phil.11 Im Jahre 1804 ist er (Stifts-)Repetent der Theologischen Fakultät in Göttingen, 1805 Repetent in Erlangen.12 Hier wird der erst 25-jährige 1805 zum außerordentlichen Professor für Kirchengeschichte und zweiten Universitätsprediger ernannt.13 Seit 1807 ist Marheineke außerordentlicher Professor in Heidelberg und von 1809 an dort ordentlicher Professor für Neues Testament, Praktische Theologie und Dogmatik – eine Lehrstuhlbeschreibung, die der Breite seiner Arbeit und Veröffentlichungen entspricht. In Heidelberg sind seine wichtigsten Kollegen der spekulative Theologe Karl Daub,14 sodann M.L. de Wette, C. Schwarz und G.F. Creuzer. 5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes (Vorrede), in: Eva Moldenhauer et al. (Hg.): Werke. G.W.F. Hegel, Bd. 3, Frankfurt 1970, 23. Marheineke spricht in § 110 auch von der „Verwandlung des Substantiellen ins Subjective“. Vgl. Marheineke, Grundlehren (s. o. Anm. 1), 63. 6 „Das Wissen von Gott ist […] zunächst ein Wissen in der absoluten Idee und somit selber absolutes Wissen.“ Marheineke, Grundlehren (s. o. Anm. 1), § 121, 71. 7 Am 15. Oktober 1798 als Philipp Conrad Marheineke für Philologie immatrikuliert. Er studierte auch Theologie und Philosophie. 8 1802 ist Marheineke für kurze Zeit Hauslehrer in Mecklenburg. 9 Er wird noch in der Dogmatik ehrenvoll erwähnt und zum eigenen Unternehmen ins Verhältnis gesetzt; vgl. Marheineke, Grundlehren, (s. o. Anm. 1), XXXIIf. Auch sonst hat Marheineke sich liebevoll zu diesem Lehrer der Kirchengeschichte bekannt. 10 Ammon empfahl Marheineke später nach Erlangen. 11 Oder: Mag. phil. 12 Vgl. Clemens Wachter: Die Professoren und Dozenten der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen 1743 – 1966. Erlangen 2009, 132. 13 Seine Erlanger Antrittsvorlesung (1805) hatte das Thema: „Über den Einfluß der practischen Philosophie Kants auf die christliche Moral“. Dies geht sicher auf das Studium bei Stäudlin zurück. Die venia legendi hatte er 1804 erworben. Vgl. Roswitha Poll (Hg.): Verzeichnis der Erlanger Promotionen 1743 – 1885, Erlangen 2009, 262 sowie Johann Georg Veit Engelhardt: Die Universität Erlangen von 1743 – 1843, Erlangen 1991, 77 und 80. 14 K. Daub (1765 – 1836) widmet Marheineke später seine Grundlehren.
Philipp Konrad Marheineke (1780 – 1846) – die Zuflucht im Begriff
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Das Jahr 1811 bringt die Promotion zum Dr. theol. aufgrund einer Studie zur Geschichte der Abendmahlslehre bei den Kirchenvätern und vor allem die Berufung an die Theologische Fakultät der gerade neu gegründeten Universität Berlin als Professor für Dogmatik und Kirchengeschichte. Sie beweist Marheinekes damalige wissenschaftliche Geltung; er wird hier 33 Jahre lehren. Seine Kollegen sind zunächst F. Schleiermacher,15 De Wette, dann J.A. Neander, aber auch E.W. Hengstenberg. Der hochangesehene Theologe ist zweimal Rektor der Universität (1817/18 und 1831). Marheineke war zweimal verheiratet und hatte mehrere Kinder. Nachdem er sich 1844 krankheitsbedingt schon aus der Universität zurückgezogen hatte, starb er 66-jährig am 31. Mai 1846 in Berlin.
3. Philipp Konrad Marheineke galt zu Lebzeiten lange als einer der führenden Theologen Deutschlands.16 Seine prominente Bedeutung spiegelt das ungewöhnlich reiche Spektrum seiner vielseitigen Veröffentlichungen. Den Zeitgenossen galt er vor allem wohl als Kirchenhistoriker, insbesondere seit seiner Geschichte der teutschen Reformation.17 Auch als Dogmengeschichtler, Kontroverstheologe und, von Planck angeregt, als Symbolikwissenschaftler hat er viel gearbeitet.18 Obwohl er an der Einigung der evangelischen Konfessionen inter15 Neben dem reformierten Schleiermacher ist Marheineke seit 1820 auch als lutherischer Pfarrer an der Dreifaltigkeitskirche und als Konsistorialrat (1837) in Berlin tätig. 16 Zu seinen Hörern in Berlin gehörte auch Sören Kierkegaard, der im WS 1841/42 Marheinekes Vorlesung über „Dogmatische Theologie mit besonderer Hinsicht auf Daubs System“ besuchte. Seine Nachschrift dieser Vorlesung hat sich erhalten. Vgl. N. Thulstrup (Hg.): Sören Kierkegaards Papirer, Bd. 13 (Pap. III C 26), Kopenhagen 1970, 197 – 252. Kierkegaard, der auch die Grundlehren besaß, äußerte sich am 31. 10. 1841 in einem Brief an Emil Boesen recht zufrieden über diese Vorlesung. Vgl. Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes (Hg.): Sören Kierkegaard. Gesammelte Werke, Abt. 35, Gütersloh 1985 (Lizenzausgabe), 63. 17 Vgl. Philipp K. Marheineke: Universalkirchenhistorie des Christentums, Erlangen 1806 (unvollendet; von Schelling beeinflusst) und Philipp K. Marheineke: Geschichte der teutschen Reformation, Berlin 21831 – 1834. Vgl. auch ders.: Die Reformation, ihre Entstehung und Verbreitung in Deutschland. Berlin 1846. 18 Vgl. zur Dogmengeschichte Stephan Matthies und Wilhelm Vatke (Hg.): Philipp K. Marheineke: Theologische Vorlesungen, Berlin 1847 – 49. Bd. 4 dieser Edition enthält die „Christliche Dogmengeschichte“. Vgl. auch Philipp K. Marheineke: Ottomar. Gespräche über des Augustinus Lehre von der Freiheit des Willens und die göttliche Gnade, Berlin/Stettin 1821. Zur Kontroverstheologie vgl. Philipp K. Marheineke: Über das wahre Verhältnis des Katholicismus und Protestantismus, Heidelberg 1810. System des Katholicismus in seiner symbolischen Entwicklung. 3 Bände. Heidelberg 1810, 13. Zur Symbolik-Wissenschaft vgl. Philipp K. Marheineke: Christliche Symbolik. Heidelberg 1810, 13. Vgl. hierzu auch die Vorlesungen über Symbolik (1848), sowie deren verkürzte Ausgabe in Theodor v. Hanffs-
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essiert war und 1817 die preußische Union unterstützte, war sein Verhältnis zu Schleiermacher19 – sicher aus Gründen der Dogmatik – zunehmend belastet, was wohl auch mit seiner Freundschaft zu Hegel zusammenhing, der seit 1818 in Berlin lehrte.20 Wie er politisch überhaupt konservativ eingestellt war (und gegen die Judenemanzipation), so auch kirchenpolitisch gegen die Trennung von Kirche und Staat.21 Eine bemerkenswerte Rolle spielen in Marheinekes Werk auch seine Arbeiten zur Praktischen Theologie. Überhaupt am kirchlichen Leben aktiv teilnehmend,22 verfasste er ein grundlegendes Werk zu dieser theologischen Disziplin23 und zur Predigtlehre.24 Aufgrund seiner Dogmatik25 ist Marheineke als ein „Vermittlungstheologe“ einzuschätzen, der Glaube und Wissen in ein konstruktives Verhältnis bringen und Offenbarung und Vernunft versöhnen wollte.26 In bewusstem Anschluss an die Überlieferung in Schrift und Kirchenlehre ging es ihm zugleich um eine freie denkende Rekonstruktion der Wahrheit des Glaubens.27 So ist seine umfängliche Dogmatik (396 Seiten), die 1827 in stark veränderter, deutlich hegelianisierender Fassung erschien,28 ein Hauptwerk der sog. rechtshegelianischen29 Spekulativen Theologie.30 Als solche steht sie einerseits in kräftig betontem Gegensatz zu
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tengel (Hg.): Dr. Philipp Marheinekes Christliche Symbolik oder komparative Darstellung des katholischen, lutherischen und reformierten Lehrbegriffs, Braunschweig/Leipzig 1897. Gegen die Symbolik Marheinekes wandte sich katholischerseits Johann Adam Möhler, etwa in ders.: Symbolik, Mainz 1832. Er nahm 1817 gemeinsam mit ihm das Abendmahl. Gegen Schleiermacher vgl. Philipp K. Marheineke: Über die wahre Stellung des liturgischen Rechts im Evangelischen Kirchenregiment, Berlin 1825. Philipp K. Marheineke: Die Reform der Kirche durch den Staat, Leipzig 1844. Vgl. Friedrich Schleiermacher und Philipp K. Marheineke: Aphorismen zur Erneuerung des kirchlichen Lebens im protestantischen Deutschland, Berlin 1814. Zur dogmatischen Ekklesiologie vgl. Titus Wolff: Spekulative Ekklesiologie. Das Verständnis der Kirche in der Dogmatik von Philipp Konrad Marheineke, Frankfurt 1998. Philipp K. Marheineke: Entwurf der practischen Theologie, Berlin 1837. Philipp K. Marheineke: Grundlegung der Homiletik, Hamburg 1811. 1806 erschien auch eine „Geschichte der christlichen Moral“. Vgl. Philipp K. Marheineke: Geschichte der christlichen Moral in den der Reformation vorhergehenden Jahrhunderten, Nürnberg/Sulzbach 1806. Zur Ethik vgl. Marheineke, Grundlehren (s. o. Anm. 1), § 8. Vgl. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 5, 31964, 367 sowie Marheineke, Grundlehren (s. o. Anm. 1), XXV, § 10 und § 15. Vgl. Hirsch, Geschichte der Theologie (s. o. Anm. 26), 369. Zur Kritik seiner Christologie vgl. ebd., 371. Marheineke gab im Rahmen der Ausgabe der Werke Hegels „durch einen Verein von Freunden des Verewigten“ dessen Vorlesungen über die Philosophie der Religion heraus (Band 11 u.12). Berlin1832. Er hat 1831 auch die Grabrede für Hegel gehalten. Vgl. Karl Löwith: Von Hegel zu Nietzsche, Stuttgart 51964; Wilhelm August Schulze: F. Engels und Marheineke, in: ZKG 67 (1955), 141 – 144. Vgl. Alfred Weber: Le système dogmatique de Marheineke, Straßburg 1857 und Elisabeth Ihle: Philipp Konrad Marheineke. Der Einfluß der Philosophie auf sein theologisches System. Diss. Leipzig 1938.
Philipp Konrad Marheineke (1780 – 1846) – die Zuflucht im Begriff
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Rationalismus (Dogmenkritik) und Supranaturalismus wie zur Erweckungstheologie und Schleiermacherschen Gefühlstheologie,31 und versteht andererseits Dogmatik als Wissenschaft, d. h. in streng dialektischer Begriffsentwicklung denkendes Verfahren: εἰς τοὺς λόγους καταφύγειν.32 Als solche Vernunftwissenschaft expliziert die Dogmatik das übergeschichtliche „Prinzip der Religion“ im Unterschied zu ihrer kontingenten faktischen Geschichte. Sie will das Geschichtliche bzw. die Vernunft in der Geschichte begreifen.33 Indem Marheineke in Gott die Identität von Sein und Denken annimmt, will er den menschlichen Geist von da aus begreifen; das menschliche Denken begreift sich als in Gottes Sich-selbst-Denken „eingerückt“.34 Um den dezidierten Hegelianismus dieser Position zu verstehen, ist zu beachten, dass Marheineke zunächst von Schelling beeinflusst war, sich aber dann in der Weiterentwicklung seines Denkens konsequent Hegels Philosophie zuwandte, die seine dogmatische Konzeption endgültig bestimmt hat.35 Er hielt diese Philosophie begründet der christlichen Theologie für wahlverwandt, worin er nicht nur Hegels Selbstverständnis als Lutheraner folgte, sondern von diesem ausdrücklich bestätigt wurde.36 Mit Hegel verbindet Marheinekes Theologie inhaltlich und methodisch, dass er von Gott selber (dem Dreieinigen) und nicht 31 Vgl. Marheineke, Grundlehren (s. o. Anm. 1), § 34, § 39 und § 171. Marheineke kritisiert als Lutheraner August Tholuck ebenso wie schon Hegel. Vgl. Hegel, Werke (s. o. Anm. 5), Bd. 8, 19 f. und ebd., Bd. 10, 388. Zu Schleiermacher vgl. die bekannte Polemik Hegels ebd., Bd. 11, 58. 32 Platon: Phaid. 99 e 5. 33 Zum Verhältnis von Geschichte und Vernunft vgl. Marheineke, Grundlehren (s. o. Anm. 1), XXVII, XXXI und 65 – 67. Vgl. ferner Friedrich Wilhelm Graf und Falk Wagner (Hg.): Die Flucht in den Begriff. Stuttgart 1982, passim sowie F.W. Graf: Kritik und Pseudo-Spekulation, München 1982 und Eva-Maria Rupprecht: Kritikvergessene Spekulation, Frankfurt 1993. 34 Marheineke, Grundlehren (s. o. Anm. 1), § 21. 35 Vgl. etwa Philipp K. Marheineke: Zur Kritik der Schellingschen Offenbarungsphilosophie, Berlin 1843. Gleiches auch Friedrich Zoeller: Marheinekes Grundlehren der Dogmatik in ihrer Abhängigkeit von Schelling, Diss. Erlangen 1909. Die Zuwendung zu Hegel zeigt sich unter anderem in der trinitarischen Anlage des ganzen Werkes und in der Hegelschen Auffassung der Trinität. Vgl. Marheineke, Grundlehren (s. o. Anm. 1), § 205. 36 Zur Verwandtschaft von Philosophie und Theologie vgl. Philipp K. Marheineke: Die Bedeutung der Hegelschen Philosophie in der christlichen Theologie, Berlin 1842. Karl Barth konstatierte bei dem spekulativen Marheineke sogar eine „große methodische Nachbarschaft zu Luthers Abendmahlslehre und Christologie“. Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich 21952, 448. Hegel wiederum findet schon 1822 (!) bei Daub und Marheineke eine christliche Theologie, „welche noch die Lehre des Christentums wie das Recht und die Ehre des Gedankens bewahren“. Hegel, Werke (s. o. Anm. 5), Bd. 11, 66. In seinen Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie nimmt Hegel Marheinekes Lehrbuch des christlichen Glaubens und Lebens (1823) für die These in Anspruch: „Der Inhalt des Christentums aber, der die Wahrheit ist, ist als solcher unverändert geblieben und hat darum keine oder so gut als keine Geschichte weiter.“ Hegel, Werke (s. o. Anm. 5), Band 18, 27. Vgl. Marheineke, Grundlehren (s. o. Anm. 1), §15 und XXIV.
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vom menschlichen Bewusstsein ausgeht, also Gott als das in sich und durch sich selbst offenbare Subjekt (auch der Theologie) begreift.37 Indem Marheineke denken will, dass Gott in der christlichen Religion so offenbar ist, wie er es in sich selber ist, hat er nach K. Barth Offenbarung als „theologische Kategorie“ wiederentdeckt.38 Darin ist ihm aber eigentlich Hegel schon zuvorgekommen. Mit der Konstruktion der Dogmatik von der Selbst-Offenbarung aus ist – ebenfalls Hegel-konform – eine starke Stellung des Geist-Begriffs gegeben, der (von der Trinität aus gedacht) auch den Kirchenbegriff bestimmt.39
4. Von bleibender Bedeutung sind folgende Anliegen des wissenschaftlichen Theologen Marheineke: (1) Der christliche Glaube beansprucht Wahrheit (Joh !) und will als solche gewusst werden. (2) Daher geht es der Dogmatik um ein Begreifen der Tradition, d. h. sie ist vernünftiger Rekonstruktion zugänglich zu halten und in strenger Begrifflichkeit zu artikulieren. (3) Das schließt den Versuch ein, im Historischen die Vernunft heraus zu arbeiten. (4) Die Selbstvergegenwärtigung Gottes wird als Ermöglichungsbedingung jeder religiösen und jeder theologischen Rede von Gott begriffen. Damit gewinnt der Begriff göttlicher Selbstoffenbarung methodisch grundlegende Bedeutung. (5) Durch das mit (1) bis (4) Gesagte ist jede rein bewusstseinstheoretisch motivierte Reduktion von Glaube und Theologie (Religion als bloße „Deutung“) ausgeschlossen. (6) Der trinitarische Gedanke von Gott als Geist ist die innere Mitte des christlichen Gottesbegriffs und zugleich Inbegriff ewigen Lebens.
37 Das würdigt Karl Barth: Barth, Protestantische Theologie (s. o. Anm. 36), 444. Vgl. ferner Marheineke, Grundlehren (s. o. Anm. 1), § 115. Trotz seiner Behauptung der „Persönlichkeit Gottes“ wurde Marheineke später (insbesondere von linkshegelianischer und einflussreicher staatlicher Seite) als „Pantheist“ abqualifiziert. Vgl. hierzu Falk Wagner: Der Gedanke der Persönlichkeit Gottes bei Philipp Marheineke, in: NZSTh 10 (1968), 44 – 88. 38 Barth, Protestantische Theologie (s. o. Anm. 36), 446. Zu Barths eigenem Ansatz in der KD vgl. ebd., 449. Vgl. des Weiteren Marheineke, Grundlehren (s. o. Anm. 1), § 26. 39 Genau das kritisiert Barth als theologisch falsch, weil den Geist ins Menschliche ziehend. Vgl. Barth, Protestantische Theologie (s. o. Anm. 36), 447. Vgl. ferner Wolff, Spekulative Ekklesiologie (s. o. Anm. 22).
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Primärtexte Zur einführenden Lektüre in Marheinekes Theologie ist Teil I, Abschnitt 1 seiner Dogmatik, „Vom Wesen Gottes“, zu empfehlen. Philipp K. Marheineke: Die Grundlehren der christlichen Dogmatik als Wissenschaft, Berlin 21827, § 125 – 145.
Sekundärtexte Karl Barth: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, Zürich 21952, 442 – 449, Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 5, Gütersloh 31964, 366 – 372.
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Heinrich Ewald (1803 – 1875) – der „Lehrer ohne Gleichen“
1. „1. Die Bibel kann erst heute ganz in demselben lichte und sinne wieder verstanden werden in welchem ihre verfasser die bücher schrieben. Was weder zur zeit der alten Kirchenväter noch zu dér der Reformatoren des 16ten jahrh. obwol schon damals von den besten Christen gewünscht möglich war, ist uns heute möglich. 2. Dieses allein richtige verständniß der Bibel ist heute in allen den hauptsachen, namentlich in allen den christlichen glauben betreffenden, schon vollständig erreicht und für alle zukunft gesichert. 3. Die Bibel will nichts seyn als der stets unveränderlich bleibende helle spiegel in welchem wir alle die bedingungen und die stufen der für alle zukunft des menschengeschlechtes nothwendigen vollkommnen wahren religion erkennen sollen, um diese für unser leben anzuwenden.“
Diese Sätze bilden den Anfang einer Reihe von zehn Thesen, die Ewald in die Vorrede eines seiner exegetischen Werke eingerückt hat.1 Sie zeigen, welche Bedeutung er der Bibel beimaß und mit welchem Optimismus er den damaligen Stand ihrer Exegese betrachtete. Man beachte auch den eigenwilligen Stil und die (damals bei Philologen nicht seltene) Kleinschreibung der Substantive.
2. Georg Heinrich August Ewald gehört zu den wenigen Göttingern, die es in der Georgia Augusta, der nach König Georg II. August von Hannover benannten Universität ihrer Vaterstadt, zu Rang und Namen gebracht haben. Fast sieht es so aus, als habe sein Vater, ein kaum begüterter Tuchmacher, indem er den Namen Heinrich sozusagen in den Namen der Universität hineinstellte, für den Sohn von vornherein eine akademische Zukunft erhofft; sicher spricht daraus eine wel-
1 Heinrich Ewald: Die Propheten des Alten Bundes, III/3, Göttingen 1868, XIV.
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fisch-monarchische Gesinnung, wie sie Heinrich Ewald dann in der Tat lebenslang, zuletzt unter Opfern, an den Tag gelegt hat. Heinrich Ewald wurde am 16. November 1803 in der Langen Geismarstraße Nr. 56 geboren und wuchs auf in der Düsteren Straße Nr. 15, wohin der Vater nach einigen Jahren sein Geschäft verlegte. Schon als Kind war er ein Einzelgänger, ungesellig, strebsam, fleißig. Er besuchte das Gymnasium, das heute Max-Planck-Gymnasium heißt, und verdiente sich das Geld dazu großteils durch Privatstunden. Im Matrikelbuch der Universität, in das er sich sechzehnjährig am 13. April 1820 einschrieb, stehen neben seinem Namen die Worte „pauper, gratis“; er war also wegen Mittellosigkeit von den an die Dozenten zu zahlenden Vorlesungshonoraren befreit. Er hatte zwischen der theologischen und der philosophischen Fakultät geschwankt und sich für die theologische entschieden; faktisch studierte er dann gleichmäßig in beiden. Seine wichtigsten Lehrer waren der Theologe Gottlieb Jacob Planck (1751 – 1833) und die Orientalisten Johann Gottfried Eichhorn (1752 – 1827) und Thomas Christian Tyhcsen (1758 – 1834), die wie in Göttingen vor ihnen Johann David Michaelis (1717 – 1791) auch die biblische, insbesondere die alttestamentliche Exegese vertraten. Bei weitem das Meiste aber lernte er zweifellos seiner Art gemäß als Autodidakt. Schon im vierten Semester schrieb er eine sehr selbständige Abhandlung über die Komposition der Genesis, und im sechsten Semester, eben neunzehnjährig, erwarb er den philosophischen Doktorgrad, in dessen Besitz er alsbald die Stelle eines Lehrers am Gymnasium in Wolfenbüttel antrat. Nebenbei kopierte er in der dortigen Bibliothek orientalische Handschriften. Zum Sommer 1824 wurden in Göttingen zwei Repetentenstellen frei. Einer der bisherigen Inhaber, Hermann Wilhelm Bödeker (1799 – 1875), künftig ein halbes Jahrhundert Pastor an der Marktkirche in Hannover, bestimmte den jüngeren Freund, sich zu bewerben, und versah ihn dafür mit guten Ratschlägen. Ewald widmete daraufhin die gedruckte „Komposition der Genesis“ den Professoren Planck, Stäudlin, Pott und Planck junior, seinen „verehrten Lehrern und wohlwollenden Gönnern [zum] geringen Zeichen seiner Dankbarkeit und Hochachtung“ und reichte sie als erste Prüfungsleistung ein. Zum Überfluss fügte er ihr noch drei handschriftliche Ausarbeitungen bei: 23 Seiten über Jesu Selbstbezeichnung als Menschensohn, 16 Seiten über den „locus difficillimus“ Gal 3,19 – 20 (die μεσίτης-Stelle) und einen 61-seitigen Kommentar zum Mosesegen in Dtn 33. Am Palmsonntag hielt er eine Probepredigt in der Nikolaikirche, die damals seit kurzem Universitätskirche war und tags darauf bestand er die mündliche Prüfung „zur vollkommensten Zufriedenheit“.2 Als Repetent widmete er sich unter seinen Aufgaben am wenigsten der Predigt. Der Dekan musste der Fakultät nach einiger Zeit mitteilen, dass Ewald „gar 2 Vgl. Universitätsarchiv Göttingen, Theol. SA 0053.
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nicht mehr prediget und nicht mehr predigen wird“, was sich daraus erkläre, dass ihm „das Predigen wegen seiner schwachen Brust sehr sauer wird und [er] sich daher schwer verständlich machen kann“.3 Umso größeren Eifer wendete er an die Vorlesungen, mit denen er völlig in den Lehrplan der theologischen Fakultät eingebunden war; einige sind ausdrücklich als Veranstaltungen des Repetentenkollegiums gekennzeichnet. Er las in jenen drei Jahren dreimal alttestamentliche und einmal neutestamentliche Einleitung, einmal biblische Archäologie und Geschichte der Hebräer, zweimal kleine Propheten, ferner im Alten Testament Sprüche, Hoheslied und Prediger Salomos und im Neuen Testament paulinische und katholische Briefe (einschl. Hebr) sowie Apokalypse. Dazu kamen, im Verzeichnis der philosophischen Fakultät aufgeführt, regelmäßig hebräische und arabische, sporadisch auch syrische und aramäische („chaldäische“) Grammatik und seit dem Wintersemester 1826/27, für Göttingen eine Neuerung, sogar Sanskrit. Diese Lehrtätigkeit ging schon bald fast nahtlos in die des Professors über. Nach dem Ende der Repetentenzeit wurde Ewald 1827 zum außerordentlichen Professor in der philosophischen Fakultät ernannt, 1831 folgte die Beförderung zum Ordinarius, 1833 die Wahl zum ordentlichen Mitglied der Königlichen Sozietät (heute Akademie) der Wissenschaften. Ewald rückte damit in jungen Jahren in eine illustre Gesellschaft auf: er war Fakultätskollege des Mathematikers Karl Friedrich Gauß (1777 – 1855), des Historikers Friedrich Christoph Dahlmann (1785 – 1860), der Germanisten Jacob und Wilhelm Grimm (1785 – 1863 und 1786 – 1859), des Altphilologen Carl Otfried Müller (1797 – 1840), des Physikers Wilhelm Weber (1804 – 1891) und des Literarhistorikers Georg Gottfried Gervinus (1805 – 1871). Es war eine der Blütezeiten der Göttinger Universität und der private und berufliche Höhepunkt in Ewalds Leben. Er befand sich im Einklang mit seiner Umwelt, hatte großen Lehrerfolg, war literarisch produktiv und, last but not least, heiratete die älteste Tochter des großen Gauß. Aber das Idyll dauerte nur knapp ein Jahrzehnt. 1837 beteiligte sich Ewald am Protest der „Göttinger Sieben“ gegen die Suspendierung des hannoverschen Staatsgrundgesetzes durch den neuen König Ernst August und es half ihm nichts, dass er der politisch Ahnungsloseste der Sieben war. Auch er verlor seinen Lehrstuhl und obwohl ihn der württembergische König schon 1838 nach Tübingen berief – in der Zwischenzeit arbeitete er wissenschaftlich in London –, kam er nie wieder in sein altes Gleis. In Tübingen starb 1840 seine Frau nach langer Krankheit, 1841 wechselte er aus der philosophischen Fakultät in die theologische, deren führender Kopf der Neutestamentler und Kirchenhistoriker Ferdinand Christian Baur (1792 – 1860) war und mit dem er sich schnell für alle Zukunft auf Kriegsfuß stellte. Damals begann er neben seinen wissenschaftlichen Werken polemische 3 Ebd., Brief von Karl Friedrich Stäudlin vom 5. Februar 1826.
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Pamphlete zu verfassen und auch die Werke mit militanten Vor- und Nachworten zu versehen, wodurch er sich innerhalb und außerhalb der Theologie zahllose Feinde schaffte. Auf einem Porträtfoto Ewalds steht von der Hand seines bedeutendsten Schülers, Julius Wellhausen (1844 – 1918), das Engelswort über Ismael (Gen 16,12): „Seine Hand gegen Jedermann und Jedermanns Hand gegen ihn.“ Noch in Tübingen schrieb Ewald 1846 ein Pamphlet „Ueber einige wissenschaftliche Erscheinungen neuester Zeit auf der Universität Tübingen“ und als ihm 1848 die Rückkehr nach Göttingen gelang, hinterließ er eine streitbare Schrift „Ueber seinen Weggang von der Universität Tübingen mit anderen Zeitbetrachtungen“. Es drängte ihn in die Vaterstadt, aber er wurde dort durchaus nicht mit ausgebreiteten Armen empfangen. Zwar war er nachgerade ein berühmter Mann, aber seine „ismaelitischen“ Eigenschaften lagen immer offener zutage und erschwerten den Verkehr mit ihm. Auf seinem alten Lehrstuhl saß seit 1843 sein Schüler Ernst Bertheau (1812 – 1888), der für die Studenten keinerlei Attraktivität besaß, und so richtete man für ihn selbst einen neuen Lehrstuhl mit gleichen Lehraufgaben ein. Nach einigen Jahren unternahm er 1855 den Versuch, als Nachfolger des verstorbenen Friedrich Lücke aus der philosophischen in die theologische Fakultät zu wechseln, aber angesichts der Gegenwehr der Theologen kam er damit nicht durch. Prekär wurde seine Stellung endgültig nach der Annexion des Königreichs Hannover durch Preußen. Schon längst ein abgesagter Feind Preußens, weigerte er sich 1867, den Eid auf die neue Regierung zu leisten, womit er seine Entlassung aus dem Beamtenstand auf sich zog, allerdings bei Weiterzahlung seines Gehaltes und mit der Erlaubnis, weiter Vorlesungen zu halten. Aber er ließ sich nicht beruhigen, sondern veröffentlichte unentwegt weiter antipreußische Flugschriften (z. B. 1868 „über seine zweite Amtsentsetzung an der Universität Göttingen“ [nach der von 1837], 1870 „Worte an Graf von Bismarck und an das deutsche Volk“) und zog damit den Verlust der Lehrerlaubnis und ein Verfahren wegen Majestätsbeleidigung auf sich, in dem er allerdings freigesprochen wurde. Nun begab er sich in die Politik: er ließ sich 1869 als Abgeordneter der Welfenpartei für den Wahlkreis Hannover in den norddeutschen und anschließend in den deutschen Reichstag wählen und hielt dort eine Anzahl von Reden, die er 1872 unter dem Titel „Aus dem deutschen Reichstage zu Berlin“ herausgab. Sein Gelehrtenfleiß erlosch darüber nicht: 1871 erschien der erste Band seiner „Theologie des Alten und Neuen Bundes“, 1876, nachdem er am 4. Mai 1875 gestorben war, postum der vierte und letzte, zu deren ersten Bogen er noch bis zwei Tage vor seinem Tod selber die Korrektur gelesen hatte. Er war als ein einsamer Mann gestorben. In der Wissenschaft hatte er mit wilden Attacken nach links gegen den Tübinger Neutestamentler Baur und dessen Schüler David Friedrich Strauß (1808 – 1874), nach rechts gegen den Berliner Alttestamentler Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802 – 1869) und auf
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beiden Seiten gegen ungezählte Andere gekämpft. In der übrigen Welt hatte er hier gegen Preußen, dort gegen den seit 1870 erstarkten römischen Katholizismus gekämpft, hatte sich aber auch, was im Grunde noch schwerer wog, mit seinen besten Schülern überworfen, allen voran Theodor Nöldeke (1836 – 1930) und Julius Wellhausen. Von Wellhausen verlangte er, er solle den König von Preußen und Bismarck für Übeltäter und Schurken erklären; als Wellhausen sich weigerte, brach er die Beziehung ab.4 Aber keiner hat später das Andenken Ewalds so hoch gehalten wie gerade Wellhausen. Drei Jahre nach Ewalds Tod nannte er ihn den „Lehrer ohne Gleichen“,5 und zu seinem 100. Geburtstag schrieb er eine Würdigung, die mit dem Satz schloss: „Seine Schüler verdanken ihm mehr, als sie begreiflich machen können.“6
3. In dieser Würdigung schilderte Wellhausen Ewald nicht nur als Gelehrten, sondern auch als Lehrer, so wie er ihn erlebt hatte. Man kann nichts Besseres tun, als diese Schilderung hier im Auszug wiederzugeben: „Während meines akademischen Trienniums habe ich zwei Vorlesungen bei ihm gehört, Psalmen (1862/3) und Einleitung in die Biblischen Bücher (1863/4) […]. Er sprach frei, mit ziemlich langen Pausen zwischen den Sätzen. Sein Vortrag war durchaus nicht glänzend. Er hatte eine dünne hohe Stimme und fiel nur ab und zu in eine unnatürlich tiefe Lage herunter. Er predigte mehr als dass er docirte, seine Mittel reichten aber nicht recht aus für den Ausdruck der hohen Gedanken und Empfindungen, die in ihm zu wogen schienen. In die wissenschaftliche Arbeit führte er den Hörer nicht ein; er liess ihn nicht mit suchen und finden, sondern offenbarte seine Resultate ohne weitere Begründung. In der biblischen Einleitung verlor er über die Vorarbeit seiner kritischen Analyse keine Worte, sondern setzte sie einfach als gelungen und sicher voraus. Er gab nur einen positiven Ueberblick über die Entwicklung der Literatur des Alten und Neuen Testaments, der Apokryphen und Pseudepigraphen, ein Bild seiner Anschauung von dem Wachsthum und der Verzweigung des Ganzen aus der Wurzel heraus. Durch die organische Gliederung schien er den Eindruck innerer Nothwendigkeit zu erwecken; das complementum possibilitatis, den Uebergang von der Möglichkeit zur Thatsächlichkeit, nahm er nicht eben schwer. Bei der Exegese der Psalmen verfuhr er ebenfalls sehr thetisch und verwickelte uns nicht in Skrupel und Zweifel. Auf abweichende 4 Vgl. Eduard Schwartz: Vergangene Gegenwärtigkeiten. Gesammelte Schriften I, Berlin 21963, 337. 5 So in der von Julius Wellhausen bearbeiteten Auflage von Friedrich Bleek: Einleitung in das Alte Testament, Berlin 41878, 655. 6 Julius Wellhausen: Heinrich Ewald, in: Gesellschaft der Wissenschaften Göttingen: Festschrift zur Feier des 150jährigen Bestehens der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Berlin 1901, 81.
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Meinungen nahm er überhaupt keine Rücksicht. Zu Anfang nannte und beurtheilte er einige neuere Commentare und bemerkte zum Schluss, nachdem er sie im Ganzen abgethan, brauche er sie im Einzelnen nicht mehr zu widerlegen: ‚ich sage fortan immer gleich das Richtige‘. […] Man wird begreifen, dass seine Vorlesungen nicht nach jedermanns Geschmack waren; manche lachten über ihn oder ennuyirten sich. Mich hat er von vornherein angezogen. Seine Person interessirte mich und Alles, was von ihr ausging, mochte es zur Mehrung meiner Kenntnisse beitragen oder nicht. Doch liess sich trotz Allem genug von ihm lernen. Es fielen werthvolle Fingerzeige ab für den, der darauf achtete. […] Weit mehr als aus den öffentlichen Vorlesungen habe ich allerdings gelernt aus den Uebungen im Interpretiren orientalischer Schriftsteller, die Ewald privatissime und gratis jeden Nachmittag von zwei bis vier Uhr (ausser Sonnabends und Sonntags) in seinem Hause an der Unteren Masch [Nr. 25] abhielt. Ich habe daran erst seit Winter 1867/8 ein paar Semester theilgenommen und mit besonderem Vergnügen die Hamasa bei ihm gelesen. Seine Methode war einfach; er warf einen ins Wasser, damit man schwimmen lerne. Er begann sofort mit der Lektüre, und ging sehr bald zu schwierigeren Stucken über. Die Vorkenntnisse, die aus Büchern zu lernen waren, musste man sich alleine erwerben. Wusste man bei der Interpretation in irgend einem Punkte der Grammatik nicht Bescheid, so wunderte er sich sehr; unbarmherzig hakte er ein bei jeder Unsicherheit im Lesen unvokalisirter Texte. Die Hilfen, die er gab, bestanden vorzugsweise in negativen Winken. Der Uebersetzer wurde beim Pflügen mit allerhand ermunternden oder bedauernden Schnalz- und Murmellauten begleitet; machte er es ganz falsch, so entstand ein aufgeregtes Gezisch und er musste von vorn anfangen; bog er dann wieder in den verkehrten Weg ein, so hiess es in den höchsten Tönen: ‚Aber Sie verrennen sich ja! Halten Sie sich doch alle Möglichkeiten vor Augen! Gibt es denn nur diese eine Möglichkeit?‘ Manche wurden durch seine kribbelnde Ungeduld ausser Fassung gebracht und halb krank gemacht. Andere aber spornte er durch die Ansprüche die er stellte, da sie dem, was er selber an Zeit und Mühe aufwandte, durchaus entsprachen. Sein Unterricht, so wenig rationell er schien, hatte etwas Erfrischendes, da er mit Leib und Seele dabei war; und die zwei Stunden nach Tisch verliefen auch im heissen Sommer im Umsehen. Er wusste Leben in jugendlichen Geistern zu erwecken, die sich ihm hingaben. Achtlos, wie es schien, streute er für Empfängliche weit tragende Bemerkungen aus. Gelegentlich machte er bei schwierigen Stellen vor, wie er zum Verständnis gelangt war. Er fasste Fuss auf einem unscheinbaren Punkte, der fest war, fand von da aus tastend weiteren Boden, und eroberte so schliesslich das ganze Terrain. Er hatte zwar immer das Ganze im Auge, die Wiederbelebung des alten Autors aus dem Kern seines Wesens und seiner Absicht heraus. Aber er ging vom Kleinsten aus, weil es am sichersten und leichtesten zu verstehen sei, und achtete namentlich auch genau auf die Form, auf Maass und Zahl.“7
7 Wellhausen, Heinrich Ewald (s. o. Anm. 6), 63 – 65.
Heinrich Ewald (1803 – 1875) – der „Lehrer ohne Gleichen“
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4. Über Ewalds wissenschaftliche Arbeit hat Wellhausen geurteilt, „nicht nur seine ersten, sondern auch seine wichtigsten und originellsten Leistungen“ hätten „auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft“ gelegen.8 Am Anfang stand dort die Abhandlung „De metris carminorum arabicorum“ (Braunschweig 1825), in der Ewald gegen die herrschende Lehre den quantitierend-dijambischen Rhythmus der arabischen Poesie behauptete, womit er sich die erste seiner Kontroversen zuzog; er bestand sie siegreich. Den Höhepunkt und die Summe seiner Beschäftigung mit dem Arabischen bildete nur wenige Jahre danach eine zweibändige „Grammatica critica linguae Arabicae“ (Leipzig 1831 – 33), die in Erinnerung geblieben ist als „ein ernsthafter Versuch, an die Stelle des Systems der Nationalgrammatiker eine neue Sinndeutung der Sprachformen zu setzen“.9 Natürlich betrieb Ewald das Arabische nicht zuletzt im Blick auf das Hebräische, dem er schon vorher ein entsprechendes Kompendium gewidmet hatte, die „Kritische Darstellung der hebräischen Sprache, ausführlich bearbeitet“ (Leipzig 1827), die durch die Jahrzehnte nicht weniger als fünfzehn längere und kürzere Neubearbeitungen erfuhr. Ein Exemplar schickte er an den führenden Sprachforscher und -denker seiner Zeit, Wilhelm von Humboldt in Berlin (1767 – 1835). Dieser reagierte mit einem hohen Lob, das wohl nicht nur Höflichkeit war: „Ew. Wohlgeboren haben die Sprache, wie es mir scheint, ganz in ihrer wahren Eigenthümlichkeit aufgefasst, und sie in dem Geiste der neueren Sprachforschung [damit meinte Humboldt sich selbst!], welche der Sprachbildung in ihren lebendigen Fortschritten nachzugehen strebt, bearbeitet.“10 Ewald opponierte gegen eine „empirische“ Behandlung der hebräischen Sprache, die diese „nach der bloß äußern Erscheinung“ auffasste und der das „Princip“ fehlte, „die innern und wahren Gründe zu erforschen und sich zu erheben über den äußern Schein. Eine solche Ansicht und Behandlung der hebräischen Sprache konnte in unserer Zeit, der auch die Sprache überhaupt mit Recht in einer höhern und wissenschaftlichern Bedeutung erscheint [wieder Humboldt!], und bei dem Fortschritt der Exegese nicht auf die Dauer sich erhalten.“11
Die fragwürdige „empirische“ Behandlung fand Ewald bei Wilhelm Gesenius (1786 – 1842), seinem großen Antipoden in Halle und eine Zeit lang wohl auch Nebenbuhler in der Anwartschaft auf Eichhorns Nachfolge in Göttingen. Er ließ an Gesenius, der ihn seinerseits so sachlich wie möglich behandelte, kein gutes 8 Ebd., 65. 9 Johann Fück: Die arabischen Studien in Europa bis in den Anfang des 20. Jahrhunderts, Leipzig 1955, 167. 10 Bei Wellhausen, Heinrich Ewald (s. o. Anm. 6), 82. 11 Heinrich Ewald: Ueber hebräische Grammatik, in: ThStKr (1830), 361.
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Haar; dabei hätte er, wie Wellhausen bemerkt, wenigstens „auf lexikalischem Gebiete […] die grossen Verdienste von Gesenius lieber anerkennen, als sie bemäkeln sollen“.12 Als Beispiel von Ewalds Nachwirken noch in den neuesten Grammatiken sei erwähnt, dass die Bezeichnung der sogenannten Tempora Perfekt und Imperfekt auf ihn zurückgeht, wobei ihm deren Problematik durchaus bewusst war. Soviel Mühe Ewald an die Sprachwissenschaft gewendet hat, zuerst und zuletzt war er doch Exeget der Bibel. Hier fing er entschlossen mit dem Anfang an, indem er in seiner schon erwähnten Erstlingsschrift (Braunschweig 1823) „Die Komposition der Genesis“ untersuchte. Das kleine Buch beschert dem Leser eine kräftige Überraschung: Ewald tritt nicht nur keiner der beiden damals gängigen Hypothesen bei, also weder der (älteren) „Urkundenhypothese“, die die Genesis aus zwei parallelen „Urkunden“, noch der „Fragmentenhypothese“, die sie aus einer Vielzahl unzusammenhängender Einzelstücke entstanden dachte, geschweige denn, dass er sie zu einer neuen Hypothese fortentwickelte. Stattdessen bestreitet er beide Hypothesen, ja er äußert Skepsis gegen Hypothesen überhaupt: „in historischen Wissenschaften sich erst Schwierigkeiten zu häufen und diese dann nach der zuerst sich darbietenden Hypothese zu lösen, und nach ihr alles übrige gewaltsam bequemen zu wollen – ist ein Weg, der nur in ein unabsehbares Irrreich führen kann.“13 Seinerseits postuliert Ewald, als ob das keine Hypothese wäre, einen einzigen Verfasser der Genesis, der mit Ziel und Plan arbeitet, der das aber nach orientalischer, nicht nach modern-abendländischer Weise tut, bei dem es also viele Wiederholungen und Nachholungen gibt und den auch (scheinbare) Widersprüche nicht stören. Von den Bestreitern der Quellenkritik hat keiner einen solchen Eindruck gemacht wie der junge Ewald; aber er ist bei den Unvoreingenommenen nicht durchgedrungen und hat seine Meinung auch bald geändert. Seine weitere Arbeit am Pentateuch führte ihn in die Nähe der „neueren Urkundenhypothese“, die mit einer „jahwistischen“ und zwei „elohistischen“ Quellen rechnete und die dann mehrere Generationen lang die Forschung bestimmte. Ihm selbst lag besonders daran, über das leicht zum „Mechanischen“ tendierende Verfahren der Literarkritik hinaus eine lebendige Vorstellung davon zu gewinnen, „welche ungemeinen schicksale dies große werk durchlief ehe es seine jetzige gestalt erhielt, wie es von einem kleinen anfange aus bei jeder bedeutenden wendung des ganzen Hebräischen schriftthumes bis in das ende des 7ten oder den anfang des 6ten jahrh. sich vergrößerte und veränderte, und wie es also auf seinem gebiete das Schönste
12 Wellhausen, Heinrich Ewald (s. o. Anm. 6), 67. 13 Heinrich Ewald: Die Komposition der Genesis, Braunschweig 1823, 2.
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und Ewigste der schriftstellerischen thätigkeit einer langen reihe von jahrhunderten vereinigt“.14
Allerdings verschloss sich Ewald der durch Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780 – 1849), Wilhelm Vatke (1806 – 1882), Karl Heinrich Graf (1815 – 1869) und Abraham Kuenen (1828 – 1891) angebahnten, durch seinen eigenen Schüler Wellhausen 1878 in dessen „Prolegomena zur Geschichte Israels“15 durchgeführten historischen Neuordnung der genannten Quellen, die eine völlige Umwälzung des Bildes vom Verlauf der Geschichte des alten Israel mit sich brachte. Wellhausen hat ihn darum den „großen Aufhalter“ genannt, „der durch seinen autoritativen Einfluss bewirkt hat, dass die bereits vor ihm gewonnene richtige Einsicht in den Gang der israelitischen Geschichte nicht hat durchdringen können“.16 Noch in Ewalds erster Göttinger Periode begann das erste seiner großen Sammelwerke zu erscheinen, „Die poetischen Bücher des Alten Bundes“ (I – IV, Göttingen 1835 – 1839), später, als Ewald sich immer mehr der Fremdwörtervermeidung befleißigte, umbenannt in „Die Dichter des Alten Bundes“. In Tübingen folgten sogleich „Die Propheten des Alten Bundes“ (I – III, Göttingen 1840/41). Die beiden Serien dürften etwa das enthalten, was die Studenten in Ewalds Vorlesungen zu hören bekamen: Übersetzung und Erklärung aller Texte auf wissenschaftlichem Niveau und doch flüssig geschrieben und leicht lesbar, also auch zur kursorischen Lektüre einladend, aber mit einem Manko: so gut wie ganz fehlt die Einzelauseinandersetzung mit anderen Meinungen gemäß Ewalds Maxime, „gleich das Richtige zu sagen.“ Die Prophetenbücher sind chronologisch gruppiert, ebenso die einzelnen Psalmen, von denen Ewald 16 (in der zweiten Auflage dann 17) für davidisch, aber keinen für makkabäisch hält. Die Erklärung der Propheten nennt Wellhausen „Ewalds exegetische Glanzleistung“: „er drang tiefer in ihr Wesen ein, als irgend einer seiner Vorgänger“.17 Nicht nur durch Wellhausen, sondern auch durch Bernhard Duhm (1847 – 1928), der ebenfalls noch zu Ewalds Füßen saß, hat dessen Prophetenbild noch tief in das 20. Jahrhundert hineingewirkt. Nach Vollendung der „Propheten“ ging Ewald an sein opus maximum, die „Geschichte des Volkes Israel“ (I – VIII, Göttingen 1843 – 1859). Sie beschreibt diese Geschichte in drei „Wendungen“ (Ewalds Wortwahl für „Perioden“); 1. die „reine Gottherrschaft“ (Theokratie: Mose, Josua, Richter, Bd. II), 2. die „Königsund die Gottherrschaft“ (die Zeit der Monarchie, Bd. III), 3. die „Heiligherrschaft“ (Hierokratie, Bd. IV – VII), diese wiederum in den drei „Schritten“ Per14 15 16 17
Heinrich Ewald: Geschichte des Volkes Israel I, Göttingen 31864, 191 f. 1878 zunächst als „Geschichte Israels. Erster Band“ erschienen, seit 1883 „Prolegomena“. Wellhausen, Heinrich Ewald (s. o. Anm. 6), 74. Wellhausen, Heinrich Ewald (s. o. Anm. 6), 73.
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serzeit, Griechenzeit und Römerzeit, letztere auf drei „Stufen“, von denen jede einen Band füllt: die Zeit Christi, die Zeit bis zur Zerstörung Jerusalems, die Zeit bis Bar Kochba, jeweils auf jüdischer und christlicher Seite; den Abschluss macht die Bildung des jüdischen und des christlichen Kanons. Heute wird kaum noch jemand das Werk von Anfang bis Ende durchlesen, obwohl der Schwung, mit dem es geschrieben ist, und die Gewissenhaftigkeit, mit der die Darstellung überall aus den Quellen begründet wird, immer noch Eindruck machen können. Hier liegt allerdings nicht nur die größte Stärke, sondern auch die größte Schwäche des Werkes: wir sehen nicht nur die biblischen Quellen meist sehr anders als Ewald, sondern es sind auch, vor allen aus der vorderorientalischen Umwelt des alten Israel so viele Quellen hinzugekommen, dass von Ewalds Gebäude kaum ein Stein auf dem anderen geblieben ist. Parallel zu den letzten Bänden der Geschichte des Volkes Israel übersetzte und erläuterte Ewald das Neue Testament ähnlich wie vorher die Dichter und Propheten des Alten Bundes – eine Arbeit, die er durch eine Reihe von Abhandlungen über Einzelfragen, auch zu den Apokryphen, unterbaute. Er befand sich damit auf Schritt und Tritt im Widerspruch zu den Thesen seines Tübinger Exkollegen Baur, der an Jesus von Nazareth als Bestandteil und Zielpunkt der Geschichte Israels kein Interesse besaß. Für Ewald gehörten das Alte und das Neue Testament unlöslich zusammen, und so schrieb er in den letzten Jahren seines Lebens noch einmal ein großes Buch, eine „Theologie des Alten und Neuen Bundes“ mit dem deutschen Obertitel „Die Lehre der Bibel von Gott“ in vier Bänden (Leipzig 1871 – 1876). Die Gefahr einer unsachgemäßen Harmonisierung der biblischen Aussagen, vor die sich jede biblische Theologie auch nur eines der beiden Testamente gestellt sieht, hat Ewald nicht übermäßig beschwert. Ihm ist „gewiss daß die meisten der in der Bibel gefundenen widersprüche sofern sie unmittelbar auf gegenstände der lehre sich beziehen, nur irrthümlich in ihr gefunden, oder doch leicht für weit bedeutsamer und unvereinbarer gehalten werde[n] als sie inderthat sind“.18 Vielleicht war der große Streiter darauf angewiesen, dass es wenigstens in der Bibel einigermaßen harmonisch zuging. Man geht gewiss nicht fehl, wenn man Wellhausens Jubiläumsaufsatz von 190119 in seiner Mischung aus dankbarer Sympathie, kongenialer Kompetenz, nüchterner Kritik und schriftstellerischer Kraft die schönste Würdigung nennt, die je einem Alttestamentler zuteil geworden ist. Einen späteren Anlass, Ewald zum Thema zu machen, bot das 250-jährige Jubiläum der Universität im Jahr 1987. Lothar Perlitt nutzte es für einen meisterhaft polemischen Vortrag über oder 18 Heinrich Ewald: Die Lehre der Bibel von Gott II, Leipzig 1873, 2. 19 Vgl. Wellhausen, Heinrich Ewald (s. o. Anm. 6). Neudruck in: Julius Wellhausen: Grundrisse zum Alten Testament, hg. v. Rudolf Smend, München 1965, 120 – 138.
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richtiger gegen Ewald als „Gelehrten in der Politik“,20 wobei trotz Überlänge des Vortrags für den Gelehrten selbst und sein Werk nur wenig Raum blieb. Viel Einzelmaterial aus heutiger Perspektive findet sich in den Einträgen zu Heinrich Ewald in Magne Sæbø (Hg.): Hebrew Bible/Old Testament. The History of its Interpretation, Bd. III/1, Göttingen 2013.
20 In: Bernd Moeller (Hg.): Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, Göttingen 1987, 157 – 212; auch in: Lothar Perlitt: Allein mit dem Wort. Theologische Studien, Göttingen 1995, 262 – 312.
Hans Otte
Gerhard Uhlhorn (1826 – 1901) – „Nicht Repristination, nur Fortentwicklung“: Liebestätigkeit im Horizont des Gottesreichs
1. „Die Geschichte der christlichen Liebesthätigkeit ist auch eine Apologie des Christentums, und nichts kann kräftiger zur Arbeit in der Gegenwart antreiben, nichts auch besser aller Verzagtheit wehren, als ein Blick in die Arbeit vergangener Tage. Seit die ewige Liebe Fleisch geworden ist, ist die Liebe am Werk, rastlos, jeder Zeit sich anpassend, jeder neuen Not gegenüber selbst neu, doch in allen Wandlungen dieselbe, die Liebe, die nimmer aufhört.“1
Mit diesen Reflexionen zur „Kraft der Liebe“, die mit dem Kommen Jesu in die Welt kam, schloss der Loccumer Abt Gerhard Uhlhorn das Vorwort seiner wirkungsmächtigsten Veröffentlichung, der „Christlichen Liebesthätigkeit“, ab.2 Zwischen 1882 und 1890 veröffentlicht, bestimmte das Werk für mehrere Jahrzehnte die historische Wahrnehmung der Diakonie.3 In der Folge nutzten es kulturell und sozialgeschichtlich interessierte Protestanten als Referenzwerk für Arbeiten über die kirchliche Sozialarbeit; noch Dietrich Bonhoeffer bestellte sich „Die Christliche Liebesthätigkeit“ in seine Tegeler Gefängniszelle, als er an seiner „Ethik“ arbeitete.4 Das Werk verdankte sich einer Anregung von Theodor Fliedner, dem Gründer des Diakonissenmutterhauses in Kaiserswerth. Bei einer Besichtigung des Mutterhauses hatte Fliedner von Uhlhorn eine einladende, geschichtlich fundierte Darstellung der Diakonie als neuer Form der kirchlichen Arbeit erbeten. Uhlhorn hatte die Anregung aufgenommen, beschrieb aber nicht – wie Fliedner wohl erwartet hatte – einzelne diakonische Einrichtungen, sondern die unterschied1 Gerhard Uhlhorn: Die christliche Liebesthätigkeit, Stuttgart 2., verb. Aufl. 1895, 4. 2 In der ersten Auflage erschienen die Bände als Bd 1: In der alten Kirche, Stuttgart 1882; Bd. 2: Das Mittelalter, Stuttgart 1884; Bd. 3: Seit der Reformation, Stuttgart 1890. 3 Zur zeitgenössischen Rezeption vgl. Hans Otte: Gerhard Uhlhorn: Nachlass und Bibliographie, Hannover 2002, 97. Zur weiteren Wirkung vgl. Inge Mager (Hg.): Gerhard Uhlhorn: Die christliche Liebesthätigkeit, Hannover 2006, 11 ff. 4 Vgl. Eberhard Bethge: Dietrich Bonhoeffer. Eine Biographie, Gütersloh 1994, 945.
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lichen Formen sozialer und karitativer Tätigkeit von der Antike bis in die Gegenwart. Seiner Darstellung legte Uhlhorn den christlich bestimmten Begriff der Liebe zugrunde; die Liebe, die wir durch Jesus Christus erfahren, drängt uns, diese Liebe weiterzugeben: „Alle Liebe hat ihren Quelle in der Liebe Gottes in Jesu Christo, von der die Kirche zeugt und zwar nicht mit Worten bloß, sondern mit Thaten […].“5 In der Beschreibung des Handlungsrahmens der Diakonie orientierte er sich an Richard Rothe und dessen dynamischer Fassung des ReichGottes-Gedankens;6 die Geschichte der christlichen Liebestätigkeit vollzog sich im Horizont des Reiches Gottes. Mit dem Kommen Jesu und seiner Verkündigung hatte die Ausbreitung des Gottesreichs begonnen, das in der Liebestätigkeit sichtbar wurde: „Nun ist zwar das Gottesreich in seiner Vollendung ein jenseitiges und zukünftiges, aber als werdendes ist es diesseitig und gegenwärtig. Es ist ein Gnadengeschenk Gottes, aber doch auch wieder Aufgabe unserer sittlichen Thätigkeit.“7 Mit dem Buch lieferte Uhlhorn eine umfassende historische Beschreibung karitativen Arbeitens. Eine Veröffentlichung mit dieser thematischen Breite hatte es das bis dahin noch nicht gegeben. Uhlhorn begann seine Darstellung mit der Zeit des Alten Testaments und der heidnischen Antike, die er als „Zeit ohne Liebe“ von der späteren, christlich dominierten Zeit absetzte; dann führte er die Darstellung über das kirchliche Handeln im Mittelalter (Bd. 2) bis zur Gegenwart (Bd. 3). Seine Beschreibung des diakonischen und sozialen Handelns sollte nicht klerikal missverstanden werden, denn die christliche Liebestätigkeit reichte über die kirchlichen Aktivitäten hinaus: „So gewiß sich Reich Gottes und Kirche nicht decken, so gewiß decken sich auch nicht christliche und kirchliche Liebesthätigkeit. Schon von Anfang an ist […] auch die Familie der Boden, auf dem sie sich entfaltet, und in dem Maße, als dann allmählich die übrigen menschlichen Gemeinschaften von christlichem Geist durchdrungen werden, entwickeln auch sie in ihrem Kreise Liebesthätigkeit. Der Staat, die bürgerliche Gemeinde, die Korporationen, alle nehmen teil an der Lösung der gemeinsamen Aufgabe.“8
Uhlhorn vertrat einen lutherisch geprägten Kulturprotestantismus. Die Kirche mit ihrer Verkündigung und – daraus folgend – die Christen mit ihren unterschiedlichen kulturellen und sozialen Aktivitäten sollten möglichst breit in der 5 Uhlhorn, Liebesthätigkeit (s.o. Anm. 1), 45. Zu Uhlhorns theologischem Ansatz vgl. Axel Makowski: Diakonie als im Reich Gottes begründete Praxis unbedingter Liebe. Studien zum Diakonieverständnis bei Gerhard Uhlhorn, Münster 2001. 6 Vgl. Martin Cordes: Gerhard Uhlhorn. Mittler zwischen freier christlicher und kirchlicher Liebestätigkeit, in: Wolfgang Helbig (Hg.): Neue Wege, alte Ziele. 125 Jahre Henriettenstiftung Hannover, Hannover 1985, 143 – 149. 7 Uhlhorn, Liebesthätigkeit (s. o. Anm. 1), 40. 8 Ebd., 44.
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Gesellschaft wirken und durch den Geist der Liebe Humanität und Fortschritt der Menschheit bis zum endgültigen Kommen des Gottesreichs ermöglichen. Für ein solches Verständnis des kirchlichen und diakonischen Handelns bot Uhlhorn eine historisch unterfütterte Darstellung. Quellengesättigt und – wenigstens in der ersten Auflage – mit genauen Nachweisen schilderte er Caritas und Sozialarbeit auf allen Ebenen bis in die Gegenwart. Im allmählichen Fortschritt, den Uhlhorn dabei aufscheinen ließ, wurde auch der Anteil der Frauen wahrgenommen. In gleicher Weise konnte er unbefangen das Wirken der reformierten Diakonie, der katholischen Pflegeorden, aber auch das humanitäre Engagement der Aufklärer würdigen, deren theologische Grundsätze er verwarf.
2. Uhlhorn war 56 Jahre alt, als der erste Band der „Christlichen Liebesthätigkeit“ erschien; mit diesem Werk kehrte er zu seinen Anfängen als Kirchenhistoriker zurück. Grundlage dafür war sein Theologiestudium in Göttingen. Am 17. Februar 1826 war er als ältester Sohn in einer kinderreichen Schuhmacherfamilie in Osnabrück geboren worden. Mit einem städtischen Stipendium hatte er in Göttingen Theologie studieren können. Hier prägten ihn vor allem die „Vermittlungstheologen“ Friedrich Lücke (1791 – 1855) und Friedrich Ehrenfeuchter (1814 – 1878), die für eine ‚zeitgemäße‘ Theologie auf idealistischer Grundlage zwischen der überkommenen kirchlichen Lehre und den Anforderungen der historischen und kritischen Forschung vermitteln wollten. Auch in der praktischen Arbeit folgte er seinen Lehrern. Am aufblühenden kirchlichen Vereinswesen, das in Göttingen vor allem von den Professoren der Theologischen Fakultät getragen wurde, beteiligte er sich schon als Student in dem von Friedrich Ehrenfeuchter gegründeten studentischen Verein für Innere Mission. Zum Abschluss des Studiums gewann er 1847 einen vom König gestifteten Preis der Theologischen Fakultät mit einer Arbeit über die ethischen Anschauungen der lutherischen Bekenntnisschriften.9 Dies ermöglichte ihm die Bewerbung auf eine Repetentenstelle an der Theologischen Fakultät, die ihm 1848 zugesprochen wurde. Damit war seine Zukunft für die nächsten Jahre gesichert, denn mit seinem Stipendium hatte er seit 1845 nur zwei Jahre studieren können und aus der Tätigkeit als Hauslehrer auf einem Gut in Hinterpommern war er nach kurzer Zeit geflohen. Dort war es in der politisch aufgewühlten Zeit des 9 Gerhard Uhlhorn: Exponuntur librorum symbolicorum, maxime eorum qui in ecclesia Lutherana obtinuerunt, ethica argumenta, causae et rationes, praemissa quaestione de symbolorum ecclesiarum in doctrina ethica usu legitimo, commentatio theologica praemio regio ornata, Göttingen 1848. Gekürzt veröffentlicht in: Monatsschrift für Theologie und Kirche 5 (1849).
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Jahres 1848 schwierig gewesen, den Kontakt zur gelehrten (und politisch interessierten) Welt zu halten; in dem stockkonservativen politischen Milieu Pommerns hatte er sich geradezu als Revolutionär gefühlt. Als Repetent begann er im April 1849 mit öffentlichen Vorlesungen, daneben arbeitete er noch als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter bei der Universitätsbibliothek und unterrichtete an einer Mädchenschule, um sein Gehalt etwas aufzubessern. In seiner bedrängten finanziellen Lage arbeitete er mit Feuereifer, um an der Universität bleiben zu können. Schon 1853 habilitierte er sich im Fach Kirchengeschichte über die Chronologie des Kirchenvaters Tertullian. Nicht zuletzt durch seine umfangreichen Rezensionen machte er sich als junger Kirchenhistoriker einen Namen, denn er beteiligte sich energisch an den Kontroversen um Ferdinand Christian Baur und dessen Schüler. Er bestritt nicht die historischkritische Methode, für die Baur eintrat, er bekämpfte aber dessen von Hegel geprägtes Schema der kirchlichen Entwicklung. Baur hatte kirchliche Lehrentwicklung als sich wiederholenden Dreischritt von These, Antithese und Synthese gedeutet. Für die Geschichte der Alten Kirche hieß das: die Lehrbildung vollzog sich in der Auseinandersetzung zwischen einer streng judenchristlichen und einer freien heidenchristlichen Partei. Uhlhorn bestritt dieses Schema und die damit verbundene Behauptung, dass sämtliche frühchristlichen Schriften dem Schema entsprechend als Tendenzschriften zu lesen seien. Stattdessen versuchte er, die Schriften einzelner Autoren (Clemens Romanus, Irenäus) aus sich selbst heraus zu verstehen und dann im Vergleich mit deren Zeitgenossen zu analysieren. Für die pseudoclementinischen Schriften schlug er die noch heute gültige Datierung und Lokalisierung vor und würdigte dabei das frühe syrische Christentum als selbständige Form christlicher Theologie. Nicht nur in der Kirchengeschichte machte sich der junge Uhlhorn rasch einen Namen, ebenso wichtig war sein kirchenpolitisches Engagement. Als die Stelle als Repetent auslief, übernahm er neben seiner Privatdozentur 1853 die Redaktion der „Vierteljahrsschrift für Theologie und Kirche mit besonderer Berücksichtigung der Hannoverschen Landeskirche“. Als Sprachrohr der Mehrheit der Göttinger Theologischen Fakultät hatte die Zeitschrift ein kirchenpolitisches Programm: sie wandte sich gegen das konfessionell scharf profilierte Neuluthertum. Humanität und Christentum sollten verbunden werden, gleichzeitig warben ‚die Göttinger‘ für die Einrichtung von Synoden und Presbyterien gegenüber einer Dominanz der Pastoren in der Kirche. Uhlhorn galt als Parteimann der theologischen Fakultät, deren kirchenpolitischer Gegenspieler, der hannoversche Pastor Ludwig Adolf Petri (1803 – 1873), als Führer der orthodoxen Neulutheraner eine Union zwischen Lutheranern und Reformierten strikt ablehnte. Zu dieser Zeit galt die Innere Mission bei Petri und seinen Freunden als Verderben für die Kirche, da deren Vereine die ordentliche Arbeit der ordentlich berufenen Pfarrer in den Kirchengemeinden unterminierten.
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Um ein Gegenwicht gegen die Neulutheraner um Petri zu gewinnen, die die kirchliche Diskussion im Königreich Hannover zunehmend beherrschten, wurde Uhlhorn 1855 ins hannoversche Konsistorium berufen und gleichzeitig zum Hofprediger ernannt. Hier machte Uhlhorn Karriere. Als jüngstem Hofprediger wurde ihm der Konfirmandenunterricht der königlichen Kinder übertragen, in kurzer Zeit gewann er das Vertrauen von König Georg V. (1819 – 1878) und dessen Frau Marie (1818 – 1907). Kirchlich interessiert, suchte die königliche Familie die Erweckungsbewegung zu fördern, hier wurde Uhlhorn ihr wichtigster Helfer. Neben seinem Amt im Konsistorium wurde Uhlhorn 1859 zusätzlich zum Stiftsgeistlichen des Henriettenstifts berufen. Dieses Diakonissenmutterhaus, die „Lieblingsstiftung“ der Königin Marie, galt als Hort der konfessionellen Partei. Die Königin hatte das Amt des Stiftsgeistlichen zunächst L. A. Petri angetragen, doch musste dieser es wegen seiner angegriffenen Gesundheit ablehnen; so wurde Uhlhorn berufen. Es war ein erster Schritt, um das Vertrauen der konfessionellen Theologen zu gewinnen. Durch die praktische Arbeit des Stifts und durch die gute Zusammenarbeit mit dessen Oberin, die aus dem Kreis der orthodox bestimmten Neulutheraner kam, gelang es Uhlhorn, auch die orthodoxen Neulutheraner um L. A. Petri zu beeindrucken. Zusätzlich zur Arbeit als Hofprediger und Hausgeistlicher des Henriettenstifts und zur Tätigkeit als Konsistorialrat übernahm er 1861 die Superintendentur für die sog. Inspektion Hannover, die die Kirchengemeinden außerhalb des Altstadtrings umfasste. Für die Neubaugebiete rings um die neuen Industriezentren mussten erst kirchliche Strukturen aufgebaut werden, da die alten Dorfkirchen der Nachbarschaften die Bevölkerung der Neubaugebiete um die Industriebetriebe nicht aufnehmen konnten. Um den überforderten Pfarrern zu helfen, forcierte er die Gründung eines „Evangelischen Vereins“, der zur Hilfeleistung für die Pfarrer einen „Vereinsgeistlichen“ außerhalb der parochialen Strukturen anstellte. Der Name „Innere Mission“ wurde dabei vermieden, um die orthodoxen Neulutheraner nicht zu verärgern. Als Uhlhorn im Frühjahr 1866 den Reiseprediger des Berliner Centralausschusses für Innere Mission, Johannes Hesekiel (1835 – 1918), zu einem Vortrag nach Hannover einlud, um für die Anstellung eines Vereinsgeistlichen zu werben, empfahl er ihm, sich auf die Erzählung positiver Beispiele zu beschränken, da das Verhältnis zwischen den „Orthodoxen“ und den Freunden der Inneren Mission kompliziert sei: „Nach dem Allen ist es durchaus nöthig, die leidige Principienfrage ganz ad acta zu legen. Nichts über Amt und innere Mission, keine Theorie, lauter Praxis. Noth und Hülfe, das ist das große Thema. Je practischer, je concreter, je mehr Thatsachen, desto besser. Thatsachen muß man respectiren, man mag wollen oder nicht.“10
10 Uhlhorn an Hesekiel, 3.5. 1866, in: Matthias Hasselblatt und Hans Otte (Hg.): Der Liebes-
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Das war Uhlhorns Programm, mit dieser Maxime beteiligte er sich an der Gründung und den weiteren Unternehmungen des „Evangelischen Vereins“. 1866 wechselte Uhlhorn als Oberkonsistorialrat in das Landeskonsistorium, der neu gegründeten Spitzenbehörde der Landeskirche, behielt aber seine anderen Funktionen bei. Erst nachdem er 1878 zum Abt von Loccum berufen worden war, gab er die ‚Nebenämter‘ als Schlossprediger, Superintendent für die Inspektion Hannover und Hausgeistlicher des Henriettenstifts nacheinander auf. Inzwischen hatte er sich in seinem Amtsverständnis den orthodoxen „Neulutheranern“ angenähert. Kirchenpolitisch betonte er den Wert der Bekenntnisse für die Kirche; er begriff die Bekenntnisse als historisch gewordene Lehrgrundlage, die die Identität der Kirche sicherte. Darin unterschied er sich grundsätzlich von den liberalen Protestanten, die den Wert der Bekenntnisse prinzipiell negierten und keinen Sinn mehr in den konfessionellen Differenzen zwischen Lutheranern und Reformierten sahen. Durch seine Tätigkeit im Landeskonsistorium, das vor allem für Personalangelegenheiten, für Bekenntnisfragen und die Liturgie zuständig war, wurde Uhlhorn nach 1866, nach der Annexion Hannovers durch Preußen, zum führenden Theologen der Landeskirche, der relativ geräuschlos für die Selbständigkeit der Landeskirche eintrat. Luthertum und Selbständigkeit der hannoverschen Landeskirche im Königreich Preußen verbanden sich miteinander. Dass Uhlhorn auch das Vertrauen des preußischen Königs und Summepiskopus’ besaß, zeigt die kaiserliche Bestätigung seiner Wahl zum Abt von Loccum 1878. Sie erfolgte allerdings erst, nachdem die Klosterverfassung geändert und ein Kirchenjurist aus Berlin zum Kurator des Klosters ernannt worden war – ganz sicher war man sich Uhlhorns und der hannoverschen Landeskirche nicht.11 1883 übernahm Uhlhorn auch den Vorsitz des Evangelischen Vereins. Inzwischen war seine kirchenpolitische Stellung unanfechtbar geworden, so dass er nun auch die Innere Mission Hannovers repräsentieren konnte. Durch die Doppelrolle im Landeskonsistorium und im Evangelischen Verein wurde er reichsweit einer der wichtigen Repräsentanten einer engen Verbindung von Diakonie und verfasster Kirche. Deshalb – und wohl auch wegen seiner Bedeutung für die hannoversche Landeskirche – versuchte der Centralausschuß (CA) 1879, ihn für eine Mitgliedschaft im CA zu gewinnen, doch Uhlhorn lehnte ab.
tätigkeit Raum geben. Briefe und Berichte zur Geschichte der Inneren Mission und zur Gründung des Evangelischen Vereins in Hannover, Hildesheim 1990, 66. 11 Vgl. Hans Otte: Ein ‚freies‘ Stift in preußischer Zeit. Das Kloster Loccum 1866 – 1924, in: Horst Hirschler et al.: Wort halten – gestern, heute, morgen. Festschrift zum 850-jährigen Jubiläum des Klosters Loccum, Göttingen 2013, 241 – 275.
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3. Seit seinem Wechsel nach Hannover stand das wissenschaftliche Werk nicht mehr im Vordergrund von Uhlhorns Arbeit. Seine Veröffentlichungen waren ‚Nebenfrüchte‘, selbst wenn sie umfangreich und historisch fundiert waren. In den historischen Veröffentlichungen blieb der Zusammenhang mit seiner praktischen Tätigkeit zu erkennen.12 Intensiv beschäftigte er sich zeitlebens mit der Sozialen Frage, der Industrialisierung und den Konsequenzen für die kirchliche Arbeit. Sein lutherisch gefärbter Kulturprotestantismus nötigte ihn geradezu zur Beteiligung an den Debatten über diese Fragen. Er sah darin eine sittliche Notwendigkeit, nicht zuletzt weil der Protestantismus die gegenwärtigen Probleme miterzeugt hatte, denn die reformatorische Dialektik von Bindung und Freiheit des Einzelnen hatte die Individuen zu verantwortlichem Handeln freigesetzt und die geistigen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass die mittelalterlichen Beschränkungen der Arbeit und des Verkehrs beseitigt worden waren.13 Hinter diesen Fortschritt durfte man nicht zurückfallen: „Die wahren Heilmittel gegen die mit der wirtschaftlichen Entwicklung verbundenen Schäden können nur in der Richtung dieser Entwicklung liegen […]. Nicht Repristination, nur Fortentwicklung kann Gesundheit bringen“, schrieb er.14 Uhlhorn warnte deshalb vor allen Vorschlägen, die er als rückwärts gewandt empfand, respektierte aber die Komplexität der modernen säkularen Welt und gerade deshalb plädierte er für eine Unterscheidung der säkularen und kirchlichen Bereiche; als Sozialethiker vertrat er eine Zwei-Reiche-Lehre.15 Er lehnte einen christlichen Sozialismus ab, wie er von Adolf Stöcker oder dem jungen Friedrich Naumann vertreten wurde, ebenso die damalige katholische Soziallehre, die sich von einer kirchlich (päpstlich) dominierten Einheitskultur die Heilung der sozialen Schäden versprach.16 Er war überzeugt, dass sich die soziale
12 Als wissenschaftlicher Historiker hat Uhlhorn nur noch kleinere Arbeiten vorgelegt, daneben veröffentlichte er größere Darstellungen der Kirchengeschichte Deutschlands. Vgl. Otte, Uhlhorn (s. o. Anm. 3). 13 Vgl. Gerhard Uhlhorn: Die Arbeit im Lichte des Evangeliums betrachtet (1877), in: ders.: Schriften zur Sozialethik und Diakonie, Hannover 1990, 86. 14 Gerhard Uhlhorn: Katholicismus und Protestantismus gegenüber der socialen Frage, in: ders., Schriften (s. o. Anm. 13), 222. 15 „Die klare und sichere Scheidung zwischen geistlichem und weltlichem Regiment ist eine der größten Errungenschaften der Reformation.“ Gerhard Uhlhorn: Katholicismus und Protestantismus gegenüber der socialen Frage, in: ders., Schriften (s. o. Anm. 13), 232. Eine sozialethische Fassung der Zwei-Reiche-Lehre wurde auch sonst vom konservativen Luthertum diskutiert. Vgl. Uwe Rieske-Braun: Zwei-Bereiche-Lehre und christlicher Staat, Gütersloh 1993, 318ff und 333. 16 Vgl. Martin Cordes und Hans Otte: Einleitung, in: Uhlhorn, Schriften (s. o. Anm. 13), 26 – 33; Hans Otte: Liebestätigkeit – christlich oder kirchlich? Gerhard Uhlhorns Bedeutung für die
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Frage weder auf ein einfaches wirtschaftliches noch auf ein ethisch-voluntaristisches Problem reduzieren ließ; alle monokausalen Lösungen, etwa der Antisemiten, der Landreformbewegung und des revolutionären Determinismus im Marxismus machten sich die Sache zu leicht. Er rezipierte Teile der marxistischen Analyse, um die Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse zu beschreiben. Diese Wahrnehmung führte ihn dazu, die Möglichkeiten der Kirche gering zu schätzen, zur Lösung der Sozialen Frage Entscheidendes beizutragen. Aber diese sozialethische ‚Zwei-Reiche-Lehre‘ bedeutete keinen Verzicht auf ein ethisches Urteil, denn „das Christenthum will nicht bloß die Seligkeit des Einzelnen schaffen, die […] unter allen Verhältnissen möglich ist. Es will auch das Leben der Menschheit beeinflußen und neu gestalten in Familie und Volk, in Kunst und Wissenschaft, im Verkehr der christlichen Völker miteinander.“17
Uhlhorn sprach hier nicht von der Kirche, sondern vom Christentum und den Christen, die in Form der christlichen Kultur ihren Glauben selbständig realisierten. Die Institution Kirche hatte ihre Grenzen zu beachten; nur durch Predigt und Sakrament konnten ihre Amtsträger wirken: „Da […] liegen die Aufgaben der Kirche; nicht daß ihre Diener nationaloeconomische Bücher schreiben, die zuletzt nichts sind als Dilettantenarbeiten, halb Theologie, halb Nationaloeconomie […], sondern daß sie das Eine thun, was ihres Amts ist […], Christum verkündigen […], die ihnen befohlenen Seelen mit dem Wort weiden öffentlich und sonderlich, damit sie mit Gottes Hülfe rechtschaffene Christen werden und als Christen dann […] alle an der Lösung der großen Frage mitarbeiten.“18
So einleuchtend seine Kritik an einem christlichen Sozialismus war, so war ihre Grundlage doch das überkommene lutherische Amtsverständnis, das er mit den Neulutheranern teilte. Dieses Verständnis des Pfarramts wurde aber der Komplexität des kirchlichen Dienstes nicht mehr gerecht, denn das Predigtverständnis blieb an dem einfachen Modell der autoritären Mitteilung orientiert: Durch ihre Predigt setzten die Pastoren die Laien instand, ethisch richtig und gesellschaftlich verantwortungsbewusst zu handeln. Dass auch die religiöse Kommunikation nicht eingleisig war, wurde von Uhlhorn ignoriert. Ernst Troeltsch kritisierte eine Generation später dieses Verständnis kirchlicher Kommunikation:
Ortsbestimmung der Diakonie im Kaiserreich, in: Diakonie im deutschen Kaiserreich (1871 – 1918), hrsg. von Theodor Strohm und Jörg Thierfelder, Heidelberg 1995, 343 f. 17 Uhlhorn, Christenthum und Socialismus, in: Uhlhorn: Schriften (s. o. Anm. 13), 57. 18 Gerhard Uhlhorn: Katholicismus und Protestantismus gegenüber der socialen Frage, in: ders., Schriften (s. o. Anm. 13), 232. Er zitiert dabei aus dem damaligen Ordinationsformular für die Pastoren.
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„Dabei ist dann vorausgesetzt, daß jene christlichen Staatsmänner etc. auch eine dem christlichen Ideal des Luthertums entsprechende Sozialgestaltung finden werden und daß die von ihnen gefundene keinerlei auflösende oder verändernde Rückwirkung auf das lutherische Dogma und seine Ethik haben könne!“19
Zu Uhlhorns ‚lutherischem‘ Verständnis des Pfarramts gehörte, dass er auf den Vorrang der parochialen Struktur pochte. Nur in überschaubaren Kirchengemeinden könne den Kirchenmitgliedern die Nähe zur Kirche geboten werden, die notwendig sei, um deren Verbundenheit zur Kirche zu erhalten. Damit stellte er sich gegen das von Adolf Stoecker energisch vorangetriebene ‚Berliner Modell‘, das von wenigen Großgemeinden mit zahlreichen Pfarrern und zusätzlich angestellten Stadtmissionaren geprägt war. Solche Gemeinden waren für ihn nur noch rechtliche Größen ohne eigenes Leben. Ebenso lehnte er die Auflösung der bisherigen Parochialstrukturen ab, wie er sie in den Hansestädten beobachtete, wo sich jedes Gemeindeglied der ihm zusagenden Personalgemeinde anschließen konnte.20 Allerdings sah Uhlhorn am Beispiel der städtischen Neubaugebiete, dass die herkömmliche parochiale Struktur in den neuen Großstädten nicht mehr funktionierte. Hier sah er die Aufgabe der Inneren Mission, sie konnte die notwendige Differenzierung der kirchlichen Arbeit leisten, die dem überlasteten Pfarramt unmöglich war. Das hatten die neulutherischen Kritiker der Inneren Mission übersehen. In seiner „Christlichen Liebesthätigkeit“ schrieb er, dass die Kritik der orthodoxen Lutheraner an der jungen inneren Mission „etwas Doktrinäres [hatte], man legt[e] sich die Sachen nach einer fertigen Theorie zurecht […].“21 Dagegen hatten die „Väter der Inneren Mission“, Wichern und Fliedner, erkannt, dass die Arbeit des Pfarramts nicht ausreichte; durch die „Ausbildung von berufsmäßigen Arbeitern und Arbeiterinnen“ hatten sie die notwendige Differenzierung der kirchlichen Arbeit in Angriff genommen und damit „Epoche“ gemacht.22 Damit die Kirche handlungsfähig blieb, musste die Professionalisierung der Inneren Mission auch die Gemeindeebene erreichen. Deshalb begrüßte Uhlhorn die Bildung von Vereinen als neuer kirchlicher Sozialform in den Gemeinden. Im Unterschied zu vielen orthodoxen Neulutheranern, die eine Rückkehr zu den überkommenen Sozialformen wünschten, weil sie eine göttliche Stiftung seien,23 19 Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912, 592, Anm. 292. 20 Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts passten sich diese Typen einander stark an, auch wenn sich das von Uhlhorn propagierte hannoversche Modell insgesamt durchsetzte. Vgl. Hans Otte: More Churches – More Churchgoers. The Lutheran Church in Hanover between 1850 and 1914, in: Hugh McLeod (Hg.): European Religion in the age of Great Cities 1830 – 1930, London 1994, 90 – 180. 21 Uhlhorn, Liebesthätigkeit (s. o. Anm. 1), 725. 22 Ebd., 719. 23 Troeltschs Kritik am konservativen Luthertum traf Uhlhorn nicht. Vgl. Walter Sparn:
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akzeptierte Uhlhorn die moderne Gesellschaft mit Vereinen als „Gemeinschaften in freierer Form“.24 Denn die kirchlichen Vereine konnten Stadtmissionare einstellen, wo es den Kirchengemeinden unmöglich blieb, und sie konnten auch Evangelische Vereinshäuser unterhalten, um den Christen Versammlungsräume neben den Kirchen zu bieten.25 Wie sich Uhlhorn die kirchliche Praxis unter den Bedingungen der beginnenden Moderne vorstellte, wird an seiner Beschreibung der kirchlichen Armenpflege deutlich. 1870 hatte der Norddeutsche Bund in seinem Reichsgesetz über den Unterstützungswohnsitz länderübergreifend die Sozialfürsorge geregelt und die Armenfürsorge war kommunalisiert worden – gegen den Protest der Konservativen, die für den Vorrang der traditionellen kirchlichen Fürsorge plädiert hatten.26 Uhlhorn sah in diesem Gesetz einen wirklichen Fortschritt, deshalb akzeptierte er den Eingriff des Staates in die herkömmliche „Liebestätigkeit“. Dennoch durfte die Kirche auf ihre „Liebestätigkeit“ nicht einfach verzichten. In einer Rundverfügung an die Kirchengemeinden formulierte er, es sei „im Wesen der christlichen Gemeinde begründet, daß auch sie als Gemeinde durch ihre Vertretung an der Liebesübung sich betheilige, wie es denn von Anfang der Kirche an nie eine lebendig im Glauben stehende Gemeinde gegeben hat, die nicht auch als Gemeinde in irgend einer Weise Liebesarbeit getrieben hätte“.27 Das hieß in der neuen Situation nach dem Erlass des Gesetzes, dass die kirchliche Armenpflege als Ergänzung der kommunalen Fürsorge zu betreiben war.28 Sie sollte Personen unbürokratisch unterstützen, die für die staatliche Armenfürsorge noch nicht in Frage kamen, weil sie gerade an der Armutsgrenze lebten und sie hatte ergänzend den Armen zu helfen, die bereit waren, sich in ihrem „religiös-sittlich Leben fördern“ zu lassen. Im Unterschied zur privaten Wohltätigkeit, die vom jeweiligen Wohltäter abhing und so „zufällig“ blieb,29 war die
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Preußische Religion und lutherische Innerlichkeit. Ernst Troeltschs Erwartungen an das Luthertum, in: Troeltsch-Studien 6. Ernst Troeltschs Soziallehren, Gütersloh 1993, 154 ff. Gerhard Uhlhorn: Predigt über Ps. 133, in: ders., Schriften (s. o. Anm. 13), 182. Uhlhorn warb für den Bau von Vereinshäusern; so in der Predigt zur Einweihung des Evangelischen Vereinshauses in Hannover über Psalm 133. Zum Typ des „Vereinshauses“, aus dem später das „Gemeindehaus“ wurde, vgl. Martin Cordes: Das Gemeindehaus als neuer kirchlicher Bautyp in einer Zeit des Wandels kirchlicher Arbeit, in: JGNKG 110 (2012), 107 – 122. Vgl. den Überblick bei Christoph Sachße und Florian Tennstedt: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1980, 195 ff. Bekanntmachtung des Königl. Landes-Consistoriums betr. die Ausführung des § 37 der Kirchenvorstands- und Synodalordnung vom 1. 8. 1891, in: Kirchliches Amtsblatt für den Bezirk des Königl. Landes-Consistoriums in Hannover, 1891, 57. Ähnlich auch in: Gerhard Uhlhorn: Predigt über 1. Kor. 13,13, in: ders., Schriften (s. o. Anm. 13), 275. Näheres bei Cordes/Otte, Einleitung (s. o. Anm. 16), 35 f. Gerhard Uhlhorn: Die kirchliche Armenpflege in ihrer Bedeutung für die Gegenwart, in: ders., Schriften (s. o. Anm. 13), 291.
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kirchliche Armenpflege „amtlich“; die hier Tätigen waren als Organe der Kirchengemeinde dazu verpflichtet und erhielten aus den Gaben und Sammlungen kontinuierlich Mittel zum Verteilen. Das war nicht nur Aufgabe des jeweiligen Pfarrers, sondern Sache des Kirchenvorstandes, der die Arbeit der verschiedenen Amtsträger in der Gemeinde koordinieren musste. Für dieses Modell warb Uhlhorn reichsweit: In der Eisenacher Konferenz, dem Zusammenschluss der Kirchenleitungen, plädierte er engagiert für diese Form gemeindlicher Liebestätigkeit.
4. Uhlhorn gehörte der zweiten Generation unter den ‚Berufsarbeitern‘ der Inneren Mission an. Er vermittelte zwischen der Generation der Gründer wie Wichern oder Fliedner, die er noch gut gekannt hatte, und den jüngeren professionellen Berufsarbeitern, für deren Ausbildung in Hannover er sorgte.30 Seine Ausbildung in Göttingen, das Studium und die Zeit als Repetent prädestinierten ihn für diese vermittelnde Position: Schon seine theologischen Lehrer hatten die Innere Mission und die freien Vereine als wichtigen Teil der kirchlichen Arbeit verstanden, und seine eigene historische Ausbildung hatte ihn gegenüber jedem statischen Verständnis überkommener Sozialformen skeptisch werden lassen. Uhlhorn akzeptierte den sozialen Wandel seiner Zeit und wollte seine Kirche befähigen, darauf angemessen zu reagieren. Eine ähnlich vermittelnde Position nahm er auch gegenüber den ‚orthodoxen‘ Neulutheranern ein: er teilte deren Amtsverständnis, sah aber die Notwendigkeit, die Tätigkeit des Pfarramts zu ergänzen. Auffällig ist Uhlhorns Konzentration auf die Gemeindeebene. Für eine übergreifende kirchliche Organisation interessierte er sich kaum. Ihm war durchaus bewusst, dass die Kirche in der modernen Gesellschaft mit anderen Normen und Werten konkurrierte, aber er vertraute der kirchlichen Predigt und der kulturellen Wirksamkeit des Christentums, sodass er auf staatlicher Ebene für die Kirchen keinen unmittelbaren Handlungsbedarf sah. Das Aufkommen der Parteien und Verbände im Kaiserreich und die sich daraus ergebende Veränderung für die gesellschaftliche Wirksamkeit der Kirche reflektierte er nicht. Er konnte sich die Kirche nicht als gezielt handelnden Verband in der Gesellschaft Preußen-Deutschlands vorstellen. Wo andere, wie etwa Adolf Stoecker, Schritte in diese Richtung unternahmen,31 warnte er vor solchen Versuchen. Um 30 Als Vorstandsmitglied des Evangelischen Vereins in Hannover gehörte Uhlhorn zu den Gründern des Stephansstifts, einer Ausbildungsstätte für Diakone in Hannover. 31 Vgl. Jochen-Christoph Kaiser: Zur Politisierung des Verbandsprotestantismus. Die Wirkung
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so entschiedener plädierte er für die Freiheit der Inneren Mission. Dafür setzte er auch sein Können als Historiker ein. Es entsprach seiner Unterscheidung von Kirche und Christentum, dass das Christentum als kulturelle Macht auch Bereiche durchdringen konnte, die die Kirche als autonom respektieren musste. Hier war der einzelne Christ aufgefordert, zu handeln; ihn konnte die Innere Mission mit ihren volksmissionarischen Bestrebungen unterstützen. Deutlicher als viele andere Kirchenleute sah Uhlhorn, dass jeder Versuch, eine kirchlich dominierte Einheitskultur wiederherzustellen, in der modernen, auf Differenzierung der Lebensbereiche angelegten Gesellschaft scheitern musste. Das überforderte die Kirche und das Pfarramt. Unter diesen Umständen war die Innere Mission als vermittelnde – missionarische – Instanz besonders wichtig, denn sie war nicht in die Zwänge der staatlich organisierten Volkskirche eingespannt, die er als Oberkonsistorialrat in einer staatlich eingebundenen Verwaltung immer wieder erlebte. Als Vorfeldorganisation konnte die Innere Mission Defizite kirchlichen Handelns abdecken und experimentieren, gleichzeitig repräsentierte sie den Kern der christlichen Botschaft: die Liebestätigkeit.32 Es ist eindrücklich zu sehen, wie Uhlhorn gerade mit seiner Verwaltungserfahrung auf der Freiheit der Inneren Mission beharrte, weil „ die Liebe eine zarte Pflanze ist, deren Wachsthum sich durch keine Befehle, auch durch keine Consistorialrescripte und Ausschreiben hervorrufen läßt.“33
Primärtexte Gerhard Uhlhorn: Die christliche Liebesthätigkeit, Hannover 2006/2012 (Nachdruck der 2., verb. A. 1895). Gerhard Uhlhorn: Schriften zur Sozialethik und Diakonie, Hannover 1990.
Sekundärtexte Friedrich Uhlhorn: Gerhard Uhlhorn, Abt zu Loccum. Ein Lebensbild, Stuttgart 1903. Hans Otte: Liebestätigkeit – christlich oder kirchlich? Gerhard Uhlhorns Bedeutung für die Ortsbestimmung der Diakonie im Kaiserreich, in: Theodor Strohm und Jörg Thierfelder (Hg.): Diakonie im deutschen Kaiserreich (1871 – 1918), Heidelberg 1995, 334 – 355. Adolf Stoeckers, in: Wolfgang Schieder (Hg.):Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1993, 254 ff. 32 „Der freie Verein hat ein großes Maß an Initiative. Er kann Arbeiten in Angriff nehmen, von denen noch ungewiss ist, ob sie gelingen werden […]. Das kann die Kirche nicht, sie darf in keiner Weise experimentieren.“ (In: Gerhard Uhlhorn: Die kirchliche Armenpflege in ihrer Bedeutung für die Gegenwart, in: Schriften [s. o. Anm. 13], 322). 33 Gerhard Uhlhorn: Katholizismus und Protestantismus, in: Schriften (s. o. Anm. 13), 247.
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Hans Otte: Art. Uhlhorn, Gerhard, in: TRE 34 (2002), 242 – 244. Landeskirchliches Archiv Hannover (Hg.): Gerhard Uhlhorn. Nachlass und Bibliographie, bearb. von Hans Otte, Hannover 2002 (= Veröffentlichungen aus dem Landeskirchlichen Archiv, H. 6).
Ekkehard Mühlenberg
Theodor Zahn (1838 – 1933)
Für seine Biographie sind wir weitgehend auf das angewiesen, was Theodor Zahn als 85-Jähriger über sich selber berichtet und erzählt. Es gibt eine Druckfassung: „Mein Werdegang und meine Lebensarbeit“1 und daneben gibt es „Lebenserinnerungen“ (bis 1865) für die Familie und aus Familienbesitz zum Druck gebracht.2 Für die wissenschaftliche Öffentlichkeit stellt sich Theodor Zahn als ein erweckt frommer Mensch dar. Über vier Generationen auf seinen Ururgroßvater zurückgreifend kann er an die pietistische Bewegung mit Philipp Jakob Spener am Anfang des 18. Jahrhunderts erinnern, die Härte des orthodoxen Luthertums zurückweisen, den Einbruch der Aufklärung durch den Großvater anzeigen und erzählen, wie sein Vater und alle dessen sieben Geschwister durch die neue religiöse Bewegung vom Rationalismus ihres Vaters gelöst wurden. Seines Vaters Erweckung in Berlin um 1822 rückt den Kirchengeschichtler Neander und Studiengenossen wie August Tholuck und Julius Müller ins Blickfeld und natürlich den Gemeinschaftsvater Baron Kottwitz. Es reicht Theodor Zahn, seine eigene Stellung innerhalb der theologischen Richtungen und auf kirchlicher Ebene in seiner Zeit mit „tieferem Verständnis des Evangeliums“ und wahrer „Glaubensüberzeugung“ zu markieren,3 obwohl ihn seine Verbindung mit der Erlanger Theologischen Fakultät der lutherischen Konfession zuordnete. Sein besonderer Erlanger Lehrer Johann Christian Karl von Hofmann, dessen Nachfolger er 1878 wurde, formulierte im Hinblick auf vereitelte Berufungen: „Sie leiden dort [sc. in Göttingen] unter der Abneigung des preußischen Kirchenregiments gegen klares und festes Bekenntnis der evangelischen Wahrheit“ (Brief vom 30. Juli 1876).4 Konfessionalismus, wie er dem später sogenannten Neu1 Erich Stange (Hg.): Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1925, 221 – 248. 2 Vgl. Friedrich Hauck (Hg.): Lebenserinnerungen Theodor Zahns 1838 – 1868, in: ZBKG 20 (1951), 84 – 100; 190 – 211 sowie in: ZBKG 21 (1952), 72 – 86. 3 Stange, Religionswissenschaft (s. o. Anm. 1), 224. 4 Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Theodor Zahns wissenschaftliche Anfänge im Spiegel von Briefen Johannes von Hofmanns, in: JfL 31 (1971), 237.
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Luthertum der Erlanger Theologie vorgeworfen wurde, gehört nicht zu Zahns Wortschatz. Sein Vater Franz L. Zahn, studierter Jurist und dann auch Theologe, war Lehrer geworden und wurde 1832 als Nachfolger von Adolph Diesterweg zum Direktor des Lehrerseminars in Moers am Niederrhein berufen. Zehn Jahre später löste er die Präparandenschule vom Lehrerseminar und machte sie zu einer privaten Erziehungsanstalt. Verheiratet war er mit der Tochter Anna der erweckten Dichterin Anna Schlatter-Berlin aus St. Gallen. Theodor wurde, wie er betont, als achter Sohn am 10. Oktober 1838 geboren; er hatte eine ältere und zwei jüngere Schwestern. Der Mutter schreibt Theodor die Erziehung zu. Die schulische Bildung erfolgte durch Hauslehrer, ältere Brüder, in des Vaters Schule und teils durch Eigenlernen. Religionsunterricht hatte er beim Vater; der Vater hielt auch oft die Sonntagsandacht in seiner Schule, sodass nicht zum nächsten Kirchengottesdienst gezogen wurde. Die Frömmigkeit schloss zu Hause die morgendliche Kurzandacht mit Herrnhuter Losung ein. Für sich selber hat der Junge abends im Bett Lieder wie „Wer nur den lieben Gott läßt walten“ oder „Befiehl du deine Wege“ aufgesagt, auch Bibelsprüche aus seinem Neuen Testament herausgesucht und sich eingeprägt. Als 14-Jähriger begleitete er seine Mutter während einer dreimonatigen Gallenkrankheit bis zu ihrem Tod, gestorben ist sie am 8. Januar 1853. Knapp zwei Jahre später heiratete sein Vater erneut. Das Gymnasialabitur legte Theodor Zahn im Sommer 1854 auswärts in Köln ab. Er war noch keine 16 Jahre alt, sodass es nicht verwundert, wenn im Zeugnis stand: „Über die sittliche Reife des noch sehr jugendlichen Examinanden, welcher seine Bildung nur durch Privatunterricht in dem von seinem Vater geleiteten Privatinstitut erhalten, vermag die Prüfungskommission kein Urteil abzugeben.“5 Theologie wollte er studieren und der Vater schickte ihn für ein Studienjahr nach Basel (1854 – 1855). Theodor studierte fleißig, vor allem selbständig. Er erweiterte seine Sprachkenntnisse in Griechisch und Latein und lernte Hebräisch. Zu Studienfreunden wurden unter anderem Friedrich von Bodelschwingh und Hermann Ohl, in Erlangen kam August Klostermann hinzu. Den Vorlesungen des Kirchengeschichtlers Hagenbach zog er dessen Übungen vor. Am meisten beeindruckt hat ihn Carl August Auberlen, der eine ‚Geschichte der göttlichen Offenbarung‘ lehrte.6 Von ihm merkte er sich den Ausspruch: „Wenn man aus Tobias Beck, Richard Rothe und Joh. Chr. K. von Hofmann einen einzigen Menschen machen könnte, so wäre der die Verkörperung des Ideales
5 Hauck, Lebenserinnerungen ZBKG 20 (s. o. Anm. 2), 87 f. 6 Vgl. Carl August Auberlen: Der Prophet Daniel und de Offenbarung Johannis, in ihrem gegenseitigen Verhältnis betrachtet und in ihren Hauptstellen erläutert, Basel 1854.
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eines echten Theologen.“7 Bei Beck, seit 1843 in Tübingen, hatte Auberlen den ‚Biblizismus‘ gelernt; für Rothe sprach wohl, was man in dem Schlagwort „theosophische Geschichtsspekulation“ zusammengefasst hat. Aber Hofmann war der Höhepunkt einer prophetisch-pneumatischen Bibelauslegung und wurde für Zahn zur theologischen Schlüsselfigur. Nach dem Studienjahr in Basel verbrachte er den Winter 1855/56 mit Privatstudien bei seiner Familie zu Hause in Moers. Dort stand eine reichhaltige Bibliothek, vor allem studierte er Hofmanns Buch „Weissagung und Erfüllung im alten und im neuen Testamente. Ein theologischer Versuch“ (1841/1844). Zum Sommer ging Zahn für drei Semester nach Erlangen. Sein erster Gang brachte ihn morgens um acht Uhr zur Vorlesung von Hofmann. Dieser Professor begeisterte ihn sowohl durch den Inhalt als auch durch die Vortragsart. Er schildert es so: „[…] auf dem Katheder stand er fast unbeweglich, gewöhnlich mit einem Blatt Papier in der Hand, auf welchem der Stoff für eine beträchtliche Zahl von Vorlesungen in gedrängter Kürze skizziert war. Zuweilen einen Blick auf das Papier werfend, sprach er im Wesentlichen frei, aber langsam und sicher. Aus den Jahren 1856 und 1857, da ich das Glück hatte, zu seinen Füßen zu sitzen, erinnere ich mich nicht, daß er sich jemals versprochen oder einen angefangenen Satz nicht richtig zu Ende geführt hätte. Er trug nicht fertige Ergebnisse seiner Forschung vor, sondern zeigte den Weg, auf welchem jeder sie gewinnen könne und müße. Man gewann den Eindruck, daß die vorgetragenen Gedanken selbst ebenso wie ihr Ausdruck ohne Rücksicht auf die Zuhörer jedesmal neu auf dem Katheder entstünden. Man sah den Lehrer arbeiten, indem man ihn hörte […] zu erbaulichen Abschweifungen fand er in den Vorlesungen keine Zeit.“8
Auch habe er nicht gegen andersartige Ansichten polemisiert. Zahn ist selber vielleicht pedantischer vorbereitet in seine Vorlesungen gegangen, aber seine eigene Art des Vortrags beschreibt er ähnlich in seiner ersten Vorlesung in Erlangen am 2. Mai 1878: „Soll ich mit Freuden lehren, so muß es mir vor allem gestattet sein, hier frei zu reden; frei in jedem Sinn. Ich muß hier auf dem Katheder selbst denken und in freier Rede die Gegenstände und meine Auffassung derselben entwickeln. Das ist mir unmöglich, wenn die Zuhörer nicht Zuhörer, sondern Nachschreiber sind. Andererseits würde es Ihnen unmöglich sein, auch wenn Sie es erstrebten, das Wesentliche meines Vortrages während des Hörens zu exzerpieren. Um dem berechtigten Bedürfnis der Zuhörer nach einem Anhalt für das Gedächtnis und einem lesbaren Überblick über den Vortrag zu genügen, habe ich die Gewohnheit, in angemessenen Zwischenräumen am Rest jeder Stunde einmal die Quintessenz des Vortrages in einem Diktat zusammen zu fassen.“9
7 Stange, Religionswissenschaft (s. o. Anm. 1), 228. 8 Theodor Zahn: Johann Chr. C. von Hofmann. Rede zur Feier seines hundertsten Geburtstages in der Aula der Friderico-Alexandrina am 16. Dec. 1910 gehalten, Leipzig 1911, 16 f. 9 Hauck, Lebenserinnerungen ZBKG 21 (s. o. Anm. 2), 85.
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Er hatte ja Übung in Vorlesungen seit seiner Anstellung als Repetent im Göttinger Theologischen Stift. Und die drei Grundrisse, die 1928 und 1929 zusammengestellt wurden, stammen aus den Diktaten in den Kollegheften. In seiner für die Kollegen in der Wissenschaft gedruckten Selbstdarstellung nennt Zahn aus seiner Erlanger Studienzeit nur noch den Alttestamentler Franz Delitzsch.10 Aber in seiner Familienerinnerung erzählt er auch von den Predigern, die er sonntags abwechselnd zum Gottesdienst aufgesucht habe, den reformierten Pfarrer Karl Göbel und den Universitätsprediger Gottfried Thomasius, bekannt durch seine konfessionelle Dogmatik: „Christi Person und Werk. Darstellung der evangelisch-lutherischen Dogmatik vom Mittelpunkt der Christologie aus“ (Erlangen 1852/62). Jedoch: „Hofmann hat mich erst zu recht zum Theologen gemacht.“11 Für das letzte Studienjahr 1857/58 zog Zahn nach Berlin. Wissenschaftlich erinnert er die Dogmatikvorlesung bei Carl Immanuel Nitzsch, dem sog. Vermittlungstheologen, und dass er den Konfessionalisten Hengstenberg nicht habe ausstehen können. Aber bei Nitzsch wurde er auch in Homiletik und Katechese eingeführt. Von Erlangen aus hatte Zahn viele Ausflüge und Reisen unternommen, unter anderem nach Neuendettelsau, wo er den lutherischen Kirchenmann Wilhelm Löhe kennenlernte. In Berlin wohnte er mit seinem Freund Hermann Ohl zusammen. Sein Studieren teilte er sich immer so ein, dass die Unterrichtszeit begrenzt, die Zeit für Privatstudien dagegen reichlich war. Das Leben in der Großstadt hat er mit Ohl genossen. Neben Einladungen bei Professoren und Bekannten des Vaters hörten sie Konzerte, und: „Durchschnittlich je einmal in der Woche besuchten wir das königliche Schauspielhaus am Gendarmenmarkt, wo wir auf der 3. Galerie für den ermäßigten Preis von 1 Mark die meisten oder doch die bedeutendsten Dramen von Goethe, Schiller, Lessing und Shakespeare meistensteils in vorzüglicher Aufführung sehen, ich möchte sagen, erleben konnten.“12
Vom Herbst 1858 bis Herbst 1861 blieb Zahn im elterlichen Haus. Er bereitete das kirchliche Kandidatenexamen beim Konsistorium in Koblenz vor (Prüfung im Oktober 1859). Ein Augenleiden quälte ihn mehrere Monate, konnte aber geheilt werden. Er gab regulären Unterricht in des Vaters Schule, predigte gelegentlich und bestand im April 1861 das 2. Kandidatenexamen vor dem Konsistorium. Für den Herbst 1861 erhielt er eine Anstellung am Gymnasium im mecklenburgischen Neustrelitz, wo er 3½ Jahre blieb. Neustrelitz war ihm nicht unbekannt. Sein Freund Ohl hatte ihn in den Osterferien 1858 in sein dortiges Elternhaus, die Superintendur, mitgenommen. 10 Vgl. Stange, Religionswissenschaft (s. o. Anm. 1), 229. 11 Hauck, Lebenserinnerungen ZBKG 20 (s. o. Anm. 2), 94. 12 Ebd., 198.
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Hermann hatte einen Bruder und die Schwestern Anna (damals 17 Jahre alt) und Marie, damals 9 Jahre alt. Im Hause Ohl war Theodor immer willkommen. Als er Neustrelitz im März 1865 wegen Göttingen verließ, war Marie 15 Jahre alt. Immer hatte Theodor Zahn an eine akademische Laufbahn gedacht. Hermann Ohl hatte auf einer Durchreise in Göttingen von dem Studienfreund August Klostermann, der im Theologischen Stift Repetent war, von der Möglichkeit einer Bewerbung erfahren. Das Repetenteninstitut an der Theologischen Fakultät ist in Zahns Beschreibung die von Professor Dorner im Jahre 1857 am Stumpfebiel nach dem Vorbild des Tübinger Stifts eingerichtete Institution, in welchem drei Repetenten für jeweils drei Jahre zusammen mit etwa 12 Studenten wohnten und Repetitorien, auch Konversationen genannt, über die sechs theologischen Fächer abzuhalten hatten (Altes und Neues Testament, alte und neuere Kirchengeschichte, Dogmatik und Ethik). Zahn bewirbt sich mit einer in Latein geschriebenen Arbeit: „De Marcelli Ancyrani theologia“ und außerdem mit einer Predigt, weil die Repetenten die beiden Universitätsprediger zu vertreten hatten. Er erinnert sich daran mit dieser Erklärung: „Ich wählte zum Gegenstand die Geschichte und Theologie des Marcellus von Ancyra, eines selbständigen Theologen des 4. Jahrhunderts, welcher sowohl von Seiten der orthodoxen, mehr oder weniger arianischen Zeitgenossen abgelehnt wurde, als auch von den neueren Dogmenhistorikern nicht gebührend gewürdigt war. Was mich für ihn einnahm, war vor allem die auf selbständiger Schriftauslegung, besonders der angeblichen Logoslehre des Johannes beruhenden Theologie des Mannes, wie ich sie allseitig durchgeführt bei meinem Lehrer Hofmann kennengelernt habe.“13
Die Arbeit wurde von der Fakultät angenommen; Albrecht Ritschl, der neutestamentliche Dogmatiker, soll geäußert haben, dass Zahn „einen als Ketzer verschrienen selbständigen Theologen des vierten Jahrhunderts mit Erfolg zu Ehren zu bringen unternommen habe.“14 Im Frühjahr 1867 lag ein gedrucktes Buch von 245 Seiten vor, das in der Zunft geachtet wurde und dem sich der Dogmengeschichtler Friedrich Loofs differenziert anschloss, weil es eine heilsgeschichtliche Variante zur dogmatisierten Lehre der Hypostasentrinität gewesen sei. Zahns Ertrag war bedeutend; Bekenntnistreue (das nicenische Bekenntnis zur Homousie) und Bibeltheologie in Zahns Lesung und Sprache. Theodors Bruder Michael schlug vor, den Titel zu ändern in: „Marcell von Ancyra, ein Hofmann des 4. Jahrhunderts.“15 Von der Repetententätigkeit schreibt Zahn, dass außer dem neutestamentlichen und patristischen Gebiet die übrigen Fächer „eine schwere Last“ gewesen 13 Hauck, Lebenserinnerungen ZBKG 21 (s. o. Anm. 2), 79. 14 Stange, Religionswissenschaft (s. o. Anm. 1), 232. 15 Friedrich Hauck (Hg.): Aus den Briefen Th. Zahns an Hermann Ohl 1860/67, in: ZBKG 21 (1952), 253 (Brief vom 9. 3. 1867).
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seien. „Und doch habe ich die Einrichtung nicht als schädlich betrachtet. Nicht für die teilnehmenden Studenten, sondern für unser einen waren diese Stunden Repetitorien im eigentlichen Sinne eine heilsame Ergänzung des eigenen Studiums und eine Erweiterung des Gesichtskreises.“16 Im Haus des Theologischen Stifts gab es 2 Hörsäle; dort durfte der Repetent auch Vorlesung halten. Zahn tat es zweistündig über exegetische Gegenstände, im ersten Semester vor zwei Hörern, danach waren es mehr. Die Universitätsprediger vertrat er häufig. Er arbeitete gewaltig in der altkirchlichen Literatur. Das Marcellbuch wurde nicht als Promotionsleistung anerkannt, denn die Fakultät bestand auf einer lateinischen Dissertation. Deswegen, so schreibt Zahn am 9. März 1867 an Hermann Ohl, „habe ich mich zunächst an die ohnedies nötigen Studien über Hermas gemacht, und habe ziemlich alle Notizen für eine Abhandlung Hermae pastor e Novo Testamento illustratus, d. h. die Beziehungen zu den neutestamentlichen Schriften, welche sich darin nachweisen lassen, aber nicht unter dem Gesichtspunkt der sogenannten äußeren Bezeugungsgeschichte des N.T., sondern unter dem einer Geschichte der Wirksamkeit neutestamentlicher Gedanken.“17
Die Promotion zum Lizentiaten erfolgte noch 1867, und im April 1868 wurde er habilitiert. Da seine Repetentenstelle mit dem WS 1867/68 auslief, erhielt der Privatdozent provisorisch eine Stelle als Universitätsprediger mit Verlängerungen, bis er 1871 zum außerordentlichen Professor ernannt und mit der zweiten Universitätspredigerstelle betraut wurde. Auf Berufungslisten stand er mehrmals; wegen des von der Regierung vereitelten Rufes nach Bonn 1872 verlieh ihm die Fakultät die Doktorwürde. Erst 1877 erhielt er den Ruf nach Kiel. Als Johann Chr. K. von Hofmann unerwartet starb, sagte er am Jahresende sofort die Nachfolge zu und blieb bis Sommer 1888 in Erlangen als Professor für „Einleitende Wissenschaften und neutestamentliche Exegese“. Im Herbst 1888 siedelte er an die lutherische Fakultät Leipzig um, kam aber zum SoSe 1892 endgültig nach Erlangen zurück. 1909 wurde er von seinen akademischen Pflichten entbunden. In den Familienerinnerungen hatte Zahn seine Göttinger Zeit überschrieben: „Drei und ein halbes Jahr als Junggeselle in Göttingen“,18 aber mit 1865 hört der veröffentlichte Bericht auf. Der letzte Eintrag beschreibt eine dreieinhalb Tage lange Wanderung, die er mit August Klostermann (seit 1868 Professor für Altes Testament in Kiel) und dem „Kandidaten Julius Wellhausen“ – von ihm lernte er Syrisch – im Werratal unternahm. Theodor Zahn war wohl ein munterer Gesprächspartner. Inmitten oder in Unterbrechung fleißiger Studien endet das 16 Hauck, Lebenserinnerungen ZBKG 21 (so. Anm. 2), 81. 17 Hauck, Briefe (s. o. Anm. 15), 252. 18 Hauck, Lebenserinnerungen ZBKG 21 (s. o. Anm. 2), 80.
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Junggesellendasein am 16. September 1868, als er an Hermann Ohl schreibt, dass er einen Verlobungsantrag an Vater Ohl und Marie abgeschickt habe.19 Die „von Herzen glückliche Braut“ antwortet am 24. September. Geheiratet haben sie nach der Ernennung zum außerordentlichen Professor 1871. Die 52 Seiten der Dissertation waren Anfang 1868 zu einem Buch von 505 Seiten angewachsen: „Der Hirt des Hermas untersucht von T.Z.“ Gegen Zahns Behauptung und gewunden geführter Bestätigung, dass der Clemens in Visio II identisch sei mit dem dritten Bischof in Rom und Autor des I. Clemensbriefes und somit um das Jahr 100 n. Chr. zu datieren sei statt auf ca. 140 gemäß dem Zeugnis des Canon Muratori, hat sich die historisch kritische Forschung verwahrt, aber Adolf Harnack ist 1896 in seiner „Chronologie“ doch teilweise eingeknickt. Dann, nach einer Weile ohne Publikationen, erscheint 1873 das gewaltige Werk „Ignatius von Antiochien“ (631 Seiten). Es gibt kaum einen Gesichtspunkt, den Zahn unerörtert lässt, um zu beweisen, dass die kürzere griechische Fassung mit sieben Briefen, wie wir sie in den Ausgaben der „Apostolischen Väter“ finden, sowohl tatsächlich von dem antiochenischen Bischof mit Namen Ignatius geschrieben wurde, als auch dass sie, entsprechend der Angabe bei Eusebius von Caesarea, um 110 n.Chr. zu datieren ist. Das Interesse an der Einordnung dieser sieben Briefe ist das Interesse an der Einordnung der Kirche innerhalb der Christenheit. Vorherrschend (heute bei einer Minderheit) war die Ansicht, dass die Briefe eine Fälschung gegen Ende des 2. Jahrhunderts, kurz vor der Bekämpfung der Gnosis durch den Bischof Irenäus von Lyon, seien. Richard Rothe aber war glücklich über die Möglichkeit, die frühe Bezeugung der bischöflich verfassten Kirche durch die sieben Ignatiusbriefe in seine Geschichtskonzeption einordnen zu können: „Die Anfänge der Christlichen Kirche und ihrer Verfassung“ (Wittenberg 1837) mit einer 70 Seiten langen Beilage „Ueber die Echtheit der Ignatianischen Briefe“. Theodor Zahn hatte offensichtlich wahrgenommen, dass der Theologiestudent Adolf Harnack im Herbst 1872 von Dorpat nach Leipzig gewechselt war und dort rührig einen Gesprächskreis über alte Kirchengeschichte organisierte und in patristischen Studien promovierte. Dem fast 13 Jahre Jüngeren schickt Zahn sein Ignatiusbuch, damit er es bespreche. Harnack antwortete umgehend (25. Juni 1873)20 mit der Übersendung seiner eigenen Dissertation (Zur Quellenkritik der Geschichte des Gnosticismus). Beider Rezensionen waren nicht ohne Gegenfragen, aber in gepflegtem akademischen Stil. Zahn rezensierte sehr sorgfältig Seite für Seite mit genauen philologischen Überlegungen. Zwei Jahre später schreibt er nach Erhalt des ersten 19 Vgl. Friedrich Hauck (Hg.): Aus den Briefen Theodor Zahns 1865 – 1878, in: ZBKG 22 (1953), 122. 20 Vgl. Friedrich Wilhelm Kantzenbach: Adolf Harnack und Theodor Zahn. Geschichte und Bedeutung einer gelehrten Freundschaft, in: ZKG 83 (1972), 226 – 244, hier 230 f.
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Bandes der Patrum Apostolicorum Opera (beide Clemensbriefe) einen offenbar fast aggressiven Brief an Harnack, wie aus Harnacks Antwort (6. Oktober 1875) zu entnehmen ist.21 Angesprochen wurde Harnacks Zweifel an seiner Ignatiusthese, und Harnack breitet lang aus, worin er sich methodisch von Zahn unterscheidet. Und Harnack hält fest: „Dieß aber thut mir sehr leid, daß Sie sofort ‚wissenschaftliche Genossenschaft‘ ablehnen, sobald einer erklärt, er könne in der Ignatius-Frage nicht mit Ihnen gehen.“ Die beiden verkehren noch 1876 freundschaftlich miteinander. Zahn hatte als Ziel seiner wissenschaftlichen Tätigkeit „ein auf selbständige Quellenforschung gegründetes geschichtliches Verständnis der Anfänge des Christentums“ genannt.22 Für Zahn war diese Aufgabe durch die Frage zu lösen, wie die Christenheit zu ihrem Neuen Testament gekommen ist, also der Bibel als der Urkunde derjenigen Tatsache, die den eigenen Glauben bestätigt und vergewissert. Er fasst die Frage in diese Worte: „Da uns hierfür die Quellen ersten Ranges nicht als Einzelschriften, sondern als Neues Testament überliefert worden sind, so mußte die bis in den Schluß des ersten Jahrhunderts zurückreichende Geschichte des werdenden neutestamentlichen Kanons, d. h. mit anderen Worten, die patristische Literatur bis um 450 nach Möglichkeit studiert werden.“
Mit dem Zeugnis des Papias von Hierapolis über die Evangelien hatte er 1866 angefangen und Hermas sowie Ignatius auf die Bezeugung der neutestamentlichen Schriften untersucht. Dann ging er zu einer großen Reihe über, die er „Forschungen zur Geschichte des neutestamentlichen Kanons und der altkirchlichen Literatur“ nannte. Mit Tatians Diatesseron begann er (1881) und nahm sich dann eines lateinischen Evangelienkommentars an, den er dem Bischof Theophilus von Antiochien (ca. 170 n. Chr.) meinte zuweisen zu können (1883). Harnack machte sich sofort an die Arbeit und schreibt nieder, wie „Der angebliche Evangelienkommentar des Theophilus von Antiochien“23 zu beurteilen ist. Sein Urteil über Zahns Gelehrsamkeit, die die Nachprüfung so aufwendig mache, benennt sehr deutlich den Unterschied. Zahn gehe davon aus, dass man „Spuren, die man bisher als Andeutungen des nachconstantinischen Zeitalters aufgefasst hat, als Zeichen des 2. Jahrhunderts […] verstehen“ könne; seine „überraschenden Entdeckungen […] haben alle das Gemeinsame, dass durch sie das denkbar höchste Alter des NTlichen Kanons bezeugt wird“. Es fallen auf derselben Seite noch die Worte „Verblendung“ und „Unfehlbarkeit“.24 21 Vgl. Hauck, Briefe (s. o. Anm. 19), 231 – 238. Zitat auf 235. 22 Stange, Religionswissenschaft (s. o. Anm. 1), 233. 23 Adolf von Harnack, in: Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur I 4 (1883). 24 Ebd., 101 f.
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Vor Abschluss des Drucks gelingt es Harnack, eine Handschrift (7./8. Jh.) zu entdecken, die den Text vollständig enthält, welchen Zahn nach einem unvollständigen Druck des 16. Jahrhunderts benutzte. In der Theologischen Literaturzeitung (1883) schreibt Harnack von „Scheinbeweisen“: „[…] das Meiste in dem Buche steht in dem trügerischen Schein des Irrlichts, dem der Verfasser gefolgt ist. Wie gewöhnlich sind auch dieses Mal die Beweisführungen fascinierende: der Verf. führt die Leser in ein Labyrinth; nur wer auf jeden Schritt achtet, vermag den Rückweg wiederzufinden. Wer die Augen nicht in jedem Momente offen hält, der ist gefangen und muß dem Führer folgen – in Zeiten und Gegenden, die niemals gewesen sind, und zu Personen, die nie gelebt haben.“25
Zahn nutzt seinen dritten Band der „Forschungen“ zu einem Nachtrag: „Wenn allerdings der ehemalige Freund trotz aller Andeutungen, an welchen es von Anfang an nicht gefehlt hat, und trotz so wohlbegründeter Warnungen, wie ihm schon sein Amtsvorgänger Keim ertheilen mußte, noch immer nicht lernen will, ein wenig maßvoller über Andere und vor allem sich selbst zu urtheilen, so kann es im Interesse der öffentlichen Sicherheit bald einmal geboten erscheinen, die Mittel und die Leistungen, durch welche dieser Recensent von Profession so groß geworden ist, einer öffentlichen und gründlichen Prüfung zu unterziehen“.26 (S. 199). Harnack repliziert mit einer „Erklärung“ in der ThLZ,27 wo er festhält, dass Karl Theodor Keim (Neutestamentler in Gießen 1873 – 1878) seine Schmähungen bedauert habe. Zahn hat sich das wohl zu Herzen genommen. Denn in seiner Lebensdarstellung von 1925 weist er auf die Schmähung „Giftzahn“ von Adolf Hilgenfeld in der Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie (1873) hin, die jener sofort brieflich bedauert habe.28 Der Kritiker Zahn war gefürchtet, aber Julius Wellhausen hat es einmal schön gesagt: „Mein orthodoxer, aber höchst gelehrter und gescheuter Freund Theodor Zahn […]“.29 Zahn erreichte sein wissenschaftliches Ziel mit der „Geschichte des Neutestamentlichen Kanons“ (1888 – 1892). Der erste Satz sagt in seiner Sprache besser als eine Umschreibung, was geleistet werden sollte: „Wenn nur das Geschichte zu nennen wäre, was als glaubwürdig überliefertes Ereignis erzählt und als urkundlich bezeugte Entwicklung der Dinge beschrieben werden kann, so wäre der Titel dieses Buches eine Anmaßung. Es gilt die Frage, wie die Bücher, aus welchen das Neue Testament aller sich christlich nennenden Kirchen seit mehr als
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Vgl. Adolf Harnack, in: ThLZ 8 (1883), 488. Theodor Zahn: Supplementum Clementinum, Bd. 3, Erlangen/Leipzig 1884, 199. Adolf von Harnack, in: ThLZ 9 (1884), 321 f. Vgl. Stange, Religionswissenschaft (s. o. Anm. 1), 234. Rudolf Smend (Hg.): Julius Wellhausen. Briefe, Tübingen 2013, 44 (Brief Nr. 48 vom 13. 2. 1878).
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einem Jahrtausend besteht, sich zu einem einheitlichen Ganzen gleichwertiger Bedeutung zusammengefunden haben.“30
Für die uranfängliche Zeit gebe es keine Urkunden, d. h. Dokumente (S. 1). Noch bevor die zweite Hälfte des 1. Bandes und noch bevor die Untersuchungen zu einzelnen Fragen als Beilagen in Band 2 erschienen waren, hatte Harnack seine abweichende Ansicht zusammengefasst und Zahns 452 Seiten 112 eigene Seiten entgegengestellt: „Das Neue Testament um das Jahr 200. Theodor Zahn’s Geschichte des neutestamentlichen Kanons (Erster Band, erste Hälfte) geprüft“ (1889). Zahn hatte mit der Harnackschen Position, die in der Dogmengeschichte Harnacks (Bd. I, 1886) ausgesprochen war, aufgeräumt. Der Kanon soll nicht das Ergebnis der Auseinandersetzung der Kirche mit Gnosis und Montanismus gewesen sein, behauptet Zahn nachgewiesen zu haben; denn die Geltung der neutestamentlichen Schriften in kanonischer Unverbrüchlichkeit sei kein dogmengeschichtliches Faktum, sondern ergebe sich erstens aus der gottesdienstlichen Lesegewohnheit, also aus der Kultusgeschichte, und zweitens könne die Frühgeltung auch dort erschlossen werden, wo nichts ausdrücklich über das angeblich vorausgesetzte Neue Testament der Kirche gesagt werde. Zahn wusste genau, dass das Wort und der Begriff Kanon erst dem 4. Jahrhundert angehörten; deswegen versuchte er mit der Vorstellung von „Sammlung“ zu arbeiten, was ihm Harnack als Begriffstäuschung auslegt. Zahn repliziert mit einem Heftchen von 37 Seiten.31 Harnack hatte vermerkt, dass Zahn eine lediglich „quellenmäßige Darlegung“ gegeben habe: „Allein das nehme ich von den meisten katholischen Gelehrten ebenfalls an.“32 Zahns Antwort steht auf der letzten Seite seines Heftchens: eine Huldigung an die vom Blut der Märtyrer geadelte Mutter Kirche des 2. Jahrhunderts. Zum „Kanon“ hinzu trat die „Einleitung in das Neue Testament“, zwei große Bände (1897 u. 1900), ergänzt durch ein Bändchen: „Geschichte des neutestamentlichen Kanons“ (1901). Und dann brauchte es noch den gedruckten „Kommentar zum Neuen Testament“. Zahn begann mit dem „Evangelium des Matthäus“ (1903), gewann Mitarbeiter und schrieb selber sechs weitere Bände, sodass der Kommentar 1926 vollständig war. Der Gesamtumfang von Zahns Veröffentlichungen ist auf 17600 Druckseiten berechnet worden. Zum 80. Geburtstag hatten Freunde und Kollegen eine „ZahnBibliographie“ (1918) mit 217 Nummern überreicht. Wenig ist dagegen von seinem Leben zu lesen. Er hatte eine herzgeliebte Frau; ihm wurden vier Kinder geboren, wozu der Vater gelegentlich gesagt haben soll: „Ihrer Hühner waren 30 Theodor Zahn: Geschichte des neutestamentlichen Kanons, Bd.1, Erlangen/Leipzig 1888, 1. 31 Theodor Zahn: Einige Bemerkungen zu Harnack’s Prüfung der Geschichte des neutestamentlichen Kanons, Erlangen/Leipzig 1889. 32 Ebd., 4.
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drei und ein stolzer Hahn dabei.“33 Eine wunderbare Italienreise im September 1913 brachte die Versöhnung mit Adolf Harnack, aber auch das Unglück einer Typhuserkrankung, der eine Tochter in Neapel erlag und die Gattin nach der Rückkehr. Einen fröhlichen Vater erinnert Tochter Hildegard,34 einen geselligen Freund die Kollegen und Studenten. Singend sei er morgens aufgestanden, zu Mittag ordentlich gekleidet aus dem Arbeitszimmer zu Tisch gekommen und habe abends ab acht Uhr keine Arbeit mehr angerührt. Zigarren rauchte er und wurde doch 94 Jahre alt. Er starb am 15. März 1933.
Sekundärtexte Uwe Swarat: Alte Kirche und Neues Testament. Theodor Zahn als Patristiker, Wuppertal 1991. Karlmann Beyschlag: Die Erlanger Theologie, Erlangen 1991. Otto Merk: Art. Zahn, in: TRE 36 (2004), 478 – 482.
33 Wilhelm Schmerl: Zum Gedächtnis Theodor Zahns, in: NKZ 44 (1933), 445. 34 Hildegard Zahn-Model: Theodor Zahn in Haus und Familie, in: DtPfrBl 52 (1952), 452 f., 488 f. und 518 f.
Reinhard Gregor Kratz
Julius Wellhausen (1844 – 1918) und die Geschichte
1. „Konstruiren muss man bekanntlich die Geschichte immer […]. Der Unterschied ist nur, ob man gut oder schlecht konstruirt.“
Das Zitat stammt aus den Prolegomena zur Geschichte Israels1 und richtet sich gegen den Vorwurf zeitgenössischer Kritiker, die von Julius Wellhausen begründete Sicht der Religionsgeschichte Israels, speziell die Spätdatierung des Gesetzes (d. h. der Priesterschrift) im Pentateuch, sei „Geschichtskonstruktion“ und nicht Geschichte. Für sich genommen formuliert es eine hermeneutische Einsicht, die in der neueren Geschichtsforschung vielfach theoretisch untermauert wurde und heute zur Selbstverständlichkeit geworden ist.
2. Über das Leben von Julius Wellhausen ist nicht viel bekannt. Das Meiste weiß man aus dem Nachruf von Eduard Schwartz, der autobiographische Aufzeichnungen Wellhausens verwertet hat.2 Eine weitere, unschätzbare Quelle sind die von Rudolf Smend edierten Briefe sowie diverse Aktenstücke.3 Die frühesten schriftlichen Äußerungen, die erhalten sind, stammen von der Bewerbung um das Amt des Repetenten am Theologischen Stift in Göttingen, das Wellhausen 1 Julius Wellhausen: Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 61905, 365. 2 Vgl. Eduard Schwartz: Julius Wellhausen (mit zwei Beilagen), in: Nachrichten der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Geschäftl. Mitteilungen aus dem Jahr 1918, Berlin 1918, 43 – 73; wiederabgedruckt in: Ders., Vergangene Gegenwärtigkeiten. Gesammelte Schriften I, Berlin 21963, 326 – 361. Sämtliche Zitate aus den autobiographischen Aufzeichnungen sind dem Nachruf von Schwartz entnommen und werden im Folgenden nicht einzeln nachgewiesen; zitiert wird nach der Ausgabe von 1963. 3 Vgl. Rudolf Smend in Zusammenarbeit mit Peter Porzig und Reinhard Müller (Hg.): Julius Wellhausen. Briefe, Tübingen 2013.
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von 1868 – 1872 innehatte. Es handelt sich um eine lateinische Vita, eine exegetische Abhandlung in lateinischer und eine Predigt in deutscher Sprache.4 Die Zeit als Stiftsrepetent gehört in die erste Göttinger Periode von Wellhausens Biographie, die ihn über Greifswald, Halle und Marburg am Ende wieder nach Göttingen führte.5 „In Göttingen atmete ich auf“, schreibt Wellhausen in den autobiographischen Aufzeichnungen. Am 17. Mai 1844 in Hameln an der Weser geboren, verbrachte er seine Kindheit und Jugend auf dem Lande, dem er „viel, vielleicht das Beste“ verdankte. Mit achtzehn Jahren nahm er in Göttingen das Studium der Theologie auf und wurde am 24. April 1862 immatrikuliert. In der Vita von 1868 gibt er an, daß er das Fach gewählt habe, um „in die Fußstapfen des Vaters zu treten“ (ut sequerer vestigia patris). Doch das hielt nicht lange an. Über den Vater, einen Pfarrer, heißt es in den autobiographischen Aufzeichnungen: „Er war streng orthodox, ein großer Liturg.“ Im Rückblick notiert er: „Die Orthodoxie fiel mir ohne viele Kämpfe ab, mir tat nur meine Mutter leid.“ Was Wellhausen „aufatmen“ ließ, war die Begegnung mit Heinrich Ewald. In der Vita von 1868 beschreibt er anschaulich, wie er das Hebräische gemieden habe, bis Ewald ihn aus dem Schlaf geweckt habe: donec Ewaldius me excitaret ex somno. Es war Ewalds Geschichte des Volkes Israel, die ihm 1863 in die Hände fiel und die Augen öffnete. In den autobiographischen Aufzeichnungen findet man dazu die Erklärung: „Die theologischen Probleme verstand ich nicht. Mich interessierte Ewald und darum die Bibel, in der ich von Hause aus sehr gut Bescheid wußte.“ Und weiter: „Ewald hat mich gerettet, der damals meist verlacht wurde.“ Nach Abschluss des Studiums 1865 und einer kurzen Phase als Hauslehrer in Hannover kehrte er im Jahre 1867 nach Göttingen zurück, um bei Ewald weiter zu studieren. Die Begegnung begründete eine tiefe Verehrung, die selbst den – politisch und wissenschaftlich motivierten – Bruch zwischen den beiden überstand und sowohl in der Widmung der Prolegomena als auch in der Gedenkrede des Schülers auf den Lehrer aus dem Jahr 1901 zum Ausdruck kommt.6 In den Jahren 1868 – 1872 war Wellhausen Repetent am Göttinger Theologischen Stift. Um die Stelle zu bekommen, musste er eine exegetische Arbeit einreichen und eine Predigt halten. Beide Stücke spiegeln die persönliche Ent4 Vgl. die Vita von 1868, ergänzt für die Anmeldung zum Lizentiat 1870, bei Schwartz, Wellhausen 1918 (s. o. Anm. 2); alle drei Schriftstücke bei Smend et al., Briefe (s. o. Anm. 2), 787 – 809. Zitate daraus sind der Ausgabe von Smend entnommen und werden im Folgenden nicht einzeln nachgewiesen. 5 Zu Person und Werk vgl. außer Schwartz, Wellhausen (s. o. Anm. 2) noch Reinhard G. Kratz: Art. Wellhausen, Julius (1844 – 1918), in: TRE 35 (2003), 527 – 536 und Rudolf Smend: Julius Wellhausen. Ein Bahnbrecher in drei Disziplinen, München 2006. 6 Vgl. Rudolf Smend (Hg.): Julius Wellhausen. Grundrisse zum Alten Testament, München 1965, 120 – 138.
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wicklung wider und lassen bereits das Denken in Gegensätzen erkennen, das seine historische Rekonstruktion auszeichnet und ihr die klaren Konturen verleiht. Die exegetische Arbeit über die Gerechtigkeit Gottes gegen die Einzelnen nach dem Zeugnis des Alten Testaments (De justitia dei erga singulos quid sentiat Vetus Testamentum) beschäftigt sich hauptsächlich mit den Psalmen und Hiob, einem Textbereich, der Wellhausen von Jugend an vertraut war und bis ans Ende seines Lebens begleiten sollte. Ausgehend von der These, dass Gott die Welt richtet, weil er sie beherrscht, und nicht, weil er gerecht sei, spitzt er das Thema auf die göttliche Entscheidung zwischen Recht und Unrecht, Gerechten und Frevlern zu, die nur ein Gewinnen oder Verlieren und nichts dazwischen kennt. Auch die Predigt über Johannes 8,46 – 59 läuft auf den Gegensatz zwischen Gewinnen oder Verlieren, hier der Gottesgewissheit, hinaus. Wellhausen setzt die Feindschaft „der Juden“ gegen Jesus im Predigttext mit dem Zeitgeist des 19. Jahrhunderts, wie er ihn sah, in eins, einer gottvergessenen Fortschrittsgläubigkeit auf der einen und einer Verknöcherung des Christentums, das sich „bei der durch Jahrhunderte geheiligten Überlieferung beruhigt“, auf der anderen Seite. Beiden Strömungen wird die Aufforderung entgegengehalten, mit der das Christentum „zuerst in die Welt eintrat: Geht in euch!“, um mit zwei Pauluszitaten zu enden, die von der „felsenfesten Gewißheit Gottes“ und der „Unverrückbarkeit des eigenen Standpunctes“ gegen die Welt zeugen (Röm 8,38 f; 2 Kor 6,9). Über die Lehrtätigkeit des Repetenten geben die Stiftsakten Auskunft, in denen sich ein Bericht über das erste Jahr findet.7 Zwei Jahre nach Antritt der Stelle, 1870, wurde Wellhausen mit einer lateinischen Arbeit über die Genealogie Judas in der Chronik (De gentibus et familiis Judaeis quae 1. Chr. 2. 4. enumerantur) zum Lizentiaten promoviert und im selben Zuge habilitiert. Nach weiteren zwei Jahren, 1872, zehn Jahre nach Antritt seines Studiums in Göttingen, wurde er nach Greifswald berufen, wo er wiederum genau zehn Jahre blieb. In die Greifswalder Jahre fallen die Werke, die die Wissenschaft vom Alten Testament auf eine neue Grundlage stellen sollten, und die Absage an die Theologie, richtiger: die theologische Fakultät. Nach diversen Vorgesprächen legte Wellhausen mit Schreiben vom 5. April 1882 seine theologische Professur nieder und bat um Versetzung in die philosophische Fakultät.8 Schon einige Jahre zuvor schrieb er in einem persönlichen Brief: „Meine Stellung in der Theologischen Fakultät wird mir von Tag zu Tage drückender. […] Es kommt mir wie eine Lüge vor, dass ich Diener der evangelischen Kirche bilden soll, der
7 Vgl. Rudolf Smend: Wellhausen in Göttingen, in: Bernd Moeller (Hg.): Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, Göttingen 1987, 306 – 324, hier 315. 8 Vgl. Smend et al., Briefe (s. o. Anm. 3), 98 f.
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ich im Herzen nicht angehöre.“9 Wissenschaft und kirchliche Theologie waren für den kompromisslosen Individualisten unüberwindliche Gegensätze. Vielleicht hat der Schritt auch etwas mit dem Vater und dem sequi vestigia patris zu tun, unter das er endgültig den Schlussstrich ziehen wollte. Die Regierung gab dem Ersuchen statt. Über Halle (1882 – 1885) und Marburg (1885 – 1992), wo er insgesamt weitere zehn Jahre verbrachte, kehrte Wellhausen 1892, also genau dreißig Jahre nach seinem Eintritt in die Göttinger Fakultät und zwanzig Jahre nach seinem Weggang, nach Göttingen zurück, allerdings nicht als Theologe, sondern als Orientalist. Er wurde der Nachfolger von Heinrich Ewald und Paul Anton de Lagarde auf dem Lehrstuhl für orientalische Sprachen an der Philosophischen Fakultät und wendete sich – nach dem Alten Testament und dem frühen Islam – in der letzten Phase seines Lebens vermehrt dem Neuen Testament zu. Am 7. Januar 1918 ist Julius Wellhausen gestorben. Er liegt auf dem Stadtfriedhof in Göttingen begraben, auf seinem Grabstein steht geschrieben: „Der Gerechten Seelen sind in Gottes Hand und keine Qual rührt sie an“ (Weish 3,1).
3. Die Darstellung des wissenschaftlichen Werkes von Julius Wellhausen verlangte nicht nur einen, sondern drei Beiträge von drei verschiedenen Fachvertretern. Denn Wellhausen hat auf drei Fachgebieten gearbeitet und Grundlegendes geleistet. Die Reihenfolge entspricht in etwa den Stationen seiner Biographie: Altes Testament in Göttingen und Greifswald, Arabistik in Halle, Marburg und Göttingen, Neues Testament in der zweiten Göttinger Periode. In diesem Beitrag möchte ich mich darum auf einen zentralen Aspekt konzentrieren und nach dem Verständnis von Geschichte im Werk Wellhausens fragen. Wellhausen verstand sich als Historiker und wird auch in dem Nachruf von Schwartz als solcher gepriesen. Auf dem Gebiet der Bibelwissenschaft ist er in der Tat vielleicht der einzige, den man einem Theodor Mommsen oder Eduard Meyer an die Seite stellen kann. Die Motive und Maßstäbe seiner Geschichtsschreibung hat Friedemann Boschwitz in seiner 1938 gedruckten Dissertation ausführlich behandelt.10 Die bis heute verbreitete Ansicht, Wellhausens Geschichtsauffassung sei mit der Philosophie Hegels und dem Hegelianer Wilhelm Vatke zu erklären, hat Lothar Perlitt, schlagend widerlegt.11 Das bedeutet freilich 9 Brief an Justus Olshausen vom 9. 2. 1879, in: Smend et al., Briefe (s. o. Anm. 3), 50. 10 Vgl. Friedemann Boschwitz: Julius Wellhausen. Motive und Maßstäbe seiner Geschichtsschreibung, Marburg 1938, Nachdruck Darmstadt 21968. 11 Vgl. Lothar Perlitt: Vatke und Wellhausen. Geschichtsphilosophische Voraussetzungen und
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nicht, dass nicht auch Wellhausen Kind seiner Zeit und von diversen geistesgeschichtliche Strömungen des 19. Jahrhunderts beeinflußt war.12 Wenig behandelt wurde bisher die Frage, was der Historiker Wellhausen unter „Geschichte“ verstand. Die Spur hat Eduard Schwartz gelegt, der über Wellhausens wichtigstes Buch, die Prolegomena zur Geschichte Israels, schreibt: „Indem die Überlieferung an der Geschichte gemessen wurde, ergab sie selbst wiederum Geschichte und zwar auch in ihren jüngsten Schichten, mochten diese noch so sehr aus Fiktionen bestehen; denn Fiktionen setzen eine Willensrichtung voraus und diese muß nur in die richtigen Zusammenhänge eingereiht werden, um ebenfalls als historische Wirklichkeit erkannt zu werden.“13 Sollte Schwartz recht haben, war Wellhausen, vielleicht ohne es zu ahnen, seiner Zeit, der Epoche des Historismus, weit voraus. Die „Geschichte“ besteht demnach nicht so sehr in dem, was war, sondern vielmehr in dem, was die literarische Überlieferung in ihrer Geschichte aus dem, was war und was vielleicht geschehen oder auch nicht geschehen ist, gemacht hat und was der moderne Historiker aus der Überlieferung macht, getreu dem oben zitierten Diktum: „Konstruiren muss man bekanntlich die Geschichte immer […]. Der Unterschied ist nur, ob man gut oder schlecht konstruirt.“ Überblickt man unter dieser methodischen Prämisse das Gesamtwerk, fällt auf, dass Wellhausens Konstruktion der Geschichte einem bestimmten Muster folgt, das in seinen Schriften von Anfang an vorhanden ist und in allen drei Gebieten, auf denen er gearbeitet hat, immer wiederkehrt. Es ist die Entwicklung oder richtiger gesagt: der Gegensatz zwischen den ursprünglichen, natürlich gewachsenen Anfängen einer Religion oder Kultur und dem späteren Stadium, in dem die Dinge einen institutionell verfestigten Zustand angenommen haben. In den Arbeiten zum Alten Testament sind es, wie Wellhausen an Justus Olshausen schreibt, „Judentum und altes Israel in ihrem Gegensatze“, die ihn von Anfang an umtreiben.14 In den frühen Veröffentlichungen deutet sich der Ge-
historiographische Motive für die Darstellung der Religion und Geschichte Israels durch Wilhelm Vatke und Julius Wellhausen, Berlin 1965. 12 Vgl. dazu Hans Liebeschütz: Das Judentum im deutschen Geschichtsbild von Hegel bis Max Weber, Tübingen 1967; Ulrich Kusche: Die unterlegene Religion. Das Judentum im Urteil deutscher Alttestamentler, Berlin 1991; Christhard Hoffmann: Juden und Judentum im Werk deutscher Althistoriker des 19. und 20. Jahrhunderts, Leiden 1988; Rudolf Smend: Wellhausen und das Judentum (1982), in: Ders.: Epochen der Bibelkritik. Gesammelte Studien 3, München 1991, 186 – 215; Reinhard G. Kratz: Die Entstehung des Judentums. Zur Kontroverse zwischen E. Meyer und J. Wellhausen (1998), in: Ders.: Das Judentum im Zeitalter des Zweiten Tempels. Kleine Schriften I, Tübingen 22013, 1 – 22; Ders.: Eyes and Spectacles: Wellhausen’s Method of Higher Criticism, JTS 60 (2009), 381 – 401. 13 Schwartz, Wellhausen (s. o. Anm. 2), 342. 14 Brief an Justus Olshausen vom 9. 2. 1879, in: Smend et al., Briefe (s. o. Anm. 3), 50.
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gensatz an,15 die programmatische Eröffnung der Prolegomena bringt ihn auf den Punkt: „Das Problem des vorliegenden Buches ist die geschichtliche Stellung des mosaischen Gesetzes. Und zwar handelt es sich darum, ob dasselbe der Ausgangspunkt sei für die Geschichte des a l t e n I s r a e l oder für die Geschichte d e s J u d e n t u m s , d. h. der Religionsgemeinde, welche das von Assyrern und Chaldäern vernichtete Volk überlebte.“16 Vorausgesetzt ist die literarhistorische Analyse der biblischen Quellen, die Wellhausen in den Jahren 1876 – 78 in Einzelstudien vorgelegt und später in einem Buch zusammengefasst hat.17 Mit beiden Werken, der Composition und den Prolegomena, wies Wellhausen nach, dass das Gesetz des Mose, auf dem das biblische Ideal des Volkes Israel basiert – gemeint ist die literarische Schicht im Pentateuch, die wir heute die Priesterschrift nennen –, nicht an den Anfang, sondern in die Nähe der Chronik an das Ende der Religionsgeschichte Israels gehört und später als die Quellen J und E und die jehovistische Erzählung in Genesis bis Josua, das Deuteronomium und die historischen Bücher in Richter, Samuel und Könige zu datieren ist. Damit stellte er die biblische Tradition vom Kopf auf die Füße. Die ursprüngliche Gestalt der israelitischen Religion unterschied sich demnach in nichts von den Religionen der syrisch-kanaanäischen Nachbarn und „hat sich aus dem Heidentum erst allmählich emporgearbeitet“, wie es in der Israelitischen und jüdischen Geschichte heißt.18 Auch die Reihenfolge von Mose und den Propheten kehrte er damit um und sah in den Propheten „die Begründer der Religion des Gesetzes, nicht die Vorläufer des Evangeliums“.19 Der Gegensatz von „altem Israel“ und „Judentum“ ist identisch mit dem Gegensatz von vor-jüdischem, besser vielleicht: vor-biblischem, man könnte auch sagen: vor-prophetischem „Heidentum“ und der „Religion des Gesetzes“ im Alten Testament. Eduard Schwartz verdanken wir die Beobachtung, dass Wellhausen in seiner Darstellung der Geschichte Israels „im Grunde alles um den Satz gruppiert: Jahveh der Gott Israels und Israel das Volk Jahvehs“.20 Der Satz bringt zum einen die Kontinuität der Geschichte Israels zum Ausdruck, ist aber zum anderen derart formal, dass sich an ihm auch der fundamentale Gegensatz zwischen dem alten Israel und dem Judentum plastisch darstellen ließ. Der Satz lässt sich leicht 15 Vgl. Julius Wellhausen: Der Text der Bücher Samuelis, Göttingen 1871 und ders.: Die Pharisäer und die Sadducäer. Eine Untersuchung zur inneren jüdischen Geschichte, Greifswald 1874. 16 Wellhausen, Prolegomena (s. o. Anm. 1), 1. 17 Vgl. Julius Wellhausen: Die Composition des Hexateuchs und der erzählenden Bücher des Alten Testaments, Berlin 21889, 31899. 18 Julius Wellhausen: Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 71914, 32. 19 Ebd. 109 f. 20 Schwartz, Wellhausen (s. o. Anm. 2), 352. Vgl. auch Wellhausen, Geschichte (s. o. Anm. 18), 23 und 28 sowie ders., Grundrisse (s. o. Anm. 6), 16 und 73.
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auf andere anwenden, etwa „Kamosch der Gott Moabs und Moab das Volk Kamoschs“, nur dass er hier lediglich die eine Seite, das alte Moab oder moabitische „Heidentum“, bezeichnet, weil es die andere Seite, die „Religion des Gesetzes“, soweit wir wissen, in Moab nicht gab. Das Stichwort „Heidentum“ erinnert unweigerlich und nicht von ungefähr an Wellhausens Untersuchung Reste arabischen Heidentums.21 Unter den arabistischen Arbeiten steht dieses Buch dem viel zitierten Selbstzeugnis vielleicht am nächsten, mit dem Wellhausen in Muahammed in Medina seinen Fachwechsel begründete: „Den Uebergang vom Alten Testament zu den Arabern habe ich gemacht in der Absicht, den Wildling kennen zu lernen, auf den von Priestern und Propheten das Reis der Thora Jahve’s gepfropft ist. Denn ich zweifle nicht daran, daß von der ursprünglichen Ausstattung, mit der die Hebräer in die Geschichte getreten sind, sich durch die Vergleichung des arabischen Altertums am ehesten eine Vorstellung gewinnen läßt.“22 Hier wie im alten Israel sieht Wellhausen das „Heidentum“ und, nimmt man die anderen Arbeiten über die Geschichte des frühen Islam hinzu,23 den Staat am Anfang der historischen Entwicklung, die in die spätere religiöse Tradition einmündet. Dem vor-biblischen israelitischen „Heidentum“ mit seinem volkstümlichen Synkretismus entspricht das vor-islamische arabische „Heidentum“, dem frühen israelitischen und judäischen Staat mit seiner natürlichen Verbindung von Monolatrie und Monarchie entspricht der frühe islamische Staat, und der biblischen und jüdischen Tradition mit ihrem strikten Monotheismus und dem mosaischen Gesetz entspricht die islamische Tradition. Neben das Rabbinat tritt das Imamat. Die Analogie, die Wellhausen in den islamischen Quellen fand, kann man ebenso in den kanaanäischen, mesopotamischen und ägyptischen Quellen oder in den aramäischen Papyri aus Elephantine finden, die zur Zeit Wellhausens gerade entdeckt wurden. Wellhausen nahm dieses neue Material zwar nur am Rande zur Kenntnis, hat es aber keineswegs, wie oft behauptet wird, ignoriert und wusste seinen wissenschaftlichen Wert durchaus richtig einzuschätzen.24 Das Material bietet reichlich Anschauung zu dem israelitisch-judäischen „Heidentum“, das die biblischen Quellen voraussetzen und aus dem sich die biblische Tradition „allmählich emporgearbeitet“ hat.
21 Julius Wellhausen: Reste arabischen Heidentums, Berlin 1887, 21897. 22 Julius Wellhausen: Muahammed in Medina, Berlin 1882, 5. 23 Vgl. Julius Wellhausen: Prolegomena zur ältesten Geschichte des Islams, Berlin 1899 und ders.: Das arabische Reich und sein Sturz, Berlin 1902. 24 Vgl. Peter Machinist: The Road Not Taken: Wellhausen and Assyriology, in: Gershon Galil et al. (Hg.): Homeland and Exile. Biblical and Ancient Near Eastern Studies in Honour of Bustenay Oded, Leiden 2009, 469 – 531.
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In dieses Bild fügt sich schließlich auch das frühe Christentum. Zwar wird das Christentum aus gutem Grund nicht auf das vor- oder nicht-christliche Heidentum zurückgeführt, von dem es viel empfangen hat, doch dreht sich auch hier alles um einen Gegensatz, nämlich den Gegensatz von schlichter, natürlich gewachsener Frömmigkeit und artifizieller, doktrinärer Theologie. Im Falle des Christentums konzentriert sich alles auf die Person Jesu und die Frage, wie aus dem Menschen und frommen Juden Jesus, der das Reich Gottes und die Moral verkündete und auf den Messias wartete, der Christus und Sohn Gottes wurde. Berühmt geworden ist die Formel: „Jesus war kein Christ, sondern Jude“.25 Von ihm läßt sich, wie Wellhausen an anderer Stelle sagt, „kaum etwas sagen“.26 Erst die spätere Tradition, die Evangelien, vollzog nach dem Tod Jesu den Wandel vom historischen Jesus zum Christus. Noch einmal die Einleitung: „Es geschieht also ein ungeheurer Sprung von dem eigentlichen Messias zu einem anderen, der mit ihm nur den Namen gemein hatte und in der Tat keiner war. Und dieser Sprung läßt sich nicht a priori, sondern nur post factum begreifen.“ Aus dieser „plötzlichen Metamorphose“ sind das Christentum, die verfasste Kirche und schließlich der christliche Staat hervorgegangen.27 Wellhausen sah also in allen drei Weltreligionen dasselbe Muster der historischen Genese. Dies hat nicht zuletzt mit der Art der Quellen zu tun, auf die er sich stützte, d. h. mit der Überlieferung, die in allen drei Fällen sehr ähnlich ist: eine fest gefügte, theologisch hoch reflektierte und literarisch komplexe Tradition, die die historischen Anfänge teils polemisch verzerrt und verdunkelt, teils verklärt. Die Aufgabe des Historikers ist es, durch die „Verdunkelung“28 der jüdischen, christlichen oder islamischen Tradition hindurch zu sehen und in ihr die verschiedenen Stadien zu eruieren, die ihr jeweils voraus liegen. Das Ergebnis ist allerdings nicht etwa die Geschichte, sondern die Geschichte der Tradition, die nicht ohne weiteres mit der Geschichte Israels oder der Geschichte der Religion Israels deckungsgleich ist. Was bleibt über die Geschichte zu sagen, wenn alles nur Tradition und Geschichte der Tradition ist? Die Antwort hat Wellhausen selbst gegeben: „Warum die israelitische Geschichte von einem annähernd gleichen Anfange aus zu einem ganz anderen Endergebnis geführt hat als etwa die moabitische, läßt sich schließlich nicht erklären. Wol aber läßt sich eine Reihe von Übergängen beschreiben, in denen der Weg vom Heidentum bis zum vernünftigen Gottesdienst, im Geist und in der Wahrheit, zurückgelegt wurde.“29
25 26 27 28 29
Julius Wellhausen: Einleitung in die drei ersten Evangelien (1905), Berlin 21911, 102. Wellhausen, Grundrisse (s. o. Anm. 6), 131. Wellhausen, Einleitung (s. o. Anm 25), 81 und 146. Wellhausen, Reste (s. o. Anm. 21) 21897, 71. Wellhausen, Geschichte (s. o. Anm. 18), 33.
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Historisch greifbar sind demzufolge die realen Voraussetzungen der Tradition, die, wie wir heute deutlicher sehen als Wellhausen, nicht nur am Anfang der Geschichte, sondern die gesamte Zeit der beiden Reiche Israels und Judas und der späteren Provinzen Samaria und Juda bestanden haben: die vor- oder nichtbiblische Jhwh-Religion oder, um mit Wellhausen zu sprechen, das „Heidentum“, aus dem sich die biblische Religion „allmählich emporgearbeitet hat“. Historisch greifbar sind auch die Übergänge in die biblische Tradition, den „vernünftigen Gottesdienst, im Geist und in der Wahrheit“. Schließlich sind historisch greifbar die Stationen der biblischen Tradition, die ab einem gewissen Punkt – soweit wir sehen, nicht vor der hellenistisch-römischen Zeit – selbst Geschichte gemacht und neue Formen der Religionsausübung hervorgebracht haben. Schwieriger scheint es mir dagegen, die Stufen der biblischen Tradition mit den Stufen der allgemeinen Geschichte zu korrelieren. Wo man den Zusammenhang anhand von epigraphischem und archäologischem Material überprüfen kann, erweist sich die Tradition, auch in ihren ältesten Schichten, eher als theologisches Programm oder, um mit Eduard Schwartz zu reden, als „Fiktion“ denn als zuverlässige historische Quelle. Schwartz scheint mir das rechte Gespür dafür gehabt zu haben, dass es bei Wellhausen weniger um die Korrelation als um den Gegensatz der Tradition zur Geschichte geht: „Indem die Überlieferung an der Geschichte gemessen wurde, ergab sie selbst wiederum Geschichte und zwar auch in ihren jüngsten Schichten, mochten diese noch so sehr aus Fiktionen bestehen.“30 Wo die Fiktionen ihren historischen Ort hatten, ist eine andere Frage und geht aus der Überlieferung selbst nicht ohne weiteres hervor. Auch Wellhausen scheint das Problem mehr und mehr gesehen zu haben. Schwartz macht auf den Umstand aufmerksam, dass Wellhausen das Kapitel über „Das Evangelium“ zunächst als vorletztes, schließlich als letztes Kapitel in seine Geschichte Israels aufgenommen und an ihm festgehalten habe, obwohl er, wie Wellhausen selbst bekennt, „nur noch teilweise damit einverstanden“ war.31 Als Erklärung für diesen Umstand weist Schwartz wohl zu Recht auf die Arbeiten zum Neuen Testament aus den Jahren 1903 – 1905 hin, die Wellhausen eines Besseren belehrten.32 Gegen Ende seines Lebens und, wie Schwartz andeutet, entgegen der eigenen Absicht zog Wellhausen im Neuen Testament die Konsequenz und führte die gesamte Tradition auf die nach-jesuanische, christliche Gemeinde zurück. Von dem historischen Jesus, so begeistert und anrührend er auch in dem Kapitel „Das Evangelium“ über ihn geschrieben hat, bleibt praktisch nichts, ausgenommen 30 Schwartz, Wellhausen (s. o. Anm. 2), 342. 31 Schwartz, Wellhausen (s. o. Anm. 2), 358. 32 Ebd., 353 f.
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vielleicht das Gleichnis vom Aufgehen der Saat (Mk 4,26ff), was freilich mehr über Wellhausen als über Jesus aussagt.33 Der historische Jesus erscheint „immer nur im Reflex, gebrochen durch das Medium des christlichen Glaubens“, heißt es in der Einleitung.34 Ein Altersbeweis aufgrund der Originalität oder Wirkung des einen oder anderen Wortes Jesu ist Wellhausen nicht mehr möglich, in der Einleitung schreibt er dazu: „Wenn der innere Wert das Alter und die Authentie verbürgen soll, so gemahnt das an den sagenhaften Archäologen, der die Echtheit einer Antike daran erkannte, daß er bei ihrem Anblick weinen mußte. Das testimonium spiritus sancti wird zum kritischen Prinzip erhoben: was zu Herzen geht, was erhebt, ergreift und erschüttert, erweist sich dadurch als echt. Die exegetische und literarisch-historische Untersuchung ist dann überflüssig.“ Darum gilt: „Es hilft nicht, sich zu sträuben. Die Worte Jesu sind nicht im eigentlichen Sinne authentisch erhalten“ und: „Wir können nicht zurück zu ihm (sc. dem historischen Jesus), auch wenn wir wollten.“35 Und so rekonstruiert Wellhausen die Geschichte der Tradition konsequent vom Ende und nicht vom Anfang der Geschichte, den die Tradition erfunden hat. Schwartz zitiert hierzu den Schluss des Kapitels über das Evangelium und Jesus von Nazareth aus der Einleitung, wo Wellhausen gewissermaßen gegen sich selbst und den früheren Versuch, das Evangelium auf den historischen Jesus zurückzuführen, schreibt: „Für das, was mit dem Evangelium verloren geht, ist der historische Jesus, als Grundlage der Religion, ein zweifelhafter und ungenügender Ersatz. Ohne seinen Tod wäre er überhaupt nicht historisch geworden. Der Eindruck seiner Laufbahn beruhte darauf, daß sie nicht abgeschlossen, sondern jäh unterbrochen wurde, nachdem sie kaum begonnen hatte. Seine Niederlage wurde sein Sieg.“36 In der Analyse des Alten Testaments und der Quellen zur frühislamischen Geschichte ist Wellhausen noch nicht ganz so radikal verfahren wie im Neuen Testament. Dort bleibt er noch der Tradition verpflichtet und greift etwa für die mosaischen Anfänge Israels auf die biblische Erzählung zurück. Im Kapitel „Die Anfänge Israels“ in der Israelitischen und jüdischen Geschichte heißt es: „Die Zeit des Mose wird überall als die eigentliche Schöpfungsperiode Israels angesehen, darum auch als vorbildlich und maßgebend für die Folgezeit. Damals muß in der Tat durch eine epochemachende Grundlegung der Anfang der Geschichte 33 Das Gleichnis zieht sich durch das gesamte Werk Wellhausens von Anfang bis Ende. Vgl. Wellhausen, Text (s. o. Anm. 14), XIV; ders., Geschichte (s. o. Anm. 18), 358; ders.: Das Evangelium Marci, Berlin 1903, 37 (mit Hinweis auf Goethe, West-Östlicher Divan); ders., Einleitung (s. o. Anm. 24), 87 f; Schwartz, Wellhausen (s. o. Anm. 2), 332. 34 Wellhausen, Einleitung (s. o. Anm. 25), 104. 35 Ebd., 159 und 168. 36 Wellhausen, Einleitung (s. o. Anm. 25), 104.
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Israels gemacht sein.“37 Es ist der Anfang des biblischen Israel, den Wellhausen mit dem Anfang der Geschichte Israels zusammenlegt. Doch ähnlich wie beim historischen Jesus ist auch die Rationalisierung oder romantische Verklärung der mosaischen Anfänge „ein zweifelhafter und ungenügender Ersatz“. Legt man indes an das Alte Testament dieselben Maßstäbe an, die Wellhausen an das Neue Testament angelegt hat, bleibt auch hier praktisch nichts übrig, außer literarischen „Fiktionen“, die, „in die richtigen Zusammenhänge eingereiht“, selbst eine Geschichte ergeben. Vielleicht scheute Wellhausen anfänglich in Ermangelung von Alternativen vor diesem Schritt noch zurück. Dabei hätte es durchaus Alternativen gegeben. Ich meine damit nicht nur den Weg in den Alten Orient, den Wellhausen aus bestimmten Gründen nicht gegangen ist. Ich meine vielmehr den Weg, den sein Weggefährte und Freund William Robertson Smith gegangen ist, einer der Begründer der vergleichenden Religionsgeschichte.38 Vielleicht lässt sich der Mangel an geschichtlichen Daten und Zusammenhängen, den die literarischen Quellen nicht beheben können, tatsächlich nur auf diesem Wege der vergleichenden historischen Anthropologie und Soziologie kompensieren. Natürlich ist auch und gerade eine Geschichte, die auf religionsgeschichtlichen, anthropologischen und soziologischen Analogien basiert, eine Konstruktion. Doch wenn wir etwas von Julius Wellhausen lernen können, dann dies: „Konstruiren muss man bekanntlich die Geschichte immer […]. Der Unterschied ist nur, ob man gut oder schlecht konstruirt.“
4. Wellhausen hat keine „Schule“ begründet, sondern mit seinen Werken Schule gemacht. Vor allem die Prolegomena schlugen ein wie eine Bombe und lösten einen internationalen kirchlichen und (pseudo-)wissenschaftlichen Feldzug gegen ihn aus.39 Doch was einst bekämpft wurde, gehört heute zum Allgemeingut. Auf dem Grund, den Wellhausen gelegt hat, baut die alttestamentliche Wissenschaft bis heute auf. Durch seine Unterscheidung zwischen altem Israel und Judentum hat er den Weg gewiesen, das Alte Testament, „in die richtigen Zusammenhänge eingereiht“, als Dokument des antiken Judentums zu verstehen. Weniger Resonanz haben die neutestamentlichen Arbeiten gefunden, doch haben auch sie, z. B. bei Rudolf Bultmann, ihre Wirkung nicht verfehlt und ihre 37 Ders., Geschichte (s. o. Anm. 18), 28. 38 Vgl. Bernhard Maier: William Robertson Smith. His Life, His Work and His Times, Tübingen 2009. 39 Vgl. Rudolf Smend: Julius Wellhausen und seine Prolegomena zur Geschichte Israels (1978), in: Ders.: Epochen der Bibelkritik. Gesammelte Studien 3, München 1991, 168 – 185.
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Wiederentdeckung – für Neu- wie für Alttestamentler – noch vor sich.40 In der Arabistik gilt Wellhausen unbestritten als eines der Häupter des Fachs. Seine Hypothesen haben sich in den Grundzügen bestätigt, auch wenn sich das Bild im Einzelnen, vor allem was die Beurteilung der Quellen anbelangt, geändert hat.41 Von seiten der Bibelwissenschaft wird den arabistischen Werken zu wenig Beachtung geschenkt. Am meisten ist aus dem Buch „Reste arabischen Heidentums“ zu lernen. Ein vergleichbares Buch über die Religionsgeschichte Israels ist noch nicht geschrieben.
Primärtexte Julius Wellhausen: Prolegomena zur Geschichte Israels, Berlin 61905 (Repr. 2001). –: Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 71914 (Repr. 2004). –: Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin 21911 (Repr. 1997). –: Briefe, hg. von Rudolf Smend in Zusammenarbeit mit Peter Porzig und Reinhard Müller, Tübingen 2013.
Sekundärtexte Eduard Schwartz: Julius Wellhausen (mit zwei Beilagen), Nachrichten der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Geschäftl. Mitteilungen aus dem Jahr 1918, Berlin 1918, 43 – 73; wiederabgedruckt in: Ders.: Vergangene Gegenwärtigkeiten. Gesammelte Schriften I, Berlin 21963, 326 – 361. Reinhard G. Kratz: Art. Wellhausen, Julius (1844 – 1918), in: TRE 35 (2003), 527 – 536. Rudolf Smend: Julius Wellhausen. Ein Bahnbrecher in drei Disziplinen, München 2006.
40 Vgl. das Vorwort von Martin Hengel im Nachdruck der Evangelienkommentare, Tübingen 1997, V – XII. 41 Vgl. Kurt Rudolph: Wellhausen as an Arabist, in: Douglas A. Knight (Hg.): Julius Wellhausen and His Prolegomena to the History of Israel, Semeia 25 (1982), 111 – 155.
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Bernhard Duhm (1847 – 1928) – „Die Propheten sind das Fundament von Israels Religion“
1. „Wanne! Wanne!“ Wohl aus dem Friesischen stammender Ausruf der Verwunderung oder Erregung. Duhm benutzte ihn auch, um im Unterricht oder Seminaren vor Fehlübersetzungen aus dem Hebräischen zu warnen. Der Ruf wurde in Basel sein stadtbekannter Spitzname.1
„Aber auch der religiös nicht interessierte Denker muß begreifen lernen, daß die Prophetie nicht blos [sic!] eine merkwürdige Erscheinung ist, sondern den Beginn der geistigen Weltgeschichte bedeutet und auf sie viel größeren Einfluß geübt hat als die Philosophen Griechenlands und die Weisen Indiens.“2 In Duhms Schaffen spielt die Beschäftigung mit der alttestamentlichen Prophetie eine herausragende Rolle. Für ihn sind die Propheten als religiöse Persönlichkeiten und die Schöpfungen dieser Persönlichkeiten der Ausgangspunkt literarischer und theologischer Entwicklung des Alten Testaments. Darüber hinaus misst er ihnen eine große Bedeutung für die Geistesgeschichte der Menschheit zu.
2. Bernhard Lauardus Duhm wird am 10. Oktober 1847 in Bingum/Ostfriesland geboren, gestorben ist er durch einen Unfall am 1. September 1928 in Basel. Mit seiner Heimat bleibt Duhm eng verbunden, noch in seinen Göttinger Jahren lässt er sich u. a. die Butter vom Hof seines Vaters liefern, der Kaufmann und Bierbrauer ist. Duhms Heranwachsen ist durch eine frühe Liebe zu Büchern und vielfältige Interessen, etwa für Geschichte, deutsche Literatur, aber auch Mathematik geprägt; diese Vielseitigkeit wird bleiben. Bei örtlichen Pastoren erhält 1 Vgl. Rudolf Smend: Bernhard Duhm, in: Ders.: Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989, 114 – 128, hier 121. 2 Bernhard Duhm: Israels Propheten, Tübingen 1916, 8.
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er Unterricht und lernt Latein, Griechisch und Französisch. Danach besucht er das Gymnasium Ulricianum zu Aurich, wo das Hebräische dazukommt. Seit dem Sommersemester 1867 studiert er sechs Semester lang Theologie in Göttingen, wo ihn Paul de Lagarde und Albrecht Ritschl sowie im Alten Testament Heinrich Ewald besonders prägen. Seine erste Bucherwerbung im Studium war Ewalds „Die Propheten des Alten Bundes“; und im Studium beginnt auch seine Freundschaft zum damaligen Stiftsrepetenten Julius Wellhausen (1844 – 1918). Nach dem Examen bewirbt sich Duhm mit einer Abhandlung „De inspiratione prophetarum“ um die Stelle des Repetenten am Theologischen Stift, die er 1871 erhält. Von da an bleibt er weitere 18 Jahre in Göttingen, bis er 1889 nach Basel geht. Aufgrund einer Arbeit über die Stellung des Apostels Paulus zur Religion des Alten Testaments („Pauli Apostoli de Judaeorum religione judicia exposita et dijudicata“) wird er 1873 zum Lizentiaten promoviert, diese Promotion schließt die Habilitation ein. Er ist nun Privatdozent, nicht nur für das Alte, sondern auch für das Neue Testament, das ihn zeitlebens beschäftigt. Veranstaltungen und Publikationen beziehen sich jedoch eindeutig auf das AT. 1875 erscheint sein erstes Buch „Die Theologie der Propheten“ und 1877 wird er in Göttingen zum außerordentlichen Professor ernannt, was ihm jährlich ein festes Gehalt von 2000 Mark einbringt. 1877 heiratet er auch seine Frau Helene, geb. Bunjes (1853 – 1884), die bereits nach sieben Jahren verstirbt. Duhm bleibt bis zu seinem Tod Witwer. Von den drei Söhnen der Eheleute wird Hans, der älteste, (1878 – 1946) Alttestamentler in Göttingen und Breslau, später lässt er sich mit den Deutschen Christen ein. Zwischen 1875 und 1892 veröffentlicht Bernhard Duhm außer seiner Basler Antrittsvorlesung nichts, durchdringt aber mit seinen Veranstaltungen das Alte Testament in profunder Breite, was er später mit einer reichen Publikationstätigkeit fruchtbar machen kann. Er hat viele Talente: In Göttingen ist er in einer Fabrik für meteorologische Messtechnik an der Konstruktion mehrerer Apparate wie Thermo-, Baro-, Hygro- und Polymetern beteiligt. In Basel baut er sein Haus ohne Mitwirkung eines Architekten – es steht noch heute. Im Jahre 1885 verleiht ihm die Universität Basel die Theologische Ehrendoktorwürde und beruft ihn 1889 zum ordentlichen Professor für Altes Testament und Allgemeine Religionsgeschichte. Diese Professur ist mit einer zusätzlichen Lehrverpflichtung für Hebräisch am Oberen Gymnasium verbunden, so dass Duhm auf ein Wochenpensum von 15 Stunden kommt. Das Hebraicum soll bei ihm nicht schwer zu bestehen gewesen sein. 1896 ist er Rektor der Universität. Als geistreicher und anregender Dozent hat Duhm große Lehrerfolge. Dabei baut er im Hebräischunterricht weniger auf ausführlichen Grammatikunterreicht als auf die Wirkung der alttestamentlichen Texte, die er eindrücklich interpretiert. So zieht er ein breites Publikum an, an der Universität auch viele nichttheologische Hörer, die seine eigenwilligen Vertiefungen lieben. In seinem von Pfeifenrauch geschwängertem Studienzimmer empfängt er jederzeit Schüler zu
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Hausbesuchen und kümmert sich eingehend um ihre Fragen und Sorgen. Sein Sinn für geheimnisvolle und irrationale Phänomene hat zu manchem Klatsch geführt. Man erzählt sich, er unterhalte sich mit seiner verstorbenen Frau durch den Kamin. In Wahrheit ist ihm derartiger Okkultismus wohl fremd. Gleichwohl ist auch in seinem Denken ein divinatorischer, hypothetischer Zug festzustellen. Religion ist für ihn unmittelbares Sehen und Hören der Gottheit, er sucht nicht nur in der Prophetie nach dem ekstatischen Erlebnis. Durch eine wesentliche Übereinstimmung in literarkritischen Fragen mit seinem engen Freund Julius Wellhausen gehört er zum radikalen Flügel der alttestamentlichen Wissenschaft. Man sagt ihm ferner Eigensinn, Spottlust und eine lose Zunge nach, was gerade seinen Stand in Göttingen nicht leicht gemacht hat. Duhm ist bis zu seinem Tod im Amt, da es noch keine Altersbegrenzung für Professoren gibt. Als er am 1. September 1928 auf einem Spaziergang mit seinem Sohn Hans unterwegs ist, wird er auf dem Platz vor dem Basler Spalentor Opfer eines Verkehrsunfalls. Die Stadtverwaltung reagiert und legt dort eine Verkehrsinsel an, die inoffiziell „Duhm-Insel“ genannt wird. Duhms Nachfolger wird Walter Baumgartner (1887 – 1970). Bernhard Duhm bleibt als ein genialer, mitreißender Exeget in Erinnerung, dessen Kreativität auch durch eine gewisse Einseitigkeit freigesetzt werden konnte.3
3. Ganz im Vordergrund von Duhms Interesse stehen die Propheten und ihre Bücher. In vielen Fragen prägt er hierbei die Forschung bis heute. Unangefochtene Verdienste hat er sich erworben, indem er die Unabhängigkeit der Lieder vom Knecht JHWHs vom Buch des Deuterojesaja4 sowie die Selbständigkeit der Kapitel Jes 56 – 66, die von einem Propheten „Tritojesaja“ stammten,5 nachgewiesen hat. Zudem hat er eine Reihe von Kommentaren vorgelegt, deren Lektüre nicht nur heute noch empfehlenswert, sondern auch schlichtweg ein Genuss ist. Der Titel von Duhms erstem Buch ist bereits programmatisch: „Die Theologie der Propheten als Grundlage für die innere Entwicklungsgeschichte der israeli3 Vgl. insgesamt Konrad v. Rabenau: Art. Duhm, Bernhard, in: NDB 4 (1959), 179 f.; Walter Baumgartner: Bernhard Duhm, in: Bernhard Duhm: Das Buch Jesaja, Göttingen 51968, V – XIII; Jürgen Ebach: Art. Duhm, Bernhard, in: TRE 9 (1982), 214 f.; Rudolf Smend: Wissende Prophetendeutung. Zum 150. Geburtstag Bernhard Duhms, in: ThZ 54 (1998), 289 – 299; Smend, Bernhard Duhm (s. o. Anm. 1), 114 – 128. 4 Vgl. Bernhard Duhm: Das Buch Jesaja, 51968, 19 und 311 – 313. Es handelt sich um die Texte Jes 42,1 – 7; 49,1 – 6; 50,4 – 9; 52,13 – 53,12. 5 Ebd., 19 und 418 f.
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tischen Religion“ (1875): Nicht das Gesetz des Mose, sondern eben die Propheten legen den Grund von Israels Religion. Denn das mosaische Gesetz kann nicht mehr als älter denn die Prophetenbücher und damit nicht als deren Voraussetzung gelten. Die Neuere Urkundenhypothese gewinnt ihre letzten Konturen. Karl Heinrich Graf hat das priesterliche Gesetz bereits später als das Dtn datiert;6 unter Abraham Kuenens Einfluss wird er diese Datierung auf die erzählenden Partien von P ausdehnen. Es gilt: lex post prophetas. Für Duhm ist nun Religion „ein Verhältnis des Menschen zu Gott“,7 sie gründet nicht auf festen Formen und Gesetzen, sondern auf der unmittelbaren Beziehung zwischen Mensch und Gott. Das betrifft besonders die Propheten, die vom Geist Gottes getriebene schöpferische Persönlichkeiten sind. Es ist nötig, die Persönlichkeiten der Propheten zu ergründen, um ihre Theologie und deren Entwicklung zu erfassen. Die Propheten haben die Religion Israels auf eine neue Stufe gestellt: von ihrer ursprünglichen Naturgebundenheit auf die Ebene der Sittlichkeit, die sich als die ideelle Kraft von Israels religiöser Entwicklung erweist. „Denn ihr [sc. der Propheten] Streben geht dahin, die Religion von der Sinnlichkeit zu befreien, in die sie der Kult […] hinabgezogen hatte, und sie auf die Höhe des sittlichen Verkehrs zwischen freien Persönlichkeiten [sc. zwischen Gott und Mensch] zu erheben.“8 Diese Entwicklung beginnt bei Amos und Micha und erreicht bei Jesaja einen Höhepunkt. Hatten aber diese Propheten die Beziehung zwischen Gott und Volk im Blick, so zeigt sich erst bei Jeremia eine individuelle Ebene: „Seine Prophetie eröffnet die Periode der subjectiven Frömmigkeit, indem sie die geistige Persönlichkeit zum Träger der Religion machte“.9 Das begründet den hohen Rang von Jeremias Theologie. Sowohl das Jesaja- als auch das Jeremiabuch wird Duhm kommentieren. Mit Ezechiel beginnt für ihn dagegen die Zeit der Gesetzlichkeit, die der Religion jegliche Freiheit genommen hat: „Hesekiel hat das Verdienst, die Ideale der Propheten in Gesetze und Dogmen umgesetzt und die geistig freie und sittliche Religion vernichtet zu haben.“10 Wiewohl dieses Urteil gerade im Anschluss an die Betrachtung von Ez 18 sowie des sog. Verfassungsentwurfes Ez 40 – 48 gefällt wird, scheut Duhm die Generalisierung nicht. Die nachexilische Entwicklung der Prophetie sieht er vor allem unter Ezechiels Einfluss; auch Deuterojesaja vermag mit seiner Botschaft nicht dagegen zu steuern. Duhm greift dieses Entwicklungsmodell in seinem Buch „Israels Propheten“ (1916) auf. Das Werk, das eingängiger als die „Theologie der Propheten“ geschrieben ist, könnte beinahe als sein Vermächtnis bezeichnet werden. Etliche 6 Vgl. Bernhard Duhm: Die Theologie der Propheten als Grundlage für die innere Entwicklungsgeschichte der israelitischen Religion, Bonn 1875, 17 – 19. 7 Ebd., 74. 8 Duhm, Israels Propheten (s. o. Anm. 2), 142 f. 9 Duhm, Theologie (s. o. Anm. 6), 246 f. 10 Ebd., 263.
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Gedanken werden in ihm präzisiert, auch der Einfluss der Weltgeschichte auf die Prophetie wird höher bewertet.11 Was aber ist zu tun, wenn die Literaturwerke des AT, also auch die Prophetenbücher ergänzt, überarbeitet oder, wie wir heute sagen würden, fortgeschrieben worden sind? Für Duhm gilt es, „in die Persönlichkeit des Schriftstellers selber so tief wie möglich einzudringen.“12 Um die historische Entwicklung zu verstehen, kommt es darauf an, mithilfe literarkritischer Operationen zur ipsissima vox des Propheten vorzudringen. Exemplarisch für diese Methode steht sein erster Kommentar, in dem er das Jesajabuch bearbeitet. Kurz nachdem er nach Basel gegangen ist, erreicht Duhm nämlich die Anfrage des Göttinger Verlages Vandenhoeck & Rupprecht, ob er im neuen „Handkommentar zum Alten Testament“ das Buch Jesaja übernehmen wolle. Er bejaht und legt nach nur zwei Jahren ein stupendes Ergebnis vor. Wie der Genesiskommentar von Hermann Gunkel (1862 – 1932),13 der im Jahre 1901 ebenfalls in dieser Reihe erscheint, hat er nahezu zeitlose Bedeutung. Bis vor wenigen Jahren wurde er in fünfter Auflage nachgedruckt. Doch wie kommt man zur ipsissima vox des Propheten? Kriterium für die Echtheit prophetischer Texte ist ihr poetischer Charakter, auch ihre Metrik im engeren Sinne. Denn: „Die poetische Sprache ist die Sprache der Götter, diese reden durch die Poeten und Propheten. In der Ekstase des Sehers, der Begeisterung des Dichters, erkennt man etwas, was nicht der gewöhnlichen Stimmung, Art, Fähigkeit des Menschen entstammt, sondern von höheren Wesen bewirkt wird.“14
Festzuhalten ist hierbei zunächst, dass für Duhm Inspiration und Ekstase wesentliche Merkmale der Prophetie sind: wo sie in den Texten fehlen, sieht er Spätere am Werk. Wenn er außerdem die Propheten als Dichter charakterisiert, so steht er damit auf den Schultern des Entdeckers des parallelismus membrorum, des englischen Lordbischofs, Philologen und Bibelwissenschaftlers Robert Lowth (1710 – 1787), sowie Johann Gottfried Herders (1744 – 1803). Beide beschäftigten sich mit der Verskunst als wesentlichem Ausdruck hebräischer Poesie und suchten authentische Überlieferungen des AT in seinen poetischen Einheiten.15 Gustav Hölscher (1877 – 1955) wird Duhms Konzeption am Ezechielbuch durchführen.16 Wendet nun Duhm das poetische Kriterium auf Jes an, 11 12 13 14 15
Vgl. Duhm, Israels Propheten (s. o. Anm. 2), 1 ff. Ebd., 3. Hermann Gunkel: Genesis, Göttingen 91977 (= 31910). Duhm, Israels Propheten (s. o. Anm. 2), 95. Vgl. Robert Lowth: De Sacra Poesi Hebraeorum, Oxford 1753, London 1775 (= 1995); Johann Gottfried Herder: Vom Geist der Ebräischen Poesie, 1 Dessau 1782, 2 Dessau 1783 (= Karlsruhe 1826). 16 Vgl. Gustav Hölscher: Hesekiel. Der Dichter und das Buch, Gießen 1924.
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so bleibt für die originalen Propheten der Buchteile noch recht viel Material; anders wird es bei Jer sein. Im Großjesajabuch veranschlagt er eine komplexe Entstehung bis in die hasmonäische Zeit und bereitet damit bereits die Voraussetzungen für die gegenwärtige Diskussion, die nach Kompositions- und Redaktionsprozessen sucht, welche das ganze Jesajabuch übergreifen. Mit Duhms Namen werden zwei wichtige Entdeckungen verbunden: die Herauslösung der Gottesknechtlieder aus Deuterojesaja und die Identifikation Tritojesajas. Hatten Johann Gottfried Eichhorn und Johann Christoph Döderlein entdeckt, dass ab Jes 40 ein anderer Autor als in Jes 1 – 39 spricht – sie erkennen die Größe, die Duhm Deuterojesaja nennen wird –,17 so macht sich Duhm um die weitere redaktionskritische Differenzierung dieser Beobachtung verdient. Nach Vorüberlegungen, die er bereits in seiner Theologie der Propheten geäußert hat,18 sondert er im Kommentar Jes 42,1 – 7; 49,1 – 6; 50,4 – 9; 52,13 – 53,12 als eigenständige „Ebed-Jahwe-Lieder“ aus nachexilischer Zeit aus. Ihr Dichter lehne sich an Jeremia, Deuterojesaja und Hiob an, sein Werk liege seinerseits Tritojesaja bereits vor. Er sei ein „Dichter von sanftem, tiefem Geist, bedächtiger und nüchterner als Deuterojesaja, voll ernster Gedanken über die Verschuldung des Volkes, aber auch gewisser Hoffnung für die Zukunft der zur Weltreligion bestimmten Jahwereligion“.19 Jes 56 – 66 weiterhin weisen „sich nach Form und Inhalt als Erzeugnis eines einzigen Schriftstellers“ aus, der „der Kürze halber Tritojesaja“20 genannt wird. Er wirke im nachexilischen Jerusalem und „hat denselben Geist wie der von ihm vielfach benutzte Hesekiel, […] er ist Theokratiker vom reinsten Wasser und hält den Tempel, das Opfer, das Gesetz, den Sabbath usw. für die höchsten Dinge.“21 Weniger, viel weniger bleibt unter dem poetischen Kriterium für Jeremia bestehen, nämlich etwa 60 meist kurze Gedichte im Drei-Zweier-Metrum. Prosa und theologische Durchbildung der Gedanken seien dagegen charakteristisch für spätere Überarbeitungen. Dabei gilt Duhm die von Baruch verfasste Lebensgeschichte des Jeremia (das „Buch Baruchs“) noch als ziemlich wertvoll. Zahlreiche weitere Ergänzungen, davon einige im dtr. Stil, datieren von früher nachexilischer Zeit bis zum Anfang des ersten Jahrhunderts v. Chr. Also ist mit einem Wachstumsprozess des Buches zu rechnen, der sich über Jahrhunderte hinzieht, „fast wie ein unbeaufsichtigter Wald wächst und sich ausbreitet“.22 Die Theologie der Ergänzungen sei ein trockener Nomismus, der Prophet wird in ihnen zum 17 Vgl. Johann Gottfried Eichhorn: Einleitung in das Alte Testament 3, Göttingen 1783, 84 – 86; Johann Christoph Döderlein: Esaias, Nürnberg/Altdorf 1789, XV. 18 Vgl. Duhm, Theologie (s. o. Anm. 6), 287 – 301. 19 Duhm, Jesaja (s. o. Anm. 4), 19. 20 Ebd., 15. 21 Ebd., 418 f. 22 Bernhard Duhm: Das Buch Jeremia, Tübingen/Leipzig 1901, XX.
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Thoralehrer oder Schriftgelehrten, „ihr Bild von Jeremia ist zehnmal mehr von einem Hesekiel, den sie überhaupt viel besser kennen, als von Jeremia selber abstrahiert.“23 Von ihnen stamme im Übrigen auch die Verheißung des Neuen Bundes Jer 31,31 – 34, was nicht zuletzt „der schlechte, schleppende, unpräcise Stil“ und „die vollkommene Abwesenheit originaler Bilder“ zeige.24 Etliche Ergänzungen schätzt Duhm sehr gering: „Die Reden ergehen sich in rhetorischen Übertreibungen, in einer Überfülle stereotyper, oft unpassend angewandter Redensarten; wenn sie mehr als ein paar Verse umfassen, gerät der Redner oft aus dem Geleise […]. Vielfach erhält man den Eindruck, dass die Ergänzer den unteren Volksschichten angehörten […], jedenfalls aber keine schriftstellerische Schulung genossen haben und trotz ihrer Neigung zum Vielschreiben kein Autorentalent besitzen.“25
Duhms Prophetenexegese ist von der Suche nach den originalen Prophetenworten bestimmt; ihre Dichtungen seien von den theologisierenden Zusätzen der Epigonen zu befreien. In der Entscheidung über Echt und Unecht fällt zugleich ein Werturteil im Sinne einer historistischen Deszendenztheorie: Nur das älteste, und nach Duhm damit authentische Material ist von wirklicher Bedeutung, die Überarbeitungen können manchmal regelrecht gestrichen werden. Anders wird der Fortschreibungsprozess in der aktuellen Prophetenexegese bewertet. Die Suche nach den historischen Persönlichkeiten der Propheten ist weitgehend aufgegeben worden, da es keine Kriteriologie gibt, mit der originale prophetische Überlieferung identifiziert werden könnte.26 Von diesem Befund ausgehend, misst man den verschiedenen Fassungen, die im Wachstumsprozess der Prophetenbücher entstehen eigene Bedeutung und eigenen Wert zu, sie sind „in sich durchgestaltete literarische Ganzheiten, Bücher(folgen), die als solche in ihrer Gesamtpräsentation sinntragend und sinnvermittelnd sein wollen.“27 Innerhalb nur eines Jahrzehnts legt Duhm vier Kommentare vor. Nach dem Jesajakommentar (1892) tut er dies in der bei Mohr (Paul Siebeck) erscheinenden Reihe „Kurzer Hand-Commentar zum Alten Testament“, da der Göttinger „Handkommentar“ belegt ist. Dort erscheinen vor dem Jeremiakommentar (1901) „Das Buch Hiob“ (1897) und „Die Psalmen“ (1899).28 Auch wenn dies profunde und umfangreiche Kommentarwerke sind, erscheinen sie in einer 23 24 25 26
Ebd., XVIII. Ebd., 255. Duhm, Jeremia (s. o. Anm. 22), XIX. Vgl. Karl-Friedrich Pohlmann: Erwägungen zu Problemen alttestamentlicher Prophetenexegese, in: Ingo Kottsieper: „Wer ist wie du, Herr, unter den Göttern“, FS Otto Kaiser, Göttingen 1995, 325 – 341. 27 Odil Hannes Steck: Die Prophetenbücher und ihr theologisches Zeugnis, Tübingen 1996, 94. 28 Bernhard Duhm: Das Buch Hiob, Freiburg u. a. 1897; Ders.: Die Psalmen, Freiburg u. a. 1899 (Tübingen 21922).
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Reihe, die auf Kürze angelegt ist, daher ist die Aufnahme von Übersetzungen nicht möglich. Duhm gründet deshalb eigens für seine Übersetzungen die Reihe „Die poetischen und prophetischen Bücher des Alten Testaments. Übersetzungen in den Versmaßen der Urschrift“. In ihr erscheinen – ebenfalls bei Mohr – im Jahre 1897 „Das Buch Hiob“, 1899 „Die Psalmen“ und 1903 „Das Buch Jeremia“, 1910 kommt das Zwölfprophetenbuch dazu.29 Die Übersetzungen sind zwar nicht immer poetisch, dafür aber genau. Wie schon im Jesajakommentar werden Wachstumsschichten durch verschiedene Schriftgrade und -typen veranschaulicht – eine Idee, die bis heute viele Nachahmer gefunden hat. Der Psalmenkommentar erscheint 1922 in zweiter Auflage, mit wenigen Änderungen, aber nun mit Übersetzung. Duhm übergeht hier die Erkenntnisse, die in der sich seit der Jahrhundertwende entwickelnden Gattungsforschung evident geworden sind, obwohl Hermann Gunkel bereits einschlägig publiziert hat. Duhm datiert schon in der ersten Auflage die meisten Psalmen in die Makkabäerzeit, manche seien in der Diadochenzeit entstanden und Ps 137 sei der älteste Psalm. Nach wie vor wertet Duhm etliche Psalmen ab, bekannt ist sein Urteil über Ps 119: „Jedenfalls ist dieser ‚Psalm‘ das inhaltsloseste Produkt, das jemals Papier schwarz gemacht hat. Wenn doch der Verf. auch nur etwas von den gerühmten Errungenschaften seines Studiums mitgeteilt hätte! Auch in schriftstellerischer Hinsicht wird es schwer sein, ein Schriftstück nachzuweisen, das es an Ungeschicklichkeit und Gedankenlosigkeit mit diesem Ps aufnehmen könnte.“30 Der prospektiven Empörung über diese Äußerung könnte niemand besser als Rudolf Smend entgegnen: „Wer sich über diese Sätze ärgert, sollte den Psalm noch einmal durchlesen – das dauert ein Weilchen – und dann im Stillen mit Duhm darüber diskutieren.“31 1906 erscheint, außerhalb einer Reihe, Duhms Kommentar zum Buch Habakuk, das er in hellenistische Zeit datiert. Seine Untersuchung zum Zwölfprophetenbuch (1911) liefert wertvolle textkritische Analysen.32
29 30 31 32
Vgl. Bernhard Duhm: Die Zwölf Propheten, Tübingen 1910. Duhm, Psalmen (s. o. Anm. 28), 268. Smend, Wissende Prophetendeutung (s. o. Anm. 3), 296. Bernhard Duhm: Das Buch Habakuk, Tübingen 1906; Ders.: Anmerkungen zu den Zwölf Propheten, Gießen 1911. Zum Abschnitt insgesamt vgl. Hans-Joachim Kraus: Geschichte der historisch-kritischen Erforschung des Alten Testaments von der Reformation bis zur Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 31982, 275 – 283; Henning Graf Reventlow: Die Prophetie im Urteil Bernhard Duhms, in: ZThK 85 (1988), 259 – 274; Smend, Bernhard Duhm (s. o. Anm. 1), 118 – 127; Henning Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung 4. Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, München 2001, 316 – 324; Peter Höffken: Beobachtungen am Jesjakommentar von Bernhard Duhm (1. Aufl. 1892), in: ThZ 59 (2003), 1 – 16; Klaus Koenen: Duhm, Bernhard, in: www.wibilex.de, erstellt 2007.
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4. Zu Bernhard Duhms Würdigung ist bereits im vorangehenden Abschnitt viel gesagt worden. Er wird vor allem als kongenialer Prophetenexeget in Erinnerung bleiben. In seiner eigenen Zeit war er ein Lehrer, der seine Zuhörer und Schüler für Theologie und Texte des Alten Testaments begeistern konnte. Sein stilles Charisma ist ab und an bei der Lektüre seiner Werke zu spüren. Größer noch ist seine Bedeutung für folgende Zeiten. Hinter die Bestimmung der Gottesknechtlieder und der tritojesajanischen Sammlung als eigenständiger Größen führt kein Schritt mehr zurück. Auch im Blick auf Einzelheiten hat Duhm viele wichtige text- und literarkritische Arbeit geleistet. Durch eingehende, ja empathische Lektüre hat er Entscheidendes für das Verständnis der atl. Texte, besonders der Prophetenbücher, getan. Auch wenn er in den Texten nach den Persönlichkeiten der Propheten sucht und dabei mutatis mutandis vom Prophetenbild des Idealismus und dem Persönlichkeitsbegriff des 19. Jahrhunderts ausgeht, haben seine Ergebnisse bleibende Bedeutung. Sein radikales Vordringen zur Grundschicht und sein Mut, auch wirkungsgeschichtlich relevante Texte wie die Verheißung des Neuen Bundes Jer 31,31 – 34 für sekundär oder tertiär etc. zu erklären, haben Bahnen für die weitere Prophetenforschung gebrochen. Ganz konkrete Nachwirkungen hat er im Denken der religionsgeschichtlichen Schule, deren Vertreter ihn zum Teil noch in Göttingen erlebten. Wohl hat Duhm Grenzen, wie wir alle Grenzen haben. Er übergeht manche Entwicklungen, die von der Wende zum letzten Jahrhundert an stattfinden, so etwa die von Hermann Gunkel ausgehende Gattungsforschung, die er für die neueren Auflagen seines Psalmenkommentars aber auch der Prophetenkommentare hätte fruchtbar machen können. Auch unterschätzt er die Bedeutung des Priestertums für die theologische Traditionsbildung sowie die Entstehung des Alten Testaments. Im Gegenzug traut er den Propheten fast alles zu, auf ihnen baue die gesamte Entwicklung der atl. Theologie auf. „Jene Überschätzung des Prophetentums […] war die Einseitigkeit des genial Veranlagten, der etwas Wichtiges entdeckt hat und sich nun für alles andere blind mit ganzer Kraft dem Ausbau dieser Entdeckung hingibt. Und diese Einseitigkeit hat auch etwas Großes an sich.“33
Ob Duhms Gelehrsamkeit Grenzen gehabt hat? Ein überliefertes Urteil Julius Wellhausens scheint dies nahezulegen: „Gelehrt sei gerade nicht das rechte Wort; doch was er habe, seien die Kolleghefte Ewalds und die eigenen fünf Finger; das Beste aber nehme er aus seinen fünf Fingern!“34 Es wäre wün33 Baumgartner, Bernhard Duhm (s. o. Anm. 3), XIII. 34 Alfred Bertholet: Art. Duhm, Bernhard, in: DBJ 10 (1928), 45 – 52, 46.
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schenswert, manche Vertreterin und mancher Vertreter unseres Faches hätte den Mut, sich mehr auf die eigenen fünf Finger zu verlassen.
Primärtexte Bernhard Duhm: Das Buch Jesaja, Göttingen 11892, 51968. –: Israels Propheten, Tübingen 1916, 21922.
Sekundärtexte Henning Graf Reventlow: Die Prophetie im Urteil Bernhard Duhms, in: ZThK 85 (1988), 259 – 274. Rudolf Smend: Bernhard Duhm, in: Ders., Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989, 114 – 128. –: Wissende Prophetendeutung. Zum 150. Geburtstag Bernhard Duhms, in: ThZ 54 (1998), 289 – 299.
Joachim Weinhardt
Ferdinand Kattenbusch (1851 – 1935)
1. „Gott ist zwar ein Geheimnis, aber kein Geheimtuer.“1
Ferdinand Kattenbusch kam am 3. Oktober 1851 in Kettwig an der Ruhr zur Welt. Er war der Älteste unter acht Geschwistern. Seine Kindheit verbrachte er in Werden, wo sein Vater eine Filz- und Schuhfabrik betrieb. Dieser bestimmte den Erstgeborenen für eine kaufmännische Ausbildung, aber seine Mutter sah in ihm einen zukünftigen Pfarrer, so dass er doch das Gymnasium in Soest besuchen konnte. Ausweislich seines Abiturzeugnisses war er der Beste seiner Klasse.2 Sein Bruder Ernst folgte ihm später bei der Studienfachwahl und ging dann auch in den praktischen Gemeindedienst.3 Im Sommer 1869 nahm Ferdinand Kattenbusch das Studium in Bonn auf. Schon zum WiSe 1869/70 ging er nach Berlin über, wo er sich endgültig gegen die Philologie und für die Theologie entschied. Seine schon damals stark ausgeprägte Schwerhörigkeit hinderte ihn daran, sich als Freiwilliger für die Teilnahme am Deutsch-Französischen Krieg zu melden.4 Mit zunehmendem Alter wurde er fast taub.5 Vom WiSe 1870/71 bis zum Sommer 1872 studierte Kattenbusch in Halle. Dort wurde er hauptsächlich von Eduard Riehm, Julius Müller und von August
1 Vgl. Ferdinand Kattenbusch: Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher. Ihre Leistungen und ihre Schäden, Gießen 41924, 121. 2 Vgl. Ferdinand Kattenbusch: Ferdinand Kattenbusch, in: Erich Stange (Hg.): Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 5, Leipzig 1929, 88 f. Kattenbuschs Abiturzeugnis liegt bei den Acta Collegii Repetentium 1868 – 1888, Universitätsarchiv Göttingen, Theol. SA 0056.2. 3 Vgl. Joachim Weinhardt (Hg.): Albrecht Ritschl – Ferdinand Kattenbusch, Briefwechsel 1878 – 1889, Engelsbach u. a. 2000, 90 f. (Anm. 336). 4 Vgl. ebd., 3. 5 Vgl. Otto Ritschl: Ferdinand Kattenbusch als Persönlichkeit, Forscher und Denker, in: ThStKr 107 (1936), 290.
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Tholuck beeinflusst.6 Diese drei Namen stehen für eine theologische Strömung, die sog. Vermittlungstheologie, die der Halleschen Fakultät im 19. Jahrhundert ihr Gepräge gab. Tholuck war derjenige, der noch am stärksten von der ursprünglichen, dem Pietismus verwandten Erweckungsfrömmigkeit und ihrem Biblizismus geprägt war. Kattenbusch diente ihm als studentischer Reiseassistent, und er wohnte im Tholuckschen Studentenkonvikt, das ihm seine adelige Frau Mathilde gestiftet hatte. Tholuck ermutigte Kattenbusch zur wissenschaftlichen Laufbahn. Später widmete dieser seinem Halleschen Lehrer, dem er seelisch mehr verdanke, als er öffentlich machen wolle, eines seiner Bücher. Dasselbe Buch war aber auch einem anderen Theologen gewidmet, der für Kattenbusch theologisch noch wichtiger wurde, nämlich Albrecht Ritschl in Göttingen.7 Um Ostern 1873 legte Kattenbusch sein Erstes Theologisches Examen in Koblenz ab.8 Sein späterer Freund und Kollege Otto Ritschl berichtete, dass die kirchlichen Prüfer seine Rechtgläubigkeit bezweifelten, was dazu beigetragen habe, dass er die akademische Laufbahn beschritten habe.9 Der alleinige Grund dafür kann diese Examenserfahrung aber nicht gewesen sein, denn die Vorstellung einer wissenschaftlichen Karriere war ja schon in Halle entstanden. Von Herbst 1873 bis Ostern 1876 war Kattenbusch Repetent im Theologischen Stift. Er vermutete, dass ihm zu dieser Anstellung vielleicht ein gutes Wort verhalf, das Max Besser für ihn bei Albrecht Ritschl eingelegt haben könnte. Dieser Hallesche Privatdozent hatte im Sommer 1868 bei Ritschl in Göttingen hospitiert und war 1868/69 selbst ein Jahr lang Stiftsrepetent gewesen. In Göttingen für Ritschls Theologie gewonnen, betrieb er als Inspektor des Tholuck-Konviktes in Halle (seit 1871) unter anderen mit Wilhelm Herrmann, Johannes Gottschick und Ferdinand Kattenbusch Kant- und Lotzestudien und machte sie auf Ritschl aufmerksam. Kattenbusch bezeichnete später Max Besser als den eigentlichen Stifter der Ritschl‘schen Schule.10 Als Nachweis für seine wissenschaftliche Befähigung zum Repetentenamt reichte Kattenbusch die vierzigseitige Abhandlung De Joanne presbytero ein, mit der er schon in Halle einen akademischen Preis gewonnen hatte.11 In seinem 6 Vgl. Weinhardt, Ritschl – Kattenbusch (s. o. Anm. 3), 3 f. 7 Vgl. Kattenbusch, Selbstdarstellung (s. o. Anm. 2), 92. Das „dem Andenken A. Tholuck‘s und A. Ritschl’s“ gewidmete Buch war: Ferdinand Kattenbusch: Lehrbuch der vergleichenden Konfessionskunde, Bd. 1, Prolegomena und erster Theil: Die orthodoxe anatolische Kirche, Freiburg i. Br. 1892. 8 Eine Abschrift des Examenszeugnisses befindet sich bei den Acta collegii (s. o. Anm. 2). 9 Vgl. Ritschl, Kattenbusch (s. o. Anm. 5), 296. 10 Vgl. Weinhardt, Ritschl – Kattenbusch (s. o. Anm. 3), 6 f. 11 Vgl. Kattenbusch, Selbstdarstellung (s. o. Anm. 2), 94. Eine Abschrift dieser Abhandlung liegt in den Acta collegii (s. o. Anm. 2).
Ferdinand Kattenbusch (1851 – 1935)
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ersten Semester las er über Neues Testament im Überblick und hielt ein Seminar zur Dogmatik.12 In Göttingen entstand ein freundschaftlicher Kontakt zwischen Kattenbusch und Albrecht Ritschl. Er besuchte seine Symbolik-Vorlesung, begleitete ihn auf Spaziergängen und wurde ein gerne gesehener Gast in Ritschls Haus. Mit seinem Sohn Otto verband ihn eine lebenslange Freundschaft.13 Am 27. November 1875 fand Kattenbuschs Promotion zum Lizentiaten statt, am 20. Januar 1876 wurde ihm die venia legendi für Kirchen- und Dogmengeschichte verliehen.14 Er wollte zwar von Anfang an Dogmatiker werden, aber dafür konnte man sich in Göttingen nicht habilitieren.15 In der Habilitationsschrift nahm er Anregungen Ritschls auf und arbeitete die möglichen Einflüsse nominalistischer Theologen auf Luthers Prädestinationslehre aus.16 Er kam zu dem Ergebnis, dass sowohl Luthers religiöse Erfahrungen als auch sein Gottesbegriff die Basis der Schrift Über den unfreien Willen bilden (womit er sich gegen den Pfarrer von Riga, Johannes Matthias Lütkens wandte), und dass man nicht behaupten dürfe, für Luther sei nur die Unfreiheit des Willens, nicht aber die Prädestinationslehre wichtig gewesen (gegen den Dorpater Lutherforscher Theodosius Harnack, aber mit Ritschl).17 Luthers religiöse Biografie analysiert Kattenbusch so, dass dieser „die Empfindung [hatte], selbst durch einen Willkürakt Gottes errettet zu sein.“ Da er davon ausgegangen sei, dass Gott nicht alle Menschen erlöse, sei er zu der Schlussfolgerung gekommen, dass Gott auch die nicht Erretteten willkürlich
12 Vgl. Weinhardt, Ritschl – Kattenbusch (s. o. Anm. 3), 6. 13 Vgl. Ritschl, Kattenbusch (s. o. Anm. 5), 297. 14 Als wissenschaftliche Abhandlung reichte er ein: Ferdinand Kattenbusch: Luthers Lehre vom unfreien Willen und von der Prädestination nach ihren Entstehungsgründen untersucht. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der theologischen Licentiatenwürde an der GeorgAugusts-Universität zu Göttingen, Göttingen 1875. Die Disputationsthesen liegen bei seinen Promotionsakten (UA Göttingen, Theol. Prom. 0093). Sie lauten: I. Act. XV non consentit cum Gal. II. II. Temere affirmatur, Paulum docere, carnem ut corporis materiam peccati fontem esse. III. Quod Rothe disciplinae dogmaticae tribuit symbolicae potius tribuendum est. IV. Scriptura Sacra non solus, sed summus fons est theologiae systematicae [sic!]. V. De originali hominis statu dogmatice nihil statuendum est. VI. Disciplina ethica notione liciti carere non potest. VII. Calvini de praedestinatione doctrina cum Lutheri magis quam cum Zwinglii convenit. VIII. Schleiermacher parum accurate quid intersit inter Protestantismum et Catholicismum definit. Disputationsgegner waren Bernhard Duhm und Hermann Guthe. Von den drei vorgeschlagenen Themen für den Probevortrag wurde von der Fakultät gewählt: Zwingli und Savonarola. Die anderen beiden Vorschläge lauteten: Das arminianische Schisma und Oliver Cromwell. Vgl. Kattenbuschs Personalakte: UA Göttingen, Theol. PA 0200. 15 Vgl. Kattenbusch, Selbstdarstellung (s. o. Anm. 2), 94. 16 Kattenbusch, Luthers Lehre (s. o. Anm. 14) 77 – 95. Vgl. auch Albrecht Ritschl: Geschichtliche Studien zur christlichen Lehre von Gott (1865/68), in: ders.: Gesammelte Aufsätze, Neue Folge, Freiburg i. Br./Leipzig 1896, 61 – 66. 17 Ebd., 38.
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verdamme. Daher vertrete Luther die doppelte Prädestination.18 Hätte er lediglich den unfreien Willen des Menschen denken wollen, so hätte er nicht die Prädestination lehren müssen, denn „es kann einer Determinist sein, ohne die doppelte Prädestination zu behaupten – er kann ja auch die schließliche Beseligung Aller annehmen.“19 Doch gelte bei Luther nicht wie bei Paulus, „daß Gott ‚sie Alle unter die Sünde beschlossen [hat], [auf] daß er sich Aller erbarme‘“.20 Luthers religiöse Empfindung, dass Gott die Menschen willkürlich errette, ist nach Kattenbusch nicht normal, sondern krankhaft.21 Sie setze voraus, dass der Mensch sich vor Gott als ein nichtiges, wertloses Wesen fühle. Genau diese Auffassung werde durch die Lehre von Gottes absoluter Allmacht gefördert, die von nominalistischen Theologen gelehrt wurde und in die sich Luther im Kloster eingelebt habe: „Denn die Lehre, daß die Schöpfung der Welt und ihre Zweckbestimmung im Allgemeinen und im Einzelnen für Gott eine zufällige sei, […] daß also auch die Entscheidung über die Endgeschicke der Menschen in keiner Weise von diesen, sondern lediglich von der Willkür Gottes abhänge – diese Lehre ist ebenso sehr danach angethan, das religiöse Werthgefühl für Gott abzustumpfen, als auch das religiöse Abhängigkeitsgefühl von Gott specifisch zu steigern.“
In seinem Gesamtwerk habe Luther aber doch die richtige Einsicht entfaltet, „daß der in Christo offenbare Gott, der Gott nicht der Willkür, sondern der Liebe gegen alle Menschen, der allein wirkliche wahre und ganze Gott sei“. Deswegen hält Kattenbusch es für legitim, dass die „nach Luther sich nennende Kirche“ bei den Themen Willensfreiheit und Prädestination „die Bahnen ihres großen Erstlings“ verlassen habe.22 Im WS 1875/76 begann Kattenbusch seine Vorlesungen als Privatdozent, zumeist über Reformationsgeschichte und allgemeine protestantische Theologiegeschichte.23 Die zweite größere Arbeit neben der Habilitationsschrift, die Kattenbusch in Göttingen veröffentlichte, waren ausführliche Kritische Studien
18 Ebd., 34. 19 Ebd., 4. 20 Ebd., 12. Vgl. Röm 11,32. Kattenbuschs hier anklingende Sympathie für die Allerlösungslehre erklärt sich möglicherweise aus seinem Studium bei Willibald Beyschlag, der ein bekannter Vertreter der Apokatastasis panton war. Vgl. Joachim Weinhardt: Heil(ung) für alle? Die Lehre von der Allerlösung in der evangelischen Theologie, in: Sabine Pemsel-Maier und Regina Speck (Hg.): „Steh auf und stell dich in die Mitte!“. Beiträge zu einer Theologie um der Menschen Willen. FS Helmut Jaschke, Karlsruhe 2008, 96 – 100. 21 Vgl. Kattenbusch, Luthers Lehre (s. o. Anm. 14), 76. 22 Ebd., 95. 23 Kattenbuschs frühe Göttinger Vorlesungen sind angegeben bei Weinhardt, Ritschl – Kattenbusch (s. o. Anm. 3), 7 f.
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zur Symbolik.24 Die damalige theologische Teildisziplin Symbolik entspricht der heutigen Konfessionskunde, und von Kattenbuschs späteren Arbeiten her hat diese Umbenennung sich auch überhaupt erst durchgesetzt.25 In den Kritischen Studien legte er, in der Auseinandersetzung mit einigen Neuerscheinungen, seine eigene Auffassung vom Wesen der orthodoxen, katholischen und protestantischen Konfession dar. Die Darstellung der orthodoxen Kirchenlehre durch Wilhelm Gaß kritisierte er anhand der Habilitationsschrift seines Freundes Wilhelm Herrmann.26 Herrmann war inzwischen selbst auf die neue Göttinger Theologie Albrecht Ritschls eingeschworen. Kattenbusch gelangte recht früh auf ein theologisches Ordinariat. Dies geschah im Zuge einer Reorganisation der Gießener Theologischen Fakultät, die in den Jahren 1878/79 für einen Skandal in der theologischen Welt sorgte. Drei der vier Professoren, aus denen die Fakultät damals bestand, waren alters- und krankheitsbedingt kaum noch fähig, den Studienbetrieb aufrecht zu erhalten. Deswegen wurden sie von der Regierung zur Ruhe gesetzt, und es kamen die relativ jungen Theologen Emil Schürer, Ferdinand Kattenbusch, Adolf Harnack und (etwas später) Johannes Gottschick nach Gießen. Die Pensionierung der Gießener Veteranen und die Berufung der Ritschlschüler Harnack, Kattenbusch und Gottschick an ihrer statt wurden vom theologischen Liberalismus als kaltblütiger Feldzug der neuen Göttinger Schule inszeniert.27 Kattenbusch erinnerte sich später gerne an die Zeit, in der die auffallend junge Fakultät den Studienbetrieb wieder auf die Höhe brachte.28 Aber Harnack wurde 1886 nach Marburg wegberufen, Schürer ging 1890 nach Kiel, Gottschick 1892 nach Tübingen. Kattenbusch hingegen bekam sehr lange Zeit keinen weiteren Ruf29 und blieb 25 Jahre 24 Ferdinand Kattenbusch: Kritische Studien zur Symbolik im Anschluß an einige neuere Werke, in: ThStKr 51 (1878), 94 – 121 und 179 – 253. 25 Vgl. Ritschl, Kattenbusch (s. o. Anm. 5), 295. 26 Wilhelm Gaß: Symbolik der griechischen Kirche, Berlin 1872; Wilhelm Herrmann: Gregorii Nysseni sententiae de salute adipiscenda, Halle 1875. 27 Vgl. Weinhardt, Ritschl – Kattenbusch (s. o. Anm. 3), 9 – 12. 28 Vgl. Joachim Weinhardt (Hg.): Albrecht Ritschls Briefwechsel mit Adolf Harnack 1875 – 1889, Tübingen 2010, 479 – 482. 29 Schon bei der Berufung des Dogmatikers nach Gießen im Jahr 1878 hatte Ritschl Herrmann für geeigneter gehalten als Kattenbusch. Vgl. Weinhardt, Ritschl – Kattenbusch (s. o. Anm. 3), 11 f. Auch 1885, als die großherzogliche Regierung von Baden einen Ritschlschüler nach Heidelberg berufen wollte, trauten Ritschl und Herrmann es Kattenbusch weniger als Hans Hinrich Wendt zu, im theologisch liberalen Heidelberg den Göttinger Standpunkt als Protagonist zu vertreten. Vgl. Christophe Chalamet, Peter Fischer-Appelt und Joachim Weinhardt in Zusammenarbeit mit Theodor Mahlmann (Hg.): Albrecht Ritschl – Wilhelm Herrmann. Briefwechsel 1875 – 1889, Tübingen 2013, 359 – 362. 1896 zerschlug sich die Aussicht auf einen Ruf nach Halle, weil Martin Kähler sich dagegen sträubte. Vgl. Kattenbusch an Harnack, 16. 10. 1896, StB Berlin, Nachlass Harnack, K 34. Johannes Gottschick hatte die Nichtberufung Kattenbuschs darauf zurückgeführt, dass seine Vorlesungen wohl etwas langweilig geworden
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lang in der Stadt an der Lahn (WS 1878/79 bis WS 1903/04). Zwei Gründe für diese Stagnation in seiner Laufbahn lassen sich angeben: Zum einen litt er anhaltend an einer diffusen Kränklichkeit, die ihn oft am Arbeiten hinderte30 Zum anderen veröffentlichte er aufgrund einer übergroßen Gründlichkeit deutlich weniger als seine gleichaltrigen Kollegen.31 Dann kam 1903 doch noch ein Ruf nach Göttingen. Kattenbusch folgte ihm 1904 aus Pflichtbewusstsein, nicht aus Neigung:32 Dann sollte er 1906 auf Wunsch des Kultusministeriums nach Halle wechseln, als Nachfolger des verstorbenen Max Reischle, ebenfalls ein Ritschlianer. Gerne verließ Kattenbusch Göttingen nicht. Seinem zukünftigen Fakultätskollegen Friedrich Loofs teilte er mit, dass sein stärkster Grund für den Wechsel nach Halle die positionelle Verwandtschaft mit ihm sei.33 Kattenbusch, der zeitlebens Junggeselle blieb, bezog in Halle eine gemeinsame Wohnung mit seiner Stiefmutter, einer Schwester seiner leiblichen Mutter, sowie mit einer ledigen Schwester. Letztere führte ihm bis zu ihrem Tod den Haushalt.34 Seine Hoffnungen für den Neuanfang in Halle erfüllten sich nur zum Teil.35 Die Harmonie mit Friedrich Loofs stellte sich auch nicht in dem erhofften Umfang ein. Zwar gaben die beiden konservativen Ritschlianer seit 1911 gemeinsam die Theologischen Studien und Kritiken heraus. Aber persönlich gab es auch heftige Reibereien und Enttäuschungen.36
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seien. Vgl. Gottschick an Wilhelm Herrmann am 12. 4. 1896 (UB Marburg, Hs 691 – 292). Schon 1889 tat ihm sein Gießener Kollege leid, weil er keine Aussichten auf die Nachfolge Albrecht Ritschls in Göttingen habe. Vgl. Gottschick an Wilhelm Herrmann am 10. 5. 1889 (UB Marburg, Hs 691 – 284). Vgl. Weinhardt, Ritschl – Kattenbusch (s. o. Anm. 3), 29.37.54.62 f.80.93.95 f.100 und 105. Ritschl, Kattenbusch (s. o. Anm. 5), 290 berichtet über Kattenbusch: „Schon in seinen jungen Jahren war er, vielleicht etwas zu sehr, besorgt um seine zarte Gesundheit.“ Möglicherweise war Kattenbuschs Kränklichkeit angeboren. Über seine Mutter schrieb er: „Sie ist nicht alt geworden, starb 1868 […] Fast immer kränklich, hat sie doch acht Kindern das Leben gegeben.“ Kattenbusch, Selbstdarstellung (s. o. Anm. 2), 88. Vgl. dazu Ritschl, Kattenbusch (s. o. Anm. 5), 300 f. und Kattenbusch, Selbstdarstellung (s. o. Anm. 2), 113 f. sowie Weinhardt, Ritschl – Kattenbusch (s. o. Anm. 3) 74.78.92 und 98. Kattenbusch an Heinrich Weinel am 30. 7. 1903 und am 22. 11. 1904 (LUB Jena, Nachlass Weinel, Vb). Kattenbusch an Friedrich Loofs am 4. 8. 1906 (UB Halle, Yi 19 IX, 1989). Kattenbusch an Karl Ludwig Schemann am 28. 7. 1933 (UB Freiburg, Nachlass Schemann IV B 1/2). Die Stiefmutter starb 1917. 1933 waren alle Geschwister Kattenbuschs außer der Schwester in seinem Haushalt gestorben, nur ein Neffe und eine Nichte lebte noch in Düsseldorf, vgl. ebd. Kattenbusch an Edward Schröder am 28. 4. 1911 (UB Göttingen, Cod. Ms. E. Schröder 466): „Es wäre von mir seinerzeit auch klug gewesen, den Ruf auszuschlagen. Obwohl hier in Halle viel Gutes ist, gedeihe ich hier in dem flauen Klima je länger je schlechter.“ 1909 wollte es nicht gelingen, die Vorlesungszyklen von Kattenbusch und Loofs zu beider Zufriedenheit einzurichten. Vgl. Kattenbusch an Friedrich Loofs am 4. 12. 1909 (UB Halle, Yi 19 IX 1993): „[…] Ich will das ‚freundschaftlich‘ nicht betonen, denn was Reischle Ihnen war,
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Zu Ostern 1921 wurde Kattenbusch von seinem Amt entpflichtet. Die Briefe aus seiner letzten Lebensphase zeugen von zunehmender Kränklichkeit und Vereinsamung. Darüber hinaus litt er sehr unter der politischen Lage nach dem Krieg. Nach 1918 versiegte seine literarische Produktion in auffälliger Weise. Kurz vor seinem 70. Geburtstag beschwerte er sich bei Adolf Harnack über Martin Rade, den umtriebigen Herausgeber der Christlichen Welt: „Noch ein Wort über Rade. Ich hätte mich nicht so scharf äußern sollen. Der Kern in ihm ist gut. Fast noch mehr als sein kirchenpolitisches Verhalten reizt mich sein Pazifismus. In der Zeit des Zusammenbruchs war er schrecklich; ich schrieb ihm damals ganz entsetzt, wie er so empfindungslos sein, mindestens sich erscheinen lassen könne. In der Christlichen Welt war damals alles darauf gestimmt, jetzt komme die große Versöhnung; keine Silbe, die Schmerz über Deutschlands Sturz verriet. Natürlich erhielt ich nur eine kurze Abweisung. Aber ich denke, mit der Zeit werde ich doch wieder Fühlung mit ihm gewinnen. Im Augenblick, glaube ich, grollt er mir schwer […] Meine Kraft, zumal auch meine seelische Kraft hat einen Sprung bekommen. Immer wieder entschließe ich mich von meinem Altersrechte Gebrauch zu machen, Menschen und Dinge nicht mehr bestimmen zu wollen. Aber die schreckliche Überreizung der Nerven, die ich ja nicht allein habe, überwältigt mich immer wieder. Ich ertrage mich sehr widerwillig.“37
Im April 1930, nach den Festlegungen der deutschen Reparationszahlungen im Young-Plan und während der Weltwirtschaftskrise, schrieb Kattenbusch: „Und unsere Volkslage – Wir haben keine Vandalen im Lande, aber sind unsere Feinde besser? Und kann man ohne Jammer im Herzen dem zusehen, was bei uns im Volks-
bin ich Ihnen nicht, und deßhalb wäre es von mir unbillig, an ‚Freundschaft‘ zu appellieren. […] Daß Sie auch neulich wieder das Argument brachten, es könne mir ja gleichgültig sein, ob ich mehr oder weniger Zuhörer hätte, schmerzte mich! Ich bin nur nach Halle gekommen in der Hoffnung, auch noch mal eine Art von „großer“ Dozententätigkeit üben zu können […]“. 1914 stritten sich die beiden in einer Fakultätssitzung heftig, weil es in den Notexamina nach Kriegsausbruch nur noch schlechte Zensuren, aber kein Durchfallen mehr geben sollte. Loofs war mit dieser Regelung einverstanden, Kattenbusch hielt sie für eine „Farce“. Gleich nach der Sitzung entschuldigten sich beide brieflich beieinander (Loofs an Kattenbusch am 5. 10. 1914, Briefentwurf, UB Halle, Beilage zu Yi 19 IX, 1996; Kattenbusch an Loofs am 6. 10. 1914, UB Halle, Yi 19 IX, 1996). Auf Loofs’ Gratulationsbrief zu seinem 70. Geburtstag antwortete Kattenbusch: „Sie berühren es, daß ja auch dies und das Mal Reibungen zwischen Ihnen und mir entstanden sind. Wie sollte es anders sein, da unsere Art ja eine mannichfach verschiedene ist und jeder von uns ihr unter Umständen auch da nachgegeben hat, wo er sie hätte zurückdrängen sollen. Ich weiß, daß ich Ihnen oft an mir zu tragen gegeben habe und es ist mir garnicht anklägerisch zu Sinn, wenn Sie sich auch zum Teil mir gegenüber haben gehen lassen. So was wird wohl auch in Zukunft bei uns beiden vorkommen. Naturam expellas furca tamen usque recurret. Letztlich wissen wir beide, daß unser ‚natürliches‘ Wesen der Nachsicht bedarf und dürfen von uns selbst, darum auch von einander, glauben, daß unser natürliches nicht unser ganzes Wesen ist.“ (Kattenbusch an Loofs am 24. 10. 1921; UB Halle, Yi 19 IX, 2003). 37 Kattenbusch an Friedrich Loofs am 6. 3. 1920 (UB Halle, Yi 19 IX, 2001).
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leben sich abgespielt hat, täglich zeigt und in Zukunft, wenn Gott nicht Wunder an uns tut, noch schrecklicher werden wird. Ich weiß, daß wir politisch nicht übereinstimmen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie frohen Herzens durch die Zeit gehen. Im Alter stehen wir so nahe, daß wir gewiß beide gleich sehr auf baldiges Sterben gefaßt sind. Mich hält nichts mehr am Leben fest, als die Sorge um meine Schwester, die ja nicht Witwe sein wird, Pension nicht hat. Da suche ich tapfer zu sein im Glauben, bin’s aber nicht immer.“38
Aufgrund dieser Andeutungen nimmt es nicht Wunder zu sehen, dass Kattenbusch aus der nationalsozialistischen Machtergreifung Hoffnung schöpfte, auch wenn er die Gegenwart als ‚nicht durchsichtig‘ einschätzte. Am 12. Juli 1933, nach dem Ermächtigungsgesetz, der Gleichschaltung der Länder und dem Gesetz „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ schrieb er: „Ich blicke in der jetzigen fast überreichen und doch auch zum Teil nicht durchsichtigen Zeit ruhig dem letzten ‚Rufe‘ entgegen. Ich habe wieder Hoffnung für Deutschland. Aber oft habe ich das Gefühl, ich sei schon nicht mehr ‚dabei‘.“39 Am Ende des Schicksalsjahres teilte er Karl Barth mit: „‚Deutscher Christ‘ bin ich natürlich nicht, aber ich meine doch, daß wir unser Deutschtum so bei ‚Christentum‘, richtiger: Wort Gottes bzw. Christus mit im Sinn haben müssen, daß wir unser Volkstum und unsere ‚Nation‘ in der Eigenart des Wesens, das beide haben, innerlich erreichen durch unsere Predigt, Seelsorge, und, ja auch, durch unsere Theologie.“40
Am Kirchenkampf nahm er nicht mehr teil: „Als fast 84jähriger, der täglich von Gott abberufen werden kann, jedenfalls nicht mehr mit ‚erlebt‘, wie die traurigen Wirren von heute praktisch zum Abschluß kommen, fühle ich mich verpflichtet, ‚möglichst‘ außerhalb der Parteien zu bleiben. Es ist eine Zeit des Gerichts für unsere deutsche evangelische Kirche, in der wir stehen.“41 Kattenbusch starb am 28. Dezember 1935.
38 Kattenbusch an Adolf Harnack am 26. 4. 1930 (StB Berlin, StPK, Nachlass Harnack, K 34). An Weinel hieß es im gleichen Jahr: „[…] Nicht als ob ich krank wäre, lahm oder dergleichen. Und doch fühle ich meine 78 Jahr sehr, bin immer müde. Im Grunde auch lebensmüde. Die Gegenwart bietet mir keine Freude. Ich halte zu keiner Partei. Gerade das hat auch was Drückendes.“ (Kattenbusch an Heinrich Weinel im Januar 1930, ULB Jena, Nachlass Weinel, Vb – genaues Datum durch Lochung der Postkarte unleserlich). 39 Kattenbusch an Karl Ludwig Schemann am 12. 7. 1933 (UB Freiburg, Nachlass Schemann IV B 1/2). 40 Kattenbusch an Barth am 14. 12. 1933. Abgedruckt bei: Joachim Weinhardt: Ritschlschule und Barthianismus. Ferdinand Kattenbusch im Gespräch mit Karl Barth, in: Albrecht Beutel und Reinhold Rieger (Hg.): Religiöse Erfahrung und wissenschaftliche Theologie. Festschrift für Ulrich Köpf zum 70. Geburtstag, Tübingen 2011, 537, Anm. 21. 41 Ebd., 537.
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2. Kattenbuschs literarisches Werk ist umfangreich und weit gefächert. Die wichtigsten seiner Veröffentlichungen hat er in seiner Selbstdarstellung aufgelistet und teilweise kommentiert.42 Zu diesen 80 Texten kommen noch mindestens 150 weitere Publikationen hinzu (zumeist Artikel in Wörterbüchern oder sehr ausführliche Buchvorstellungen) sowie mehr als 350 Rezensionen im üblichen Umfang (vorwiegend in der Theologischen Literaturzeitung). Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auch nur einen vollständigen Überblick über die Forschungsthemen Kattenbuschs zu gewinnen.43 Ich beschränke mich daher auf die Disziplin, die im Zentrum von Kattenbuschs schriftstellerischem Werk steht (die Konfessionskunde), und auf ein einzelnes Buch, das er in zahlreichen Auflagen erweiterte und aktualisierte. Schon in den bereits erwähnten Kritischen Studien zur Symbolik hatte Kattenbusch die Ansicht vertreten, dass sich die Eigenart der drei großen Konfessionen am besten unter dem Gesichtspunkt ihrer Auffassung von der ewigen Seligkeit erkennen lasse.44 Sein Darmstädter Vorstellungsvortrag vor den Königlichen Hoheiten (fällig nach der Gießener Berufung) führte diesen Gedanken unter dem Titel Der christliche Unsterblichkeitsglaube aus.45 Auch die umfangreichsten Bücher Kattenbuschs sind der Konfessionskunde gewidmet. 1892 erschien der erste Band des Lehrbuchs der vergleichenden Confessionskunde.46 Er behandelte die orthodoxe Kirche, deren konfessionelle Identität durch Athanasius von Alexandrien und Pseudodionysius Areopagita bestimmt sei. Harnack beurteilte das Buch so, dass es „die bisher unbekannteste Confession zur bestbekannten gemacht“ habe.47 Zwei weitere Bände über die römisch-katholische und die protestantische Kirche waren geplant. Aber als Vorarbeit dazu drängte sich Kattenbusch eine Untersuchung des apostolischen Glaubensbekenntnisses auf, woraus zwei dicke Bücher48 erwuchsen. Minutiös 42 Kattenbusch, Selbstdarstellung (s. o. Anm. 2), 119 – 121 (Bibliografie) und 107 – 118 (Kommentare). 43 Um nur ein Beispiel zu geben: Kattenbusch hat etwa die Ausgewählten Werke von Wladimir Sergejewitsch Solowjow sehr ausführlich und engagiert rezensiert in ThLZ 40 (1915), 378 – 381; 43 (1918), 39 – 44; 48 (1923), 89 – 92. 44 Kattenbusch, Selbstdarstellung (s. o. Anm. 2), 111. Vgl. ders.: Kritische Studien (s. o. Anm. 23), 110, 203 – 206 und 228 – 231. 45 Vgl. Ferdinand Kattenbusch: Der christliche Unsterblichkeitsglaube. Vortrag, gehalten in Darmstadt am 24. November 1880, Darmstadt 1881. 46 Kattenbusch, Lehrbuch (s. o. Anm. 7). 47 Ritschl, Kattenbusch (s. o. Anm. 5), 295. 48 Vgl. Ferdinand Kattenbusch: Das apostolische Symbol. Seine Entstehung, sein geschichtlicher Sinn, seine ursprüngliche Stellung im Kultus und in der Theologie der Kirche. Ein
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rekonstruierte er die Herkunft des Apostolikums aus einem römischen Taufbekenntnis und seine Ausbreitung im mittelalterlichen Frankenreich. Diese Arbeit kostete Kattenbusch „die beste Zeit [s]einer wissenschaftlichen Forschungskraft“. Deswegen sei der Verleger des Lehrbuchs der Confessionskunde „wild“ geworden und habe ihm den Vertrag gekündigt.49 Kattenbusch hat es sich gefallen lassen, als „Historiker unter den Systematikern und als Systematiker unter den Historikern“ bezeichnet zu werden.50 Wie diese Formel zu interpretieren ist, zeigt sich an seinen konfessionskundlichen Schriften: Die konfessionelle Identität der drei großen Kirchengruppen wird geschichtlich rekonstruiert, worin natürlich auch eine systematische Aufgabe liegt. Kattenbusch vollzog dabei aber höchstens implizit (oder am Rande auch einmal explizit) selbständige dogmatische Arbeit im Sinne von Wahrheitsverantwortung des Glaubens im Horizont des gegenwärtigen Wahrheitshorizonts. Er ist als Forscher eher Dogmenhistoriker als Dogmatiker, obwohl er als akademischer Lehrer die Dogmatik stets in vollem Umfang vertreten hat.51 In einem Buch jedoch hat Kattenbusch wenigstens die historischen Prolegomena zu einer Dogmatik gegeben. Diesem wenden wir uns im folgenden Abschnitt zu. 1892 veröffentlichte Kattenbusch einen Vortrag mit dem Titel Von Schleiermacher zu Ritschl.52 Damit wollte er der Orientierung über den gegenwärtigen Stand der Dogmatik dienen. Seit der vierten Auflage erschien das stetig erweiterte und aktualisierte Werk unter dem Titel Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher. Ihre Leistungen und ihre Schäden.53 Kattenbuschs eigene dogmatische Position, eine Variante von supranaturalistischer Offenbarungstheologie, spiegelt sich in der Grundthese seiner Theologiegeschichtsdarstellung wider. Demnach habe Schleiermacher zwar am Beginn des Jahrhunderts der evangelischen Theologie neue Wege aufgezeigt, sie dabei aber zuletzt doch auf eine schiefe Bahn gebracht. Erst Ritschl habe diese Fehlentwicklung entdeckt und korrigiert. Ritschls Prinzip der Offenbarungstheologie bedeutet nach Kattenbusch einen epochalen Bruch mit allen anderen kaiserzeitlichen Theologien. Denn sowohl
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Beitrag zur Symbolik und Dogmengeschichte, Bd. 1, Die Grundgestalt des Taufsymbols, Leipzig 1894; Bd. 2, Verbreitung und Bedeutung des Taufsymbols, Leipzig 1900. Kattenbusch, Selbstdarstellung (s. o. Anm. 2), 113. Weitere konfessionskundliche Schriften sind ebd., 119 f. verzeichnet. Ebd., 97. Die wenigen dogmatischen Aufsätze Kattenbuschs sind aufgelistet bei Kattenbusch, Selbstdarstellung (s. o. Anm. 2), 120 f. Ferdinand Kattenbusch: Von Schleiermacher zu Ritschl. Zur Orientirung über den gegenwärtigen Stand der Dogmatik, Gießen 1892, ²1893, ³1903. Ferdinand Kattenbusch: Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher. Ihre Leistungen und ihre Schäden, Gießen 41924, 51926, 61935 (jetzt in zwei Bänden).
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die liberalen als auch die konfessionell-orthodoxen und die Vermittlungstheologen haben von Schleiermacher ein subjektivistisches Prinzip übernommen: Sie waren allesamt Bewusstseinstheologen.54 Kennzeichnend sei für sie, dass „ein empirisch aufgenommenes Gefühl oder unmittelbares Selbstbewußtsein der Ausgangspunkt der Theologie“ sein müsse.55 Ritschl hingegen behandle als Quelle und Norm der Theologie „die heil. Schrift, die Offenbarung“. Sein leitender Gedanke sei, „daß es einen Glaubensgehorsam giebt und daß die Dogmatik nach der Offenbarung Gottes in Christo angiebt, worauf sich der Glaubensgehorsam zu beziehen hat.“ Ritschl entwickle „den gegebenen Gehalt der Offenbarung so, daß er dem Individuum zeigt, wonach es sich zu richten hat, um ein kirchlicher, evangelischer, lutherischer Christ heißen zu können.“56 Die „christliche Subjektivität“ habe sich nach der objektiven Offenbarungserkenntnis „zu bemessen und zu bescheiden“. Indem Ritschl die Schleiermachersche Methode aus der Theologie ausscheide, komme er zu einem archimedischen Punkt in der dogmatischen Prinzipienfrage. Schleiermachers Analyse des Selbstbewusstseins hingegen sei „die Mutter vieler Selbsttäuschungen und einer Unsumme von Rechthaberei in der Theologie“ geworden. „An Schleiermachers Methode haftet die große Gefahr, daß die Theologie sich fangen läßt von einer Stimmung in der Kirche, die der philiströsen Ueberzeugung, daß wir es so gar herrlich weit gebracht haben, entspringt und entspricht.“57 Dagegen werde bei Ritschl der Theologe, weil er nicht seine Erfahrung explizieren soll, „von vornherein auf die Norm des Glaubens“ hingewiesen, die von außen komme. „Einem Ritschlianer ist die Qual der Selbstanalyse erspart.“ Aber auch das kollektive Selbstbewusstsein der Kirche eigne sich nicht als theologische Erkenntnisquelle: „Die Kirche glaubt nicht an sich selbst, sondern an das Evangelium, an die Offenbarung, an Christus.“58 Dass Kattenbusch sich von diesem schroffen offenbarungstheologischen Standpunkt aus gegen Liberalisierungstendenzen gewendet hat, die um die Jahrhundertwende bei einigen anderen Ritschlschülern zu beobachten waren,59 wird niemanden wundern. Überraschend dürfte eher sein, dass Kattenbusch auch Karl Barth als einen Geistesverwandten des Göttinger Theologen darstellen konnte.60 Damit scherte er aus der Phalanx der Barthgegner unter den Ritschlschülern aus. Er nahm Barths Entwicklung in seiner Darstellung der TheoloVgl. Kattenbusch, Schleiermacher – Ritschl2 (s. o. Anm. 52), 23 f. und 75. Ebd., 24. Ebd., 75 f. Ebd., 83 f. Kattenbusch, Schleiermacher – Ritschl2 (s. o. Anm. 52), 86 f. Vgl. Joachim Weinhardt: Wilhelm Herrmanns Stellung in der Ritschlschen Schule, Tübingen 1996, 85.100 – 102.109.112 und 291 – 293. 60 Vgl. Weinhardt, Kattenbusch – Barth (s. o. Anm. 40), 533 – 560.
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giegeschichte von Anfang an wohlwollend zur Kenntnis und suchte auch in zahlreichen Briefen das freundschaftlich-kritische Gespräch mit dem Jüngeren.61 In den Briefen drückte Kattenbusch seine grundsätzliche Zustimmung zu Barth noch direkter aus als in seinem Buch. „Im Antagonismus zu Schleiermachers Methode theologischen Denkens begegnen wir uns und ebenso in der Gegenposition d. h. der Betonung des Gedankens der Offenbarung“. In den „Objektivitäten, um die es allein“ gehe, in den Fragen um die Offenbarung, das Wort Gottes, den Glauben und Gottes Willen, halte Kattenbusch im Grunde zu Barth. „Ihre Grundparole: fort von dem Selbstbeobachten des homo christianus oder gar blos religiosus zum ‚Wort‘, zur Offenbarung, zur Hinschau auf das, was Gott uns sage, nehme ich froh auf“. Kattenbusch meint sogar zeitweise, dass Ritschl und seine Schüler genau dieselbe Theologie vertreten hätten wie Barth, außer dass sie einen anderen Sprachstil übten.62 Am Ende musste Kattenbusch dann aber doch feststellen, dass Barth den Ritschl’schen Offenbarungsstandpunkt in biblizistischer und reformiert-orthodoxer Weise durchführte. Anstatt Luther favorisiere er Calvin, in der Gotteslehre stelle er nicht die Liebe, sondern die Prädestination in den Mittelpunkt, anstatt im Menschen Jesus den göttlichen Logos personifiziert zu sehen, orientiere er sich an den hellenistischen christologischen Formeln.63 Er erlebte nicht mehr, dass Barth in den späteren Bänden der Kirchlichen Dogmatik manche Kritik berücksichtigte, die er an ihm geübt hatte. So gelangte etwa Ritschls Einsicht, dass Gott wesentlich als die (personale) Liebe zu definieren sei, auch über Kattenbuschs Vermittlung in Barths Begriff von Gott als dem Liebenden in Freiheit.64
3. Kattenbusch hat im Alter von 78 Jahren sein Lebenswerk als Fragment bezeichnet.65 Kränklichkeit, vielleicht auch Ungeschicklichkeit in der Arbeitsplanung, haben ihn daran gehindert, seine Dogmatik öffentlich vorzulegen und zur 61 Unter anderem schrieb Wilhelm Bornemann am 27. 2. 1927 an Adolf Harnack, dass er Barths Römerbriefkommentar schlecht finde und sich über Kattenbuschs Wohlwollen gegenüber Barth wundere (StB Berlin, Nachlass Harnack, K 27). 62 Weinhardt, Kattenbusch – Barth (s. o. Anm. 40), 544 f. 63 Vgl. ebd., 545 – 548. 64 Vgl. ebd., 552 – 556. 65 Am 14. Nov. 1929 bedankte sich Kattenbusch beim Dekan der Göttinger Fakultät für die Erneuerung der Doktorgrad-Verleihung zum 50. Jubiläum mit den Worten: „[…] Ich bitte, daß Sie der hochwürdigen Fakultät meinen aufrichtigen herzlichen Dank übermitteln wollen, insonderheit für die überaus wohlwollende, mich fast beschämende Anerkennung meiner wissenschaftlichen Arbeit und Betätigung als Lehrer der akademischen Jugend. Ich selbst denke an beides nur mit dem Bewußtsein zurück, daß ich weit hinter dem zurückgeblieben
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Diskussion zu stellen. Sein umfangreicher wissenschaftlicher Nachlass in der Universitätsbibliothek Halle, darunter auch die Manuskripte seiner Vorlesungen über Dogmatik und Theologiegeschichte, wären es wert, einmal gründlich gesichtet und ausgewertet zu werden. Wir wissen inzwischen recht gut, wie Troeltsch, Herrmann, Harnack und andere erstrangige Theologen der Jahrhundertwende dachten. Kattenbusch hat anders gedacht, und sicher würde er sich nicht als einen erstrangigen Theologen bezeichnen. Vielleicht würden aber auch aus seinem Werk Anregungen zu gewinnen sein, die der gegenwärtigen Dogmatik „zur Orientierung“ dienen könnten.
Primärtexte Ferdinand Kattenbusch: Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher. Ihre Leistungen und ihre Schäden, Gießen 61935. –: Ferdinand Kattenbusch, in: Erich Stange (Hg.): Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Bd. 5, Leipzig 1929, 85 – 121. Joachim Weinhardt (Hg.): Albrecht Ritschl – Ferdinand Kattenbusch, Briefwechsel 1878 – 1889, Frankfurt a. M./New York 2000.
Sekundärtexte Otto Ritschl: Ferdinand Kattenbusch als Persönlichkeit, Forscher und Denker, in: ThStKr 107 (1936), 289 – 311. Joachim Weinhardt: Ritschlschule und Barthianismus. Ferdinand Kattenbusch im Gespräch mit Karl Barth, in: Albrecht Beutel und Reinhold Rieger (Hg.): Religiöse Erfahrung und wissenschaftliche Theologie. Festschrift für Ulrich Köpf zum 70. Geburtstag, Tübingen 2011, 533 – 560.
bin, was ich allzu zuversichtlich in jungen Jahren leisten und wirken zu können erhoffte und mir zutraute. Es ist Gottes Gnade, die ich dafür dankbar preise, daß ich habe erreichen können, was nun doch als bloßes Stückwerk vor mir steht […]“ (Der Brief liegt in Kattenbuschs Promotionsakten, s. o. Anm. 14).
Heiko Wojtkowiak
William Wrede (1859 – 1906)
1. „So habe ich immer die theologische Fakultät der Georgia Augusta in besonderem Sinne als meine geistige Heimat betrachtet.“1
Als William Wrede am 23. November 1906 im Alter von nur 47 Jahren stirbt, spendet die theologische Fakultät der Universität Göttingen einen Kranz für seine Beisetzung im schlesischen Breslau. In einem Dankschreiben hierfür bekundet Wredes Ehefrau Elisabeth: „Mein Mann hing stets mit besonderer Liebe an der Fakultät, an der er seine wissenschaftliche Laufbahn begann, und so war es mir eine wehmütige Freude, daß auch dort seiner so freundlich gedacht wurde.“2 Göttingen war die prägende Station für Wredes akademischen Werdegang. Hier verbrachte er die zweite Hälfte seines Studiums. In seiner Zeit als Inspektor des Theologischen Stifts wurde er von der entstehenden Religionsgeschichtlichen Schule maßgeblich geprägt. Schließlich wurde Wrede in Göttingen habilitiert und bekam nachträglich die Ehrendoktorwürde verliehen. Auch privat war Wrede Göttingen und dessen theologischer Fakultät verbunden. So heiratete er 1893 die Tochter des Göttinger Professors für Systematische Theologie und Altes Testament Hermann Schultz.
2. Georg Friedrich Eduard William Wrede wird am 10. Mai 1859 in Bücken bei Hoya geboren. Sein Vater Ernst Wrede, zunächst Rektor, sodann Pfarrer, unterrichtet den Sohn bis zu dessen fünfzehntem Lebensjahr selbst. Ab 1874 besucht William Wrede das Gymnasium in Celle, wo er zu Michaelis 1877 die Abiturprüfung 1 William Wrede: Dankschreiben für die Verleihung der Ehrendoktorwürde (14. 11. 1895), Universitätsarchiv Göttingen, Theol. Prom. 0634. 2 Elisabeth Wrede, Dankschreiben (30. 11. 1906), Universitätsarchiv Göttingen, Theol. PA 0024.
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Heiko Wojtkowiak
ablegt. Während seiner Schulzeit besonders zur Altphilologie und zur Mathematik hingezogen, entschließt Wrede sich dennoch zum Theologiestudium, welches er in Leipzig aufnimmt.3 Dort kommt er in Kontakt mit dem jungen Adolf von Harnack. Wrede ist 1878 Mitglied von Harnacks „Kirchenhistorischer Gesellschaft“, eines privaten Kreises, der sich um den gerade 27-jährigen Professor für Kirchengeschichte gebildet hat. Rückblickend auf diese nur kurze Phase seines Studiums4 redet Wrede positiv von „den Stunden, die ich so von Harnack und fast noch mehr von den Freunden empfangend erleben durfte“.5 Harnack habe „ein lebhaftes Interesse an der Kirchengeschichte“ in ihm geweckt. Mit dem SoSe 1879 beginnt der erste von drei jeweils mehrjährigen Aufenthalten Wredes in Göttingen. Wrede verbringt die letzten vier Semester seines Studiums an der Georgia Augusta. Die Göttinger Semester bezeichnet er rückblickend als „die gewinnbringendsten und schönsten meines Studiums“. Insbesondere Albrecht Ritschl hinterlässt hier einen besonderen Eindruck auf den jungen Wrede, der sich nach eigener Aussage gegen Studienende „selber für einen ‚Ritschlianer‘“ gehalten habe. Nach einer Tätigkeit als Privatlehrer in LeweLiebenburg und anschließendem Besuch des Predigerseminars im Kloster Loccum kommt Wrede zum Wintersemester 1884/85 als Inspektor des Theologischen Stifts erneut nach Göttingen. Auf diesen zweiten Aufenthalt in Göttingen wird unten näher einzugehen sein. Von Januar 1887 bis Herbst 1889 ist Wrede Pfarrer der Gemeinden Langenholzen und Hörsum bei Alfeld. Im Anschluss hieran kehrt er neuerlich nach Göttingen zurück mit dem Ziel, für seine Schrift „Untersuchungen zum Ersten Klemensbriefe“ sowohl promoviert als auch habilitiert zu werden. In diesem Zusammenhang begegnet eine Besonderheit der Göttinger Promotions- und Habilitationsordnung, die einige Jahre später für Wrede relevant werden sollte. Die theologische Fakultät vergab seinerzeit den Titel eines nur Doktors ehrenhalber; mit der regulären Promotion wurde lediglich der Grad eines Lizentiaten (Lic. theol.) erlangt. Gleichzeitig gab es die Möglichkeit, sich mit der zur Promotion eingereichten Schrift auch zu habilitieren, sofern die Schrift zur gleichzeitigen Habilitation als ausreichend erachtet wurde. Hierfür musste der Kandidat zusätzlich eine Disputation und einen Vortrag zu einem von drei zuvor eingereichten Themen halten.6 Wredes Dis3 Vgl. William Wrede: Lebenslauf (3. 9. 1884), in: Gerd Lüdemann und Martin Schröder: Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen, Göttingen 1987, 106. Zu den biografischen Angaben vgl. auch Lüdemann/Schröder, Religionsgeschichtliche Schule, 91. 4 Hierbei dürfte es sich nur um ein Semester gehandelt haben, da nach Wredes Aussage der Kontakt zu Harnack und dessen Umfeld erst im dritten Semester (WS 1878/79) entstand. Vgl. Wrede: Lebenslauf, 107. Nach diesem Semester verließen sowohl Harnack als auch Wrede Leipzig. 5 Wrede, Lebenslauf (s. o. Anm. 4) 107. Dort auch die folgenden Zitate. 6 Zur Promotions- und Habilitationsordnung vgl. Hans-Joachim Dahms: Stationen der Theologenkarriere bei den Mitgliedern der Religionsgeschichtlichen Schule, in: Lüdemann/
William Wrede (1859 – 1906)
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putation findet am 21. Februar 1891 statt. Opponenten sind Johannes Weiß und der Stiftsinspektor Heinrich Hackmann.7 Am 10. März erhält Wrede die venia legendi für zunächst zwei Jahre. Zum SoSe 1893 wird er zum außerordentlichen Professor für Neues Testament an die Universität Breslau berufen. Als er dort zwei Jahre später ordentlicher Professor werden soll, erweist sich jedoch der aufgrund der Göttinger Promotionsordnung fehlende Doktortitel als Hindernis. Obwohl bereits „zum ordentlichen Professor an der ev-theol. Facultät zu Breslau ernannt“, wird Wrede jedoch „nach den dortigen Statuten in die Fakultät nicht aufgenommen […], ohne Doktor der Theologie zu sein“.8 Die Ernennung droht infolgedessen unwirksam zu werden. Daher beschließt die theologische Fakultät Göttingen die Verleihung der Ehrendoktorwürde, sie erfolgt noch 1895.9 Anschließend wirkt Wrede bis zu seinem frühen Tod als Professor in Breslau.
3. Wredes erster Kontakt mit dem Theologischen Stift fällt in seine Göttinger Studienzeit, in der er zumindest zeitweise im Stift wohnt.10 Hierzu findet sich eine Bemerkung in Wredes Bericht über sein erstes Jahr als Stiftsinspektor, wo es heißt: „Solange ich als Studierender dem Stifte angehörte, war es allerdings Regel, daß jeden Abend ein Referent ein Elaborat vortrug.“11 Der nächste nachweisbare Kontakt Wredes mit dem Stift ist sein Antritt der Inspektorenstelle
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Schröder, Religionsgeschichtliche Schule (s. o. Anm. 3), 141 – 143 und Friedrich-Wilhelm Graf: Licentiatus theologiae und Habilitation, in: ders. und Horst Renz (Hg): TroeltschStudien. Untersuchungen zur Biografie und Werkgeschichte. Mit den unveröffentlichten Promotionsthesen der „Kleinen Göttinger Fakultät“, Gütersloh 1982, 88 – 93. Es handelte sich Graf zufolge um keine eigene Promotions- und Habilitationsordnung der theologischen Fakultät, sondern das Verfahren richtete sich nach den durch verschiedene Regulativa ergänzten „Statuta Facultatis Acedemia Georgia Augusta“ von 1737. Vgl. ebd., 88. Vgl. William Wrede: Thesen zur Erlangung der Theologischen Licentiatenwürde, in: Graf/ Renz, Troeltsch-Studien (s. o. Anm. 6), 301 f. Dass die Opponenten ebenfalls Mitglieder der Religionsgeschichtlichen Schule sind, ist nicht nur bei Wrede der Fall. So sind Wrede und Ernst Troeltsch Opponenten Wilhelm Boussets bei dessen Disputation, Bousset und Alfred Rahlfs agieren wiederum als Opponenten Troeltschs etc. Vgl. Gerd Lüdemann: Die Religionsgeschichtliche Schule, in: Bernd Moeller (Hg.): Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, Göttingen 1987, 327). Emil Schürer und Paul Tschackert: Antrag auf Ernennung zum Ehrendoktor (28. 10. 1895), Universitätsarchiv Göttingen, Theol. Prom. 0634. Offenbar war große Eile geboten. Der Antrag auf Ernennung zum Ehrendoktor erfolgt am 28. Oktober 1895, Wredes Dankschreiben für die Verleihung der Ehrendoktorwürde datiert bereits vom 14. November des gleichen Jahres. Vgl. Wrede, Dankschreiben (s. o. Anm. 1). Nach Lüdemann/Schröder, Religionsgeschichtliche Schule (s. o. Anm. 3), 45 sollen sowohl Wrede als auch Wilhelm Bornemann 1880/81 Stiftsbewohner gewesen sein. William Wrede: Jahresbericht (15. 10. 1885), Universitätsarchiv Göttingen, Theol. SA 0128a.1., 29.
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am 1. Oktober 1884. Neben neutestamentlichen Übungen zum Galater- und Epheserbrief bietet Wrede vor allem Übungen zu reformatorischen Schriften an. So sind Übungen zur Apologie der Confessio Augustana, zu Melanchthons Loci communes sowie zur Konkordienformel belegt.12 Aus Wredes erstem Jahresbericht geht seine Sorge um die Förderung der akademischen Ausbildung der Studierenden hervor, insbesondere hinsichtlich des wissenschaftlichen Schreibens. Aufgrund dieser Sorge verweist er zwar einerseits auf die Verbesserung der Stiftsübungen dadurch, dass im Gegensatz zu seiner Zeit als Stiftsbewohner keine schriftlichen Referate mehr gefordert werden. Andererseits aber bittet er die Fakultät darum, die Stiftler zu einer von den Übungen unabhängigen schriftlichen Ausarbeitung pro Semester zu verpflichten.13 Wrede bekleidet die Inspektorenstelle insgesamt vier Semester bis zum SoSe 1886. Noch während seines Inspektorats, im Januar 1886, legt er die zweite theologische Prüfung ab. Wredes Zeit als Stiftsinspektor ist gleichzeitig diejenige Zeit, in welcher die Anfänge derjenigen theologischen Bewegung liegen, welche später als Religionsgeschichtliche Schule bezeichnet werden sollte. Es handelt sich um eine für Wrede theologisch prägende Zeit. Seit 1884 bereitet sich Albert Eichhorn in Göttingen auf seine Habilitation an der Universität Halle vor. Mit ihm verkehrt Wrede vor allem im „Akademisch-Theologischen Verein“, wo Eichhorn bei den wöchentlichen Vortrags- und Diskussionsabenden massiven Eindruck auf die Teilnehmer hinterlässt. Eichhorns kritische Haltung nicht zuletzt gegen Ritschl scheint dabei ebenso von Bedeutung wie die von ihm ausgehenden religionsgeschichtlichen Impulse.14 Auch Hermann Gunkel, der während Wredes erstem Inspektoratssemester Stiftsbewohner ist, stößt zu dem Verein hinzu. Dieser trifft sich im Café Cron&Lanz15 ; es besteht offenbar kein direkter Kontakt zum Theologischen Stift. Gleichsam erwähnt Wrede den Verein in seinem Inspektorenbericht als eine Institution, welche Studierenden „die Gelegenheit zur Anfertigung wissenschaftlicher Arbeiten gewähr[e]“.16 Wrede, Eichhorn und Gunkel besuchen außerdem Vorlesungen Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs. Der Altphilologe beeinflusst die späteren Mitglieder der Religionsgeschichtlichen Schule durch seine Idee einer umfassenden Altertumskunde, die neben Philologie auch alte Geschichte, Archäologie und weitere Wissenschaften einbezieht, sowie durch seine verstärkte Behandlung der nachklassischen Zeit.17 12 Vgl. Wredes Meldungen der Übungen an die theologische Fakultät, Universitätsarchiv Göttingen, Theol. SA 0128a.1. 13 Wrede, Jahresbericht (s. o. Anm. 11), 29 f. 14 Vgl. Konrad Hammann: Hermann Gunkel. Eine Biografie, Tübingen 2013, 27. 15 Vgl. ebd., 24. 16 Wrede, Jahresbericht (s. o. Anm. 11), 30. 17 Vgl. Lüdemann/Schröder, Religionsgeschichtliche Schule (s. o. Anm. 3), 35 f. und Hammann, Gunkel (s. o. Anm. 14), 23.
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Inwieweit konkrete theologische Positionen Wredes schon in Göttingen geprägt werden, wird an einzelnen Punkten exemplarisch zu zeigen sein.
4. Trotz seines frühen Todes liegen von Wrede bedeutende Arbeiten zu verschiedenen neutestamentlichen Themenbereichen vor. So setzt er sich in der gleichnamigen Studie mit der Frage der Echtheit des 2. Thessalonicherbriefs auseinander und legt die Gründe für die Annahme eines deuteropaulinischen Ursprungs dar.18 Zeitgleich zu dieser Studie erschien Wredes kompakte Abhandlung zu „Charakter und Tendenz des Johannesevangeliums“.19 Die Form einer exemplarischen Einführung in Wredes Werk bedingt eine Einschränkung auf einzelne Schriften und Themen. Im Folgenden soll daher zunächst anhand zweier Schriften Wredes Bezug zur Religionsgeschichtlichen Schule und damit seine maßgebliche Prägung durch eine Göttinger theologische Strömung aufgezeigt werden. Anschließend werden die Grundgedanken seiner beiden exegetischen Hauptwerke, seiner Untersuchung des Messiasgeheimnisses und seines Paulusbuchs, dargestellt.
4.1
Wrede als Repräsentant der Religionsgeschichtlichen Schule
In einem Vortrag vor dem „Neuen theologischen Verein zu Breslau“ begründet Wrede die Legitimation der Religionsgeschichte als eines Teils des theologischen Studiums und erläutert, welche Chancen sich durch eine breite Berücksichtigung anderer Religionen für die Theologie ergeben. Die Legitimation der Frage, inwieweit andere Religionen auf das Urchristentum eingewirkt haben, ergibt sich für Wrede von selbst aus der historisch-kritischen Sicht auf das Neue Testament. So sei ein solcher Einfluss höchst plausibel, solange man nicht von einer Verbalinspiration der neutestamentlichen Schriften ausgehen wolle.20 Für die Legitimation des religionsgeschichtlichen Vergleichs spreche zudem das Verhältnis des Urchristentums zum Spätjudentum: „Wenn es sicher ist, daß das Spätjudentum von fremder Religion berührt ist, wenn es sicher ist, daß das Christentum vom Spätjudentum beeinflußt ist, dann ist Herleitung 18 William Wrede: Die Echtheit des zweiten Thessalonicherbriefs, Leipzig 1903. 19 William Wrede: Charakter und Tendenz des Johannesevangeliums (1903), in: ders.: Vorträge und Studien, Tübingen 1907, 178 – 231. 20 Vgl. William Wrede: Das theologische Studium und die Religionsgeschichte. Ein Vortrag im Neuen theol. Verein zu Breslau am 2. Nov. 1903, in: ders.: Vorträge, 75.
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christlicher Ideen aus den Religionen des Orients, wo sie sachlich nahegelegt wird, ein legitimes Verfahren, so gut wie die gleiche Herleitung bei althebräischen Vorstellungen.“21
Als positive Folge religionsgeschichtlicher Studien erwartet Wrede eine Objektivierung der eigenen Religion. So lasse sich auf diese Weise „das Auge schärfen für die Erkenntnis all der verschiedenartigen Religionsstufen und Religionscharaktere, die in dem Ganzen der israelitischen und christlichen Religionsentwicklung sich finden“.22 Es werde „deutlich, was original oder spezifisch ist im Christentum und was nicht“. Der Befürchtung, die eigene Religion, das Christentum, werde hierdurch relativiert, stellt Wrede die Hoffnung entgegen, Freude auch an den Phänomenen anderer Religionen zu erlernen. Es gelte: „Echte Religion soll man lieben, wo immer man sie findet“. Das Spezifikum von Wredes religionsgeschichtlichem Ansatz liegt allerdings weniger in der allgemeinen Bedeutung, welche er der Religionsgeschichte für die Theologie und insbesondere die Erforschung des Neuen Testaments zuweist, sondern im Konzept einer konsequenten Neuausrichtung der neutestamentlichen Wissenschaft. In seiner programmatischen Schrift „Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie“ fordert Wrede einen grundlegenden Perspektivwechsel weg von einer Konzentration auf die einzelnen neutestamentlichen Schriften und deren Verfasser hin zu einer schriftenübergreifenden Untersuchung der theologischen Themen und Motive. Der Aufweis, wie sich diese Themen und Motive entwickelt haben – und damit die Rekonstruktion der urchristlichen Religions- und Theologiegeschichte – solle Aufgabe der bisher als Neutestamentliche Theologie bezeichneten Disziplin sein.23 Als künftigen Namen schlägt Wrede dementsprechend „urchristliche Religionsgeschichte bzw. Geschichte der urchristlichen Religion und Theologie“ vor.24 Ein derart neuer Name ist auch insofern erforderlich, als mit dem Perspektivwechsel notwendigerweise die Beschränkung auf die Untersuchung allein neutestamentlicher Texte entfällt. Vielmehr ist die zeitgenössische außerbiblische Literatur (inkl. der Apostolischen Väter) ebenfalls heranzuziehen, sofern sie helfen kann, die urchristliche Religionsund Theologiegeschichte zu rekonstruieren.25 Aufschlussreich für die Entwicklung von Wredes Denken in seiner Göttinger Zeit ist, dass zwei zentrale Punkte dieses Ansatzes bereits 1891 in seinen Göttinger Habilitationsthesen begegnen.26 Zum einen begegnet dort bereits die 21 Ebd., 75. 22 Ebd., 80. Die folgenden Zitate ebd., 81 und 82. 23 Vgl. William Wrede: Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, Göttingen 1897, 49 – 52. 24 Ebd., 80. 25 Vgl. ebd., 58 – 61. 26 Zum Sprachgebrauch „Promotions-/Habilitationsthesen“ vgl. Graf, Licentiatus (s. o. Anm. 6),
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Forderung nach Überschreitung der Kanongrenze: „Ein Lexikon zum N.T. genügt dem wissenschaftlichen Bedürfnis nur dann, wenn es nach rückwärts die spätjüdische Literatur, nach vorwärts die apostol. Väter mit umfasst“ (These 9). Zum anderen klingt schon die mit Wredes Forderung einer Neuausrichtung der neutestamentlichen Wissenschaft verbundene Auseinandersetzung mit der Literarkritik an: „Im akademischen Unterrichte darf für die Behandlung des N.T. das quellenkritische Moment nicht den Raum einnehmen, der ihm für die Forschung zukommt“ (These 10).27 In beiden Punkten steht Wrede mit Hermann Gunkel und Wilhelm Bousset zwei weiteren Vertretern der Religionsgeschichtlichen Schule nahe.28 Der erste Punkt berührt sich ausgesprochen eng mit einer der Habilitationsthesen Albert Eichhorns: „Die NTl. Einleitung muß urchristliche Literaturgeschichte sein“29 (These 3). Diese für Wrede methodisch zentrale Position war ihm somit bereits seit seiner Zeit als Stiftsinspektor durch den Kontakt mit Eichhorn zumindest vertraut.
4.2
Das Messiasgeheimnis
Das bei weitem wirkungsreichste Werk Wredes ist seine Studie „Über das Messiasgeheimnis in den Evangelien“. In dieser Studie wird zum einen die Konsequenz deutlich, mit der Wrede die historisch-kritische Methode auf das urchristliche Zeugnis anwendet; zum anderen wird exemplarisch die von ihm geforderte schriftenübergreifende Untersuchung der religiösen Themen und Motive, mit dem Ziel, deren geschichtliche Entwicklung darzustellen, erkennbar. In Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Leben-Jesu-Forschung stellt Wrede den Gedanken der „Selbstverhüllung des Messias“ Jesus als unhistorisch heraus.30 Dieser Gedanke, der insbesondere bei Markus in den Schweigegeboten an die Jünger (Mk 8,30 und 9,9) und an die Jesus als Messias erkennenden Dämonen (Mk 1,25 und 34; 3,12) sowie in den Verbreitungsverboten nach Heilungen (Mk 1,44; 5,43; 7,36; vgl. auch 8,26) begegne, spiegle nicht die Erinnerung an ein Handeln des historischen Jesus wider.31 Vielmehr sei der Gedanke
27 28 29
30 31
93. Die Disputation war Teil eines erweiterten Promotionsverfahrens, allerdings nur im Falle einer mit der Promotion verbundenen Habilitation erforderlich. Vgl. Wrede, Aufgabe (s. o. Anm. 23), 25 – 28. Vgl. Lüdemann/Schröder, Religionsgeschichtliche Schule (s. o. Anm. 3), 354 – 355. Ernst Barnikol: Albert Eichhorn. Sein „Lebenslauf“, seine Thesen 1886, seine Abendmahlsthese 1898 und seine Leidensbriefe an seinen Schüler Erich Franz (1913/1919) nebst seinen Bekenntnissen über Heilige Geschichte und Evangelium, über Orthodoxie und Liberalismus, in: WZ(H). GS 9 (1960), 144. William Wrede: Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums (1901), Göttingen 31963, 22. Vgl. ebd., 33. Weitere Motive sieht Wrede in Jesu „Absicht, das Inkognito zu wahren“ (ebd.,
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nachösterlichen Ursprungs und diene der Bewältigung einer theologischen Fragestellung. Gegen den Versuch, die Bedeutung eines Verhüllens der Messianität für den historischen Jesus zu rekonstruieren, weist Wrede auf unausgleichbare Spannungen hin, vor denen derartige Rekonstruktionsversuche stehen. So ließen sich Schweigegebote im Anschluss an öffentlich verrichtete Wunder historisch kaum plausibel machen. Diese Spannung werde verstärkt durch die wiederholte Durchbrechung der Gebote (Mk 1,45 und 7,36). Auch die Selbstbezeichnung Jesu als Menschensohn in Mk 2,20 und 28 spreche gleichermaßen gegen eine von Markus konzipierte wie gegen eine historische Entwicklung, im Rahmen derer Jesus seine Messianität erst schrittweise enthüllt habe.32 Gemäß seiner Forderung eines neuen Verständnisses der neutestamentlichen Wissenschaft als urchristliche Religionsgeschichte schließt Wrede an die Untersuchung des Messiasgeheimnisses bei den Synoptikern und bei Johannes eine „Geschichtliche Beleuchtung“ des Motivs an.33 Nicht die Erörterung des Messiasgeheimnisses in den einzelnen Evangelisten ist somit letztes Ziel von Wredes Untersuchung, sondern vielmehr der Versuch, Ursprung und Entwicklung des Motivs zu rekonstruieren. Hierzu zieht Wrede, wie von ihm gefordert, kanonische und außerkanonische Literatur heran. Ausgangspunkt der historischen Rekonstruktion ist die Beobachtung, dass in Apg 2,36; Röm 1,4 und Phil 2,6 – 11 die Vorstellung begegnet, Jesus sei erst mit der Auferweckung zum Messias eingesetzt worden.34 Nun scheine es jedoch historisch plausibel, dass hierin die älteste Vorstellung über Jesu Messianität vorliegt. „Wäre von Anfang an das irdische Leben Jesu als eigentliches Leben des Messias angesehen worden, so wäre man schwerlich darauf verfallen, die Auferweckung als den formellen Beginn der Messianität […] zu betrachten.“35 Im Messiasgeheimnis sieht Wrede den Versuch, die Messianität auch auf das Leben des irdischen Jesus zu übertragen, trotz des Wissens, „dass er der Messias doch erst geworden war. Mochte man daher im Blick auf sein Leben sagen: er war der Messias, man hatte doch ebensoviel Anlass das halb zurückzunehmen. Die Spannung beider Gedanken aber war gelöst, wenn man behauptete: er war es zwar eigentlich schon auf Erden, er wusste es natürlich auch, aber er sagte es noch nicht, er wollte es noch nicht sein.“36
Die Geschichte des Messiasgeheimnisses lässt sich hinsichtlich des geschichtlichen Ursprungs nach Wrede insoweit erhellen, als es sich um eine vor-mk
32 33 34 35 36
34; Mk 7,24; 9,30), dem Jüngerunverständnis (vgl. ebd., 101 – 103; Mk 4,13.41 und öfter) und der „Verhüllung durch Rätselrede“ (ebd., 51; Mk 4,10 – 13 und 34). Vgl. ebd., 15 f. Ebd., 207. Vgl. ebd., 214 f. Ebd., 216. Ebd., 228.
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Vorstellung handeln müsse. So lägen im MkEv „die einzelnen Vorstellungen […] in mancherlei Varianten vor“, was darauf schließen lasse, dass diese „nicht das Werk eines Einzelnen“ seien.37 Zudem sei unverständlich, wie Markus dazu käme, „einen solchen Gedanken in eine Tradition einzubauen, die nichts von ihm wusste“.38 Die weitere Entwicklung zeige, wie das Messiasgeheimnis bereits bei Matthäus und Lukas „seine ursprüngliche Bedeutung“ verliere.39 Letzte Anklänge findet Wrede unter anderem bei Justin und Klemens von Alexandrien.40
4.3
Paulus
Wie Wrede sich die Behandlung neutestamentlicher Themen im Sinne einer urchristlichen Religionsgeschichte vorstellt, zeigt sich ebenso deutlich in seinem Paulusbuch. Ähnlich der Studie zum Messiasgeheimnis schließt sich an die Darstellung der paulinischen Theologie deren religionsgeschichtlichen Einordnung an; den Abschluss bildet ein Kapitel über „Die weltgeschichtliche Bedeutung des Paulus“.41 Besonders markant ist dabei, wie Wrede das Verhältnis des paulinischen Denkens zu Leben und Verkündigung Jesu bestimmt, sowie die theologische und historische Verortung der Rechtfertigungslehre. Wrede zufolge ist Paulus keineswegs als „der theologische Ausleger und Fortsetzer Jesu“ anzusehen.42 Im Gegenteil lasse sich eine fundamentale Diskontinuität zwischen dem historischen Jesus und der paulinischen Theologie aufzeigen. Das zentrale Moment von Jesu Verkündigung liege darin, dass der einzelne „Mensch seine Seele ganz und ungeteilt Gott und seinem Willen hingebe“.43 Die ethische Forderung und hieran anknüpfend die Verheißung von Lohn und Strafe bildeten somit ihr Zentrum. Demgegenüber stehe im Zentrum der paulinischen Verkündigung die Vorstellung, dass durch ein Gotteshandeln, nämlich Christi Menschwerdung, Tod und Auferstehung, den Menschen Heil zukommt.44 Hierdurch habe Paulus das Christentum überhaupt erst „zur Erlösungsreligion gemacht“ und erweise sich somit „als der zweite Stifter des Christentums“.45 Folglich sei die paulinische Verkündigung theologisch letzten Endes wirkungsreicher gewesen als diejenige Jesu. 37 38 39 40 41 42 43 44 45
Ebd., 145. Ebd. Ebd., 242. Vgl. ebd., 243 – 251. William Wrede: Paulus, Tübingen 21907, 101. Ebd., 90. Ebd., 93. Vgl. ebd., 93 f. Ebd., 103 f.
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„Tertullian, Origenes, Athanasius, Augustinus, Anselm von Canterbury, Luther, Calvin, Zinzendorf – alle diese großen Lehrer sind von der Predigt Jesu her gar nicht zu verstehen […]; von Paulus aus sind sie zu verstehen, wenn auch natürlich nicht ohne verschiedenartige Mittelglieder.“46
Die strenge Scheidung zwischen einer vornehmlich ethischen Verkündigung Jesu und Paulus’ Verkündigung eines göttlichen Heilshandelns ist nicht zuletzt Ausdruck von Wredes konsequenter historisch-kritischer Betrachtung der Evangelien. Von hier aus scheidet für ihn – neben dem schon im „Messiasgeheimnis“ als nachösterliche Projektion dargestellten Messiasanspruch des irdischen Jesus – auch der Gedanke aus, Jesus selbst habe „seinem Tod Bedeutung für das Heil zugeschrieben“.47 In äußerster Schärfe kann Wrede daher auf den Graben verweisen, der schon vor Paulus den historischen Jesus vom Christentum trennt, indem er betont: „Zwischen Jesus und Paulus steht der Glaube der Urgemeinde“.48 Bildet für Wrede die Erlösungslehre das Zentrum der paulinischen Verkündigung und Theologie, so billigt er der Rechtfertigungslehre nur untergeordnete Bedeutung zu. „Man kann in der Tat das Ganze der paulinischen Religion darstellen, ohne überhaupt von ihr Notiz zu nehmen.“49 Wrede sieht in der paulinischen Rechtfertigungslehre eine „Kampfeslehre“, entstanden im Rahmen der paulinischen Heidenmission.50 Mit ihr begründe Paulus, warum Heiden beim Eintritt in die Gemeinde nicht das jüdische Gesetz übernehmen müssen.51 Paulus entwickle diese Lehre in Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Judentum und Judenchristentum. Erst dabei zeige sich ihm das Nebeneinander zweier unvereinbarer Prinzipien, des Gedankens der Erlösung durch Christus auf der einen Seite, der Vorstellung einer Erlösung durch Gebotserfüllung auf der anderen. In der Erkenntnis dieses Prinzipiengegensatzes liege der „Ursprung der Formel: nicht die Werke des Menschen, sondern die Gnade“.52 Diese Formel ist für Wrede somit nicht unverzichtbarer Kernbestand von Paulus’ Erlösungslehre, sondern Ergebnis einer Auseinandersetzung um seine Missionspraxis. Aus der theologischen und historischen Neuverortung der paulinischen Rechtfertigungslehre ergibt sich zum einen die Ablehnung von deren an Martin Luther anknüpfender protestantischer Auslegung. Nicht um die Heilsgewissheit des einzelnen Menschen gehe es Paulus, sondern um die Frage, wie man Glied der Kirche werde. Zum anderen führt für Wrede der Ursprung der Lehre in einer 46 47 48 49 50 51 52
Ebd., 104. Ebd., 94. Ebd., 96. Ebd., 72. Ebd., 72 und 99. Vgl. ebd., 84. Ebd., 74.
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konkreten historischen Auseinandersetzung dazu, dass diese nicht zeitlos weitervermittelt werden könne, sondern – in ihrer ursprünglichen Intention nicht mehr verständlich – Missverständnisse hervorrufe wie das Verständnis des Glaubens als eines Werks.53 Beide Punkte begegnen bereits in Wredes Habilitationsthesen, so dass auch für das Verständnis der Rechtfertigungslehre seine Göttinger Zeit prägend erscheint. These 7 lautet: „Die Rechtfertigungslehr des Paulus ist von derjenigen Luthers sehr verschieden.“ In These 24 klingt der zweite Punkt an, wenn es heißt: „Die lutherische Rechtfertigungslehre wird dem Volke (auch dem gebildeten) nie verständlich werden. Im kirchlichen Unterricht ist daher ihr religiöser Gehalt in andrer Form nahezubringen.“
4.4
Politische Positionierung
Wredes Werk beschränkt sich nicht auf theologische Schriften. So veröffentlicht er 1902 in der „Christlichen Welt“, der für die Förderung der Religionsgeschichtlichen Schule bedeutsamen Zeitschrift des kritischen liberalen Protestantismus, einen umfangreichen Aufsatz über „Die Konzentrationslager in Südafrika“. Wrede setzt sich darin vornehmlich mit englischen Dokumenten auseinander, welche eine verbesserte humanitäre Situation in den während des Burenkriegs eingerichteten Lagern belegen sollen. Seine Stellungnahme zu den Lagern und zu England kann über Wredes eigene Position hinaus Licht auf die Haltung des zeitgenössischen deutschen Bildungsbürgertums werfen. Zwar beschreibt Wrede sich als „mit ganzem Herzen auf der Burenseite stehend“.54 Allerdings begegnet neben scharfer Kritik an der aktuellen englischen Politik eine Hochschätzung englischer Kultur. Wrede betont: „Auch ich zähle mich zu den Vielen, die vor drei Jahren von einer Feindschaft gegen England Nichts wußten. Ich bin bis heute ein begeisterter Verehrer der Shakespeare, Dickens, George Eliot, Kingsley, Robertson; wenige Typen stehen mir so hoch wie der des echten englischen Gentleman im alten Sinne […]. Aber die Stimmung, die Englands Regierung und Heer und doch auch der Hochmut und die Haltung der Mehrheit seines Volkes bei mir und meinesgleichen [!] erweckt hat, kann durch einige Blaubücher mit ihren Linderungen nicht beseitigt werden.“55
53 Vgl. ebd., 76 f. 54 Vgl. William Wrede: Die Konzentrationslager in Südafrika. Ein kritischer Beitrag zur Geschichte des Burenkriegs, in: CW 16 (1902), 591 – 597, 603 – 606, 634 – 639 und 591. 55 Ebd., 639. Wrede fährt fort: „[…] wir Alle [!], die wir in den Buren nicht Engel, in den Briten auch nicht Teufel sahen“.
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Dieser doppelten Sicht auf England entspricht Wredes ethische Beurteilung des englischen Vorgehens: „Die Lager werden nie etwas Anderes bedeuten, als einen Schandfleck auf dem englischen Namen.“56 Rückblickend auf die Wahrnehmung des Burenkriegs in Deutschland äußert Wrede sich zu deren möglicher ethischer Wirkung: „Wann sind die besten moralischen Gefühle unseres Volkes so erregt worden wie in diesen Jahren? Ich schließe diese Ausführungen mit dem Wunsche, daß von dieser geradezu einzigartigen Erfahrung unserm Volke etwas bleibe.“57 Wredes Wunsch ging nicht in Erfüllung. Nur zwei Jahre nach seinen Ausführungen werden im HereroNama-Krieg erstmals deutsche Konzentrationslager eingerichtet.58
5. „Mehrere seiner Schriften waren ein Ereignis für die theologische Welt.“59 Die Worte, mit denen Wilhelm Bousset das Werk seines Weggefährten beschreibt, weisen auf Wredes besondere Stellung innerhalb der zeitgenössischen Theologie hin. Wrede war ein theologischer Außenseiter. Sein Werk ist in weiten Teilen eine Infragestellung vorherrschender theologischer Positionen. Mit seiner Programmschrift „Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie“ forderte er eine grundlegende Neuausrichtung der neutestamentlichen Wissenschaft. Seine Untersuchung des Messiasgeheimnisses entzieht der zeitgenössischen Leben-Jesu-Forschung letztlich ihre Existenzgrundlage, indem Wrede aufzeigt, dass es sich bei weiten Teilen des Evangelienstoffes um nachösterliche Gemeindebildung handelt. Sein Verständnis der paulinischen Rechtfertigungslehre schließlich bricht mit einer lutherischen Paulusauslegung. Gleichzeitig berührt sich Wredes Position, dass die Rechtfertigungslehre die aus der Missionspraxis herrührende Frage nach den Aufnahmebedingungen für Heiden behandle, eng mit Positionen der ab den 1960er Jahren entstehenden „New Perspective on Paul“.60 Die Forderung einer urchristlichen Religions- und
56 Ebd., 606. 57 Ebd., 639. 58 Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, 700. Vgl. auch ebd., 197: „Der Vernichtungskrieg in Südwestafrika war allerdings nicht eine Episode unter vielen, sondern nach Hemmungslosigkeit des deutschen Vorgehens und Ausmaß seiner Folgen ein Extremfall.“ Osterhammel spricht an gleicher Stelle ausdrücklich von „Völkermord“. 59 Wilhelm Bousset: Zur zweiten Auflage von Wredes „Paulus“, in: Wrede, Paulus (s. o. Anm. 41), 5. 60 Vgl. exemplarisch Krister Stendahl: The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West (1963), in: ders.: „Paul Among Jews and Gentiles“ and Other Essays, Philadelphia 1976,
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Theologiegeschichte fand nach 100 Jahren ihre Umsetzung in Gerd Theißens „Religion der ersten Christen“.61 Gerade indem Wrede die theologischen Positionen seiner Zeit kritisch hinterfragte und mit seinen eigenen aus exegetischer Arbeit gewonnenen Positionen konfrontierte, scheint sein Werk bis in die Gegenwart Relevanz zu besitzen. Maßgebliche theologische Weichenstellungen für dieses Werk wurden in Göttingen getroffen, nicht zuletzt zu der Zeit, als Wrede zwei Jahre lang Inspektor des Theologischen Stifts war.
Primärtexte William Wrede: Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, Göttingen 1897. –: Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums (1901), Göttingen 31963. –: Paulus, Tübingen 21907. –: Vorträge und Studien, Tübingen 1907.
Sekundärtexte Georg Strecker: William Wrede (1960), in: ders.: Eschaton und Historie. Aufsätze, Göttingen 1979, 335 – 359. Werner Zager: Liberale Exegese des Neuen Testaments. David Friedrich Strauß – William Wrede – Albert Schweitzer – Rudolf Bultmann, Neukirchen-Vluyn 2004.
78 – 96 und James D. G. Dunn: The New Perspective on Paul (1983), in: ders.: The New Perspective on Paul, Tübingen 2005, 89 – 110. 61 Gerd Theißen: Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000.
Frieder Ludwig
Carl Mirbt (1860 – 1929)
1. „Vorlesungen sind keine Predigten“, stellte Carl Mirbt in einem Vortrag auf der Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910 fest.1 Die Behandlung der Mission auf den Universitäten könne nur unter der Voraussetzung erfolgen, dass „sie in streng wissenschaftlicher Form behandelt wird. Unsere Auffassung von dem Wesen der Universität würde es nicht gestatten, sie in praktisch erbaulicher Weise vorzutragen.“2
Das Ideal der „strengen Wissenschaftlichkeit“ charakterisiert auch das kirchenhistorische Wirken Mirbts; er betrachtete Kirchengeschichte als die „Feststellung nackter Tatsachen“ und betonte den Zusammenhang mit der Profangeschichte.3 Dabei kam der Quellenarbeit herausragende Bedeutung zu. Die von ihm 1895 erstmals herausgegebene Textsammlung Quellen zur Geschichte des Papsttums fand als „der Mirbt“ weite Verbreitung und beeinflusste das Katholizismus-Bild protestantischer Theologen über mehrere Generationen.4 Dass die Auswahl nicht unvoreingenommen, sondern unter bestimmten Gesichtspunkten erfolgte, zeigt sich an der Editionsgeschichte des Werkes: eingangs der sechsten, von Kurt Aland 1967 herausgegebenen Auflage wurde festgestellt, dass nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine für jede Begegnung mit dem römischen Katholizismus völlig neue Situation gegeben sei. Dies mache eine Umgestaltung besonders der Abschnitte aus der alten Kirchengeschichte erforderlich, denn „ein Gespräch zwischen den Konfessionen bekommt den rechten 1 Das englische Originalzitat „Lectures are not sermons“ ist zu finden in: Carl Mirbt: The Extent and Characteristics of German Missions, in: World Missionary Conference 1910 (Hg): The History and Records of the Conference, Bd. 4, Edinburgh 1910, 213. 2 Deutsche Übersetzung veröffentlicht als Carl Mirbt: Die Eigenart der deutschen Mission, Basel 1910, zit. in Ernst Strasser: Carl Mirbt als Missionswissenschaftler, Lutherisches Missionsjahrbuch 1931, 30. 3 Hinrich Johannsen: Dr. Carl Mirbt in piam memoriam, NAMZ (1930), 11. 4 Vgl. Bernd Moeller: Carl Mirbt, 1860 – 1929, Kirchengeschichte. Ordentliches Mitglied seit 1921, in: Karl Arndt et al. (Hg.): Göttinger Gelehrte: die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen in Bildnissen und Würdigungen 1751 – 2001, Göttingen 2001, 386.
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Frieder Ludwig
Ansatz und den notwendigen Tiefgang erst bei der Einbeziehung der Anfänge einer Entwicklung, deren vorläufiges Endstadium wir in […] der eben begonnenen postkonzilaren Epoche vor uns haben.“ Dafür habe man an anderer Stelle streichen können, „denn oft genug hatte C. Mirbt allgemeinen kirchengeschichtlichen, aber auch missionsgeschichtlichen Interessen zu viel Raum gelassen.“5
2. Am 12. Februar 1886 bewarb sich Carl Mirbt um die am 1. Oktober desselben Jahres vakant werdende Stelle des Inspektors am Göttinger Theologischen Stift. In seinem Gesuch an die Theologische Fakultät stellte er seinen Lebenslauf vor: Geboren am 21. Juli 1860 in Gnadenfrei/Schlesien, erhielt er seine erste Schulausbildung auf dem Pädagogium in seinem Heimatort. Besondere Erwähnung für diese Zeit, die freilich durch Unterbrechungen des Unterrichts beeinträchtigt war, findet eine Reise zu den Instituten der Brüdergemeine in Niesky. Ostern 1877 trat Mirbt in die Untersekunda des Gymnasiums zu Strehlen ein, wo er 1880 das Maturitätsexamen absolvierte. Er studierte dann zwei Semester in Erlangen und sechs Semester in Halle; nach der Absolvierung des Ersten Theologischen Examens ging er nach Göttingen, wo er unter anderem Dogmatik II bei Ritschl hörte und an historischen Vorlesungen teilnahm.6 Dem Bewerbungsschreiben fügte Mirbt Empfehlungsschreiben der Professoren Kähler aus Halle und Tschackert aus Königsberg bei. Beide waren am Schlesischen Convict in Halle involviert gewesen:7 Tschackert hatte dort 1879 als Nachfolger Kählers die Inspektion übernommen, Kähler war in die Mitgliedschaft des Curatoriums aufgerückt. Mit Kähler und Tschackert sind auch Vertreter der wissenschaftlichen Netzwerke benannt, in denen Mirbt sich bewegte: Martin Kähler (1835 – 1912), Lehrstuhlinhaber in Halle seit 1878, war einer der wenigen Systematiker mit ausgesprochenem missionstheologischem Interesse. Paul Tschackert (1848 – 1911) hatte bei Kähler studiert, war aber – wie auch Mirbt – noch stärker durch Hermann Reuter (1817 – 1889) geprägt. Auf Reuter, der an den Universitäten Greifswald, Breslau und Göttingen lehrte, ging der Grundsatz zurück, dass es nur eine für den kirchlichen und den politischen Historiker gleichermaßen geltende historische Methode gebe. Nach Reuters Tod wurde Tschackert 1890 als Pro5 Kurt Aland (Hg.): Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, Tübingen 61967, III. Die ersten 5 Auflagen der Quellen gab Carl Mirbt heraus. 6 Vgl. Universitätsarchiv Göttingen, Theol.SA 128a.1: Gesuch des cand. Theol. Carl Mirbt betreffend der Stelle des Inspektors am hiesigen theologischen Stift, 12. Februar 1886. 7 Vgl. ebd.
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fessor für Kirchengeschichte an die Universität Göttingen berufen. Mirbt bewarb sich darauf um den freigewordenen Lehrstuhl in Königsberg; in diesem Berufungsverfahren wurde er Viertplatzierter.8 Als er 1912 die Tschackert-Nachfolge in Göttingen antrat, war die hohe Wertschätzung für den Vor-Vorgänger und Lehrer unter anderem daran erkennbar, dass in Mirbts Arbeitszimmer eine überlebensgroße Büste Hermann Reuters stand.9 Reuter war es auch gewesen, der Mirbts Interesse an der mittelalterlichen Papstgeschichte geweckt hatte.10 Während seiner Zeit als Stiftsinspektor – die Bewerbung war erfolgreich gewesen und er übte die Tätigkeit bis 1888 aus – befasste sich Mirbt insbesondere mit dem gregorianischen Kirchenstreit und der Absetzung Heinrichs IV. Ein erster Beitrag erschien in der Festschrift für Reuter 1888; im selben Jahr legte Mirbt die Dissertation Die Stellung Augustins in der Publicistik des Gregorianischen Kirchenstreits vor. Das Forschungsinteresse begründete Mirbt in seinem 1894 folgenden Buch Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII.: Die Bedeutung des gregorianischen Kirchenstreits liege darin, „daß auf der einen Seite das Papsttum stand, auf der anderen das deutsche Königtum, aber als Vertreter des universalistisch gerichteten Kaisertums und der weltlichen Staatsgewalt überhaupt. […] Die Wirkungen des Kampfes lassen sich auf den verschiedensten Gebieten nachweisen.“11 Für sein Interesse an der Thematik spielte auch die Prägung durch den Kulturkampf eine Rolle; Mirbt wurde Mitglied des 1886 gegründeten Evangelischen Bunds. Am 7. 1. 1888 wurde Mirbt an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen promoviert. Zum Verfahren gehörte damals die öffentliche Verteidigung von Thesen; Mirbts Opponenten waren die damaligen cand. theol. Hermann Gunkel und Johannes Weiß (beim Promotionsverfahren Gunkels waren die Rollen umgekehrt; hier wirkte Mirbt als Opponent). Die ersten Thesen lauteten: „I. Das sogenannte Aposteldekret ist nicht Beschluss des Apostelconcils. II. Ein Leben Jesu wird nie geschrieben. III. Conf. Aug. art. VII liegt in den Worten „ad veram unitatem ecclesia satis est consentire de doctrina evangelii“ der Nachdruck auf ‚evangelii‘.“12 Bereits eine Woche nach der Promotion, am
8 Vgl. Christian Tilitzki: Die Albertus-Universität Königsberg: ihre Geschichte von der Reichsgründung bis zum Untergang der Provinz Ostpreußen, Bd. 1: 1871 – 1918, Berlin 2012, 38. 9 Vgl. Johannsen, Mirbt (s. o. Anm. 3), 10. Mirbt hatte auch den Artikel über Reuter für die Allgemeine Deutsche Biographie (Bd. 53, Leipzig 1907, 310 – 319) verfasst. 10 Vgl. Barbara Wolf-Dahm: Art. Mirbt, Carl, in: BBKL V, Herzberg 1993, 1569 – 1573. 11 Carl Mirbt: Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII., Leipzig 1894, 1. 12 Universitätsarchiv Göttingen, Theol PA 0028 Carl Theodor Mirbt 1888 – 1929: Thesen welche mit Genehmigung der Theologischen Fakultät zur Erlangung der Theologischen Licentiatenwürde an der Georg-Augusts-Universität zu Göttingen Sonnabend, den 7. Jan. 1888 11 Uhr öffentlich vertheidigen wird Carl Mirbt.
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14. 1. 1888, habilitierte sich Mirbt an derselben Fakultät für das Fach Kirchengeschichte. Am 10. 1. 1889 wurde er zum außerordentlichen Professor für Kirchengeschichte an die Universität Marburg berufen, wo er ab Ende 1890 eine ordentliche Professur einnehmen konnte. Carl Mirbt zählte damals zu den jüngsten Professoren in Deutschland.13 1892 ernannte ihn die Theologische Fakultät zum Dr. theol.h.c., 1903 wurde er Konsistorialrat in Kassel, 1909 Geheimer Konsistorialrat. 1903/04 war er Rektor der Universität Marburg.14 In seiner Rektoratsrede „Der Zusammenschluß der evangelischen Landeskirchen Deutschlands“ (18. 10. 1903), einer frühen Darstellung der protestantischen Einheitsbestrebungen, zeichnete sich ein neues Forschungsinteresse Mirbts ab. Zur Frage der evangelischen Einheit legte er später weitere Abhandlungen vor; seine CalvinStudie von 1909 unterstrich die Bedeutung des Genfer Reformators für den Gesamtprotestantismus.15 Zudem wandte sich Mirbt der Pietismus-Forschung zu. Mit Fragen der Mission war Mirbt als Herrnhuter und als Schüler Kählers zwar bereits vertraut, aber die ersten missionswissenschaftlichen Publikationen fallen in die Zeit in Marburg, wo er einen Lehrauftrag für Missionswissenschaft erhalten hatte. Im Sommersemester 1909 wurde er zu einer Vortragsreihe am Hamburger Kolonialinstitut eingeladen; daraus ging die Veröffentlichung Mission und Kolonialpolitik in den deutschen Schutzgebieten (Tübingen 1910) hervor. Durch die Aufnahme der Thematik in den Vorlesungsplan habe, so stellte Mirbt im Vorwort fest, das Hamburger Kolonialinstitut „die Tatsache anerkannt, daß das Missionswesen für die Entwicklung von unseren Kolonien von großer Bedeutung ist.“16 1910 nahm er an der Weltmissionskonferenz von Edinburgh teil. 1911 wurde Mirbt nach Göttingen berufen. Auch hier war die Professur für Kirchengeschichte mit einem Lehrauftrag für Missionswissenschaft verbunden. Vom 25. 6. bis 21. 11. 1913 erhielt er Urlaub, um eine Studienreise in die damaligen Kolonien „Deutsch-Südwest-Afrika“, „Britisch Süd-Afrika“ und „DeutschOstafrika“ durchzuführen.17 Während des Ersten Weltkriegs trat Mirbt mit Publikationen wie Der Kampf um unsere Kolonien (1914) oder Die evangelische Mission Deutschlands unter dem Druck des gegenwärtigen Weltkrieges (1916) hervor. Im September 1917 wurde er Vorsitzender eines Göttinger Ablegers der deutschen Vaterlandspartei, die sich nach der sog. Friedensresolution des 13 Vgl. Wolf-Dahm, Mirbt (s. o. Anm. 10), 1569 – 1573. 14 Vgl. Johannsen, Mirbt (s. o. Anm. 3), 10. 15 Vgl. Hans Walter Krumwiede: Kirchengeschichte Niedersachsens, Bd. 2: 19. Jahrhundert– 1948, Göttingen 1996, 411. 16 Carl Mirbt: Mission und Kolonialpolitik in den deutschen Schutzgebieten, Tübingen 1910, V. 17 Universitätsarchiv Göttingen, Theo PA 0028 Carl Theodor Mirbt 1888 – 1929: 3. Mai 1913.
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deutschen Reichstages vom 19. 7. 1917, in der dieser den Verzicht auf Annexionen und Kriegsentschädigungen gefordert hatte, gegen jede Verständigungsbereitschaft wandte.18Anfang 1918 sprach Mirbt auf einer gegen Wilsons 14Punkte-Friedensprogramm gerichteten Versammlung, in der eine Adresse an den Kaiser gerichtet wurde. Darin wurde ausgeführt, dass die Friedensvorschläge Wilsons die Vernichtung Deutschlands bezweckten. Man setze ihnen daher den Willen entgegen, „bis zum äußersten zu kämpfen und durchzuhalten, bis die Freiheit und die Zukunft Deutschlands gesichert ist.“19 Einen gewissen Kontrast zu diesen Äußerungen bildeten Mirbts Bemühungen um die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaft, die von vornherein auch international angelegt war.20 Bereits im Dezember 1917 hatte er in einer internen Denkschrift ausgeführt, dass er in den Zeitumständen nicht nur kein Hindernis für eine Gesellschaftsgründung sehe, sondern sie sogar als „besonders günstig“ betrachte, denn alle „praktische Missionstätigkeit“ sei „stark zusammengeschrumpft“, und die „aufgezwungene Ruhe mache es eher leichter, „gerade jetzt Hand anzulegen.“21 Zweck der Gesellschaft war es dann, so wurde in der Satzung konstatiert, „die wissenschaftliche Bearbeitung der Geschichte und Theorie der christlichen Mission zu fördern.“22 Die Deutsche Gesellschaft für Missionswissenschaft gab eine eigene Reihe, die Missionswissenschaftlichen Forschungen, heraus, deren erster Band – Franz Rudolf Merkels G. W. von Leibniz und die China-Mission (Leipzig 1920) – die globale Ökumene ebenso wie die Geschichte der europäischen Geisteswissenschaften im Blick hatte und diesbezüglich Maßstäbe setzte.23 Mirbt rief auch die allgemeine Missionskonferenz für Hannover ins Leben. Für deren Veranstaltungen konnte er auch Professoren gewinnen, die ursprünglich nicht mit der Mission in Beziehung standen.24 Zudem sammelte er Kult- und Kunstgegenstände aus Übersee; seine Indonesien-Sammlungen gingen später in die Bestände des Göttinger Instituts für Völkerkunde über.25 Daneben wirkte Mirbt nach der Rückkehr nach Göttingen auch in der Gesellschaft 18 Vgl. Cordula Tollmien: Die Universität Göttingen im Kaiserreich, in: Dietrich Denecke (Hg.): Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866 – 1989, Göttingen, 389. 19 Ebd., 390 unter Verweis auf Saathoff: Göttinger Kriegsgedenkbuch, 1935, 192 f., Zitat 193. 20 Vgl. Hans-Werner Gensichen: Invitatio ad Fraternitatem. 75 Jahre Deutsche Gesellschaft für Missionswissenschaft (1918 – 1993), Münster / Hamburg 1993, 51 verweist auf die programmatische Ansprache, die Mirbt am 26. September 1918 auf der Gründungsversammlung hielt. 21 Ebd., 45 f. unter Verweis auf Carl Mirbt: Gedanken über die Gründung einer Deutschen Gesellschaft zur Erforschung der christlichen Mission, Manuskript vom 13. 12. 1917. 22 Ebd., 51. 23 Vgl. ebd., 5. 24 Vgl. Johannsen, Mirbt (s. o. Anm. 3), 12 f. 25 Vgl. Ulrike Beisiegel (Hg.): Die Sammlungen, Museen und Gärten der Universität Göttingen, Göttingen 2013, 29.
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für Niedersächsische Kirchengeschichte mit und rückte bald in deren Vorstand und in die Redaktionskommission auf. In seine Ägide fällt die Herausgabe der 1919 gegründeten Forschungsreihe Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens.26 Mirbt, der sich den Ruf einer „hervorragenden organisatorischen Befähigung“ erworben hatte, war 1920/21 Rektor der Universität Göttingen. 1921 wurde er in die Akademie der Wissenschaft aufgenommen.27 In die Zeit der Rektorats fallen zwei große öffentliche Veranstaltungen: bei einer „Gedächtnisfeier zum 50. Jahr der Reichsgründung“ am 18. Januar 1921, die den im Kaiserreich alljährlich gefeierten Geburtstag des Kaisers ersetzen sollte, sprach Mirbt zum Thema „Unser Bekenntnis zum deutschen Volkstum.“28 Anlässlich der Enthüllung einer Hindenburgbüste am 6. 7. 1921 hielt Mirbt einen längeren Vortrag über „Die Grundformen des Verhältnisses von Staat und Kirche“.29 Darin ging er den großen geschichtlichen Linien auch im globalen Zusammenhang nach und wies auf Veränderungsprozesse hin: „Das Thema Staat und Kirche ist ein Problem, mit dem sich alle Völker beschäftigen müssen, die sich dem Christentum zuwenden. Es beginnt für ein Land in dem Augenblick, da die christliche Religion in ihm Wurzeln schlägt, wie China und Japan beweisen, und es erfordert noch heute die gespannte Aufmerksamkeit der Völker, die seit tausend und mehr Jahren sich als christlich bezeichnen. Der Grund der Wandlungen […] liegt darin, daß weder der Staat noch die Kirche eine konstante Größe ist, vielmehr beide im Lauf der Zeit sich umgestaltet haben und als lebendige Organismen mit ihr sich ständig fortentwickeln.“30
In den Jahren nach dem Rektorat setzte Mirbt seine Forschungen zum Verhältnis von Kirche und Staat und zum Katholizismus31 sowie zu Pietismus und Mission32 fort; er trat auch mit zahlreichen öffentlichen Vorträgen in Erscheinung. Seine Vorlesungen und Seminare übten auf die Studierende eine so große Anziehungskraft aus, dass die theologische Fakultät im März 1927 an den Minister für 26 Vgl. Mitgliederversammlung der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte: Altes und Neues aus Bremen, Göttingen und dem übrigen Niedersachen. Prof. Dr. Carl Mirbt zum 40jährigen Professoren-Jubiläum, in: ZGNKG 34/35 (1929/30), 5. 27 Vgl. Moeller, Mirbt (s. o. Anm. 4), 386. 28 „[…] wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik.“ Zit. bei Cornelia Wegeler: Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921 – 1962, Wien/Köln 1996, 147. 29 Vgl. Stadtarchiv Göttingen, Chronik für das Jahr 1921, 6. Juli 1921, URL: http://www.stadtarchiv.goettingen.de/chronik/1921_07.htm (abgerufen am 28.12. 2014). 30 Carl Mirbt: Die Grundformen des Verhältnisses von Staat und Kirche. Festrede im Namen der Georg-August-Universität und der damit verbundenen Enthüllung der Hindenburgbüste am 6. 7. 1921, Göttingen 1921, 3. 31 Vgl. Carl Mirbt: Das Konkordatsproblem der Gegenwart, Berlin 1927. 32 Vgl. Carl Mirbt: August Hermann Francke und die Mission, in: Friedrich Mahling, Carl Mirbt und August Nebe (Hg.): Zum Gedächtnis August Hermann Franckes, Halle 1927, 81 – 112.
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Wissenschaft, Kunst und Volksbildung wandte, um eine Verlängerung der Amtsdauer ihres Seniors zu erwirken: „Die an Erfahrung reiche, in allen Angelegenheiten der Fakultät und der Gesamtuniversität erprobte Persönlichkeit Mirbts mit ihrem reifen Urteil sich solange als möglich zu erhalten, ist der Fakultät auch im Interesse der akademischen Verwaltung ein dringendes Anliegen.“33 Mirbt wurde dann erst am 1. Oktober 1928 emeritiert. Er starb bereits ein knappes Jahr später am 27. September 1929. Bei der Trauerfeier charakterisierte Emanuel Hirsch, seit 1921 Kollege Mirbts, dessen Wirken: Mirbt habe „seit 1903 alles verfolgt, was dahin führen konnte, eine stärkere Einheit im deutschen Protestantismus herbeizuführen. […] Er hat hier in Hannover sich als lutherischer Christ gefühlt, und wir verdanken für den engen Zusammenhang unserer Landeskirche mit der Fakultät ihm besonders viel.“34
3. Verschiedene Äußerungen Mirbts belegen einen ‚patriotischen Enthusiasmus‘, der zumindest zeitweise einem ‚expansiven Nationalismus‘ verpflichtet war. Erkennbar ist dies insbesondere in seinen missionswissenschaftlichen Beiträgen. In einem Vortrag über „Die religiösen und kulturellen Verhältnisse der Kolonien“ bezeichnete er die Missionsschulen (gleich den Regierungsschulen) als „Pflegstätten deutscher Gesinnung.“35 1914 führte er aus, dass die deutschen Missionshäuser verwaist seien, „denn die Hunderte von jungen Männern, die hier für den Missionsberuf ausgebildet werden, stehen großenteils im Felde und freuen sich, für ihr deutsches Vaterland kämpfen zu dürfen.“36 1917 schrieb er in Mission und Reformation, dass das Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ eine Macht geworden sei, „weil es von dem Heldengeist getragen ist, der den deutschen Wehrmann beseelt.“37 Ein „Zerfall des patriotischen Enthusiasmus“ nach dem Ende des Weltkrieges lässt sich so nicht feststellen.38 Seine Ansprache bei der Einweihung der Hindenburg-Büste, deren Aufstellung er selbst angeregt hatte,39 schloss Mirbt mit 33 Universitätsarchiv Göttingen, Theo PA 0028 Carl Theodor Mirbt 1888 – 1929, Theol. Fakultät an den Herrn Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 31. März 1927. 34 Strasser, Mirbt (s. o. Anm. 2), 24 f. 35 Carl Mirbt: Die religiösen und kulturellen Verhältnisse der Kolonien, Marburg 1910, 692. 36 Carl Mirbt: Auslandsdeutschtum und christliche Mission im gegenwärtigen Weltkrieg, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 9. (1914), 388. 37 Carl Mirbt: Mission und Reformation, Gütersloh 1917, 1. Alle Belege bei Strasser, Mirbt (s. o. Anm. 2), 41. 38 Krumwiede, Niedersachsen (s. o. Anm. 15), 411. 39 Vgl. Wolf-Dahm, Mirbt (s. o. Anm. 10), 1569 – 1573.
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den Worten „Sursum corda! Deutschland, Deutschland über alles!“40 Die 50Jahres-Feier zur Begründung des Deutschen Reiches am 18. Januar 1921 sah er als „ein Bekenntnis zu dem deutschen Volkstume, ein Bekenntnis zu unserem deutschen Vaterlande, ein Bekenntnis zu unserem deutschen Wesen.“ In seiner Rede führte er weiter aus, dass die Kirche des Altertums Männer und Frauen als Bekenner bezeichnet habe, die für ihren Glauben jedes Leid, sogar den Tod auf sich nahmen. „In diesem erhabenen Sinne reden wir hier vom Bekenntnis zum Deutschtum.“41 In den 1920er Jahren engagierte sich Mirbt auch für die Kolonialschule in Witzenhausen, deren Wahlspruch lautete: „Mit Gott für Deutschlands Ehr’ – Daheim und überm Meer!“42 Da für Mirbt die nationalen und kolonialen Bestrebungen mit einer Eindämmung des Einflusses der Katholischen Kirche verbunden waren, können seine Studien zu den Einheitsbestrebungen im Protestantismus auch vor diesem Hintergrund gesehen werden.43 Dennoch stellen die national- und kolonialchauvinistischen Auslassungen nur eine, meist eher untergeordnete Dimension des Wirkens von Carl Mirbt dar. Mit der Verpflichtung zur Wissenschaftlichkeit verbanden sich kritische Analysen, in denen er versuchte, die Bedeutung von Auseinandersetzungen in einen längerfristigen Zusammenhang einzuordnen. In seiner Untersuchung zum gregorianischen Streit kam er zwar einerseits zu dem Ergebnis, dass das deutsche Kaisertum die Hegemonie im Leben der abendländischen Welt an den apostolischen Stuhl verloren habe und dass mit der Inszenierung der Kreuzzüge das Papsttum die Führung des Abendlandes übernommen habe,44 stellte andererseits aber fest: „Unter dem Druck der in der Kirche herrschenden öffentlichen Meinung hatten die Publizisten aller Schattierungen das Recht der eigenen und das Unrecht der gegnerischen Ansicht aus Schrift und Tradition zu erweisen versucht. Aber die Instanzen der einen Seite waren durch die andere abgelehnt worden. Das forderte zur Verteidigung heraus, aber auch zur Herbeischaffung neuen Materials und zur Bestreitung der von dem Gegner aufgebotenen Autoritäten. […] Quellenaussagen werden gegeneinander abgewogen, das Misstrauen gegen fragwürdige Quellen erwacht, man klagt über die Fälschungen der Geschichte. Aber selbst den festen Grössen, der Schrift und der Tradition, unterwirft man sich nicht mehr blindlings. Die spezifische Verschiedenheit des 40 Stadtarchiv Göttingen, Chronik für das Jahr 1921, 6. Juli 1921, http://www.stadtarchiv.goettingen.de/chronik/1921_07.htm (abgerufen am 28. 12. 2014). 41 Carl Mirbt: Unser Bekenntnis zum deutschen Volkstum. Rede zum Gedächtnis der Begründung des Deutschen Reiches am 18. Januar 1921, Göttingen 1921, 3. 42 Heinrich Schnee (Hg.): Deutsches Kolonial-Lexikon, Bd. 3, Leipzig 1920, 723 f. 43 Vgl. Johannsen, Mirbt (s. o. Anm. 3), 15. Vgl. auch Carl Mirbt: Mission und Kolonialpolitik in den deutschen Schutzgebieten, Tübingen 1910, 10: „Die Propaganda […] ist zugleich ihr Kriegsministerium. Sie dirigiert das Vorrücken ihrer Truppen in China gleicherweise wie in Kamerun und Südwestafrika […].“ 44 Vgl. Carl Mirbt: Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII., Leipzig 1894, 621.
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Alten und Neuen Testaments beginnt erkannt zu werden, der relative Wert der Apokryphen wird von verschiedenen Seiten konstatiert und die Emanzipation vom Buchstaben der heiligen Texte bereits praktisch geübt. […] Indem auch die kirchliche Glaubenslehre auf so wichtige Fragen, wie sie der Streit über die Sakramente erzeugt hatte, keine befriedigenden Antworten hatte erteilen können, wurde durch die theologischen Untersuchungen der Publizisten für das kirchliche Dogma derselbe Defekt für das kirchliche Recht nachgewiesen, der Mangel an Einheit und der Mangel an Unvollständigkeit.“45
In seinen Beiträgen zum Pietismus macht Mirbt zwar einerseits deutlich, dass er mit der Literatur dieser Frömmigkeitsbewegung nicht viel anzufangen wusste,46 andererseits aber wertet er den Pietismus im direkten Gegensatz zu seinem Lehrer Ritschl als Fortschrittsbewegung, in der das Streben der Einzelpersönlichkeit nach Selbständigkeit und nach Freiheit gefördert wurde.47 Damit wurde durch Mirbt ein Paradigmenwechsel in der Pietismusforschung eingeleitet.48 Sachlich-distanzierte Analysen fanden auch in die missionsgeschichtlichen und zeitgeschichtlichen Beiträgen Mirbts Eingang. Als einer der ersten Historiker wies er darauf hin, dass die Abschaffung des Sklavenhandels zuerst wirtschaftliche Gründe hatte.49 Dem Pietisten Francke attestierte er „den internationalen Charakter der evangelischen Mission klar erkannt“ zu haben.50 In seinem Aufsatz „Missionsgeschichte und Kolonialgeschichte“ von 1927 konstatierte er, dass die christliche Mission die Zeit überdauern werde, „in der das Thema ‚Mission und Kolonialpolitik‘ aktuelle Bedeutung hatte“51 – ein Gedanke, den er in ähnlicher Form schon 1914 zum Ausdruck gebracht hatte.52 Und in der 1917 erschienen Einführung zur Evangelischen Mission findet sich die Formulierung: „Wir sind auf dem Wege dazu, daß alle Teile der Welt zueinander in Beziehung treten, und eine gemeinsame Geschichte der Menschheit sich anbahnt.“53 Ebenso zeigen Mirbts Ausführungen zum Verhältnis von Staat und Kirche von 1921 Perspek-
45 Ebd., 625 – 628. 46 Vgl. Mirbt, Francke und die Mission (s. o. Anm. 32), 82: „Mit der durch das Auftreten des Pietismus hervorgerufenen Literatur haben wir die innere Fühlung verloren […].“ 47 Vgl. Martin Schmidt: Epochen der Pietismusforschung, in: Jan Pieter van Dooren (Hg.): Der Pietismus und Reveil, Brill 1978, 48 f unter Verweis auf den „Pietismus“-Artikel Mirbts in der Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche, RE 15 (1904), 774 – 815. 48 Vgl. Stephan Goldschmidt: Johann Konrad Dippel 1673 – 1734. Seine radikalpietistische Theologie und ihre Entstehung, Göttingen 2001, 26. 49 Carl Mirbt: Die Evangelische Mission. Eine Einführung in Geschichte und Eigenart, Leipzig 1917, 19. 50 Mirbt, Francke und die Mission (s. o. Anm. 32), 104 f. 51 Carl Mirbt: Art. Missionsgeschichte und Kolonialgeschichte, Neue Allgemeine Missionszeitschrift (1927), 80. Zit. in: Strasser, Mirbt (s. o. Anm. 2), 34. 52 Vgl. Mirbt, Auslandsdeutschtum (s. o. Anm. 36), 388 und Strasser, Mirbt (s. o. Anm. 2), 34. 53 Mirbt, Evangelische Mission (s. o. Anm. 49), 117.
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tiven für die Zukunft auf, etwa in der Schilderung der Notwendigkeit der Neuorganisation für die Landeskirchen: „Das Laienelement wird in der kirchlichen Verwaltung einen Anteil erhalten, den es früher nicht besaß, die Frau wird volle Gleichberechtigung im kirchlichen Leben mit dem Manne erhalten, das Ziel der Volkskirche schließt die Pflicht in sich, den kirchlichen Minderheiten einen angemessenen Schutz zuzusichern.“54
Primärtexte Carl Mirbt: Die Publizistik im Zeitalter Gregors VII., Leipzig 1894. –: „August Hermann Francke und die Mission“, in: Friedrich Mahling, Carl Mirbt und August Nebe (Hg.): Zum Gedächtnis August Hermann Franckes, Halle 1927, 81 – 112.
Sekundärtexte Hinrich Johannsen: Dr. Carl Mirbt in piam memoriam, NAMZ (1930), 10 – 16. Ernst Strasser: Carl Mirbt als Missionswissenschaftler, in: Lutherisches Missionsjahrbuch (1931), 24 – 46. Barbara Wolf-Dahm: Art. Mirbt, Carl, in: BBKL V, Herzberg 1993, 1569 – 1573.
54 Mirbt, Grundformen (s. o. Anm. 30), 18.
Christian Schäfer
Alfred Rahlfs (1865 – 1935) und die historisch-kritische Edition der Septuaginta
1. „Aber wenn wir vorwärtskommen wollen, müssen wir uns nicht von vorgefaßten Theorien, sondern lediglich von dem gegebenen Material leiten lassen. Und das hoffe ich getan zu haben.“1
Als Alfred Rahlfs im April 1926 mit diesen Worten sein Vorwort zu der in Stuttgart erschienenen kritischen Ausgabe des Buches Genesis beschloss, lagen weit über zwanzig Jahre intensiver ‚Vorarbeiten‘ hinter ihm, die sämtlich auf die Beantwortung derjenigen Frage ausgerichtet waren, die sein gesamtes wissenschaftliches Leben bestimmte: Auf welche Weise kann es gelingen, die nach ihrer Entstehungslegende ‚Septuaginta‘ genannte griechische Übersetzung des ursprünglich hebräisch verfassten Alten Testaments historisch-kritisch zu edieren?
2. Otto Gustav Alfred Rahlfs wurde am 29. Mai 1865 in Linden bei Hannover als ältestes Kind des Lehrers und Kantors Georg Rahlfs und dessen Frau Ottilie (geb. Brüel) geboren. Kurz nach Erhalt seines Reifezeugnisses zog er im April 1883 von Linden nach Göttingen, um dort das Studium der Theologie an der GeorgAugust-Universität mit dem Ziel aufzunehmen, Pfarrer in der Hannoverschen Landeskirche zu werden. Nachdem er das Wintersemester 1884/85 in Halle an der Saale verbracht hatte, kehrte Rahlfs zum Sommersemester 1885 nach Göttingen zurück. Die Bedeutung jenes Sommersemesters spiegelt sich wider in seinem drei Jahre später im Frühsommer 1888 verfassten Lebenslauf für die Bewerbung auf die Inspektorenstelle des Göttinger Theologischen Stifts: 1 Alfred Rahlfs (Hg.): Genesis. Septuaginta Societatis Scientiarum Gottingensis auctoritate, Stuttgart 1926, 3.
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„Doch blieb ich nur ein Semester in Halle und kehrte Ostern 1885 nach Göttingen zurück. Hier hörte ich Syrisch bei Herrn Prof. de Lagarde, und die Berührung mit diesem führte einen für mich sehr wichtigen Umschwung in meinem Lebensplane herbei. Während ich bisher nur daran gedacht hatte, in das praktische Amt zu gehen, riet mir Herr Prof. de Lagarde, mich der akademischen Laufbahn zuzuwenden und zwar zunächst das philosophische Doktorexamen zu machen.“2
Welche Folgen sich aus diesem durch das Zusammentreffen mit dem Orientalisten Paul Anton de Lagarde (1827 – 1891) bewirkten „wichtigen Umschwung“ ergeben sollten, konnte der gerade 23-jährige Rahlfs damals noch nicht ermessen. Dass Lagarde seinen „besten“ Göttinger Schüler „ganz nachdrücklich für das akademische Lehramt“3 ausbilden wollte und darum einen „ganzen Zukunftsplan“4 für ihn entworfen hatte, um dessen Eintritt in die akademische Welt herbeizuführen, war zwar deutlich. Doch dass es dem fürsorglichen Lehrer vor allem darum ging, seine eigene „Lebensarbeit“5 an der Septuaginta dem Meisterschüler als Lebensaufgabe zu vererben, blieb dem jungen Rahlfs zu diesem Zeitpunkt noch völlig verborgen. Lagardes „Zukunftsplan“ bestand aus mehreren Teilen: Zunächst sollte Rahlfs, noch vor Abschluss des Ersten Theologischen Examens, an der Philosophischen Fakultät in Göttingen mit einer Edition des von Barhebräus auf Syrisch verfassten Kommentars zu den salomonischen Schriften zum Dr. phil. promoviert werden, was im Februar 1887 auch gelang. Im Anschluss daran empfahl ihm der Lehrer, sich als Inspektor des Theologischen Stifts zu bewerben, um als solcher seine Licentiatenarbeit zu verfassen. Auch dieser Teil des Planes ging auf und Rahlfs trat zum 1. Oktober 1888 die Stelle des Stiftsinspektors an. Als solcher hatte er „Anstand und Ordnung im Hause zu wahren und die sittliche Haltung der einzelnen im Stift befindlichen Studirenden durch seinen Einfluß auf den Geist des Instituts und wo es nöthig erscheint auch durch Ermahnungen zu fördern. Er hat[te] außerdem die wissenschaftlichen Studien der sämmtlichen Mitglieder des Stifts durch Repetirübungen über deren Umfang und Themata der Dekan der theologischen Fakultät im Einvernehmen mit der letzteren nähere Bestimmung trifft, zu beleben und zu unterstützen,
2 Universitätsarchiv Göttingen, Theol. SA 0056.2. 3 Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Lagarde 149. 4 Alfred Rahlfs: Paul de Lagardes wissenschaftliches Lebenswerk im Rahmen einer Geschichte seines Lebens dargestellt, MSU 4, Berlin 1928, 92. 5 Paul Anton de Lagarde: Vorbemerkungen zu meiner Ausgabe der Septuaginta, in: Ders.: Symmicta II, Göttingen 1880, 137 – 148, hier 141. Vgl. dazu Bernhard Neuschäfer: Alteri saeculo – Paul Anton de Lagardes ‚Lebensarbeit‘ an der Septuaginta, in: Reinhard Gregor Kratz und Bernhard Neuschäfer (Hg.): Die Göttinger Septuaginta. Ein editorisches Jahrhundertprojekt, AAWG N. F. 22 (= MSU 30), Berlin/Boston 2013, 235 – 264.
Alfred Rahlfs (1865 – 1935) und die historisch-kritische Edition der Septuaginta
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auch den Universitätsprediger in einzelnen Behinderungsfällen zu vertreten[ und] die Aufsicht über die im Stift befindliche Bibliothek zu führen.“6
Wie die beiden von ihm verfassten Jahresberichte belegen, kam Rahlfs seinen Aufgaben gewissenhaft nach.7 Über das Sozialverhalten der Studierenden beschwerte er sich, von einer Ausnahme abgesehen, nicht, wohl aber kritisierte er neben dem desaströsen Zustand des Gebäudes Stumpfebiel 2 vor allem das Aufnahmeverfahren der Stipendiaten: Ein nicht geringer Anteil der Stiftsbewohner stehe nämlich bereits kurz vor dem Abschluss des Ersten Examens, was sich in verschiedener Hinsicht auf die Arbeit des Inspektors negativ auswirke. So führe die Examensvorbereitung dazu, dass den Studierenden nur wenig Zeit bleibe, sich für die Stiftsübungen ausreichend zu präparieren, und das Interesse an diesen sei „oft merklich“ gesunken.8 Der Examensdruck behindere aber auch die im Reglement geforderte beratende Begleitung der Stipendiaten durch den Stiftsinspektor, wie Rahlfs im Bericht über das Studienjahr 1888/89 hervorhob: „Ich bin öfter um Rat gefragt worden und habe den Fragenden regelmäßig geraten, sich in dieses oder jenes Gebiet des theologischen Wissens durch das Studium der Quellen und eingehenderer Werke einzuarbeiten. Aber die Rücksicht auf das Examen hindert fast stets den Erfolg solcher Ratschläge. Es wird fast nur nach Handbüchern gearbeitet. Um diesen Übelstand zu beseitigen, wäre freilich eine durchgreifende Änderung der für die Aufnahme in das theologische Stift maßgebenden Principien erforderlich; die Stipendiaten müßten etwa in ihrem 3. Semester aufgenommen werden und nach beendigtem 5. Semester das Stift verlassen.“9
In den zweistündigen wissenschaftlichen Übungen nahm Rahlfs im Wintersemester 1888/89 ausgewählte Stücke aus dem Jeremiabuch durch und las mit seinen Studenten im Sommersemester 1889 auszugsweise Augustins Confessiones. Im Wintersemester 1889/90 stand die Apostelgeschichte „speciell deren zweite[r] Teil (Leben des Paulus) mit Vergleichung der paulinischen Briefe“10 auf dem Programm, im Sommer 1890 der Vergleich des Textes der beiden Chronikbücher mit dem der Samuel- und Königsbücher. Soweit der Stiftsbericht erkennen lässt, legte Rahlfs nicht nur auf das Studium der Quellen, wie er es
6 Reglement für das Theologische Stift bei der Königl. Universität zu Göttingen von 1878, §§ 3 – 4 (zitiert aus dem Original, das als Abb. abgedruckt ist bei Gerd Lüdemann und Martin Schröder: Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen. Eine Dokumentation, Göttingen 1987, 46). 7 Vgl. Universitätsarchiv Göttingen, Theol. SA 128a.1 („Bericht über das Theologische Stift zu Göttingen [Studienjahr 1888/89]“) und Universitätsarchiv Göttingen, Kuratorialakte XVI.I. C.4 („Bericht über das Theologische Stift zu Göttingen [Studienjahr 1889/90]“). 8 Universitätsarchiv Göttingen, Theol. SA 128a.1. 9 Ebd. 10 Universitätsarchiv Göttingen, Kuratorialakte XVI.I.C.4.
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selbst betrieb und betrieben hatte, großen Wert, sondern achtete auch auf eine durchaus ‚historisch-kritische‘ Untersuchung der Texte. Neben der Betreuung der Studenten bildete die völlige Neuordnung der (zum damaligen Zeitpunkt ca. 4.500 Bände umfassenden) Stifts-Bibliothek einen besonderen Arbeitsschwerpunkt des Stiftsinspektors Rahlfs: Mit Unterstützung mehrerer studentischer Bewohner unterzog er die Bücher nicht nur einer gründlichen Reinigung, sondern begann vor allen Dingen mit der Anfertigung neuer Zettel- und Realkataloge, die es ermöglichten, dass die Exemplare schließlich, nach Sachordnung sortiert, in neu angeschafften Regalen aufgestellt werden konnten.11 Die sehr aufwendigen Arbeiten gingen so gut voran, dass nur noch die Fertigstellung des alphabetischen und nach Sachen geordneten (doppelten) Zettelkatalogs Rahlfs’ Nachfolger zufiel: seinem Freund Heinrich Hackmann (1864 – 1935), der das Amt des Stiftsinspektors dann von Oktober 1890 bis März 1893 bekleiden sollte. Neben den Tätigkeiten im Stift widmete sich Rahlfs seiner Licentiatenarbeit ¯ nî und ʿa¯na¯w in den Psalmen“, in der er – als erster überhaupt – die über „ʿA Bedeutung jener beiden Wörter sprachgeschichtlich untersuchte. Die 1891 fertiggestellte Abhandlung, die ihm, wie zu dieser Zeit üblich, als Habilitationsschrift anerkannt wurde, bildete gemeinsam mit der im November 1892 vom Universitätskurator verliehenen venia legendi für alttestamentliche Exegese den ‚Abschluss‘ des von dem mittlerweile verstorbenen Lagarde initiierten „Zukunftsplans“. Rahlfs’ weitere Karriere an der Göttinger Theologischen Fakultät verlief schleppend: Nach zehn Jahren als Privatdozent beförderte man ihn im April 1901 zum außerordentlichen Professor für Altes Testament, und erst 1919, nachdem ihm 1907 in Göttingen der Doktor honoris causa der Theologie sowie 1914 eine Honorarprofessur verliehen worden waren, wurde er zum persönlichen Ordinarius ernannt. Seit 1918 gehörte er als ordentliches Mitglied der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften (heute: Akademie der Wissenschaften) an, deren ‚Septuaginta-Unternehmen‘ er seit der Gründung im Frühjahr 1908 bis Ostern 1934 leitete.12 Am 8. April 1935 starb Alfred Rahlfs „sanft nach kurzer Krankheit“,13 von persönlichen Anfeindungen zermürbt, in seinem 70. Lebensjahr an „den Folgen eines Schlaganfalls“.14 Die Trauerfeier fand vier Tage später in der Göttinger Universitätskirche statt, die Rede am Sarg hielt der Alttestamentler Johannes
11 Vgl. Universitätsarchiv Göttingen, Theol. SA 128a.1. 12 Vgl. dazu unten Anm. 20. 13 So der Text in der von der Witwe, Julie Rahlfs, den fünf Kindern, dem Schwiegersohn und der Schwester unterzeichneten Todesanzeige vom 9. April 1935. 14 Johannes Hempel: Alfred Rahlfs, in: FuF 11 (1935), 192.
Alfred Rahlfs (1865 – 1935) und die historisch-kritische Edition der Septuaginta
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Hempel. Rahlfs’ Grab befindet sich auf dem Göttinger Stadtfriedhof:15 An der Stelle, wo sein in den 1980er Jahren abgeräumter Grabstein stand, wurde im Jahr 2014 eine von Robert Hanhart gestiftete Gedenkstelle errichtet.
3. Im Fokus des über einhundert Veröffentlichungen umfassenden Œuvres von Alfred Rahlfs steht der Text der Septuaginta. Diesen hatte er zunächst in text- und überlieferungsgeschichtlichen Einzelstudien analysiert und anschließend in (konzeptionell voneinander abweichenden) historisch-kritischen Ausgaben der Bücher Ruth, Genesis, des Psalters sowie zuletzt sogar der gesamten Septuaginta ediert. Diesen Ausgaben lag Rahlfs’ Verständnis der Überlieferungsgeschichte der Septuaginta, d. h. der „alte[n] jüdische[n] Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische“16 zugrunde: Im 3. Jh. v. Chr. habe sie ihren Anfang bei den Büchern des Pentateuch genommen und sei von verschiedenen Übersetzern in den darauffolgenden Jahrhunderten vollendet worden. Nach den Informationen des Prologes zum Buch Jesus Sirach könne man davon ausgehen, dass der wesentliche Teil der Septuaginta, d. h. der sog. Urtext, Ende des 2. Jh. v. Chr. in Gänze und abgeschlossen vorlag, wobei die Art und Weise der Übersetzung je nach Buch wegen der verschiedenen Übersetzer zwangsläufig variiere. Aufgrund der Kanonisierung des hebräischen Alten Testaments einerseits, der Adaption des griechischen Textes durch die werdende Kirche und die damit verbundenen Reaktionen des Judentums anderseits habe der Septuaginta-Text bis ins 4. Jh. n. Chr. „eine reiche Geschichte durchlebt“.17 Aus dieser seien am bekanntesten die im 2. Jh. n. Chr. entstandenen drei jüdischen Neuübersetzungen bzw. Revisionen des Textes durch Aquila, Symmachus und Theodotion, die in das Anfang/Mitte des 3. Jh. n. Chr. geschaffene Monumentalwerk des Kirchenschriftstellers Origenes (185 – 254), die sog. Hexapla, aufgenommen wurden. Die textkritischen Bemühungen des Origenes in der fünften Kolumne seiner Hexapla – später als kirchlicher Bibeltext in Palästina separat verbreitet – markierten den Beginn der christlich-rezensionellen Bearbeitungen der Septuaginta, zu denen auch eine dem 312 gestorbenen Märtyrer Lukian von Antiochien zugeschriebene Rezension gehört. Zur historischen Beglaubigung dieses Befundes verwies Rahlfs auf die Vorrede des Hieronymus (347 – 420) zu den Chronikbüchern in der Vulgata: 15 Grabstelle E 67, Nr. 36/37. 16 Alfred Rahlfs (Hg.): Das Buch Ruth griechisch, als Probe einer kritischen Handausgabe der Septuaginta herausgegeben, Stuttgart 1922, 6. 17 Ebd.
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„Alexandria und Ägypten loben in ihren Ausgaben der Septuaginta den Hesychius als Verfasser. Konstantinopel erkennt bis nach Antiochia hin die Abschriften des Märtyrers Lukian an. Die zwischen diesen gelegenen Provinzen lesen die palästinischen Bücher, die Origenes angefertigt und Eusebius und Pamphilus verbreitet haben, und alle Welt streitet sich wegen dieser dreifachen Vielgestaltigkeit.“18
Die programmatische Absicht seines Lehrers Lagarde, nach möglichst vollständiger Sichtung der handschriftlichen Überlieferung den ‚Urtext‘ (das Original) der Septuaginta durch Identifizierung und Aussonderung aller rezensionellen Elemente wiederherzustellen, verwandelte Rahlfs in ein tatsächlich tragfähiges editionsphilologisches Programm und erklärte aufgrund des großen zeitlichen Abstandes zwischen der Entstehungszeit des ‚originalen‘ Septuaginta-Textes und seinen wichtigsten Überlieferungsträgern nicht mehr den ‚Urtext‘ selbst, sondern lediglich den „ältesten erreichbaren Text“,19 d. h. die dichteste, wissenschaftlich begründbare Annäherung an das Original, zum Editionsziel.20 Als historisch erwies sich dieser Ansatz dadurch, dass Rahlfs weiterhin mit der einstigen Existenz des einen ‚Urtextes‘ rechnete, als kritisch dadurch, dass er nicht einfach beim Text der ältesten Überlieferungsträger verharrte, sondern den ältesten erreichbaren Text mithilfe einer analytischen Methodik rekonstruieren wollte. Lagarde war aufgrund der Vorrede des Hieronymus noch davon ausgegangen, dass „jede Kirchenprovinz […] nur einen einzigen offiziellen Text gehabt“ habe und daher jede Handschrift, sofern ihr Texttyp bereits für ein bestimmtes Buch identifiziert worden war, diesen Texttyp auch in allen anderen Büchern bezeugen musste.21 Rahlfs hingegen wies bereits im 1911 erschienenen dritten Band seiner 18 Michael Tilly: Einführung in die Septuaginta, Darmstadt 2005, 93 (dt. Übersetzung). Im Original lautet der Text: „Alexandria et Aegyptus in Septuaginta suis Hesychium laudat auctorem, Constantinopolis usque Antiochiam Luciani martyris exemplaria probat, mediae inter has provinciae palestinos codices legunt, quos ab Origene elaboratos Eusebius et Pamphilius vulgaverunt, totusque orbis hac inter se trifaria varietate conpugnat.“ Robert Weber und Roger Gryson [Hg.]: Biblia Sacra Iuxta Vulgatam Versionem, Stuttgart 52007, 546, 9 – 12. 19 Alfred Rahlfs: Studie über den griechischen Text des Buches Ruth, MSU 3,2, Berlin 1922, 49. 20 Die Verwirklichung dieses von Lagarde übernommenen Projekts einer kritischen Gesamtausgabe der Septuaginta nahm Rahlfs im institutionellen Rahmen des 1908 durch maßgebliche Unterstützung Göttinger Gelehrter wie Rudolf Smend d. Ä. (1851 – 1913), Julius Wellhausen (1844 – 1918) und Jacob Wackernagel (1853 – 1938) gegründeten Septuaginta-Unternehmens der (Königlichen) Gesellschaft (heute: Akademie) der Wissenschaften zu Göttingen in Angriff. In Rahlfs’ 1914 erschienenem „Verzeichnis der griechischen Handschriften des Alten Testaments“ (= MSU 2) wurden erstmals die sog. Rahlfs-Sigeln eingeführt, die sich heute als international gebrauchte Standardbezeichnung der Septuaginta-Handschriften etabliert haben. Vgl. zur Geschichte des Septuaginta-Unternehmens den Aufsatz von Bernhard Neuschäfer und Christian Schäfer: Dokumente und Bilder zur Vor- und Frühgeschichte des Septuaginta-Unternehmens, in: Kratz und Neuschäfer, Göttinger Septuaginta (s. o. Anm. 5), 363 – 405. 21 Rahlfs, Lebenswerk (s. o. Anm. 4), 76 – 77.
Alfred Rahlfs (1865 – 1935) und die historisch-kritische Edition der Septuaginta
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‚Septuaginta-Studien‘ über „Lucians Rezension der Königsbücher“ und endgültig dann in der 1922 veröffentlichten „Studie über den griechischen Text des Buches Ruth“ nach, dass der von einer Handschrift bezeugte Texttyp nicht nur von Buch zu Buch, sondern sogar innerhalb eines einzigen Bibelbuches verschieden sein konnte. Die hieraus notwendig gewordene buchweise durchzuführende Analyse des Handschriftenmaterials hatte außerdem zur Folge, dass anstelle des vom späten Lagarde erhobenen Postulats, ausschließlich „die drei durch Hieronymus uns bezeugten amtlichen Recensionen der Septuaginta“22 zu rekonstruieren und von dort auf den ‚Urtext‘ zu schließen, sich nunmehr ein deutlich flexibleres Bild der Textgeschichte des Septuaginta-Textes als unumgänglich erwies. „Wir dürfen uns nie darauf versteifen, eine Handschrift durchaus einer der drei von Hieronymus genannten Rezensionen zuweisen zu wollen, sondern müssen stets mit der Möglichkeit rechnen, daß es auch noch andere Rezensionen gegeben hat. Denn die Geschichte des LXXTextes ist mit jenen drei Rezensionen nicht abgeschlossen. Auch spätere Geschlechter haben noch an ihm gearbeitet, und es ist eben die Hauptaufgabe einer methodischen Forschung, die gesamte Geschichte dieses Textes zu erforschen und jeder Textform ihre richtige historische Stellung anzuweisen.“23 Unter „methodischer Forschung“ verstand Rahlfs zunächst grundsätzlich eine unvoreingenommene Beurteilung des Materials, dann aber, ganz konkret, die buchweise vorzunehmende Entwicklung textkritischer und editionsphilologischer Kriterien und ihre transparente Aufbereitung innerhalb einer Einleitung. In den von ihm edierten Ausgaben der Bücher Ruth (1922)24 und Genesis (1926)25, die beide als Handausgaben verstanden und daher im Umfang des textkritischen Apparates bewusst knapp gehalten wurden, in der Editio critica maior des Psalters (1931)26 und in der 1935 erschienenen Handausgabe27 der gesamten Septuaginta wandte er methodische Grundsätze an, die sich bis heute als maßgebend für die Textkritik und Editionstechnik der Septuaginta bewährt haben. Entscheidend für die Rekonstruktion des ältesten erreichbaren SeptuagintaTextes war für Rahlfs dabei die Gruppierung und Schematisierung der handschriftlichen Überlieferung. Diese sollte im Idealfall die griechischen vorchristlichen Papyri (3./2. Jh. v. Chr.) bis hin zu den Minuskelhandschriften des 16. Jh. n. Chr., sodann die lateinischen, koptischen, syrischen, äthiopischen, armenischen 22 23 24 25 26
Paul Anton de Lagarde: Septuagintastudien. Erster Theil, AGWG.PH 37,1, Göttingen 1891, 3. Rahlfs, Ruth (s. o. Anm. 16), 14. Vgl. Rahlfs, Ruth (s. o. Anm. 16). Vgl. Rahlfs, Genesis (s. o. Anm. 1). Vgl. Alfred Rahlfs (Hg.): Psalmi cum Odis, Septuaginta. Societatis Scientiarum Gottingensis auctoritate editum, Bd. X, Göttingen 1931. Die Psalmen-Ausgabe ist der erste Band der sog. „Göttinger Septuaginta“ (= Septuaginta. Vetus Testamentum Graecum Auctoritate Academiae Scientiarum Gottingensis editum, Göttingen 1931 ff.). 27 Vgl. Alfred Rahlfs (Hg.): Septuaginta id est Vetus Testamentum Graece iuxta LXX interpretes, Vol. I: Leges et historiae, Vol. II: Libri poetici et prophetici, Stuttgart 1935.
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sowie arabischen und gotischen Tochterübersetzungen der Septuaginta, ferner die Septuaginta-Zitate bei den griechischen und lateinischen Kirchenschriftstellern sowie schließlich alle Druckausgaben der Septuaginta vom 16. bis zum 20. Jh. berücksichtigen. Anders als z. B. in der Klassischen Philologie üblich, konnten (und können) die einzelnen Septuaginta-Handschriften aufgrund ihrer Masse jedoch nicht einfach stemmatisiert werden, sondern waren (und sind) aufgrund gemeinsamer Besonderheiten in ‚Textfamilien‘ zusammenzufassen. Rahlfs unterschied innerhalb der Familien zwischen ‚Rezensionen‘ (wie die oben bereits erwähnten des Origenes oder Lukian) und ‚Gruppen‘. Ersteren lag eine durchgängig erkennbare, bewusst angelegte, in sich konsistente und auf feststellbare Prinzipien zurückführbare Bearbeitung des Textes zugrunde, letztere setzten sich aus solchen Handschriften zusammen, die Eigenheiten wie Wortvarianten, Zusätze oder Auslassungen miteinander teilten, ohne aber eindeutig auf eine geschlossene Rezensionstätigkeit zurückgeführt werden zu können. Diese Gruppierung der Textzeugen war (und ist) dabei aufs engste mit der Aufstellung innerer und äußerer textkritischer Regularien selbst verschränkt. So lieferte die äußere Textkritik die externen Kriterien für die Beurteilung der Handschriften, nämlich Informationen über die hebräische Vorlage des in ihnen tradierten griechischen Textes, Hinweise zur ‚Übersetzungstechnik‘ der biblischen Bücher und Korpora sowie Auskünfte über Alter und Heimat der einzelnen Handschriften. Ausgehend von den äußeren Kriterien wurden dann, um die endgültige Gruppierung der Zeugen vornehmen zu können, im Rahmen der inneren Textkritik die bewussten Texteingriffe (in Form rezensioneller Überarbeitungen) sowie unbewusste Schreibfehler identifiziert. Indem Rahlfs die Varianten eines Textes auf diese Weise innerhalb der Überlieferungsgeschichte der Septuaginta verorten konnte, stellte er, nach Eliminierung der offensichtlichen Schreibfehler, entsprechend der Gegebenheiten des jeweiligen Buches verschiedene textkritische Kriterien im Sinne von „Wenn-dann-Regeln“ auf, die ihre Bestätigung grundsätzlich in ihren Ausnahmen fanden.28 War schließlich unter Berücksichtigung der überlieferungsgeschichtlich begründeten Editionsregeln ein vorläufiger kritischer Text hergestellt, so mussten dessen Lesarten in einem vorletzten Arbeitsschritt anhand der für die Zeit der Übersetzung des jeweiligen Septuaginta-Buches ermittelbaren grammatikalischen und orthographischen Regeln oder sonstigen Grundsatzentscheidungen geprüft und diesen gegebenenfalls angepasst werden, außerdem weitere, der Rekonstruktion des ältesten erreichbaren Textes zugrundeliegende Kriterien Anwendung finden (z. B. hinsichtlich der Schreibweise von Eigennamen). Sämtliche Fälle, die bis dahin nicht befriedigend geklärt werden konnten, wurden am Ende der sog. Konjekturalkritik unterzogen.
28 Vgl. z. B. Rahlfs, Psalmi cum Odis (s. o. Anm. 27), 71 – 74.
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Die Ergebnisse dieses Editionsprozesses bereitete Rahlfs nun in seinen Ausgaben wegen ihrer teils differierenden Konzepte quantitativ unterschiedlich auf, blieb dabei dem von ihm aufgestellten Prinzip des textkritischen Apparats jedoch grundsätzlich treu: Dieser sollte zum einen diejenigen Lesarten dokumentieren, die den rekonstruierten Text begründeten, um so die textkritische Entscheidung nachvollziehbar und transparent zu machen, zum anderen aber auch über die (frühen) überlieferungsgeschichtlichen Entwicklungen des jeweiligen Buches Auskunft erteilen.
4. Anfang April 1935 war, wenige Tage vor Rahlfs’ Tod, in Stuttgart die Handausgabe der Septuaginta erschienen. Mit ihr besaß die Nachwelt eine auf Basis der damaligen Kenntnis der Überlieferungsgeschichte der Septuaginta gründende Textedition, die eine derart breite Rezeption erfuhr, dass sie noch heute, 80 Jahre später, nicht nur von Studierenden und Pfarrerinnen und Pfarrern, sondern ebenso von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – zumindest für die noch nicht erschienenen Bände der „Göttinger Septuaginta“ – als Standardwerk gebraucht wird. Rahlfs’ Bedeutung als Septuaginta-Forscher, genauer: als Textkritiker der Septuaginta, lässt sich an diesem, in erster Linie buchhändlerischen Erfolg besonders eindrücklich ablesen. Weniger bekannt dürfte allerdings sein, dass seiner 1922 erschienenen „Studie über den griechischen Text des Buches Ruth“ als Muster einer transmissionsgeschichtlichen Untersuchung der Septuaginta ein wirkungsgeschichtlich nicht minderer, vor allem wissenschaftsgeschichtlich epochaler Rang zuzuschreiben ist, da in ihr, ausgehend und zugleich endgültig emanzipiert von Lagardes Editionsansatz, zum ersten Mal in der Geschichte der Septuagintaforschung die im Bereich der Klassischen Philologie und des Neuen Testaments etablierten textkritischen Verfahren methodisch exakt, d. h. frei „von vorgefaßten Theorien“, vielmehr „lediglich von dem gegebenen Material“ geleitet, auf den Text der Septuaginta übertragen wurden.29 Die methodischen Grundsätze von Alfred Rahlfs bilden bis heute den – nahezu unveränderten – Ausgangspunkt für jegliche textkritische Arbeit am griechischen Alten Testament. Sie werden ihn wohl noch auf lange Zeit bilden.
Primärtexte Alfred Rahlfs: Studie über den griechischen Text des Buches Ruth, MSU 3,2, Berlin 1922. 29 Rahlfs, Genesis (s. o. Anm. 1), 3. Vgl. auch oben Abschnitt 1.
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–: Paul de Lagardes wissenschaftliches Lebenswerk im Rahmen einer Geschichte seines Lebens dargestellt, MSU 4, Berlin 1928. – (Hg.): Septuaginta id est Vetus Testamentum Graece iuxta LXX interpretes, Vol. I: Leges et historiae, Vol. II: Libri poetici et prophetici, Stuttgart 1935.
Sekundärtexte Sidney Jellicoe: The Septuagint and Modern Study, Oxford 1968, bes. 9 – 18. Natalio Fernández Marcos: The Septuagint in Context. Introduction to the Greek Versions of the Bible, Leiden 2000. Christian Schäfer: Der Briefwechsel zwischen Alfred Rahlfs und Paul Anton de Lagarde, in: Reinhard Gregor Kratz und Bernhard Neuschäfer (Hg.): Die Göttinger Septuaginta. Ein editorisches Jahrhundertprojekt, AAWG N. F. 22 (= MSU 30), Berlin/Boston 2013, 273 – 328. Rudolf Smend: Alfred Rahlfs. Ein Leben für die Septuaginta, in: Reinhard Gregor Kratz und Bernhard Neuschäfer (Hg.): Die Göttinger Septuaginta. Ein editorisches Jahrhundertprojekt, AAWG N. F. 22 (= MSU 30), Berlin/Boston 2013, 265 – 272.
Martin Laube
Rudolf Otto (1865 – 1937) – das Rationale und das Irrationale in der Religion
1. „Daß in einer Religion die irrationalen Momente immer wach und lebendig bleiben, bewahrt sie davor, Rationalismus zu werden. Daß sie sich reich mit rationalen Momenten sättige, bewahrt sie davor, in Fanatismus oder Mystizismus zu sinken oder darin zu beharren – befähigt sie erst zu Qualitäts-, Kultur- und Menschheits-religion. Daß beide Momente vorhanden sind und in gesunder und vollkommener Harmonie stehen, ist […] ein Maßstab, woran die Überlegenheit einer Religion gemessen werden kann.“1
Kennzeichnend für die phänomenologische Religionstheorie Rudolf Ottos ist der Versuch, zwei Anliegen miteinander zu vermitteln. Auf der einen Seite arbeitet er daran, die Religion im menschlichen Vernunftvermögen zu verankern und so als etwas zutiefst ‚Vernünftiges‘ zu erweisen, das mit Fug einen Anspruch auf vernünftige Geltung erheben kann. Auf der anderen Seite sucht er zur Geltung zu bringen, dass das religiöse Erleben mit den Mitteln der bloßen Vernunft niemals vollständig erfasst und eingeholt werden kann. Es gilt also, beides zu beachten – dass die irrationalen Momente des religiösen Erlebens wach und lebendig bleiben, dass sie aber auch rational bearbeitet und durchdrungen werden. Erst auf diese Weise gelingt es, die Religion vor rationalistischer Verflachung und irrationalistischer Fanatisierung gleichermaßen zu bewahren.
2. Wenn der Name Rudolf Otto fällt, denkt man zumeist nicht an Göttingen, sondern an Marburg: Nach einem kurzen Zwischenspiel in Breslau war Otto im Jahre 1917 als Nachfolger Wilhelm Herrmanns dorthin berufen worden. Noch im 1 Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Erweiterte Neuausgabe, München 2014, 170 f.
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selben Jahr erschien sein Hauptwerk Das Heilige, das ihn gleichsam über Nacht weltberühmt machte. Otto blieb in Marburg und lehrte dort zwölf Jahre bis zu seiner – aus gesundheitlichen Gründen unvermeidbar gewordenen – frühzeitigen Pensionierung im Jahre 1929. Doch auch im Ruhestand blieb er wissenschaftlich aktiv. Im Februar 1937 wurde er, unter starken Depressionen leidend, in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, wo er wenige Wochen später starb. Länger gelebt und gearbeitet hat Otto freilich in Göttingen. Eher widerwillig wechselte der 1869 im hannoverschen Peine geborenen Theologiestudent an die dortige Landesfakultät, als das Erste Examen nahte. Nach dem Zweiten Examen trat er 1895 die Stelle als Inspektor am Theologischen Stift an, wurde 1898 mit einer Arbeit über Die Anschauung vom Heiligen Geiste bei Luther zum Licentiaten promoviert und im folgenden Jahr zum Privatdozenten ernannt. Trotz der Verleihung einer außerordentlichen Professur für Religionsphilosophie im Jahre 1906 blieb er de facto sechzehn Jahre im Status eines Privatdozenten, bis ihn 1915 endlich der Ruf auf einen Lehrstuhl für Systematische Theologie in Breslau erreichte. Göttingen ist also Ottos Heimatfakultät. Hier hat er seine theologische Prägung empfangen, hier hat er seine akademischen Meriten erworben – und hier hat er lange, lange darauf gewartet, endlich Professor zu werden. Die zermürbende Wartezeit hat bei Otto nachhaltige Spuren hinterlassen. Wegen einer Malaria-Infektion hatte er ohnehin mit langwierigen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen; nun kamen verstärkt psychische Erschöpfungszustände und depressive Schübe hinzu. Zeitweise war er nahe daran, der Theologie ganz den Laufpass zu geben und mit einem Studium der Nationalökonomie nochmals von vorn zu beginnen. In dieser Lage wendet sich Otto brieflich an Ernst Troeltsch. Er schüttet ihm sein Herz aus und berichtet von den Überlegungen, der Theologie den Rücken zu kehren. Troeltsch rät ihm eindringlich von einem solchen Schritt ab – und zeigt sich zugleich als einfühlsamer Seelsorger. Im November 1904 schreibt er an Otto: „Ich habe lange genug mit Privatdozenten während ihrer Notjahre zusammen gelebt, um zu wissen, wie zerrüttend und aufreibend eine endlose Privatdozententätigkeit wirkt. Der Mangel fester Zukunftsaussichten, die Entbehrung von Heim und Haus und jedenfalls der Heimat, die Abhängigkeit von anderen und die geringe Lehrtätigkeit, das sind Dinge, die auf Dauer schwer drücken und einen Zustand herbeiführen, der fast der typische Zustand älterer Privatdozenten ist und den ich die Privatdozenten-Krankheit zu nennen pflege.“2
Dann fährt er fort: 2 Ernst Troeltsch: Brief an Rudolf Otto vom 17. 11. 1904 (Nachlaß Rudolf Otto, UB Marburg, HS 797:800); zitiert nach Karl-Ernst Apfelbacher: Frömmigkeit und Wissenschaft. Ernst Troeltsch und sein theologisches Programm, Paderborn 1978, 59.
Rudolf Otto (1865 – 1937) – das Rationale und das Irrationale in der Religion
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„Ihre Krankheit sitzt nun freilich noch tiefer. Sie haben zu dieser hinzu noch die Theologen-Krankheit, die mir ebenfalls sehr wohl bekannt ist. Es ist teils die ewige Wundreibung an einer offiziellen Lehre, an die man sich anzupassen sucht und wo man nie ein wirklich ehrliches Gefühl seiner Existenz bekommt, teils ist es die dann immer naheliegende Idee, ob nicht vielleicht die offizielle Lehre im Recht ist und man […] selbst der Tor […], der sich die Wurzel der Christlichkeit abgeschnitten hat und dann noch ein paar Zweige des Baumes frisch halten möchte. Dann kommt die Religionsskepsis überhaupt und das Radikalste scheint einem dann einleuchtend; man hat eigentlich nur mehr Gegengründe und keine Gründe mehr für seine Position.“3
Natürlich lässt sich eine solche briefliche Äußerung daraufhin befragen, in welcher Weise hier der Briefschreiber nicht tief in das eigene Innere blicken lässt. Gleichwohl hat Troeltsch ein Charakteristikum des Otto’schen Denkens erkannt: die ‚Wundreibung‘ an der überlieferten kirchlich-dogmatischen Lehre, die von Otto zunehmend als ein rationalistisch-erstarrter Klumpen versteinerter Dogmen empfunden wird, aus welchen die Lebendigkeit des religiösen Erlebens entwichen ist – ohne dass die Alternative darin bestehen könnte, sich durch eine pauschale Verabschiedung der Tradition selbst ‚die Wurzel der Christlichkeit‘ abzuschneiden. Damit richtet sich der Blick auf die theologischen Einflüsse und Prägungen, die Otto in Göttingen empfangen hat. Als er im Jahre 1891 nach Göttingen kommt, ist das Haupt der sogenannten ‚Ritschl’schen Schule‘, Albrecht Ritschl, seit knapp zwei Jahren tot. Der Nachfolger auf seinem Lehrstuhl, Theodor Häring, führt das Ritschl’sche Erbe zwar weiter, scheint auf Otto aber keinen nachhaltigen Eindruck gemacht zu haben. Stattdessen wendet er sich der Religionsgeschichtlichen Schule zu. Jedenfalls knüpft Otto Kontakte zu den Mitgliedern der ‚Kleinen Göttinger Fakultät‘ – soweit diese in den 1890er Jahren noch in Göttingen waren. Zeitlebens steht er in brieflichem Kontakt mit Heinrich Hackmann und Alfred Rahlfs, daneben aber auch mit Ernst Troeltsch. Einen Sonderfall stellt schließlich das Verhältnis Ottos zu Wilhelm Bousset dar. Über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren lehren sie gemeinsam in Göttingen und pflegen eine persönliche Freundschaft – ohne freilich je vom ‚Sie‘ zum ‚Du‘ überzuwechseln. Beide verorten sich im liberalen Lager und werden dort auch politisch aktiv. So treten sie in Göttingen als Redner und Moderatoren auf Veranstaltungen des linksliberalen Akademischen Freibundes auf. Dabei schließen sie auch Bekanntschaft mit dem Philosophen Leonard Nelson, dem Begründer des Göttinger ‚Neufriesianismus‘. Nelson ist der Vorsitzende des Akademischen Freibundes; zudem gehört er zum Vorstand des Göttinger Vereins der entschieden Liberalen. Dieser Verein wendet sich vor allem an das außeruniversitäre Publikum und vertritt dabei die politische Linie einer Zusammen3 Ebd.
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arbeit mit der Sozialdemokratie. Neben Nelson ist es vor allem Bousset, der sich in diesem Verein engagiert. In einer Rede vom Dezember 1909 tritt er nachdrücklich für ein sozialliberales Bündnis ein – und bezahlt dafür beinahe mit seiner wissenschaftlichen Karriere. Otto hingegen kandidiert im Jahre 1913 überraschend auf der Liste der Nationalliberalen Partei. Nach einem intensiven Wahlkampf – quer durch alle Dörfer der Umgebung – wird er mit großem Vorsprung gewählt und zieht als Abgeordneter in den preußischen Landtag ein.
3. Die Bekanntschaft mit Leonard Nelson beschränkt sich nun aber nicht nur auf den Bereich des politischen Engagements. Vielmehr hatte Nelson bereits 1904 den Kontakt zu Rudolf Otto gesucht, um ihn für seine ‚neufriesianische Schule‘ zu gewinnen. Nach anfänglicher Zurückhaltung machte sich Otto das Programm des Neufriesianismus rasch zu eigen. Den sichtbaren Niederschlag dafür bildet die Studie über die Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, welche im Jahre 1909 erscheint. Mit dem Namen Jakob Friedrich Fries verbindet sich eine Rezeptionslinie der kantischen Philosophie, die vom Hauptstrom des klassischen deutschen Idealismus charakteristisch abweicht. An die Stelle der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie tritt hier eine Wendung zur psychologischen Anthropologie. Während Kant den Aufweis apriorischer Elemente des menschlichen Erkennens mit der Behauptung ihrer subjektiven Idealität verbunden hatte, erklärt nun Fries, dass diese Elemente einer psychologischen Selbstbeobachtung zugänglich seien – und die Vernunft damit den Schlüssel zu einer unmittelbaren Erkenntnis der wahren Ideenwelt in Händen halte. Freilich vermöchte erst das religiöse Gefühl der ‚Ahndung‘, diese Ideen gegenständlich greifbar und anschaulich lebendig zu erfassen. Die Attraktivität von Fries’ Umbildung der kantischen Erkenntnistheorie besteht für Otto darin, dass sie einen neuen Zugang zur Frage nach der Geltung der Religion eröffnet. Ein solcher Zugang schien Otto dringend geboten, denn der offenbarungstheologische Rahmen des überkommenen Supranaturalismus war unter dem Ansturm des modernen Denkens in sich zusammengefallen. Nun drohte zum einen der Naturalismus alles religiöse Erleben zu einem bloßen Epiphänomen zu reduzieren, zum anderen der Historismus alle religiösen Geltungsansprüche im Strudel eines zersetzenden Relativismus versinken zu lassen. Die Fries’sche Philosophie bot hier insofern einen Ausweg, als sie aufzuweisen versprach, dass die Religion ihren Ursprung in der Vernunft habe und eben deshalb mit einem allgemeinen Anspruch auf Wahrheit und Geltung ausgestattet sei. Anders noch als Kant, der die Religion zum bloßen Vehikel der Moral erklärt
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hatte, schien Fries „den religiösen Ideen [sc. wieder; ML] einen notwendigen Platz innerhalb der reinen Vernunft des Menschen zu erobern“4 und dem Glauben damit den ersehnten Zugang zur sturmfreien „Welt ewiger Gewißheit und Wirklichkeit“5 zu verschaffen. Im Gegenzug jedoch ist Otto daran gelegen, zugleich die irreduzible Selbständigkeit des religiösen Gefühls gegenüber dem Zugriff des rationalen Begriffs zum Ausdruck zu bringen. Darin liege die zweite große Leistung der Fries’schen Religionsphilosophie: Die Religion habe zwar ihren Ursprung in der Vernunft, gehe aber zugleich über den Horizont des vernünftigen Begreifens hinaus. Die ihr eigentümliche Erkenntnisform der ‚Ahndung‘ sei mit den Mitteln des begrifflichen Denkens ebenso uneinholbar wie unvertretbar. Bei näherem Hinsehen steht hier durchaus ein Leitmotiv der Religionsgeschichtlichen Schule im Hintergrund. Dabei handelt es sich um das Interesse, die Selbständigkeit der Religion auch gegenüber theologisch-rationaler Einbettung und Bevormundung zur Geltung zu bringen. Darüber hinaus stellt Otto das Fries’sche Programm in die Tradition des aufgeklärten Anliegens, „im Gegensatz zum Vertheologisierten und Subtil-gelehrten“6 dasjenige an der Religion herauszuheben, „was einfach, unmittelbar, und ‚auch dem gemeinen Mann verständlich‘ ist.“7 Damit gibt er dem Emanzipationsmotiv der Religionsgeschichtlichen Schule eine historisch gewendete Fassung. Im Hintergrund stehe der – bereits in der Reformation ansetzende – Durchbruch des „Laienchristentums“8 mit seiner selbstbewussten Distanzierung gegenüber Schulgelehrtheit und Spekulation. Doch auch der Übergang in die Romantik lasse sich in diese Traditionslinie einfügen. Es sei nur deren konsequente Fortsetzung, wenn sich die Unmittelbarkeit des Religiösen schließlich gegen den Rationalismus überhaupt kehre: „Jene Selbsthilfe des ‚Laien‘ wird jetzt zum Proklamieren der Rechte des ‚Gefühls‘ gegenüber der Reflexion.“9 Fries kommt für Otto das Verdienst zu, diese Entwicklung aufgenommen und das Eigenrecht einer solchen vorreflexiven Gefühlsreligion vernünftig begründet zu haben. Ottos Theorieprogramm lässt damit eine Spannung erkennen: Auf der einen Seite arbeitet er daran, die Religion im menschlichen Vernunftvermögen zu verankern und ihr über den Aufweis eines ‚religiösen Apriori‘ einen allgemeinen Geltungsanspruch zu sichern. Auf der anderen Seite jedoch ist ihm zugleich 4 Vgl. Wilhelm Bousset: Kantisch-Friessche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, in: ThR 12 (1909), 419–436 und 471–488, hier: 472. 5 Ebd., 478. 6 Rudolf Otto: Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie. Zur Einleitung in die Glaubenslehre für Studenten der Theologie, Tübingen 1909, 19. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd., 21f.
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daran gelegen, religiöses Erleben und begriffliche Reflexion so voneinander zu unterscheiden, dass die spezifische Eigenart der Religion mit den Mitteln der Vernunft niemals vollständig erfasst, eingeholt oder gar aufgehoben werden kann. Geht es nun in der Studie über die Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie vorrangig noch darum, den vernünftigen Ursprung der Religion sicherzustellen, verlagert sich das Interesse in der Folgezeit mehr und mehr darauf, den eigenständigen, rational nicht fassbaren Charakter des religiösen Erlebens in den Vordergrund zu rücken. „Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen“ – so heißt entsprechend der Untertitel seines Hauptwerks Das Heilige, das im Jahre 1917 erstmals erscheint und schon binnen der folgenden zehn Jahre sechzehn Auflagen erlebt. In seiner Rezension zur achten Auflage im Jahre 1922 bemerkt Adolf von Harnack: „Selten ist ein theologisches Werk der Stimmung der Zeit so entgegengekommen und so restlos eingesogen worden wie das vorliegende,“10 um dann mahnend fortzufahren, solche Aktualität „sei nicht nur ein günstiges Zeichen.“11 Damit hat er insofern Recht behalten, als Otto trotz des exorbitanten Bucherfolgs innerhalb der deutschen protestantischen Theologie ein Außenseiter geblieben ist. Ottos erklärte Absicht lautete, gegenüber einer rationalistischen Verflachung der Religion programmatisch die ‚irrationalen‘ Momente des Religiösen herauszustellen. Allerdings ist bei dem Gebrauch dieses Begriffs sogleich Vorsicht geboten. Otto wendet sich gegen die Unterstellung, durch begriffliche Reflexion das Wesen des Göttlichen erschöpfen und die Eigenart des Religiösen vollgültig erfassen zu können. Weit davon entfernt, die Religion aus triebhaften Instinkten oder dunklen Kräften des Unterbewussten hervorquellen zu lassen – und ihr damit den wertenden Stempel des bloß ‚Irrationalen‘ aufzudrücken –, sucht er das einzufangen, was sich der rationalen Analyse und dem vernünftigen Begreifen entzieht. Insofern geht es auch nicht darum, das Irrationale des religiösen Erlebens einfach gegen das Rationale auszuspielen. Otto ist gerade kein Prophet eines schwärmerischen Antirationalismus. Sein Anliegen besteht vielmehr darin, die von ihm diagnostizierte rationalistische Verkrustung der Religion und ichrer Lehrbildung aufzubrechen – also gegen die einseitige Rationalisierung der Gottesidee deren irrationale, jeder vernünftigen Erfassung völlig unzugänglichen Momente zur Geltung zu bringen und im frommen Erleben lebendig zu erhalten. In methodischer Hinsicht stellt eine solche Absicht freilich vor nicht geringe Schwierigkeiten. Denn eine begrifflich durchgeklärte Auflistung der gesuchten nichtbegrifflichen Momente verbietet sich von selbst; auch an eine rational ar10 Adolf von Harnack: Rez. Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 81922, in: DLZ NF 1 (1924), 993. 11 Ebd.
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gumentierende Darlegung ist nicht zu denken. Vielmehr sei die für das religiöse Erleben charakteristische Gemütsgestimmtheit „wie jedes ursprüngliche und Grund-datum nicht definibel im strengen Sinne, sondern nur erörterbar. Man kann dem Hörer nur dadurch zu ihrem Verständnis helfen, daß man versucht, ihn durch Erörterung zu dem Punkte seines eigenen Gemütes zu leiten, wo sie ihm dann selber sich regen, entspringen und bewußt werden muß.“12
Entsprechend eröffnet Otto sein Buch Das Heilige mit der Aufforderung an den Leser, „sich auf einen Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen.“13 Allerdings sei damit keineswegs ein Freibrief für unkontrollierte Schwärmerei verbunden. Stattdessen bestehe die Aufgabe darin, in möglichst nahekommender „ideogrammatischer Bezeichnung“14, wie Otto es nennt, das Unsagbare nicht zu bedeuten, sondern anzudeuten: „Es gilt, das Irrationale nicht zu rationalisieren, was unmöglich ist, wohl aber einzufangen und nach seinen Momenten festzulegen und dadurch dem ‚Irrationalismus‘ schwärmerischer Willkürrede durch gefestigte ‚gesunde‘ Lehren entgegenzutreten.“15 Inhaltlich macht Otto das Spezifikum der Religion sodann in einem besonderen Gefühlserlebnis fest, in einem ‚Urgefühl‘, das er als Gefühl des ‚Numinosen‘ bezeichnet. Dabei handle es sich um ein ursprüngliches und insofern irreduzibles Gefühl des Ergriffenseins von einem übermächtigen Anderen, das „Gefühl einer schlechthinnigen Überlegenheit (und Unnahbarkeit) seiner.“16 Zur Erläuterung verweist Otto auf die anklingende Nähe zu Schleiermachers berühmter Bestimmung der Religion als ‚Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit‘ – um sich dann umso deutlicher von ihm zu distanzieren. Schleiermacher habe mit dem Abhängigkeitsgefühl ein ‚Kreaturgefühl‘ im Sinn: „das Gefühl der Kreatur, die in ihrem eigenen Nichts versinkt und vergeht gegenüber dem, was über aller Kreatur ist.“17 Genauer betrachtet handele es sich also um ein Selbstgefühl – um das Gefühl der eigenen Bestimmtheit –, zu dem der Gottesgedanke erst sekundär hinzutrete, um das ‚Woher‘ dieser Abhängigkeit zu benennen. Eben das sei jedoch „völlig gegen den seelischen Tatbestand.“18 In klaren Worten markiert Otto hier seine Abgrenzung: „Das ‚Kreatur-gefühl‘ ist […] erst subjektives Begleitmoment und Wirkung, ist gleichsam der Schatten eines anderen Gefühlsmomentes (nämlich der ‚Scheu‘), welches selber
12 13 14 15 16 17 18
Ebd., 7. Ebd., 8. Ebd., 77. Ebd. Otto, Das Heilige (so. Anm. 10), 12. Ebd., 10. Ebd., 11.
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zweifellos zuerst und unmittelbar auf ein Objekt außer mir geht. Das aber ist eben das numinose Objekt. Nur wo numen als praesens erlebt wird […] oder wo ein Etwas numinosen Charakters gefühlt wird, also erst infolge einer Anwendung der Kategorie des Numinosen auf ein wirkliches oder vermeintliches Objekt kann als deren Reflex das Kreatur-gefühl im Gemüt entstehen.“19
Die Religion hat – Otto zufolge – ihren Ursprung im Gefühl eines ‚numinosen‘ Objekts. Es kann daher nicht überraschen, dass ihm immer wieder der Rückfall in einen gegenständlich-theistischen Realismus vorgeworfen wird. Doch dieser Vorwurf ist unberechtigt. Denn Otto verweist nur auf die primäre „Objektbezogenheit“20 des religiösen Gefühls, unterlässt es aber gerade, daraus gegenständliche Objektbestimmungen abzuleiten. Vielmehr nimmt er das religiöse Selbstverständnis ernst, sich von anderswoher bestimmt zu erfahren, ohne dieses Anderswoher als ein irgendwie ‚reales Objekt‘ erfassen zu wollen. Das tremendum werde näherhin als schauervolles Geheimnis und „schlechthinnige Unnahbarkeit“21 erlebt. Zugleich zeichne es sich durch Macht und „schlechthinnige Übergewalt“22 aus und befasse schließlich ein Moment des Energischen in sich, welches „das Gemüt des Menschen aktiviert, zum ‚Eifern‘ bringt, mit ungeheurer Spannung und Dynamik erfüllt.“23 Freilich sei das Numinose damit noch nicht hinreichend beschrieben. Denn im Gegenzug eigne ihm „offenbar zugleich etwas eigentümlich Anziehendes, Bestrickendes, Faszinierendes, das nun mit dem abdrängenden Momente des tremendum in eine seltsame Kontrast-harmonie tritt.“24 Das Numinose erscheine stets als grauenvoll-furchtbar und lockend-reizvoll zugleich – eben darin bestehe der positive Doppelinhalt des Mysteriums, welches sich dem religiösen Gefühl kundtut. Anders formuliert: Das mysterium ist mysterium tremendum et fascinans. Damit kann sich Otto schließlich der Frage zuwenden, die laut Untertitel die eigentliche Aufgabe seines Buches ausmacht: „Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen“. In welcher Beziehung stehen die aufgewiesenen irrationalen Momente des Religiösen zu den Versuchen ihrer rationalen Erfassung und Bestimmung? So unverzichtbar die ‚irrationalen‘ Momente des religiösen Erlebens sind, so unverzichtbar ist zugleich ihre ‚rationale‘ Bearbeitung und Durchdringung. Beides gehört mit „innere[r] Notwendigkeit“ zusammen.25 Entsprechend war bisher nicht vom Heiligen, sondern vom Gefühl des Numinosen die Rede. Denn die Kategorie des Heiligen 19 20 21 22 23 24 25
Ebd., 11 f. Ebd., 14. Ebd., 22. Ebd. Ebd., 27. Ebd., 42. Ebd., 165.
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ist für Otto bereits die rationale Verarbeitung des numinosen Gefühls. Sie ist eine „zusammengesetzte Kategorie,“ in welcher die irrationalen Momente des Gefühls durch die rationalen Ideen und Begriffe der Vernunft strukturiert und gleichsam ‚in Form‘ gebracht werden.26 Auf diese Weise sucht Otto die innere Zusammengehörigkeit und notwendige Vermittlung von Rationalem und Irrationalem in der Religion deutlich zu machen. Weder geht die Religion in ihren rationalen Aussagen auf – und lässt sich also nicht verlustfrei in einen philosophisch-vernünftigen Begriffsrahmen überführen –, noch kann sie sich als eine irrationale Schwärmerei gerieren, die allen Ansprüchen und Formen vernünftiger Rechenschaft entzogen wäre. In der gelungenen Vermittlung beider Seiten liegt für Otto daher auch das entscheidende Wertkriterium zur Beurteilung einer Religion. Es wird schließlich kaum überraschen, dass das Christentum hier den Sieg davonträgt. In ihm finde sich ein harmonischer Ausgleich von irrationalem Erleben und rationaler Vernunftanlage, der es seinen ‚Schwesterreligionen‘ schlechthin überlegen erscheinen lasse. „Auf tief-irrationalem Grunde erhebt sich der lichte Bau seiner lauteren und klaren Begriffe, Gefühle und Erlebnisse. Das Irrationale ist nur sein Grund und Rand und Einschlag, gibt ihm die schweren Töne und Schlagschatten der Mystik, ohne daß in ihm Religion zur Mystik selbst ausschlägt und auswuchert. Und so formt sich das Christentum im gesunden Verhältnisse seiner Momente zu der Gestalt des Klassischen, die dem Gefühle sich nur um so lebhafter bezeugt, je mehr man […] erkennt, daß in ihm auf besondere – und überlegene – Weise ein Moment menschlichen Geisteslebens zur Reife gekommen ist, das doch auch anderswo seine Analogien hat, nämlich eben ‚Religion‘.“27
4. Für eine kritische Würdigung Rudolf Ottos seien aus der Fülle der möglichen Aspekte exemplarisch und in der gebotenen Kürze drei herausgegriffen. (1) Rudolf Otto wird zumeist der Religionsgeschichtlichen Schule zugerechnet. In pointierter Zuspitzung erscheint er gelegentlich gar als der andere Systematiker der Religionsgeschichtlichen Schule neben Ernst Troeltsch. In mancher Hinsicht mag diese Zuordnung berechtigt sein. In einer Hinsicht jedoch stimmt sie nicht: Rudolf Otto hat das Problem des geschichtlichen Denkens niemals als ein drängendes Problem empfunden. Dass die Geschichte einem unablässigen Strom gleicht – mit der Pointe, dass auch ihr Betrachter nicht am festen Ufer steht, sondern im Strom mitgerissen wird –, dass eine rein ideengeschichtliche Betrachtung die Komplexität der historischen Zusammenhänge unzulässig ver26 Ebd., 137. 27 Ebd., 170 f.
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einfacht, dass schließlich das historische Fragen eine geradezu subversiv-abgründige Dynamik entfaltet – alles das ist ihm, so scheint es, vollkommen fremd geblieben. Das zeigt sich nicht zuletzt bei einem Blick auf Das Heilige. Nicht selten heißt es, Otto habe hier nicht nur einen religionsphänomenologischen, sondern – seiner allgemeinen Betrachtung von Ursprung und Entwicklung der Religion wegen – auch einen dezidiert religionsgeschichtlichen Entwurf vorgelegt. Das Gegenteil ist der Fall. Ernst Troeltsch hat das in seiner Rezension klar erkannt: „Für Otto gibt es im Grunde keine wirkliche innere Bewegung und Veränderung in der Entwicklung, sondern nur die Herausstellung des von Anfang und Grund an in der religiösen Anlage wie in der Vernunft überhaupt schon Implizierten. Die Stufen werden durch das Maß des Heraustretens der rationalen […] Elemente aus der Verdeckung durch die irrationalen und durch das Maß der inneren Ausgleichung und Vereinigung der beiden festgestellt. Es gibt also weder den Fluß des in lauter individuellen Gebilden sich bewegenden Historismus noch die kausale Ableitung und Erklärung dieser Gebilde aus ihren jeweiligen psychologischen Antezedenzien. Es gibt nur eine bald reichere und bald ärmere, bald widersprechendere bald harmonischere Entfaltung der beiden Elemente oder der ‚Anlage‘.“28
Troeltsch weist scharfsinnig auf, dass Otto in seinem Hauptwerk zwar eine Religionskunde, aber gerade keine Religionsgeschichte bietet. Diese Ausblendung der Dimension der Geschichte – und ihrer historistischen Abgründigkeit – ist uns heute nicht mehr möglich. Das geschichtliche Denken relativiert jeden Anspruch auf zeitenthobene Geltung, indem es ihm selbst wieder einen geschichtlichen Index einschreibt. Dieses Problem ist nicht zu lösen. Unredlich ist aber auch, es einfach zu ignorieren. Wir können ihm nur standhalten. (2) Kaum jemand kann sich der Eindrücklichkeit von Ottos Beschreibungen des mysterium tremendum et fascinans entziehen. Der tastend-vorsichtige Zugang zum religiösen Erlebnis, die fein differenzierte Abschattung der unterschiedlichen Gefühlsqualitäten und dazu die kraftvolle Prägnanz der Sprache erscheinen von so unwiderleglicher Klarheit und Überzeugungskraft, dass es den publizistischen Erfolg von Das Heilige durchaus zu erklären vermag. Und doch verbirgt sich hinter Ottos Ansatz ein Problem. Man könnte es vielleicht in die folgende Frage kleiden: Ist Ottos Buch deshalb so faszinierend und anregend, weil man in seiner Beschreibung des religiösen Erlebnisses sein eigenes religiöses Erleben wiedererkennt – oder weil man sich vielleicht nur um so dringlicher wünscht, nun auch solche Erlebnisse zu haben? Anders formuliert: Holt Otto mit seinen Beschreibungen tatsächlich unser eigenes religiöses Erleben ein? Können wir seine Rede vom mysterium tremendum et fascinans als sachgerechte Ausle28 Ernst Troeltsch: Zur Religionsphilosophie. Aus Anlaß des Buches von Rudolf Otto über „Das Heilige“ (Breslau 1917), in: Kant-Studien 23 (1919), 73 f.
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gung unseres eigenen religiösen Gefühlslebens verstehen – oder entwirft er nicht vielmehr das Idealbild eines religiösen Virtuosen, das uns letztlich nur wie eine unerreichbare Fata Morgana erscheint, zu der wir niemals hingelangen? Am Beispiel von Rudolf Otto scheint damit ein Grundproblem aller erfahrungstheologischen Ansätze in der Theologie auf. Sie stehen in der Gefahr, außerordentliche Durchbruchserlebnisse oder außergewöhnliche Bewusstseinszustände zur Norm für den christlichen Glauben zu erklären und damit den ‚normalen‘ Christenmenschen entweder zu überfordern oder zu verschrecken. Vielleicht mag sich die eine oder der andere an ein solches außergewöhnliches Erlebnis erinnern, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls trifft es für den eigenen Glauben nicht zu, ihn als die stürmische Abfolge solcher Erlebnisse beschreiben zu wollen. Er gleicht vielmehr einer inneren Haltung – einer Einstellung zum Leben und zur Welt, die durchaus von festen Überzeugungen getragen ist, auch seinerseits die Lasten des Lebens zu tragen vermag, aber nicht durch außergewöhnliche Erlebnisse der Gottesbegegnung durcheinandergewirbelt wird. (3) Ottos Unterscheidung zwischen ‚rationalen‘ und ‚irrationalen‘ Momenten in der Religion ruft allein wegen des Wortes ‚irrational‘ häufig ein gewisses Misstrauen hervor. Als ‚irrational‘ möchte man seinen Glauben nun doch nicht verstanden wissen – schließlich klingt das stets ein wenig nach dumpf, unberechenbar und überspannt. Die Perspektive ändert sich, wenn präzise darauf geachtet wird, in welchem Sinne Otto selbst die Rede von den ‚irrationalen‘ Momenten des Religiösen verstanden wissen will. Weit davon entfernt, der Religion den Stempel eines bloß ‚Irrationalen‘ aufzudrücken, ist ihm daran gelegen, die Nichteinholbarkeit des religiösen Erlebnisses mit den begrifflichen Mitteln der Vernunft zur Geltung zu bringen. Kurz gefasst: Religion ist nicht unvernünftig; wohl aber geht sie nicht im Horizont des vernünftig Begreifbaren auf. Um jedes Missverständnis von vornherein aus dem Weg zu räumen: Damit ist kein Freibrief verbunden, um sich nun der Aufgabe vernünftiger Rechenschaft entschlagen und unbekümmert an der Wunderwelt des Neuen Testaments oder den gegenständlich-metaphysischen Lehrbestimmungen der Vorneuzeit festhalten zu können. Gerade auf diese Weise hätte man nur die Lebendigkeit des religiösen Erlebens an die Dominanz eines vorgefertigten rationalen Begriffsrasters ausgeliefert. Wohl aber macht Otto auf eine heimliche Gefahr unserer theologischen Bemühungen aufmerksam, die überlieferte Tradition umzuformen und modernitätsadäquat zu übersetzen. Denn das notwendige und berechtigte Unterfangen, die abständigen Traditionsgehalte der christlichen Überlieferung für die heutige Erfahrung aufzuschließen, kann unter der Hand in eine problematische Aufhebungslogik umschlagen, welche im Überschwang des Übersetzens die christliche Lehrtradition verlustfrei in einen säkularen Deutungshorizont überführt – und damit faktisch auflöst. Wer beispielsweise meint, die religiösen Symbolbestände vollständig und rückhaltlos in Selbstverhältnis-
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oder Selbstdurchsichtigkeitsstrukturen übersetzen zu können, hat faktisch das Christentum in eine quasi-philosophische Weisheitslehre verkehrt. Man mag zwar fragen, ob es Otto gelungen ist, das vernünftig uneinholbare Moment des Religiösen angemessen mit der anderen Seite seines rationalisierenden Begriffs zu verknüpfen. Die dahinter stehende Aufgabenbeschreibung jedenfalls hat unverändert Bestand: Das Bemühen um eine vernünftige Rechenschaft des Glaubens muss so angesetzt werden, dass sie von der Fehlform einer säkularisierenden Selbstaufhebung ebenso unterschieden bleibt wie von der Attitüde einer ‚besserwissenden‘ Letztbegründung – sei diese nun philosophisch oder naturwissenschaftlich motiviert. Otto schreibt der Theologie die Aufgabe ins Stammbuch, den irreduziblen Eigensinn und kreativen Bedeutungsüberschuss der religiösen Erfahrung zur Geltung zu bringen – und dieses vernünftig Uneinholbare zugleich in dem Sinne vernünftig ‚anschlussfähig‘ zu halten, dass es gerade in seinem Sinnüberschuss eine befreiende Welterschließung eröffnet.
Primärtexte Rudolf Otto: Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie. Zur Einleitung in die Glaubenslehre für Studenten der Theologie, Tübingen 1909. –: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Erweiterte Neuausgabe, München 2014.
Sekundärtexte Thorsten Dietz und Harald Matern (Hg.): Religion und Subjekt, Zürich 2012. Jörg Lauster u. a. (Hg.): Rudolf Otto. Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte, Berlin 2014. Jörg Schneider: Rudolf Otto. Religion als Begegnung mit dem Heiligen, in: Wilhelm Gräb (Hg.): Kompendium Religionstheorie, Göttingen 2005, 97 – 107. Peter Schüz: Rudolf Otto und Das Heilige. Zur Einführung, in: Rudolf Otto: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Erweiterte Neuausgabe, München 2014, 231 – 253.
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Emanuel Hirsch (1888 – 1972) – „Jene zwei Göttinger Stiftsinspektorenjahre haben die Liebe zu Göttingen für immer in mir erweckt […] Aber […]“
1. „Ich konnte nur Theologe bleiben, wenn der weite Bogen vom letzten persönlichen Sinngehalt altprotestantischen Versöhnungsglaubens hinüber zur letzten radikalen Unbefangenheit menschlicher Einsicht durch alle Zweifel und alle Neuformung des Gedankens hindurch sich wirklich spannen ließ.“
So schreibt Emanuel Hirsch 1951 rückblickend auf seine Zeit als junger Theologiestudent in Berlin.1 Die beiden Enden des „Bogens“, die Hirsch hier anspricht, bleiben charakteristisch für sein gesamtes wissenschaftliches und schriftstellerisches Wirken: ein radikal alle überlieferten christlichen Dogmen hinterfragendes, an der Philosophie der Denker des deutschen Idealismus geschultes Denken verbindet sich in ihm mit persönlicher religiöser Leidenschaft. Beides spiegelt sich auch in seinem 1930 verfassten Eintrag in das „Stiftsinspektorenbuch“, das sich im hauseigenen Archiv des Theologischen Stifts der Universität Göttingen befindet. Aus ihm werde ich im Folgenden immer wieder zitieren.
2. Es sei „allerlei merkwürdiger Fügungen“2 zu verdanken gewesen, so schreibt Emanuel Hirsch 1930, dass er sich überhaupt auf die Inspektorenstelle im Theologischen Stift der Universität Göttingen beworben habe. Er hatte seine gesamte Studienzeit in Berlin verbracht und suchte nun, 1912, nach einer Möglichkeit, sich für die Zeit seiner Doktorarbeit zu finanzieren. Seiner Bewerbung in Göttingen sei dabei zugutegekommen, dass Paul Althaus, der bereits in 1 Emanuel Hirsch: Meine theologischen Anfänge, in: Freies Christentum 3 (1951), 4. 2 Emanuel Hirsch: Eintrag ins Stiftsinspektorenbuch des Theologischen Stifts der Universität Göttingen, Göttingen 1930.
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Göttingen bei Eduard Stange promoviert hatte, und Paul Tillich, ein Berliner Studienfreund Hirschs, nicht „die Verpflichtung [auf sich nehmen wollten], zwei Jahre auf dieser Stelle auszuharren“3, so Hirsch wörtlich. Um ein „Ausharren“ handelte es sich deshalb, da der Stelleninhaber noch nicht den Status eines Privatdozenten innehaben durfte. Emanuel Hirsch wurde am 14. Juni 1888 in Bentwisch (Kreis Perleberg) geboren, wuchs als Sohne eines Pfarrers „[i]n der Hut frommer, ihrem Dienst an der Gemeinde und ihren Kindern lebender Eltern“4 auf und absolvierte von 1906 bis 1911 in Berlin das Studium der evangelischen Theologie. Der dogmengeschichtliche Ansatz Adolf (von) Harnacks sowie vor allem die Persönlichkeit und das Denken des Kirchengeschichtlers Karl Holl, deren Veranstaltungen Hirsch in Berlin besuchte, prägten fortan sein eigenes theologisches Denken. Zudem gilt es mit Blick auf Hirschs späteres wissenschaftliches Arbeiten zu erwähnen, dass er bereits in seinen ersten Semestern in Berlin Hermann Gunkel als Lehrer erlebte und sich in seiner Göttinger Zeit intensiver mit den exegetischen Ansätzen Wilhelm Boussets und Julius Wellhausens auseinandersetzte.5 Die an den genannten Namen abzulesende Verbindung von kirchen- und dogmengeschichtlichem Denken mit der historisch-kritischen Methode ist Hirschs eigenen Aussagen zufolge charakteristisch auch für die exegetischen Studien zum Neuen Testament, die er später veröffentlichen wird. Nach dem Studium und einer kurzen Zeit als Hauslehrer bewirbt sich Hirsch zum 1. Oktober 1912 auf die Stelle des Stiftsinspektors an der Theologischen Fakultät Göttingen. Bereits als Hauslehrer hatte er mit der Arbeit an seiner Promotionsschrift zu J. G. Fichtes Religionsphilosophie begonnen, doch neben der Lehrtätigkeit kaum die Zeit für die eigene wissenschaftliche Arbeit gefunden. Die Stelle in Göttingen sollte es ihm nun ermöglichen, sich intensiver seiner Qualifikationsschrift zuzuwenden. Doch die Stiftsinspektorenstelle bot ihre ganz eigenen Herausforderungen. Sie beschreibt Hirsch wie folgt: „Die Einnahme von 100 M[ark] monatlich stellten mich […] vor schwierige Aufgaben, und ich hab es im Krieg manchmal gespürt, daß ich zwei Jahre Kriegsernährung im Voraus empfangen habe.“6 Abgesehen von dem geringen Einkommen stand die Stelle jedoch, so Hirsch, nicht zuletzt wegen der bekannten Theologen, die sie in früheren Jahren bereits innehatten, „hoch im Ansehen bei der Fakultät“. So aß Hirsch seine „bescheidene Mehlsuppe“ an einem, wie er schreibt, von Rudolf Otto gestifteten Schreibtisch.7
3 4 5 6 7
Ebd. Hirsch, Anfänge (s. o. Anm. 1), 3. Vgl. ebd., 4. Hirsch, Stiftsinspektorenbuch (s. o. Anm. 2). Ebd.
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Der Inspektor durfte zur damaligen Zeit laut Beschluss der Theologischen Fakultät nicht habilitiert sein. Diese Reglementierung war der ausschlaggebende Grund dafür, dass Hirsch nach bestandenem Rigorosum, im Dezember 1913, nur noch bis Ende September 1914 auf der Stelle blieb.8 Ende 1914 wechselte er auf die Stiftsinspektorenstelle nach Bonn, da sie, im Unterschied zur Göttinger Stelle, auch einem Habilitierten offen stand – und die Habilitation strebte Hirsch zu diesem Zeitpunkt an. Sie erfolgte 1915 für die Disziplin Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät in Bonn. Als Hirsch zu Beginn der zwanziger Jahre als Professor nach Göttingen berufen wurde, setzte er sich zusammen mit dem Kirchengeschichtler Carl Mirbt, der in den Jahren 1920 – 21 Rektor der Universität Göttingen war, für die Aufhebung der Begrenzung der Inspektorenstelle ein, die ihm selbst so hinderlich gewesen war. Hirsch selbst charakterisiert sich in seinem Eintrag ins Inspektorenbuch als Preuße, den es in die Hannoverschen Lande verschlagen hat. Er sei „stramm schwarz-weiß gesonnen“ gewesen, schreibt er dort, eine Einstellung, die ihn von etwa der Hälfte aller Stiftler unterschied, die eher dem Königreich Hannover anhingen.9 Dieser Unterschied spielt jedoch in Hirschs Rückblick auf den Beginn des Ersten Weltkrieges, der für ihn ein prägendes Ereignis war und blieb, keine Rolle mehr. So schreibt er in seinem rückblickenden Eintrag ins Inspektorenbuch des Theologischen Sifts in Göttingen: „Am 3. August 1914 hab ich mit einer großen Anzahl meiner Stiftler zusammen auf dem Kasernenhof in Göttingen gestanden und mich als Kriegsfreiwilliger gemeldet.“10 Da Hirsch für den Kriegsdienst an der Waffe aufgrund einer Augenschwäche nicht geeignet war, setze er zuerst einmal seine wissenschaftliche Laufbahn in Bonn fort und arbeitete dann 1917 als Pastor in Schopfheim, im Schwarzwald. 1918 heiratete er Rose Eck, die Tochter des Bonner Theologen und Professors Gustav Eck. Nach einer sich über die nächsten Jahre hinziehenden langen Krankheitsphase, in der Hirsch fürchten musste, sein Augenlicht zu verlieren, wurde er 1921 von der Theologischen Fakultät Göttingen auf den Lehrstuhl für Kirchengeschichte berufen. In etwa zeitgleich mit Hirsch traf Karl Barth in Göttingen ein und beide frisch berufenen Theologen wohnten eine Zeit lang fast in direkter Nachbarschaft im Nikolausberger Weg (Hirsch in der Nr. 31, Barth in der Nr. 66, an der sich noch heute das Gedenkschild für ihn befindet). Barth charakterisiert Hirsch in seinen Briefen an Eduard Thurneysen in seiner Anfangszeit in Göttingen als einen umfassend gelehrten, in der Diskussion unerbittlichen Menschen, der u. a. durch sein Augenleiden körperlich gezeichnet wirkte. „Übrigens weiß dieser Hirsch 8 Vgl. ebd. 9 Ebd. 10 Ebd.
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wirklich gräßlich viel“,11 so Barth im Dezember 1921. Im Februar des folgenden Jahres schreibt Barth zudem – mit Blick auf die Erlanger Luther-Ausgabe, die er gerade geschenkt bekommen hatte: „Wenn ich nur ebenso rasch und sicher aufzufinden wüßte, was alles und wo alles darin steht, wie etwa Hirsch mit seiner spitzen Nase und seinen kurzsichtigen Augen (ein Anblick für Götter, wenn er mit: „Ich will Ihnen eben mal eine Stelle aus Luther vorlesen“ ans Werk geht!), so wäre alles gut.“12
So verschieden, ja konträr beide Theologen dachten, so haben sie doch einander in den gemeinsamen Göttinger Jahren (1921 – 1925) geprägt, so zum Beispiel durch gemeinsame Spaziergänge und in einem privaten Kolloquium, das Barth und Hirsch zusammen mit Carl Stange (einem eher konservativen lutherischen Systematischen Theologen und späteren Abt von Bursfelde) unterhielten und bei dem sie sich alle 14 Tage zu Lektüre und Gespräch trafen. In Göttingen blieb Hirsch bis zu seiner vorzeitigen Versetzung in den Ruhestand (1945), wechselte jedoch schon 1936 auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie und Geschichte der Theologie. Emanuel Hirsch hat den Weg der Theologischen Fakultät Göttingen in der Zeit der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Herrschaft mit aller Kraft zu gestalten und zu lenken versucht. Erstmals übernahm er 1924 – 25 das Amt des Dekans. Erneut kam es ihm im Jahre 1932 zu und blieb ihm, ermöglicht durch die wissenschaftspolitischen Weichenstellungen der nationalsozialistischen Herrschaft, bis 1939 übertragen. Hirsch war seit 1937 Mitglied der NSDAP und zudem Mitglied des NS-Dozentenbundes. Nach dem Ende der Zeit des Nationalsozialismus und seiner vorzeitigen Versetzung in den Ruhestand schwieg sich Hirsch über diese Jahre weitgehend aus und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Sein altes Augenleiden, das bereits seit Beginn der dreißiger Jahre wieder aufgetreten war, führte nun zur Erblindung. Studenten kamen in Hirschs Haus, der schon seit 1928 im Hainholzweg Nr. 66 wohnte, und lasen ihm vor. Zudem unterstütze ihn seine Frau aufopferungsvoll, so dass der Rückzug aus der Lehre an der Theologischen Fakultät keinen Einbruch in Hirschs wissenschaftlichem Schaffen zur Folge hatte. Durch private Oberseminare, an denen u. a. die späteren Professoren der Theologie Eilert Herms, Joachim Ringleben, Hermann Fischer und Dietz Lange teilnahmen, und seine wissenschaftlichen Publikationen, von denen die „Geschichte der neuern evangelischen Theologie“ und die Übersetzung der Gesammelten Werke Kierkegaards die umfassendsten sind, wirkte er weiterhin belehrend, anregend
11 Karl Barth – Eduard Thurneysen. Briefwechsel, in: Karl Barth. Gesamtausgabe V, 3/2, Zürich 1974, 23. 12 Ebd., 35.
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und herausfordernd auf viele jüngere Theologinnen und Theologen.13 Emanuel Hirsch starb am 17. Juli 1972 in Göttingen.
3. Die zentralen Gedanken in Hirschs systematisch-theologischem Denken finden sich expliziert in seinem dogmatischen Hauptwerk, dem „Leitfaden zur christlichen Lehre“. Dieser entstand aus einer Reihe von Dogmatikkollegs, erschien erstmals 1938 und wurde 1978, ergänzt um Erläuterungen von Hirsch selbst, unter dem Titel „Christliche Rechenschaft“ neuaufgelegt.14 Grundlage seiner Theologie ist eine Theorie der Selbsterkenntnis des nach seiner Beziehung zu Gott fragenden Christenmenschen, der sich auf diesem Weg Rechenschaft darüber gibt, was seine über die neutestamentlichen Schriften vermittelte Begegnung mit Jesus Christus für ihn und seinen Glauben an Gott zu bedeuten hat. Durch die Art seines Denkens und Fragen stellte sich Hirsch in die Tradition neuprotestantischer Theologie der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die Fragestellungen des Historismus bilden seinen geistesgeschichtlichen Hintergrund. Drei der entscheidenden Charakteristika seines Schaffens lassen sich erneut dem Eintrag in das Inspektorenbuch entnehmen. Hirsch beschreibt hier in wenigen Worten, wie er es vermochte, das Vertrauen auch derjenigen Stiftler zu gewinnen, die politisch anders gesinnt waren als er: „Die entscheidende Wende sind glaub ich Kurse in Philosophie gewesen, die ich für Freiwillige einrichtete, vernahm dann, daß man bald merkte, daß ich für ein rechtes theologisches Gespräch und für ein inneres persönliches Anliegen immer Zeit hatte.“15 Die Philosophie, eine auf dem Gespräch gründende wissenschaftliche Theologie (mit den Schriften der Bibel, der theologischen Tradition und mit der je gegenwartsbezogenen, wissenschaftlich reflektierten Weltwahrnehmung – Hirsch spricht hier von „Wahrheitsbewusstsein“) und das persönliche, existentielle Fragen nach Gott sind drei tragende Pfeiler in Hirschs theologischem Denken und Schaffen. Er entfaltet seine Theologie als eine Umformung traditioneller 13 Vgl. Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, 5 Bände, Gütersloh 1949 – 1954. Neu herausgegeben und eingeleitet von Albrecht Beutel, in: Hans Martin Müller et al. (Hg.): Emanuel Hirsch. Gesammelte Werke 5 – 9, Waltrop 2000 sowie Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes (Hg.): Sören Kierkegaard. Gesammelte Werke, Gütersloh 1979 – 1986 (Lizenzausgabe). 14 Vgl. Emanuel Hirsch: Leitfaden zur christlichen Lehre, Tübingen 1938. Bearbeitet und neu aufgelegt erschienen als: Christliche Rechenschaft, in: Hayo Gerdes (Hg.): Werke III.1,1 und 1,2, Berlin 1978. 15 Hirsch, Stiftsinspektorenbuch (s. o. Anm. 2).
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christlicher (protestantischer) Einsichten und Begriffe: Das Gewissen, Gesetz und Evangelium und die Korrelation von Wort und Glaube sind drei der entscheidenden Begriffe bzw. Begriffspaare, die Hirsch aus seinen Studien der Schriften Luthers gewinnt und auf die er seine eigene Dogmatik aufbaut. Hinzu kommt die Bestimmung christlicher Wahrheit als eine Selbst- und Gotteserkenntnis, die in der persönlichen Begegnung mit dem Menschen Jesus gewonnen wird. Der Sache nach folgt Hirsch mit der Rückbindung der Erkenntnis Gottes (als der Wahrheit) an die Selbsterkenntnis dessen, der glaubt, der Existenzanalyse, wie sie Kierkegaard programmatisch entfaltet hat. Die über Kierkegaard hinausgehende, geschichtsphilosophische und erkenntniskritische Grundlegung seiner Dogmatik nimmt Hirsch in Auseinandersetzung und Aufnahme wichtiger Einsichten des Historikers Leopold von Ranke sowie unter Rückgriff auf die philosophischen Ansätze Kants und Fichtes vor. Bereits aus diesen wenigen Hinweisen wird ersichtlich, wie stark Hirsch sich in seiner Theologie um philosophische Klarheit bemüht. Ferner zieht sich die an Kierkegaard angelehnte Formulierung, dass der Glaubende sich durchsichtig in Gott gegründet weiß, in vielfältigen Variationen durch all seine Schriften. Es ist der ethisch-religiöse Mensch, der die Wahrheit im Gewissen, ja „als“ Gewissen für sich erkennt, indem er sie immer auch erleidet. In der Gotteslehre ist es dementsprechend der Begriff der Antinomie, mit dem Hirsch die innere Dynamik der Gottesbeziehung des Menschen zum Ausdruck zu bringen sucht: Gott prägt und „berührt“ den Menschen durch die Sinne sowie in Herz und Gewissen – und entzieht sich ihm als bleibendes Geheimnis. Stets bleibt die gelebte Gottesbeziehung für Hirsch in einem mehrfachen Schweben: zwischen ahnender Andacht und persönlichem Gebet, dem Eindruck, Gottes Macht zu erleiden, und dem Glauben, von Gott gerufen und berufen zu sein, sowie im „Schweben“ zwischen Schuldgefühl und Vertrauen. Durch Rückgriff auf solche Antinomien zeichnet Hirsch in seiner Dogmatik und seinen übrigen Werken immer wieder neu die Dynamik nach, in der sich der moderne Mensch auf die Suche nach sich und seinem Gott wahrnimmt. Hirschs Analysen großer christlicher Denker (Luther, Kierkegaard etc.), aber auch die zahlreichen Romane, die er in den Jahren nach seiner Entlassung aus dem Universitätsdienst geschrieben hat, geben zudem anschauliche Zeugnisse davon, wie eng Hirsch die Denk- und die Lebensbewegung des Glaubenden ineinander zu sehen vermag. Das, was der Mensch lebt und wie er sich in seinem Leben selbst versteht, stehen in einem unauflösbaren Wechselverhältnis. Die Erkenntnis Gottes ist nicht von der Selbsterkenntnis des Glaubenden zu trennen. Die „ewige Wahrheit“ ist zugänglich nur im Verhältnis des endlichen Menschen zu ihr und die Gottesbeziehung des Einzelnen ist für Hirsch dementsprechend nicht ohne Rechenschaft über seine Eingebundenheit in das Leben der Gesellschaft und der Glaubensgemeinschaft darstellbar.
Emanuel Hirsch (1888 – 1972)
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Das Spezifikum des christlichen Glaubens sieht Hirsch nicht darin, dass sich die Erkenntnis Gottes, die ihm zufolge jeder Mensch mit wachem Gewissen zu gewinnen vermag, in der Beziehung zu Jesus Christus noch einmal vertieft, also etwa nun an die Stelle der Antinomien eine neue Erkenntnis von Eindeutigkeiten träte. Vielmehr verwandelt sich dem Glaubenden mit Blick auf den Menschen Jesus sein eigenes Verhältnis zu Gott dahingehend, dass er von der Gewissheit ergriffen wird, dass Gott die ihn (mit sich, seiner Mit- und Umwelt und seinem Gott) versöhnende Liebe ist. Christliche Wahrheitsgewissheit ist keinem anderen Menschen argumentativ anzudemonstrieren, sondern die Rechenschaft von dem, was Christinnen und Christen in der Begegnung mit dem Menschen Jesus, wie er ihnen in den Bildern der Evangelien entgegentritt, an Gewissheit gewinnt, zielt allein darauf, dass über sie selbst nachgedacht und dass ihr nachgelebt wird. Auch als Dogmatiker versteht sich Hirsch insofern als „Sokratiker“, der den Leserinnen und Lesern durch die Form wissenschaftlichen Denkens hilft, sich selbst vor Gott zu verstehen. Außer in der Exegese des Alten Testaments hat Hirsch in allen theologischen Disziplinen gearbeitet und publiziert. Sein Werk umfasst zahlreiche Schriften zur Kirchengeschichte, zur historisch-kritischen Exegese des Neuen Testaments, zur Predigtlehre, zur Dogmatik und zur Dogmengeschichte. Obwohl Hirsch sich und seine Theologie durch sein fatales Eintreten für den Nationalsozialismus und sein öffentliches Schweigen nach 1945 in Verruf gebracht hat, galt er stets über die Fachgrenzen hinaus als einer der maßgeblichen Luther-Forscher aus der „Schule“ Karl Holls, als umfassender Kenner der Philosophie des Deutschen Idealismus und als einer der wegweisenden deutschen Interpreten der Werke Sören Kierkegaards. Dabei schloss sich Hirsch theologisch nie über längere Zeit mit anderen Denkern zusammen, auch wenn er immer wieder das Gespräch – die kritische Auseinandersetzung, aber auch das Gemeinschaft anstrebende Gespräch – suchte. Seine öffentlichen Auseinandersetzungen mit dem einstigen Göttinger Kollegen Karl Barth, mit dem ebenfalls in Göttingen lehrenden Friedrich Gogarten, mit Paul Althaus, Rudolf Bultmann, dem dänischen Freund und Kierkegaard-Forscher Eduard Geismar sowie dem Jugendfreund Paul Tillich geben davon bis heute beredte Zeugnisse.
4. Stellt man sich das bisher Gesagte vor Augen, so gewinnt der letzte Absatz, den Hirsch 1930 in ins Stiftsinspektorenbuch schrieb, an Eindrücklichkeit. Er mag deshalb auch den Anfang des Abschlusses dieser kurzen Vorstellung des ehemaligen Stiftsinspektors Emanuel Hirschs bilden:
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„Jene zwei Göttinger Stiftsinspektorenjahre haben die Liebe zu Göttingen für immer in mir erweckt, und es war mir Mai 1921 die größte Freude, als ich den Umschlag des Ministeriums aufriß und im Berufungsschreiben den Namen Göttingen fand. Aber nie kann ich auch die Allerstraße hinuntergehen, ohne jenes Abends zu gedenken, als unser Göttinger Regiment mit klingendem Spiel zum Bahnhof und in den Krieg hinausgezogen ist.“
Die Erlebnisse aus den Jahren des Ersten Weltkrieges – diejenigen, die die gesamte Weltgeschichte, aber auch diejenigen, die primär Hirschs privates Leben betrafen, wie etwa die drohende Erblindung – waren und blieben für Hirsch prägend. Persönlich vertiefte sich seine Gottesbeziehung, so beschreibt er es in seinem autobiographischen Rückblick „Mein Weg in die Wissenschaft (1911 – 16)“: „Soll ich mit einem Wort sagen, was mir auf meinem Wege in die Wissenschaft in der letzten persönlichen Tiefe widerfahren ist, so weiß ich es nur mit einem schon damals von mir gekannten und geliebten Bild Kierkegaards zu tun: am besten läuft und trabt das Roß, wenn es die lenkende Hand eines in seiner Strenge wahrhaft königlichen Kutschers über sich spürt.“16
Sieht man auf die Weltgeschichte, so kann man sagen: Den Kriegsausgang von 1918 und vor allem den Versailler Vertrag akzeptierte Hirsch nie. In der Machtergreifung Hitlers sah er die Möglichkeit, dass in einem ideologisch einheitlichen Staat auch die Kirche noch einmal neu volksmissionarisch tätig werden könnte. Zwar weist Hirsch immer wieder auch auf die Dämonien hin, die in einer unkritischen Überhöhung jeglicher Ideologie liegen, jedoch meinte er, dieser Gefahr im Nationalsozialismus entgegentreten zu können. Es ist aus heutiger Sicht nicht nachzuvollziehen, wie Hirsch zu der fatalen politischen Fehleinschätzung gelangen konnte, die nationalsozialistische Bewegung würde sich zu einer solchen Begrenzung unter den Glauben an das Evangelium entschließen. Viele der Schriften Hirschs aus den dreißiger Jahren weisen hingegen vielmehr darauf hin, dass Hirsch selbst sich der herrschenden Ideologie mit ihrer Diktion der gewaltverherrlichenden Machtterminologie und der rassistischen „Blut- und Bodenformeln“ in diesen Jahren anzuschließen beginnt. Nicht aus Opportunismus, sondern weil es ihm eine Herzensangelegenheit war, es im Namen Gottes zu „wagen“, verband Hirsch seine Theologie mit seinen politischen Überzeugungen. Bei allem „Ernst“ im Einsatz für die eigene Gegenwart verlor er an entscheidenden Stellen die kritische Distanz zum eigenen Pathos, zu den eigenen Vorurteilen und zur Ideologie. Theoretisch ist in Hirschs Dogmatik das Evangelium ein ideologiekritisches Prinzip. Diese Kraft vermochte es in der Aneignung, die es durch Emanuel Hirsch erfuhr, an diesem entscheidenden 16 Hirsch, Anfänge (s. o. Anm. 1), 4 f.
Emanuel Hirsch (1888 – 1972)
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historischen Punkt nicht zu entfalten. Die Theologie Emanuel Hirschs ist meines Erachtens eine der herausforderndsten Theologien, gerade weil in ihr die Lebensund die Denkbewegungen nicht zur Ruhe kommen.
Primärtexte Emanuel Hirsch: Leitfaden zur christlichen Lehre, Tübingen 1938. Bearbeitet und neu aufgelegt erschienen als: Christliche Rechenschaft, in: Hayo Gerdes (Hg.): Werke III.1,1 und 1,2, Berlin 1978. –: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens, 5 Bände, Gütersloh 1949 – 1954. Neu herausgegeben und eingeleitet von Albrecht Beutel, in: H. M. Müller et al. (Hg.): Emanuel Hirsch. Gesammelte Werke 5 – 9, Waltrop 2000. – / Hayo Gerdes (Hg.): Sören Kieregaard. Gesammelte Werke, Gütersloh 1979 – 1986 (Lizenzausgabe). –: Betrachtungen zu Wort und Geschichte Jesu, Berlin 1969.
Sekundärliteratur Ulrich Barth: Die Christologie Emanuel Hirschs. Eine systematische und problemgeschichtliche Darstellung ihrer geschichtsmethodologischen, erkenntniskritischen und subjektivitätstheoretischen Grundlagen, Berlin/New York 1992. Mareile Lasogga: Menschwerdung. Die Anthropologie Emanuel Hirschs als Theorie ethisch-religiöser Bildung von individueller Subjektivität in der Moderne, Frankfurt a. M. 2009. Arnulf von Scheliha: Emanuel Hirsch als Dogmatiker. Zum Programm der ‚Christlichen Rechenschaft‘ im ‚Leitfaden zur christlichen Lehre‘, Berlin/New York 1991. Jens Holger Schjørring: Theologische Gewissensethik und politische Wirklichkeit. Das Beispiel Eduard Geismars und Emanuel Hirschs, Göttingen 1979.
Reinhard Feldmeier
Erik Petersen (1890 – 1960) – „Eine merkwürdige Randgestalt * […] in diesem Äon“
1. „Eine merkwürdige Randgestalt werden Sie ja in diesem Äon immer bleiben.“1
So schreibt Karl Barth am 22. August 1932 in einem Brief an Erik Peterson. Als Barth diese Bemerkung schreibt, in der bei aller kritischen Distanz doch auch Anerkennung mitschwingt,2 liegt hinter den beiden bereits eine mehr als zehnjährige gemeinsame Geschichte, die von tiefem gegenseitigem Respekt, aber auch von großen Spannungen geprägt ist, eine Geschichte, die besonders auf Seiten Petersons nicht der Dramatik, ja der Tragik entbehrt. 26 Jahre später, kurz vor seinem Tod wird Peterson in einer Tagebuchnotiz drastisch dieses Urteil Barths im Rückblick auf sein ganzes Lebens bestätigen, indem er sich in diesem gegenwärtigen Äon nicht nur als Außenseiter, sondern als Früh- oder Fehlgeburt verortet. Wie nur wenige hat Peterson die Zerrissenheit einer theologischen Existenz ‚zwischen den Zeiten‘3 erlitten, umgetrieben durch ein kompromissloses Fragen nach Gott und nach der Wahrheit, das ihn nirgends wirklich Heimat finden ließ. Bei der Eröffnung des Symposiums anlässlich des 50. Todestages von Peterson in Rom charakterisiert ihn Papst Benedikt XVI. (Joseph Ratzinger), der sich nach eigenem Bekunden sein ganzes Leben lang mit Peterson auseinandergesetzt hat,
* Für Giancarlo Caronello – in Dankbarkeit 1 Karl Barth am 22. 08. 1932 an Peterson, in: Barbara Nichtweiß (Hg.): Erik Peterson. Ausgewählte Schriften, Bd. 9.2: Theologie und Theologen, Briefwechsel mit Karl Barth und anderen, Reflexionen und Erinnerungen, Würzburg 2009, 322. 2 Ich vermag mich hier dem Urteil von Thomas Söding, Barth schreibe da „in freundlicher Herablassung“ nicht anzuschließen. Der Kontext des Briefes weist m. E. deutlich in eine andere Richtung. Zitat in Thomas Söding: Ein Ausnahme-Exeget, in: Giancarlo Caronello (Hg.): Erik Peterson. Die theologische Präsenz eines Outsiders, Berlin 2012, 189. 3 Peterson selbst bestimmt seine Zeit als „die Zeit zwischen Christi erster und zweiter Ankunft“. Erik Peterson: Was ist Theologie?, in: ders.: Theologische Traktate. Mit einer Einleitung von Barbara Nichtweiß, Würzburg 1994, 15.
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in seiner Eröffnungsrede mit Worten, die nicht weit entfernt von Barths Bemerkung sind: „‚Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir‘ (Hebr 13,14). Dieses Zitat aus dem Hebräerbrief könnte man als Leitwort über das Leben von Erik Peterson setzen. Er fand eigentlich zeit seines Lebens keinen rechten Platz, wo ihm Anerkennung und Sesshaftigkeit beschieden gewesen wäre.“4 Doch das greift dem Weiteren vor, also alles der Reihe nach.
2. Im Jahr 1890 in Hamburg in eine großbürgerliche Familie hineingeboren, die nicht sonderlich religiös war, begann Peterson, vermutlich geprägt von der neopietistischen Gemeinschaftsbewegung, der er auch im Studium als Mitglied der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung treu blieb,5 sein Studium 1910 in Straßburg. Er wechselt zunächst nach Greifswald (1911), dann nach Berlin (1911/12), sodann nach Göttingen (1912/13), daraufhin nach Basel (1913), um schließlich wieder nach Göttingen zurückzukehren. Bereits in diesem unablässigen Wechsel zeigt sich der oben beschriebene Wesenszug des ‚theologischen Outsiders‘ Peterson, ein Umgetrieben- und Fremdsein, das auch sein weiteres Leben bestimmen sollte. Im Ersten Weltkrieg wird er zum Militär eingezogen, aber schon Ende 1914 als dienstunfähig entlassen. Er kehrt nach Göttingen zurück. Von 1915 – 1917 beantragten er bzw. die Göttinger Fakultät über das Universitätskuratorium beim Ministerium ein Privatdozentenstipendium, das zuletzt auch gewährt wurde, aber aufgrund der Teuerung nicht ausreichte. Um überhaupt Geld zum Leben zu haben, tritt er im Herbst 1915 stellvertretend für einen Studienkollegen, der im Feld war, eine Stelle als Stiftsinspektor an. Er wollte sie 1917 aufgeben, als man ihm diese Tätigkeit wegen des gewährten Stipendiums nicht mehr vergüten wollte. Zunächst beruhigte sich dann die Lage, verschärfte sich aber wieder 1918 durch die Rückkehr des eigentlichen Stelleninhabers. Nachdem er mehrere Monate keine Besoldung erhalten hatte, kündigte Peterson im Mai 1919. Man bot ihm daraufhin an, endgültig die Stelle des Stiftsinspektors zu übernehmen, aber das scheiterte an der damaligen Bestimmung, dass der Stiftsinspektor nicht habilitieren dürfe. 4 Ansprache von Papst Benedikt XVI. an die Teilnehmer des internationalen Symposiums über Erik Peterson; in: Caronello, Peterson (s. o. Anm. 2), XXV. 5 Zur Rekonstruktion der nicht ganz eindeutig zu erhellenden religiösen Prägung des jungen Peterson vgl. die Ausführungen von Barbara Nichtweiß: Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk, Freiburg/Basel/Wien 1992, 26 – 31. Zu seiner Mitgliedschaft in der DCSV vgl. ebd., 58 ff.
Erik Petersen (1890 – 1960) – „Eine merkwürdige Randgestalt […] in diesem Äon“
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Es war also keine sonderlich idyllische Zeit, in welcher Peterson „ziemlich vereinsamt in seiner Studierstube im Göttinger Theologenstift“6 an seiner in der Tradition der religionsgeschichtlichen Schule stehenden Dissertation arbeitete: „Heis Theos. Epigraphische, formgeschichtliche und religionsgeschichtliche Untersuchungen“. Dem trockenen Titel entspricht auf den ersten Blick ein ebenso trockener Inhalt, und das ist kein Zufall, sondern hat, wie sein Eintrag in das Bonner Album Professorum zeigt, mit seinen Problemen mit der zeitgenössischen Theologie zu tun: „Meine Neigung zog mich zu den im strengen Sinne theologischen Fragen hin. Da ich aber damals noch keine Möglichkeit hatte, mich durch das Dickicht der Meinungen zu den Sachen selber hindurchzuschlagen, entschloss ich mich auf historischem Gebiet zu arbeiten und speziell religionsgeschichtliche Probleme in Angriff zu nehmen, die ja damals im Mittelpunkt der theologischen Diskussion standen.“7
Petersons Biografin Barbara Nichtweiß vermerkt zutreffend: „Er hat sich in dieses Gebiet trockener historischer Kärrnerarbeit geflüchtet, weil er in der Vielfalt der damaligen theologischen Meinungen die Orientierung verloren hat.“8 Das Ergebnis dieser „historischen Kärrnerarbeit“ sollte freilich nach ihrer Veröffentlichung im Jahr 1926 Petersons internationalen Ruf als Kenner der Religionsgeschichte des Vorderen Orients begründen; mit der Zeit kam der eines Neutestamentlers, eines Patristikers und eines Liturgikers dazu. 1920 wurde Peterson mit dieser Arbeit in Göttingen promoviert und beantragte dafür zugleich erfolgreich die Habilitation. Eine Drucklegung scheiterte zunächst aus finanziellen Gründen. In der darauf folgenden Zeit als Privatdozent für Religions- und Kirchengeschichte (1920 – 1924), in der er vom Berliner Ministerium ein Stipendium erhielt, las er nicht nur mehrmals die Religionsgeschichte des Hellenismus, Alte und Neuere Kirchengeschichte, Geschichte der Mystik und der Askese und einmal sogar über Thomas von Aquin – Vorlesungen, in denen eine wachsende Distanzierung zur Religionsgeschichtlichen Schule sichtbar wird – sondern er lernte hier auch den ab 1920 in Göttingen lehrenden Karl Barth kennen, mit dem ihn unter anderem die Ablehnung des theologischen Liberalismus verband, wie ihn etwa Adolf von Harnack vertrat. Die Verbundenheit hinderte Peterson allerdings nicht daran, sich ein Jahr nach seinem Ruf auf den Lehrstuhl für Kirchengeschichte und Neues Testament an der Universität Bonn (1924) mit einer gegen die dialektische Theologie gerichteten Kampfschrift „Was ist Theologie“ auch scharf gegen Barth zu wenden. So sehr er Barth schätzte und so wichtig ihm die persönliche Verbundenheit mit 6 Barbara Nichtweiß: Das Neue durch den Abbruch hindurch schauen. Vier Miniaturen zur Einführung in das Denken Erik Peterson, in: Caronello, Peterson (s. o. Anm. 2), 58. 7 Peterson, Theologie (s. o. Anm. 1), 466. 8 Nichtweiß, Neue (s. o. Anm. 6), 58.
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ihm war und auch blieb, so kann er doch hier wie sonst auch nicht anders als (oft apodiktisch und konzessionslos) einen eigenen Weg zu gehen, der ihn mit vielen seiner theologischen Zeitgenossen in Konflikt bringt. Da in dieser Schrift erstmals ganz klar formuliert wurde, was sowohl für Petersons weiteres Geschick wie für seine Theologie bestimmend wurde, sei sie bereits in diesem biografischen Abschnitt etwas ausführlicher dargestellt. Peterson nimmt seinen Ausgangspunkt bei Barths Aufsatz „Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie“ und deutet dessen Position so, „daß es Theologie nur in dem gibt, daß es keine Theologie gibt.“9 Das aber ist für ihn „keine konkrete Antwort auf eine konkrete Frage“.10 Der Ernst der dialektischen Theologie ist für ihn „nur scheinbarer Ernst.“11 Zur Theologie gehört Offenbarung, Glaube und Gehorsam, die er dort nicht findet. Peterson spottet (in polemischer Anspielung auf Gal 4,4 und 1 Kor 1,27 f.): „Als aber die Dialektik alles in Schein und Möglichkeit verwandelt hatte, da gefiel es Gott, sie durch seine Offenbarung zum Schein zu machen, so daß von nun an das Wort des heiligen Ambrosius gilt: Non in dialectica complacuit Deo salvum facere populum suum.“12 Echte Gotteserkenntnis kann deswegen nur von der Inkarnation ausgehen: „Nur unter der Voraussetzung, daß Gott Mensch geworden ist und uns dadurch eine Teilnahme an der scientia divina ermöglicht hat, nur unter dieser Voraussetzung ist es sinnvoll, in der Theologie von einem realen, wenn auch nur analogen Erkennen Gottes zu sprechen.“13 Die Autorität, mit der die Theologie spricht, kann daher immer nur eine von der Bibel als primärer Autorität „abgeleitete Autorität“ sein.14 Von daher wird auch das Wesen der Theologie bestimmt. „Gott hat geredet in seinem Sohn. Das ist es, was das Dogma sagt und wovon allein die Theologie lebt.“15 Wie sich im Sakrament die Menschwerdung fortsetzt, so im Dogma das Reden „des Logos von Gott.“16 Peterson betont deshalb gleichermaßen gegen die Dogmenkritik der Liberalen Theologie wie gegen den Verzicht auf jedes ‚gegenständliche‘ Reden von Gott in der dialektischen Theologie, dass eine Theologie ohne Dogma „zu den Phantastereien neuzeitlichen Denkens“ gehört.17 Für ihn ist Theologie vielmehr „die in Formen konkreter Argumentation sich vollziehende Fortsetzung dessen, daß sich die Logos-Offenbarung ins
9 10 11 12 13 14 15 16 17
Peterson, Was ist Theologie? (s. o. Anm. 3), 3. Ebd. Ebd., 4. Ebd. Ebd., 6. Ebd., 11 (Kursivierung im Original). Ebd., 17 (Kursivierung im Original). Ebd., 14. Ebd., 15.
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Dogma hinein ausgeprägt hat“,18 denn „das Dogma liegt in der Verlängerung des Redens Christi von Gott.“19 Diese Schrift, in welcher der protestantische Theologe Peterson der protestantischen Theologie seit dem 19. Jahrhundert eine ‚unbegreifliche Verblendung‘ attestiert,20 eine Verblendung, die er auch bei Barth und Bultmann nicht wirklich aufgehoben sieht, verursachte einen Skandal. Peterson weiß, was er damit tut – und leidet darunter. Es ist bewegend, wenn man den Brief vom 23. 6. 1925 liest, in dem Peterson Barth von seinem Vortrag und den Reaktionen der Zuhörer berichtet und ihm die Zusendung dieses Textes ankündigt, die nichts anderes als ein Frontalangriff auf dessen Theologie ist – und ihn doch zugleich geradezu flehentlich um Verständnis bittet: „Seien Sie mir bitte nicht böse, wenn im ersten Teil meines Vortrages etwas gegen Sie und Bultmann gesagt ist […] Ich komme mir vor wie Ismael, von dem es heißt, dass seine Hand wider jedermann war […] Ich habe Kollegen und Studenten gegen mich. Aber ich kann ihnen nichts sagen, wonach ihnen die Ohren jücken.“21
Bei allem Bemühen um Verständnis bleibt Peterson deshalb in der Sache unnachgiebig. So verstärkt sich der Skandal noch, als Peterson dem im Jahr 1929 als weitere Schrift „Die Kirche“ folgen ließ, in der er betonte, dass die Kirche nicht auf Paulus gründet, sondern auf Petrus und dem Zwölferkreis und als solche „ein Gegenstand des Glaubens ist. Nicht die unsichtbare Kirche ist ein Gegenstand des Glaubens, sondern die sichtbare Kirche, sie, die gezwungen ist, wie die zwölf Apostel, auch heute noch – auf Grund Heiligen Geistes – Entscheidungen zu fällen und Glauben gegenüber diesen Entscheidungen zu fordern.“22 Das zeigt sich in der Verwendung des neuen Begriffs ἐκκλησία, den Peterson hier (wie auch in seiner Auslegung des 1. Korintherbriefes) rein staatsrechtlich als Institution der πόλις versteht. „Man könnte in analoger Weise die christliche ἐκκλησία die zum Vollzug bestimmter Kulthandlungen zusammentretende Versammlung der Vollbürger der Himmelsstadt nennen.“23 In dieser Kirche wird dann auch die von Christus den Aposteln verliehene Macht durch Handauflegung an Bischöfe und Presbyter weitergegeben.24 Bereits 1925 hatte ein Freund Petersons, der große Groninger Religionsphänomenologe Gerardus van der Leeuw an Peterson als Erwiderung auf die Zu18 19 20 21
Ebd., 13. Ebd., 14. Ebd., 17. Peterson, Theologie (s. o. Anm. 1), 221 f. (Hervorhebung im Original). Barth hat das respektiert. Am 29 Juli schreibt er an Gogarten: „Sehr glücklich bin ich über Petersons neue Aufsätze […] Da lohnt sich doch die Debatte!“ Ebd., 224. 22 Erik Peterson: Die Kirche, in: ders.: Traktate (s. o. Anm. 3), 245 – 257, 252. 23 Ebd., 253. 24 Vgl. ebd., 253 f.
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sendung seiner Schrift „Was ist Theologie“ geschrieben: „Es scheint mir, dass nur ein Ausweg offen bleibt, und der führt nach Rom. Überhaupt scheint mir Ihre Art zu argumentieren dorthin geradewegs zu führen.“25 Diese Tendenz hat sich hier noch einmal verstärkt, und so geht Peterson zuletzt seinen Weg der Abkehr von der evangelischen Kirche zu Ende. Er lässt sich noch im gleichen Jahr von seiner Professur entpflichten, um dann an Weihnachten 1930 zur katholischen Kirche zu konvertieren. In der Folgezeit lebt er teils in München, reist aber mehrmals nach Rom, wo er sich – nachdem ihm in Deutschland die Zukunft verbaut war – ab 1933 endgültig niederließ und die Römerin Matilde Bertini heiratete. Mit ihr hatte er fünf Kinder (vier Töchter und einen Sohn). Doch auch in Rom war der Konvertit alles andere als willkommen, er lebte lange isoliert und ohne Absicherung als „ein Hungerleider und Bittsteller vor den Toren des Vatikans“26 in ärmlichsten Verhältnissen, besonders nachdem das NSRegime ab 1937 keine Devisen mehr überwies und damit seine spärliche Pensionszahlung ausfiel. 1937 erhält er einen kleinen Lehrauftrag am päpstlichen Institut für christliche Archäologie und macht zusätzlich Bibliotheksarbeiten an der Gregoriana, aber die Situation bleibt äußert schwierig und seine Frau muss dazuverdienen. Erst 1947 wird er zum Extraordinarius für Patrologie mit Schwerpunkt im Bereich „Antike und Christentum“ ernannt, 1956 erhält er dann wieder ein Ordinariat – 26 Jahre nachdem er das erste bei seiner Konversion aufgegeben hatte. Aber auch diese späte Absicherung bringt ihm keinen Frieden. Kurz darauf (1958) lässt der schwerkranke Peterson seine Familie in Rom zurück und geht wieder nach Hamburg. Dort erhält er 1960 als späte Anerkennung seiner Lebensleistung noch zwei Ehrendoktoren (den Philosophischen aus Bonn und den Theologischen aus München), aber noch im selben Jahr stirbt er dort.
3. Auch wenn er nicht viel veröffentlicht hat, hat Peterson zu seinen Lebzeiten und darüber hinaus gewirkt. So hat er großen Einfluss auf zahlreiche Theologen beider Konfessionen ausgeübt – zu nennen wären etwa Ernst Käsemann, Heinrich Schlier, Jürgen Moltmann, Joseph Ratzinger (Benedikt XVI.) und Heinrich Maier. Auch Barth wurde in seiner Entwicklung von einer dialektischen zu einer dogmatischen Theologie von Peterson „erheblich beeinflußt“.27 Hier 25 Brief vom 24. 7. 1925 in: Peterson, Theologie (s. o. Anm. 1), 223. 26 Nichtweiß, Peterson (s. o. Anm. 5), 870. 27 So Eberhard Jüngel: Von der Dialektik zur Analogie. Die Schule Kierkegaards und der Einspruch Petersons, in: ders.: Barth-Studien, Zürich/Köln/Gütersloh 1982, 134.
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sollen, der Begrenztheit dieses Beitrags Rechnung tragend, nur ein paar Schlaglichter auf Petersons Werk geworfen werden, indem an markanten Beispielen gezeigt wird, wie dieser sich immer wieder zur Sache der Theologie geäußert hat und dies durchaus kompetent in recht verschiedenen Bereichen. „In dieser seltenen Vielfalt, der es freilich nie an Tiefgründigkeit und Präzision mangelt, liegt auch der Reichtum der Theologie E. P.s.“28 Petersons Ruhm als Religionswissenschaftler begründete, wie schon erwähnt, seine Dissertation, in welcher er die Formel „Heis Theos“ als eine Akklamation deutet,29 die vorchristlichen Ursprungs ist und „bald dem Judengott, bald dem Christengott und bald dem Aion und Sonnengott gilt.“30 Die Arbeit, welche den ‚Sitz im Leben‘ dieser oft fälschlich als Bekenntnis interpretierten Formel in der Akklamation einschließlich ihres institutionellen, verfassungs- und sakralrechtlichen Umfelds bestimmt, hat nicht nur einen religionsgeschichtlichen Wert, sondern auch einen theologischen, insofern Peterson dort „die Akklamation als ein Phänomen entdeckt [hat], in dem die gemeinhin eher als gegensätzlich und unvereinbar empfundenen Dimensionen von Geist und Recht zusammenfielen.“31 Seine theologische Neuorientierung, die er in seinem richtungsweisenden Aufsatz „Was ist Theologie?“ vorgestellt hat, schlägt sich auch in den Vorlesungen aus den 1920er Jahren nieder, die in jüngster Zeit veröffentlicht wurden – Vorlesungen über das Lukasevangelium, über das Johannesevangelium, den Römerbrief und den 1. Korintherbrief, die zeigen, dass Peterson ein „AusnahmeExeget“ war.32 Als ein Beispiel, das auch die ganze Sperrigkeit und Konzessionslosigkeit seiner Bibelauslegung veranschaulicht – eine scharfe Polemik, hinter der tiefster Ernst steckt – mag hier ein Absatz aus seiner Auslegung der Seligpreisung der Leidenden im Lukasevangelium etwas ausführlicher zitiert werden, den Peterson auf die Kirche bezieht, um damit weitreichende ekklesiologische Überlegungen zu verbinden: „Kirche ist keine Gemeinschaft und erst recht keine geistige Gemeinschaft. κοινονία ist im Neuen Testament entweder κοινονία mit Leib und Blut des Herrn, also sakramentalleibliche Gemeinschaft, oder sie ist κοινονία παθημάτων, also Gemeinschaft mit Schlägen, die ins Gesicht gegeben werden. In einem anderen als in diesem leiblich-
28 Barbara Nichtweiß: Art. Peterson, Erik, in: BBKL VII (1994), 277. 29 Zur Bedeutung und Funktion der Akklamation vgl. Erik Peterson und Christoph Markschies: Heis Theos. Epigraphische, formgeschichtliche und religionsgeschichtliche Untersuchungen zur antiken „Ein-Gott“-Akklamation, Nachdruck der Ausgabe von Erik Peterson 1926 mit Ergänzungen und Kommentaren von Christoph Markschies et al., Würzburg 2012, 141 ff. 30 Peterson, Theos (s. o. Anm. 29), 308. 31 Barbara Nichtweiß: Nachwort zur Entstehung und Bedeutung von ‚Heis Theos‘, in: Peterson, Theos (s. o. Anm. 29), 620. 32 So die Charakterisierung in Söding, Ausnahme-Exeget (s. o. Anm. 2), 185 u. ö.
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sakramentalen Sinn gibt es überhaupt keine Kirche. Dass die Kirche ein Leib und in Leibesleiden mit Christus verbunden ist, dass sie ein Leib ist, der den Leib Christi empfängt, gerade dies macht es unmöglich, die Kirche etwa als eine Gemeinschaft zu fassen. Die Kirche hat Gemeinschaft, aber sie ist keine Gemeinschaft. […] Wo die Kirche in einem anderen Sinn Gemeinschaft ist, etwa als Gemeinschaft des Glaubens oder der Liebe, wie man so oft sagen hört, da ist sie eben nicht Kirche, ist sie nicht die Kirche Jesu Christi.“33
Auch in den Zeiten, in denen Peterson nicht mehr gelesen wurde, blieb er bekannt durch seinen 1935 veröffentlichten bahnbrechenden Aufsatz „Der Monotheismus als politisches Problem“. In seiner Vorbemerkung macht Peterson sofort klar, dass diese historische Studie auf die Gegenwart zielt, und das sowohl in theologischer wie in politischer Hinsicht: „Die europäische Aufklärung hat von dem christlichen Gottesglauben nur den ‚Monotheismus‘ übriggelassen, der in seinem theologischen Gehalt ebenso fragwürdig ist wie in seinen politischen Konsequenzen. Für den Christen kann es politisches Handeln immer nur unter der Voraussetzung des Glaubens an den dreieinigen Gott geben. […] An einem historischen Beispiel soll die innere Problematik einer am ‚Monotheismus‘ sich orientierenden ‚politischen Theologie‘ aufgezeigt werden.“34
Peterson zeigt, wie nach Konstantin im Ringen um das Trinitätsdogma und im damit verbundenen Widerstand gegen die kaiserlichen Versuche, die Kirche zu einem der Einheit des Reiches dienenden Kompromiss zu zwingen, „die Bindung der christlichen Verkündigung an das Imperium Romanum gelöst“ wird.35 Entsprechend der eingangs formulierten Abzweckung der historischen Untersuchung kommt Peterson zu dem Resümee, dass damit „grundsätzlich der Bruch mit jeder ‚politischen Theologie‘ vollzogen [ist], die die christliche Verkündigung zur Rechtfertigung einer politischen Situation mißbraucht.“36 Das zielt vor allem gegen seinen früheren engen Freund, den Bonner Kollegen und Juristen Carl Schmitt, der durch die Neuveröffentlichung seiner „Politischen Theologie“ im Jahre 1934 diese in den Dienst des Nationalsozialismus gestellt hat. Die Debatte wird noch über Petersons Tod hinaus andauern. Im Jahr 1970, als politische Theologie wieder en vogue wurde, jetzt freilich von links, veröffentlichte Schmitt noch einmal eine Schrift, in welche er sich bereits im Titel noch einmal explizit gegen Peterson wendet: „Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder politischen Theologie (Berlin 1970)“.
33 Erik Peterson: Lukasevangelium und Synoptica. Aus dem Nachlass herausgegeben von Reinhard von Bendemann, Würzburg 2005, 245. 34 Erik Peterson: Der Monotheismus als politisches Problem, in: ders.: Traktate (s. o. Anm. 3), 24 (Kursivierung im Original). 35 Ebd., 58. 36 Ebd., 59.
Erik Petersen (1890 – 1960) – „Eine merkwürdige Randgestalt […] in diesem Äon“
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4. Peterson kommt aus der religionsgeschichtlichen Schule und hat sich, wie gesehen, auch als Religionsgeschichtler einen Namen gemacht. Aber während die bisherige religionsgeschichtliche Schule eher auf die Emanzipation der wissenschaftlichen Erforschung der Quellen von der Kirche und ihren Dogmen zielte, ist Peterson schon früh und konsequent den entgegengesetzten Weg gegangen: Sein ganzes theologisches Arbeiten zielte darauf ab, Dogma, Sakrament und Kirche als die notwendige Konsequenz der Menschwerdung Gottes im Evangelium zu begreifen. Damit hat er sich zwischen alle Stühle gesetzt. Gut möglich, dass er, wie seine Biografin Barbara Nichtweiß es in ‚Stimmen der Zeit‘ ausdrückt, „diesen Platz trotz aller Bitternis vielleicht auch als den angemessen empfunden“ hat.37 Bequem war dieser Ort in keinem Fall, und bis ans Ende seines Lebens hat Peterson die Not einer Existenz zwischen den Zeiten und Stühlen erlitten – als Außenseiter, als ein Fremder, ein Getriebener, der – wie es Barth schon 1932 prophezeite, in „diesem Äon“ immer eine merkwürdige Randgestalt blieb. Am 14. 2. 1958, zwei Jahre vor seinem Tod (am 26. 10. 1960), als er schon auf dem Absprung nach Hamburg ist, schreibt er denn auch über sich in sein Tagebuch ein Urteil, das als Lebensbilanz wie ein fernes Echo der eingangs zitierten ‚Prophezeiung‘ Barths klingt, bewegend gleichermaßen als ein Manifest der Verzweiflung wie des unbedingten Gottvertrauens: „Ich komme mir vor wie ein Sieben-Monatskind, das, in Watte gehüllt, in einem Ofen liegt. Also ein ἔκτρωμα.38 Nur weiß ich nicht, ob ich eines des kommenden oder des gegenwärtigen Äons bin […]. Menschlich geredet, will mir scheinen, dass alles in einer großen Konfusion endet, dass die Klarheit allein bei Gott ist und dass die Konfusion ein Bild für den Zwischenzustand ist, durch den uns unser Engel hindurchführen muss, bis wir am Ende – ohne die Hilfe des Engels – die Klarheit Gottes sehen werden.“39 Lange vergessen, findet heute fast so etwas wie eine Peterson-Renaissance statt: Der „Theologe von gestern“ wird interessant für die „Kirche von morgen“.40 Auf Tagungen, an denen sich evangelische und katholische Theologen zusammen mit diesem außergewöhnlichen Gottsucher beschäftigen, scheint dieses zwischen den Konfessionen zerrissene Leben geradezu so etwas wie eine Brücke zu werden, freilich nicht eine Brücke des nivellierenden Kompromisses. Peterson 37 Barbara Nichtweiß: Erik Peterson. Leben, Werk und Wirkung, in: Stimmen der Zeit 208 (1990), 543. 38 Diese Bezeichnung wendet auch Paulus in 1 Kor 15,8 auf sich an: „Als letztem von allen erschien er (Christus) auch mit, dem Unerwarteten, der Missgeburt.“ 39 Peterson, Theologie (s. o. Anm. 1), 438. 40 So der programmatische Titel des Beitrag von Kardinal Karl Lehman in Caronello, Peterson (s. o. Anm. 2), 21 – 33.
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bleibende Aktualität besteht vielmehr darin, dass er beiden, Evangelischen und Katholischen, unbequeme Fragen stellt und liebgewordene Selbstverständlichkeiten zerbricht. Papst Benedikt XVI hat daher auch der Versuchung widerstanden, den Konvertiten Peterson einseitig für die katholische Kirche zu vereinnahmen und ihn stattdessen als einen theologischen Außenseiter gewürdigt, der keinem gehört und deshalb beiden zugehört: „Er hat diese Fremdheit des Christen erfahren, er war der evangelischen Theologie fremd geworden und ist auch in der katholischen Theologie, wie sie damals war, irgendwie Fremdling geblieben. Und heute wissen wir, daß er beiden zugehört.“41
Primärtexte Erik Peterson: Theologische Traktate. Mit einer Einleitung von Barbara Nichtweiß, Würzburg 1994. –: Ausgewählte Schriften, Bd. 9.2: Theologie und Theologen, Briefwechsel mit Karl Barth und anderen, Reflexionen und Erinnerungen, Würzburg 2009. –: Der erste Brief an die Korinther und Paulus-Studien. Aus dem Nachlass herausgegeben von Hans-Ulrich Weidemann, Würzburg 2006.
Sekundärtexte Barbara Nichtweiß: Erik Peterson. Neue Sicht auf Leben und Werk, Freiburg/Basel/Wien 1992. Giancarlo Caronello (Hg.): Erik Peterson. Die theologische Präsenz eines Outsiders, Berlin 2012.
41 Papst Benedikt XVI., Ansprache (s. o. Anm. 4), XXVIII.
Stefan Dietzel
Kurt Dietrich Schmidt (1896 – 1964)
1. „Wir alle haben den Weg zu gehen vom Werden über das Wachsen zum Vergehen, und auch alle menschlichen Gemeinschaften entstehen und vergehen: Völker, Staaten, Reiche; Kulturen dazu. Auch die Kirche, die Kirche nicht nur als das menschlichsoziologische Gebilde, das sie ist, sondern die Kirche als Kirche Christi verstanden, hat an dieser Daseinsform teil. […] Geschichtliche Daseinsform heißt aber zugleich, daß nichts stillsteht, dass alles immer im Fluss ist; mehr, dass alles einer fortdauernden, man muss schon sagen, einer täglichen Änderung unterworfen ist; wie wir selbst, so alle unsere Gemeinschaften, so auch die Kirche.“1
Das Amt des Inspektors am Theologischen Stift in Göttingen wurde in den Jahren 1925 – 1929 von dem Kirchenhistoriker Kurt Dietrich Schmidt versehen, jenem Schmidt, der diese positiven Worte zum Wandel aller soziologischen „Gebilde“ fand. Kurt Dietrich Schmidt ist der theologie- und kirchengeschichtlich interessierten Nachwelt vor allem als der ‚Historiker des Kirchenkampfes‘ in Erinnerung geblieben. Ursprünglich in der Alten Geschichte zu Hause, befasste er sich in der Zeit der Radikalisierung des Nationalismus und des heraufziehenden Nationalsozialismus in apologetischer Absicht mit der Frage der ‚Germanisierung des Christentums‘ und gab in der Mitte der 1930er Jahre eine bedeutende Quellensammlung zum Kirchenkampf heraus. Der Wandel ist in gewisser Weise das Thema des Historikers, für den Theologen ist es dagegen ein gar nicht so selbstverständliches Statement, von der ständigen Veränderung in der (sozialen) Welt zu sprechen statt von den ewigen Ordnungen oder dem zeitüberdauernden Wesen der Kirche. Wie kam es, dass Schmidt so ohne theologische Skrupel die menschliche Beschaffenheit der kirchlichen Strukturen benennen und ihre Veränderung als etwas völlig normales konstatieren konnte?
1 Kurt Dietrich Schmidt: Gott und Mensch in Geschichte und Kirchengeschichte, in: ders. und Manfred Jacobs (Hg.): Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, hier: 305.
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Der Kurt Dietrich Schmidt, der 1925 als Privatdozent und Inspektor seinen Studenten im Stift erstmals gegenübertrat, war ein an Quellenstudien interessierter Kirchenhistoriker in der Linie seines Lehrers Carl Mirbt. Schmidts Interesse galt in dieser Phase seines akademischen Lebens vor allem der Frühneuzeitforschung. In seinen Qualifikationsschriften hat er sich mit dem Problem der Gegenreformation befasst. Der Aspekt der Reformations- und Gegenreformationsgeschichte sowie die Herausgabe wichtiger Lehrbücher für Kirchengeschichte werden immer mit dem Namen Schmidt in Verbindung zu bringen sein, und doch, so die These, verdankt sich die positive Bewertung des Wandels weniger der sorgfältigen Quellenarbeit als vielmehr den Erfahrungen im Kirchenkampf. Eine Grunderkenntnis Schmidts dürfte es gewesen sein, dass sich Kirche ändern oder doch zumindest hellwach mit der Gegenwart auseinandersetzen muss, um nicht im Strom der Zeit Schiffbruch zu erleiden.
2. Kurt Dietrich Schmidt wurde 1896 in Uthlede, einem kleinen Ort im Landkreis Cuxhaven, der ersten Pfarrstelle seines Vater Heinrich Adolph Schmidt (sen.) geboren. Die weiteren Pfarrstellen Hammelwörden und Barrien bei Syke, etwas südlich von Bremen gelegen, waren zugleich die Orte der Kindheit und Jugend Kurt Dietrichs.2 Eine Prägung durch die norddeutsche Landschaft zwischen Weser, Elbe und Küste kann ebenso wie durch das dort beheimatet Luthertum angenommen werden. Wir wissen von dem Milieu, in dem Kurt Dietrich Schmidt aufwuchs, durch die Autobiografie seines jüngeren Bruders und Heimatdichters Heinrich Adolph Schmidt (jun.), der sich nach dem Ort, an dem er seine wichtigsten ‚Jungensjahre‘ verbrachte, Schmidt-Barrien nannte. Als Dichter und Dramaturg des Niederdeutschen Theaters in Bremen, der seine Romane, Erzählungen, Dramen und Hörspiele zumeist in niederdeutsch publizierte, gibt er ein schwungvoll geschriebenes, zuweilen recht amüsantes Bild vom Leben der 2 Der Einzug ins Pfarrhaus dürfte 1895 erfolgt sein, da der Sohn Heinz Schmidt in einem Gedicht für die Mutter zum 75. Geburtstag diese Jahreszahl dem Gedicht über Uthlede voran stellt. Vgl. hierzu Heinrich Schmidt-Barrien: Aus meinen Jungensjahren. In Uthlede, Hamelwörden und Barrien 1902 – 1917, Heide 1992, 190. Er schreibt weiter über diese Pfarrstelle. „‚Das Dorf geschmückt, als käm’ der König an‘, – hieß es, als meine Eltern, jung wie sie waren, im Pastorenhaus zu Uthlede, Kreis Geestmünde, ihren Einzug nahmen, von der Bahnstation Stubben im grün verzierten Kutschwagen abgeholt. Sie kamen aus dem Lande Wursten, wo in Cappel die Trauung, in Cappelstrich die Hochzeit gewesen war.“ Ebd., 8. Und dann kamen die Kinder: Den Reigen von insgesamt neun Kindern führte als ältester K. D. Schmidt an. Der Pfarrstellenwechsel nach Hamelwörden und der Umzug der Familie mit ihren mittlerweile 9 Kindern erfolgte 1905. Die dritte und letzte Pfarrerstelle wurde 1913 in Barrien angetreten. Vgl. ebd., 192.
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Familie, das auch die Schattenseiten nicht ausspart und in dieser Offenheit sicher nicht jede Theologenbiografie bereichert. Das Interesse des kurz „Heinz“ genannten Bruders gilt vor allem dem Lokalkolorit, insbesondere dem niederdeutschen Dialekt. Daneben ist aber auch von dem „streng lutherischen Elternhaus“ ausführlich die Rede.3 So erfahren wir aus einer kleinen Anekdote, dass der ältere Bruder Kurt in den Orten seiner Kindheit und Jugend durchaus in Erinnerung geblieben ist, wenn auch in einer zweifelhaften. Kurz, er galt als gescheiterte Existenz: „Eine geradezu unvergessliche Begegnung sollte mir [Heinz Schmidt-Barrien, SD] viele Jahre später noch einmal gewisse Bilder aus dem Leben in dem Pfarrhaus (in Uthlede) zurückrufen. Das war in – New York, und zwar im Jahre 1954! Der Plattdeutsche Volksfestverein Brooklyn feierte ein Jubiläumsfest, wozu ich eingeladen worden war, und man mir schon zu Anfang mitgeteilt hatte, dass ein Mitglied des dortigen Osterstadter Vereins mit Namen Isaak, Jakob Isaak, mich gern begrüßen möchte. […] Zu meiner höchsten Überraschung fragte er in seinem alten Platt nach meinen älteren Geschwistern, die er alle kannte. ‚Wat maakt Kurt?‘ wollte er wissen. […] Er musste immer wieder lachen und zeigte sich sehr erfreut, als ich ihm vom Wohlergehen meiner älteren Geschwister erzählen konnte. Und richtig laut lachte er, der jüdische Mann, als ich ihm verriet, dass man meinem ältesten Bruder Kurt im Dorf Uthlede den Beinamen ‚de verkamen Smidt‘ gegeben habe, weil der es ja nicht mal zum Pastoren gebracht habe, sondern bloß irgendwas an der Universität geworden sei.“4
Das Erstaunen über die Geringschätzung der universitären Theologie und des dazugehörigen professoralen Standes auf dem platten Lande ist der Künstlerseele noch deutlich anzumerken, zumal das Verhältnis Heinz Schmidt-Barriens zu seinen Bruder Kurt das allerschlechteste nicht war. Der große Kurt war dem jüngeren Heinz schon früh ein Beispiel an Gelehrsamkeit, aber auch das Urbild eines Theoretikers, „der gern und viel redete, alles und jedes von allen Seiten betrachten musste, der über meine Schulaufsätze mit bedenklicher Miene den Kopf schüttelte, dem ich in praktischen Dingen indessen durchaus überlegen war. Er war es, der die Eltern dazu brachte, hinten im Obstgarten Bienen aufzustellen, der natürlich unendlich viel über Bienenhaltung zu sagen wusste, doch selbst nie eine Hand rührte.“5 Dem so eloquenten Pastorensprössling, so könnte man die ironisch grundierten Erinnerungen des Niederdeutschen Dichters weiterspinnen, blieb gar nichts anderes übrig, als Professor zu werden, denn zum Pastor auf dem Lande taugte der so gar nicht. Nach dem 1914 abgelegten Abitur, zog es Kurt Dietrich Schmidt zum Theologiestudium nach Göttingen, wo er sich 1923 bei dem Kirchenhistoriker Carl Mirbt mit einer Arbeit über spätmittelalterliche Reformideen und deren Nach3 Ebd., 128. 4 Ebd., 21 – 24. 5 Ebd., 166f. Vgl. zum Verhältnis der beiden Brüder ebd., 166
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wirkungen zum Lizentiaten promovierte.6 Zügig, bereits ein Jahr später, folgte die Habilitationsschrift „Schrift und Tradition“, sie wurde 1925 zusammen mit der Dissertation unter dem Titel „Studien zur Geschichte des Konzils zu Trient“ publiziert.7 Der Privatdozent Schmidt war in dieser Zeit Assistent an der Theologischen Fakultät. Zum Lebensunterhalt trug weiter die Stelle als Stiftsinspektor am Theologischen Stift bei, die Schmidt am 9. 2. 1925 mit einem Salär von 288,40 RM monatlich für zunächst zwei Jahre antrat.8 1927 verlängerte sich die Anstellung um weitere zwei Jahre. Neben der täglichen Verwaltungsarbeit und der Organisation des Stiftslebens gehörten weniger alltägliche Aufgaben, wie diverse Anschaffungen und die Organisation von Baumaßnahmen zu den Aufgaben Schmidts. Aber nicht zuletzt galt es immer auch ein akademisches Angebot auf die Beine zu stellen, d. h. altsprachliche und theologische Übungen für die Stiftler anzubieten. Aus den Berichten des Stiftsinspektors K.D. Schmidt geht hervor, dass er im Schnitt für etwas weniger als 30 Studenten verantwortlich war.9 Schmidt organisierte zu Beginn seiner Tätigkeit regelmäßige Stiftsabende und ging seit dem SoSe 1926 dazu über, eine tägliche „Stiftsübung“ zu halten, bei der die Lektüre altsprachlicher Texte im Mittelpunkt stand. Als Beispiele für die Themenwahl, bei welcher der Stiftsinspektor gegenüber der Theologischen Fakultät lediglich ein Vorschlagsrecht besaß, sind Übungen zu den „Quellen zur Geschichte des Papsttums“ von Carl Mirbt10, den „kleinen paulinischen Briefen“, zu Jer 29–34, zum „1. Clemensbrief und der Didache“, zu Dtn. 12–28 sowie zu Luthers „De votis monasticis“ zu nennen. Die Übungen fanden montags und donnerstags von 7:15–7:45, an den übrigen Tagen von 6:15–6:45 statt. 1929 endete die Assistentenzeit Schmidts und damit auch seine Zeit als Stiftsinspektor.11 Der Grund dafür war eine Berufung auf eine außerordentliche Professur nach Kiel. Schon zur Zeit des Wechsels nach Kiel war Schmidt als politisch aktiver Theologe hervorgetreten. Eine Plattform fand er wie viele Lutheraner und andere konservativ grundierte Christen im Christlich-sozialen Volksdienst (CSVD), einer aus der alten Christlich-sozialen Partei Adolf Stöckers hervorgegangenen Sammlungsbewegung. In die Vorgeschichte des CSVD gehört die Krise der 6 Kurt Dietrich Schmidt: Die Nachwirkungen der spätmittelalterlichen Reformideen während der ersten Periode des Konzils von Trient, Diss. Göttingen 1923. 7 Kurt Dietrich Schmidt: Studien zur Geschichte des Konzils von Trient, Tübingen 1925. 8 Vgl. Universitätsarchiv Göttingen, Personalakte „Kurt Dietrich Schmidt“. 9 Vgl. Ebd. 10 Carl Mirbt: Quellen zur Geschichte des Papsttums, Freiburg i. Br. 1895. 11 Nach Schmidts Fortgang hatte cand. theol. Rudolf Heyken aus Hermannsburg als Interimslösung (vom 1. 11. 1929 bis zum 31. 3. 1930) das Amt des Stiftsinspektors inne, bis es zum SoSe 1930 von Freiherr von Campenhausen übernommen wurde. Zwischenzeitig war Helmut Kittel im Gespräch gewesen, der allerdings zur fraglichen Zeit (8.10.1929) noch mit seiner Habilitation beschäftigt war.
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Deutsch-nationalen Volkspartei (DNVP), die durch das Auftreten Alfred Hugenbergs als Parteiführer ausgelöst wurde. Mit der Annäherung des Parteiführers Alfred Hugenberg an die NSDAP radikalisierte sich der Nationalismus der DNVP. Es waren vor allem die Christlich-sozialen Mitglieder, die nicht bereit waren, diesen Kurs mitzutragen und daraufhin in größerer Zahl die Partei verließen. Die aus der DNVP ausgeschiedenen christlich-sozial Gesinnten sammelten sich in dem 1929 von Wilhelm Simpfendörfer gegründeten CSVD. Die damit intendierte Abgrenzung zur NSDAP implizierte für den Volksdienst eine bewusste Entscheidung für die Akzeptanz des Staates und zur demokratischen Mitarbeit. Durch seine Mitarbeit im CSVD lässt Schmidt ein starkes Interesse an einer politischen Positionierung erkennen. Es geht ihm im CSVD darum, konservative Grundhaltungen mit sozialem Ausgleich zu verbinden. Einer solchen Position fehlte allerdings in der Weimarer Republik das realpolitische Äquivalent in Form einer dezidiert christlichen Partei. Politik aus Glauben war für Protestanten im Kaiserreich und in der Weimarer Republik ein Unding und für einen lutherisch geprägten jungen Theologen Schmidt, der aus einem von väterlicher Autorität und Strenge geprägten Elternhaus kam, alles andere als selbstverständlich.12 Als dezidiert christliche Polit-Organisation war der CSVD in seinem Selbstverständnis vom deutschen Pietismus und der missionarischen Frömmigkeit der Freikirchen geprägt. Von diesem Erbe her war er offen für das sozialreformerische Anliegen christlich-sozialer Kreise. Die Mitglieder des CSVD stellten sich den Polarisierungen in der Gesellschaft der Weimarer Republik. In ihren Reihen fanden Christen zusammen, die die Mitarbeit am Staat für ihre Pflicht hielten.13 Demgegenüber äußerten prominente Kreise im Protestantismus, z. B. Karl Barth und Martin Niemöller, beharrlich Bedenken. Anders Kurt Dietrich Schmidt, der im christlich-sozialen Milieu des CSVD eine politische Heimat gefunden hatte und 1933 den Landesvorsitz der Partei in Schleswig-Holstein übernahm.14 Die Haltung Schmidts zum Staat und zur Verfassung von Weimar war durch und durch pragmatisch, geradezu unideologisch. Sympathien für eine konservative
12 In einem 1959 erschienen Aufsatz veranschaulicht Schmidt – deutlich autobiografisch gefärbt – die gängige Haltung im Protestantismus jener Zeit. Vgl. Kurt Dietrich Schmidt: Das Widerstandsrecht im Sinne der Kirchen (1959), in: ders. und Manfred Jacobs (Hg.): Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 258 f. 13 Kurt Dietrich Schmidt: Vom Sein und Wollen des Christlich-Sozialen Volksdienstes, in: ders. und Manfred Jacobs (Hg.): Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 251: „Der Christlich-soziale Volksdienst steht und fällt mit dem Satz, dass wir als Christen zur Beteiligung am politischen Leben verpflichtet sind. […] Wirklich als Christen, ich betone das ausdrücklich, nicht nur als Staatsbürger haben wir die Pflicht zu politischer Tätigkeit.“ 14 Schmidt selbst spricht von der Landesgruppe „Nordmark“. Schmidt, Sein und Wollen (s. o. Anm. 13), 256.
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Revolution15 sind bei ihm nicht zu erkennen. Im Gegenteil, er erkannte in seinen Gegenwartsanalysen die Faktizität16 der sozialen und politischen Situation seiner Zeit an und forderte seine Zeitgenossen zur Parteiergreifung bzw. zur aktiven Mitarbeit auf. Schmidt argumentierte dabei damit, dass jeder Einzelne mit seinem Alltagshandeln als Mensch und Mitbürger bereits in der politischen Verantwortung stehe.17 Ein Abseitsstehen des Christen oder gar eine völlige Trennung der beiden Bereiche Religion und Politik lehnte er ausdrücklich ab. Der Auftrag des Christen sei vielmehr, den Anspruch Gottes auf alle Bereiche der Welt zu verkünden.18 Schmidt lag auch mit dieser Forderung voll auf der Linie der von christlich-sozialen Ideen geleiteten Kreise des kirchlichen Konservatismus. Der Weg in die Zukunft führte den CSVD-Politiker Schmidt zur Auseinandersetzung mit den Gegenwartsfragen und damit mit der gesellschaftlichen Realität selbst, was ihn wie kaum etwas anderes auf die Rolle vorbereitete, die er im Kirchenkampf übernehmen sollte. Das eigentlich Besondere am CSVD war für Schmidt nicht dessen Programm – er forderte vielmehr geradezu eine prinzipielle Programmlosigkeit – oder die Tradierung christlicher Ideale, sondern der Versuch, die alten Fragestellungen zu überwinden.19 Was er unter den alten Fragestellungen verstand, bleibt allerdings unklar, wobei wohl am ehesten die unerbittliche Feindschaft zwischen Konservativen und Sozialisten gemeint sein dürfte. Die von Schmidt um 1930 herum formulierte Idee einer politischen Theologie des Protestantismus sollte erst nach dem Krieg in der sich neu formierenden CDU zum Tragen kommen, in der viele CSVD-Politiker eine neue politische Heimat suchten.20 Die Abwehrhaltung des CSVD gegenüber der NSDAP21 hat Schmidt anscheinend voll verinnerlicht. Er war nach der Machtübergabe nicht mehr direkt 15 Vgl. Armin Mohler und Karlheinz Weissmann: Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, Graz 62005. 16 Schmidt formuliert 1929 in einem Vortrag prägnant: „Man mag es für gut oder schlecht halten, das ist ganz gleichgültig, die Verfassung legt durch die Wahl die Entscheidung in die Hand der Bevölkerung. Wir sind deshalb ganz persönlich mitverantwortlich für die Zusammensetzung des Reichstags, die für die Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Fragen entscheidend ist.“ Schmidt, Sein und Wollen (s. o. Anm. 13), 253. 17 „[…] denn auch der Christ, der am aller zurückgezogensten lebt, der sich um nichts Politisches kümmert, nicht einmal die Zeitung liest, ist in Wirklichkeit doch täglich, ja stündlich ganz persönlich mit den drängendsten, wirtschaftlichen, also politischen Problemen verbunden.“ Ebd., 251. 18 Vgl. ebd., 253: „Wie Gott selbst ein Gott der Tat ist, so verpflichtet er auch seine Jünger sofort wieder zur Tat, zum Dienst nämlich an den Brüdern.“ 19 Vgl. ebd., 255f. 20 Zu den Transformationsprozessen des politischen Protestantismus vgl. Michael Klein: Westdeutscher Protestantismus und politische Parteien. Anti-Parteien-Mentalität und parteipolitisches Engagement von 1945 bis 1963, Tübingen 2005. 21 „Im Vorfeld der Reichstagswahlen vom September 1930 hatte sich der CSVD um die evangelische Wählerschaft bemüht, indem man sich in einer weltanschaulich-ideologischen
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politisch aktiv und verweigerte somit dem totalitären Regime seine Mitarbeit. Schmidt geriet nach seinem Wechsel an die Universität Kiel in Konflikt mit dem Nationalsozialismus. Dort war die von großen Teilen des Lehrkörpers und der Studentenschaft mitgetragene Gleichschaltung besonders schnell und reibungslos vonstattengegangen. Die Theologische Fakultät geriet in der Folge immer mehr unter Druck, weil ihr von der Universität, die sich um eine Vorreiterrolle bei der Umsetzung der NS-Ideologie im Raum der Wissenschaften bemühte, das Existenzrecht in ihren Mauern bestritten wurde. Entsprechend lautstark traten hier die Deutschen Christen (DC) auf. Unter den rund sechzig Wissenschaftlern der Kieler Universität, denen in den folgenden Jahren die Lehrerlaubnis entzogen wurde, war auch Kurt Dietrich Schmidt, der nur bis Mitte der 1930er Jahre seine Aufgaben an der Fakultät wahrnehmen konnte.22 Die aktive politische Mitarbeit wurde nach der Auflösung des CSVD 1933 zu einer indirekten, die Schmidt als Kirchenhistoriker unter anderem in Form der Quellenedition „Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage“23 realisierte. Schmidt reagierte damit auf die sich in den frühen 1930er Jahren auf die Bekenntnisfrage fokussierende Auseinandersetzung kritischer Christen mit dem nationalsozialistischen Staat. Eine weitere Fortsetzung seiner Mitarbeit im CSVD fand auf kirchenpolitischem Gebiet statt. Parallel zum Pfarrernotbund unterstützte Schmidt in Schleswig-Holstein eine Initiative gegen die Einführung des Arierparagrafen in der Kirche, die in der zweiten Oktoberhälfte 1933 zur „Not- und Arbeitsgemeinschaft schleswig-holsteinischer Pastoren“ führte, dem Kern der Bekennenden Kirche (BK) Schleswig-Holsteins.24 Schmidt gehörte neben Johann Bielfeld und Volkmar Herntrich zu dessen dreiköpfigem Leitungsgremium und war Mitglied im Landesbruderrat. Trotz seiner eindeutigen Positionierung auf Seiten der BK suchte er noch lange das Gespräch mit den besonneneren Köpfen unter den DC, bis es 1935 zur endgültigen Trennung der BK von den DC kam. Schmidt hat als Mitglied der Kieler Fakultät bei den Prüfungen und Ordinationen der bekenntniskirchlichen Kandidaten mitgewirkt.
Kampagne deutlich gegen die NSDAP gestellt hatte, wobei das Christenkreuz dem Hakenkreuz gegenübergestellt wurde.“ Harry Oelke: Bekennende Kirchengeschichte. Der Kirchenhistoriker Kurt Dietrich Schmidt im Nationalsozialismus, in: ders. und Thomas Kaufmann (Hg.): Evangelische Kirchenhistoriker im „Dritten Reich“, Gütersloh 2002, 339. 22 Schmidt ist von 1934–1936 im Lutherischen Rat; zum Ende dieser Periode muss der Wechsel nach Hermannsburg erfolgt sein. Vgl. Berndt Hamm und Gury Schneider-Ludorff: Handbuch der deutschen evangelischen Kirchen 1918 bis 1949. Organe – Ämter – Verbände – Personen, Bd. 1, Göttingen 2010, 133. 23 Kurt Dietrich Schmidt: Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage, Göttingen 1934. 24 Oelke, Bekennende Kirchengeschichte (s. o. Anm. 21), 349 f.
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Die Schlüsselrolle, die Schmidt im Kirchenkampf in Schleswig-Holstein einnahm, führte letztlich zu seiner Amtsenthebung 1935. Der konkrete Anlass dafür war die Initiative einiger theologischer Hochschullehrer für den Rücktritt von Reichsbischof Ludwig Müller, an der auch Schmidt mitgewirkt hat. Dazu kam, dass nun gerade Kiel zu einer nationalsozialistischen Musteruniversität umgestaltet werden sollte, was insbesondere an der Theologischen Fakultät personelle Umbesetzungen nach sich zog, denen auch Schmidt zum Opfer fallen sollte. Am 30. August 1935 wurde Schmidt aus dem Dienst entlassen.25 Mit 39 Jahren befand er sich damit im Zustand der Zwangspensionierung. Sein Plan für den Fall der Entlassung war es gewesen, die vakante Stelle seines Bruders Rudolf Schmidt in Hermannsburg zu unternehmen.26 Dieser schnell entwickelte Plan wurde durch ein Redeverbot, das die Amtsenthebung seit November 1935 verschärfte, in Frage gestellt. Dem Missionsdirektor Christoph Schomerus und dem Göttinger Verleger Günther Ruprecht gelang es jedoch, die Aufhebung des Redeverbots zu erwirken, was es Schmidt ermöglichte, von 1936–1948/49 am Missionsseminar als Dozent zu wirken.27 Neben den Aufgaben in Missionarsausbildung gehörte es zu den Aufgaben Schmidts, auf Missionsfesten zu predigen.28 Die Stelle war insgesamt ein nicht auf Dauer angelegtes Provisorium; sie half lediglich, die Pension Schmidts aufzubessern. Mit dem Wechsel nach Hermannsburg schied Schmidt aus dem schleswigholsteinischen Bruderrat aus. Er blieb jedoch auch weiterhin noch mit der BK in Schleswig-Holstein in Verbindung. In Hermannsburg widmete sich Schmidt intensiv der Erforschung der Germanenmission. Bereits 1935, also noch vor seiner Entlassung in Kiel, hatte Schmidt damit begonnen, eine Monografie zur Germanenmission mit dem Titel „Die Bekehrung der Germanen zum Christentum“29 in mehreren Lieferungen herauszugeben.
25 Vgl. Gunther Schendel: Kirchenhistoriker im „Zwangsruhestand“. Kurt Dietrich Schmidt – Die Hermannsburger Jahre bis zum Ende der NS-Zeit, in: Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte (Hg): JGNKG 101 (2003), 219. 26 Ebd., 219. 27 Zur Korrespondenz mit Ruprecht vgl. Oelke, Bekennende Kirchengeschichte (s. o. Anm. 21), 340. 28 Zur Lehrtätigkeit vgl. Schendel, Kirchenhistoriker (s. o. Anm. 25), 227 – 230. Zur Predigttätigkeit vgl. ebd., 230 f. 29 Kurt Dietrich Schmidt: Die Bekehrung der Germanen zum Christentum, Bd. 1, Lieferung 1 bis Bd. 2, Lieferung 7, Göttingen 1935.
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3. Schmidt hat mit den Mitteln des Kirchenhistorikers versucht, gegen christentumsfeindliche Tendenzen im Nationalsozialismus anzugehen. Er verfolgte dabei die apologetische Absicht, die Germanisierungstheorien deutschgläubiger Kreise zu relativieren. Den Angriffen von deutschgläubiger Seite auf das Christentum wollte er mit historischer Quellenarbeit begegnen. Das zentrale Argument gegenüber dem Christentum, das er vor allem zu widerlegen versuchte, lautete, dass die christliche Mission unter den Germanen zu einer Entfremdung geführt habe.30 Als exemplarisch für die Argumentationsweise Schmidts kann der Aufsatz „Christus der Heiland der Germanen“ gelten, der als Beitrag zu einem gegen Rosenbergs ‚Mythus‘ gerichteten Sammelwerk konzipiert worden war, welcher jedoch von der Gestapo verhindert wurde.31 Der Christus der Germanen, wie sie ihn von ihrem Heidentum herkommend verstanden hatten, sei als ein machtvoller Gott vorzustellen, der die quälende Ungewissheit des Schicksal zu bewältigen half: „Alles auf Erden steht in seiner Hand: Leben und Tod, Krankheit und Not, was es auch ist. Schicksalhaft waltete er […].“ Hinter der Schicksal bindenden Macht leuchtete den Germanen die väterliche Güte dieses Gottes auf, denn „letztlich ist es die liebende Vaterhand, die alles lenkt“.32 Die Apologie des Christentums gegenüber der deutschgläubigen Behauptung der Unverträglichkeit des Christentums mit der deutschen Wesensart leitet direkt über zu Schmidts publizistischer Teilnahme am Kirchenkampf, dessen Geschichte er bereits seit den Anfängen in den frühen 1930er Jahren hellsichtig zu dokumentieren begann. Geleitet von der hermeneutischen Gewissheit, das im Bekenntnis der Schlüssel gegen die totalitären Tendenzen der Gegenwart zu finden sei, war Schmidt sicher nicht der einzige evangelische Theologe, der die fundamentale Bedeutung der Bekenntnisfrage für die Auseinandersetzung mit dem totalitären Staat erkannte, aber er war einer der Ersten, der auch die kirchenhistorische Aufarbeitung unter diesen Leitbegriff stellte. Schmidts Pionierleistung in den 1930er Jahren bestand darin, die verschiedensten Äußerungen und Schriften der Bekenntnisbewegung, von den Jungreformatoren bis zur
30 Oelke, Bekennende Kirchengeschichte (s. o. Anm. 21), nennt als prominente deutschgläubige Gegner exemplarisch Jakob Wilhelm Hauer, Alfred Rosenberg, Hans Ludendorff, Hermann Wirth und Bernhard Kummer. 31 Kurt Dietrich Schmidt: Christus der Heiland der Germanen, in: ders. und Manfred Jacobs (Hg.), Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 9 – 23. Zur Publikationsgeschichte vgl. Schmidt, Gott und Mensch (s. o. Anm. 1). 32 Kurt Dietrich Schmidt: Christus der Heiland der Germanen, in: ders. und Manfred Jacobs (Hg.), Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 22f.
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Bekennenden Kirche, gesammelt und publiziert zu haben.33 Schmidt urteilt bereits in der Einleitung des 1. Bandes über den Totalitätsanspruch des Nationalsozialismus, dass dieser ganz unvereinbar mit dem Evangelium sei.34 Die von Schmidt besorgte Sammlung von Bekenntnisschriften hat ihre Bedeutung weit über den Krieg hinaus behalten, was auch von der Person Schmidts selbst gilt. Nach dem Krieg avancierte er mit der großen Entschlossenheit, mit der er die Aufarbeitung der Rolle der Kirche im Nationalsozialismus fortsetze, zum Nestor der Geschichte des Kirchenkampfes.
4. Neben dem publizistischen Kampf war Schmidt auch persönlich als Aktivist in der Bekennenden Kirche tätig. Er hat an der „Ulmer Einung“, einem Bekenntnisgottesdienst im dortigen Münster, teilgenommen und die ‚Ulmer Erklärung‘ mit unterzeichnet.35 Daneben war er als Kieler Professor für Schleswig-Holstein Vertreter im Lüneburger Pakt36 (ab Oktober 1935). Sein Blick auf die BK war also nicht nur der, des neutralen Quelleneditors. Die zeithistorische Begleitung, die aktive Teilnahme und nach 1945 die Aufarbeitung des Kirchenkampfes waren ein persönliches Anliegen Schmidts und damit selbst ein Bekenntnisakt. Die Veränderung der lutherischen Staatsgesinnung, die Schmidt nach dem Krieg feststellen kann, hat eine andere Wurzel, als die Exegese reformationsgeschichtlicher Texte: „Freilich nicht durch Übertragung dieser Ansätze auf die Gegenwart, sondern auf Grund der eigenen Erfahrungen in der NS-Zeit sind heute die evangelischen Ethiker durchweg zu einer ähnlichen Bejahung des aktiven Widerstandsrechtes gekommen: Eivind Berggrav und Karl Barth, Helmut Thielicke und Walther Künneth.“37 In der Zeit zwischen 1933 und 1945 sei die Haltung innerhalb des Protestantismus noch zwiespältig gewesen und erst die Erfahrung der Realität des Totalitarismus habe zu einem grundsätzlichen Um33 „Der Kirchenhistoriker zeigte ein Gespür für die kirchengeschichtliche Bedeutung der kirchenpolitischen und theologischen Auseinandersetzungen des Jahres 1933. Zum einen war er als Kirchenhistoriker um eine Dokumentation des Geschehens bemüht, als ein in die kirchenpolitischen Vorgänge involviertes Mitglied der evangelischen Kirche wollte er zum anderen einen Beitrag zu mehr Übersichtlichkeit in der theologischen Debatte über die Bekenntnisproblematik leisten.“ Oelke, Bekennende Kirchengeschichte (s. o. Anm. 21), 342. 34 Kurt Dietrich Schmidt: Die Bekenntnisse und grundsätzlichen Äußerungen zur Kirchenfrage, Bd. 1: Des Jahres 1933, Göttingen 1937. 35 Vgl. Kurt Dietrich Schmidt: Fragen zur Struktur der Bekennenden Kirche (1962), in: ders. und Manfred Jacobs (Hg.), Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 268. Vgl. auch Hamm/ Schneider-Ludorff, Handbuch (s. o. Anm. 22), 108, wo er unter den Mitunterzeichnern aufgeführt ist. 36 Gremium der Vertreter des Bruderrates der niederdeutschen Kirchen. 37 Schmidt, Widerstandsrecht (s. o. Anm. 12), 264.
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denken im Protestantismus nach 1945 geführt. Insofern markiert für Schmidt die Neubesinnung des Protestantismus nach 1945 eine Epochenwende, weil tief eingeschliffene Deutungsmuster und Selbstverständnisse aufgegeben wurden. Schmidts Geschichte des Kirchenkampfs folgt nicht dem Muster personenzentrierter Heldengeschichten, sondern ist die Geschichte einer Institution, die um ihr Selbstverständnis und um ihre Aufgabe ringt. Nichts sei in der Bekennenden Kirche, ihrem Denken, ihrer Gegenwartsanalyse von Beginn an fertig gewesen. Schmidt weiß nichts zu berichten von prophetischen Visionen charismatischer Führer, die mit schlafwandlerischer Sicherheit den Weg in den Widerstand gingen oder wiesen. Schmidt erkennt das Unfertige, manchmal geradezu Illusorische38 in den Selbstverständigungsdiskursen der BK und beschreibt die inneren Auseinanderansetzungen als Folge der pluralen Zusammensetzung und territorialen Strukturen. Im Zentrum der Reflexionen über die Institution BK erhebt sich für Schmidt die Frage, ob sie Kirche im eigentlichen Sinne gewesen sei39 (was sie ihrem Anspruch nach zwar sein wollte, aber in ihrem Handeln allzu oft gar nicht erst versucht habe), oder ob sie nicht doch als eine Gruppe innerhalb der Kirche zu betrachten sei (was sie, wie er trocken feststellt, soziologisch gesehen tatsächlich war). Die soziologische Realität als Gruppe wurde im Laufe des Kirchenkampfes umso deutlicher, je mehr sich eine „orthodoxe Mitte“ formierte, die weder mit der BK noch mit den DC ging. Sowenig wie Schmidt als Lutherforscher einer Lutherrenaissance oder -romantik das Wort redete, redet er als Kirchenkampfforscher einer BK-Romantik das Wort. Sehr ernüchternd nimmt sich von daher 1962 sein Fazit aus: „Die Tatsache, dass die BK ihrer ganzen Struktur nach eine Größe sui generis und zugleich sehr stark zeitbedingt war, macht es unmöglich, ihre Struktur zu verabsolutieren und so zur Norm für die Zukunft zu machen. Als Ganze hat sie ihre Zeit gehabt, und die ist vergangen. Wohl aber sind ihr einzelne Erkenntnisse geschenkt worden, die überzeitlichen Wert haben und die deshalb für die Gestaltung der Kirche noch heute wichtig sind.“40
Schmidt war auch nach 1945 noch ein streitbarer Wissenschaftler, der es nicht nötig hatte, dem Zeitgeist nach dem Mund zu reden. Er kann in seinem letzten Vortrag, gehalten am 24. Juli 1964 in Hamburg, von „Geschichtslegenden“reden, wenn andere den Eindruck erwecken wollen, die BK habe von vornherein politisch klar geschaut – und scheut sich auch nicht, Martin Niemöller, diese Ikone
38 Vgl. Schmidt, Fragen zur Struktur (s. o. Anm. 35), 275. 39 Erstmals wurde dieser Anspruch klar in Ulm 1934 formuliert. Vgl. Schmidt, Fragen zur Struktur (s. o. Anm. 44), 276. 40 Ebd., 291. Vgl. auch ebd., 289 – 291.
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Stefan Dietzel
des Kirchenkampfes, als Beispiel dafür anzuführen, dass man anfangs vom Nationalsozialismus und insbesondere von Hitler viel erhofft hatte.41 Nach dem Krieg kehrte Schmidt nicht mehr an die Theologische Fakultät in Kiel zurück, sondern setzte seine akademische Karriere in Hamburg fort. Durch den Wegfall der Theologischen Fakultäten in Rostock und Greifswald blieb dem theologischen Nachwuchs im Norddeutschen Raum nur die Fakultät in Kiel, die einen entsprechend starken Andrang zu verzeichnen hatte. Die Landeskirche der Hansestadt Hamburg, der schon seit Jahren der Aufbau einer eigenen Studienstätte nicht gelungen war, sah sich daraufhin zu handeln gefordert und gründete unter dem Rektorat des Hauptpastors Volkmar Herntrich eine Kirchliche Hochschule. Zu den drei hauptamtlichen Dozenten zählte neben Hans Engelland und Leonhard Goppelt auch Kurt Dietrich Schmidt. Untergebracht war die Hochschule in den Räumen der Alsterdorfer Anstalten, deren Direktor ebenfalls Volkmar Herntrich war.42 Die theologische Ausbildung war damit grundsätzlich gewährleistet. Die Hamburger Bürgerschaft entschied sich daraufhin schließlich doch dazu, an der Universität eine Theologische Fakultät einzurichten. Die Kirchliche Hochschule wurde gleitend in die neue Fakultät überführt.43 Zusammen mit Leonhard Goppelt (Neues Testament) und Walter Freytag (Missionswissenschaft und Ökumene) von der Kirchlichen Hochschule und den neu dazugekommenen Professoren Helmuth Thielicke (Systematische Theologie), Hans-Joachim Kraus (Altes Testament) und Hans-Rudolf Müller-Schwefe (Praktische Theologie) lehrte Schmidt bis zu seinem Tode 1964 an der neugegründeten Theologischen Fakultät der Universität Hamburg das Fach Kirchengeschichte.44 Neben seiner Tätigkeit als Universitätsprofessor war er von 1945–1949 als Vorsitzender des Landesverbandes Hannover des Evangelischen Bundes aktiv.45 Aber sein Hauptanliegen blieb der Kirchenkampf. Neben Aufsätzen und Vorträgen war er seit 1955 Vorsitzender der „Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes“ und gab die Publikationsreihe „Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes“ heraus.
41 Kurt Dietrich Schmidt: Der kirchliche Widerstand, in: ders. und Manfred Jacobs (Hg.): Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967, 295. 42 Vgl. Inge Mager: Fünfzig Jahre Hamburger theologische Promotionen, in: Johan Anselm Steiger (Hg.): 500 Jahre Theologie in Hamburg. Tradition und Zukunft, Berlin 2005, 425 f. 43 Vgl. Rainer Hering: Die späte erste Fakultät. Vom allgemeinen Vorlesungswesen zum Fachbereich Evangelische Theologie, in: Johan Anselm Steiger (Hg.): 500 Jahre Theologie in Hamburg. Tradition und Zukunft, Berlin 2005, 225. 44 Vgl. Mager, Hamburger theologische Promotionen (s. o. Anm. 42), 427. 45 Hamm/Schneider-Ludorff, Handbuch (s. o. Anm. 22), 443.
Kurt Dietrich Schmidt (1896 – 1964)
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5. Kurt Dietrich Schmidt war wesentlich mitbeteiligt an den Findungsprozessen des Faches Kirchengeschichte nach dem Krieg und trug durch sein bis in die 1960er Jahre unvermindert anhaltendes Interesse an der Aufarbeitung des Kirchenkampfes dazu bei, dieses wichtige Thema in der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung fest zu verankern. Die Geschichte des Kirchenkampfes hat Schmidt gelehrt, die soziologische Struktur der Kirche als Realität zu akzeptieren und die anthropologische Seite der Religion als Gegenstand kirchengeschichtlicher Forschung zu stärken. Es sind Menschen, die handeln, Menschen, die Entscheidungen treffen und im Kirchenkampf getroffen haben – oftmals die falschen, wie er minutiös vorzuführen wusste. Die Entscheidungssituationen, die diesen Handlungen vorauslagen, waren nicht zeitentrückt-ewig, sondern konkret-aktuell, bedingt durch verstörende Umstände, durch den Mangel an Zeit, durch die Analogielosigkeit. Aber Schmidt hat nicht den Wandel also solchen verdammt, sondern die Unentschlossenheit, das Zögern und das Beharren auf alten Grenzziehungen. Schmidt ist damit zum Pionier der Aufklärung und Aufarbeitung einer schwierigen historischen Epoche geworden.
Primärtexte Manfred Jacobs (Hg.): Kurt Dietrich Schmidt. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1967.
Sekundärtexte Kurt Dietrich Schmidt (Hg.): Einführung in die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit, Hermannsburg 2009. Ralph Uhlig und Uta Cornelia Schmatzler (Hg.): Vertriebene Wissenschaftler der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) nach 1933. Zur Geschichte der CAU im Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M. 1991, 112 f.
Peter Gemeinhardt
Hans Freiherr von Campenhausen (1903 – 1989) als Stiftsinspektor
1. Unter den deutschen Kirchengeschichtlern des 20. Jahrhunderts gilt Hans von Campenhausen als einer der besten Erzähler. Ausgerechnet seine Zeit im Theologischen Stift (1930 – 1935/36) handelte er aber im Buch der Inspektoren in gerade einmal zwei Zeilen ab: „Hier wurde mancherlei gebrüllt, was besser nicht die Seiten füllt.“
Tatsächlich ging es in Göttingen in der Zeit des Nationalsozialismus hoch her – auch im Stift und in der Theologischen Fakultät wurde um Kirchen- und Wissenschaftspolitik gerungen und intrigiert.1 Hans von Campenhausen bezog als junger Dozent und Stiftsinspektor Position, was dazu führte, dass ihm bis 1945 ein kirchengeschichtlicher Lehrstuhl verwehrt wurde. Die Zeit im Stift war aber auch die Phase der Konturierung seines theologischen Profils, resultierend in seinem Buch „Die Idee des Martyriums in der Alten Kirche“ (1936). Beides – Biografisches und Werkgeschichtliches – soll im Folgenden verbunden werden.
2. Hans Freiherr von Campenhausen wurde am 3. respektive 16. Dezember (nach julianischem bzw. gregorianischem Kalender) 1903 auf Gut Orellen in Livland (nahe Riga im heutigen Lettland) geboren. Das Ende des Ersten Weltkriegs 1 Vgl. Robert P. Ericksen: Die Göttinger Theologische Fakultät im Dritten Reich, in: Heinrich Becker et al. (Hg.): Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus. Das verdrängte Kapitel ihrer 250jährigen Geschichte, München 21996, 61 – 87 und Rudolf Smend: Eine Fakultät in kritischer Zeit. Die Göttinger Theologie zwischen 1930 und 1950, in: Göttinger Jahrbuch 50 (2002), 149 – 163. Eine monografische Darstellung fehlt. Bestände des Göttinger Universitätsarchivs werden zitiert als UAG. Frau Dorothee Schenk danke ich herzlich für vorbereitende Recherchen.
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Peter Gemeinhardt
brachte einen dramatischen Einschnitt im Leben der Familie mit sich: die Ermordung des Vaters durch russische Besatzer, die zeitweise Inhaftierung der Söhne Hans und Axel und die Vertreibung der Familie. Heidelberg wurde zur neuen familiären und dann auch akademischen Heimat. 1926 promovierte Hans von Campenhausen bei Hans von Schubert über „Ambrosius von Mailand als Kirchenpolitiker“.2 Ein Stipendium ermöglichte ihm ein Forschungsstudium in Berlin, wo er seinen baltischen Landsmann Adolf von Harnack und dessen Nachfolger Hans Lietzmann traf, einen der einflussreichsten Kirchenhistoriker jener Zeit. 1928 habilitierte sich Campenhausen in Marburg bei Hans von Soden für die Fächer Kirchengeschichte und Christliche Archäologie mit einer Studie über frühchristliche Passionssarkophage.3 Hans Lietzmann lieferte in einem Brief vom März 1930 eine prägnante Charakteristik des jungen, aufstrebenden Kollegen: „Campenhausen kenne ich gut, er hat in Berlin bei mir gearbeitet, und ich hatte ihm angeboten, sich hier zu habilitieren; er ist begabt, und ich hätte ihn gern noch etwas unter meine Zucht genommen, die er nötig gehabt hätte. Wenn man ihn ruinieren will, muß man ihn früh zum Ordinarius machen. Er ist Balte und hat sein Quantum an baltischem Selbstbewußtsein. Das braucht einen Dämpfer, denn er hat noch sehr viel zu lernen – mehr als er sich selbst sagt. Er soll jetzt nach Göttingen als Stiftsinspektor, wo er lernen kann, wenn er will […]. In Marburg ist er durch Sodens Erkrankung zu früh an große Aufgaben gekommen. Ich erwarte Gutes von ihm, darum möchte ich ihm eine längere Lernzeit wünschen.“4
Trotz der kritisch-ironischen Töne – Campenhausen schien eine glänzende Karriere vor sich zu haben. Dass es anders kam, lag an dem infolge der nationalsozialistischen Machtergreifung entbrannten „Kirchenkampf“: Campenhausens trat im Frühjahr 1935 der „Bekennenden Kirche“ bei. Schon sicher geglaubte Berufungen nach Gießen und Kiel scheiterten daraufhin. In Heidelberg sollte Campenhausen die Nachfolge von Walther Köhler antreten. Nachdem er dessen Professur 1936/37 drei Semester lang vertreten hatte und die Ernennung unmittelbar bevorstand, führte ein Einspruch des „Stellvertreters des Führers“ zu deren Sistierung.5 Unmittelbar danach zerschlug sich eine Berufung nach Basel. 2 Hans Freiherr von Campenhausen: Ambrosius von Mailand als Kirchenpolitiker, Berlin/ Leipzig 1929. 3 Hans Freiherr von Campenhausen: Die Passionssarkophage. Zur Geschichte eines altchristlichen Bildkreises, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft 5 (1929), 39 – 86 (auch als Sonderdruck erschienen). 4 Kurt Aland (Hg.): Glanz und Niedergang der deutschen Universität. 50 Jahre deutscher Wissenschaftsgeschichte in Briefen von und an Hans Lietzmann (1892 – 1942), Berlin/New York 1979, Nr. 663, 602 f. (Lietzmann an Hans Emil Weber, Bonn, 04. 03. 1930), hier 602. 5 Nach Campenhausen habe ihn der Rektor ausgerechnet bei seinem Antrittsbesuch von der gescheiterten Ernennung in Kenntnis gesetzt: Ruth Slenczka (Hg.): Die „Murren“ des Hans Freiherr von Campenhausen. „Erinnerungen, dicht wie ein Schneegestöber“. Autobiographie,
Hans Freiherr von Campenhausen (1903 – 1989) als Stiftsinspektor
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Der emeritierte Tübinger Kirchenhistoriker Karl Müller, den Campenhausen bei der Überarbeitung seines Lehrbuchs zur Alten Kirche unterstützte6, klagte gegenüber Hans Lietzmann: „Es ist wirklich hart, daß dieser treffliche und so schlecht behandelte Mensch sich so immer am Rande befinden soll und mit dem Gedanken umgehen muß, ins Pfarramt zu gehen. Wie viele Kirchengeschichtler haben wir denn noch, die nicht bloß nur an dem einen Knochen nagen oder noch weniger zu Stande bringen.“7 Campenhausen schlug die Möglichkeit, Pfarrer der hannoverschen Landeskirche zu werden, aus und lehrte bis Kriegsende als Dozent in Greifswald sowie in Wien.8 „Ich habe mir nach 6 Jahren Vagabundenleben das Hoffen so ziemlich abgewöhnt“, schrieb er an Lietzmann.9 Erst 1945 konnte er in Heidelberg seine Professur antreten; schon im folgenden Jahr wurde er zum Rektor der Universität gewählt, der er fortan treu blieb. Als er in Göttingen Anfang 1946 noch einmal im Gespräch war als Nachfolger für den entlassenen Martin Gerhardt (berufen wurde letztlich Ernst Wolf), schrieb der Dekan der Theologischen Fakultät, Joachim Jeremias: „Der Fall von Campenhausen ist im Rahmen der Theol. Fakultäten eines der augenfälligsten Beispiele für die Benachteiligung eines qualifizierten Gelehrten wegen seiner politischen u. kirchlichen Haltung.“10 In der Nachkriegszeit gehörte Campenhausen zu den maßgeblichen Kirchengeschichtlern in Deutschland; er war Mitbegründer und von 1960 bis 1980 Leiter der Patristischen Kommission der Union der Akademien der Wissenschaften. Zahlreiche seiner Schüler landeten auf neutestamentlichen oder kirchengeschichtlichen Lehrstühlen. Auch in Göttingen lehrten mit Bernd Moeller (1964 – 1999 Professor) und Adolf Martin Ritter (1964 – 1978 Assistent und außerplanmäßiger Professor) zwei seiner Schüler; Ritter wurde 1981 sein zweiter Nachfolger in Heidelberg. Dort starb Hans von Campenhausen an Epiphanias 1989.
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Norderstedt 2005, 170. Im Heidelberger Universitätsarchiv befindet sich die Ernennungsurkunde (freundliche Mitteilung von Frau Dr. Ruth Slenczka am 08. 09. 2014); diese war also bereits ausgestellt, aber vermutlich aufgrund des Einspruchs aus der Parteizentrale der NSDAP nicht ausgehändigt worden. Zu diesen Vorgängen vgl. Leonore Siegele-Wenschkewitz: Die Theologische Fakultät im Dritten Reich. „Bollwerk gegen Basel“, in: Wilhelm Doerr (Hg.): Semper apertus. 600 Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386 – 1986, Bd. 3, Berlin 1985, 535 f. Karl Müller: Kirchengeschichte, Teil 1/1 – 2, neu überarbeitet in Gemeinschaft mit Hans von Campenhausen, Tübingen 31941. Karl Müller am 16. 03. 1939, in: Aland, Glanz und Niedergang (s. o. Anm. 4), Nr. 1091, 958. Vgl. Slenczka, „Murren“ (s. o. Anm. 5), 172. Campenhausen am 27. 12. 1940, in: Aland, Glanz und Niedergang (s. o. Anm. 4), Nr. 1169, 1013 f. UAG Kur. 0767, Bl. 220, zitiert in einem Schreiben des Rektors Smend an das University Education Control Office (09. 03. 1946).
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3. Campenhausen kam 1924 nach Göttingen, um auf den Rat seines Lehrers von Schubert hin bei Carl Mirbt Reformationsgeschichte zu hören. Dieser ließ jedoch seine Vorlesung in der ersten Woche des Sommersemesters ausfallen – ein Brauch, der bis heute nicht ganz ausgerottet ist –, so dass Campenhausen spontan nach Marburg weiterreiste.11 Die christliche Archäologie, zu der ihn dort Hans von Soden und in Berlin Hans Lietzmann brachten, war wiederum der Grund, dass die Theologische Fakultät in Göttingen nach dem Weggang des Stiftsinspektors Kurt Dietrich Schmidt nach Kiel Campenhausen dessen Nachfolge antrug: Neben den durchaus überschaubaren Aufgaben im Stift – täglich eine halbe Stunde kursorischer Lektüre in einer der drei alten Sprachen – sollte er einen „christlich-archäologischen Apparat“ einrichten.12 Hinzu kam das kirchengeschichtliche Proseminar, was sich als Pferdefuß entpuppte, denn diese Veranstaltung war regelmäßig überlaufen.13 Zum 1. April 1930 zog der neue Inspektor in den „Stillen Ochsen“ im Stumpfebiel 2 ein. Ging Campenhausen „mit geheimem Zagen an die Leitung der studentischen Gemeinschaft heran“, da er sich „menschlich höchst dürftig und ungeschult“ vorkam, genoss er doch bald den Umgang mit den etwa zwanzig männlichen Stiftsinsassen. Den Tag begann man nach Andacht und altsprachlicher Übung mit dem „Morgentrank der Ewigkeit“ (Kakao) – all das vor acht, im Sommer sogar schon vor sieben Uhr.14 Die Stiftler nahmen auch regen Anteil daran, dass die Inspektorenwohnung bald eine wachsende Familie beherbergte: Eine komplikationsreiche Brautwerbung führte 1931 zur Eheschließung mit Campenhausens Jugendfreundin Dorothee von Eichel.15 Bis zum Umzug nach Heidelberg im Januar 1937 wurden drei Söhne geboren (Peter, Axel und Christoph), 1940 folgte die Tochter Lilli. Der junge Privatdozent fand schnell Zugang zu Kollegen aus der eigenen und aus anderen Fakultäten, wobei er im Rückblick süffisant bemerkte: „Göttingen war schon damals ein Pensionopolis.“16 Gegenüber den beiden Ordinarien für Kirchengeschichte waren die Sympathien klar verteilt: Mit Hermann Dörries, vor dessen „steifer hannöverscher Art“ man Campenhausen zuvor gewarnt hatte, 11 Vgl. Slenczka, „Murren“ (s. o. Anm. 5), 86 f. 12 UAG Theol. PA 0067 (unpaginiert), handschriftliches Schreiben des Dekans Johannes Meyer (19. 02. 1930). 13 Vgl. seinen Brief an Lietzmann vom 04. 03. 1931, in: Aland, Glanz und Niedergang (s. o. Anm. 4), Nr. 726, 646. 14 Alle Zitate und Angaben nach: Slenczka, „Murren“ (s. o. Anm. 5), 124. 15 Mit Selbstironie berichtet in: Slenczka, „Murren“ (s. o. Anm. 5), 128 – 133. Selbstverständlich durfte seine künftige Frau während der Verlobungszeit noch nicht im Stift übernachten, sondern musste ins Hospiz am Leinekanal ausweichen! 16 Slenczka, „Murren“ (s. o. Anm. 5), 136.
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verband ihn eine lebenslange Freundschaft, während sich das Verhältnis zu Emanuel Hirsch, der von 1932 bis 1939 Dekan der Theologischen Fakultät und zugleich Ephorus des Stifts (und selbst dessen ehemaliger Inspektor) war, kompliziert gestaltete.17 Campenhausen begann seine Amtszeit im Stift auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise, und das war allerorten spürbar, ob es eine kleine Zulage für den Hausmeister war oder die Beschaffung von Glühbirnen. Einen Telefonanschluss gab es nicht. Als Dekan Johannes Meyer 1931 einen solchen beantragte, da das jüngste Kind des Hausmeisters, das bislang den Inspektor ans Telefon geholt hatte, nun schulpflichtig sei und dieser Aufgabe nicht mehr nachkommen könne, begründete der Kurator seine Ablehnung damit, „dass noch mehrere Universitäts-Institute ohne Fernsprechanschluss sind.“18 Im Winter 1930/31 wurden aus dem allgemeinen Kohlenvorrat wiederholt Briketts gestohlen; der enttarnte Dieb wurde hart bestraft, er verlor sein Wohnstipendium und wurde aus dem Stift ausgeschlossen.19 Monatelang war Campenhausen mit der Beantragung einer Reinemachfrau für das Stift befasst; erst der dritte Antrag führte zu einer (Teil-) Bewilligung für das Jahr 1931.20 Konflikte anderer Art entstanden mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Campenhausen begrüßte das „Ende des Parteienstaats“ und erhoffte „einen autoritären, eventuell berufsständisch gegliederten Rechtsstaat“, fühlte sich aber von der „Roheit und Barbarei der Nazis“ abgestoßen.21 Doch gehörte er zu den Unterzeichnern eines „Bekenntnis[ses] der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat“, das am 11. November 1933 als „Ruf an die Gebildeten der Welt“ vor der Volksabstimmung über den Austritt aus dem Völkerbund erschien.22 Anderthalb Jahre später war Campenhausen hingegen einer der Göttinger Dozenten, die gegen einen Erlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung protestierten, dem zufolge sich Theologische Fakultäten jeder
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Vgl. Ebd., 121. UAG Theol. SA 149 (Inspektoren), Schreiben vom 03.03. und 12. 08. 1931. Vgl. Slenczka, „Murren“ (s. o. Anm. 5), 135. UAG Theol. SA 149 (Allgemeines), zahlreiche Schriftstücke im Zeitraum 02. 05. 1930 bis 13. 05. 1931. 21 Slenczka, „Murren“ (s. o. Anm. 5), 144. 22 Vgl. Kurt Nowak: Protestantische Universitätstheologie und „nationale Revolution“. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte des „Dritten Reiches“, in: Leonore Siegele-Wenschkewitz und Carsten Nicolaisen (Hg.): Theologische Fakultäten im Nationalsozialismus, Göttingen 1993, 89 – 112, hier 108 – 111. Vgl. auch Adolf Martin Ritter: Die Heidelberger Kirchenhistoriker in der Zeit des „Dritten Reiches“, in: Siegele-Wenschkewitz/Nicolaisen, Nationalsozialismus (s. o. Anm. 22), 174. Neben Campenhausen waren aus der Göttinger Fakultät die DC-nahen Theologen Emanuel Hirsch, Johannes Behm, Johannes Hempel und Georg Wobbermin beteiligt.
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Äußerung im „Kirchenstreit“ enthalten sollten.23 Gemeinsam mit den Professoren Hermann Dörries, Carl Stange, Johannes Meyer und Walter Bauer sowie dem Privatdozenten Walter Hoffmann bekundete Campenhausen, dass trotz der „Verantwortung, die auf den Amtsträgern des nationalsozialistischen Staates ruht, zu denen auch die Professoren der Theologie gehören“, letztere den Kirchen „in öffentlichen Notlagen den schuldigen Dienst mit unserm Wort nicht versagen“ dürften. Das hieß konkret: „Soweit also der Kirchenstreit ein Lehrstreit ist, waren und sind wir genötigt, mit den von uns in wissenschaftlicher Arbeit gewonnenen Erkenntnissen unserer Kirche und damit unserem Volk in ihrem schweren Ringen um die christliche Wahrheit und die daraus sich ergebende Gestaltung der Kirche beizustehen. Nur so können wir auch dem Anspruch genügen, der mit Recht eine grössere Lebensnähe der Wissenschaft von uns fordert. Infolgedessen ist es uns nicht möglich, darauf zu verzichten, unsere theologische Überzeugung gegebenenfalls auch vor der Öffentlichkeit der Kirche zu vertreten. Dazu rechnen wir auch die Pflicht, uns unter Umständen an frei gebildete kirchliche Vereinigungen, die jedem Christen offen stehen, anzuschließen und in ihnen mitzuarbeiten. Dass es sich dabei nur um Vereinigungen handeln kann, die für den nationalsozialistischen Staat als für ihre von Gott gesetzte Obrigkeit rückhaltlos eintreten werden, versteht sich für uns von selbst.“
Politische Loyalität zu bekunden und auf der Legitimität der Teilnahme am „Kirchenstreit“ zu insistieren war charakteristisch für Campenhausen. Nachdem der Eintritt in die BK ihn den Ruf nach Gießen gekostet hatte, machten die nächsten Vertretungsaufträge in Kiel und Heidelberg Hoffnung, bald einen dieser Lehrstühle einzunehmen. Campenhausen kehrte nach dem Sommer 1935 nur noch in den Semesterferien ins Stift zurück, blieb dort allerdings mit seiner Familie bis Anfang 1937 wohnen. Sein Nachfolger wurde zum SoSe 1936 (zunächst kommissarisch) Carl Heinz Ratschow. Wie sicher man in Göttingen davon ausging, dass Campenhausen in Heidelberg bleiben würde, zeigt der zum Universitätsjubiläum 1937 erschienene Abriss der Fakultätsgeschichte von Johannes Meyer, in dem es proleptisch heißt: „V. Campenhausen […] wurde im Herbst 1936 Ordinarius in Heidelberg.“24 Campenhausen selbst war sich da nicht gar so sicher. Schon im Juli 1936 wandte er sich an Hirsch mit der Bitte, ihm angesichts des noch nicht erteilten Rufes die Möglichkeit der Rückkehr nach Göttingen offen zu halten.25 Hirsch versicherte, eine seiner familiären Situation angemessene Lösung suchen zu wollen, und sorgte dafür, dass Ratschow relativ kurzfristig hätte gekündigt 23 Der Erlass vom 28. 02. 1935 ist u. a. erhalten in UAG Theol. SA 140, Bl. 236, der Protestbrief ebd., Bl. 234 f.. 24 Johannes Meyer: Geschichte der Göttinger Theologischen Fakultät, in: ZGNKG 42 (1937), 82. 25 UAG Theol. PA 0067, Campenhausen an Hirsch (03. 07. 1936). Auch die folgenden Quellen im Text werden nach diesem unpaginierten Bestand zitiert.
Hans Freiherr von Campenhausen (1903 – 1989) als Stiftsinspektor
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werden können.26 Auf der Aufforderung vom 25. September 1936, der Inspektor möge seine Wohnung im Stift räumen, vermerkte Hirsch, der Brief sei vom Adressaten „bestellt“ gewesen – offenbar damit dieser ein Druckmittel für eine baldige Ernennung erhielt. Als im April 1937 die Berufung nach Heidelberg scheiterte, sondierte Campenhausen bei Hirsch die Möglichkeit einer Wiedereinstellung als Inspektor. Nun erwies sich das Sicherheitsnetz als löchrig: Am 4. Juni 1937 schrieb Hirsch, er habe sich beim Führer der Dozentenschaft dafür eingesetzt, jedoch: „Die für die ganze Erziehungsarbeit der Theologischen Fakultät so entscheidende Stelle des Stiftsinspektors soll nicht einem Manne anvertraut werden, bei dem der Stellvertreter des Führers Bedenken gegen die Übertragung eines beamteten Ordinariats hat.“ Hirsch spielte aber offenbar ein doppeltes Spiel: schon am 4. Mai 1937 äußerte er gegenüber dem Reichsminister die Bitte, „auf irgendeine Weise, die mit dem Votum der Partei nicht in Widerspruch steht, Herrn von Campenhausen eine angemessene und seiner Ausbildung und seinen Gaben entsprechende Beschäftigung zu verschaffen.“ Trotz dessen wissenschaftlicher Qualifikation und „nationaler Ehrenhaftigkeit“ sei offensichtlich, „daß ihm die besonderen Voraussetzungen, die von einem Erzieher der nationalsozialistischen Universität gefordert sind, abgehen. Er kann nicht Mitträger der nationalsozialistischen Erneuerung der Universitätserziehung werden, sondern hat den Typus eines Gelehrten älterer Prägung und Gesinnung.“ Gegenüber dem Rektor der Universität gab Hirsch zugleich zu bedenken, dass man dem „wissenschaftlich und pädagogisch hochbegabten“ Ratschow nicht gut wieder kündigen könne. Zudem würde dann „eine für den Gesamtgeist der Theologischen Fakultät zentrale Institution, das Theologische Stift, unter der Führung eines politisch disqualifizierten und notwendigerweise persönlich erbitterten Mannes stehen.“ Dass eine Rückkehr ans Stift „in keinem Fall ein Vergnügen wäre“, schrieb Campenhausen selbst in einem Brief an Lietzmann über seine „Historia calamitatum“.27 Hirsch, der gegenüber Campenhausen wie gegenüber Dörries zwischen Loyalität und Distanz schwankte28, hatte schon anlässlich der Vertretungsregelung für das Stift im Herbst 1935 der Hoffnung Ausdruck verliehen, mit dem Studenten Friedrich Helwig werde es „im Sinne der Dozentenschaft bedeutend 26 UAG Theol. SA 149 (Inspektoren), Dekan und Ephorus Hirsch an den Kurator der Universität (29. 01. 1937). 27 Aland, Glanz und Niedergang (s. o. Anm. 4), Nr. 1001, 884 (12. 05. 1937). 28 Hierzu vgl. Thomas Kaufmann: „Anpassung“ als historiographisches Konzept und als theologiepolitisches Programm. Der Kirchenhistoriker Erich Seeberg in der Zeit der Weimarer Republik und des ‚Dritten Reiches‘, in: Thomas Kaufmann und Harry Oelke (Hg.): Evangelische Kirchenhistoriker im „Dritten Reich“, Gütersloh 2002, 243 – 246. Vgl. auch Ericksen, Theologische Fakultät (s. o. Anm. 1), 70.
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erfreulicher gehen als mit Campenhausen.“29 Dieser hatte nicht nur, wie erwähnt, gegen den ministeriellen „Maulkorberlass“ protestiert, sondern auch an Freizeiten mit Studenten teilgenommen, die von der BK als Alternative zu den „Fachlagern“ von Fakultäten und Fachschaften organisiert wurden. Ende Februar 1936 initiierte der BK-Student Edmund Bode eine solche Freizeit in Lippoldsberg, während die Fachschaft ein offizielles Fachlager in Rittmarshausen veranstaltete. Für Bode und den Mitinitiator (und späteren Landesbischof) Hans-Heinrich Harms hatte dies die Konsequenz, dass ihnen zunächst ein drittes Stiftssemester verweigert wurde.30 Auch Campenhausen, der sich an der Freizeit beteiligt hatte31, wurde von seinem Ephorus Hirsch heftig kritisiert: „Sie haben während Ihres Urlaubs die faktisch gegen die Fachschaftsarbeit sich richtende und Studenten von der Teilnahme an der Fachschaftsarbeit fernhaltende Sondergruppenarbeit, als deren Führer hier der Studierende Bode erscheint, durch Mitarbeit und Hilfe unterstützt. Da Sie Urlaub ohne Gehalt von Göttingen weg gehabt haben, will ich alles, was Sie bis zum 29.2. d. Js. in der Sache getan haben und tun, außer Betracht lassen. Für die Zukunft jedoch möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, dass die Fachschaftsarbeit ein offizielles Stück der politischen Universität ist und daß eine Gruppe, welche die Studenten im Sinne der Abhaltung von der Fachschaftsarbeit beeinflusst, von jemandem, der das Stiftsinspektoramt innehat, weder durch Rat noch durch Mitarbeit unterstützt werden kann.“32
Campenhausen repliziert darauf in gleicher Deutlichkeit: „Das in Frage stehende, seit Semesterbeginn geplante Lager richtete sich weder in der Absicht noch in seiner Auswirkung gegen die Fachschaftsarbeit der Theologischen Fakultät. Meine Teilnahme an dem Fachschaftslager der Theologischen Fakultät in Kiel beweist, daß ich meiner grundsätzlichen Bereitschaft zur Förderung der Fachschaftsarbeit mit der Tat zu entsprechen willens bin. Wenn Studenten meinen Rat oder meine Hilfe suchen, so werde ich mich grundsätzlich stets zur Verfügung stellen. Ein gegenteiliges Verhalten würde meiner Auffassung von der menschlichen und christlichen Pflicht eines Dozenten der Theologie durchaus widersprechen. Ich bitte, mich wie bisher in der Freiheit meiner persönlichen, theologischen und kirchlichen Überzeugung nicht hindern zu wollen.“33
Auch hier nahm Campenhausen für sich in Anspruch, die Pflichten eines Theologen nicht von politischen Interessen überlagern zu lassen – was das Ziel 29 UAG Theol. SA 149 (Inspektoren), Hirsch an den Führer der Studentenschaft (29. 10. 1935). 30 UAG Theol. SA 149 (Allgemeines), Niederschrift einer Erklärung von Harms vor dem Kurator am 03. 03. 1936 sowie Notiz Hirschs vom 06. 03. 1936: „durch mündliche Verhandlung erledigt“; UAG Theol. SA 140, Bl. 128 (Aktenvermerk vom 07. 04. 1936). 31 Slenczka, „Murren“ (s. o. Anm. 5), 163: „Diese von der Not diktierten Freizeiten waren in Wahrheit eine schöne und echte Erweckung kirchlicher Gemeinsamkeit und geistlichen Lebens.“ 32 UAG Theol. SA 140, Bl. 131 (25. 02. 1936). 33 UAG Theol. SA 140, Bl. 130 (02. 03. 1936).
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Hirschs war, der die Fakultät nach dem Führerprinzip zu steuern versuchte und mit entsprechendem Autoritätsgestus antwortete, dass „die Sondergruppenarbeit der Studierenden Bode und Harms von Ihnen, solange Sie Stiftsinspektor sind, gemäß von mir Ihnen erteiltem dienstlichen Befehl nicht mehr irgendwie unterstützt werden darf“.34 Auf dem Hintergrund dieses Briefwechsels wird verständlich, warum Hirsch 1937 an einem Verbleib Campenhausens in Göttingen keinesfalls gelegen war.
4. Die literarische Frucht der Göttinger Jahre: Das Martyriumsbuch. Neben zahlreichen Einzelstudien und den bei Generationen von Studierenden beliebten „Griechischen“ und „Lateinischen Kirchenvätern“ verfasste Campenhausen drei große Monografien: „Die Idee des Martyriums in der alten Kirche“ (Göttingen 1936, 21964), „Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten“ (Tübingen 1953, 21963) und „Die Entstehung der christlichen Bibel“ (Tübingen 1968). Das Martyriumsbuch ist Zeugnis seiner Zeit. Während Campenhausens Göttinger Antrittsvorlesung über „Die asketische Heimatlosigkeit im altkirchlichen und frühmittelalterlichen Mönchtum“35 nur beiläufig auf die Fremdheit des Christen überhaupt in der Welt anspielt und daher keine expliziten biografischen Bezüge zu erkennen sind (die Wanderjahre zwischen 1935 und 1945 waren noch nicht absehbar), äußerte sich Campenhausen selbst über die Entstehung des Martyriumsbuches: „Bei keinem anderen Gegenstand der Kirchengeschichte fällt das Persönlichste und das ‚Objektivste‘ so sehr in eins und erweist sich gerade darin als ‚geschichtsmächtig‘. Ich habe an dem werdenden Buch darum mit echter Leidenschaft gearbeitet, auch wenn man ihm von dieser Leidenschaft bei der wissenschaftlichen Konzentration des Stoffes, wie es Anfänger lieben, nicht sehr viel anmerken wird und das Buch, das 1936 mitten in den Kirchenkampf hinein erschien und eigentlich auch manches zu sagen gehabt hätte, durchaus keine große Wirkung und Beachtung fand.“36
Immerhin rühmte die Göttinger Fakultät das Buch ein Jahrzehnt später als „Meisterstück theologischen Geschichtsverständnisses“ und tatsächlich darf es als seinerzeit Maßstäbe setzend (und auch heute noch nützlich und gut zu lesen) 34 UAG Theol. SA 140, Bl. 129, Hirsch an Campenhausen (03. 03. 1936). 35 Zuerst gedruckt: SGV 149, Tübingen 1930; wieder in: Hans von Campenhausen: Tradition und Leben. Kräfte der Kirchengeschichte. Aufsätze und Vorträge, Tübingen 1960, 290 – 317. 36 Slenczka, „Murren“ (s. o. Anm. 5), 137. Ähnlich äußern sich Bernd Moeller: Nekrolog Hans Freiherr von Campenhausen, 16. 12. 1903 bis 6. 1. 1989, in: HZ 249 (1989) 740 – 743, hier 741 und Adolf Martin Ritter: Hans von Campenhausen (16. 12. 1903 – 6.1.1989) – ein protestantischer Kirchenhistoriker in seinem Jahrhundert, in: Heidelberger Jahrbücher 34 (1990), 159.
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gelten.37 Unter Einarbeitung eines gewaltigen Quellenbestands wird ein Spannungsbogen vom Neuen Testament zu Augustin geschlagen. Campenhausen schreibt die Geschichte der „Idee des Martyriums“ als Geschichte des Abfalls vom urchristlichen Verständnis des Zeugnisses. Dabei zielt die historische Rekonstruktion auf die Wiedergewinnung des urchristlichen Begriffs des „Zeugen“ – und hier liegt auch die theologische Fruchtbarkeit der kirchengeschichtlichen Untersuchung für die Gegenwart. Das Martyriumsbuch behandelt die „Idee des Martyriums“ in fünf Schritten: Nach den „religiösen Voraussetzungen der Märtyreridee“ (Kap. 1) wird die „Entstehung des martyrologischen Zeugenbegriffs“ nachgezeichnet (Kap. 2); es folgen „Christus und die Märtyrer“ (Kap. 3), „Das Martyrium als menschliche Tat“ (Kap. 4) und „Der Märtyrer und seine Verfolger“ (Kap. 5). Die Dynamik der Denkbewegung, die Campenhausen schildert, besteht in der sukzessiven Transformation des neutestamentlichen, christologisch konzentrierten Zeugenbegriffs zu einem martyrologischen Konzept, das erstmals am Rande des Neuen Testaments in der Offenbarung des Johannes begegnet und in einer folgenschweren inhaltlichen und begrifflichen Verschiebung von der Christusnachfolge zur Christusnachahmung führt. Gegen eine verbreitete Ableitung des christlichen Martyriumsverständnisses aus dem frühen Judentum (konkret aus den Makkabäerbüchern) gilt „Jesu Auftreten, Predigt und Tod“ und zumal die Nachfolgeforderung als „entscheidende Voraussetzung für die Idee und Wirklichkeit des Martyriums“.38 Dabei „gewinnt der Tod in der Reihe der Verfolgungsleiden für Paulus nirgendwo eine besondere Bedeutung oder einen religiösen Eigenwert“39, vielmehr ist sein Leben ein „‚Martyrium‘ im echten Sinne“ als ein „Wirken und Predigen für Christus […] und ein Aufgezehrtwerden in diesem Dienst“.40 Für Campenhausen ist daher die „Einbeziehung des einmaligen Sterbens […] als einer schlechthin einzigartigen Form der Bezeugung“41 neu gegenüber den Evangelien und Paulusbriefen. Während der Hebräer- und der erste Clemensbrief vom Zeugnis Gottes für den Menschen (μεμαρτυρημένος) sprechen, wird im Zuge der Christenverfolgungen der hingerichtete Bekenner selbst zum Zeugen par excellence (μάρτυς).42 Die Offenbarung des Johannes nimmt eine Scharnierstellung ein, da sich in ihr erstmals die Vorstellung findet, dass die Blutzeugen mit ihrem Tod das Zeugnis 37 UAG Kur. 0767, Bl. 213 (15. 02. 1946), anlässlich der Wiederbesetzung des Lehrstuhls für Kirchengeschichte. 38 Hans Freiherr von Campenhausen: Die Idee des Martyriums in der alten Kirche, Göttingen 2 1964, 5. 39 Campenhausen, Die Idee des Martyriums (s. o. Anm. 38), 17. 40 Ebd., 14. 41 Ebd., 20. 42 Ebd., 36.
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Christi, des ersten Zeugen (Offb 1,5 und 3,14), nachahmten und „um des Wortes Gottes und ihres Zeugnisses willen umgebracht wurden“ (Offb 6,9) – gegenüber allen anderen Christen, denen Leiden und Bewährung noch bevorstehen, sind sie „der Zweideutigkeit des Lebens für immer entnommen“.43 Damit tritt „die Ehre jedes Christen, mit dem Besitz des Zeugnisses auch zum Martyrium designiert zu sein“, in den Hintergrund, während fortan der Tod als solcher als Zeugnis gilt. „Nur als unausgesetztes Ringen mit einem tiefen Mißverstehen der ursprünglich gesetzten christlichen Idee läßt sich die weitere Entwicklung des Märtyrergedankens verstehen und darstellen.“44 Campenhausen geht also von einer exegetisch fundierten, theologisch normativen Idee des Christlichen im Allgemeinen und des Martyriums im Besonderen aus.45 Aus dieser Perspektive wird die weitere Entwicklung geschildert und bewertet: Die Briefe des Ignatius von Antiochien lassen erkennen, wie „der Märtyrer, indem er sein eigenes Heil vollendet, wirklich zu einer Quelle des Heils für die Kirche“ wird.46 Im Polykarpmartyrium avanciert der Märtyrer zum Gegenstand kultischer Verehrung.47 Statt „Zeugnis“ und „Nachfolge“ treten nun „Leiden“ (πάθος) und „Nachahmung“ (μίμησις) in den Vordergrund48, ja allmählich stehen „Christus und der Märtyrer […] nebeneinander und stehen einander in ihrem erlösenden Leiden um Gottes Willen tatsächlich gleich“49, so dass sich der Opfertod Jesu von dem der Märtyrer nur noch graduell unterscheide.50 Im 4. Jahrhundert sei eine weitere Entgrenzung des Opferbegriffs eingetreten, indem den Mönchen ein „asketisches Opfer“ zugeschrieben wurde.51 Augustin habe, wie Campenhausen enttäuscht konstatiert, zwar die Alleinwirksamkeit Gottes auch in Bezug auf die Märtyrer betont und jede Anbetung von Menschen ausgeschlossen, jedoch fehle auch ihm „der konkrete christologische Zeugenbegriff“.52 Nicht mehr durch den Bezug auf Christus, sondern durch die rechte Haltung des Menschen zu Gott und zur Kirche wird das Martyrium eindeutig erkennbar: „Non poena sed causa facit martyrem“, hält Augustin den Donatisten entgegen, die sich für die falsche Seite hinrichten lassen.53 43 Ebd., 45. 44 Ebd., 55. 45 Vgl. dazu Winrich Löhr: Kirchengeschichte zwischen historischer Rekonstruktion und Gegenwartsorientierung – Hans von Campenhausen als Historiker und Theologe, in: Christoph Markschies (Hg.): Hans Freiherr von Campenhausen – Weg, Werk und Wirkung, Heidelberg 2008, 61 – 86, hier 69. 46 Campenhausen, Die Idee des Martyriums (s. o. Anm. 38), 73. 47 Ebd., 79. 48 Ebd., 74. 49 Ebd., 78. 50 Ebd., 96. 51 Ebd., 98. 52 Ebd., 103. 53 Ebd., 117.
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Damit wird das Martyrium zur menschlichen Tat und ist mit einem exklusiven Jenseitsgewinn – so schon bei Tertullian – verbunden.54 Hier und bei Clemens von Alexandrien findet Campenhausen Belege für das um 200 vollendete „Märtyrerideal des reiferen Katholizismus“: „Die kultische Verehrung der Märtyrer und die verstärkte Betonung des Lohngedankens werden zur Erbauung und Erziehung der Gemeinden nebeneinander gepflegt“.55 Die „katholische“ Martyriumsidee findet ihre Zuspitzung bei Cyprian von Karthago als Idee eines „kirchlich gebundenen Martyriums“.56 Damit blickt das Martyriumsbuch schon auf die nächste Monografie „Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht“ voraus. Heiligenverehrung und Reliquienfrömmigkeit hätten die urchristliche „Idee des Martyriums tatsächlich abgelöst und verflüchtigt“.57 Erst mit der Reformation sei die Wende gekommen: „Erst die reformatorische Theologie des Worts bedeutet in der Geschichte der Märtyreridee einen neuen Einsatz, indem sie den Blick von neuem in die entscheidende Richtung auf das Zeugnis selber lenkt und insofern wieder zu den Anfängen zurückkehrt. Denn wenn das Martyrium ursprünglich nichts anderes war als das in der geschenkten Vollmacht des Geistes bis zuletzt bewahrte Zeugnis Jesu, so liegt die einzige Möglichkeit seiner Fortentwicklung, die nicht zur Verfälschung oder Auflösung des urchristlichen Gedankens wird, in der immer tieferen Erfassung dessen, was dieses Christus-Zeugnis für die Welt und den Christen dort bedeutet, wo die relative Einstellung zum Leben ihr unbedingtes Ende erreicht hat: im Bekenntnis und im Tod“.58 In diesen letzten Sätzen des Buches ist tatsächlich Persönliches und aktuell Orientierendes wahrzunehmen: nicht konkrete Todessorge (dazu bestand Anfang 1936 kein Anlass für Campenhausen), wohl aber das Bewusstsein, dass in der Gegenwart über den Eintritt in die Bekennende Kirche hinaus noch mehr an Zeugnis gefordert sein könnte und dass sich dies aus dem Rückblick auf die Anfänge des Christentums erschließen würde. Ob es mehr als eine Koinzidenz ist, dass Campenhausens Freund und Kollege Dörries unmittelbar nach Kriegsende Vorlesungen über „Das Bekenntnis in der Geschichte der Kirche“ hielt und dabei auch die jüngste Vergangenheit reflektierte, sei dahin gestellt.59 Festzuhalten ist, dass mit Campenhausens Buch eine protestantische Darstellung des frühchristlichen Martyriumsverständnisses erschien, die für Jahrzehnte in An54 55 56 57 58 59
Ebd., 123. Ebd., 128 f. Ebd., 136. Ebd., 174. Ebd., 175. Vgl. Peter Gemeinhardt: „Bekennende Kirche“ in Geschichte und Gegenwart. Hermann Dörries’ Erleben und Deuten des Kirchenkampfes, in: Inge Mager (Hg.): Festschrift für Hans Otte, Göttingen 2015 (im Druck).
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knüpfung und Abgrenzung die wissenschaftliche Diskussion mit bestimmen sollte – und sein Konzept einer christlichen Ideengeschichte in Umrissen erkennbar macht.60
5. Selbst wenn Theologen an sich nicht weniger Humor haben dürften als andere Zeitgenossen, haben doch nur wenige ihrer humoristischen Ader literarisch freien Lauf gelassen. Hans von Campenhausen veröffentlichte 1973 das Büchlein „Theologenspieß und -spaß“ mit „kaum 400 christlichen und unchristlichen Scherzen“, das sieben Auflagen erlebte. Auch privat war Campenhausen, wie seiner Autobiografie zu entnehmen ist, dem Humor zugeneigt: Während des Zweiten Weltkriegs nahm er 1944 an einem damals ganz ungewöhnlichen, nämlich ökumenischen („kathogelischen“) Treffen von Theologen teil. Der katholische Gastgeber entschuldigte sich vielmals, dass er für so viele Teilnehmer kein einheitliches Besteck habe, woraufhin Campenhausen seiner Tischdame, auf 1 Kor 12,4 anspielend, zuraunte: „Es sind mancherlei Gabeln, aber es ist ein Geist.“ Er meinte selbst, dies sei der beste Scherz seines Lebens gewesen.61 Dass Campenhausen in dieser Zeit, in der er akademisch nicht mehr in Göttingen verankert und noch nicht in Heidelberg gelandet war, seinen Humor nicht verloren hatte, charakterisiert ihn mindestens ebenso sehr wie sein wissenschaftliches Lebenswerk.
Primärtext Hans Freiherr von Campenhausen: Die Idee des Martyriums in der alten Kirche, Göttingen (1936) 21964.
Sekundärtexte Winrich Löhr: Kirchengeschichte zwischen historischer Rekonstruktion und Gegenwartsorientierung – Hans von Campenhausen als Historiker und Theologe, in: Christoph Markschies (Hg.): Hans Freiherr von Campenhausen – Weg, Werk und Wirkung, Heidelberg 2008, 61 – 86. 60 Vgl. dazu Christoph Markschies: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Ideengeschichte: Zum Werk Hans von Campenhausens, in: ders., Weg, Werk und Wirkung (s. o. Anm. 45) , 9 – 27. 61 Slenczka, „Murren“ (s. o. Anm. 5) , 237.
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Adolf Martin Ritter: Hans von Campenhausen und Adolf von Harnack, in: ZThK 87 (1990), 323 – 339. Rudolf Smend: Eine Fakultät in kritischer Zeit. Die Göttinger Theologie zwischen 1930 und 1950, in: Göttinger Jahrbuch 50 (2002), 149 – 163.
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Carl Heinz Ratschow (1911 – 1999) – Gott als wirkende Wirklichkeit
1. „Der Glaube weiß um den auf personhafte Entscheidung hin mit der Welt handelnden Gott. […] Weil Gott der lebendig wirkende und der allein wirkende ist, darum ist sein Handeln immer vorgeordnet.“1
Dieser Satz aus dem letzten Kapitel der Dissertation Carl Heinz Ratschows markiert eine Grundeinsicht, die sich in vielfältigen Variationen und an unterschiedlichsten Stoffen zur Geltung bringt. Gottes Wirklichkeit ist Handeln. Aber Gottes Handeln differenziert sich in ein Wirksamwerden in der Welt im Allgemeinen und in ein Wirken auf die menschliche Person hin. Diese beiden Wirkweisen sind folgendermaßen einander zuzuordnen: Das personale Leben setzt Gottes Wirken im Dasein der Welt überhaupt voraus; nur dann kann es sich in ihm bewegen. Allerdings existiert die Eigenart des personhaften Seins im definitiven Unterschied zur Welt nur aufgrund eines erneuten und spezifischen Wirkens Gottes. Dieses besondere Wirken ist Gottes Offenbarung in Jesus Christus. Es spricht den Menschen an und ruft ihn in ein durch Anfechtung hindurch verantwortetes Leben in der Gewissheit des Glaubens.
2. Die Biografie Carl Heinz Ratschows ist noch nicht Gegenstand einer wissenschaftlichen Bearbeitung gewesen. Aufgrund einiger Unstimmigkeiten zwischen Aktenlage, publizierten biografischen Daten und zum Teil deutlich retrospektiven Erinnerungen ergibt sich ein nicht immer kohärentes Bild. Die nachfolgende Skizze orientiert sich für die Göttinger Zeit am Aktenbestand des Göttinger Universitätskuratoriums und, soweit damit übereinstimmend, an 1 Carl Heinz Ratschow: Die Einheit der Person. Eine theologische Studie zur Philosophie Ludwig Klages’, Halle 1938, 246.
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Ratschows spätem Eintrag ins Inspektorenbuch des Theologischen Stiftes aus dem Jahr 1983. Carl Heinz Ratschow wurde am 22. Juli 1911 in Rostock in einer Kaufmannsfamilie geboren. Sein Weg im Studium führte ihn über die Alte Geschichte und orientalische Sprachen in Rostock und Leipzig zur Theologie in Leipzig und Göttingen. Sein altorientalistisches Studium in Leipzig, wo bereits eine längere religionswissenschaftliche Tradition bestand (Nathan Söderblom war von 1912 – 1914 dort tätig gewesen), wird bei Hans Haas und möglicherweise bei Joachim Wach stattgefunden haben. Über Albrecht Alt scheint Ratschow zum Alten Testament gekommen zu sein. Das Studium des Alten Testaments setzte er in Göttingen vom Sommer 1932 bis Sommer 1933 bei Johannes Hempel fort, bevor er nach Rostock zurückkehrte, dort bei Friedrich Brunstäd in der Systematischen Theologie studierte und im WiSe 1934/35 das 1. Theologische Examen bei der Mecklenburgischen Landeskirche ablegte. Im Inspektorenbuch teilt Ratschow mit, dass der damalige Landesbischof Schulz von den Kandidaten einen Revers der Anerkennung des Reichsbischofs Ludwig Müller gefordert habe; nachdem der Kurs sich mehrheitlich diesem Ansinnen verweigert habe, sei niemand aus diesem Jahrgang zum Vikariat zugelassen worden. Brunstäd habe Ratschow dann über den Hannoverschen Landesbischof Marahrens in die Hannoversche Landeskirche vermittelt. Seit dem 1. 11. 1933 war Ratschow nach seinen eigenen Angaben im Göttinger Personalbogen von 1939 Mitglied der SS, bis Ende März 1935 durch Befehl Himmlers die Mitgliedschaft auch von Theologiestudenten in der SS verboten wurde. In Göttingen hatte Ratschow ab November 1935 eine geteilte Stelle inne. Zur Hälfte war er, nach Auskunft des Inspektorenbuchs, als Vikar beim Stadtsuperintendenten Dr. Wilhelm Lueder tätig, zur anderen Hälfte auf der (einzigen, seinerzeit geteilten) Seminar-Assistentenstelle der Fakultät, offensichtlich auf Veranlassung von Hempel, wo er in dem von diesem gegründeten Sprachenkonvikt (später: Gerhard-Uhlhorn-Konvikt) im WiSe 1935/ 36 Sprachübungen hielt. Über den Abschluss des Vikariates ist bis jetzt nichts bekannt. In der Nachfolge Hans von Campenhausens wurde Ratschow (nach einigen kurzen Interimsbesetzungen) ab SoSe 1936 Stiftsinspektor. Dessen Tätigkeit bestand in der täglichen Morgenandacht und der anschließenden Übung in den alten Sprachen. Ab 7 Uhr im Sommer, 8 Uhr im Winter war der Inspektor für eigene wissenschaftliche Arbeit frei. Ratschow muss in dieser Zeit die Arbeit an seiner Dissertation zum Lic. theol. über Ludwig Klages bei Brunstäd in Rostock fortgesetzt haben, denn das dortige Licentiatenexamen legte er im Januar 1937 ab. (Im Eintrag in seinen Personalbogen lässt Ratschow seine Zeit als Inspektor des Stifts erst am 1. 4. 1937 beginnen; das hat möglicherweise mit dem verlangten Abschluss der Promotion zu tun.) Im Herbst 1938 beantragte Ratschow seine Habilitation mit der Arbeit „Werden und Wirken. Eine Untersuchung des Wortes hajah als Beitrag zur Wirklichkeitserfassung des Alten Tes-
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tamentes“ (erschienen: Berlin 1941). Das Thema hatte Johannes Hempel angeregt, die Arbeit wurde dann nach dessen Weggang nach Berlin von seinem Nachfolger Friedrich Baumgärtel begutachtet und akzeptiert. Nach Abnahme der mündlichen Prüfung beantragte der Dekan der Fakultät, Emanuel Hirsch, am 23. 12. 1938 beim Rektor der Universität Göttingen die Genehmigung der Habilitation Ratschows für Altes Testament und Religionsgeschichte; dieser Antrag wurde vom Rektor übernommen und am 18. 1. 1939 an das Reichsministerium für Wissenschaft in Berlin weitergereicht. Am 27. 1. 1939 erging die Mitteilung, dass Ratschow als Theologe nicht am „Reichslager für Beamte“ teilnehmen dürfe; ein Verbot, das de facto seine Anstellung als Beamter verhinderte. Am 14. 2. 1939 teilte das Reichsministerium mit, die Habilitation dürfe vollzogen werden, nur gebe es künftig schlechte Aussichten, noch im Fach Altes Testament tätig zu sein. Am 8. 4. 1939 schrieb der Dekan der Fakultät, nunmehr Otto Weber, ans Reichsministerium, die Angelegenheit der Habilitation Ratschow solle beschleunigt werden, weil Ratschow für die Vertretung einer Professur in Gießen (Nachfolge Ernst Haenchen) vorgesehen sei. Am 12. 4. 1939 hielt Ratschow seine Probevorlesung im Fach Religionsgeschichte zum Thema „Religion und Magie“; bereits am 21.4. erhielt er die Zusage der Lehrstuhlvertretung in Gießen. Am 3. 6. 1939 wurde Ratschow mit der Lehrbefugnis für Religionsgeschichte zum Dozenten im Beamtenverhältnis ernannt. Noch im SoSe 39 wurde Ratschow in Gießen unico loco für die Nachfolge des Systematischen Theologen Ernst Haenchen vorgeschlagen, der nach Münster gegangen war. Zum Antritt dieser Stelle kam es freilich nicht. Ab 1. 11. 1939 befand sich Ratschow im Kriegsdienst, zu dem er sich offenbar freiwillig gemeldet hatte. Während des Kriegsdienstes gelang es Ratschow, das Thema seiner Probevorlesung zu einer religionsgeschichtlichen Dissertation in Göttingen auszubauen (Februar 1941; erschienen 1947 unter dem Titel „Magie und Religion“). Über die Gründe für diese zweite Promotion ist bis jetzt nichts bekannt. Die Stelle in Gießen wurde 1943 endgültig gestrichen. Nach Kriegsdienst und Gefangenschaft kehrte Ratschow nach Göttingen zurück und übernahm vom 1. 9. 1945 – 31. 1. 1946 erneut die Stelle des Stiftsinspektors. Er erhielt 1946 den Ruf an die Westfälische Wilhelms-Universität in Münster auf ein Ordinariat für Systematische Theologie und Religionsgeschichte und wurde dort, offenbar erst nach Abschluss des eigenen Entnazifizierungsverfahrens und der Emeritierung des ehemaligen NSDAP-Mitglieds Ernst Haenchen, am 8. 3. 1948 zum Ordentlichen Professor ernannt. Zuletzt war Ratschow von 1962 bis zu seiner Emeritierung 1979 ordentlicher Professor für Systematische Theologie, Geschichte der Theologie und Religionsphilosophie an der Philipps-Universität Marburg. Theologische Ehrendoktorwürden erhielt er von den Universitäten Rostock (1949) und Lund (1966). Er starb am 10. November 1999 in Marburg.
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3. Über die Quellen von Ratschows Theologie lässt sich nur schwer Auskunft gewinnen. Was ihm sein altorientalistisches Studium bedeutet hat, wie er ins Alte Testament geraten ist, was es mit der Habilitation in Religionsgeschichte auf sich hat, darüber gibt es keine klaren Auskünfte. Auch für die Systematische Theologie erwähnt Ratschow in den mir bekannten Texten seine prägenden Einflüsse nicht. Insofern muss man sich, was das allgemeine Profil angeht, ganz auf seine Schriften verlassen. Zweifellos steckt in diesem Verbergen des Herkunftskontextes das Motiv, sich als schulunabhängig darzustellen – was im Blick auf die theologischen Strömungen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auch zutrifft. Allerdings fehlt auch eine erkennbare philosophische Traditions- und Bildungslinie, etwa in der Zuordnung zum Deutschen Idealismus oder zur Existenzphilosophie. Ratschows Religionsverständnis ist nicht philosophisch verantwortet, sondern entnimmt seine Impulse einer generalisierenden Beobachtung; auch religionswissenschaftlich lässt sich sein Verfahren kaum einer dominanten Tradition zuordnen. Am ehesten wird man sein theologisch-religionstheoretisches Verfahren so beschreiben können, dass die Grundintuition von der wirkenden Wirksamkeit Gottes einen von Luther hergenommenen Anstoß darstellt, der sich sowohl lebensphilosophisch als auch religionstheoretisch zur Darstellung bringt. Diese Sichtweise wird in der nachfolgenden Skizze über Ratschows Werk erprobt. In seiner Rostocker Dissertation beschäftigt sich Ratschow durchgehend kritisch mit dem Hauptwerk des seinerzeit viel gelesenen Lebensphilosophen Ludwig Klages „Der Geist als Widersacher der Seele“ (1929 – 32).2 Die zentrale Argumentation bei Klages läuft auf die Konstatierung des Gegensatzes zwischen der mit dem Leib als seiner Ausdrucksseite geeinten Seele und dem davon abgespaltenen, reflexiven Geist hinaus. Diese Denunziation des Geistes wird verbunden mit einer kulturkritischen Sicht der Moderne und insbesondere ihrer depersonalisierenden Technik. Was Ratschow offensichtlich an Klages fasziniert, ist die Einheit des Lebensausdrucks, in der sich die alles durchherrschende Wirklichkeit zur Geltung bringt. Seine Kritik an Klages bezieht sich vor allem darauf, dass dieser es nicht vermocht habe, das Gespaltensein des Menschen in „Leib – Seele“ und „Geist“ zu einer befriedigenden Auflösung zu bringen. Denn einerseits läuft Klages’ Analyse auf einen Appell hinaus, andererseits kann die Überwindung der durch den Geist verursachten Entfremdung gar kein eigener Akt sein, sondern muss sich einem Geschehenlassen aussetzen. Dieser Zwiespalt, so lautet Ratschows Einwand, verdankt sich der Tatsache, dass Klages keinen gemeinsamen Grund an2 Vgl. Ratschow, Philosophie Ludwig Klages’ (s. o. Anm. 1).
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geben kann, der die Ausdrucksgestalt des Lebens („Leib – Seele“) und die Entfremdung von dieser Einheit („Geist“) beieinanderhält. Eben dazu aber verhilft, was Klages leugnet, der Gottesgedanke, der sowohl das einheitlich gestaltete Ausdrucksgeschehen wirkt wie auch die durch den Geist sich abspaltende individuelle Persönlichkeit erneut zu sich ruft. In diesem differenzierten Wirken Gottes gründet die Einheit der Person. Es liegt auf der Hand, dass diese Wirkweise Gottes theologisch näher beschrieben werden muss. Weil sie als vorausliegende Wirklichkeit verstanden werden soll, kann ihr Aufweis nur empirisch geschehen, also religionsgeschichtlich – mit exegetischen Mitteln. Hier liegt die Brücke zur – nur 86 Seiten starken – Habilitationsschrift, die 1941 in der von Hempel herausgegebenen Reihe der Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft erschien.3 Das Wort hajah wird dabei als Indikator für wirksame Wirklichkeit genommen. Denn der Bedeutung „sein“ geht die Bedeutung „werden“ in verschiedenen Auslegungs- und Wirksamkeitsstufen voraus. Weiter lässt sich im Gehalt des Wortes hajah ein unpersönliches von einem personhaften Wirken unterscheiden. Es liegt daher nicht fern, in diesem Wirken ein religiöses Moment zu erkennen: Segen und Fluch, ebenso das Wunder und das göttliche Gesetz erweisen sich als Anwendungsfälle des Gebrauchs von hajah. Daher spiegelt sich in der von Ratschow unterstellten Geschichte des Wortgebrauchs die religiöse Wirklichkeitsauffassung Israels, die zunehmend universell und personal zugespitzt zugleich ausfällt. Die systematische Akzentuierung des exegetischen Stoffes liegt auf der Hand und wird auch in Baumgärtels Habilitationsgutachten kritisch vermerkt. In seiner religionswissenschaftlichen Dissertation „Magie und Religion“4 vertritt Ratschow die These, dass in der Magie noch eine ungebrochene Einheit zwischen Immanenz und Transzendenz vorliege, die erst in der Religion differenziert werde, was dann zu einem das selbstbewusste Leben integrierenden Umgang mit dem Transzendenten führe. Erst in der Religion wird die Wirklichkeit vom Wirken Gottes her gesehen; erst jetzt wird es möglich, zwischen den verschiedenen Wirkweisen Gottes zu unterscheiden – freilich wird es hier auch nötig, das von Gott entfremdete Sein durch Gott selbst wieder zu ihm zurückzuführen. Man sieht deutlich, wie hier der genannte Grundimpuls von der wirkenden Wirklichkeit Gottes in eine religionswissenschaftliche Theorie übersetzt werden soll. Im gleichen Maße ist freilich auch die konstruktive Anlage dieser Theorie unübersehbar. Es zeigt sich in diesen Qualifikationsarbeiten das implizite Programm der Theologie Carl Heinz Ratschows, von dem er im Amt des systematischen Theo3 Carl Heinz Ratschow: Werden und Wirken. Eine Untersuchung des Wortes hajah als Beitrag zur Wirklichkeitserfassung des Alten Testamentes, Berlin 1941. 4 Carl Heinz Ratschow: Magie und Religion, Gütersloh 1947.
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logen in Münster und Marburg vielfältigen Gebrauch gemacht hat: in der Dogmatik und Theologiegeschichte, in der Religionsphilosophie und Religionswissenschaft, in seinen Predigten und in Stellungnahmen zur kirchlichen Zeitlage. Dabei gewinnt die programmatische Grundeinsicht unterschiedliche Akzentuierungen und Erweiterungen. In der Dogmatik legt Ratschow den Akzent auf den angefochtenen Glauben.5 Denn das Aufgetretensein Jesu Christi, wie es über seinen Tod hinaus in seinem Geist als der Wirklichkeit der Auferstehung gegenwärtig ist, kommt zu uns nur auf der Linie der Tradition oder des Zeugnisses. Wollte man sich nun allein auf diese Überlieferungslinie beschränken, würde aus der Botschaft eine Lehre, der man sein Leben zuordnen müsste. Doch die Wirklichkeit Gottes geht über solche dogmatischen Bewältigungsversuche in Gestalt einer kirchlichen Lehrbildung hinaus. Als bewegte, wirksame Wirklichkeit betrifft sie den Menschen so elementar, dass ihm alle Gewissheit, die er an sich und aus sich haben könnte, zerbricht, also: den Menschen in die Anfechtung stellt, die man sich als innere Zerrissenheit vorzustellen hat. Die Dogmatik als Lehre bleibt dann auf ihre Funktion als bezeugendes Zeugnis beschränkt, als Versuch, auf die wirkende Wirklichkeit Gottes selbst hinzuweisen. Diese vollzieht sich dann freilich so, dass inmitten der inneren Zerrissenheit dennoch die Hoffnung aufscheint, die in Jesus Christus stattgefundene personale Bestimmung des Menschen von Gott her werde sich auch gegen die Anfechtung durchsetzen, ohne sie zum Verschwinden bringen zu können. Mit diesem Gedanken vermag Ratschow der gesamten Dogmatik eine auf die Wirklichkeit Gottes hinweisende, ja von ihr herkommende Gestalt zu geben. Darum reicht es aber auch aus, die Anfangs- und Grundprobleme der Dogmatik zu fixieren; eine umfassende Dogmatik hat Ratschow nicht verfasst. Als eine konzentrierte, knappe Fassung seiner Gotteslehre kann jedoch die Studie „Gott existiert“ verstanden werden.6 Hier nimmt Ratschow gewissermaßen das Ergebnis der Studie zu hajah als dogmatischen Ausgangspunkt der Gotteslehre. Im Unterschied zum Seinsverständnis der Existenzphilosophie (und der ihr folgenden Theologie) legt Ratschow allen Wert darauf, dass der spezifisch göttliche Existenzakt ein durch und durch wirkendes, alles verwandelndes Sein darstellt. Man muss, so unterstreicht er, die reine Anfänglichkeit von Gottes Wirken so auslegen, dass sich von ihr her der Seinsbegriff bestimmt. Damit gewinnt die Wirklichkeit ihre eigene Dynamik, die man von der anthropologischen Gegebenheit des Seins im Dasein (Heidegger) ebenso wenig zu fassen bekommt wie von einem szientistischen Seinsbegriff des bloßen Vor5 Carl Heinz Ratschow: Der angefochtene Glaube. Anfangs- und Grundprobleme der Dogmatik (1957), Gütersloh 51983. 6 Carl Heinz Ratschow: Gott existiert. Eine dogmatische Studie, Berlin 1966.
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handenseins. Man kann dieser kleinen Schrift eine Mittelstellung zwischen Dogmatik und Religionsphilosophie attestieren. Kontextualisierung der Dogmatik auf die wirksame Wirklichkeit Gottes hin: dieser Grundgedanke findet sich auch in den theologiegeschichtlichen Arbeiten Ratschows wieder – mit geringerem Erfolg, wie man sagen muss. Sein Versuch, den „Kirchen-Schmid“7 neu und historisch differenzierter zu bearbeiten, ist nach zwei Teilbänden mit der Gotteslehre abgebrochen worden.8 Auch der auf Ratschows Initiative zurückgehende Plan des „Handbuchs Systematischer Theologie“ ist nur begrenzt gelungen. Er sah vor, die Hauptthemen der Systematischen Theologie so zu behandeln, dass den klassischen Ausgangsgestalten der evangelischen Lehre in der Reformation die Erörterung des jeweiligen Themas im 20. Jahrhundert gegenübergestellt wurde, woran sich eine Debatte darüber anschließen sollte, wie die reformatorischen Vorgaben sich verändert haben. Die Unterstellung dabei war offenkundig, dass diese reformatorischen Vorgaben auch die gegenwärtige Diskussion leiten sollten; die Ausblendung der Transformationen der Theologie in der Aufklärungszeit nimmt aber den aktuellen Problemerörterungen die wichtigsten, für die Moderne orientierungsstiftenden Bezugsgrößen. Diese generelle Schwierigkeit zeigt sich auch bei den beiden Themenbänden, die Ratschow selbst zur Reihe beigetragen hat: „Die Religionen“9, und „Jesus Christus“10. Selbstverständlich ist die Wahl dieser Themen nicht zufällig. In der Erörterung der „Religionen“ spricht sich Ratschows These von der allgemeinen Wirksamkeit Gottes und ihrer Wahrnehmung durch die Menschen überhaupt aus. In diesem noch unbestimmten Horizont ist dann die spezifische Position des Christentums zu bestimmen: Das Christentum ist diejenige Religion, die das in den Religionen angelegte Differenzierungsmoment von Weltwirklichkeit und Gotteswirksamkeit am entschiedensten zum Ausdruck bringt: dadurch, dass sich das Wirken Gottes in die Offenbarung in Jesus Christus konzentriert – und damit dem Menschen die Möglichkeit nimmt, durch eigenes Einwirken auf die Gottheit seine Situation Gott gegenüber ins Reine zu bringen. Um dieser Struktur willen ist das Christentum eine „denkende Religion“, die diese Differenzen begrifflich zur Aussage bringt; es ist aber zugleich Erlebenswirklichkeit, sofern das Denken die Anfechtung nicht stillstellt. 7 Heinrich Schmid: Die Dogmatik der evangelisch-lutherischen Kirche, dargestellt und aus den Quellen belegt, Erlangen 1843, viele Folgeauflagen. 8 Carl Heinz Ratschow: Lutherische Dogmatik zwischen Reformation und Aufklärung, Bd. 1, Gütersloh 1964 und Bd. 2, Gütersloh 1966. 9 Carl Heinz Ratschow: Die Religionen, Handbuch Systematischer Theologie, Bd. 16, Gütersloh 1979. 10 Carl Heinz Ratschow: Jesus Christus, Handbuch Systematischer Theologie, Bd. 5 (1982), Gütersloh 21994.
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Ratschows Text über „Jesus Christus“ entspricht dieser religionstheoretischen Vorgabe. „Jesus von Nazareth ‚ereignet‘ die Weltzuwendung Gottes“, heißt der Abschnitt 13 im letzten Teil des Buches. Sie geschieht dezidiert „für uns“, nämlich so: „[…] in den Religionen konstituiert kultisches wie gesetzliches Handeln das Heil. Im Christentum konstituiert Gott das Heil, und das kultische und sittliche Handeln des Menschen folgen aus dem von Gott begründeten Heil.“11 Dieses Zukommen Gottes in Christus nimmt es eben auch mit der größten Differenz zwischen Gott und Mensch auf, nämlich der Sünde. Es lässt sich nun freilich nicht übersehen, dass sich für beide Themen der Ausfall des Historismus als methodisches Paradigma nachteilig auswirkt. Einerseits wird man die Äußerungen der Reformatoren Luther, Melanchthon und Calvin zur Erörterung religionstheoretischer Sachverhalte heute nicht als maßgeblich betrachten können; andererseits kommen auch die Dogmatiker Althaus, Elert, Tillich, Barth und Weber als prominente Referenzgrößen dafür nicht in Frage. Es verwundert nicht, dass wir auch an dieser Stelle Ratschows frühen Grundgedanken reaktualisiert finden. Das gesamte Historismus- und Pluralitätsproblem kommt bei dieser Art von Themenbehandlung nicht in den Blick. Dasselbe gilt, mutatis mutandis, auch für die Christologie. Hier geht es ja nicht entscheidend darum, ob und wie reformatorische Ansätze in Dogmatiken des 20. Jahrhunderts aufgenommen werden, sondern um die Bearbeitung der Frage der Geschichtlichkeit Jesu im Verhältnis zu seiner Heilsbedeutung. Auch an dieser Stelle unterbleibt eine produktive Sachverhaltsbestimmung. Man kann sich fragen, ob hinter dem Konzept des „Handbuchs“ nicht Ratschows Überzeugung steht, dass sich das Verständnis der wirkenden Wirklichkeit Gottes am klarsten in der reformatorischen Theologie, insbesondere bei Luther, ausgesprochen hat, sodass eigentlich darin der maßgebliche Bezugspunkt der aktuellen Entwürfe zu sehen ist. Allerdings leitet das in allen Bänden der Reihe identische Bearbeitungsschema eher zu der Vermutung, es handle sich um einen Versuch der Repristination vermeintlich evangelisch verbindlicher frühneuzeitlicher Theologiekonzepte. Mit diesem Eindruck stimmt überein, dass sich Ratschow – trotz der Zuständigkeit seiner Professur für Geschichte der Theologie – literarisch kaum mit neuprotestantischen Theologien beschäftigt hat. Seine Auswahl von Leibniz-Texten aus dem Jahr 1947 (unter dem Titel „Gott – Geist – Güte“) verdankt sich wesentlich einem anticartesianischen Impuls, ebenso spätere vereinzelte Ausführungen über Leibniz; allein sein Nachwort zur Reclam-Ausgabe von Schleiermachers „Reden über die Religion“ (1969) käme in Betracht, doch dieses beschränkt sich auf ein Referat des Inhalts. Wo Ratschow sich zeitdiagnostisch äußert (etwa in dem Aufsatz „Der Gott des 20. Jahrhun-
11 Ratschow, Jesus Christus (s. o. Anm. 10), 265.
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derts“ aus dem Jahr 1964)12, da geschieht das wesentlich aus einer kulturkritischen Perspektive heraus – und durchaus mit den Mitteln seines Religionsbegriffs: Es ist in der Moderne mit quasireligiösen Bewegungen zu rechnen, die die Differenzierungserrungenschaften des Christentums unterbieten, und gegen sie ist der religiöse Gehalt des Christentum erneut zu aktivieren. Sein Buch über die Taufe13 versucht den sakramentalen Charakter der Taufe mit religionswissenschaftlichen Beobachtungen zu Wasserriten zu verknüpfen; allerdings bleibt die methodische Matrix dieser Zuordnung, die offenbar an einer Lebens- und Erfahrungsnähe interessiert ist, undeutlich.
4. Gerade weil es bei Ratschow nicht zu einer konsistenten dogmatischen Profilierung seiner Theologie gekommen ist, hat sich seine lutherisch-vitalistische Grundintuition von einer Festlegung in den theologischen Schulstreitigkeiten seit Mitte des 20. Jahrhunderts freihalten können. Ratschow hat sich weder der Linie der hermeneutischen Theologie Rudolf Bultmanns und seiner Schüler noch erst recht nicht der Linie der Wort-Gottes-Theologie im Gefolge Karl Barths zuordnen lassen. Diese freiere Situierung zwischen den Mainstream-Konzeptionen hat es ihm ermöglicht, das Christentum als Religion unter Religionen zu verstehen und aus dieser Perspektive auch für ein Verständnis nichtchristlicher Religionen zu werben. Es ist diese undogmatische Mittelstellung, die dann auch sein theologiepolitisches und kirchliches Wirken bestimmt hat. Ratschow war derjenige wissenschaftliche Theologe seiner Generation, der sich – jenseits des unmittelbaren Schüler- und Schülerinnenkreises – für die deutsche Rezeption des Werks Paul Tillichs eingesetzt hat: als langjähriger Vorsitzender der deutschen Paul-Tillich-Gesellschaft und als Herausgeber seiner Hauptwerke/Main Works im Berliner Verlag de Gruyter. Auch seine Tätigkeit als Herausgeber der Neuen Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie beförderte theologische Konzeptionen jenseits der hermeneutisch orientierten Zeitschrift für Theologie und Kirche und der barthianischen Evangelischen Theologie. Sein vergleichsweise unpositionelles Denken manifestierte sich schließlich auch in seiner intensiven Mitarbeit an der dritten Auflage der RGG und insbesondere in der Vorbereitung und Begleitung der TRE, zu deren Herausgeberkreis er bis 1987 gehörte. Der Kirche gegenüber war er, wie seine Marbacher Predigten belegen, auf der Spur seines Christentumsverständnisses aufgeschlossen; seine Predigten wollten „die Wirksamkeiten Gottes in der Welt […] für unsere Welt“ 12 Carl Heinz Ratschow: Von den Wandlungen Gottes, Berlin, New York 1986, 140 – 161. 13 Carl Heinz Ratschow: Die eine christliche Taufe (1972), Gütersloh 41989.
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aktualisieren.14 Dass in ihnen der Glaube, wie Ratschow gern betont, als „denkender Glaube“ zur Sprache kommt, belegt das – für einen Predigtband ungewöhnliche – Sachregister am Ende des Buches. Vom literarischen Oeuvre zu unterscheiden ist die akademische Lehrtätigkeit. Diejenigen, die bei Carl Heinz Ratschow intensiv studierten, berichten von einem eindrucksvollen Lehrer, der seine Studenten und Studentinnen herausforderte und zum selbständigen Weiterdenken ermutigte, ihnen vor allem aber ein Zutrauen vermittelte in die Leistungsfähigkeit der Theologie für eine denkende und personal authentische Zeugenschaft des Wirkens Gottes in der Welt.
Primärtexte Carl Heinz Ratschow: Von den Wandlungen Gottes, in: Christel Keller-Wentorf und Martin Repp (Hg.): Beiträge zur Systematischen Theologie, Berlin/New York 1986. –: Von der Gestaltung des Menschen, in: Christel Keller-Wentorf und Martin Repp (Hg.): Beiträge zur Anthropologie und Ethik, Berlin/New York 1987.
Sekundärtexte Peter Steinacker: Der „angefochtene Glaube“ und die Kirche – ein schwieriges Verhältnis. Zu Carl Heinz Ratschows Lehre von der Kirche, in: Zum Gedenken an Carl Heinz Ratschow. 22. 7. 1911 – 10. 11. 1999. Reden bei der Gedenkfeier der Theologischen Fakultät der Universität Marburg am 15. November 2000, Sonderheft NZSTh 2001, 25 – 37. Christoph Schwöbel: Der angefochtene Glaube und die Welt der Religionen, in: Zum Gedenken an Carl Heinz Ratschow. 22. 7. 1911 – 10. 11. 1999. Reden bei der Gedenkfeier der Theologischen Fakultät der Universität Marburg am 15. November 2000, Sonderheft NZSTh 2001, 7 – 24. Auch abgedruckt in ders.: Christlicher Glaube im Pluralismus, Studien zu einer Theologie der Kultur, Tübingen 2003, 157 – 177. Mareile Lasogga, Matthias Rein und Eberhard Blanke (Hg.): Weltanschaulicher und religiöser Pluralismus – Herausforderungen für den christlichen Glauben. Theologisches Symposium anlässlich des 100. Geburtstags von Carl Heinz Ratschow am theologischen Studienseminar der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) in Pullach, 22. bis 24. Juli 2011, Hannover 2013.
14 Carl Heinz Ratschow: Leben im Glauben. Marbacher Predigten, Stuttgart/Frankfurt a.M. 1978, 11.
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Wolf-Dieter Marsch (1928 – 1972) – Theologie und Kirche als „Ort[e] des Übergangs“
1. Es gilt „in unserer ‚westlichen Welt‘ heute auszumachen, was für eine gesellschaftlichkonstruktive Kraft die christliche Tradition, die protestantische zumal, vermittle – über die individuelle Tröstung des Gewissens und die bloße Negation aller Verhältnisse hinaus […]. Mit einer noch so eindrücklichen Wiederholung von biblischen und auch reformatorischen Einsichten ist es nicht getan – zu tief ist der Graben von Aufklärung und technologischer Revolution.“1 Es gilt, „die jüdisch-christliche Erfahrung und Reflexion Gottes wirklich ins neuzeitliche Welt- und Geschichtsbewußtsein zu übersetzen“.2
In diesen Zitaten klingt der theologiegeschichtliche Ort an, den Wolf-Dieter Marsch als den seinen erkannt hat, nämlich den Übergang. Die Fortschreibung einer herkömmlich-konfessionellen oder dialektischen Theologie schien ihm nicht länger möglich, die auf die Tradition gestützte Behauptung einer kirchlichen Autorität in ethischen oder auch dogmatischen Fragen ebenso wenig. So klar ihm dies in der Sache vor dem geistigen Auge stand, so wenig lag es bereits offen zutage: Die Theologie war Anfang der 1960er Jahre weithin (noch) dialektisch-theologisch oder konfessionell bestimmt, die Kirche hatte einen unübersehbaren Verlust ihrer Geltungsmacht noch nicht erlebt. Ungeachtet dessen gehörte Wolf-Dieter Marsch zu denjenigen, die scharfsinnig und nachdrücklich auf die Themen zugingen, die er für zukunftsweisend hielt: das theologische Verständnis von „Zukunft“, also die Umformung der Eschatologie im Gespräch mit radikal diesseitigen Interpretationen menschlichen Lebens (Marxismus, Gott-ist-tot-Theologie); die Sondierung der Demokratiefähigkeit und damit der Modernität von Kirche und Theologie, also die Reform der Ordnung der Kirche und ihres politischen Engagements in der
1 Wolf-Dieter Marsch (Hg.): Diskussion über die ‚Theologie der Hoffnung‘ von Jürgen Moltmann, München 1967, 18. 2 Ebd., 17.
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modern-demokratischen Gesellschaft; die Frage nach der Präsenz Gottes in der Geschichte, also sowohl die Klärung der „Denkbarkeit Gottes“ als auch der „Folgen der Freiheit“.3 Treffend hat Wolfgang Marhold, Anfang der 1970er Jahre einer der wissenschaftlichen Assistenten Marschs, die Frage nach der „Gegenwart Christi in der Gesellschaft“ als cantus firmus der unvollendet gebliebenen, „angefangenen Lebensarbeit“4 Marschs identifiziert.5
2. Wolf-Dieter Marsch, am 2. Oktober 1928 in Beeskow (Mark Brandenburg) geboren, starb bereits am 23. November 1972 in Köln an den Folgen eines Verkehrsunfalls.6 Er litt zeit seines kurzen Lebens an einer seltenen Knochenkrankheit, die u. a. zu einem verkürzten Wuchs seiner Beine und, damit verbunden, zu chronischen starken Schmerzen führte. Kraft eisernen Willens und Fleißes und trotz des Krieges, in dessen letzten Tagen sein Vater von vorrückenden sowjetischen Soldaten erschossen wurde, konnte er am Gymnasium in Zossen das Abitur ablegen und zum WS 1946/47 das Studium der Ev. Theologie aufnehmen. Sein Studienweg führte ihn nach Greifswald, dann ab 1948 über die damalige Zonengrenze hinweg nach Tübingen und Göttingen, sowie schließlich dank eines Stipendiums des Weltkirchenrates 1951/52 an die Vanderbilt University in Nashville (Tennessee, USA). Nach der ersten kirchlichen Prüfung wird er unter Ephorus Prof. Dr. Wolfgang Trillhaas, noch während seines Vikariates zum Stiftsinspektor berufen. Vom 1. Juli 1953 bis 30. September 1958 hat er dieses Amt inne,7 parallel dazu arbeitet er als „Hilfsgeistlicher“ in der Göttinger Studentengemeinde.8 In diese Zeit des Inspektorats fallen seine Eheschließung mit Elisabeth Heinze (1954) und die Geburt zweier Söhne, sein Zweites Theologisches Examen (1954) 3 Vgl. Wolf-Dieter Marsch: Denkbarkeit Gottes? Fichte, Schleiermacher und Hegel antworten auf die Frage nach Gott (1797 – 1800), Wuppertal 1967 und ders.: Die Folgen der Freiheit. Christliche Ethik in der technischen Welt, Gütersloh 1974. 4 Karl Gerhard Steck: Gedenkrede auf Wolf-Dieter Marsch, in: WPKG 63 (1974), 3 – 11. 5 Vgl. Wolfgang Marhold: Strukturen der Ethik bei Wolf-Dieter Marsch, in: Pastoraltheologie 73 (1984), 106 – 122, hier 108. Das Zitat nach Marhold ist zugleich der Titel jenes Buches von Marsch, das er als Habilitationsschrift angelegt hatte. 6 Die Daten zur Vita Marschs folgen im Weiteren Wolfgang Marhold: Eschatologie und Ethik. Zur ethischen Theologie von Wolf-Dieter Marsch, in: Manuela vom Brocke und Hartmut Przybylski (Hg.): Ansätze evangelischer Sozialethik. Ein Arbeitsbuch, Bochum 2005, 54 f. 7 Sein Vorgänger war der Privatdozent Dr. Karl Gerhard Steck und sein Nachfolger wurde Dr. med. Dr.theol. Dietrich Rössler. 8 Zu dieser Doppelfunktion vgl. die Akten im Universitätsarchiv Göttingen, Theol. SA 0149.
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und die Ordination (1956). Ebenso die Abfassung seiner Dissertation über Abraham Lincoln, die nach Begutachtung durch Wolfgang Trillhaas und Ernst Wolf im Wintersemester 1955/1956 von der Theologischen Fakultät Göttingen angenommen wurde.9 In seinen Semesterberichten als Inspektor hebt Marsch hervor, dass er in jedem Semester zwei Stiftsübungen, je ein Repetitorium und eine Lektüreübung, durchweg zu theologiegeschichtlichen und systematisch-theologischen Themen, sowie stets die Wochenschlussandacht gehalten hat. Er spricht bisweilen einerseits von „Andachtsmüdigkeit“ unter den seinerzeit 46 Bewohnern (so im Blick auf das WS 1953/54) und wirtschaftlichen Grenzen der Personalausstattung (so im SoSe 1958), andererseits von „politische[n] Gespräch[en]“, die sich wiederholt ergaben (SoSe 1955) sowie von einer Stärkung studentischer Selbstverwaltung im Stift und der Suche „nach neuen Wegen für ein gemeinsames Leben“ (ab WS 1956/57). Zur Stiftsgemeinschaft gehörten in den 1950er Jahren stets auch „Ausländer“ (aus westeuropäischen Ländern oder den USA), im WS 1957/58 wird eigens vermerkt, dass „zum ersten Mal ein farbiger Ausländer in unserem Haus [wohnte]: ein Äthiopier“.10 Gemäß der Stiftsordnung vom 1. Juli 1949 beherbergt das Stift ausschließlich Studenten der Theologie. Die Arbeit eines Stiftsinspektors ist vielgestaltig: Er lehrt (und forscht), er hat Teil an der vita communis der Stiftsbewohner und begleitet sie. Dass diesem Engagement Netzwerk-bildende Qualität zukommt, lässt sich am Beispiel WolfDieter Marsch ersehen: Zwei seiner späteren Assistenten (Brakelmann und Dahm) begegnete er zuerst im Stift; sein Vorgänger im Amt des Inspektors, Karl Gerhard Steck, war später professoraler Kollege in Münster – und hielt in dieser Eigenschaft am 23. 11. 1973 die Gedenkrede bei der Akademischen Trauerfeier. Zum 1. Oktober 1958 übernimmt Dr. Marsch eine Stelle als Studienleiter an der Evangelischen Akademie Berlin (Wannsee). In der Tagungsarbeit wendet er sich stärker als bislang politischen und ethischen Fragestellungen zu, die sich bald auch in seinen Publikationen niederschlagen.11 Zugleich beginnt er auf Anregung seines Freundes Jürgen Moltmann (*1926) mit einem Habilitationsprojekt über G.W.F. Hegel.12
9 Wolf-Dieter Marsch: Christlicher Glaube und demokratisches Ethos. Dargestellt am Lebenswerk Abraham Lincolns, SEST 2, Hamburg 1958. 10 Alle genannten Semesterberichte sind im Stiftsarchiv zu finden (Ordner: „Akten für eine Chronik“). 11 So gibt er 1961 gemeinsam mit Karl Thieme einen Band „Christen und Juden“ heraus (Mainz/ Göttingen), 1962 folgt ein Buch über Kunst und Gottesfrage. Vgl. Wolf-Dieter Marsch und Karl Thieme (Hg.): Christen und Juden: ihr Gegenüber vom Apostelkonzil bis heute, Mainz 1961 sowie Reinhold Grimm und Wolf-Dieter Marsch (Hg.): Die Kunst im Schatten des Gottes: für und wider Gottfried Benn, Göttingen 1962. 12 Die Arbeit wurde unter dem Titel „Gegenwart Christi in der Gesellschaft. Eine Studie zu
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1962 wird er als Professor für Systematische Theologie an die Kirchliche Hochschule Wuppertal berufen. In dieser Zeit arbeitet er seine wichtigsten Publikationen aus. Unter anderem widmet er Jürgen Moltmann und dessen „Theologie der Hoffnung“ einen Band der Diskussion. In der kurzen Einleitung des Herausgebers klingt an, was Marsch in den Folgejahren beschäftigen wird. Er möchte an Moltmanns theologischen Denkweg anknüpfen und darüber hinausgehen, insbesondere dort, „wo er selbst [sc. Moltmann] nicht weiter weiß: wie der Ort einer Kirche in der Gesellschaft zu bestimmen sei, die […] sich […] nicht mehr auf sakrosankte Gebäude, Liturgien, Überlieferungen und Wörter zurückziehen kann.“13 1969 folgt Marsch dem Ruf auf den Lehrstuhl für Sozialethik an der Theologischen Fakultät Münster und übernimmt dort zugleich die Aufgabe eines „Direktors“ des „Institut[s] für christliche Gesellschaftswissenschaften“ (ICG), das 1955 von Heinz-Dietrich Wendland gegründet worden war.14 Damit rücken Themen wie „christlicher Glaube und demokratisches Bewußtsein“ sowie Gesellschaft und „Religion“15, „Religion als Beruf“16, sowie die Kirchenreform17 ins Zentrum seines Nachdenkens. Als Autor und Herausgeber legt er seinerzeit vielbeachtete Publikationen vor; in die Breite wirkt er vor allem durch seine Arbeit für die Zeitschrift „Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft“ (WPKG, vormals „Monatsblätter für Pastoraltheologie“). Für sie ist er seit 1956 als Redakteur, seit 1962 als Mitherausgeber und seit 1970 als alleiniger Schriftleiter tätig. Im Laufe dieser Zeit wird sie von einem biederen, recht weltabgewandten pastoraltheologischen Blatt zu einer Zeitschrift, die der „Verflechtung von theologischen Einsichten […] mit den Erkenntnissen […] [der] empirischen Sozial- und Humanwissenschaften“, dem Miteinander der verschiedenen „hauptamtlich in kirchlichen Berufen Tätige[n] – sei er Pfarrer, Diakon,
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Hegels Dialektik“, München 1965 publiziert, allerdings nicht als Habilitationsschrift angenommen. Marsch, Diskussion (s. o. Anm. 1), 18. Zur Geschichte des ICG siehe Hans-Richard Reuter (Hg.): Übergang. 45 Jahre Institut für Christliche Gesellschaftswissenschaften, Münster 2001; seit 2004 firmiert das ICG als „Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften“ (IfES). Vgl. Wolf-Dieter Marsch (Hg.): Die Freiheit planen. Christlicher Glaube und demokratisches Bewußtsein. Beiträge aus dem Institut für Christliche Gesellschaftswissenschaften Münster, Göttingen 1971 und ders. (Hg.): Plädoyers in Sachen Religion. Christliche Religion zwischen Bestreitung und Verteidigung. Beiträge aus dem Institut für Christliche Gesellschaftswissenschaften Münster, Gütersloh 1973 (posthum erschienen). Unter Marschs Regie war ein entsprechendes Forschungsprojekt 1971 auf den Weg gebracht worden; 1973 – 1976 wurde es von der DFG finanziert. Die Ergebnisse wurden „Wolf-Dieter Marsch zum Gedenken“ veröffentlicht. Vgl. Wolfgang Marhold et al. (Hg.): Religion als Beruf, Bd. 1, Stuttgart 1977, 13. Vgl. Wolf-Dieter Marsch: Institution im Übergang. Evangelische Kirche zwischen Tradition und Reform, Göttingen 1970.
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Pädagoge, Arzt, Psychologe, Publizist oder Organisator“, und dem „Einleben“ der Kirche in der Gesellschaft und in der „aufgeklärte[n], technisch-wissenschaftliche[n] Zivilisation“ Rechnung trägt.18 Als Direktor des ICG leitet Marsch eine gut ausgestattete Institution, vier Assistenten stehen ihm zur Seite. 1969 sind dies unter anderem Günter Brakelmann, Karl-Wilhelm Dahm und Theodor Strohm. Dieses Potenzial nimmt er konstruktiv und zum Teil revolutionär auf, indem neue Lehrformate kreiert wurden, darunter das „Sozialethische Studienjahr“, in dem das gesamte ICGMitarbeiterteam über zwei Semester hinweg zusammenwirkte und eine fixe Gruppe von Studierenden durch verschiedene Themen begleitet,19 sowie die demokratisierte Vorlesung, die von den seinerzeitigen Mitarbeitern gemeinsam verantwortet wird.20 Dass sich sein hochschuldidaktisches und christlich-gesellschaftswissenschaftliches Programm auf dieselbe Formel bringen lässt wie die Regierungserklärung des ersten SPD-Bundeskanzlers, Willy Brandt, vom 28. Oktober 1969, „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, ist kein Zufall: Marsch gehörte der SPD an und war u. a. mit Johannes Rau eng verbunden.
3. Die Palette der von Marsch bearbeiteten Themen ist weit.21 Aus ihr sollen hier lediglich zwei Facetten zur Sprache kommen, zum einen das konzeptionelle Verständnis von „Ethik“, welches Marsch in seiner Wuppertaler und Münsteraner Zeit entwickelte, zum anderen seine ins Praktisch-Theologische tendierenden Überlegungen. Marsch hat seine Konzeption von „Ethik“ nicht in geschlossener Ausarbeitung veröffentlichen können, sondern vor allem in Lehrveranstaltungsmanuskripten dokumentiert (Vorlesung „Sozialethik“, Wuppertal, SoSe 1968; „Sozialethisches Studienjahr“, Münster, WS 1970/71). Grundzüge hat er allerdings bereits schon 1965 und später in diversen Aufsätzen publiziert. Demnach stellt sich die moderne „emanzipierte […] Gesellschaft […,] losgelöst von Mächten der Herkunft, 18 Zitate aus dem Vorwort von Wolf-Dieter Marsch zum ersten Band der Zeitschrift unter dem neuen Titel „Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft“, in: WPKG 59 (1970), 2. Mit Jahrgang 69 (1980) wurde die Zeitschrift neuerlich in „Pastoraltheologie“ umbenannt. 19 Telefonische Auskunft von AOR Dr. Wolfgang Marhold, Münster, am 19. 12. 2014. 20 Zwei dieser Vorlesungen aus dem SoSe 1970 und dem SoSe 1972 wurden dokumentiert. Vgl. Marsch, Freiheit planen (s. o. Anm. 15). 21 Vgl. dazu Marhold, Strukturen (s. o. Anm. 5), 107 f. Marhold ist es auch, der eine (unveröffentlichte) Bibliografie der Schriften Marschs zusammengestellt hat, die neben Buchveröffentlichungen und wissenschaftlichen Aufsätzen auch Andachten bzw. Predigten sowie Kommentare und Ähnliches umfasst. Vgl. Universitätsarchiv Münster, Bestand 11, Bestellsignatur 104.
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bestimmenden historischen Traditionen und heiligen Ordnungen […] als ein in sich funktionierendes […] Ganzes“ dar. Das habe christliche Theologie anzuerkennen und dennoch zu klären, was Jesus Christus „mit diesem Ganzen“ zu tun habe, denn das Christentum wirkt „öffentlich“ und will auch so zur Geltung kommen. Wie genau „die Gegenwart und Zukunft des Auferstandenen“ angesichts der emanzipierten Gesellschaft zu denken ist, hat die Ethik bzw. die „evangelische Sozialethik“ zu klären, denn sie ist diejenige theologische Disziplin, die methodisch wie sachlich mit der Gesellschaft und „der Freiheit des Menschen in ihr“ befasst ist.22 In der Ausarbeitung dessen grenzt Marsch sich einerseits von herkömmlichen normativ-theologischen Entwürfen der Ethik, andererseits von rein empirischsozialwissenschaftlichen Zugängen zur Gesellschaft ab. Vielmehr beschreibt er theologische Ethik als „christliche Theorie der Zeit“ bzw. als „Rahmenentwurf möglichen Zur-Welt-Verhaltens des Christen“.23 Indem sie zunächst wahrnimmt und den Sachstand beschreibt, dazu human- und sozialwissenschaftliche Einsichten rezipiert und kritisch begleitet, indem sie zugleich die eigene christliche Tradition aufnimmt und reformuliert, vermittelt sie dialektisch zwischen Empirie und Norm, zwischen Gesellschaftsanalyse und systematischer Theologie, zwischen Zukunftsprolepsis und Tradition. Theologische Ethik ist in diesem Sinne eine „eschatologisch bedingte“ Theorie des Übergangs der vorfindlichen Gesellschaft in Richtung „auf Besseres“, eines Übergangs, den sie entwirft und dessen Realisierung sie stimuliert.24 Für eine Theologie, die sich nicht als theologia perennis versteht, wird Ethik bzw. christliche Gesellschaftswissenschaft so zur Schlüsseldisziplin. Nicht ohne Grund erkennt Wolfgang Marhold in Marschs Überlegungen den Nukleus dessen, was Trutz Rendtorff, von 1956 – 1968 seinerseits Mitarbeiter am Münsteraner ICG, später als „ethische Theologie“ entfaltete.25 Definierte Rendtorff sie als „die der ethischen Lebenswirklichkeit zugewandte Weise, die Grundfragen der Theologie selbständig zu entfalten“26, so fasste Marsch sie als „eine das Leben
22 Marsch, Gegenwart Christi (s. o. Anm. 12), 15 und 22. 23 Wolf-Dieter Marsch: Vorlesung „Sozialethik“, SoSe 1968, 17, 71 und 37, zit. nach Marhold, Strukturen (s. o. Anm. 5), 110 f. und 113. 24 Zitat aus Marhold, Eschatologie und Ethik (so. Anm. 6), 91 und 93; zum Zusammenhang dort 86 – 93. 25 Trutz Rendtorff: Ethik, Stuttgart 1980/81, 11. Vgl. auch Marhold, Strukturen (s. o. Anm. 5), 111. In Arbeiten zu Rendtorffs ethischer Theologie findet Marsch, nach meinem Eindruck zu Unrecht, nur am Rande Erwähnung. 26 Rendtorff, Ethik (s. o. Anm. 25), 44. Eine kurze Interpretation und Charakteristik dieser Formel bieten Reiner Anselm und Stephan Schleissing in der von ihnen besorgten dritten Auflage, Tübingen 2011, 11 – 22.
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begleitende Grundwissenschaft“.27 Doch anders als Rendtorff betonte Marsch stets „den Stachel […] des Bewußtseins von einem Nicht-mehr und einem Nochnicht“.28 In einem seiner Bücher hat Marsch seine – hier nur grob umrissenen – ethischen Grundfiguren auf den Gegenstand „Kirche“ bezogen. Darin beschreibt und versteht er sie, vier Jahre vor Erscheinen der ersten empirischen EKD-Mitgliedschaftsbefragung, als „gesellschaftliche Institution“.29 Dies war seinerzeit trotz mancher paralleler Ansätze, vor allem Trutz Rendtorffs30, ein Zugang, der keineswegs allgemeine Zustimmung fand.31 Vier Perspektiven kommen dabei zur Geltung: eine historische (genauer: theologiegeschichtliche), eine soziologische (vor allem rechtspolitische und kirchensoziologische), eine systematisch-theologische und eine „praktische“.32 Sein erkenntnisleitendes Interesse besteht bei diesem Durchgang darin, die Institutionalität der Kirche theologisch zu begreifen und sie daraufhin vor unangemessenen „Optativen“, seien sie theologisch-normativer oder soziologischfunktionaler Art, zu schützen.33 Vielmehr soll „ein Rahmen“ gewonnen werden, „innerhalb dessen kirchenreformerische Initiativen mir aussichtsvoll erscheinen – keine detaillierten Rezepte, keine ewiggültige Lehre“.34 Im Durchgang durch „einige [theologiegeschichtliche] Inseln kritischer Reflexion“, insbesondere durch neuprotestantische Vordenker (v. a. Semler, Schleiermacher, Troeltsch), akzentuiert Marsch die Kirche als „Ort des Übergangs“.35 Im Blick auf die empirischen Gegebenheiten der Kirche formuliert er eine doppelte These: „Auch theologisch ist die Kirche ein Teil der Gesellschaft, in der sie sich organisiert“36 und „auch theologisch verwaltet Kirche Religion, die sie im Lichte der biblischen Überlieferungen interpretiert“.37 Kurzum: Die Kirche ist nolens-volens, d. h. faktisch und mit theologischem Recht, eine „gesellschaftlichreligiöse Institution“.38 Theologisch ist die Kirche, das leitet Marsch aus dem 27 Etwa in Wolf-Dieter Marsch: Christliche Anthropologie und biologische Zukunft des Menschen, in: PTh 58 (1969), 198 – 212, hier 212. 28 Marsch, Gegenwart Christi (s. o. Anm. 12), 302. 29 Marsch, Institution (s. o. Anm. 17), 5. Weitere Bezugnahmen auf Seiten dieses Buches werden in Klammern im Text ausgewiesen. 30 Vgl. dazu Martin Laube: Theologie und neuzeitliches Christentum. Studien zu Genese und Profil der Theorie des neuzeitlichen Christentums, Tübingen 2006, 81 – 110 und 232 ff. 31 Vgl. exemplarisch die Einordnung und Besprechung bei Eckhard Lessing: Neuere Literatur zur Ekklesiologie, in: VuF 17 (1972), 52 – 54. 32 Marsch, Institution (s. o. Anm. 17), 5. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Ebd., 38. 36 Ebd., 161. 37 Ebd., 166. 38 Ebd., 112.
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neutestamentlichen Zeugnis ab, in dem Maße Kirche Jesu, in dem sie „vorläufigvorlaufend“39 für die Reich-Gottes-Erwartung eintritt. Soweit ihr das gelingt, ist sie Auferstehungskirche, soweit ihr das nicht gelingt, ist sie Kreuzkirche.40 In Aufnahme all dessen entwickelt Marsch zwei Maßgaben kirchlichen Handelns. Einerseits sind „technokratische Anpassungen […] für die Kirche unerlässlich“41, d. h. als Teil der Gesellschaft und als „Dienstleistungsbetrieb“ muss sie Arbeitsformen entwickeln und anwenden, die effektiv und zeitgemäß sind.42 Andererseits sind „solche technokratischen Anpassungen […] nur sinnvoll, wenn sie dazu dienen, durch die Kirche in unserer Gesellschaft Freiräume einer ‚symbolisch vermittelten Interaktion‘ zu schaffen und zu erhalten.“43 Denn „ihr Zweck ist es, Menschen zu einem freieren und emanzipierteren Umgang mit sich selbst und den technisch-gesellschaftlichen Zwängen, in denen sie leben, zu führen: zur Freiheit der Kinder Gottes, zur Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, und zur Liebe, die des Gesetzes Erfüllung ist.“44 Anders gesagt: „Der Maßstab der Effektivität, des empirischstrategischen Erfolgs und der bestmöglichen Eingepaßtheit kann ihr nur begrenzt angelegt werden. […] Die Prioritäten, die in ihr gesetzt werden müssen, sind […] an Jesus und der Reich-Gottes-Hoffnung orientiert.“45
Nochmals knapper: Sie soll so zweckrational handeln wie nötig, vor allem aber so viel „symbolisch vermittelte Interaktion zur Bildung des Menschen“ betreiben wie möglich.46 Mit der Unterscheidung von zweckrationalem und symbolisch-interaktionalem Handeln beleiht Marsch Jürgen Habermas.47 Die Rede von der „Bildung“ füllt er ohne Referenz: „Unter Bildung wird hier nicht Erziehung und Wissen, sondern vor allem ein Gewinn an Verhaltenssicherheit, subjektiver Identität, Anerkanntsein, Selbst- und Seinsvertrauen verstanden.“48 Mit diesem Programm, nicht zuletzt mit der Programmformel von der Kirche als „Ort des Übergangs“, knüpft Marsch an „kulturprotestantische[s] Erbe“ an.49 Indem er „der Kirche […] eine vorläufige und stellvertretende Verwirklichung des Reiches 39 40 41 42 43 44
45 46 47 48 49
Ebd., 202. Ebd., 203 und 211. Ebd., 260. Ebd., 260 und 81. Ebd., 265. Diesem Anliegen trägt der Umstand Rechnung, dass der letzte von Marsch redigierte Beitrag, ein Kongressbericht, unter dem Titel „Religion und Humanisierung“ erschien. Wolf-Dieter Marsch: Religion und Humanisierung, in: PTh 62 (1973), 70 – 77. Vgl. auch Marsch, Institution (s. o. Anm. 17), 266. Marsch, Institution (s. o. Anm. 17), 266. Ebd., 268. Vgl. Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt 1968, 218. Marsch, Institution (s. o. Anm. 17), 266. Ebd., 269 f.
Wolf-Dieter Marsch (1928 – 1972)
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Gottes auf Erden zutraut, wie Jesus sie angekündigt hat“50, aber zugleich darauf insistiert, dass das Reich Gottes „geschichtlich nicht einlösbar“ ist,51 positioniert er sich skeptisch gegenüber derjenigen Fortschreibung des Kulturprotestantismus, die Trutz Rendtorff bald darauf als „Theorie des neuzeitlichen Christentums“ zu entfalten begann.52 Auf andere gleichaltrige Reformdenker, die seinem Programm sachlich näher stehen, nimmt Marsch keinen Bezug: Ernst Lange (1927 – 1974) etwa oder Karl Ernst Nipkow (1928 – 2014).53 Radikal-kirchenreformerischen Basisgruppen gegenüber bleibt er auffallend distanziert.54
4. Wolf-Dieter Marsch war kein sog. 68er und dennoch steht sein Wirken exemplarisch für die Aufbrüche der „Reformdekade“.55 Zunächst lässt seine Biografie diesen Aufbruch erkennen: Schulbesuch in der NS-Zeit, Studium und Promotion in der alten Ordinarienuniversität, „intellektuelle“ Befreiung durch das Studienjahr in den USA, durch intensive Befassung mit Philosophie (von G.W.F. Hegel über Ernst Bloch bis zu Jürgen Habermas) und Sozialwissenschaft, nicht zuletzt durch ein Netzwerk von gleichgesonnenen Peers (von Jürgen Moltmann bis zu Dorothee Sölle). Er bringt diesen Aufbruch sodann in seinem Werk zur Geltung: durch die Erprobung neuer (hochschul-)didaktischer Formate, durch interdisziplinäre Offenheit, durch Teamarbeit, die gerade jüngere Wissenschaftler und – vereinzelt – Wissenschaftlerinnen (Dorothea Neumärker) einbezog, durch pointierte, seinerzeit anstößige Thesen, aber auch durch eine Neuformatierung insbesondere von Ethik und, mittelbar, Praktischer Theologie. Diese begreift Marsch nicht als deduktiv-handlungsanleitende Wissenschaften, sondern als Theorien, die auf der Grundlage methodisch reflektierter Wahrnehmung gegenwärtiger Wirklichkeit historisch tiefenscharf und ambivalenzbewusst aufklärt über Handlungsoptionen. Welche dieser Optionen in der jeweiligen Si50 51 52 53
Ebd., 134. Ebd., 135. Laube, Theologie (s. o. Anm. 30), 299 – 485 und Marsch, Institution (s. o. Anm. 17), 134 f. Vgl. zu ersterem jüngst Gerhard Altenburg: Kirche – Institution im Übergang. Eine Spurensuche nach dem Kirchenverständnis Ernst Langes, Berlin 2013. 54 Umgekehrt nimmt es nicht wunder, dass einer ihrer Wortführer, Hans-Jürgen Benedict, Marsch als Vertreter einer „‚neoliberale[n]‘ Kirchenreformrichtung“ einordnet und ihm ein „Defizit kritischer Gesellschaftsanalyse“ testiert – aber dennoch die Größe hat, sein Buch als „das erste moderne Lehrbuch der Ekklesiologie“ zu dechiffrieren. Vgl. Hans-Jürgen Benedict: Übergang wohin?, in: PTh 62 (1973), 47 und 51. Vgl. ferner Marsch, Institution (s. o. Anm. 17), 249 f. und 256 – 259. 55 Folkert Rickers und Bernd Schröder (Hg.): 1968 und die Religionspädagogik, NeukirchenVluyn 2010, 12.
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tuation zu aktualisieren ist, überlasst Wolf-Dieter Marsch den Einzelnen – nicht notgedrungen, sondern in Anerkennung dessen, dass die Einzelnen frei sind und diese Freiheit bewähren wollen, sollen und können.56 Die Institution Kirche kann und soll Individuen darin bestärken, sie soll zu ihrer Humanisierung und „Bildung“ beitragen. Indem sie dies als Aufgabe realisiert, arbeitet sie dem Reich Gottes vor – sie ist Platzhalter des „Übergangs“ zum Reich Gottes und bedarf dazu ihrerseits stets der Reform. Insofern befindet sie sich ihrerseits „im Übergang“. Die Beschreibung der Kirche als „Ort des Übergangs“ ist deshalb sowohl Zeitdiagnose am Ende der 1960er Jahre als auch empirische und transzendentale Bestimmung in einem – ein Anstoß, der auch in den Kirchenreformdebatten 40 Jahre später Gehör finden darf.
Primärtexte Wolf-Dieter Marsch: Zukunft, Stuttgart 1969. (Lizenzausgabe Gütersloh 1979). –: Institution im Übergang. Evangelische Kirche zwischen Tradition und Reform, Göttingen 1970.
Sekundärtexte Hans-Jürgen Benedict: Übergang wohin?, in: PTh 62 (1973), 47 – 54. Wolfgang Marhold: Strukturen der Ethik bei Wolf-Dieter Marsch, in: Pastoraltheologie 73 (1984), 106 – 122. Wolfgang Marhold: Eschatologie und Ethik. Zur ethischen Theologie von Wolf-Dieter Marsch, in: Manuela vom Brocke/Hartmut Przybylski (Hg.): Ansätze evangelischer Sozialethik. Ein Arbeitsbuch, Bochum 2005, 54 – 100. Johannes Rau: Über einen theologischen Freund. Erinnerung an Wolf-Dieter Marsch, in: WPKG 63 (1974), 1 – 3. Karl Gerhard Steck: Gedenkrede auf Wolf-Dieter Marsch, in: WPKG 63 (1974), 3 – 11.
56 Vgl. exemplarisch Marsch, Plädoyers (s. o. Anm. 15), 14, und Marsch, Freiheit planen (s. o. Anm. 15), 226 f.
Jan Hermelink
Dietrich Rössler (*1927) – Theorie der pastoralen Praxis im Kontext des gegenwärtigen Christentums
1. „Volkskirche dient dem Glauben im Leben und gibt dem Leben aus dem Glauben so Gestalt, dass sie dabei offenbleibt für die unerschöpfliche Wirklichkeit sowohl des Glaubens wie des Lebens. Die kirchliche Arbeit in dieser [volkskirchlichen] Gemeinde wird ihr nur dann gerecht, wenn sie sich dieser Pluralität auszusetzen und zu stellen vermag. […] [M]it dem Begriff der Volkskirche [ist] ein Anspruch auf Freiheit, auf Vieldeutigkeit und auf das Recht einer persönlichen und eigenen Auffassung formuliert, der nicht ohne Gefahr für das Leben der Kirche preisgegeben werden kann.“1
Dieses Zitat stammt aus einem so kurzen wie prägnanten Text von Dietrich Rössler, der die Bedeutung des Theologiestudiums für die künftige berufliche Orientierung skizziert – gerade im Kontext einer Würdigung des Theologischen Stifts kann dieser Text als Einführung in Rösslers theologische Anliegen dienen. Rössler, der sich in Göttingen 1960 im Fach Praktische Theologie habilitiert und von 1958 bis 1961 als Inspektor im Theologischen Stift gewohnt hat, begreift das kirchliche Handeln dezidiert im Rahmen der gegenwärtigen kirchlichen Wirklichkeit – einer Wirklichkeit, die ihm zufolge wesentlich durch eine „Vieldeutigkeit“ und „Pluralität“ von Glaubens- und Lebensformen, durch ein Nebeneinander von je „persönlichen und eigenen“ Glaubensweisen gekennzeichnet ist. Die Praktische Theologie dient der Praxis der Pfarrer und Pfarrerinnen dann vor allem so, dass sie ihnen das Verständnis jener „volkskirchlichen“ Wirklichkeit in ihren historischen Gründen, ihrer theologischen Legitimität und ihren gegenwärtigen Möglichkeiten vermittelt. Dietrich Rössler hat mit dieser Sichtweise seinerzeit durchaus neue Akzente im Fach gesetzt; inzwischen ist sie weithin Konsens.
1 Dietrich Rössler: Theologiestudenten auf dem Weg zur volkskirchlichen Gemeinde (1975), in: ders.: Überlieferung und Erfahrung. Gesammelte Aufsätze zur Praktischen Theologie, hg. v. Christian Albrecht und Martin Weeber, Tübingen 2006, 303 – 307, hier 305.
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Dass Praktische Theologie demnach einen theoretischen Charakter hat, während eine praktische, konkrete Handlungsanleitung gerade nicht an der Universität vermittelt werden kann und soll – diese Pointe erscheint freilich für viele heutige Theologiestudierenden ebenso überraschend wie befremdlich und man wird annehmen können, dass auch die Göttinger Studenten der 1960er Jahre, denen Rössler unter anderem als Inspektor im Theologischen Stift begegnet ist, zunächst wenig Verständnis für diesen ‚unpraktischen‘ Charakter der Praktischen Theologie aufgebracht haben. Im Folgenden soll darum in aller Kürze versucht werden, den spezifischen Zuschnitt, den Rössler seinem Fach gegeben hat, plausibler zu machen.
2. Dietrich Rössler wurde am 20. Januar 1927 in Kiel geboren. Er studierte sowohl Medizin als auch Theologie, unter anderem in Heidelberg und Münster. In Münster promovierte Rössler 1951 zum Dr. med. und arbeitete von 1953 – 1956 als Neurologe an der Münsteraner Universitätsklinik. Unter dem Eindruck des Internisten und Psychosomatikers Richard Siebeck ging Rössler 1956 nach Heidelberg. Dort erwarb er 1957 den Dr. theol. mit einer Arbeit zur frühjüdischen Apokalyptik. Auf Empfehlung der Heidelberger Professoren Günter Bornkamm und Hans von Campenhausen wurde Rössler 1958 – als Nachfolger von Wolf-Dieter Marsch – als Inspektor des Theologischen Stifts Göttingen berufen. Mit seiner Frau und zwei, später drei Kindern wohnte er von Oktober 1958 bis Januar 1961, also gut sechs Semester im Stift, das damals im Stumpfebiel lag. Ausweislich der Kuratoriumsprotokolle und der sechs Semesterberichte, die sich in den Stiftsakten finden, war der Inspektor mit erheblichen baulichen und personellen Problemen, mit der „katastrophalen Finanzlage“2 und der Umstellung von eigener Vollverpflegung auf Mensa-Zulieferung (1961) ebenso beschäftigt wie mit den Problemen der studentischen Gemeinschaft, etwa einer „gewissen Hysterie“ der Examenskandidaten,3 die sich auf die anderen Stiftbewohner übertrage. Unter Rösslers Inspektorat unternahmen die Stiftsbewohner fast jedes Semester eine (drei- bis siebentägige) Exkursion zu anderen Landeskirchen; so besuchten sie im SoSe 1960 „Fulda, Frankfurt (Farbwerke, Synagogengottesdienst, Oper), Darmstadt (Marienschwestern), Bensheim (Konfessionskundliches Institut), Limburg, Marburg, Kassel (Oper)“.4 Der Inspektor hielt jedes 2 Kuratoriumsprotokoll vom 10. Februar 1961. 3 Dietrich Rössler: Bericht über das Sommer-Semester 1961. 4 Dietrich Rössler: Bericht über das Sommer-Semester 1960.
Dietrich Rössler – Theorie der pastoralen Praxis
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Semester zwei theologische Übungen; gelesen wurden etwa Schleiermachers Reden, Aufsätze zum historischen Jesus oder Schelskys Religionssoziologie. Speziellere praktisch-theologische Übungen thematisierten den „Weg vom Text zur Predigt“ oder „das Problem des Gottesdienstes“. Rösslers Urteil fiel meist gemischt aus: „Die dazu von den Studenten vorgetragenen Referate waren größtenteils ganz ausgezeichnete Leistungen […] Die Diskussion erreichte erwartungsgemäß nicht immer ein angemessenes Niveau.“5 1960 habilitierte Rössler sich in Göttingen – unter Anleitung von Martin Doerne – für Praktische Theologie und wurde 1962 Pastor in Reiffenhausen, einem Dorf bei Göttingen, in dem immer wieder vielversprechende Nachwuchswissenschaftler der Fakultät amtiert haben. 1965 erhielt er den Ruf auf eine Professur für Praktische Theologie an der Evang.-Theol. Fakultät der Universität Tübingen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1995 lehrte, seit 1970 auch als kooptiertes Mitglied der Medizinischen Fakultät. 1968 begründete Rössler, gemeinsam mit Ernst Lange und Peter Krusche, die „Predigtstudien“ – eine dialogisch angelegte Predigtvorbereitungshilfe, in der jeweils zwei Autoren das Profil eines biblischen Texts einerseits, gegenwärtige Fragen des Glaubens andererseits entfalten. Rössler gehörte 1974, übrigens in Göttingen, zu den Begründern der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie. Auch in zahlreichen anderen wissenschaftlichen und kirchlichen Kommissionen hat er mitgearbeitet, namentlich 1986 – 1995 als Vorsitzender des Theol. Ausschusses der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD). 1986 erschien der Grundriß der Praktischen Theologie, der sich rasch als klassisches Lehrbuch etablierte und bis heute das Reflexionsniveau und die Standards des Faches prägt.
3. Rössler hat die medizinische Profession nur relativ kurz ausgeübt, sein wissenschaftliches Werk umfasst jedoch auch gewichtige Beiträge zur Ethik der Medizin sowie speziell des ärztlichen Berufs.6 Die folgende Skizze konzentriert sich allerdings auf seinen Beitrag zum Verständnis der Praktischen Theologie. Auch diese lässt sich im Grunde als eine – sehr komplexe und vielschichtige – Berufstheorie begreifen, insofern sie die Praxis der pastoralen Profession zwar nicht unmittelbar anleiten, wohl aber theoretisch-theologisch orientieren soll.
5 Ebd. 6 Vgl. Dietrich Rössler: Der Arzt zwischen Technik und Humanität. Religiöse und ethische Aspekte der Krise im Gesundheitswesen, München 1977 und ders.: Akzeptierte Abhängigkeit. Gesammelte Aufsätze zur Ethik, hg. v. Friedemann Voigt, Tübingen 2012.
258 3.1
Jan Hermelink
Praxisbezug
Seit den 1930er Jahren stand die deutschsprachige Praktische Theologie im Schatten der sog. Wort-Gottes-Theologie, wie sie – im Einzelnen ganz unterschiedlich – von Karl Barth, Eduard Thurneysen, Friedrich Gogarten und Rudolf Bultmann begründet worden war. Einig war man sich unter den Wort-GottesTheologen, dass Bibelwissenschaft und Dogmatik als theologische Leitdisziplinen zu gelten hätten, die die Lehre wie die Praxis der Kirche bis ins Einzelne orientieren könnten. Der Praktischen Theologie kam dann lediglich die Aufgabe zu, jene theologischen Normen in konkreten Handlungsfeldern ‚zur Anwendung‘ zu bringen. Dietrich Rössler gehört zu den Praktischen Theologen, die dieses Verständnis des Faches in den 1960er Jahren nachhaltig – und letztlich erfolgreich – in Frage stellten. Zur Kritik des herrschenden Paradigmas trug Rössler zunächst dadurch bei, dass er die praktische Relevanz der ‚hohen‘ theologischen Postulate in Frage stellte. Die seinerzeit auch im Stift heftig diskutierte These, alttestamentliche (Predigt-)Texte seien bestenfalls von sekundärer, indirekter theologischer Dignität, kann die konkrete Predigtarbeit offenbar ebenso wenig orientieren wie die generelle Anweisung, der Prediger habe dem biblischen Text nichts anderes als ein autoritativ geltendes Gotteswort ‚abzulauschen‘. An konkreten Beispielen führte Rössler vor, dass die faktische Predigtpraxis gerade nicht von solchen exegetischen oder dogmatischen Postulaten bestimmt ist, sondern vielmehr von den ganz konkreten, pragmatischen Regeln, wie sie aus der ‚handwerklichen‘ Erfahrung der Prediger selbst erwachsen.7 In ähnlicher Weise zeigte Rössler auch im Blick auf die Erfahrungen in der Seelsorge oder in der Kirchenleitung, dass diese Praxis faktisch sehr viel komplexer, auch erheblich vielfältiger ist, als es die gängigen, stark prinzipiell orientierten Theorien besagten.8
7 Vgl. Dietrich Rössler: Die Predigt über alttestamentliche Texte (1961), in: ders., Überlieferung und Erfahrung (s. o. Anm. 1), 238 – 246 und Dietrich Rössler: Das Problem der Homiletik (1965), in: ders., Überlieferung und Erfahrung (s. o. Anm. 1), 222 – 237. 8 Dietrich Rössler: Rekonstruktion des Menschen. Ziele und Aufgaben der Seelsorge in der Gegenwart (1977), in: ders., Überlieferung und Erfahrung (s. o. Anm. 1), 247 – 263 und ders.: Moderation der Diskurse. Praktisch-theologische Erwägungen zu Art und Aufgabe der evangelischen Kirchenleitung, in: Friedrich Hauschildt (Hg.): Sine vi, sed verbo. Die Leitung der Kirche durch das Wort, FS Wenzel Lohff, Leipzig 2005, 157 – 172.
Dietrich Rössler – Theorie der pastoralen Praxis
3.2
259
Theorie als Vermittlungsleistung
Wie kann die Praktische Theologie eine Orientierung dieser vielfältigen kirchlichen Praxis leisten? Angesichts der manifesten Vielfalt volkskirchlicher Frömmigkeitsformen, gemeindlicher Erwartungen und pfarramtlicher Aufgaben darf eine solche Orientierung jedenfalls nicht darin bestehen, eine einzelne religiöse oder kirchliche Position zum Maßstab des gesamten pastoralen Handelns zu machen. Die Praktische Theologie muss vielmehr die verschiedenen Ansprüche kritisch und reflexiv aufeinander beziehen – sie muss also, so formuliert es Rössler in einem seiner bekanntesten Aufsätze, von einer „positionellen“ zu einer „kritischen Theologie“ fortschreiten.9 Diese kritische Relativierung besonderer Standpunkte und persönlicher Idealvorstellungen kann die Praktische Theologie nur in einer dezidiert theoretischen Form leisten. Denn nur in Form einer wissenschaftlichen Theorie können die einzelnen Erscheinungen und Erfahrungen der Praxis in einen konzisen Zusammenhang gebracht werden; nur als einheitliche, zusammenstimmende Theorie kann die Praktische Theologie einem Handeln dienen, das sich den vielfältigen Verhältnissen des kirchlichen Lebens „auszusetzen und zu stellen vermag“.10 In einer klassisch gewordenen Formulierung definiert Rössler die Praktische Theologie daher insgesamt als eine Vermittlungsleistung: „[Sie ist] die Verbindung von Grundsätzen der christlichen Überlieferung mit Einsichten der gegenwärtigen Erfahrung zu der wissenschaftlichen Theorie, die die Grundlage der Verantwortung für die geschichtliche Gestalt der Kirche und für das gemeinsame Leben der Christen in der Kirche bildet.“11 An dieser Definition ist zunächst hervorzuheben, dass weder die Bestände der christlichen Tradition noch die aktuellen Erfahrungen des Glaubens insgesamt und unmittelbar in die praktisch-theologische Theoriebildung eingehen. Ihr geht es vielmehr um die „Einsichten der gegenwärtigen Erfahrung“: nicht die unabsehbare Vielfalt aktueller religiöser Phänomene und Überzeugungen kann zum Material praktisch-theologischer Reflexion werden, sondern nur deren ihrerseits theoretische Deutung in den sog. Humanwissenschaften. Auf diese Weise hat Rössler den psychologischen, pädagogischen und vor allem soziologischen
9 Dietrich Rössler: Positionelle und kritische Theologie (1970), in: ders., Überlieferung und Erfahrung (s. o. Anm. 1), 140 – 154. 10 Rössler, Theologiestudenten, (s. o. Anm. 1), 305. 11 Dietrich Rössler: Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/New York 1986, 21994, 3. Zur Interpretation dieser Formel vgl. auch Albrecht Grözinger: Die dreifache Gestalt des Christentums: Dietrich Rössler, in: Christian Grethlein und Michael Meyer-Blanck (Hg.): Geschichte der Praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker, Leipzig 2000, 489 – 496.
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„Einsichten“, wie sie in der Praktischen Theologie seit den späten 1960er Jahren zunehmend aufgenommen wurden, eine tragfähige Begründung geben können. Wichtiger noch ist für Rössler jedoch der Stellenwert der Geschichte. Auch die christliche Überlieferung hat keine unmittelbare, autoritative Geltung; sie ist nicht einfach „mechanisch zu konservieren“,12 sondern muss auf die in ihr bewahrten „Grundsätze“ hin reflektiert werden. Diesem kritischen, dezidiert antifundamentalistischen Umgang mit der Tradition tritt ihre konstruktive Bedeutung zur Seite. Jede einzelne „Erscheinung in der Vielfalt volkskirchlicher Wirklichkeit [ist] nur als Folge historischer Umstände, als Wirkung geschichtlicher Konstellationen und als Element in einem umfassenden Zusammenhang verständlich zu machen“ – und damit auch zu relativieren.13 Zugespitzt heißt dies, dass „die Interpretation der volkskirchlichen Gegenwart nur als Ausarbeitung ihrer gesamten Geschichte geleistet werden“ kann.14 Die breiten Ausführungen etwa zur Geschichte der Predigt, des Gottesdienstes oder der Seelsorge, wie sie den Grundriß der Praktischen Theologie kennzeichnen, dienen insofern einem klaren Ziel, nämlich dem Verständnis der vielfältigen, spannungsvollen, mitunter auch widersprüchlichen Gegenwart der kirchlichen Praxis sowie dem Gewinnen von Kriterien zu deren konsensfähiger Gestaltung. Zudem leistet die geschichtliche Betrachtung auch eine Blickerweiterung über die binnenkirchliche Praxis hinaus auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, genauer: auf deren christliche Prägung. Die hierbei leitenden, theologisch höchst relevanten Einsichten Rösslers sind nun zu skizzieren.
3.3
Die dreifache Gestalt des neuzeitlichen Christentums15
Zu den wesentlichen Erträgen einer „kritischen Theologie“ gehört für Rössler die Einsicht, dass die Kirche sich nicht länger aus einem Gegensatz zur ‚Welt‘ begreifen kann; vielmehr sieht sie sich in der modernen Welt auf Schritt und Tritt mit den (direkten oder indirekten) Wirkungen ihres eigenen Handelns konfrontiert.16 Offenbar ist neben das ausdrückliche, in Bekenntnis und Lehre fassbare „kirchliche Christentum“, so formuliert es Rössler, ein allgemeines, ein „öffentliches Christentum“ getreten. Dazu gehören etwa Verfassungstexte, fundamentale Bildungsgehalte und allgemein akzeptierte moralische Überzeugun12 13 14 15
Rössler, Theologiestudenten, (s. o. Anm. 1), 303. Ebd., 305. Ebd. Vgl. zum Folgenden die Skizzen in Rössler, Grundriß (s. o. Anm. 7), 90 ff. und in Dietrich Rössler: Die Einheit der Praktischen Theologie (1995), in: ders., Überlieferung und Erfahrung (s. o. Anm. 1), 160 ff. 16 Vgl. Rössler, Positionelle und kritische Theologie (s. o. Anm. 5), 154.
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gen – aber auch „die religiösen Gehalte, die implizit und unerkannt etwa in einer Unterrichtsstunde über deutsche Literatur (mit-)vermittelt werden“, oder „die, die in einem beiläufigen Gespräch zwischen der Krankenschwester und einem todkranken Patienten enthalten sind“.17 In Anlehnung an den Systematischen Theologen Trutz Rendtorff, mit dem ihn eine lange Freundschaft verbindet, und an den Religionssoziologen Joachim Matthes begreift Rössler diese Konstellation als historische Auswirkung des pietistischen, kirchlich breit rezipierten Programms, christlicher Glaube müsse in bestimmten Frömmigkeitsformen und in einer engagierten Beteiligung an der Gemeinschaft zum Ausdruck kommen. Damit treten seit dem frühen 18. Jahrhundert ein explizit kirchliches und ein implizites, gesellschaftsallgemeines Christentum auseinander. Erst dadurch wird, namentlich in der Aufklärung, ein dezidiert „individuelles Christentum“ möglich: Weil der Einzelne nunmehr „in religiöser Hinsicht sich selbst überlassen“ wird, ohne feste, gar zwingende Beteiligungs- und Überzeugungsvorgaben, kann er „im Rahmen des öffentlichen Christentums zwischen den verschiedensten Formen der Beteiligung am explizit religiösen Leben der Kirche wählen unter Einschluss selbstverständlich auch aller Formen der Ablehnung“.18 Die Vielfalt der volkskirchlichen Lebens- und Glaubensformen, auch die wachsende Pluralität der religiösen Überzeugungen außerhalb der Kirche, kann dann als gegenwärtige Ausprägung jener drei Gestalten des Christentums verstanden werden. Indem Rössler diese „Theorie des neuzeitlichen Christentums“ zur Basis der Praktische Theologie macht, stellt er das pastorale Handeln unter einen ganz erheblichen Anspruch. Sind nämlich auch die öffentlichen ebenso wie die ganz privaten Manifestationen der (christlichen) Religion19 als Folge einer Entwicklung zu begreifen, die wesentlich durch die kirchliche Institution geprägt wurde, so ist diese bis heute auch für diese Gestalten von Religion verantwortlich. Die Pfarrer/innen dürfen sich keinesfalls „auf die Pflege des im engeren Sinne kirchlichen Christentums beschränken“,20 sie sind vielmehr auch zuständig für die gesamtgesellschaftliche Kommunikation des Christentums, vor allem in der Schule, in der Politik und im kulturellen Leben – und erst recht für alle Formen der individuellen Religionsausübung. Diese programmatische Weite der pastoralen Praxis unterstreicht Rössler nun dadurch, dass er den drei Gestalten des neuzeitlichen Christentums jeweils eine Grundaufgabe des Pfarrberufs zuordnet: Mit Gottesdienst und Predigt agiert der 17 Rössler, Grundriß (s. o. Anm. 7), 93. 18 Ebd. 19 Die prägende Wirkung einer anderen als der christlichen Religion in Deutschland kommt für diese Theorie, die in den 1960er und 1970er Jahren entwickelt wurde, noch nicht in den Blick. Siehe dazu unten Abschnitt 4. 20 Rössler, Grundriß (s. o. Anm. 7), 94.
262
Jan Hermelink
Pfarrer im Rahmen des kirchlichen Christentums, seine Unterrichtstätigkeit in Gemeinde und Schule soll das öffentliche Christentum stärken und die vielfältigen seelsorglichen Aktivitäten der Pfarrerin beziehen sich wesentlich auf Glauben und Leben der Individuen. Auf diese Weise gewinnt Rössler ein außerordentlich leistungsfähiges Ordnungsprinzip des kirchlichen Handelns wie auch der Praktischen Theologie – sein Grundriß umfasst dementsprechend die drei Teile „der Einzelne“, „die Kirche“ und „die Gesellschaft“.
3.4
Theologie zwischen religiöser Individualität und kirchlicher Institution
Die Praktische Theologie ist für Rössler nicht nur eine historische oder eine empirisch-soziologische, sondern eine dezidiert theologische Wissenschaft: Sie stellt „die komplexe Wirklichkeit des gegenwärtigen Glaubens und Lebens“ (s. o.) in den Deutungshorizont der Theologie. In diesem Horizont erhalten für Rössler sowohl die Individualität des Christentums wie auch dessen Bezug auf die kirchliche Institution ein besonderes Profil. Der erste materiale Teil des Grundrisses ist dem Einzelnen gewidmet; er beginnt mit den folgenden programmatischen Sätzen: „Die letzte Absicht aller Handlungen im Namen des Christentums gilt dem einzelnen Menschen. Alle Tätigkeiten, die im Auftrage oder im Sinne der christlichen Kirche ausgeübt werden, haben am Ende nur ein gemeinsames Ziel: die Seligkeit des einzelnen, und zwar jedes einzelnen Menschen, ganz unabhängig davon, was näherhin unter Seligkeit verstanden werden soll. […] Die Praktische Theologie […] gewinnt ihr Ziel und ihren Zweck in der Ausrichtung auf den einzelnen Menschen.“21
Rössler führt dieses Primat des Einzelnen vor allem auf die reformatorische Entdeckung der unvertretbar persönlichen Gottesbeziehung zurück; die religiöse Individualität, das „Recht einer persönlichen und eigenen Auffassung“ des Glaubens genießt daher – so das bereits eingangs vorgestellte Zitat – im „Leben der Kirche“ eine unbedingte Priorität.22 Und auch die enorme Vielfalt, die dynamische Pluralität der religiösen wie der kirchlichen Verhältnisse, wie sie die moderne Gesellschaft kennzeichnet, empfängt von daher, als Ausdruck eben dieser individuellen Verfassung der Religion, ihr genuin theologisches Recht. Auf dieser Basis muss nun die kirchliche Institution theologisch als Garant eben dieser Vielfalt der je einzelnen Lebens- und Glaubensweisen, und in diesem Sinne als Volkskirche, begriffen werden. Diese Bestimmung hat, wie Rössler in den 1970er Jahren mehrfach ausgeführt hat, wiederum einen durchaus kritischen Sinn. Wenn die kirchliche Organisation, konkret: wenn die Kirchenleitung in 21 Rössler, Grundriß (s. o. Anm. 7), 73. 22 Rössler, Theologiestudenten (s. o. Anm. 1), 305.
Dietrich Rössler – Theorie der pastoralen Praxis
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strittigen Fragen nur einseitige, „positionelle“ Standpunkte einnimmt, statt deren theologisch begründete Vermittlung zu unternehmen, oder wenn sie sich auf die Artikulation des jeweils kleinsten gemeinsamen Nenners beschränkt, dann „verzichtet sie […] auf die Möglichkeiten, die der Vielfalt innewohnen, sie bringt die Gegenwart des Christentums nicht voll zum Ausdruck“.23 Das Verhältnis von religiöser Individualität und kirchlicher Institution hat freilich noch eine andere Seite, die Rössler ebenso am Herzen liegt. Ebenso wie die Praktische Theologie gegenüber kirchlichen Uniformierungstendenzen die religiöse Freiheit und Pluralität zu stärken hat, so muss sie gegenüber der individuellen Frömmigkeitspraxis den Gesamtzusammenhang des christlichen Lebens markieren. Zur „gelebten Religion“ muss die Theologie, auch die Praktische Theologie, in kritisch-theoretischer Distanz bleiben; sie darf sich – angesichts der Vielfalt unterschiedlicher Glaubensweisen – gerade nicht zum unmittelbaren Ausdruck von religiösen Erfahrungen und Anliegen machen. In der wissenschaftlichen Theologie ist vielmehr, so pointiert Rössler, „ein Wissen aufgehoben, das gar nicht geeignet ist, in eine direkte Beziehung zum konkreten Christenleben gesetzt zu werden, das aber gleichwohl unentbehrlich ist für die Aufgabe, dem christlichen Leben neue Perspektiven zu erschließen“.24
3.5
Theologische Bildung als Distanzierung von der Praxis
Wie oben skizziert, steht die Praktische Theologie zwar einerseits für den Bezug zur konkreten pastoralen Erfahrung, die die abstrakten Prinzipien der theologischen Dogmatik kritisch relativiert. Andererseits jedoch hat die Praktische Theologie Rössler zufolge auch auf ihre Distanz zur kirchlichen Praxis zu achten, denn sie darf sich nicht als Legitimation einzelner Frömmigkeitsformen oder „zufällig-individueller Glaubensvorstellungen“ gerieren.25 Die dezidierte Distanzierung von der je eigenen Frömmigkeit gehört für Rössler zu den wesentlichen Lernaufgaben des Theologiestudiums. Die theologische Bildung besteht wesentlich in einer Abstraktion vom religiösen Leben, in einer „Versachlichung der persönlichen Glaubensverhältnisse“.26 Diese „Zumutung, in Glaubensfragen eine theoretische Einstellung zu gewinnen“,27 wie sie das Studium beinhaltet, sieht Rössler – und hier dürfte er nicht zuletzt auf seine Göttinger Erfahrungen rekurrieren – als Erfahrung eines Verzichts, „der immer 23 Rössler, Positionelle und kritische Theologie (s. o. Anm. 5), 153. 24 Dietrich Rössler: Gelebte Religion als Frage an wissenschaftliche Theologie (1978), in: ders., Überlieferung und Erfahrung (s. o. Anm. 1), (192 – 206) 200 f. 25 Rössler, Theologiestudenten (s. o. Anm. 1), 303. 26 Ebd., 306. 27 Ebd., 306 f.
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schmerzhaft und nicht selten von traumatischer Art ist.“28 Um dieser anstrengenden, ja gegebenenfalls persönlich bedrohlichen Dimension willen bedarf theologische Bildung einer Einbettung in „studentische Gemeinschaftsbildungen“.29 Institutionen wie das Theologische Stift gewinnen in dieser Perspektive einen wesentlichen Sinn für die akademische Bildung.
4. Die theologischen Einsichten, deren Grundlage Rössler nicht zuletzt in Göttingen ausgearbeitet hat, sind für die Entwicklung seines Faches in vieler Hinsicht wegweisend geworden. So haben sie einerseits dazu beigetragen, die (nicht nur Praktische) Theologie aus einer gewissen binnenkirchlichen Verengung zu lösen: Die Verantwortung des kirchlichen, insbesondere des pastoralen Handelns umfasst eben nicht nur ‚die Gemeinde‘, sondern das gesamte Leben des Glaubens in Alltag und Gesellschaft. Die Aufgabe der Theologie ist dann, so hat es Rössler eingeschärft, nichts weniger als die Deutung der gesamten religiösen Praxis der Gegenwart im Lichte der „Grundsätze“ des Christentums. Eben darum sind die Human- oder Kulturwissenschaften, eben darum sind auch Einsichten aus der Philosophie, der Ökonomie und der Jurisprudenz für die theologische Bildung wesentlich. Andererseits haben Rösslers Arbeiten wesentlich dazu beigetragen, die Praktische Theologie von dem Stigma ‚bloßer Anwendung‘ anderweitig gewonnener Erkenntnisse zu befreien und sie als gleichrangige Disziplin der Theologie zu erweisen. Der Bezug auf gegenwärtige Erfahrung und gegenwärtige Praxis, für den die Praktische Theologie steht, bildet eine eigene, unverzichtbare Quelle der gesamten theologischen Arbeit. Die Praktische Theologie, auch dies bleibt bis heute festzuhalten, ist darum gerade nicht eine Anleitung zu konkreter Praxis, sondern deren dezidiert theoretische – und insofern notwendig abstrakte – Orientierung. In der Sicht einer jüngeren Generation von Studierenden (und Lehrenden) der Theologie, die sich in einer anderen gesellschaftlichen wie kirchlichen Situation vorfinden, zeigen sich freilich auch einige Grenzen von Rösslers Theorieanlage. So ist nicht erst heute zu fragen: Kann der Beitrag der (Praktischen) Theologie zur kirchlichen Praxis sich auf die theoretische Durchdringung ihrer historischen und gegenwärtig-strukturellen Voraussetzungen beschränken, oder gehört zu ihrer Aufgabe nicht auch der Entwurf handlungsleitender Modelle sowie die konkrete Beratung der pastoralen, auch der kirchenleitenden Praxis? Sodann wäre zu fragen, ob die persönliche Glaubenserfahrung der Theologie28 Ebd. 29 Ebd., 306.
Dietrich Rössler – Theorie der pastoralen Praxis
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studierenden (und Theologielehrenden) in der Praktischen Theologie nicht nur kritisch-relativierend, sondern auch konstruktiv aufgenommen werden kann. Schließlich erscheint Rösslers Vorstellung einer zwar praktisch-pluralen, im Grunde jedoch einheitlich verfassten kirchlichen Institution als Gegenüber der religiösen Individualität inzwischen ganz unrealistisch. Neben den christlichen Groß- und Freikirchen erheben auch jüdische Gemeinden und islamische Verbände eigene Ansprüche auf die Prägung des öffentlichen Raumes; dazu kommt – nicht nur in Ostdeutschland – das Phänomen massenhafter, gelegentlich auch organisierter Religionslosigkeit. Das Theorem eines „öffentlichen Christentums“ bedarf daher ebenso der kritischen Fortschreibung wie die korrespondierende Vorstellung, die gesamte religiöse Praxis der Einzelnen sei – wenn auch gegebenenfalls in dezidierter Ablehnung der kirchlichen Vorgaben – doch als christlich geprägt zu verstehen. Gleichwohl scheint mir Rösslers Grundthese nach wie vor richtig: Die kirchliche Praxis und darum auch die (Praktische) Theologie sind für das gesamte religiöse Leben nicht nur in der Kirche, sondern auch in Gesellschaft und individueller Praxis ‚zuständig‘. Im theologischen Studium und gerade auch in Institutionen wie dem Theologischen Stift kann der Blick in diese soziale und kulturelle Wirklichkeit daher nicht weit und tief genug sein.
Primärtexte Dietrich Rössler: Grundriß der Praktischen Theologie, Berlin/New York 1986, 21994. –: Überlieferung und Erfahrung. Gesammelte Aufsätze zur Praktischen Theologie, hg. v. Christian Albrecht und Martin Weeber, Tübingen 2006.
Sekundärtexte Albrecht Grözinger: Die dreifache Gestalt des Christentums: Dietrich Rössler, in: Christian Grethlein und Michael Meyer-Blanck (Hg.): Geschichte der Praktischen Theologie. Dargestellt anhand ihrer Klassiker, Leipzig 2000, 471 – 500. Henning Luther: Sinn und Gewißheit – Praxis als Auslegung. Zu Dietrich Rösslers „Grundriß der Praktischen Theologie“, in: JRP 4 (1987), 243 – 253. Trutz Rendtorff: Perspektiven zum Verhältnis von Theologie und Frömmigkeit. Randnotizen zur Problemstellung des „ganzen“ Menschen, in: Volker Drehsen et al. (Hg.): Der ‚ganze Mensch‘. Perspektiven lebensgeschichtlicher Individualität. FS Dietrich Rössler, Berlin/New York 1997, 325 – 338.
Gerard den Hertog
Hans Joachim Iwand (1899 – 1960)
1. „Wo immer wir auf die Wahrheit stoßen, werden wir in irgendeiner Weise festgelegt, wird uns die freie Entscheidung über unser Leben aus der Hand genommen.“1
Das Zitat stammt aus der Vorlesung „Theologie als Beruf“, die Hans Joachim Iwand im SoSe 1951 in Göttingen hielt. So knapp der Satz ist, enthält er doch Wesentliches im Hinblick sowohl auf seine Theologie als auch auf seine Biografie. Als Iwand als junger Student aus dem Ersten Weltkrieg in den Vorlesungssaal zurückkehrte, fand er in Luthers Kreuzestheologie die Wahrheit, die ihn an die Wirklichkeit heranführte und sagte, was Sache war, dies aber in einer solchen Weise, dass sie ihn auch vor unkritischer Anpassung an den Zeitgeist bewahrte. Diese Kreuzestheologie birgt die Erkenntnis in sich, dass der Mensch, der sich seiner Freiheit als Selbstbestimmung rühmt, in Wahrheit Befreiung braucht, um überhaupt einzusehen, was wahr ist und was nicht. Die Kreuzestheologie sieht Iwand im engsten Zusammenhang mit der Lehre vom unfreien Willen, welche er als eine „neue, befreiende Erkenntnis“ kennzeichnet, mit der „der Mensch den Boden seiner eigenen Wirklichkeit […] berührt“.2 Die so geschenkte Freiheit will aber nicht sagen, dass der Mensch beliebig Wahrheiten aufstellen kann und soll, sondern dass die Wahrheit, die ihm über Gott und sich selber aufgegangen ist, unwiderruflich auch seine Existenz gestaltet.
1 Hans Joachim Iwand: Theologie als Beruf. Vorlesung 1951, in: Helmut Gollwitzer (Hg.): Nachgelassene Werke, Bd. 1, Gütersloh 22000, 228. 2 Hans Joachim Iwand: Die Freiheit des Christen und die Unfreiheit des Willens, in: Karl Gerhard Steck (Hg.): Um den rechten Glauben. Gesammelte Aufsätze, Bd. 1, München 21965, 248 f.
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2. Hans Joachim Iwand wird am 11. Juli 1899 in einem evangelisch-lutherischen Pfarrhaus im Schlesischen Dorf Schreibendorf (heute Sarby, Polen) geboren. Um das Gymnasium besuchen zu können, wohnt er ab 1911 bei seinen Großeltern in Görlitz. Nach dem Abitur 1917 beginnt er ein Studium der Theologie in Breslau, unterbricht es aber, um als Soldat an die Front in Belgien zu gehen. Wie so viele seiner Generation kehrt er weitgehend desorientiert heim. Es verlangt ihn nach einer Theologie, die dem entspricht, was er in den Schützengräben erfahren hatte. Wenngleich er das Theologiestudium wieder aufnimmt, kämpft Iwand doch noch einige Male in einem schlesischen Freicorps, der Brutstätte des antidemokratischen Lebensgefühls, etwa um 1920 den Kapp-Putsch niederzuschlagen und 1921 den Annaberg gegen aufständische Polen zu verteidigen. 1924 wird er, erst 24 Jahre alt, Inspektor des Lutherheims, eines Stifts für Theologiestudenten in Königsberg (Ostpreußen). Im selben Jahr noch promoviert er zum Lizentiaten der Theologie mit einer Studie zu Karl Heim und habilitiert sich 1927 mit einem eigenen Beitrag zur neu aufgeblühten Lutherforschung über den Zusammenhang zwischen Christologie und Rechtfertigungslehre beim Reformator. Das Thema von Iwands nicht überlieferter Antrittsvorlesung ist ebenso reizend wie programmatisch. Er wählt genau jenen Aspekt der Theologie Luthers, den das 19. Jahrhundert mit Befremden übergangen hatte: seine Konfrontation mit Erasmus von Rotterdam über die Lehre vom unfreien Willen. Über die Jahre hinweg hat Iwand immer wieder zu diesem Thema zurückgefunden, wohl vor allem, weil es ihm einen Schlüssel dazu bot, die eigene Zeit im Lichte des Evangeliums zu verstehen und seinen Weg zu finden. Wie nahm Iwand die Zusammenhänge wahr? Um das zu verstehen ist es dienlich, uns gedanklich in die europäische Lage am Vorabend des Ersten Weltkrieges zu versetzen. Das lange 19. Jahrhundert war im Vergleich zu den vorangegangenen Jahrhunderten relativ friedlich verlaufen. Die bürgerliche Kultur Europas fand aber auf den Schlachtfeldern Europas, an der Somme und bei Verdun, ein grausames Ende. Das humanistische Ideal des bildungsbürgerlichen Menschen als eines freien Kulturträgers wurde als grundfalsch entlarvt in den Schützengräben und „Stahlgewittern“ (Ernst Jünger). In der ständigen Konfrontation mit dem Tod haben sie das Leben anders kennengelernt. Auf einmal erhielt gerade die für obsolet und antihumanistisch gehaltene Streitschrift Luthers über den unfreien Willen mit dem zugehörigen Gottesverständnis neue Aktualität.3 Wenn der Mensch nicht so moralisch erhaben ist, wie er es sich
3 Vgl. Christof Gestrich: Gott und das Leben. Bemerkungen zur Aktualität von Luthers Got-
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zugetraut hatte, was kann dann Evangelium heißen? In seiner 1896 neu entdeckten Römerbriefauslegung von 1515/1516 führt der Reformator aus, die Sünde stecke nicht irgendwo im Menschen, sodass der Mensch so oder so die Sünde loswerden wollte, sondern der Mensch lebt in der Sünde. Das heißt: die Sünde lässt sich nicht mit mehr oder weniger Mühe aus dem Menschen herausnehmen, denn sie ist die Wirklichkeit, die sein Denken und Leben bestimmt. Er betrügt sich, wenn er sich rühmt frei zu sein; vielmehr ist er darauf angewiesen, dass Gott ihn als „unglücklicher Gott“ mit beiden Beinen auf die Erde setzt und ihn zum „wahren Menschen“ macht, d. h. zu jemandem, der sich als Sünder vor Gott bekennt und Befreiung braucht. Mit diesen Einsichten Luthers arbeitete Iwand in der Zeit der Weimarer Republik. Darin war er freilich nicht der einzige. Die Erstveröffentlichung dieser Römerbrief-Vorlesung Luthers im Jahr 1908 hatte eine „Lutherrenaissance“ hervorgerufen, deren Vertreter fast alle in politischer Hinsicht zu den antidemokratischen Rechten zählten, was dazu beitrug, dass deren Mehrzahl die Machtergreifung 1933 begrüßte und unterstützte. Iwand zeigte sich Anfang der 1930er Jahre ebenfalls anfällig dem rechten Denken gegenüber, konzentrierte sich aber auf die theologische Arbeit mit den Studenten im Lutherheim. Das Nationale war bei ihm ohne das Evangelium nicht zu denken und er war ganz erfreut, als es ihm 1932 gelang, deutschsprachige Studenten aus polnischen Gebieten im Gustav-Adolf-Heim Unterkunft bieten zu können. Nachdem er sich an der weitgehend Ritschl’schen Geist atmenden Fakultät in den ersten Jahren ziemlich isoliert gefühlt hatte, änderte sich dies durch das Kommen neuer Kollegen wie Julius Schniewind, Martin Noth und Günther Bornkamm. 1933 war eine Feuerprobe, sicher auch für Iwand. Obwohl er in der Zeit der Weimarer Republik politisch rechts gestanden hatte, hinderte ihn die bei Luther gelernte Theologie daran, sich den Deutschen Christen anzuschließen. Auch dem neuen Staat gegenüber hielt er Distanz und wunderte sich über Leute, die dort Gallert hatten, wo er immer das Rückgrat vermutet hatte.4 Im Juni 1933 wurde er auf Drängen der deutschchristlichen Studenten zunächst als Inspektor des Lutherheims abgesetzt, von Staats wegen aber wieder eingesetzt, bis er sich Juli 1934 doch gezwungen sah, seine Stelle aufzugeben. Für ein halbes Jahr wurde er Professor für Neues Testament am Herder-Institut in Riga, bis ihm 1935 die venia legendi entzogen wurden. Damit war es bis 1945 aus mit seiner Arbeit an der Universität, aber nicht mit der Arbeit mit Theologiestudenten. Im Sommer 1935 wird Iwand gebeten, die Leitung einer der neu einzurichtenden Predigersemitesbegriff nach De servo arbitrio (1525) im 20. Jahrhundert, in: Eberhard Jüngel et al. (Hg.): Verifikationen. FS Gerhard Ebeling, Tübingen 1982, 143 – 161. 4 Vgl. Hans Joachim Iwand: Brief an Rudolf Hermann, in: Helmut Gollwitzer (Hg.): Nachgelassene Werke, Bd. 6, Gütersloh 22000, 263.
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nare der Bekennenden Kirche auf sich zu nehmen. Von 1935 bis 1937 war dieses Predigerseminar in Bloestau beheimatet, etwa zwanzig Kilometer von Königsberg. Nachdem Iwand 1937 aus Ostpreußen ausgewiesen wurde, war es für kurze Zeit in Jordan bei Paradies (Neumark) angesiedelt, bis die Predigerseminare allesamt für illegal erklärt wurden und Iwand mit seinen Studenten in Dortmund Unterschlupf fand, ohne aber dort die Arbeit als ‚Sammelvikariat‘ dauerhaft fortsetzen zu können. Iwand galt mittlerweile schon längst als politisch verdächtig und wird 1938 zum vierten Mal verhaftet; während des halben Jahrs, das er im Gestapogefängnis Dortmund („Steinwache“) verbringt, schreibt er „Erläuterungen“ zu Luthers Schrift De servo arbitrio, die allerdings bei genauem Hinsehen ein echtes Beispiel kontextueller Theologie darstellen. Gegen Ende seiner Haftzeit droht ihm das Konzentrationslager und es ist eine Rettung im wahrsten Sinne des Wortes, dass das Presbyterium der Marienkirche Dortmund ihn 1938 als Pastor beruft und darauf trotz Gegenwirkungen beharrt. Von 1938 bis 1945 ist Iwand als Pfarrer in dieser Gemeinde tätig, was ihm dem Nazi-Staat gegenüber einen gewissen Rechtsschutz bietet, beispielsweise angesichts der dauernden Drohung gegen seine Frau, die promovierte Juristin Ilse Ehrhardt, die nach den Nürnberger Gesetzen als Halb-Jüdin galt. Die eigene gefährdete Lage hindert ihn nicht daran, sich aktiv für Juden einzusetzen und ihnen unter anderem zusammen mit Gustav Heinemann dabei zu helfen, im Sauerland Versteck zu finden. Wenn auch zum wissenschaftlichen Forschen kaum Zeit und Gelegenheit bleibt – vor allem gegen Ende des Krieges, als in einigen Bombenangriffen auf Dortmund im Oktober 1944 Kirche und Pfarrhaus zerstört wurden – gelingt es ihm doch noch, theologisch einiges zu schaffen, wie die Monografie Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre, die Martin Niemöller im KZ Dachau gewidmet ist. Überhaupt sind diese Jahre gekennzeichnet von einer Erprobung und Revision seiner theologischen Einsichten. Im Jahr 1943 schreibt Iwand einen kleinen Aufsatz zu Luthers Lehre vom „peccatum originale“ für Julius Schniewind, in dem er den Ort aufzeigt, an dem in aufrichtiger Reue und Umkehr die wahre Freiheit geschenkt wird. Selbst ohne irgendeinen Verweis auf die zeitgenössische Situation ist es für den aufmerksamen Leser nicht zu übersehen, dass die Frage des Schuldbekenntnisses und der Umkehr nach dem Krieg das unterschwellige Thema bilden. Nach Kriegsende kann Iwand zur Universität zurückkehren. Eine Ernennung auf den Lehrstuhl für Systematische Theologie in Münster lehnt er ab, um stattdessen dem Ruf nach Göttingen zu folgen. In der Fakultät trifft Iwand Kollegen wie Ernst Wolf, Gerhard von Rad, Günther Bornkamm und Otto Weber, mit denen bald eine gute Arbeitsgemeinschaft zustande kommt. In der doppelt besetzten Fakultät war Iwands nächster Kollege auf dem Lehrstuhl Systematische Theologie Friedrich Gogarten, mit dem er in den Jahren vor 1933 in enger Ver-
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bindung gestanden hatte, zu dem er aber nach den Erfahrungen in der Zeit der Nazi-Diktatur Abstand hielt.5 In seinen Vorlesungen und Seminaren schlug Iwand nicht einfach die früheren Kolleghefte auf. Der Öffnungssatz seiner ersten Vorlesung 1945/1946 „Probleme der Ethik“ lautet: „Vor mehr als 10 Jahren hielt ich meine letzte Vorlesung in Riga. Wenn ich heute wieder zurückkehre in die Arbeit lehrender und forschender Unterweisung zum Aufbau der Kirche, dann kann ich das nicht tun, ohne dessen zu gedenken, was in dem rasenden Fortschritt der Entwicklung geschehen ist.“6 Kontinuität gab es thematisch insofern, dass er wieder über Luthers Theologie las, auch wohl im breiteren Rahmen einer „Einführung in die Theologie der Reformatoren“ (WS 1950)7, wobei er sich nicht nur mit Luther und Melanchthon, sondern auch mit Calvin ausführlich auseinandersetzte. Schwerpunktmäßig waren es vor allem zwei Themen, die er mit den Studenten behandelte: Das eine war die Frage der Ethik, der er sich aus mehreren Richtungen annäherte. Nach seiner Vorlesung „Probleme der Ethik“ (WS 1945/46) las er im SoSe 1948 über „Kirche und Gesellschaft“ und wiederum zum selben Thema SoSe 1951, wobei er im Eingangskapitel bemerkte, es sei ein „Thema der Ethik“.8 In Königsberg hatte Iwand Anfang der 1930er Jahre auch Ethik („Ethik unfreien Willens“) gelesen, aber damals war die leitende Fragestellung noch prinzipiell-theologisch, unter Vermeidung direkter Bezugnahme auf die Fragen der Zeit. Nun aber wurde alles Formelle und Abstrakte ersetzt durch eine Aufarbeitung der dringlichen Fragen der eigenen Zeit. So wundert es auch nicht, dass diese Vorlesungen flankiert wurden von vielen Vorträgen zu verwandten Themen, die Iwand in seinen Göttinger Jahren hielt.9 Die andere Thematik, die die ganze Göttinger Zeit durchzog, war die Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Im Frühjahr 1946 bot Iwand ein Seminar mit dem Titel „Die protestantische Theologie von Ritschl bis Barth“ an, um vom WS 1948/49 an in vier aufeinanderfolgenden Semestern unter verschiedenen Titeln ein durchgehendes Kolleg zur modernen Theologiegeschichte zu lesen. Wie eine Umkehr, bemerkte Iwand, soll die moderne Theologiege-
5 Jürgen Moltmann kennzeichnet Gogarten wohl überspitzt als Iwands „Intimfeind“. Jürgen Moltmann: Weiter Raum. Eine Lebensgeschichte, Gütersloh 2006, 51. 6 Bundesarchiv Koblenz N 1528/107, Beienroder Signatur 92/6. 7 Hans Joachim Iwand: Gesetz und Evangelium, in: Walter Kreck (Hg.): Nachgelassene Werke, Bd. 4, Gütersloh 22000, 231 – 401. 8 Hans Joachim Iwand: Kirche und Gesellschaft, in: Ekkehard Börsch (Hg.): Nachgelassene Werke Neue Folge, Bd. 1, Gütersloh 1998, 15. 9 Vgl. Hans Joachim Iwand: Vorträge und Aufsätze, in: Dieter Schellong und Helmut Gollwitzer (Hg.): Nachgelassene Werke, Bd. 2, Gütersloh 22000, 11 – 242 und Iwand, Kirche und Gesellschaft (s. o. Anm. 8), 188 – 280 sowie ders.: Frieden mit dem Osten. Texte 1933 – 1959, München 1988, 18 – 96.
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schichte gelesen werden, nicht als Neuanfang.10 Wie beim erstgenannten Thema, der Ethik, gilt auch hier, dass es vielerlei Querverbindungen gab zwischen dem, was Iwand im Vorlesungssaal lehrte, und der Art und Weise, wie er in Kirche und Gesellschaft für eine echte Umkehr eintrat. So verfasste er August 1947 einen ersten Entwurf für das „Darmstädter Wort“ des Reichsbruderrats, mit dem wiederholten „Wir sind in die Irre gegangen“ und der Bitte, Gott schenke die „rettende und befreiende Umkehr zum Leben“. „Nicht Rückkehr zum Christentum“ und somit Restauration seien geboten, „sondern Umkehr zu Gott durch das Evangelium“.11 In dem „wir“, die in die Irre gegangen sind, schließt Iwand sich selber ein – und hatte Grund dazu. Trotz seiner wiederholten Konfrontationen mit den Deutschen Christen und den Nazi-Behörden war er wie viele andere in der Bekennenden Kirche bis in den 1940er Jahren noch sehr national gestimmt. Noch 1940 sprach er im Hinblick auf eroberte polnische Gebiete von einer „Befreiung“.12 Nach 1945 setzte Iwand sich für die ostpreußischen Flüchtlinge ein, betonte dabei aber, dass der Verlust der deutschen Gebiete im Osten insgesamt zu tun hatte mit dem, was im Zweiten Weltkrieg den slawischen Völkern von Deutschen angetan worden war. Für die Witwen der gefallenen ostpreußischen Pfarrer erwarb er ein Gutshaus in Beienrode bei Helmstedt, das als „Haus der helfenden Hände“ diesen Frauen mit ihren Kindern ein Zuhause bot und zugleich ein geistiges Zentrum dieser untergegangenen Provinzialkirche war. Als einer der ersten thematisierte Iwand die deutsche Schuld gegenüber dem jüdischen Volk. Zwei Aktivitäten Iwands in seinen Göttinger Jahren sollen hier noch eigens erwähnt werden. Erstens, dass er gleich 1946 mit einigen Fakultätskollegen wie Gerhard von Rad, Wolfgang Trillhaas, Otto Weber, Ernst Wolf und anderen die Reihe Predigtmeditationen gründete. Die Lage war ja so, dass vielen Pfarrern im Krieg ihre Bücher verloren gegangen waren. Es ging Iwand als Anreger der ganzen Unternehmung darum, ihnen bei der Verkündigung zu helfen und sie vor einem Rückgreifen auf tief eingeschliffene theologische Einsichten, die so fatal gewirkt hatten, zu bewahren. Wenn die Predigt von Gottes Gnade im Kreuz Jesu Christi ideologisch ausgerichtet und somit kaltgestellt würde, könnten – so befürchtete Iwand – destruktive Ideen und Mächte Europa für ein drittes Mal innerhalb des 20. Jahrhunderts in den Krieg treiben. Das Evangelium der Rechtfertigung des Gottlosen sei eine kräftige und effektive Waffe im Kalten 10 Hans Joachim Iwand: Protestantische Theologie im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Väter und Söhne, in: Gerard Cornelis den Hertog (Hg.): Nachgelassene Werke Neue Folge, Bd. 3, Gütersloh 2001, 24. 11 Hans Joachim Iwand: Entwurf zum Darmstädter Wort (1947), in: Ders., Frieden (s. o. Anm. 9), 20 ff. 12 Hans Joachim Iwand: Vorwort, in: Erwin Roderich von Kienitz, Das Opfer der größten Liebe. Zehn Predigten aus der Passions- und Verklärungszeit, Siegen/Leipzig 1940, 6.
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Krieg. Darum konnte er seine Vorlesung „Einführung in die Theologie der Reformatoren“ abschließen mit der These, dass, „wenn die justitia fidei untergeht, auch die justitia civilis nicht bestehen kann“.13 Als Trillhaas die Herausgeberschaft der Göttinger Predigtmediationen nach einem Jahr aufgab, übernahm Iwand diese Aufgabe bis zu seinem Tod. In den Göttinger Jahren setzt sich Iwand – wie hätte es anders sein können?! – auch für das Theologische Stift ein. Es gelingt ihm, Karl Gerhard Steck als Inspektor zu gewinnen. Auch seine Bemühungen, die Fakultät nach Fortgang von namhaften Gelehrten wie Gerhard von Rad und Günther Bornkamm mit neuen Kollegen zu besetzen, tragen gute Frucht, als er unter anderem Walther Zimmerli und Ernst Käsemann zu gewinnen weiß. 1952 wechselt Iwand selber aber noch einmal nach Bonn, was viel zu tun hatte mit dem Tod seiner Frau im Dezember 1950. Die acht Jahre, die er dort in enger Gemeinschaft mit Helmut Gollwitzer, Walter Kreck und auch mit Martin Noth, den er noch aus Königsberg kannte, arbeiten kann, stehen weitgehend im Zeichen der politischen und gesellschaftlichen Diskussionen der Zeit. Iwand kehrt sich gegen die Remilitarisierung Deutschlands als Integration in den westlichen Machtblock und folglich auch gegen die Stationierung von Atomwaffen auf deutschem Boden. Als einer der ersten fährt er mit in einer kirchlichen Delegation nach Osteuropa, um Schuld zu bekennen und sich aktiv für Versöhnung und Frieden zwischen den Völkern einzusetzen. Im eigenen Lande legt er Protest ein, als die Vertriebenenverbände die Rückgabe der ehemaligen Ostgebiete verlangen. Als Ende der 1950er Jahre der Antisemitismus wieder auflebt, wendet er sich an die Öffentlichkeit und plädiert für „Umkehr und Wiedergeburt“.14 Wann immer er in der Gesellschaft einen Verlust des Denkens wahrnimmt, plädiert er für „geistige Entscheidungen“ in der Einheit von „Erkenntnis und Tat“. In seinen Vorlesungen legt er auch in dieser Zeit Rechenschaft davon ab, was die Grundlage seines Engagements ist. 1955 liest er über „Glauben und Wissen“, im selben Jahr fängt er eine dreisemestrige Luther-Vorlesung an als Vorarbeit eines eigenen Luther-Buches und von 1957 bis 1960 bespricht er in sechs Semestern zum ersten Mal die ganze Dogmatik.15 Mitten in der Arbeit trifft Iwand am 29. April 1960 ein schwerer Schlaganfall, an dessen Folgen er am 2. Mai 1960 stirbt. Er liegt neben seiner Frau auf dem Friedhof des „Hauses der helfenden Hände“ in Beienrode begraben. 13 Hans Joachim Iwand: NW 4, 401. 14 Hans Joachim Iwand: NW 2, 362 – 370. 15 Vgl. Iwand, Kirche und Gesellschaft (s. o. Anm. 8), 27 – 216 und ders.: Luthers Theologie, in: Johann Haar (Hg.): Nachgelassene Werke, Bd. 5, Gütersloh 22000 sowie Thomas Bergfeld et al. (Hg.): Hans Joachim Iwand. Dogmatik-Vorlesungen 1957 – 1960. Ausgewählte Texte zur Prinzipienlehre, Schöpfungslehre, Rechtfertigungslehre, Christologie und Ekklesiologie mit Einführungen, AHST 18, Berlin 2013.
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3. Wenn man berücksichtigt, was Iwand in den Kollegs vorgetragen und in den Seminaren mit den Studenten diskutiert hat, so ist klar, dass er nicht einfach weiterging, wo er 1935 aufhören musste, sondern dass er neu forschte, um Antworten zu finden. Schwerpunkte von Iwands Vorlesungen in den Göttinger Jahren waren die Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts – hier musste er manches nachholen. Wie konnte passieren, was 1933 bis 1945 in Deutschland tatsächlich vor sich ging? Darum konnten seine Vorlesungen nicht distanziertreferierend gehalten sein oder bloß theologiegeschichtliche Zusammenhänge aufzeigen. Dennoch waren sie aber nicht weniger wissenschaftliche Forschung in der Gestalt engagierten Suchens nach wahrer Erneuerung von Mensch und Gesellschaft. Iwand war davon überzeugt, „daß die Vergangenheit sich uns nur soweit und insofern erschließt, als wir die Zukunft gewinnen wollen, als wir die Vergangenheit dabei zu Hilfe rufen.“16 Das war nicht zeitbedingt gemeint, sondern grundsätzlich. Man soll etwa Luther nicht so studieren, dass man seine „Antworten“ untersucht und systematisiert, sondern dass man auch die Fragen bedenkt, auf die der Reformator antwortete.17 Auf dem Titelblatt der ersten Vorlesung notierte Iwand nachträglich den Untertitel „Väter und Söhne“ – ein Verweis auf Mal 3,24, wo vom wiedergekommenen Propheten Elia gesagt wird, er bekehre das Herz der Väter zu den Söhnen und das Herz der Söhne zu den Vätern. So hat Iwand die Vorlesung gemeint: als Ruf zur Umkehr. Ein wichtiges Fazit der theologiegeschichtlichen Forschungen Iwands war, dass es nicht angebracht war, Schleiermacher den „schwarzen Peter“ zuzuschieben. In seiner Skizze der konfessionellen Lutheraner in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hob Iwand hervor, dass sie die Ethik der Dogmatik vorgeordnet hätten und damit einen Bereich gegen kritische Nachfrage, aber auch gegen die Befreiung vom Evangelium her immunisiert hätten. Demgegenüber habe Schleiermacher, so führte Iwand 1951 in einem öffentlichen Vortrag in der Aula der Universität aus, die Ethik mit der Geschichte zusammen gedacht und sie aus der fernen und eiskalten Höhe wieder in das Leben hineingeholt. Iwands Kollegen hörten mit einigem Befremden zu.18 Was er da ausführte, stimmte aber überein mit dem, wonach er in seinen Ethik-Vorlesungen und Vorträgen suchte: nicht eine „bloß normative Ethik“, sondern ein Leben in der Dankbarkeit und ein Wandeln in den guten Werken, die Gott zuvor geschaffen hat. Diese Sicht der Ethik vertrug es auch nicht, wenn die gesellschaftlichen Fragen über das KircheStaat-Verhältnis her angenähert wurden; Kirche und Gesellschaft solle die Per16 Hans Joachim Iwand: Erneuerung unserer Bildung aus dem Evangelium, in: ZPT 3 (1951), 3. 17 Vgl. Iwand, Kirche und Gesellschaft (s. o. Anm. 8), 40. 18 Vgl. Jürgen Seim: Hans Joachim Iwand. Eine Biografie, Gütersloh 1999, 420 f.
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spektive sein, denn die Gesellschaft sei der Ort, wo die geistigen Auseinandersetzungen stattfinden und wo das Wort des Evangeliums „läuft“. Sie ist „Produkt geistiger Kräfte“, ein „Mutterschoß aller geistigen Bewegungen“.19
4. Die Stärke von Iwands theologischer Existenz war wohl, dass sie – wie er 1959 an Hromádka schrieb – „ein Denken aus der Umkehr heraus“ war.20 Dieses Denken kennzeichnet seinen theologischen Weg und prägte sein kirchliches und politisches Engagement. Ihm gingen die Augen auf für das dem lebendigen Judentum sowie auch den slawischen Völkern gegenüber begangene Unrecht. Da die Umkehr ihn auf Gott und sein vergebendes und neuschaffendes Handeln zurückwarf, löste sich in seinem Denken die Fixierung auf geschichtlich Gegebenes, auf Traditionen und Errungenschaften zugunsten einer eschatologischen Ausrichtung allen Theologietreibens. In gewissem Sinn war er ein „post-christendom“-Theologe, der von der Idee einer Volkskirche schon Abschied genommen hatte. Zeit seines Lebens hat Iwand sehr wenig veröffentlicht und wenn er dies tat, dann oft an entlegenen Stellen. Das Lutherbuch, das er schreiben wollte, kam nicht zustande. Sein theologisches Erbe ist ein Torso. Es ist aber nicht tragisch, sondern vielmehr passend zu Iwands theologischer Existenz, dass die gebündelten Predigtmeditationen, in denen Exegese und theologisches Verstehen zusammengehen, sein Hauptwerk geworden sind. Helmut Gollwitzer hatte recht: in diesen 700 Seiten hat Iwands „theologische Arbeit ihren reichsten Niederschlag gefunden“.21
Primärtexte Hans Joachim Iwand: Kirche und Gesellschaft, in: Ekkehard Börsch (Hg.): Nachgelassene Werke Neue Folge, Bd. 1, Gütersloh 1998. –: Protestantische Theologie im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Väter und Söhne, in: Gerard Cornelis den Hertog (Hg.): Nachgelassene Werke Neue Folge, Bd. 3, Gütersloh 2001.
19 Iwand, Kirche und Gesellschaft (s. o. Anm. 8), 241. 20 Iwand, Frieden (s. o. Anm. 9), 216. 21 Helmut Gollwitzer: Geleitwort, in: Hans Joachim Iwand: Predigt-Meditationen, Göttingen 1963, 6.
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Gerard den Hertog
Sekundärtexte Gerard Cornelis den Hertog: Befreiende Erkenntnis. Die Lehre vom unfreien Willen in der Theologie Hans Joachim Iwands, NBSTh 16, Neukirchen-Vluyn 1994. Christian Johannes Neddens: Politische Theologie und Theologie des Kreuzes. Werner Elert und Hans Joachim Iwand, FSÖTh 128, Göttingen 2010. Peter Sänger und Dieter Pauly (Hg.): Hans Joachim Iwand – Theologie in der Zeit. Lebensabriß und Briefdokumentation. Bibliographie, KT 85, München 1992. Jürgen Seim: Hans Joachim Iwand. Eine Biografie, Gütersloh 1999.
Dietz Lange
Wolfgang Trillhaas (1903 – 1995)
1. „Zu den Sachen selbst!“
Dies ist zwar kein originales Zitat von Trillhaas selbst, sondern das Losungswort der philosophischen Phänomenologie am Anfang des 20. Jahrhunderts. Doch es beschreibt sehr genau die wissenschaftliche Intention dieses Mannes, der 1922 in München sein Studium der Philosophie bei einem prominenten Vertreter dieser Richtung, Alexander Pfänder, begonnen hatte, bevor er zur Theologie überging.
2. Wolfgang Trillhaas wurde am 31. Oktober 1903 in Nürnberg als ältestes von vier Kindern eines liberalen Militärpfarrers geboren; seine Mutter hatte eine Ausbildung zur Grundschullehrerin durchlaufen. Oft war er im großzügigen Hause seiner Großeltern mütterlicherseits in München zu Gast, die ihn in das kulturelle Leben der Stadt einführten. Schon diese dürren biografischen Daten sagen viel über den Menschen aus. Es war ein seit langem protestantisches, bürgerliches Milieu, das die alte freie Reichsstadt Nürnberg prägte. Und Trillhaas war ein echter Franke. Hochgewachsen und von kräftiger Statur, war er nüchtern und erdverbunden, selbstbewusst und energisch, aber von sensiblem Einfühlungsvermögen und nicht selten auch empfindlich. Zugleich besaß er eine lebhafte Phantasie und ein großartiges Erzähltalent, von dem seine schöne Autobiografie ebenso beredtes Zeugnis ablegt1 wie seine Aufsätze über große Gestalten der Theologie- und Philosophiegeschichte: Paul Gerhardt oder Adolf von Harnack, Paul Althaus, Paul Tillich, Friedrich Schleiermacher oder Friedrich Schelling, 1 Wolfgang Trillhaas: Aufgehobene Vergangenheit. Aus meinem Leben, Göttingen 1976.
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Albrecht Ritschl, Karl Barth oder Emanuel Hirsch.2 Sie alle interessierten ihn nicht allein wegen ihrer intellektuellen Leistung, sondern immer auch als Menschen. Die Darstellung verbindet Liebe zum charakteristischen Detail mit souveräner Gesamtschau, ist gedanklich tiefgründig und humorvoll. Trillhaas’ Interessenspektrum war außerordentlich weit. Es reichte von der Geschichte und Literatur über Architektur und Kunst bis zur Natur und betraf vornehmlich alles, was mit den menschlichen Lebensverhältnissen zu tun hat, besonders auch Psychologie und Soziologie. Dabei ging es ihm stets um das „rechte Sehen“ der begegnenden Wirklichkeit. Ihr muss die Theorie so gut wie irgend möglich gerecht werden. Das schließt natürlich das abstrakte Denken keineswegs aus, es gehört ja zur wissenschaftlichen Theologie unabdingbar hinzu. Wohl aber war Trillhaas aller Spekulation und erst recht aller Konsequenzmacherei abhold. Er verstand es, komplizierte Zusammenhänge einfach – manchmal freilich auch vereinfachend – zu beschreiben und vermeintliche Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Dies alles beruhte auf Begabung, aber natürlich auch auf der genossenen Ausbildung. Das gilt freilich in seiner Sicht nur eingeschränkt für das von ihm besuchte humanistische Gymnasium, weil dort die Mängel vor allem in den modernen Sprachen und in den Naturwissenschaften sowie allgemein in der Lehrmethode zu offensichtlich waren. Dafür nennt er aber die Predigten vor allem des liberalen Pfarrers Christian Geyer an der Heilig-Geist-Kirche sowie die Jugendbewegung, die viel zu seiner Liebe zur Natur beigetragen hat. Verwandtschaftliche Beziehungen sowie die Weigerung Trillhaas’, in die Verbindung seines Vaters einzutreten, führten dann dazu, dass er in München mit dem Studium der Philosophie begann, nicht nur bei Pfänder, sondern auch bei dem katholischen Philosophen Clemens Baeumker und dem katholischen Theologen Martin Grabmann. Damit entstand bei dem entschiedenen Protestanten ein lebenslanges Interesse an katholischer Frömmigkeit und Theologie, das ihm auch katholische Freunde verschaffte. Daneben lockten natürlich die Theater, das Musikleben und die Kunstschätze der Stadt. Nach zwei Semestern wechselte er nach Erlangen, wo er sich für Theologie einschrieb, allerdings von dem damaligen Zustand der Fakultät enttäuscht wurde. Später haben die bedeutenden Lehrer an dieser Fakultät, Werner Elert und Paul Althaus, stark auf ihn gewirkt. Zunächst aber ging Trillhaas in seinem 5. Semester, im Sommer 1924, nach 2 Vgl. Wolfgang Trillhaas: Perspektiven und Gestalten des neuzeitlichen Christentums, Göttingen 1975 sowie ders.: Der Berliner Prediger, in: Dietz Lange (Hg.): Friedrich Schleiermacher 1768 – 1834. Theologe – Philosoph – Pädagoge, Göttingen 1985, 9 – 23. Vgl. ferner Wolfgang Trillhaas: Der Gott der Philosophen und die kritische Funktion der Religion. Zu Schellings Philosophie der Offenbarung, in: NZSTh 22 (1980), 117 – 130 und Wolfgang Trillhaas: Albrecht Ritschl im Echo seiner Epoche, in: Joachim Ringleben (Hg.), Gottes Reich und menschliche Freiheit. Ritschl-Kolloquium (Göttingen 1989), GTA 46, Göttingen 1990, 144 – 154.
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Göttingen. Hier schlug ihn der Gegensatz zwischen den beiden damaligen Koryphäen Karl Barth und Emanuel Hirsch in seinen Bann, so sehr, dass man seinen ganzen weiteren theologischen Weg als den Versuch verstehen kann, mit Hilfe des Erlanger Luthertums, aber auch der phänomenologischen Philosophie, seinen eigenen Weg zwischen eben jenen Polen zu suchen. Zunächst freilich überwog deutlich die Begeisterung für Barth. Dessen Genialität, die Frische des frühen Stadiums seiner Offenbarungstheologie, seine demokratische Grundeinstellung, all das trug wesentlich dazu bei, dass Trillhaas sich später im Kirchenkampf eindeutig der Bekennenden Kirche anschloss. Nach dem Krieg allerdings gewann die liberale Seite seines Denkens die Oberhand, und die Entwicklung Barths zum Schulhaupt nicht nur im positiven Sinn führte zu einer fortschreitenden Entfremdung, ohne freilich die Hochschätzung von dessen Größe und auch Barths persönliche Zugewandtheit zu Trillhaas jemals ganz aufzuheben. Von Göttingen kehrte Trillhaas nach Erlangen zurück, wo er bereits 1926 sein Erstes Theologisches Examen ablegte. Anschließend trat er als Stadtvikar in Regensburg in den Dienst der bayerischen Landeskirche – in der Diaspora, was die theoretische Beschäftigung mit dem Katholizismus nun durch viele lebendige Kontakte mit katholischer Frömmigkeit, aber auch mit den zwischen den Konfessionen bestehenden Problemen wie der Frage der sog. Mischehen „erdete“. Die von ihm besuchten praktisch-theologischen Lehrveranstaltungen freilich müssen ziemlich jämmerlich gewesen sein. Jedenfalls sah er sich in dieser Hinsicht völlig auf sich selbst gestellt, ohne ins Gewicht fallende Beratung durch den ihm vorgesetzten Stadtpfarrer. Bei seiner Tatkraft, praktischen Phantasie und Kontaktfreudigkeit wird man freilich davon ausgehen können, dass er seine Aufgaben gemeistert hat. Diese Situation ist für ihn später eine der wichtigsten Triebfedern geworden, sich für Praktische Theologie zu habilitieren. Ab 1928 war Trillhaas Stadtvikar im Gemeinde- und Schuldienst sowie Standortpfarrer der Reichswehr in Erlangen. Hier hatte er es sowohl mit dem „hartgesottenen fränkischen Bürgertum“ als auch mit Proletariern und Soldaten zu tun.3 Da die Neustädter Kirche zugleich Universitätskirche war, ergab sich hier die Gelegenheit, neue Freunde wie Gerhard von Rad und Walther von Loewenich zu gewinnen, die als Repetenten an der Fakultät tätig waren und sein theologisches Interesse teilten. Neben seiner wiederum sehr umfangreichen praktischen Tätigkeit, besonders im Schuldienst, arbeitete er an einer philosophischen Dissertation über Nietzsche, die er 1931 abschließen konnte. Schon Ende Januar 1933 folgte die praktisch-theologische Promotion zum „Lizentiaten“ und gleich auch die Habilitation, mit den beiden Teilen einer Arbeit über Schleiermachers Predigten. 3 Trillhaas, Aufgehobene Vergangenheit (s. o. Anm. 1), 121.
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Eine weitere akademische Karriere war Trillhaas vorerst verschlossen, weil er als Angehöriger der Bekennenden Kirche zwar Lehrstuhlvertretungen (Halle 1934 – 1936, Erlangen 1936 – 1945), aber keine Berufung bekam. So blieb er bis zum Ende des „Dritten Reiches“ Privatdozent – der als solcher kein Gehalt bekam – und Erlanger Pfarrer, ab 1943 daneben Dorfpfarrer in Möhrendorf. Es war ohne Frage eine sehr belastende Zeit, zugleich aber reich an praktischer Erfahrung. Als der Krieg zu Ende war, konnte Trillhaas sich durchaus ein Verbleiben im Pfarramt vorstellen. Andererseits war aber die Praktische Theologie unter den theologischen Fächern das durch die nationalsozialistische Fakultätspolitik am meisten in Mitleidenschaft gezogene. Die Entscheidung wurde ihm dadurch abgenommen, dass im September 1945 die Berufung nach Göttingen erfolgte. Nach einem wegen der Kriegszerstörungen abenteuerlichen Umzug und einer äußerst schwierigen Wohnungssuche nahm er im SoSe 1946 hier seine Lehrtätigkeit auf. Es kam eine höchst beachtliche Fakultät zusammen: Gerhard von Rad, Günter Bornkamm, Joachim Jeremias, Ernst Wolf, Hans Joachim Iwand gehörten ihr an. Trillhaas stand in ihr jedoch von Anfang an als Erlanger Lutheraner und wegen seiner Sympathien für liberale Positionen etwas abseits, eine Distanz, die sich mit seiner allmählich stärker werdenden Abkehr von Karl Barth und mit seiner wachsenden Abneigung gegen die parteiische Berufungspolitik von dessen Schülern noch vergrößerte. Doch sein Lehrerfolg auf Grund seiner umfangreichen praktischen Erfahrung und seiner pädagogischen Begabung sowie viele intensive Gespräche besonders mit Kollegen anderer Fakultäten wogen das voll auf. Er führte mit seiner Frau ein gastfreies Haus und er genoss in der Universität großes Vertrauen. Man hat ihn deshalb gerne in öffentliche Ämter gewählt. Schon im WiSe 1947/48 und dann noch einmal im WiSe 1955/56 war er Dekan, er saß für die CDU im Göttinger Stadtrat und war 1950 – 1952 Rektor der Universität. Zehn Jahre lang war er Vertreter der Theologischen Fakultät in der Hannoverschen Landessynode. Von 1956 – 1966 versah er neben seinem Göttinger Ordinariat einen Lehrauftrag an der Technischen Hochschule Hannover, eine Arbeit, die er besonders geschätzt hat, weil sie ihn nötigte, in seinen Vorlesungen noch stärker als gewöhnlich zu elementarisieren. In den Jahren 1952 – 1957 war Trillhaas Ephorus des Theologischen Stifts. Leider geben die erhaltenen offiziellen Akten über diesen Aspekt seines Wirkens kaum Auskunft. Auch meine Suche nach noch lebenden damaligen Bewohnern blieb ergebnislos. Man wird aber als sicher annehmen können, dass er sich auch dieser Aufgabe engagiert und mit großer menschlicher Zuwendung gewidmet hat. Außerdem dürfte sein Rücktritt als Dekan angesichts der Berufung des nationalsozialistisch belasteten Kultusministers Franz Leonhard Schlüter 1955 die Studenten positiv beeindruckt haben. Im Jahre 1952 ging der Systematische Theologe Iwand nach Bonn. Daraufhin erwog Trillhaas einen Wechsel zu dessen Fachgebiet. Die Praktische Theologie,
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die kein richtiges Prüfungsfach war, erschien ihm auf Dauer zu eng und die als Examensleistungen geforderte Katechese und Predigt als höchst problematisch. Die angestrebte Horizonterweiterung wurde freilich erst 1954 durch die Ernennung zum Ordinarius der Systematischen Theologie Wirklichkeit. In den nun folgenden Jahren konnte er in der Tat eine noch größere Wirkung entfalten. Seine Stellung außerhalb des damals die Szene beherrschenden, wenn auch von manchen bereits als überholt empfundenen Gegensatzes von Barth und Bultmann trug erheblich zur Attraktivität seiner Lehrveranstaltungen bei. Auch der Kontakt zu dem wegen seines nationalsozialistischen Engagements zu Recht vorzeitig pensionierten, nichtsdestoweniger großen Gelehrten Emanuel Hirsch, den er trotz scharfer kirchenpolitischer und allgemeinpolitischer Gegensätze aufrechterhielt, ist hier zu nennen. Im Jahre 1972 wurde Trillhaas emeritiert. Seine sich dadurch verstärkende Isolierung hat diesen kontaktfreudigen Menschen sehr belastet, ja auch verbittert. Die beiden Überschriften „Verdrossenheit an der Theologie“ und „Die klassische Universität ist am Ende“ auf den letzten Seiten seiner Autobiografie sprechen für sich. Doch hat er die gewonnene Freiheit für das Zusammensein mit seiner zweiten Frau (die erste Frau war bereits 1938, kurz nach der Geburt des vierten Kindes, gestorben) und besonders für Reisen mit ihr genutzt. Als auch sie 1974 gestorben war, hat er im folgenden Jahr noch ein drittes mal geheiratet. Natürlich wurde er auch noch um Vorträge gebeten, die wegen ihrer Lebendigkeit nach wie vor sehr beliebt waren. Wo er sonst noch dienstlich gebraucht wurde, hat er sich energisch und zugleich einfühlsam eingesetzt. So hat er z. B., um es durch eine persönliche Erfahrung zu illustrieren, noch als Emeritus 1972 die Beurteilung meiner Habilitationsschrift übernommen und mich bereits vier Tage nach deren Abgabe mit einer Postkarte beruhigt, dass ich mir keine Sorgen machen solle. Es war ihm ein langer Ruhestand vergönnt. In den letzten Jahren zunehmend körperlich hinfällig, war er doch geistig bis ins hohe Alter völlig präsent. Am 24. April 1995 verstarb Wolfgang Trillhaas in Göttingen in seinem 92. Lebensjahr.
3. Die Kombination theologischer Richtungen, die Trillhaas’ sachliche Position bestimmte, war höchst ungewöhnlich. Sie reichte, wie wir gesehen haben, von seinem Elternhaus und dem liberalen Nürnberger Pfarrer Christian Geyer und seiner damit in Zusammenhang stehenden lebenslangen Begeisterung für Schleiermacher bis zu Karl Barth und zum Erlanger Luthertum. Das zeugt von einer außerordentlichen Offenheit für die verschiedensten Anregungen, weckt
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freilich zugleich die Frage, ob und wie er es fertiggebracht hat, daraus eine in sich geschlossene eigene Linie zu entwickeln. Das Bindeglied war die frühe philosophische Orientierung an der Phänomenologie. Deren Losung „Zu den Sachen selbst“ schien ihm zunächst in gewisser Weise mit Barths Offenbarungstheologie verwandt zu sein4, und ebenso ist sie ihm mit der Erfahrungsorientierung liberaler Theologie und mit dem Realismus altlutherischer Ordnungstheologie kompatibel erschienen. Auf die Dauer hat ihn freilich Barths Abschottung gegen die historisch-kritische Interpretation der Bibel und der Dogmengeschichte sowie gegen Philosophie und Humanwissenschaften zunehmend befremdet.5 Doch entwickelte sich seine Abkehr von ihm, die am Ende zu einer ausgesprochen kritischen Haltung führen sollte, nur sehr allmählich und wurde auch nie zu einer vollständigen Gegnerschaft. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen hat Barth ihn besonders durch seine Menschlichkeit und seine unkonventionelle Art für sich eingenommen. Vor allem aber war es zweitens sein energisches Insistieren auf der Übernatürlichkeit göttlicher Offenbarung und die dementsprechende Bindung an die Schrift (Trillhaas hatte schon als Schüler den „Römerbrief“ gelesen), die ihn überzeugten. In diesem Punkt ist auch immer ein hohes Maß an Übereinstimmung geblieben. Drittens hatte ja die Barth’sche Theologie die Führungsrolle im Kirchenkampf, in dem Trillhaas auf der Seite der Bekennenden Kirche stand. Das betraf sowohl seine entschiedene Opposition gegen die „Gleichschaltung“ der Kirche mit der nationalsozialistischen Ideologie (einschließlich der Kompromisshaltung seines Erlanger Lehrers Althaus) als auch seine politische Position. Zwar setzte gerade an diesem Punkt schon früh Trillhaas’ Kritik an der Bekennenden Kirche ein, die ihren eigenen Mitgliedern gegenüber allzu sehr das autoritäre Verhalten des kirchenpolitischen Gegners kopierte.6 Doch zunächst und für lange Zeit blieb es bei „weithin unklarer Abkehr von der Theologie Karl Barths“, wie er später selbstkritisch bemerkt hat.7 Das sieht man gleich an der ersten großen theologischen Arbeit über Schleiermachers Predigt 1933. Einerseits zeigt das bloße Faktum intensiver Beschäftigung mit dem „Kirchenvater“ des modernen Protestantismus ein nach wie vor höchst lebendiges Interesse an liberalen Fragestellungen. Zudem stellt die Behandlung gerade dieses Themas forschungsgeschichtlich ein gar nicht zu überschätzendes Verdienst dar, da Schleiermachers Predigten bis dahin kaum untersucht worden waren und auch nach diesem Buch eigentlich nur eine einzige,
4 Trillhaas, Aufgehobene Vergangenheit (s. o. Anm. 1), 95. 5 Vgl. dazu Wolfgang Trillhaas: Karl Barth in Göttingen, in: Trillhaas, Perspektiven (s. o. Anm. 2), 171 – 184. 6 Vgl. ebd., 173 f. 7 Wolfgang Trillhaas: Schleiermachers Predigt, Berlin/New York ²1975, 7.
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dann freilich großartige Behandlung durch Emanuel Hirsch erfahren haben.8 Doch andererseits steht Trillhaas’ eigene Stellungnahme 1933 noch ganz im Banne Karl Barths. So gibt er dem Schlussteil die bezeichnende Überschrift „Natürliche Theologie und Wort Gottes“. Hier wird Schleiermacher vorgehalten, das spezifisch Christliche zur bloßen Vollendung der menschlichen Kultur zu erklären statt die kategoriale Unterschiedenheit der Offenbarung von ihr herauszuarbeiten. Dieser zentrale Topos der Theologie Barths wird dann allerdings inhaltlich mit der lutherischen Lehre von Gesetz und Evangelium gefüllt, sogar im Sinne von Werner Elerts strikter Trennung der beiden Größen. Die so genannte Dialektische Theologie galt eben damals – und noch weit in die Nachkriegszeit hinein – ganz allgemein als „reformatorisch“ und sogar Barth selber hat lange gebraucht, bis er sich über die gravierenden Differenzen seiner Auffassung zu Luther vollends klar geworden ist. Diesem Befund entspricht auch das Bild, das ein zwei Jahre später erschienenes Lehrbuch von Trillhaas, seine Predigtlehre, bietet.9 Sie konzentriert sich voll und ganz auf die „objektive“ Verkündigung des Wortes Gottes im Sinne einer strikten Orientierung an Schrift und Bekenntnis. Zwar sei nicht die Bibel, sondern Christus die Offenbarung,10 doch kann es andererseits, unter Berufung auf Barths Lehre von der dreifachen Gestalt des Wortes Gottes, geradezu heißen „Die Predigt als Wort Gottes“.11 Das Wort Gottes ist (auch als Predigt?) absolut souverän: Eine „Anknüpfung“ an beim Menschen vorgegebene Möglichkeiten des Verstehens, was „Wort Gottes“ meint – eine Frage, die damals von Emil Brunner und Paul Althaus aufgeworfen war und heiß diskutiert wurde – lehnt Trillhaas ganz im Sinne Barths rundheraus ab: „Gott hat geredet – das heißt: er hat angeknüpft.“12 Gegenüber der völkischen Ideologie ist auf strenge Schriftgemäßheit zu achten. Das bezieht sich ausdrücklich auch auf das Alte Testament, dessen Auslegung auf die Erfüllung der Weissagungen in Christus ausgerichtet werden müsse.13 Dabei werden historische und theologische Interpretation
8 9 10 11 12
Vgl. Emanuel Hirsch: Schleiermachers Christusglaube, Gütersloh 1968. Wolfgang Trillhaas: Evangelische Predigtlehre, München 1935, 51964. Vgl. ebd., 36. Ebd., Überschrift des §3. Ebd., 49. In der 5. Auflage bezeichnet er diese Fragestellung als überholt: Der Hörer habe immer schon eine Geschichte mit Gott. Auch die steile Gleichsetzung von Predigt und Wort Gottes macht einer differenzierteren Formulierung Platz: jetzt ist vom „Wort Gottes als Grund und Inhalt der Predigt“ die Rede. Ebd., 18. Vgl. auch ebd., 36. So kann Trillhaas jetzt auch die strikte Anwendung der historisch-kritischen Methode der Bibelauslegung fordern, wenngleich diese für den Weg vom Text zur Predigt nicht ausreiche. Was dann noch hinzutreten müsse – nur ja keine sogenannte pneumatische Methode! – wird freilich nicht recht klar. Vgl. ebd., 66 – 70. 13 Vgl. ebd., 98 – 104.
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schlicht gleichgesetzt: die christologische Auslegung des AT ist ebenso wie die Kanonizität des Kanons als Gegebenheit zu achten.14 Die volkskirchlichen Verhältnisse werden in dieser Predigtlehre als selbstverständlich vorausgesetzt, wie die Betonung der Parochialbindung zeigt.15 Doch rechnet Trillhaas mit der weitgehenden Erosion christlicher Glaubenstradition. Das zeigt sich daran, dass er Schleiermachers Unterscheidung zwischen Gemeinde- und Missionspredigt klar ablehnt.16 Überhaupt bleibt er bei allem Gewicht, das er auf die theologische Begründung legt, nicht beim Prinzipiellen stehen, sondern wendet große Sorgfalt der wirklichen Predigt zu, der das eigentliche Interesse des langjährigen Pfarrers gilt. Das zeigt sich etwa an der Betonung ihres seelsorgerlichen Charakters,17 oder im dritten Teil über die „Predigt als Rede“ in den Ausführungen über Deutlichkeit, Anschaulichkeit, Ordnung der Gedanken. Der angedeutete Wandel in Trillhaas’ theologischer Orientierung ist bald nach der Übernahme des Göttinger Ordinariats entschiedener geworden. Ein erstes Zeichen ist die Veröffentlichung der Grundzüge der Religionspsychologie (1946) und von Studien zur Religionssoziologie (1949), die nun auch nicht mehr bei Chr. Kaiser, dem Verlag der Barth-Schule, sondern bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen. Diese Hinwendung zu empirischen Studien ist natürlich vor dem Hintergrund der philosophischen Phänomenologie zu sehen. Zugleich tritt von nun an das Erbe der liberalen Theologie und des Erlanger Luthertums immer stärker in den Vordergrund. Dabei entfalten sich stärker als bisher seine vielfältigen außertheologischen Interessen, insbesondere dank der Kontakte zu Vertretern anderer Fakultäten, die sein Rektorat mit sich brachte, aber auch durch den Fachwechsel zur Systematischen Theologie. Hier sucht Trillhaas fortan auf breiter Front das Gespräch mit der neuzeitlichen Philosophie, nicht nur literarisch, sondern auch persönlich. Freundschaften wie die mit dem Göttinger Kollegen Helmuth Plessner und mit Wilhelm Weischedel, beide der Theologie gegenüber skeptisch, sind lebendiges Zeugnis dafür. Das erste größere Werk, an dem die neue Positionierung deutlich abzulesen ist, ist die Ethik.18 Sie ist als deskriptive Anthropologie konzipiert, d. h., sie will beschreiben, wie der Mensch zu sich selber kommt. Das ist eine deutliche Absage nicht nur an die lange währende Orientierung der evangelischen Ethik an Kant, sondern auch an ihre zu jener Zeit gängige christologische Begründung im Sinne Karl Barths, wie sie in der Lehre von der Königsherrschaft Christi zum Aus-
14 15 16 17 18
Vgl. ebd., 81, 85 und 92. Vgl. ebd., 134 f. Vgl. ebd., 51. Vgl. ebd., 133 – 140. Wolfgang Trillhaas: Ethik, Berlin 1959, 31970.
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druck kommt.19 Ihr wird die auf moderne demokratische Verhältnisse hin neuformulierte lutherische Zwei-Reiche-Lehre entgegengesetzt, also die klare Unterscheidung zwischen dem Gottesverhältnis im Glauben und dem unter dem Liebesgebot stehenden freien Handeln des Menschen mit Vernunft und Phantasie. Trillhaas unterscheidet hier zwischen einem bewahrenden und einem eschatologischen bzw. zukunftsorientierten Typus der Ethik, die er aber nicht als einander ausschließende Gegensätze ansieht. Es gilt nur, im politischen Bereich sowohl die altlutherische Obrigkeitsethik als auch utopische Tendenzen zu meiden. Bei alledem ist es ein pragmatischer Zug, der sich durch die ganze Ethik hindurchzieht. Man müsse immer zuerst, ohne irgendwelche dogmatischen Prämissen, unvoreingenommen die gegebene Situation in den Blick nehmen und sie erst dann auf ihre christliche Bedeutung hin interpretieren, ähnlich wie es im 19. Jahrhundert Grundtvig in Dänemark gesehen hat: zuerst der Mensch, dann der Christ. Theologisch spricht sich darin ein klares Übergewicht des Bezuges zur Schöpfungslehre aus. Diese Tendenz verstärkt sich im Zuge der Neubearbeitungen. Spielte in der 1. Auflage noch der Hinweis auf die Sünde eine große Rolle,20 so findet sich in der 3. Auflage das polemische Aperçu: „Die Sünde ist kein Thema, das die christliche Ethik immerzu zur Sprache bringen müsste, um dadurch sich als christlich auszuweisen.“21 In der materialen Ethik wehrt sich Trillhaas vehement gegen die zeitgenössische Tendenz zu einer Reduktion auf die Sozialethik. Er betont demgegenüber nicht nur das bleibende Recht der individuellen Dimension, sondern fordert die Berücksichtigung aller Lebensbereiche, insbesondere auch eine Natur- und Kulturethik ein (zwar bietet er noch keine ausgeführte Umweltethik, was man für die damalige Zeit auch noch nicht erwarten kann, bahnt ihr aber schon den Weg). Überhaupt liegt auf dem materialen Teil eindeutig der Akzent des ganzen Werkes; die Prinzipienlehre wird bewusst knapp gehalten. Man könnte das Ganze geradezu als ein Bilderbuch der Ethik bezeichnen. Der Vorrang der Konkretion kommt auch in der Sensibilität zum Ausdruck, mit der er von Auflage zu Auflage auf die gesellschaftlichen Veränderungen eingeht; Themen wie Sexualität (der er eine eigene Monografie gewidmet hat22), Apparatemedizin, der Begriff der Revolution sind nur herausgegriffene Beispiele. Dabei halten sich Liberalität und Konservatismus die Waage.
19 Vgl. dazu Wolfgang Trillhaas: Regnum Christi. Zur Geschichte der Idee im Protestantismus, in: Ders., Perspektiven, 85 – 104. 20 Trillhaas, Ethik (s. o. Anm. 18), 22f., 27. 21 Ebd., 37. 22 Wolfgang Trillhaas: Sexualethik, Göttingen 1969, ²1970.
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Das zweite größere systematische Werk ist die Dogmatik.23 Auch hier ist Trillhaas, wie bereits in der Ethik, um einen Ausgleich zwischen traditionellen und liberalen Aussagen bemüht. Die Dogmatik soll zugleich deskriptiv und kritisch sein. Deskriptiv ist sie als Darstellung „der in einer christlichen Kirchengesellschaft zu einer gegebenen Zeit geltenden Lehre“, wie Schleiermacher sich ausgedrückt hatte.24 Kritisch ist sie, indem sie die Fragen aufnimmt, die sich aus dem neuzeitlichen Wahrheitsbewusstsein ergeben. So kann er auf der einen Seite die Autorität des Dogmas als schlechthin fundamentalen Satz, als Axiom verstehen25 und die faktisch gegebene Normativität des Bekenntnisses als Kirche schaffend26, diejenige der Heiligen Schrift als Wort Gottes feststellen. Andererseits billigt er zugleich vorbehaltlos die historisch-kritische Interpretation von Bibel und Dogma. Nun haben Bekenntnis und Dogma natürlich ihr Maß an der Schrift. Deshalb lässt sich diese Position am besten an der Lehre von der Schrift verdeutlichen. Trillhaas rekurriert hier nicht allein auf Jesus Christus als die „Mitte der Schrift“, sondern hält zugleich an der Autorität des Kanons fest. Die Bibel sei Wort Gottes – aber Wort Gottes sei mehr als die Bibel, nämlich „der von Jesus Christus und der ersten Gemeinde her auf uns kommende Traditionsstrom“.27 Keinesfalls sei „Wort Gottes“ in dem äußerlichen Sinn einer Identifizierung mit vorliegenden Texten zu verstehen, sondern als deren verborgenes Innerstes, insofern es uns trifft, nämlich durch den Heiligen Geist.28 Diese Ausführungen zeigen, dass die Theologie für Trillhaas trotz der Abwehr einer Lehrautorität in katholischem Sinn und auch trotz mancher Kritik an Barth kirchliche Theologie bleiben soll. Das gilt trotz der überraschenden Entscheidung, die Lehre von der Kirche in einen bloßen Anhang zu verbannen. Darin kommt zwar eine gewisse Distanz zur Kirche zum Ausdruck, die Trillhaas mit dem Neuprotestantismus teilt, die aber unter keinen Umständen eine Entfremdung von der Kirche implizieren soll, wie sie etwa die Göttinger Religionsgeschichtliche Schule kennzeichnete. Auf diese Weise möchte Trillhaas die unterschiedlichen Erbteile seines theologischen Werdeganges, den Einfluss Karl Barths, Luther und die Erlanger Theologie sowie die Tradition der freien protestantischen Theologie, allen voran Schleiermacher, miteinander versöhnen. Das will er erreichen, indem er wie die philosophische Phänomenologie die Dinge so sieht, wie sie sind. Das gilt eben auch für Phänomene wie die Normativität von Schrift und Bekenntnis als kirchliche Gegebenheit. 23 24 25 26 27 28
Wolfgang Trillhaas: Dogmatik, Berlin 1962, 31972, 41980. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Der christliche Glaube, Berlin ²1830/31, § 19 Leitsatz. Vgl. Trillhaas, Dogmatik (s. o. Anm. 23), 3. Aufl., 43. Vgl. ebd., 47. Ebd., 68. Vgl. ebd., 69 und 74.
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Zu einem phänomenologischen Ansatz gehört schließlich auch, dass man das Christentum im Zusammenhang mit den anderen Religionen betrachtet. Das tut Trillhaas in seiner Religionsphilosophie.29 Diese ist kein theologisches Fach, denn sie muss von allen Glaubensvoraussetzungen und deshalb auch von aller Privilegierung des Christentums absehen.30 Das richtet sich insbesondere gegen die These Karl Barths, der christliche Glaube sei überhaupt keine Religion. Vielmehr gilt, dass jegliche Lebenspraxis, die von einer Gotteserfahrung inspiriert ist, als Religion bezeichnet werden muss. Das trifft auch für das Christentum zu. Lediglich die Gotteserfahrung selbst kann nicht Religion genannt werden – wiewohl sie von jeder Religion in Anspruch genommen wird.31 „[D]as Einmalige und Inkommensurable des christlichen Glaubens besteht nur auf dem Hintergrund des Kommensurablen.“32 Dieses Kommensurable wird durch den Bezug auf typische religiöse Phänomene näher beschrieben, freilich ohne dass der Verfasser auf die geschichtlich gegebenen positiven Religionen einginge. Die empirischen Religionswissenschaften stehen außerhalb der Betrachtung. Deshalb bleibt es trotz Berücksichtigung der religionsphänomenologischen Forschung im Grunde bei der idealistischen Sicht „der“ Religion. Deren Wesen wird nur sehr allgemein beschrieben als „etwas in der Tiefe, dem wir nicht ausweichen können“.33 Theologisch wird dieses „etwas“ als anthropologisches Phänomen geschildert und als „Gesetz“ dem Evangelium gegenübergestellt.34
4. Die Synthese von Barth, Erlanger Theologie und liberalen Bestrebungen bleibt widersprüchlich. Am deutlichsten zu sehen ist das an der Bibel „als“ Wort Gottes, das aber eben doch nicht mit ihr identifizierbar sein soll, und das überdies „mehr“ sein soll als die Bibel. Wenn dieses „Mehr“ der ganze Traditionsstrom sein soll, der von ihr ausgeht, dann könnte man das sogar im Sinn der aufklärerischen These von der Perfektibilität, einer im Lauf der Geschichte fortschreitenden Vervollkommnung, des Christentums verstehen, wenngleich Trillhaas dies mit Sicherheit nicht gemeint hat. Man kann es auch so ausdrücken: Das Verhältnis von wahrgenommener Wirklichkeit der Textbestände von Schrift und Bekenntnis zu deren von der Kirche behaupteten Normativität ist mit der bloßen Beschreibung dieser Normativität („sie sind nun einmal faktisch nor29 30 31 32 33 34
Wolfgang Trillhaas: Religionsphilosophie, Berlin/New York 1972. Vgl. Trillhaas, Religionsphilosophie (s. o. Anm. 29), 3. Vgl. ebd., 40 f. Ebd., 40. Ebd., 7. Trillhaas, Dogmatik (s. o. Anm. 23), 225 – 233.
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mativ“) nicht gelöst. Ebenso unklar ist m. E. das Verhältnis der Theologie zur Kirche. Auch die Religionsphilosophie bleibt im Grunde auf halbem Wege stehen. Zweifellos verdient das Bemühen Anerkennung, den zu jener Zeit in der deutschen Theologie verbreiteten Supranaturalismus dadurch zu durchbrechen, dass das Christentum ohne Umschweife als Religion bezeichnet wird. Aber das tut Karl Barth am Ende auch, insofern er das Christentum als einzige gerechtfertigte Religion bezeichnet. Mit ihm bleibt Trillhaas einig darin, dass alle Religion als Gesetz vom Evangelium unterschieden wird. Damit behält an dieser entscheidenden Stelle faktisch eben doch der dogmatische Gesichtspunkt – im Gewand der bloßen Beschreibung faktisch bestehender Normativität – die Oberhand. Wie problematisch das ist, lässt sich z. B. daran zeigen, dass die indische bhaktiReligion reiner göttlicher Barmherzigkeit sich gegen eine Klassifizierung als Gesetz sperrt. Dennoch darf über solcher aus einer inzwischen weiter fortgeschrittenen Debatte hervorgehenden Kritik die positive Leistung Trillhaas’ nicht in den Schatten treten. Man muss vielmehr sein Anliegen würdigen, in einer Zeit der immer deutlicher werdenden Schwachpunkte der Dialektischen Theologie an die ungelösten, von ihr verdrängten Probleme zu erinnern, welche die liberale Theologie hinterlassen hatte, ohne doch die bei den alten Liberalen verbreitete Tendenz zu einer Nivellierung des Widerständigen am christlichen Glauben in die Kultur wiederaufleben zu lassen. Das wollte Trillhaas mit seiner zugleich kirchlichen und kritischen Theologie erreichen. Mit diesem Anliegen hat er eine Aufgabe formuliert, die der evangelischen Theologie nach dem Zweiten Weltkrieg mit großer Dringlichkeit gestellt und bis heute keineswegs abgegolten ist. Trillhaas kommt das Verdienst zu, in seiner Zeit als einer von wenigen diese Aufgabe erkannt und dafür Pionierarbeit geleistet zu haben. Besonders ist hier seine Vermittlung Schleiermachers zu nennen. Etliche seiner Schüler wie HansJoachim Birkner, Hans-Walter Schütte, Hermann Fischer, die später Lehrstühle einnahmen, wurden so zu Initiatoren der in den 1950er Jahren einsetzenden Schleiermacher-Renaissance. Auch eine Reihe anderer bekannter Theologen wie Dietrich Rössler, Friedrich Wintzer, Trutz Rendtorff und Herbert Donner verdanken ihm in dieser Hinsicht weiterführende Anregungen. So ist Trillhaas, darin durchaus vergleichbar dem damals „wiederentdeckten“ Paul Tillich, zu einem wichtigen Anreger für die neue Hinwendung der Theologie zu den Fragen und Problemen der Neuzeit geworden. Er war ein Lehrer, der nicht den theologischen Moden seiner Zeit folgte, sondern einen eigenen Weg zu gehen versuchte, und das mit einer ungewöhnlich weiten Perspektive und in lebendiger, anschaulicher und humorvoller Weise. Das verdient nach wie vor dankbare Anerkennung. Sie ist ihm zu seinen Lebzeiten auch öffentlich zuteil geworden,
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unter anderem durch die Verleihung der theologischen Ehrendoktorwürde der Universitäten Helsinki und Wien.
Primärtexte Wolfgang Trillhaas: Evangelische Predigtlehre, München 1935, 51964. –: Ethik, Berlin 1959, 31970. –: Aufgehobene Vergangenheit. Aus meinem Leben, Göttingen 1976.
Sekundärtexte Hans-Martin Müller: Homiletik. Eine evangelische Predigtlehre, Berlin/New York 1996, 146 – 148. Hermann Fischer: Protestantische Theologie im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2002, 135 – 137. Corinna Dahlgrün: Art. Trillhaas, Wolfgang (1903 – 1995), in: TRE 34 (2002), 89 – 91. Dietz Lange: Ethik in evangelischer Perspektive, Göttingen ²2002, 86 – 91.
Christoph Elsas
Carsten Colpe (1929 – 2009)
Prof. Dr. phil. Dr. theol. Carsten Colpe ist am 24. November 2009 an seinem letzten Wirkungsort Berlin-Dahlem verstorben und auf dem dortigen Friedhof der St. Annen Kirche beerdigt.1 Er wurde am 19. Juli 1929 in Dresden geboren, empfand aber Bremerhaven und Göttingen als seine beiden Heimatstädte. In Bremerhaven ging er 1935 – 39 in die Volksschule und dann, nachdem er infolge der Kriegsereignisse ab 1939 in verschiedenen Städten die Oberschule besucht hatte, wieder 1945 – 48 auf das städtische (Wilhelm Raabe) Gymnasium. Er sah es als für seine späteren Geisteshaltungen typisch an, dass er in jener Grundschulzeit auf dem Nachhauseweg sehr oft von Mitschülern verprügelt wurde: Der Grund sei wohl einfach der gewesen, dass er dermaßen schüchtern, friedfertig und unauffällig daherkam, dass es anders veranlagte Mitschüler zum Zorn reizte – doch habe er an der Gewohnheit festgehalten, überall nur friedlich daherzukommen, auch wenn das an ihm oft belächelt wurde. Dann zog die Familie öfters um, da sein Vater, der Nervenarzt Dr. med. Dr. jur. Carl Colpe, den Rang, den er zuletzt im 1. Weltkrieg hatte, reaktivieren und zugleich in den eines Militärarztes umwandeln ließ und zu Kriegsbeginn nach Hannover versetzt wurde. Vor der Rückkehr nach Bremerhaven folgten Posen und Stade an der Elbe. Aber im Rückblick war es das vom Vater als eifrigem Humanisten ausgesuchte humanistische Kaiser Wilhelm Gymnasium Hannover, das ihn mit dem Lesen von Büchern, das den Unterricht bestimmte, zum Vielleser und 1 Zu seinem Lebenslauf und wissenschaftlichen Werdegang im Folgenden vgl. den Katalog der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen (Hg.): „Carsten Colpe. Leben und Werk des Religionswissenschaftlers. Eine Ausstellung der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen“, Bremen 2007. Ich stütze mich ferner auf ergänzende Unterlagen aus seinem Nachlass. Ich widme diesen Beitrag, den ich kurz vor seinem fünften Todestag schreibe, meinen Kollegen Hans-Martin Barth und Rainer Kessler anlässlich ihres in diese Zeit fallenden 75. bzw. 70. Geburtstags: Sie waren für mich als Systematischer Theologe bzw. Alttestamentler im Marburger Fachbereich Evangelische Theologie von besonderer Bedeutung bei meinen Weiterentwicklungen der Ansätze meines verehrten Lehrers in den Marburger „Internationalen Rudolf-Otto-Symposien zum interreligiösen Dialog“ bzw. interdisziplinären Ringvorlesungen „Sterben, Tod und Trauer in den Religionen und Kulturen der Welt“.
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Vielwisser werden ließ. Denn schon damals fand er sein Interesse und seine Stärke darin, möglichst viel Zusätzliches zum besseren Verständnis zu lesen. Zweimal wöchentlich zu Jungvolk und Hitlerjugend anzutreten, war schon deshalb eine Qual, ebenso das durch Schulbesuch in Stade unterbrochene Jahr paramilitärischen Dienstes bei Übungen des „Volkssturms“ zum Schutz von Dörfern bis 1. Mai 1945. Entscheidend für seine Berufswahl wurde, dass der Vater auf dem Recht bestand, dass auf den vom wissensdurstigen Sohn jeweils zu besuchenden Gymnasien außer den üblichen Sprachen einschließlich Latein auch Griechischund Hebräisch-Unterricht erteilt wurde. So erhielt er als Einziger des Jahrgangs darin Unterricht und mit dem Abitur in Bremerhaven zugleich Graecum und Hebraicum. Daneben wurde seine Mitgliedschaft in einem der literarischen Zirkel der Stadt prägend, der sich mit den neuplatonischen Ansichten von Pastor Raschke befasste, der als Pfarrer der Bürgermeister-Smidt-Gedächtniskirche über das Licht so gut predigen konnte, dass alle anderen Kirchen leer blieben, wenn er das tat. Nur die rebellischen Primaner Colpe und Helmut Gätje – später Professor für Semitistik und Arabistik in Saarbrücken mit der islamischen Philosophie als Hauptgebiet – rebellierten dagegen antiplatonisch-existenzialistisch mit der Glorifizierung Kierkegaards. Derart vorbereitet begann Carsten Colpe sein Studium der Evangelischen Theologie, denn sie versprach das vielseitigste Studium der Kultur- und Geisteswissenschaften. Man konnte die ganze Geschichte von der Kirchengeschichte aus haben, konnte über die gewohnten Dinge hinaus mithilfe des Hebräischen sich auch in die Orientalistik bewegen, konnte in Literaturen schwelgen und alles in der Philosophie vertiefen. Das Sommersemester 1948 führte ihn nach Mainz, wo er F. Horst (AT), W. Holsten (RW), E. Schweizer (NT), W. Völker (KG) und F. Delekat (ST) zu seinen Lehrern zählte. Nach diesem Ausflug in die Ferne wurde Göttingen als niedersächsische Universitätsstadt seine zweite Heimat. Hier machte er an der Georg-August-Universität nach dem Studium der Evangelischen Theologie vom WS 1948/49 bis SoSe 1951 sein Fakultätsexamen und wurde nach dem zusätzlichen Studium der „Orientalischen Philologie und Religionsgeschichte“ und Philosophie vom WS 1949/50 bis SoSe 1954 zum Dr. phil. promoviert. Seine wichtigsten Lehrer waren hier K. Galling und W. Zimmerli (AT), J. Jeremias und E. Käsemann (NT), H. Dörries und E. Wolf (KG), F. Gogarten und W. Trillhaas (ST), dazu W. Hinz (Iranistik), O. Pritsak (Turkologie, Islamkunde), H. H. Schaeder (Iranistik, Semitistik), W. von Soden (Akkadistik), S. Schott (Ägyptologie), J. Spiegel (Koptologie) sowie N. Hartmann, B. Liebrucks, J. Klein, G. Misch und K. Stavenhagen (Philosophie). Im Rückblick war für Colpe in dieser Göttinger Studienzeit Hans Heinrich Schaeder der ihn prägende Gelehrte. Dass er schon alle theologischen Sprachen
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gelernt hatte, half ihm, die Religionsgeschichte in Angriff zu nehmen. Was konnte ihm Besseres passieren, meinte er, als dass nach dem Mainzer Semester Theologie dieser Orientalistik-Professor Schaeder im WS 1948/49 eine publice angekündigte Vorlesung „Geschichte Asiens im Überblick“ hielt? Und dass er im WS 1949/50 Arabische Grammatik I und Syrische Grammatik ankündigte? Schaeder hatte seine Dissertation über den islamischen Mystiker Hasan von Basra und dessen geistige Vorgeschichte in Semitistik eingereicht, sich für Iranistik habilitiert und nach Professuren in Königsberg, Leipzig und Berlin 1945 seine Lehrtätigkeit in Göttingen begonnen. Auf Colpe übte er die Faszination des Polyhistors aus, der schlechterdings „alles“ wusste und im Unterricht zu 95 % „alles“ abfragte, und durchaus nicht nur zum Thema der Lehrveranstaltung, um immer wieder festzustellen, was seine Studenten alles nicht wussten. Colpe meinte, er habe dabei enorm viel gelernt, und zwar ohne Angst, obwohl Schaeder beim Reden oft seine Brille auf den Tisch geschmettert und den Studenten zugerufen habe: „Ihr müsst Angst haben, dann lernt Ihr am meisten!“ Schaeders größter Wunsch war, einen Schüler herauszustellen, dem man anmerkte, dass er von ihm komme – und in diese Rolle wuchs Colpe mehr und mehr herein. Jahrzehnte später noch erinnerte sich der jüngere Kommilitone und spätere Göttinger Philosophie-Professor Günther Patzig an Colpe als Schaedersches „Genie vom Dienst“. Colpe selbst fühlte sich, je älter er wurde, geistig-wissenschaftlich als Schaeders Nachfolger in dem, was beide universalhistorisch wollten. Durch Schaeder ist er auch nicht nur auf seine beruflichen Wege als Orientalist und Religionsgeschichtler gekommen, sondern außerdem in seinen philosophischen Interessen angeregt und sogar mit auf den Weg zur neutestamentlichen Dissertation und zur Habilitation – beides 1960 in Göttingen – gebracht worden, auch wenn Schaeder schon 1957 mit 61 Jahren verstarb. Carsten Colpes philologische Promotion erfolgte am 2. 2. 1955 mit der Dissertation „Der Manichäismus in der arabischen Überlieferung“ – die leider nur in wenigen Exemplaren maschinenschriftlich und mit Vorarbeiten für eine Neuauflage vorliegt – in den Fächern Semitische Philologie, Iranische Philologie und Philosophie. Wechselnde Anstellungen in Göttingen bei der Akademie der Wissenschaften, den Vereinigten Theologischen Seminaren und als von der Deutschen Forschungsgemeinschaft beauftragter Editor der konservierten Papyrusblätter des koptisch-manichäischen „Synaxeis“-Codex gingen bis Ende 1957 seiner dreijährigen Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent am „Institut für spätjüdische Religionsgeschichte“ voraus. Sein theologischer Doktorvater Joachim Jeremias, Neutestamentler und Spezialist für palästinensisches Judentum, hatte dieses Institut 1950 angesichts der Bedeutung der Qumran-Funde gegründet. Am Schluss dieser Zeit standen am 24. 2. 1960 die Promotion zum Dr. theol. mit der Dissertation „Die religionsgeschichtliche Schule. Darstellung und
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Kritik ihres Bildes vom gnostischen Erlösermythus“2 sowie am 16. 5. 1960 die Antrittsvorlesung zur Habilitation für das Fach „Religionsgeschichte mit besonderer Berücksichtigung der Umwelt des Neuen Testaments.“ Nach einem Zwischenspiel an der Evangelisch-Theologischen Fakultät in Hamburg – 1. 10. 1960 Verleihung der venia legendi für „Neues Testament und spätantike Religionsgeschichte“ durch die Hansische Universität Hamburg und WS 1960/61 bis WS 1961/62 Lehrtätigkeit – erfolgte am 23. 1. 1962 der Ruf auf einen Lehrstuhl für „Allgemeine Religionsgeschichte“ in Göttingen. Auch wenn nur Tage später ein gleichartiger Ruf für „Neues Testament und spätantike Religionsgeschichte“ in Hamburg folgte, lehnte er diesen ab und nahm den nach Göttingen am 18. 4. 1962 an. Beide Rufe ergingen, obwohl Colpe in Hamburg Aufsehen erregt hatte, weil er Bundestagskandidat der Deutschen Friedensunion war, mit der er weg vom kalten Krieg zum Frieden kommen wollte, die jedoch als eine von der DDR gesteuerte und geförderte Partei galt. Erst als Colpe den Parteivorstand fragte, ob an diesem Vorwurf „etwas dran“ sei, und die Auskunft erhielt, das sei doch allgemein bekannt, auch wenn man es natürlich offiziell bestreiten müsse, trat er von seiner Kandidatur zurück. All dieses brachte er in die Tätigkeit auch als Ephorus des Theologischen Stifts Göttingen ein. Vom SoSe 1963 bis SoSe 1964 war Colpe Visiting Professor for the History of Religions an der Yale University, New Haven (USA), lehnte aber die anschließende ehrenvolle Einladung auf eine Dauer-Professur für dieses Fach (Nachfolge E.R. Goodenough) ab und blieb auf der Göttinger Professur, ab 1964 auch als kooptiertes Mitglied der Philosophischen Fakultät, bis er 1968 einen Ruf auf den Lehrstuhl für Iranische Philologie an der Freien Universität Berlin (Nachfolge O. Hansen) annahm. Nachdem er im SoSe 1968 schon in Göttingen mit einer um ihn organisierten studentischen Gruppe gegen die von der Großen Koalition geplanten Notstandsgesetze eingetreten war, begab er sich damit ins Zentrum der Studentenrevolution und Hochschulreform. Wissenschaftlich behielt er beim Wechsel zum SoSe 1969 außer der lebenslangen venia für Neues Testament und Religionsgeschichte die 1964 übernommene Mitherausgeberschaft des „Reallexikons für Antike und Christentum“ bis 2001 – von Bd. 6 bis Bd. 19 – bei. Von seinem verstorbenen Vorgänger übernahm er außer der Institutsleitung die Herausgabe des Wörterbuch-Teils „Altiranische und zoroastrische Mythologie“.3 Ihn reizte an der Stelle, dass sich von der Iranistik aus am ehesten universalgeschichtliche Entwürfe konzipieren lassen. Davon handelten schließlich über fünf Semester 2 Carsten Colpe: Die religionsgeschichtliche Schule. Darstellung und Kritik ihres Bildes vom gnostischen Erlösermythus, Göttingen 1961. 3 Hans Walter Haußig (Hg.): Wörterbuch der Mythologie 4: Götter und Mythen der kaukasischen und iranischen Völker, Stuttgart 1986, 261 – 487. 40 % der Seiten stammen von Colpe selbst.
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hin seine auf Kassette aufgenommenen Vorlesungen. Am Anfang aber stand die Einarbeitung in die Lehrtätigkeit in möglichst vielen Zweigen der Iranistik und der regelmäßige Austausch des eigenen Ansatzes mit dem religionssoziologisch-geschichtsphilosophischen des judaistischen Kollegen Jacob Taubes und dem psychoanalytisch-religionsphilosophischen des religionswissenschaftlichen Kollegen Klaus Heinrich im Rahmen gemeinsamer Oberseminare. Allerdings ging das wissenschaftlich und hochschulreformerisch Gewünschte und das an Zusammenarbeit situativ menschlich Mögliche so weit auseinander, dass der neue Professor in der Iranistik unglücklich war und angesichts starker Einschränkung seiner religionswissenschaftlichen Lehre an der Freien Universität damit an die Kirchliche Hochschule in Berlin-Zehlendorf auswich. Außerhalb Berlins verwirklichte sich Colpe in dieser Zeit als Religionsgeschichtler vor allem durch enge Arbeitskontakte mit Göttingen sowie Mitherausgeberschaft nicht mehr nur des RAC, sondern auch der renommierten Reihe „Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten“ (1969 – 87) und des „Handbuchs der Religionsgeschichte“ (1971 – 75). Und als 1971 die Universität Bremen neu gegründet wurde, nahm er die Mühen auf sich, dort ab 1973 seine Vorstellungen als berufenes Mitglied der Planungskommission für den Studiengang Religionswissenschaft/Religionspädagogik einzubringen, der auftragsgemäß auf allgemeinchristlicher Grundlage mit religionswissenschaftlicher Methode und Theorie zu etablieren war. In der maßgeblich auf Colpe zurückgehenden Verbindung solcher Religionslehrerausbildung mit einem Diplomstudium der Religionswissenschaft kam es zu einem Erfolgsmodell mit inzwischen über 500 eingeschriebenen Studierenden und für solche Forschung und Lehre vermachte er testamentarisch auch seine exquisite Privatbibliothek. Für sich persönlich nahm er gerne 1974 für Februar/März eine Gastprofessur für Religionsgeschichte an der Universität Chicago wahr, ebenso für Oktober bis Dezember an der British Academy in London sowie vom Januar bis März 1975 die Haskell Lectures an der University of Chicago zum Thema „Five Stages in the History of Syncretism“.4 Die ihm im April 1974 angetragene renommierte Dauer-Professur an dieser Universität (Nachfolge M. Eliade) aber lehnte er 1975 ab, als ihm die internationale Anerkennung ermöglichte, sich innerhalb der FU Berlin umsetzen zu lassen: zur Lehrtätigkeit als Professor für Allgemeine Religionsgeschichte und Historische Theologie in einer gemeinsamen Wissenschaftlichen Einrichtung mit den Fächern Evangelische Theologie und Judaistik. Diese Stelle nahm Colpe vom SoSe 1975 bis zur Emeritierung mit 68 Jahren nach dem SoSe 1997 wahr, auch wenn er immer stärker gegen die schon 1981 beim 52-Jährigen beobachtete 4 Zur geplanten Veröffentlichung kam es leider nicht, stattdessen nur zu Carsten Colpe: Art. Syncretism, in: ER 12 (1987), 218 – 227.
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Parkinson-Krankheit ankämpfen musste. In diesen Kontexten war er Mitherausgeber der 3. Auflage des Evangelischen Kirchenlexikons (ab 1982) und der Berliner Theologischen Zeitschrift (ab 1984). Er gab mit dem Heidelberger Neutestamentler Klaus Berger ein „Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament“ heraus5, publizierte bei Peter von der Osten Sackens „Institut Kirche und Judentum“ in Berlin seine Studien von Traditionszusammenhängen vom Judentum bis zum Islam6 und traf sich lange vor dem Fall der Mauer bis darüber hinaus monatlich in Ostberliner Privatwohnungen mit dem KoptischGnostischen Arbeitskreis von Hans Martin Schenke, Neutestamentler und Koptologe an der Humboldt-Universität. Seit Juni 1989 war er auch korrespondierendes Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Anlässlich seines 60. Geburtstags in diesem Jahr erhielt er seine erste Festschrift7 samt Ankündigung einer Zusammenstellung seiner „Kleinen Schriften“8, anlässlich seines 65. Geburtstags seine zweite Festschrift9, anlässlich seines 70. eine intern verbreitete Dankesgabe von Schülerinnen und Schülern10 und anlässlich seines 80. ein Symposion „Synkretismus: Religion in der Globalisierung“ in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, dessen Dokumentation dann leider – schon zusammen mit Nachrufen auf den wenig später Verstorbenen und Besprechungen seines über 1200 Seiten starken abschließenden religionsgeschichtlichen Doppelwerks11 – eine posthume Ehrengabe wurde.12 Wissenschaftsgeschichtliche Studien zur Religionsforschung haben inzwischen unter der Überschrift „Religionsgeschichte zwischen Universalgeschichte 5 Klaus Berger und Carsten Colpe (Hg.): Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament, Göttingen 1987. 6 Carsten Colpe: Das Siegel der Propheten. Historische Beziehungen zwischen Judentum, Judenchristentum, Heidentum und frühem Islam, Berlin 1990. 7 Christoph Elsas/Hans G. Kippenberg (Hg.): Loyalitätskonflikte in der Religionsgeschichte. FS Carsten Colpe, Würzburg 1990. 8 Renate Haffke et al. (Hg.): Carsten Colpe – Kleine Schriften, Berlin 1996. Bd. 1: Zur gesellschaftlichen Verantwortung des Wissenschaftlers und der wissenschaftlichen Ausbildung/ Zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Religion; Bd. 2: Zu den kulturellen und politischen Verflechtungen der monotheistischen Religionen/Materialien zu einer neuen Komparatistik; Bd. 3: Menschensohn und Gottessohn; Bd. 4: Zur Frühgeschichte von Juden- und Christentum; Bd. 5: Hellenistica/Iranica; Bd. 6: Gnostica und Manichaica. 9 Christoph Elsas et al. (Hg.): Tradition und Translation: Zum Problem der interkulturellen Übersetzbarkeit religiöser Phänomene. FS Carsten Colpe, Berlin/New York 1994. 10 Bogdan Burtea/Daniela Burtea/Angelika-Benedicta Hirsch (Hg.): Kunst in den Religionen – Religion in den Künsten. FS Carsten Colpe, Berlin 1999. 11 Carsten Colpe: Iranier – Aramäer – Hebräer – Hellenen. Iranische Religionen und ihre Westbeziehungen. Einzelstudien und Versuch einer Zusammenschau, Tübingen 2003 und ders., Griechen – Byzantiner – Semiten – Muslime. Hellenistische Religionen und die westöstliche Enthellenisierung. Phänomenologie und philologische Hauptkapitel, Tübingen 2008. 12 Vgl. hierzu die Themenhefte „Synkretismus/Theologie der Religionen“, ZMR 94.1 und 94.2 (2010), 3 – 64, 131 – 139 und 149 f. Hier und in den drei Festschriften finden sich weitere Hinweise auf Colpes Publikationen.
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und Synkretismus“ die Hellenismus-Forschungen von Schaeder und Colpe thematisiert.13 Manfred Bauschulte will damit Widersprüche zeigen, „die für den Schüler eines Universalgelehrten wie Schaeder an jenen Stellen auftreten, wo bereits dieser mit seinen Ansätzen und Methoden gescheitert ist“ und sich „in den übersteigerten Ansprüchen eines okzidentalen Historismus verfangen hat.“14 Schaeder habe in den ersten Jahren der Weimarer Republik den einflussreichen preußischen Kulturpolitiker Carl Heinrich Becker kennen gelernt, mit dem er sich intensiv über das Verhältnis von Abendland und Morgenland und das Erbe der Antike im Orient austauschte. Dabei sei er „auf ein religionsgeschichtliches Grundtableau gestoßen, das fortan in unterschiedlichen Ausprägungen nicht nur seine Studien leiten, sondern bis in die Arbeiten seines Schülers Colpe Jahrzehnte lang weiterwirken wird.“15 Denn er übernahm Beckers Grundannahmen, „dass dem abendländischen und dem morgenländischen Mittelalter zwei Überlieferungen gemeinsam sind: die hellenistische und die christliche […].“16 Auf den zweiten Blick zeigt sich, „dass für den historischen Theologen Colpe wie für den Universalgelehrten Schaeder der zentrale okzidentale Anspruch bestehen bleibt, der da lautet: das neutestamentliche Christentum bildet ‚die unbegreifbare und unvergleichliche Mitte‘ des Hellenismus.“17 Vierzig Jahre nachdem ihm Christel Matthias Schroeder, der Begründer der monumentalen Reihe „Die Religionen der Menschheit“, 1960 deren geplanten Band 17 „Die Religionen des Hellenismus in Griechenland und Vorderasien bis zum Ausgang der Antike“ anvertraut hatte, musste Colpe diesen ihm so wichtigen Auftrag zurückgeben. Sein Parkinson-Zustand hatte sich radikal verschlechtert, nur eine Operation zur „Tiefen-Hirnstimulation“ im Folgejahr ließ ihn wieder teilweise arbeitsfähig werden. Ungeheuer diszipliniert hatte er nach seiner Emeritierung die beiden Bände „Das Corpus Hermeticum Deutsch“18 im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften mit Jens Holzhausen herausgegeben – während er den Kommentarband nicht schreiben konnte – und in seinem Hans Jonas gewidmeten großen Werk „Weltdeutungen im Widerstreit“ Inhaltsstudien zu den ebenfalls dem Hellenismus verbundenen Gruppen „Lichtgedanke – Metaphysik – Erhellung“ und „Sternenzuflucht – Astrologie – 13 Vgl. Manfred Bauschulte: Straßenbahnhaltestellen der Aufklärung. Studien zur Religionsforschung 1945 – 1989, Marburg 2012, 249 – 280. Vgl. ferner die Rezension von Michael Stausberg in: ZfR 22 (2014), 125 – 128. 14 Bauschulte, Straßenbahnhaltestellen (s. o. Anm. 13), 250. 15 Ebd., 251. 16 Ebd. 17 Ebd., 272. 18 Carsten Colpe, Das Corpus Hermeticum Deutsch, Stuttgart-Bad Cannstatt 1997.
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Ergebung“ vorgelegt.19 Für ihn waren das bewusst Vorarbeiten oder Entlastungsbände für „das“ Hellenismus-Buch, ebenso wie die noch 2003 und 2008 von ihm selbst publizierten Studien zu Iraniern und Griechen20 sowie zu den koptisch-gnostischen Schriften, die als nahezu fertiggestelltes Buch posthum 2011 erschienen.21 Zwar beleuchten die Einzelstudien des Doppelwerks 2003/2008 für Bauschulte „den Orient nicht mehr im Licht des Niedergangs oder der Dekadenz“, doch verwende Colpe beim zweiten Band „als Untertitel einen Terminus, der in ähnliche Richtung“ weise: “Hellenistische Religionen und die west-östliche Enthellenisierung.“22 Während es hier für Bauschulte bei einem weitmaschigen „Netzwerk von Schlingen um die religiösen Einstellungen und kulturellen Errungenschaften des Okzidents“ geht, sieht er „Fluchtpunkte einer eigenen Identität“ von Colpe „in seinen Stellungnahmen zum ‚Problem Islam‘ in den 1980er und 1990er Jahren […]: Einerseits wirbt er um den Islam, um den ‚Fremden‘, andererseits sucht er sich von ihm abzugrenzen. Dabei bedient er sich zur Abgrenzung historischer Thesen okzidentalen Zuschnitts […]“.„Religionsforschung, die so grosso modo operiert, bewegt sich, auch wenn sie sich auf philologische Detailarbeit stützt, in den Deutungs- und Geschichtskonzepten eines übersteigerten Historismus“23. Bei Schaeder und Colpe scheine es manchmal „sogar so, als sei der Blick von unten der Blick des Fremden, der abgewehrt oder ausgegrenzt werden soll. […] Eine Zivilisationsanalyse im Vorraum, die ‚von unten nach oben‘ operiert, könnte allerdings dann von Hans Heinrich Schaeder und Carsten Colpe einiges lernen.“24 Colpe teilte in der Tat Schaeders universalhistorisches Wollen, stellte allerdings dessen Ansatz „von oben nach unten“ auf vielfache Weise Analysen „von unten nach oben“ korrigierend zur Seite, so dass man wirklich von ihm viel lernen konnte und kann. Zwar kamen Schaeder und Colpe beide aus humanistisch-bildungsbürgerlichen Kreisen, doch schon die Erfahrungen der Auflösung der Kultur im nationalsozialistischen Größenwahn ließ Schaeder 1955 zum Katholizismus konvertieren und Colpe 1958 – 63 als Mitglied der politischen Kampagne „Kampf dem Atomtod“ gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik unter F. J. Strauß eintreten. Hier arbeitete er mit Helmut Gollwitzer zusammen, der aus der Bekennenden Kirche kam und seit 1957 als Professor für 19 20 21 22 23 24
Vgl. Carsten Colpe., Weltdeutungen im Widerstreit, Berlin/New York 1999, 45 – 180. Colpe, Iranier/Griechen (s. o. Anm. 11). Einleitung in die Schriften aus Nag Hammadi, Münster 2011. Bauschulte, Straßenbahnhaltestellen (s. o. Anm. 13), 275. Ebd., 277 f. und 279 f. Vgl. auch Carsten Colpe: Problem Islam, Weinheim 21994. Ebd., 280. Die von Baumschulte selbst zitierten Passagen bei Siegfried Krakauer: Geschichte – Vor den letzten Dingen, Frankfurt a.M. 1971, 123 und 191.
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Evangelische Theologie an der Freien Universität Berlin eine Galionsfigur des christlich-marxistischen Dialogs war. Im Jahr seiner Berufung als Iranist nach Berlin 1968 arbeitet er gemeinsam mit Gollwitzer im Komitee gegen das SchahRegime mit, 1976 – 1980 engagierte er sich als Mitgründer des Iran-Komitees bis zur und während der „Islamischen Revolution“ Khomeinis für die Einhaltung der Freiheiten – kritisch gegen das alte wie das neue „Oben“. Zu alledem gehörte viel Dialog, der aus einem okzidentalen bildungsbürgerlichen Elfenbeinturm herausführte – er gab diese Komponente von Humanismus nicht auf, aber er erweiterte sie, auch indem er notfalls neue Gewichtungen vornahm. In Berlin untersuchte er, induktiv von aktueller Unterdrückung ausgehend, das Verhältnis von Herrschaft und Religion im Iran jetzt und einst und war sich als Universalgelehrter nicht zu schade für die Leitung eines interdisziplinären Projektes „Zur Wahrung der religiösen und kulturellen Identität im Prozeß der Integration von deutschen und türkischen Bewohnern Berlins“ (1979 – 81), zu dem monatliche Gesprächsrunden von Vertretern verschiedenartiger Moschee- und Kirchengemeinden gehörten.25 Im kontinuierlichen und weit über die Projektdauer weitergeführten Kontakt auch mit als „fundamentalistisch“ eingestuften islamischen Kreisen, der auf Respekt vor der Andersartigkeit gründete, wagte er sich aus bereitliegenden Schemata hinaus und setzte sich doch zugleich vor „Säkularen“ und „Religiösen“ jeder Art klar für die Menschenrechte ein – in der Form, wie sie nach leidvollen Erfahrungen „im Westen“ formuliert worden waren. Entsprechendes Eintreten gegen Unterdrückung und gleichzeitige Verringerung von Ängsten möglichst bei allen Konfliktparteien durch sachbezogene Information bestimmten seine Stellungnahmen angesichts der Rushdie-KhomeiniAffäre 1988/89 und der Debatten im „Kopftuchstreit“26, um das Verständnis von Prophetentum27 und um den „Heiligen Krieg“ im Kontext des Zweiten Golfkriegs 1990/91.28 1979 hat Colpe im Nachwort seines Aufsatzbandes „Theologie, Ideologie, Religionswissenschaft“29 nach dem Subjekt religionsgeschichtlicher Forschung gefragt.30 Seine Beiträge dürften zeigen, dass Religionsgeschichte exemplarisch am Christentum studiert werden kann, wenn seine Kontakte mit anderen Religionen und Kulturen als untersuchenswerte Gegenstände einbezogen werden. 25 Vgl. Christoph Elsas (Hg.), Identität. Veränderungen kultureller Eigenarten im Zusammenleben von Türken und Deutschen, Hamburg 1983. 26 Vgl. Colpe, Problem (s. o. Anm. 29). 27 Vgl. Carsten Colpe: Das Siegel der Propheten. Historische Beziehungen zwischen Judentum, Judenchristentum und frühem Islam, Berlin 1990. 28 Vgl. Carsten Colpe: Der Heilige Krieg. Benennung und Wirklichkeit, Begründung und Widerstreit, Bodenheim 1994. 29 Vgl. Carsten Colpe: Theologie, Ideologie, Religionswissenschaft. Demonstrationen ihrer Unterscheidung, München 1980. 30 Vgl. ebd, 289 – 298.
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Und alle Religionen sind als kulturgeschichtliche Phänomene für Theologen als solche interessant, weil sie Teil des menschlichen Zusammenlebens vor Gott sind, heute innerhalb des Nord-Süd-Konflikts.31 Der Religionsgeschichtler muss dabei von Apologetik absehen, auch wenn er durchaus persönlich konfessionell gebunden und auch Mitglied einer theologischen Fakultät sein kann, da bei gleichem Reflexionsstand andere Positionen um nichts objektiver sind.32 Die Aussagen über Diskontinuität des Christentums gegenüber den außerchristlichen Religionen gelten religionsgeschichtlich für das Verhältnis jeder Religion gegenüber anderen, wobei nur der selbst christlich verankerte Religionsgeschichtler das ihm wichtige Verhältnis zum Beispiel nimmt. Dass für die Konfrontation des Christentums mit heutigen Religionen nicht Modelle aus der Entstehungszeit des Christentums benutzbar sind, betrifft die religionssoziologische Differenz des noch nicht gesellschaftlich explizierten und des institutionalisierten Christentums, nicht aber eine Differenz zum impliziten Gehalt der Meister-Jünger-Beziehungen, was theologische Differenz beinhaltete.33 Vielmehr könnte eine religionsgeschichtliche Betrachtung bemüht sein, den jeweils zeitgemäßen Ausdruck der gleichen Botschaft in der Konfrontation u. a. mit anderen Religionen durch Erhellung der Zeit, gemäß derer formuliert wird, herauszuarbeiten. Dem entsprechen Colpes Überlegungen, die Religionsgeschichte durch Formalisierung der historischen Kategorien als auf gleicher Ebene mit der abendländischen Tradition indirekt relevant in den Hintergrund systematischtheologischer Aussagen stellen zu können.34 Wenn Gnosis als geschichtsfremdes Verhalten mit anderem geschichtsfremden Verhalten Synkretismus im engeren Sinne darstellt, führt die Geschichtlichkeit des Gottes Israels aus Vergleichsmöglichkeiten hinaus und erlaubt die grundlegende Neuheit des in Judentum, Christentum und Islam Entstandenen nicht mehr von Synkretismus zu sprechen.35 Zwischen religiösem und kulturellem Synkretismus zu unterscheiden, nimmt beiderseitige Ängste bei der gegenwärtigen deutsch-türkischen Begegnung, denn nur synkretistisch-religiöse Zirkel würden eine Position der Selbstbehauptung im Ausgleich der Gehalte als synkretistische Möglichkeit vertreten.36 Religionsgeschichtliche Erklärung kann in Theologie übergehen, aber weil die Religionsgeschichte in besonderer Beziehung zur politischen Geschichte steht, hat sie schon aufgrund der Offenheit des politisch-geschichtlichen Prozesses keine Summe anzubieten.37 Für heute kann 31 32 33 34 35 36 37
Vgl. ebd., 295 ff. Vgl. ebd., 37, 253 und 275 f. sowie 292 f. und 298. Vgl. ebd., 43 – 45 und 279 – 283. Vgl. ebd., 47. Vgl. ebd., 100, 117, 165 und 181. Vgl. ebd., 174 f. und 184. Vgl. ebd., 268 – 273 und 212 ff.
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das eine Reflexion christlich-islamischer Begegnung zeigen, die auch die sozialethische Kooperation als Grundlage des interreligiösen Dialogs herausstellt, der für Integration ohne Identitätsverlust auf den geistigen, sozialen und religiösen Unterschieden aufbaut.38 Theologisches Verständnis von Offenbarung als souveränes göttliches Handeln lässt Suche nach allgemeiner Offenbarung müßig, doch Wahrnehmen einer solchen außerhalb der eigenen Religionstradition möglich erscheinen.39 Dann kann am ehesten partnerschaftliche Solidarität gegenseitige Weiterentwicklung im Sinne von Friedensstiftung, Vorbeugung gegen Fehlentwicklungen und einer gegen Betriebsblindheit kritischen Sozial- und Wirtschaftsethik ermöglichen.40 In meiner Besprechung von Colpes universalhistorischem Doppelwerk 2003/ 2008 habe ich darauf verwiesen, dass das Vorwort die eigenen Rezeptionsbedingungen für „Iran“ als westlicher Orientalist, Theologe und antiimperialistisch engagierter Wissenschaftler reflektiert, und darauf, wie der zweite als Gegenstück zum ersten Band konzipiert ist und die Zusammengehörigkeit beider Bände für viele Fragestellungen anregend und ergiebig ist.41 Als letztes Gegengewicht zur Interpretation bei Bauschulte greife ich die miteinander verbundenen Themenkomplexe „Das Heilige“ und „Historische Phänomenologie“ auf. Zweierlei führte mich im 2. Semester meines Theologiestudiums 1965 zu Colpe nach Göttingen: seine Vorlesung zur gnostischen Gestalt des „Erlösten Erlösers“ und sein Seminar zu Mircea Eliades Ansatz im Buch „Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte“. Die Vorlesung machte mit genauesten historisch-philologischen Analysen bekannt, vom Seminar meinte Colpe später: „Bei Mircea Eliade konnte der Weg, der aus dem Kantianismus heraus über Rudolf Ottos Interpretation der Kantisch-Friesschen Religionsphilosophie zur konservativen Ontologie des Heiligen führt, nicht mitgegangen werden; umso überraschender und beglückender ergab sich die Notwendigkeit, dem Historiker Eliade zuzustimmen.“42 Im Anschluss an die „Philosophie der symbolischen Formen“ (1923 – 29) des Neukantianers Ernst Cassirer hat Colpe in einem eigenen Büchlein „Über das Heilige“43 den Mythos als Sprachform der Religion so interpretiert, „daß er in seiner Funktion, Denken, Anschauung und Leben einfach auszudrücken, eine selbständige Art symbolischer Repräsentation von 38 39 40 41
Vgl. ebd., 274 f. Vgl. ebd., 275 f. Vgl. ebd., 296 – 298. Vgl. Christoph Elsas: Die Rolle von Synkretismus bei Glaubensverbreitung und Religionswechsel, in: ZMR 94 (2010), 58 – 73, bes. 58 – 64. Hier werden Möglichkeiten der Arbeit mit dem Doppelwerk demonstriert. 42 Colpe, Theologie (s. o. Anm. 36), 293 f. 43 Carsten Colpe: Über das Heilige. Versuch, seiner Verkennung kritisch vorzubeugen, Meisenheim/Frankfurt a. M. 1990.
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theoretisch gleichem Rang wie die anderen Arten darstellt“ und gemeint: „Wer das ‚Heilige‘ nicht erfahren und nicht begreifen kann, der wird sich, ehe er es ganz leugnet, immerhin fragen, ob es vielleicht die Sprache, genauer: die alten Sprachen, bezeugt/bezeugen, die davon reden“ – „als etwas Fremdes“.44 Das Studium fremder Sprachzeugnisse und das Sich-Einlassen auf das Lebenszeugnis – z. B. von Iranern oder Türken mit ihrer religiösen und säkularen Prägung – verhindert eine universale Konzeption des Heiligen „von oben nach unten“: Statt dass ein Schema „von oben nach unten“ festgelegt wird, erhält jedes Einzelphänomen seinen spezifischen Platz und bestimmt damit die Ordnung des Ganzen.
Primärtexte Carsten Colpe: Iranier – Aramäer – Hebräer – Hellenen. Iranische Religionen und ihre Westbeziehungen. Einzelstudien und Versuch einer Zusammenschau, Tübingen 2003. –: Griechen – Byzantiner – Semiten – Muslime. Hellenistische Religionen und die westöstliche Enthellenisierung, Tübingen 2008. –: Weltdeutungen im Widerstreit, Berlin/New York 1999.
Sekundärtexte Christoph Elsas/Hans G. Kippenberg (Hg.): Loyalitätskonflikte in der Religionsgeschichte. FS Carsten Colpe, Würzburg 1990. Christoph Elsas et al. (Hg.): Tradition und Translation: Zum Problem der interkulturellen Übersetzbarkeit religiöser Phänomene. FS Carsten Colpe, Berlin/New York 1994. Themenhefte „Synkretismus/Theologie der Religionen“, ZMR 94.1 und 94.2 (2010). Manfred Bauschulte: Straßenbahnhaltestellen der Aufklärung. Studien zur Religionsforschung 1945 – 1989, Marburg 2012.
44 Vgl. ebd., 22.
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Walther Zimmerli (1907 – 1983)1
Als der Alttestamentler Walther Zimmerli 1968 das Ephorat des Stiftes übernahm befand er sich auf dem Zenith seiner beruflichen Laufbahn. Hinter ihm lagen die Jahre des Pro- bzw. Konrektorats der Georgia Augusta (1963 – 1967) und die Ausrichtung der Dritten Europäischen Rektorenkonferenz (1964). 1962 war sein Kommentar zu Kohelet (ATD)2 erschienen, dessen Fragen und Wahrnehmungen ihn bis zu seinem Lebensende beschäftigten. Sein opus magnum, der zweibändige Ezechielkommentar (BK), näherte sich der Vollendung (1969). „Auf den Abschluss des Ezechielkommentars folgte noch im gleichen Jahr ein Schwall internationaler Anerkennung: die Ehrenpromotionen in Edinburgh und Straßburg (neben Zürich und Göttingen), die Ehrenmitgliedschaften in der (amerikanischen) Society of Biblical Literature und der (britischen) Society for Old Testament Study.“3 Die Britisch Academy verlieh ihm 1972 die Burkitt Medal for Biblical Studies, worüber er heiter erzählen konnte, dass Prinz Philip von England diese Medaille für eine Kriegsauszeichnung hielt. Danach sollten noch der Grundriss der alttestamentlichen Theologie (1972) und der Kommentar zu Genesis 12 – 25 (ZK 1976) folgen. In seinen letzten Lebensjahren beschäftigte ihn die Frage einer Biblischen Theologie. Beispielhaft für seine Weise, Theologie zu betreiben, sind die publizierten Vorlesungen für Hörer aller Fakultäten. Darin trat er in Gespräche mit Gerhard von Rad über das Gesetz und die Propheten ein (1962), mit Ernst Bloch über das Prinzip Hoffnung (1967) und mit Rudolf Bultmann über das Motiv der Entweltlichung (1970). Zimmerli sieht es als seine Aufgabe, zuerst „die Relevanz der alttestamentlichen Botschaft darzustellen. 1 Dieser Beitrag ist eine erweiterte Version zweier früherer Artikel. Vgl. Ed Noort: Walther Zimmerli. Theologie als Begegnung, in: Reinhard G. Kratz (Hg.): 50 Jahre Reformierte Studentenhäuser in Zürich, Zürich 1990, 7 – 16; Ed Noort: Kohelet und Walther Zimmerli. Eine biographische Skizze, in: Klaas Spronk et al. (Hg.): Studies uit de Kamper School. FS Willem van der Meer, Bergambacht 2010, 95 – 120. 2 Walther Zimmerli: Das Buch des Predigers Salomo, Göttingen 31980 (1962). 3 Rudolf Smend: Walther Zimmerli 1907 – 1983, in: Ders. (Hg.): Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989, 294.
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Dabei will das Achten auf den theologischen Ansatzpunkt den Vorrang vor der Übertragung in die moderne Gegenwartsproblematik behalten. Die Mühe der ‚Übersetzung‘ in sein Heute ist dem Leser nicht abgenommen.“4 Er bietet an und argumentiert, überlässt es aber dem Gegenüber, sich in aller Freiheit zu entscheiden, wie er oder sie die von Zimmerli angetragenen Gesichtspunkte übersetzt. Neben dem vollen Lehrdeputat in hochschulpolitisch schweren Zeiten beschäftigten Zimmerli nicht nur die Aufgaben im Senat der DFG (1967 – 1973), die Präsidentschaft der International Organization for the Study of the Old Testament (1974 – 1977), die spätere (Vize-)Präsidentschaft der Göttinger Akademie der Wissenschaften (1970 – 1978), sondern vor allem auch die Arbeit in weltweiten akademischen Gremien, die ihn zum internationalsten Gelehrten Göttingens machte. Er war ein „passionierter Reisender, […] wozu seine Ämter ihm reichlich Gelegenheit boten“.5 Zugleich konstatierte Rudolf Smend: „[…] als die Reisen, die er in seinen vielen Eigenschaften unternahm, ein Maß an Häufung und Ausdehnung gewannen, das bei einem Professor eigentlich bedenklich ist, war doch immer klar, dass Göttingen sein Ort war und blieb.“6 Seine Frau nannte ihn einen „Handelsreisenden in Sachen Theologie“. Unter all seinen Aufgaben war das Ephorat des Göttinger Stiftes etwas Besonderes, denn die Georgia Augusta war seine eigentliche Alma Mater. Hier war er Assistent bei Johannes Hempel gewesen; von hier aus zog er 1933 zurück in die Schweiz, um Pfarrer zu werden; nach Göttingen kam er 1951 wieder als Nachfolger Gerhard von Rads und blieb trotz der Rufe nach Heidelberg und Basel dort. Auch nach der Emeritierung blieb die Herzberger Landstraße 26 die feste Adresse und war das Haus in Fanas (Prättigau) für die Ferien bestimmt. Aber viel wichtiger war, dass er im Stift zurückfand, was er selbst als blutjunger Professor in Zürich begonnen hatte. Nach einer kurzen Zeit im Pfarramt war er 1935 als 28 Jähriger überraschend auf den Lehrstuhl für Altes Testament, Religionsgeschichte und orientalische Sprachen in Zürich berufen worden. Und dann kam der Krieg. Ob die traditionelle Neutralität dafür sorgen konnte, dass die Schweiz auch diesmal außerhalb des Kriegsgeschehens bleiben würde, war unsicher. In diesen spannenden Zeiten beschlossen Walther und Irmgard Zimmerli, dass ein distanziertes akademisches Weitermachen in dieser bedrohlichen Situation nicht möglich wäre. Nur in einer vita communis könne man Theologie gemeinsam studieren und leben. So wurde am 10. September 1940 das erste Haus angemietet und Familie Zimmerli lebte dort als Hauseltern von 1940 – 1951 zusammen mit 4 Walther Zimmerli: Die Weltlichkeit des Alten Testaments, Göttingen 1971, 5. 5 Zitate aus einem unveröffentlichten, von der Familie verfassten Lebenslauf: Walther Theodor Zimmerli-von der Ropp (20. 1. 1907 – 4.12.1983), 8. 6 Smend, Zimmerli (s. o. Anm. 3), 289.
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den Studierenden, erst in der Schönleingasse, später in der Steinwiesstrasse. Es war der Anfang der Zürcher Studentenhäuser. Wie sehr diese Initiative ihn geprägt hat, lässt sich ablesen an dem Brief, den Zimmerli 1976 den ehemaligen Hausbewohnern, denen er den Genesis 12 – 25 Kommentar (ZK) widmete, schrieb: Liebe Freunde! Anfangs April werden es 25 Jahre sein, seitdem wir das Zürcher Theologenhaus verlassen haben und nach Göttingen übergesiedelt sind. Das soll Anlass sein, all denen, die in den zehnundhalb Jahren mit uns an der Steinwiesstrasse für kürzere oder längere Semester unter einem Dach gewohnt haben, soweit wir sie erreichen können, einen herzlichen Gruss zu schicken. Ein Vierteljahrhundert dünkt einem, wenn man sich die langen Jahrhunderte der Kirchengeschichte auf ein Examen einprägt, keine lange Zeit zu sein. Anders, wenn man es selber durchlebt. Was hat sich, wenn wir an 1951, oder gar an das Anfangssemester des Hauses im Jahre 1940 zurückdenken, nicht alles ereignet. Wenn ich etwa, was jedesmal eine Freude ist, jemanden von Euch treffe, […] so zeichnet sich das Fortschreiten der Jahre in der Regel im Gesicht deutlich ab. Bei manchem hat es auch schon die Haare gebleicht. Bei uns ist das wohl nicht anders. Ich selber bin vor einem Jahr emeritiert worden. Hierzulande geschieht das beim Abschluss des 68. Lebensjahres. Ich halte aber in vermindertem Umfange weiter Vorlesungen. Der Student ist eben doch durch die nun mehr als 40 Jahre meines akademischen Daseins ein ‚essential‘ meines Lebens gewesen und ein Leben ohne die lebendige Aufgabe an den Studenten kann ich mir nicht vorstellen. So gedenke ich auch weiterhin zu lesen und Arbeit am Alten Testament zu tun, was zugleich bedeutet, dass wir für die nächste Zeit in Göttingen zu bleiben gedenken […]. Wir kommen von Jahren her, wo im revolutionären Aufbruch der jüngeren Generation, den wir seit 1968 an den Hochschulen besonders stark gemerkt haben, die Frage gestellt wurde, ob denn das Evangelium nicht neu als Lehre von der neuen Gesellschaft formuliert werden müsste. Es ist unter diesem Fragen manchem bewusster geworden, was die Bibel uns ohne Zweifel auch zu sagen hat und was in unserer Theologie und Frömmigkeit zuzeiten etwas zu kurz gekommen ist. Aber die Mitte des Handeln Gottes für uns, die ‚gute Botschaft‘, die nicht umfunktioniert werden kann und soll, ist dieselbe geblieben und wird dieselbe bleiben, wie immer die Zeiten sich wandeln und wie sehr im politischen Bereich neu Verantwortlichkeiten auf uns zukommen. Das alttestamentliche Prophetenwort etwa, das uns in den Jahren 1933 – 1945 vor allem durch seine Verkündigung vom Geschichtsregiment Gottes über aller Hybris der ‚1000jährigen Reiche‘ und Diktaturen so lebendig geworden ist, gewinnt heute in seiner Verkündigung wahrer Gerechtigkeit im Zusammenleben und seiner Kritik an lieblos verhärteten Institutionen, neue Aktualität… Wir dürfen in allem Aufbruch der Zeit mit seinen ungelösten Fragen – den Gefahren der Manipulation und Uniformierung des Menschen und der Übergewalt technischer Sachzwänge – hoffend, aufgerichteten Gesichtes nüchtern in die Zukunft und in die sich neu stellenden Aufgaben gehen […].
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So möchten wir denn jeden Einzelnen von Euch herzlich grüssen – beim Adressenschreiben wird jeder nochmals ganz unmittelbar vor uns treten. Wir freuen uns über jeden Gegengruss, wie er auch in den vergangenen Jahren nie ganz ausgeblieben ist, Eure Irmgard und Walther Zimmerli7
Der Brief enthält alle Elemente, die Zimmerli als theologischen Lehrer auszeichneten. Die prägende Erinnerung an die Zeiten des gemeinsamen Lebens, der lebensnotwendige Kontakt zu den Studierenden auch nach der Emeritierung, der Versuch, unter Anerkennung der vorliegenden Fragen den Kern der biblischen Botschaft darzustellen, die neuen Aspekte des alttestamentlichen Prophetenwortes in einer aufgewühlten Zeit. Aber auch vorher – in der Göttinger Zeit – hatte Zimmerli gemeinsames Leben praktiziert und dessen Vorteile erfahren. 1932 war er zum Inspektor des neugegründeten Theologischen Sprachenund Studienkonvikts (Gerhard-Uhlhorn-Konvikt) berufen worden.8 Nach seinem Amtsantritt als Ordinarius in Göttingen (1951) wurde Zimmerli zudem zum Ephorus des Uhlhornkonviktes ernannt (1952 – 1964) und als Emeritus kehrte er 1981 nochmals dorthin zurück: „Am Mittwoch vorher war ich von Herrn Gerbracht ins Uhlhornkonvikt eingeladen um den dortigen Studenten zu erzählen, wie es ‚im Anfang′ im Konvikt gewesen sei. Es ergab sich der besondere Glücksfall, dass ich unter meinen verstaubten Briefcartons die vollzähligen Briefe fand, die ich damals an meine Mutter (jede Woche) geschrieben hatte. Das hat mich […] verführt, alle diese Briefe wieder zu lesen und dann den Studenten in Auswahl etwas davon vorzulesen über jene merkwürdig ambivalente Zeit im ‚Brüllenden Kalb‘ (Prägung Campenhausens9) mit aller jugendlichen Ausgelassenheit der Anfängerstudenten und dem Zeithintergrund von 1932/33, dem Auftreten Hitlers in Göttingen u. a. […].“10
So war für Zimmerli die Ernennung zum Ephorus des Theologischen Stiftes 1968 eine Aufgabe, die seinem Anliegen, Theologie mit dem täglichen Zusammenle7 Auszug aus dem Rundschreiben vom 14. 3. 1976. Vollständig publiziert in: Noort, Begegnung (s. o. Anm. 1), 10 – 13. 8 Vgl. Andreas Ohler et al. (Hg.): Das Gerhard-Uhlhorn-Konvikt: Eine Dokumentation der Geschichte des Göttinger Sprachen- und Studienkonvikts, Göttingen 2011. Das Konvikt wurde 2007 geschlossen. 9 Im Theologischen Stift, dem ‚Stillen Ochsen‘ am Stumpfebiel, war Hans Freiherr von Campenhausen der Inspektor. Mit von Campenhausen verband Zimmerli eine herzliche Freundschaft. Von Campenhausen bescheinigte ihm übrigens bei einem späteren Besuch in Zürich, dass Zimmerli sehr gut mit den Studenten umgehen könne, dass es aber mit der Wissenschaft wohl nicht so viel werden würde. Die Anekdote über die Namensgebung wiederholte Zimmerli in seiner Ansprache zur Einweihung des ‚Neuen Stiftes‘ in der Geiststraße am 25. 10. 1982. Vgl. Walther Zimmerli: Ansprache bei der Einweihung des Neuen Stiftes am 25. 10. 1982, in: Franz-Joseph Schlote: Das Theologische Stift 1949 – 2009, Manuskript 2009, Anlage 2. 10 Aus der Korrespondenz Zimmerlis mit dem Verfasser, Brief vom 20. 12. 1981.
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ben zu verbinden, völlig entsprach. Im Rückblick ist er in der langen Göttinger Zeit (1951 – 1983) nur in seinem Anfangsjahr und in seinen Rektoratsjahren ohne aktive Beteiligung an den Formen des studentischen Zusammenlebens und der Wohngemeinschaften der theologischen Ausbildung gewesen. Das Stift verdankt ihm seine Weiterexistenz. Denn auf Zimmerli warteten organisatorische Probleme, die denen in der Anfangszeit der Zürcher Studentenwohnheime in nichts nachstanden. Dazu kamen die brisante hochschulpolitische Lage nach 1968, die politische Situation in der Bundesrepublik im Deutschen Herbst ab 1977 und schließlich die manchmal sich diametral gegenüberstehenden Ansätze zu einer Erneuerung des Theologiestudiums. Als 1967 eine bautechnische Untersuchung im Hauptgebäude am Stumpfebiel dramatisch mit der Räumung des Stifts endete, wurde dank großer Bemühungen aller Beteiligter doch noch eine Lösung gefunden. Zwei Häuser am Kreuzbergring wurden angemietet, der Speisesaal im Stumpfebiel wurde mit Balken gestützt und die Bibliothek im zweiten Stockwerk durfte weiter genutzt werden, solange sich dort nicht mehr als fünf Personen aufhielten. Die Inspektorenwohnung wurde in den ersten Stock des Anbaus am Stumpfebiel verlegt. Dort wohnten im Erdgeschoss weiterhin 15 Studierende, aber die Mehrzahl der ursprünglichen Bewohner musste ausziehen und verteilte sich auf die Häuser am Kreuzbergring. Unter diesen Umständen war es schwierig, die gemeinsame Mittagsmahlzeit aufrecht zu erhalten. Zimmerli beharrte aber darauf, dass mit dem Verschwinden des gemeinsamen Essens dem Stift das Herzstück des gemeinsamen Lebens fehlen würde. Und so wurde eine Lösung gefunden, indem das Essen aus der Mensa mit dem eigenen Dienstauto ins Stift geschafft wurde. Denn um die tägliche Mittagsmahlzeit herum fanden die studentischen Plena statt, die Selbstverwaltung mit den kleinen und großen Fragen des gemeinsamen Lebens wurde dort praktiziert. Dort wurden die hochschulpolitischen Meinungsverschiedenheiten ausgetragen. Der Ephorus Zimmerli war wöchentlich bei Essen und Plenum anwesend, mischte sich gelegentlich mit Stellungnahmen ein, die immer klar aber nie zwingend waren. Die danach stattfindende Teestunde beim Inspektor wurde genutzt, um die neuesten Entwicklungen, ob sie nun privater oder institutioneller Art waren, zu besprechen. Zu den Festen des Stiftes ließ Walther Zimmerli sich gerne einladen. Das Alles fand unter immer schwierigeren Bedingungen statt. Das dreigeteilte Stift erschien wie ein Relikt aus alten Zeiten, dessen Privilegien in der neuen Zeit nicht überdauern würden und sollten. Als die Schließung des Stifts drohte, kämpfte Zimmerli unermüdlich und mit zähem Ringen für die Erhaltung des Instituts. Wenn Geld benötigt wurde, wusste er die richtigen Kanäle zu finden. Wenn es um den Erhalt der Institution ging, argumentierte er mit der wissenschaftlichen Tradition des Stiftes und mit den Namen der Inspektoren und Repetenten aus der Vergangenheit, mit Gabler, Ewald, Wellhausen, Duhm und
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vielen anderen. Dabei waren seine zahlreichen Kontakte aus der Rektorenzeit und aus anderen Funktionen hilfreich. Sein Auftreten war unbefangen und zugleich effizient. In all seinen Funktionen war ihm die menschliche Begegnung am wichtigsten. Fremde Welten erkundete er durch Anteilnahme am Eigenen der Anderen. Jeder Gesprächspartner, ob Student, ausländischer Kollege, Gemeindemitglied oder zufällige Bekanntschaft, spürte dieses echte Interesse am Gegenüber, die Neugier auf das, was jemanden antreibt. In der hochschulpolitischen Situation der 1970er Jahre war es nicht einfach, eine Kommunikation dieser Art aufrecht zu erhalten. Die Zerrissenheit dieser Zeit kann beispielhaft am Jahr 1977 festgemacht werden. Es war das Jahr von Zimmerlis 70. Geburtstag, der groß begangen wurde, und das Schlussjahr seiner Präsidentschaft der „International Organization for the Study of the Old Testament“ (IOSOT), an deren Ende der damals größte internationale Kongress in Göttingen stand. Zugleich war es das Jahr, in dem der Deutsche Herbst und die Attentate der Rote[n]-Armee-Fraktion ihren Anfang nahmen, welche eine tief gespaltene, verunsicherte Gesellschaft hinterließen. Für den 70. Geburtstag hatten die Stiftlerinnen und Stiftler sich etwas besonderes einfallen lassen. So wurde am Stumpfebiel ein Kuchenlabor eingerichtet, wo zahllose Kuchen gebacken und in Streifen und Blöcke zerteilt wurden sowie Marzipan zubereitet wurde. Schokoladenüberguss köchelte in großen Töpfen. Dann kam der Ezechielkommentar auf den Tisch und Zimmerlis Rekonstruktion von der Tempelvision Ezechiels (Ez 40,1 – 42,20) wurde in Teig, Schokolade und Marzipan genau nachgebaut. Dabei musste die Baukommission die Versuche, zusätzliche Verschönerungselemente anzubringen („wir haben ja noch Marzipan übrig“), strikt ablehnen. Der Beschenkte zeigte sich freudig überrascht und weigerte sich monatelang, den Kuchen anzuschneiden, zeigte ihn aber stolz jeder Besucherin und jedem Besucher. Mehrere Ehrungen fanden statt. Zwei Festschriften wurden ihm 1977 zuteil.11 Längere Schatten als der Geburtstag warf der IOSOT-Kongress. Von Anfang an hatte Zimmerli zwei Ziele vor Augen. Erstens: so viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie möglich aus dem Osten Europas und unter dem Eisernen Vorhang hindurch nach Göttingen zu holen, und zweitens: nach Möglichkeit jüdische Gelehrte zu bewegen, teilweise zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg nach Deutschland zu kommen. Das waren keine einfachen Aufgaben, aber die Person Zimmerlis machte vieles möglich. So fanden Ende August rund 450 Alttestamentlerinnen und Alttestamentler den Weg nach 11 Herbert Donner, Robert Hanhart und Rudolf Smend (Hg.): Beiträge zur Alttestamentlichen Theologie. FS Walther Zimmerli, Göttingen 1977; George W. Coates und Burke O. Long: Canon and Authority. Essays in OId Testament Religion and Theology. FS Walther Zimmerli, Philadelphia 1977.
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Göttingen. Mit seinem Eröffnungsvortrag „Wahrheit und Geschichte in der alttestamentlichen Prophetie“12 hatte er länger gerungen, vertraute den Hörern an, dass er jetzt erst den Gadamer gelesen habe, fand aber auch hier seinen unverwechselbaren eigenen Standpunkt. Der traditionelle Kongressausflug führte nach Wolfenbüttel in die Herzog-August-Bibliothek, wo Rudolf Smend in der Trinitatiskirche seinen Vortrag über „Lessing und die Bibelwissenschaft“ hielt. Für diese Fahrt hatte Zimmerli eine besondere Idee. Man solle nicht mit gemieteten Bussen, sondern mit einem Sonderzug fahren. Dort könnten die Kongressgänger sich freier bewegen, einmal mit jemand anderem ins Gespräch kommen, kurzum: ein Zug sei besser für die Kommunikation und die Begegnung. Und zu dem nicht geringen Erstaunen des Sekretärs setzte Zimmerli sich mit diesem Wunsch im Ministerium durch. So bekamen wir den Sonderzug und den Bruder des Alttestamentlers Martin Noth als Zugbegleiter dazu. Auch inhaltlich kam es zu Neueinsätzen, die – auch wenn sie nicht alle Ewigkeitswert hatten – doch für regen Gesprächsstoff sorgten: Norbert Lohfink stellte P als Pazifisten dar und ließ seine Quellenschrift bis Jos 18 weiterlaufen. Der Altorientalist, der sich mit der Aufsehen erregenden Entzifferung eblaitischer Texte beschäftigte, tauchte nicht auf und war damit der Vorbote des kommenden Wissenschaftsskandals. Brevard Childs stellte seinen „canonical approach“ vor und entfachte damit lebhafte Diskussionen. Beim Abendvortrag war es Othmar Keel, der seine Deutung des Hiobbuches mit dem „Herr der Tiere“ aus der Taufe hob, dafür seine Redezeit mit einer Stunde überschritt, was aber keinen störte. Eindrucksvoll war das fast auswendig vorgetragene Referat des Jerusalemer Gelehrten Isaac Leo Seeligmann zur „Auffassung von der Prophetie in der deuteronomistischen und chronistischen Geschichtsschreibung“. Und inmitten dieses umfangreichen Kongressbetriebes mit seinen vielen Nebenveranstaltungen bewegte sich der Präsident neugierig, interessiert, unermüdlich und immer gesprächsbereit. Dabei fand er jeden Tag noch etwas Zeit, um an der englischen Übersetzung seiner Vorträge für die direkt anschliessenden Vorlesungen in Südafrika zu arbeiten. Auch das Stift war eingespannt. Nicht nur befand sich hier das Kongresssekretariat und wurden dort Helferinnen und Helfer rekrutiert, sondern – ein Novum – hier wurde auch koscheres Essen für die jüdischen Teilnehmer aufgetischt, unter Mithilfe einer Köchin der orthodox-jüdischen Gemeinde Hannovers. Dem möglichen Vorwurf, dass der Essraum des Stumpfebiel nicht unbedingt das Ambiente für ausländische Kongressteilnehmer biete, wurde die Reputation der Institution entgegen12 Alle hier genannten Vorträge finden sich bei John A. Emerton (Hg.): Congress Volume, Göttingen 1977 und Leiden 1978. Die Ausnahme ist Othmar Keel, der seinen Vortrag gleich als Monographie publizierte: Othmar Keel: Jahwes Entgegnung an Ijob. Eine Deutung von Ijob 38 – 41 vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Bildkunst, Göttingen 1978.
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gehalten. Im betreffenden Schreiben heißt es: „Wenn Haus und Essraum auch etwas baufällig aussehen, so bedenken Sie bitte, dass in diesem Raum immerhin auch Wellhausen, Duhm, Wrede und Rahlfs während ihrer Stiftszeit gegessen haben!“ Am letzten Kongresstag verabschiedeten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer von dem Präsidenten mit einer stehenden Ovation, woraufhin Zimmerli das Podest fluchtartig verließ. Lob lag ihm nicht und große Worte machten ihn verlegen. Als es nach seiner Emeritierung 1975 ein Dinner für den engeren Fakultätskreis gab, mit Reden von Dekan Hans-Joachim Kraus, Landesbischof Eduard Lohse und des Praktischen Theologen Götz Harbsmeier, begegnete Zimmerli der Rede des Dekans mit der Bemerkung, dass Kraus als Alttestamentler doch wüsste, dass die von Kraus angeführte to¯da¯ (Lobpreis) nicht ihm gelten könnte, sondern in den Psalmen nur eine Adresse habe: Gott. Kritik brachte er meistens behutsam, fragend an. Das Urteil, dies oder das sei eine „kühne These“, war von seiner Seite aus schon eine harte Formulierung. Dort, wo er in Rezensionen Grundsätzliches debattieren wollte, begann die Besprechung immer mit einer fairen, ausführlichen Darstellung der Position des Gegenübers.13 Gegen Ende seines Lebens fand er aber auch klare Worte, wenn er die Position des für ihn sehr wichtigen Kohelet (Prediger) bedroht sah.14 Das war die eine Seite des Jahres 1977, mit dem 70. Geburtstag, den beiden Festschriften, und dem internationalen Kongress als Höhepunkten eines Gelehrtenlebens. Es gab aber auch noch eine andere Seite. In den vorangegangenen Jahren waren die Konflikte um den Gesamtkurs der Fakultät zahlreicher und härter geworden. Die Einführung einer Studieneingangsphase (SEP), die die Motivation der Studierenden in den Mittelpunkt stellte (Null-Seminare), war anfänglich mit studentischen Tutoren, einem akademischen Tutor und vier Dozenten bestückt. Sie wurde zum Brennpunkt der Auseinandersetzungen. Tatkräftige Unterstützung bekam sie von der „Göttinger Viererbande“, bestehend aus Hannelore Erhart, Hans-Joachim Kraus, Hans-Georg Geyer und Manfred Josuttis sowie von jüngeren Mitgliedern des Lehrkörpers. Später standen die selbstorganisierten, studentischen Lehrveranstaltungen und die von den Lehrenden an der Fakultät organisierte Orientierungsphase neben- und gegeneinander.15 Quer durch die Fakultät verliefen tiefe Risse. Sie wurden nochmals 13 Als Beispiel vgl. Walther Zimmerli: Die Weisheit Israels. Zu einem Buch von Gerhard von Rad, in: EvTh 31 (1971), 680 – 695. 14 Walther Zimmerli: „Unveränderbare Welt“ oder „Gott ist Gott“? Ein Plädoyer für die Unaufgebbarkeit des Predigerbuches in der Bibel, in: Hans-Georg Geyer et al. (Hg.): „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ FS Hans-Joachim Kraus, Neukirchen-Vluyn 1983, 103 – 114. 15 Ein Stimmungsbild bei Hans-Martin Gutmann: Die Gestalt der Verheißung, in: Ingrid Schoberth (Hg.): Wahrnehmung der christlichen Religion. FS Christoph Bizer, Münster 2006, 18 – 26.
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intensiviert durch die politische Entwicklung in der Bundesrepublik. Am 7. April 1977 wurde der Generalbundesanwalt Siegfried Buback durch Mitglieder der Rote[n]-Armee-Fraktion ermordet. Sein Tod und weitere Attentate bildeten den Auftakt zum „Deutschen Herbst“, jenen 44 Tagen nach der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer, mit der Entführung eines Lufthansa-Flugzeugs, der Befreiung der Geiseln und dem Tod der ersten RAF-Häftlinge in Stuttgart-Stammheim. Ein spezieller Bezug zu Göttingen wurde hergestellt durch den Artikel „Buback – Ein Nachruf“ in der AStA-Zeitung Göttinger Nachrichten vom 19. 5. 1977. Der Autor, „ein Göttinger Mescalero“, verhehlte darin nicht seine – später fast sprichwörtlich gewordene – „klammheimliche Freude“ bei der Ermordung Bubacks, lehnte aber Liquidationen prinzipiell ab und endete mit dem Satz: „Unser Weg zum Sozialismus (wegen mir: Anarchie) kann nicht mit Leichen gepflastert sein.“16 Weil nur die medienwirksame „klammheimliche Freude“ und nicht die eigentliche Aussage des Artikels bundesweit wiederholt wurde, wirkte die Publikation wie Öl ins Feuer. Verschärfte Maßnahmen des Staates, Großeinsätze der Polizei auf dem Campus, um den Autor aufzuspüren, sowie Durchsuchungen und Bespitzelungen waren die Folgen. Auch im Stift wurden die Diskussionen schärfer, der Ton härter. Aber hier bewährte sich in allen Debatten die Erfahrung des Zusammenlebens. Unvergesslich bleibt nach einer erhitzten Plenumsdiskussion die Beurteilung eines Mitbewohners durch eine Stiftlerin: „Er ist verdammt rechts, aber er kann gut kochen.“ Inmitten dieser Polarisierung ließ Zimmerli sich von keiner Seite vereinnahmen. Unpolitisch war er keineswegs. In den Debatten der späten sechziger Jahre um den geplanten Abbruch des Universitäts-Reitstalls, der der modernen Zeit weichen sollte, wartete er mit „Wehe denen, die Haus an Haus reihen, die Feld an Feld rücken […]“ (Jes 5,8) auf. Er kam, wo er gebeten wurde, hörte zu und nahm den oder die Andere/n immer ernst. Seine Antworten und Positionen waren klar, aber immer als Angebot. Auch wenn die Studierenden mit ihm nicht einverstanden waren, respektierten sie ihn, seine offene Art und seine unbefangene Präsenz. Der Kontakt zu ihnen ist auch in den Jahren nach seiner Emeritierung nicht verloren gegangen. Das lag nicht nur an den Lehrstuhlvertretungen, die er nach 1975 gerne übernahm, sondern auch an der angeborenen Einstellung, dass ihm kein Weg zu weit und keine Frage zu dumm war. So schrieb er sechs Jahre nach der Emeritierung: „Am Montagnachmittag bin ich drei Stunden auf einer Studentenbude im Stift gewesen, wohin mich 4 Studenten, die 16 Mescalero (Pseud.): Buback – Ein Nachruf, in: Göttinger Nachrichten (19. 5. 1977), URL http://www.socialhistoryportal.org/sites/default/files/raf/0019770519_0.pdf (abgerufen am 3. 2. 2015). Der verbotene Aufsatz wurde von Hochschullehrern aus Bremen, Berlin, Oldenburg und Bielefeld und von Rechtsanwälten aus Berlin und Hamburg neu publiziert. Göttinger Hochschullehrer waren nicht darunter.
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mit dem Taschentutor arbeiten, zur Beantwortung eines Dekalogs von Fragen zum Alten Testament gebeten hatten. Der vorausgehende Samstag war durch den Nikolausabend im Stift, der wegen einer SEP-Fête am 6.12 auf den 12. verlegt worden war, besetzt. Ich habe dann beim Nikolaus natürlich sehr an Euch und Eure, beinahe hochkirchlich zelebrierte Santeklaus-Begehung gedacht. […] Aber daneben ist ja, wenn Gott es schenkt, auch noch etwas Zukunft. Etwa das Blockseminar17mit Dir, Ed, und [Berndt] Schaller18, für das ich einen Text für den Vorlesungskommentar zu dichten hatte […]“.19 Bei diesen Seminaren war Zimmerli unermüdlich. Wenn das vorgeschlagene Programm zu umfangreich zu werden drohte, schlug er vor, es täglich achtstündig zu führen. Der jüngere Kollege lehnte dankend ab. Zimmerlis größter Erfolg als Ephorus kam, als er am 25. 10. 1982 das neue Stiftsgebäude in der Geiststraße eröffnen konnte. Mit der gleichen Beharrlichkeit und dem Durchsetzungsvermögen, mit denen er einst die Zürcher Studentenhäuser gegründet und geführt hatte, bewahrte er das Göttinger Theologische Stift vor dem Untergang und setzte unter Mithilfe von vielen anderen dem 15 Jahre dauerndem Provisorium der Dreiteilung ein Ende. Wie breit Zimmerli seine Kontakte nutzen musste, um die Finanzierung sicherzustellen und hochschulpolitischen Rückenwind für den Neuanfang zu bekommen, zeigt seine Einweihungsrede. Die ersten drei Seiten sind Danksagungen an Behörden, kirchliche und universitäre Instanzen, die er immer dann einschaltete, wenn wieder einmal Finanzlücken drohten. So dankte er Landesbischof Eduard Lohse „[…] [Sie haben] angesichts gestiegener Kosten auf mein unverschämtes Geilen hin gar mit erheblich mehr als einer halben Million DM den Umbau dieses Hauses finanziert.“20 Vorausblickend auf die Zukunft des neuen Stiftes äußerte Zimmerli an diesem Tag drei Wünsche, die ich hier im Wortlaut wiedergebe: „Ich möchte es diesem Hause wünschen, dass auch in der neuen Form des Stiftes, die es darstellt, der Eros des Studierens, zu dessen Förderung einst das Repetenteninstitut in Formen, die für uns heute überholt sind, begründet worden ist, lebendig bleibe. Es soll auch hier der ‚Stille Ochse‘ bleiben […]. Mein zweiter Wunsch geht dahin, dass das Haus auch in seinem neuen Gewand ein Ort offenen gegenseitigen Gesprächs sein möge […] die geistigen Herausforderungen bestehen nach wie vor – heute wohl in einer besonders brisanten Weise. […] Und dann dazu der dritte Wunsch. Ich möchte es dem
17 In den Jahren 1980 – 1982 fanden am Ende des Sommersemesters gemeinsame Blockseminare mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus den Niederlanden und Göttingen statt: 1980 „Das Alte Testament als Buch der Kirche“; 1981 „Schöpfung und Geschichte“; 1982 „Fragen einer biblischen Theologie“. 18 Prof. Dr. Berndt Schaller lehrte in Göttingen Judaistik und Neues Testament von 1961 bis 1995. 19 Aus der Korrespondenz Zimmerlis mit dem Verfasser, Brief vom 20. 12. 1981. 20 Zimmerli, Einweihung, (s. o. Anm. 9), 2.
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Stift wünschen, dass im wachen Zusammenleben […] auch wieder etwas von echter, in unserer Zeit verantwortbarer Form geistlichen Lebens lebendig werde.“21
Mit der Einweihung des neuen Stiftes 1982 war die Arbeit für Zimmerli getan. Das Theologische Stift konnte an einer neuen Zukunft bauen. Acht Monate später offenbarte sich bei Walther Zimmerli eine tödliche Krankheit. Aber auch in dieser letzten Lebensphase zeigte er, wovon er lebte, und erlebte die Krankheit selbst als ein neu zu entdeckendes Land. Auch in seiner Krankheit war er ein absolut glaubwürdiger Zeuge. Er starb am Zweiten Advent, dem 4. Dezember 1983, in Oberdiessbach (Schweiz) und wurde dort beerdigt.
Primärtexte Walther Zimmerli: Das Buch des Predigers Salomo, Göttingen 31981. –: Ezechiel, Neukirchen-Vluyn 21979. –: Grundriß der alttestamentlichen Theologie, Stuttgart 41982. –: 1. Mose 12 – 25. Abraham, Zürich 1976.
Sekundärtexte Rudolf Smend: Walther Zimmerli, in: Ders. (Hg.): Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, Göttingen 1989, 276 – 298 und 328 f. Jochen Motte: Biblische Theologie nach Walther Zimmerli, Frankfurt a. M. 1995.
21 Ebd., 10 – 11.
Florian Dinger
Christoph Bizer (1935 – 2008) – christliche Religion wahrnehmen und gestalten1
1. Im Jahr 1988, fünf Jahre nach seiner Ernennung zum Ephorus des Theologischen Stifts in Göttingen, äußerte Christoph Bizer in seinem viel beachteten Aufsatz „Liturgik und Didaktik“ folgende Zielformulierung für das eigene religionspädagogische Handeln: „Ich habe vor, Religion beim eigenen Wort zu nehmen, mit dem sie sich authentisch und öffentlich selbst darstellt und vollzieht.“2
In dieser Aussage verdichten sich bei genauem Hinsehen all diejenigen Gedanken und Appelle, die Bizers Wirkung auf die Religionspädagogik nach dem vielfach festgestellten Traditionsabbruch begründet haben. Sein Vorhaben, Religion „beim eigenen Wort zu nehmen“, impliziert die Hinwendung zu den ästhetischen Formen gelebter Religion, ohne die nach seiner didaktischen Einschätzung kein lernendes Erschließen des christlichen Glaubens möglich ist. Die Forderung, im Religionsunterricht dürfe nicht bloß über religiöse Themen gesprochen werden, sondern man müsse Religion auch zeigen, erweist sich als höchst aktuell, wird dies doch heute von Vertretern der so genannten „Performativen Religionsdidaktik“ nachdrücklich vorgetragen. „Authentisch und öffentlich“ begegnet die Religion in ihrer evangelischen Ausprägung nach Bizers Ansicht zuerst im Bibelwort und in der Liturgie des Gottesdienstes – in beiden Bereichen verortet Bizer folgerichtig die zentralen Lerngegenstände religiöser Bildungsprozesse. Sein Vertrauen darauf, dass sich die Wahrheit der christlichen Überlieferung darin erweisen könne, dass ihre eigenen Formen stets aufs Neue Gestalt gewinnen und in Gebrauch genommen werden, bildet die Grundlage seiner religionspädagogischen Arbeiten. 1 An dieser Stelle danke ich Silke Leonhard, Gerd Brinkmann und insbesondere meinem religionsdidaktischen Lehrer Rudolf Tammeus, die durch Auskünfte und Hinweise in konstruktiven Gesprächen den vorliegenden Beitrag erheblich unterstützt haben. 2 Christoph Bizer: Liturgik und Didaktik, in: JRP 5 (1988), 83 – 111, hier 89.
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2. Christoph Bizer wurde am 18. Juli 1935 als Sohn von Ernst und Elisabeth Bizer im württembergischen Tailfingen auf der Schwäbischen Alb geboren. Dort war sein Vater Stadtpfarrer, ehe er als Professor für Kirchengeschichte an die Universität Bonn berufen wurde. Hier besuchte Christoph Bizer ein humanistisches Gymnasium. Nach dem Abitur im Frühjahr 1955 begann er, in Bonn und München Klassische Philologie zu studieren, wobei er sich zunächst auf das Mittellateinische konzentrierte, insbesondere bei dem Münchner Paläographen und Altphilologen Bernhard Bischoff. Nach vier Semestern verschob sich der Schwerpunkt seines Interesses hin zur evangelischen Theologie. Dieses Fach studierte er zunächst in Göttingen, später kehrte er nach Bonn zurück. Als wichtige Lehrer während der Studienzeit nennt Bizer die beiden Neutestamentler Ernst Käsemann (Göttingen) und Philipp Vielhauer (Bonn) sowie den ehemaligen Göttinger Ordinarius für Neuere Geschichte, Richard Nürnberger. Sein Erstes Theologisches Examen legte Bizer nach sieben Jahren Studium vor der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau ab. Anknüpfend an seine ausgeprägten historischen und philologisch-exegetischen Interessen im Studium und angeregt durch den Bochumer Patristiker Martin Tetz begann Bizer 1962 ein kirchengeschichtliches Dissertationsprojekt. Schon während der Forschungen zu seiner Doktorarbeit über „pseudathanasische Dialoge der Orthodoxos und Aëtios“3, die er 1967 fertigstellte, kam Bizer über Umwege zur Religionspädagogik. Zunächst bot er am Kölner Seminar für Evangelische Theologie in unregelmäßigen Abständen ein breites Spektrum an Lehrveranstaltungen für angehende Lehrerinnen und Lehrer an Berufsschulen an. Er konnte sich in dieser Zeit in unterschiedlichen Übungen, Sprachkursen und Arbeitsgemeinschaften als Hochschullehrer erproben, bevor ihn sein damaliger Förderer, der Praktische Theologe Hans Werner Surkau, als wissenschaftlichen Assistenten nach Marburg holte. Seinem dortigen Dienstbereich entsprechend setzte Bizer nun deutlich Schwerpunkte seiner theologischen Arbeit in der Praktischen Theologie und insbesondere der Religionspädagogik. Er betreute studentische Praktika in Schulen und Gemeinden, leitete eine Reihe von homiletischen Proseminaren und begann mit den Forschungen zu seiner Habilitationsschrift, in der er zu den wechselseitigen Beziehungen von „Unterricht und Predigt“ arbeitete. Während seiner Assistenzzeit absolvierte Bizer in der Kleinstadt Wetter bei Marburg zugleich sein Vikariat, in dem ihm das Predigen, vor allem aber auch das Unterrichten im kirchlichen Kontext zunehmend wichtig
3 Christoph Bizer: Studien zu pseudathanasischen Dialogen der Orthodoxos und Aëtios, Bonn 1967.
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wurden. 1970 wurde Bizer in der Praktischen Theologie habilitiert und zwei Jahre später in Marburg zum Professor (C2) ernannt. Ab 1973 wirkte Bizer als Rektor des Religionspädagogischen Instituts (RPI) der ev.-luth. Landeskirche Hannovers in Loccum, das er bis 1980 leitete. Während der Loccumer Zeit vertiefte Bizer sein Nachdenken über konzeptionelle Entwicklungen des Religionsunterrichts und daraus resultierende unterrichtspraktische Konsequenzen. In jenen Jahren wurde das religionspädagogische Milieu insbesondere in Loccum von der Diskussion um den problemorientierten Religionsunterricht geprägt. Dabei ging es um die Bemühung, den Gegenwartsbezug und die gesellschaftliche Relevanz religiösen Lernens in der öffentlichen Schule zu unterstreichen. Bizer legte sich jedoch nicht auf das eine Modell fest, sondern suchte am RPI ausdrücklich das Gespräch mit Vertretern unterschiedlicher religionspädagogischer Ansätze und Handlungsfelder, sowohl mit Dozenten und Ausbildungsleiterinnen als auch mit Lehrerinnen und Vikaren. Auf diese Weise lernte er in Loccum, die theologische Wissenschaft als „Dienstleistung für Praktiker“ zu profilieren und entsprechend zu betreiben. So verstand Bizer etwa die Morgenandachten in der Kapelle der Akademie als Ort und Anlass zur Vermittlung von Theologie im religionspädagogischen Kontext: „Die Aufgabe, innerhalb einer Viertelstunde einem kulturbewussten kritischen ‚Publikum‘ ‚Christentum‘ aufzuschließen, wurde zu einem Modell situationsbezogenen religionsdidaktischen Handelns.“4 Schon während seiner Rektorenzeit am RPI hatte Bizer als außerplanmäßiger Professor auch an der Georgia Augusta in Göttingen gelehrt, an deren Theologischer Fakultät er ab 1979 Götz Harbsmeier als Ordinarius für Praktische Theologie nachfolgte und bis zu seiner Emeritierung wirkte. Inhaltlich zeigen sowohl Bizers Veröffentlichungen der Göttinger Jahre als auch sein Engagement in der dortigen Lehre zunehmend veränderte Schwerpunkte gegenüber dem Vorgänger, indem er sich immer mehr auf den religionspädagogischen bzw. katechetischen Bereich konzentrierte. Die darin implizierte Aufmerksamkeit für die Belange der Lehramtsstudierenden markiert im Prozess der Institutionalisierung der Religionspädagogik in Göttingen einen wichtigen Schritt hin zur Profilierung als eigenständiger theologischer Disziplin.5 Insgesamt erfuhr die Lehrerbildung innerhalb der Theologischen Fakultät unter Bizers Verantwortung eine erhebliche und bleibende Aufwertung. Er verpflichtete in Rudolf Tammeus und Werner Lamke profilierte Religionslehrer für die Betreuung der 4 Zitiert nach Silke Leonhard: Wahrnehmen und gestalten. Ein Nachruf auf Christoph Bizer, in: Loccumer Pelikan 3 (2008), 140. 5 Vgl. Martin Rothgangel: Im Kontext von Lehrerbildung und Praktischer Theologie. Die Etablierung der Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät Göttingen, in: Bernd Schröder (Hg.): Institutionalisierung und Profil der Religionspädagogik. Historisch-systematische Studien zu ihrer Genese als Wissenschaft, Tübingen 2009, 317 – 339.
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religionspädagogischen Praktika, gründete eine religionspädagogische Sozietät, an der sowohl Studierende als auch Lehrkräfte und Nachwuchswissenschaftler teilnahmen und noch immer teilnehmen, wirkte beim Aufbau regionaler Lehrerfortbildungen mit und rief regelmäßige schulkundliche Exkursionen ins Leben. So förderte er an vielen religionsdidaktisch zentralen Stellen die Verzahnung der religionspädagogischen Ausbildungsphasen vom Studium über das Referendariat bis hin zur Lehrerfortbildung. Gerade in Bezug auf diese Verzahnung profitiert die Göttinger Religionspädagogik bis heute von Bizers Wirken. Außerdem mahnte er innerhalb des professoralen Kollegiums unermüdlich, die Aufgabe der sensiblen Wahrnehmung spezieller Ausbildungsnotwendigkeiten für angehende Religionslehrkräfte ernst zu nehmen. Dieser Einsatz für mehr Achtsamkeit im Umgang mit „den Lehrämtlern“ stieß im Göttinger Theologenmilieu der 1980er und 90er Jahre zwar keineswegs auf breite Zustimmung, beförderte aber seine Beliebtheit sowohl unter vielen Studierenden als auch innerhalb der sich in den Überschneidungsbereichen von Schule und Kirche bildenden religionspädagogischen Szene in Göttingen und Umgebung. Viel Anklang fanden auch seine Göttinger Predigten, etwa in der Universitätskirche St. Nikolai, in denen die für ihn bezeichnende theologische Verflechtung von liturgischen Vollzügen und Religionspädagogik einem breiten Publikum sichtbar wurde. Zu Bizers nachhaltigen Errungenschaften im Feld der wissenschaftlichen Religionspädagogik zählt die Gründung des bis heute renommierten „Jahrbuchs der Religionspädagogik“, das er gemeinsam mit Peter Biehl im Jahre 1984 ins Leben rief. Mit Biehl, der etwa zeitgleich als Professor an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen wirkte (von 1969 – 1996), verband Bizer eine von gegenseitiger Achtung geprägte Freundschaft. Zugleich gewann er in Biehl auch einen kritischen religionspädagogischen Gesprächspartner, der ihm die besonderen Erfordernisse an eine Ausbildungsstätte für Pädagogen weiter konkretisieren konnte. Neben dem „Jahrbuch für Religionspädagogik“ beteiligte sich Bizer als Mitherausgeber an der religionspädagogischen Reihe „Wege des Lernens“ und durch regelmäßige Mitarbeit an Periodika wie der homiletischen Arbeitshilfe „Predigtstudien“ oder der Zeitschrift „das baugerüst“.6 Trotz dieser Tätigkeiten als Herausgeber veröffentlichte Bizer auffallend selten eigene religionspädagogische Beiträge. Seine Habilitationsschrift blieb seine letzte Monografie, was nicht zuletzt dazu beitrug, dass seine didaktischen Ansätze in den Fachdiskursen der 1980er und 90er Jahre kaum Beachtung außerhalb Göttingens fanden. Unter vielen Studierenden, auf deren theologische Entwicklung Bizer im Verlauf seiner Amtszeit an der Georgia Augusta Einfluss nahm, sind u. a. Wil6 Leonhard, Christoph Bizer (s. o. Anm.4), 141.
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helm Gräb sowie Silke Leonhard zu nennen, die er von 1981 – 1993 bzw. von 1998 – 2002 als wissenschaftliche Mitarbeiter beschäftigte. Mit Gräb konnte sich Bizer besonders leidenschaftlich über theologische Grundsatzfragen streiten. Eine gewisse Entfernung wurde auch dadurch befördert, dass sich Gräb mehr auf andere Praxisfelder konzentrierte. Hingegen nahm Leonhard eine Vielzahl von Bizers religionspädagogischen Impulsen auf, um diese später – gemeinsam mit Thomas Klie, Bernhard Dressler, Harald Schroeter-Wittke und anderen – in die Entwicklung der aktuell kontrovers diskutierten „Performativen Religionsdidaktik“ einfließen zu lassen. Im Zusammenhang mit dem Anlass dieses Bandes ist zudem Bizers Kooperation mit Hans-Martin Gutmann zu erwähnen. Gutmann, der heute an der Universität Hamburg das Fach Praktische Theologie vertritt, bekleidete von 1989 – 1994 das Amt des Inspektors am Theologischen Stift und arbeitete dabei nicht nur funktionsbedingt in gewisser Nähe zu Bizer. Bizer selbst war am 7. Februar 1983 vom Fachbereichsbeirat der Theologie einstimmig zum Ephorus des Theologischen Stiftes gewählt worden. Als Nachfolger des Alttestamentlers Walther Zimmerli nahm Bizer dieses Amt sehr ernst und interpretierte sein Ephorat nicht zuletzt als wünschenswerte Möglichkeit zur Kommunikation mit Studierenden unterschiedlicher Interessen und Studiengänge. Mehrere ehemalige Stiftsbewohner berichten, dass Bizer stets als Ansprechpartner für Lebenswie für Glaubensfragen zur Verfügung stand. Viele Studierende lernten Bizer auch in dessen häuslicher Umgebung als anregenden und ausdauernden Gesprächspartner kennen – mitunter bei abendfüllenden Diskussionen. Gutmann beschreibt Bizer in seiner Rolle als Stiftsephorus „als großherzigen Seelsorger für einen bisweilen entnervten Inspektor […], vor allem aber als umsichtigen und listigen Politiker, dem es spürbar Spaß machte, gegenüber Kuratorium [und] Fachbereichsrat dem Lebenszusammenhang des Theologischen Stiftes immer wieder den Raum zu sichern, den es zur Entfaltung seines bisweilen chaotischen Lebens nun einmal dringend braucht.“7
Nach Ablauf seiner ersten Amtszeit bewarb er sich im Februar 1988 erneut und wurde für fünf weitere Jahre als Ephorus bestätigt. Aufgrund einer schweren Erkrankung bat Bizer jedoch schon 1992, man möge ihn von den Pflichten dieses Amtes entbinden, woraufhin der Neutestamentler Hartmut Stegemann zu seinem Nachfolger gewählt wurde. Bizer setzte bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2000 trotz mehrmaliger Krankheit sein Engagement für die Ausbildung zukünftiger Religionslehrer fort. Nach seiner Zeit als Göttinger Ordinarius bedachte er weiter den Zusammenhang
7 Hans-Martin Gutmann: Die Gestalt der Verheißung, in: Ingrid Schoberth (Hg.): Wahrnehmung der christlichen Religion, Heidelberger Studien zur Praktischen Theologie 11, 25.
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von „Liturgik und Didaktik“, etwa im Kontext der religionspädagogischen Sozietät in seiner Wahlheimat Heidelberg, in der er die letzten sieben Jahre seines Lebens verbrachte. Insbesondere das Begehen von Kirchenräumen weckte während Bizers Ruhestand sein religionspädagogisches Interesse. Christoph Bizer verstarb im Alter von 72 Jahren während einer kirchenpädagogischen Exkursion in Wachendorf in der Eifel.
3. In diesem Beitrag sollen aus der Vielzahl praktisch-theologischer sowie religionspädagogischer Tätigkeiten und Interessen Bizers insbesondere diejenigen Entwürfe in den Blick genommen werden, die sich speziell mit religionsdidaktischen Gedanken auseinandersetzen. Diese Beschränkung scheint auch insofern sinnvoll, als Bizers Werk sich aus heutiger Perspektive gerade im Hinblick auf die konzeptionelle Fortentwicklung des schulischen Religionsunterrichts als produktiv und wirkmächtig erwiesen hat.
3.1
Räume eröffnen und begehen
Um sich dem religionspädagogischen Kernanliegen Christoph Bizers anzunähern, lohnt der Blick auf ein vielfach angezeigtes Defizit. Bizer wurde nicht müde, den Religionsunterricht seiner Zeit für die darin vermutete Engführung religiöser Bildungsprozesse auf kognitive Zugänge zu kritisieren. Wenn Religionsunterricht sich auf eine „erklärende Redeweise“ beschränke, so Bizer, bewege sich religiöses Lernen in der Schule weg von seinem eigenen Gegenstand. Oder zugespitzt formuliert: Die rekonstruierende Rede über Religion läge „der Religion so fern […] wie der Sexualkundeunterricht der Erotik.“8 Statt also Religion bloß erläuternd und abstrahierend erschließen zu wollen, zielt Bizers Didaktik zuerst auf das Eröffnen von Räumen, in denen sich Religion authentisch selbst darstellen und vollziehen kann. Eine solche Selbstdarstellung von Religion im Unterricht könne didaktisch nur gelingen, wenn die ureigenen Formen der jeweils behandelten Religion in den Blick rückten. Diese Formen identifiziert Bizer im Falle des Christentums evangelischer Ausprägung vor allem im Bibelwort und in der Liturgie des Gottesdienstes. Aus diesen „eigenen Worten“ der Religion sind die Lerngegenstände des Religionsunterrichts zu entwickeln – und dann so aufzubereiten, dass sie im Setting des Unterrichts in der ihnen angemessen Weise verlauten können. Bizers Didaktik vertraut darauf, 8 Bizer, Liturgik (s. o. Anm.2), 84.
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dass sich im Zuge solcher Prozesse des Verlautens für die Lernenden Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme mit religiösen Formen ergeben, die ihrerseits an die christliche Wahrheit heranführen. Indem nämlich das „eigene Wort“ der Religion verlautet, schafft es einen dynamischen, atmosphärischen (Lern-)Raum, der alle Sprechenden und Zuhörenden umschließt und darin dem verlauteten Wort die Möglichkeit eröffnet, selbst wahr zu machen, wovon es spricht.9 Oder in den Worten Bizers erläutert: „Das Wort der Religion, mündlich gesprochen, konstituiert das Gesprochene als Wirklichkeit; es bringt durch das Sprechen das zustande, was es sagt.“10 Finden die Wesenseigenschaften der „eigenen Worte“ der Religion im Lernprozess nicht ausreichend Berücksichtigung, indem etwa eine biblische Geschichte ausschließlich analysierend und interpretierend in den Blick genommen wird, bleibt nach Bizers Einschätzung lediglich der Text ohne seine religiöse Bedeutung zurück. Auf diese Weise verschwindet das eigentlich Relevante, im Falle der biblischen Geschichte deren potentiell wirkmächtige Heiligkeit, aus dem Blickfeld des Lernprozesses. Und dieses Verschwinden ist irreversibel: „Ist der Text einmal Text, bleibt er Text, und es führt kein Weg vom Text zum Heiligen.“11 Doch wie soll die konkrete unterrichtliche Wahrnehmung der Formen christlicher Religion stattdessen inszeniert werden, ohne dabei „Kirche in der Schule“ zu betreiben? Bizer empfiehlt hierzu, die Begehung als eine religionspädagogische Leitkategorie zu profilieren. Die Kategorie der Begehung bezeichnet in Bizers Lesart eine didaktische Möglichkeit, fremde Lerngegenstände als Gruppe zu erkunden und dabei sehr sorgfältig wahrzunehmen, ohne jedoch Zwang zu implizieren. Jeder Teilnehmer könne stets selbst entscheiden, „wie nah oder fern er der Begehung bleiben will.“12 Ob diese Freiwilligkeit im pädagogischen Alltag der Schule tatsächlich realisiert und von den Kindern und Jugendlichen erkannt werden kann, wurde schon zu Bizers Lebzeiten auch bezweifelt. Bizer wurde in diesem Zusammenhang vorgeworfen, in seinen Begehungen die Grenzen zwischen den Lernorten Kirche und Schule zu verwischen, Religionspädagogik als Kate9 Vgl. Christoph Bizer: Kirchliches. Wahrnehmungen – sprachlich gestaltet – zum Wahrnehmen, in: Silke Leonhard und Thomas Klie (Hg.): Schauplatz Religion. Grundzüge einer Performativen Religionspädagogik, Leipzig 2003, 23 – 46, bes. 26. 10 Bizer, Liturgik (s. o. Anm.2), 84. 11 Christoph Bizer: Die Schule hier – die Bibel dort. Gestaltpädagogische Elemente in der Religionspädagogik, in: Wilfried Bergau-Braune, Rainer Denecke und Jochen Pabst et al. (Hg.): Arbeitshilfe für den evangelischen Religionsunterricht an Gymnasien 49, Hannover 1992, 10. Bizer bringt diese Annahme auf die Formel: „Heilige Schrift minus Heiligkeit ergibt Text“ (Hervorhebungen im Original). 12 Christoph Bizer: Begehung als eine religionspädagogische Kategorie für den schulischen Religionsunterricht, in: Ders. (Hg.): Kirchgänge im Unterricht und anderswo. Zur Gestaltwerdung von Religion, Göttingen 1995, 183.
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chetik zu betreiben und damit die in den Phasen des hermeneutischen und problemorientierten Religionsunterrichts mühsam etablierte schulische Begründung des Religionsunterrichts in Frage zu stellen. Gerade aufgrund derartiger Anfragen mahnen seine Schriften eindringlich, den vorläufigen und fragmentarischen Charakter des unterrichtlichen Ausprobierens schulgerecht zu bedenken. Nur so könne der Religionsunterricht den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit eröffnen, sich auf die unbekannten Welten biblischer Geschichten, religiöser Haltungen oder liturgischer Elemente einzulassen. Im Idealfall würde dieser Unterricht dann dazu beitragen, dass die daran beteiligten Subjekte in seinem Verlauf mit den Formen von Religion in Kontakt treten, und zwar im physisch ganz konkreten Sinne durch „Berührung, sinnlich, über Haut, Nase, Ohr, Auge, Mund, über die Organe des menschlichen Körpers zur Aufnahme von Vorhandenem.“13 Bizer verwendet die Begehung jedoch nicht nur als religionspädagogische Kategorie, um seine Vorstellungen gelingenden Lernens innerhalb des Klassenzimmers zu beschreiben. Vielmehr verbindet er diesen Begriff auch mit einem Plädoyer für ein intensiveres Einbeziehen eines bestimmten außerschulischen Lernortes in die Religionsdidaktik. Evangelischer Religion und ihren Vollzugsformen könne man sich am besten dort nähern, so stellt Bizer fest, wo sie sich in der Öffentlichkeit in Selbstdarstellung und Selbstvollzug jeden Sonntag neu manifestiert – im kirchlichen Gottesdienst.
3.2
Das Spiel mit der Form
Obwohl Bizer die Relevanz der äußeren Erscheinungsformen christlicher Religion besonders hervorhebt, plädiert er keineswegs für ein unkritisch-affirmatives Einstudieren dieser Formen im religionsunterrichtlichen Kontext. Der Formbegriff fungiert in Bizers Ansatz vielmehr als Vermittlungskategorie zwischen Liturgie und Didaktik. Während eine Form einerseits durch ihre je eigene Struktur gekennzeichnet ist, eine unverkennbare und unverwechselbare Beschaffenheit, wird die gleiche Form aber andererseits in jeder ereignishaften Wahrnehmung zu einer neuen Gestalt modifiziert. An dieser Stelle zeigt sich Bizers intensive Rezeption der Gestalttheorie und –pädagogik, die seine Religionsdidaktik entscheidend prägt: Im Religionsunterricht soll es im „Hic et Nunc“ des Unterrichtsgeschehens durch die Aufnahme von „Kontakt“ zu einer wechselseitigen Erschließung zwischen gestalteter und zu gestaltender Form einerseits, sowie dem lernenden Subjekt andererseits kommen. In diesem gestaltak-
13 Bizer, Kirchgänge im Unterricht (s. o. Anm.12), 18.
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tiven Prozess verändern sich stets beide, die Form und das Subjekt.14 Die religionsdidaktische Konsequenz aus dieser Beobachtung, dass sich nämlich die überlieferten Formen der christlichen Tradition im Zuge ihrer gestaltaktiven Erschließung selbst verändern, begrüßt Bizer ausdrücklich: „Die Form entdeckt sich im Arbeitsprozeß dem Entdecker in ihrer Unverwechselbarkeit und macht ihre Entdeckungen zum Ereignis; sie verändert, bereichert, ‚bildet‘ den Entdecker, der sich selbst im Entdeckten neu erfährt.“15 Eine wichtige Größe im Prozess der ganzheitlichen Kontaktaufnahme verkörpert für Bizer die Lerngruppe. In der „Gesellungsform der Gruppe“16 kommen die Wahrnehmungen des Einzelnen produktiv zur Sprache, verändern sich in Auseinandersetzung mit den Wahrnehmungen der anderen und stellen so in den neu entstehenden und je unterschiedlichen Sichtweisen immer neu Gestalt her. Die unterrichtlichen Kontaktaufnahmen mit religiöser Tradition führen nach Bizers Verständnis also nicht dazu, dass Schülerinnen und Schüler sich bereits vorgegebene Formen ungebrochen aneignen, sondern sie eröffnen didaktisch allererst die Chance, den „Verheißungscharakter in ihren Formen für-wahr-zunehmen und zum gestaltenden Mitvollzug aufzuschließen.“17 Verzichtet der Religionsunterricht jedoch darauf, probeweise Kontakt zwischen der Lerngruppe und den religiösen Lerngegenständen anzubahnen, wird es didaktisch unmöglich, aus gewonnenen Erfahrungen Lernergebnisse zu abstrahieren, die sich als relevant für den religiösen Wachstumsprozess der Schülerinnen und Schüler erweisen können. Demgegenüber profiliert Bizer das Ausbilden der Fähigkeit, in einem gleichzeitig spielerischen und potenziell verbindlichen Sinne Kontakt zu einem womöglich fremden Lerngegenstand herstellen zu können, als Grundvorgang subjektiver Bildung. Christliche Religion sensibel wahrnehmen und aktiv gestalten – beides zusammen bildet die Mitte in Bizers Überlegungen zur zukunftsfähigen Gestalt des Religionsunterrichts. Sehr treffend fasst Ingrid Schoberth die methodisch-didaktischen Konsequenzen zusammen, die sich aus den oben dargestellten religionsdidaktischen Konturen im Hinblick auf die Organisation von Lernprozessen im schulischen Unterricht ergeben: „Die Entdeckungen mit Christoph Bizer führen zum religionspädagogischen Handeln, das auf Wegen der Wahrnehmung der christlichen Religion Gestalt gewinnt, einer Gestalt, die nicht ohne die tradierten und gegenwärtigen Formen christlicher Religion 14 Vgl. Petra Schulz: Sich etwas von sich selbst her zeigen lassen. Ein Beitrag zur didaktischen Theorie phänomenologisch orientierter Religionspädagogik, RThSt 17, Münster 2005, 78. 15 Bizer, Liturgik (s. o. Anm.2), 108. 16 Christoph Bizer: Die Gesellschaft auf dem Dachboden und von einem biblischen Kobold. Ein religionspädagogischer Versuch zur Gestaltpädagogik, in: JRP 7 (1990), 166 (Im Original ist der Begriff „Gruppe“ hervorgehoben). 17 Leonhard, Christoph Bizer (s. o. Anm.4), 141.
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auskommt, sondern mit ihnen, mit biblischen Texten, den Liedern der christlichen Tradition, ihren Gebeten und liturgischen Texten in die Wahrnehmung der christlichen Religion führt.“18
4. Der Religionspädagoge Christoph Bizer hat mit seinen Schriften und durch sein Wirken als Person das Nachdenken über religiöse Bildungsprozesse weit über Göttingen hinaus geprägt. Seine didaktischen Entwürfe kreisen um die Gestaltwerdungen evangelisch-christlicher Religion in schulisch und kirchlich verantworteten Lernorten. Sie ermutigen bis heute angehende Lehrerinnen und Lehrer, sich den Erscheinungsformen dieser Religion, und zwar sowohl ihren Gestalten als auch ihren Gehalten, aufmerksam mit allen Sinnen zu nähern. Erprobend und vorsichtig zwar, aber auch erwartungsfroh und mit Zutrauen in die Performanz der Räume, die sich im Zugehen auf christliche Religion eröffnen mögen. Genau dieses Zutrauen macht Bizer auch streitbar. Ob der schulische Religionsunterricht das passende Setting bieten kann und darf, um Schülerinnen und Schülern die christliche Religion „zum gestaltenden Mitvollzug aufzuschließen“, ist eine Frage, die im Anschluss an seine Überlegungen neu und kritisch geprüft werden muss. Die Göttinger Lehrerbildung und insbesondere die Theologische Fakultät verdanken Christoph Bizer viel. Durch seine Lehrveranstaltungen, Predigten, Texte, Andachten und Projekte rückten „Phänomene wie Atmosphäre, Gestalt, Körperinszenierung, Raum“19 in den Blick, die in der Praktischen Theologie der Georgia Augusta zuvor religionspädagogisch unbedacht geblieben waren. Sein hohes Interesse an schulischen Realitäten und pädagogischen Begegnungen in unterschiedlichsten Lernkontexten zeigt eine besondere Wertschätzung für die Bildungsaufgaben der Religionslehrkräfte und trug auf diese Weise mindestens implizit zu einer Aufwertung des lehramtsspezifischen Studienangebotes in Göttingen bei. Seine grundlegenden Überlegungen zum Zusammenhang von Liturgie und Didaktik sowie die Übertragung reform- und gestaltpädagogischer Einsichten auf die religionspädagogische Theoriebildung haben schließlich der „Performativen Religionsdidaktik“ den Weg bereitet, als deren „Altmeister“20 Bizer in jüngerer Vergangenheit bezeichnet worden ist. Auch über dieses strittige Etikett hinaus und trotz der publizistisch eher zurückhaltenden Beteiligung an 18 Ingrid Schoberth: Mit Christoph Bizer auf der Suche nach der Wahrnehmung der christlichen Religion, in: Dies. (Hg.): Wahrnehmung der christlichen Religion (s. o. Anm.7), 17. 19 Gutmann, Verheißung (s. o. Anm.7), 18. 20 Rudolf Englert: Performativer Religionsunterricht – eine Zwischenbilanz, in: ZPT 60 (2008), 12.
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den fachdidaktischen Diskursen seiner Zeit wird vor allem in aktuell vorgestellten religionspädagogischen Beiträgen sichtbar, dass Bizers Plädoyer für mehr Mut im Wahrnehmen und Gestalten christlicher Religion die konzeptionelle Debatte um einen zukunftsfähigen Religionsunterricht vorangetrieben und befruchtet hat.
Primärtexte Christoph Bizer: Kirchgänge im Unterricht und anderswo. Zur Gestaltwerdung von Religion, Göttingen 1995. –: Liturgik und Didaktik, in: JRP 5 (1988), S. 83 – 111. –: Unterricht und Predigt. Analysen und Skizzen zum Ansatz katechetischer Theologie, Gütersloh 1972.
Sekundärtexte Wilhelm Gräb: Die gestaltete Religion. Bizer’sche Konstruktionen zum Unterricht als homiletischer und liturgischer Übung, in: Wilhelm Gräb (Hg.): Religionsunterricht jenseits der Kirche? Wie lehren wir die christliche Religion? Neukirchen-Vluyn 1996, 69 – 82. Martin Rothgangel: Im Kontext von Lehrerbildung und Praktischer Theologie. Die Etablierung der Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät Göttingen, in: Bernd Schröder (Hg.): Institutionalisierung und Profil der Religionspädagogik. Historischsystematische Studien zu ihrer Genese als Wissenschaft, PThGG 8, Tübingen 2009, 317 – 339. Ingrid Schoberth (Hg.): Wahrnehmung der christlichen Religion, FS Christoph Bizer, Heidelberger Studien zur Praktischen Theologie 11, Berlin 2006, 13 – 17. Petra Schulz: Sich etwas von sich selbst her zeigen lassen. Ein Beitrag zur didaktischen Theorie phänomenologisch orientierter Religionspädagogik, RThSt 17, Münster 2005, bes. 78 – 81.
Annette Steudel
Hartmut Stegemann (1933 – 2005) – ein Leben für die Erforschung der Texte vom Toten Meer
1. „Meine Doktoranden sollen bitte die Wissenschaft weiterbringen, sie sollen besser werden als ich! Das ist doch der Sinn von Lehre!“1
Hartmut Stegemann hat diese von ihm gesprochenen Sätze in besonderer Weise verkörpert. Seine Begeisterung für die Wissenschaft, insbesondere im Blick auf Qumran, aber auch das Neue Testament, war nicht nur in seinen Lehrveranstaltungen, bei Vorträgen außerhalb der Universität und bei Veranstaltungen im Theologischen Stift gegenwärtig. Sie war Teil seines Lebens und von großer Ansteckungskraft. Der hohen Erwartungshaltung gegenüber seinen „Schülerinnen und Schülern“ einerseits, die sich in diesen Sätzen spiegelt, entspricht auf der anderen Seite das In-den-Dienst-Stellen seiner Leidenschaft. Es ging ihm nicht um wissenschaftliche Reputation, die er ohne Zweifel in hohem Maß genoss, es ging ihm um die Sache der Wissenschaft an sich. Sie gilt es voranzubringen.
2. Hartmut Stegemann wurde am 18. Dezember 1933 als ältestes von drei Kindern des Pastors Karl Stegemann und seiner Frau Dora in Gummersbach im Oberbergischen Land geboren. Sein Studium der Evangelischen Theologie begann er 1953 mit einem ersten Semester in Kiel und setzte es in Heidelberg bis 1959 fort. Dort studierte er von 1954 – 1959 auch Altorientalistik und Semitische Sprachen, unter anderem mit Adam Falkenstein. Seine Liebe zu den Handschriften vom Toten Meer geht bereits auf diese frühe Zeit zurück: 1956, er war gerade 23 Jahre alt und die Entdeckung der Schriftfunde ganz aktuell (1947 – 1956), veröffentlichte er seinen ersten Aufsatz dazu und arbeitete von Beginn an in der 1957 1 Zitat Hartmut Stegemann, mündlich überliefert durch Ursula Spuler-Stegemann.
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durch K.G. Kuhn in Heidelberg gegründeten Qumranforschungsstelle.2 Nach einjähriger Vikariatszeit in Leverkusen im Rheinland (1959 – 1960) kehrte Stegemann nach Heidelberg zurück, um dort von 1961 – 1963 sein Studium der Semitistik und seine Mitarbeit an der Qumranforschungsstelle wieder aufzunehmen. Gleichzeitig war er von 1962 – 1963 Assistent an der Theologischen Fakultät in Kiel. Im Jahr 1963 erhielt er den Titel „Dr. phil.“ für seine grundlegende Qumran-Dissertation zur „Rekonstruktion der Hodajot“, über die später noch zu lesen sein wird.3 Im selben Jahr wurde er neutestamentlicher Assistent von Philipp Vielhauer in Bonn. Dort beendete er 1965 seine alttestamentliche Dissertation über „Die Entstehung der Qumrangemeinde“ und erwarb sich dort den Titel „Dr. theol.“4 Seine umfangreiche Habilitationsschrift zum Kyrios-Titel stammt aus dem Jahr 1969.5 Seinen Lehrstuhl für Neues Testament in Marburg erhielt er 1971, nachdem er zuvor von 1970 – 1971 in Zürich und Heidelberg gelehrt hatte. Die Qumranforschungsstelle, ein Unternehmen mit weltweiter Anerkennung, übernahm er von Karl Georg Kuhn 1973 und transferierte sie von Heidelberg zunächst nach Marburg und 1980 dann nach Göttingen. In Göttingen hatte er als Nachfolger von Hans Conzelmann einen Lehrstuhl für Neues Testament inne und leitete dort die Abteilung für Antikes Judentum und die Qumranforschungsstelle.6 Als Ephorus des Theologischen Stifts war er vom WS 1992/93 bis zum SoSe 2002 tätig. In diese Zeit fiel die Gründung des Fördervereins „Freundinnen und Freunde des Theologischen Stifts der Georg-August-Universität Göttingen“ (2000) und die Katalogisierung der Bestände der Stiftsbibliothek, die seit dem Jahr 2000 über den öffentlich zugänglichen Online-Katalog der Universitätsbibliothek (OPAC) verfügbar ist. Semesterberichte der Stiftsinspektoren und der Stiftsinspektorin seiner Amtszeit, Hans-Martin Gutmann, Gerd Brinkmann (kommissarisch), Andrea Bieler und Frank Austermann, geben Zeugnis von den vielfältigen lebendigen und engagierten Veranstaltungen mit dem Ephorus Hartmut Stegemann, so z. B. in den Anfängen mit einer Debatte über die Aus2 Hartmut Stegemann: Die Risse in der Kriegsrolle, in: ThLZ 81 (1956), 205 – 210. Siehe im selben Band seine Zeichnungen in K.G. Kuhn: Beiträge zum Verständnis der Kriegsrolle aus Qumran, ThLZ 81 (1956), 25 – 30. 3 Hartmut Stegemann: Rekonstruktion der Hodajot. Ursprüngliche Gestalt und kritisch bearbeiteter Text der Hymnenrolle aus Höhle 1 von Qumran, Diss. Heidelberg 1963. 4 Hartmut Stegemann: Die Entstehung der Qumrangemeinde, Diss. Bonn 1965 (gedruckt 1971). 5 Hartmut Stegemann: Κυριος ο Θεος und Κυριος Ιησους. Aufkommen und Ausbreitung des religiösen Gebrauchs von Kurioß und seine Verwendung im Neuen Testament, Bonn 1969 (unveröffentlicht). 6 Im Jahr 1981 hielt er seine Göttinger Antrittsvorlesung bezeichnenderweise zum Thema “Der lehrende Jesus. Der sogenannte biblische Christus und die geschichtliche Botschaft Jesu von der Gottesherrschaft“. Vgl. Peter Porzig: Hartmut Stegemann (1933 – 2005), in: Henoch 28 (2006), 198 – 201.
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einandersetzungen an der Theologischen Fakultät Göttingen zur Judenmission, später zum Thema des Verhältnisses von Wissenschaft und Glauben und zur Arbeit von Neutestamentlern in der Zeit des Nationalsozialismus.7 Besondere Freude machte allen Beteiligten ein gemeinsam mit seiner Ehefrau Ursula SpulerStegemann, Professorin für Turkologie und renommierte Islamwissenschaftlerin an der Philipps-Universität Marburg, in Dialogform gestalteter Abend zum Thema Christentum und Islam gegen Ende seiner Zeit als Ephorus des Stifts. Dieses kam im Jahr seiner Emeritierung 2002. Hartmut Stegemann hätte seinen Dienst für das Theologische Stift und dessen Bewohner, die ihm menschlich außerordentlich am Herzen lagen, nur allzu gern fortgesetzt, so wie er seine Lehrund Prüfungstätigkeiten bis zum Ende des Sommersemesters 2005 trotz schwerer Krankheit aufrecht erhielt. Hartmut Stegemann verstarb am 22. August 2005 in Marburg. Seine Kollegin und Humboldt-Preisträgerin Eileen Schuller, Universität Hamilton (Kanada), war zu dem Zeitpunkt gerade in Göttingen eingetroffen, um mit ihm seine Hodajot-Edition aus dem Jahre 1963 für die Publikation in den „Discoveries in the Judaean Desert“ (DJD)8 vorzubereiten.
3. Tatsächlich veröffentlichte Eileen Schuller nach ihrem einjährigen GöttingenAufenthalt im Jahr 2008 als Abschlussband der Discoveries in the Judaean Desert-Reihe (DJD 40) Hartmut Stegemanns Hodajot und vollendete damit sein vielleicht bedeutendstes Werk. Seit 1964 war Hartmut Stegemann regelmäßig zu Forschungszwecken nach Jerusalem gereist und die dortige École biblique et archéologique française war ihm ein zweites Zuhause geworden. Es war Yigael Yadin, der als erster Stegemanns Interessen und Fähigkeiten im Umgang mit den Original-Fragmenten der Schriftrollen erkannte. Als damaliger Direktor des Shrine of the Book des Israel Museums in Jerusalem ließ Yadin ihn daraufhin ins Museum kommen, wann immer er mit den Qumran-Handschriften arbeiten wollte – ein Privileg, welches noch bis in die 1990er Jahren überhaupt nur sehr wenigen Wissenschaftlern vorbehalten war. In diesen vier Jahrzehnten studierte Hartmut Stegemann die Schriftfunde vom Toten Meer in den Jerusalemer Museen, zunächst lange Zeit allein, später mit einem internationalen Team junger Nachwuchsforscher, die von ihm in der Methode der materiellen Rekonstruktion von zerstörten Hand-
7 Dem derzeitigen Inspektor des Theologischen Stifts, Herrn Dr. Heiko Wojtkowiak, gilt mein Dank für die freundliche Unterstützung bei der Einsicht in die einschlägigen Akten. 8 Offizielle Editionsreihe zu den Handschriften vom Toten Meer.
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schriften unterrichtet worden waren, und stets in engem freundschaftlichen Austausch mit seinen Forscherkollegen aus aller Welt. Die Methode der materiellen Rekonstruktion, ebenfalls bekannt als die Stegemann-Methode, ist eine Herangehensweise zur Rekonstruktion zerstörter Schriftrollen auf der Grundlage des physischen Erscheinungsbilds ihrer Fragmente.9 Da nur etwa 1 % aller rund 1000 Qumran-Handschriften als mehr oder weniger gut erhaltene Rollen überliefert sind, hatte Stegemann die Notwendigkeit gesehen, deren ursprüngliche Gestalt auf der Basis objektiver Kriterien zu ermitteln, nämlich aufgrund des materiellen Befunds. Die von ihm angewendete Methode basiert auf der Beobachtung, dass es sich bei den zerstörten Handschriften in aller Regel um Schriftrollen gehandelt hat, welche dem natürlichen Zerfallsprozess als solche ausgesetzt waren. Die grundlegende Aufgabe besteht nun darin, innerhalb einer Handschrift ähnliche Formen von Fragmenten aufzuspüren, ebenso ähnliche Zerstörungsmerkmale wie z. B. Wurmlöcher oder Nahtränder und deren Abdrücke. Die Fragmente oder Zerstörungsmerkmale, die einander besonders ähneln, stammen aus aufeinanderfolgenden Lagen der ehemaligen Rolle und müssen bei der Rekonstruktion auf einer horizontalen Ebene in Nachbarschaft zueinander angeordnet werden. Die Distanz zwischen korrespondierenden Formen entspricht dabei dem Umfang der Rolle an der Stelle, von der die Fragmente stammen; das heißt, je kleiner der Abstand zwischen einander entsprechenden Bruchformen, desto näher am Rollenende befanden sie sich.10 Der Vorteil eines solchen materiellen Zugangs besteht zum einen in der Vermeidung textlich orientierter Spekulationen zur Anordnung der Fragmente. Er eröffnet zum anderen die Möglichkeit, Struktur und Inhalt selbst stark zerstörter Texte zu verstehen, denen zuvor aufgrund ihres fragmentarischen Charakters kaum Beachtung geschenkt wurde. Hartmut Stegemann wandte die Methode zunächst in seiner Dissertation von 1963 an, nämlich zur Rekonstruktion der Loblieder, der Hodajot-Rolle aus Höhle 1 von Qumran (1QHa). Eine unerwartete Bestätigung der Zuverlässigkeit der Methode ergab sich später, als Émile Puech unabhängig von Stegemann die Hodajot materiell rekonstruierte und dabei zu nahezu identischen Ergebnissen kam.11 Im Laufe der folgenden Jahre entwickelte Hartmut Stegemann die Methode weiter und vergaß nie zu 9 „Carol Newsom is said to have coined the sentence: ‚Let Hartmut work his magic on it‘ – In a brilliant way, it describes Hartmut Stegemann’s ability and dedication to let the scrolls arise again from the scattered fragments.“ Porzig, Hartmut Stegemann (s. o. Anm. 6). 10 Näheres hierzu in Hartmut Stegemann: Methods for the Reconstruction of Scrolls from Scattered Fragments, in: Lawrence H. Schiffman (Hg.): Archaeology and History in the Dead Sea Scrolls, JSPSup 8, Sheffield 1990, 189 – 220. 11 Vgl. Émile Puech: Quelques aspects de la restauration du Rouleau des Hymnes (1QH), JJS 39 (1988), 38 – 55.
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betonen, dass nicht etwa er Vater dieser Methode sei; vielmehr hatte J.T. Milik sie bereits 1955 zur Anordnung der Fragmente von 1QSb, den Segenssprüchen, herangezogen.12 Hartmut Stegemann hatte es zeitlebens abgelehnt, selbst Qumrantexte für die DJD-Reihe zu edieren.13 Sein Ziel vielmehr war es, andere Wissenschaftler mit all seinem Wissen zu unterstützen, vor allem darin, ihre jeweiligen DJD-Editionen auf eine durch materielle Beobachtungen gesicherte Basis zu stellen. Etliche Texte in DJD wurden mit Hilfe seiner Expertise zum materiellen Befund ediert, so zum Beispiel die Sabbatopferlieder (ShirShab, DJD 11), die so genannten NonCanonical Psalms (DJD 11) und die Hodajot-Handschriften aus Höhle 4 von Qumran (DJD 29). Aus seinem Wunsch heraus, den Editoren der Texte vom Toten Meer bestmögliche Arbeitsmittel zur Verfügung zu stellen, ließ er 1988 im Namen des damaligen Chefherausgebers, John Strugnell, die sogenannte Zettelkonkordanz privat drucken, in der sich die Lesungen der Erstbearbeiter der Qumrantexte finden. Die Zettelkonkordanz ist bis heute von kaum zu überschätzendem Wert, da hier manches Fragment noch in vollständigerem Zustand, etwa an seinen Rändern, dokumentiert ist.14 Weitgehend unbekannt ist die Rolle Hartmut Stegemanns, Ende der 1980 Jahre, in der er die Öffentlichkeit auf den damals noch hohen Prozentsatz unveröffentlichter Qumranhandschriften aufmerksam machte. Dadurch trug er zu dem Prozess bei, der unter der Chefherausgeberschaft von Emanuel Tov zu einer enormen Beschleunigung der Publikationstätigkeiten und schließlich zu deren offiziellen Abschluss im Jahr 2001 führte (erst 8 von 40 DJD-Bänden waren bis 1990 veröffentlicht). Zahlreiche Qumran-Artikel von Hartmut Stegemann erschienen in unterschiedlichen Fachzeitschriften, viele von ihnen in der bedeutenden Revue de Qumrân, für die er seit 1988 Mitherausgeber war. 1993 publizierte Stegemann sein Sachbuch Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, das bis 2007 in insgesamt zehn Auflagen erschien und in verschiedene Sprachen übersetzt wurde.15 Darin entwickelte er allgemeinverständlich ein umfassendes Bild der Qumrantexte, der „essenischen“ Gemeinschaft (yachad) und der Siedlung, deren Zweck er in der Rollenherstellung und -verbreitung nach Art einer „Verlagsanstalt“ sah. 12 Vgl. Józef Tadeusz Milik: Qumran Cave 1 (DJD 1), Oxford 1955, 118 – 130. Auch außerhalb der Qumranforschung werden ähnliche Methoden benutzt. 13 Nichtsdestotrotz wurden einige Fragmente von ihm (neu) ediert. Vgl. Hartmut Stegemann: 4QDamascus Documentd frgs. 10,11 (Re-edition), in: S.J. Pfann: Qumran Cave 4.XXVI (DJD 36), Oxford 2000, 201 – 211. 14 Hartmut Stegemann: A Preliminary Concordance to the Hebrew and Aramaic Fragments from Qumrân Caves II – X. Including Especially the unpublished Material from Cave IV. Printed from a card Index prepared by R. E. Brown et al. (Hg.), Göttingen 1988. 15 Hartmut Stegemann: Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg 102007.
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In seinen letzten Lebensjahren arbeitete Hartmut Stegemann an einem neuen Buch zur Siedlung von Qumran und hatte insbesondere zur voressenischen Phase der Siedlung neue archäologische Ideen entwickelt. Zu dessen Verwirklichung ist es nicht mehr gekommen. Auch sein großer Wunsch, einst ein Buch über Jesus schreiben zu können, zu dem er Züge in seinem Essener-Buch erkennen lässt, blieb unerfüllt.
4. Hartmut Stegemann hat, neben Johann Maier, die deutschsprachige Qumranforschung geprägt wie kein anderer. Sein Einfluss geht weit darüber hinaus. Die Anwendung der von ihm etablierten Methode der materiellen Schriftrollen-Rekonstruktion ist heute verbreiteter denn je. Sie wird verwendet, (1) wenn der Text nicht oder nur teilweise durch Paralleltexte bekannt ist, (2) die anderen Handschriften des Textes eher Versionen, nicht aber exakte Kopien des Werkes repräsentieren, (3) bei biblischen Texten, um zu eruieren, ob es sich tatsächlich um eine Kopie eines biblischen Buches handelt oder eher um einen Exzerpttext und auch, um mögliche Textumstellungen gegenüber bekannten Versionen (MT, Sam, LXX) zu prüfen und schließlich (4) bei spezifischen Fragestellungen, etwa, ob ein bestimmtes Fragment vom Anfang oder Ende eines Werkes stammt. Während zu Lebzeiten Hartmut Stegemanns die Methode ausschließlich im Kontext der Göttinger Qumranforschungsstelle und der École biblique (Émile Puech) praktiziert wurde, geschieht dies heute auch anderenorts, vor allem in Helsinki. Rekonstruktionen ganzer Handschriften wurden in Göttingen durch A. Steudel (1994), R. Vielhauer (2001), und E. Jain (2002 und 2014) erarbeitet, international unter Göttinger Beratung durch S. Metso (1997), M. Pajunen (2013), E. Uusimäki (im Druck) und J. Angel (im Druck).16 Verschiedene materielle Rekonstruktionen, an denen Hartmut Stegemann teils mit anderen viele Jahre lang gearbeitet und sie nahezu vollendet hatte, wie vor allem diejenigen zu den Manuskripten der Damaskusschrift, einer großen Gemeinderegel, aus Höhle 4 von Qumran und dem sogenannten „Lehrerbrief“ 4QMMT, blieben bislang unveröffentlicht. Aber sowohl die materielle Rekonstruktion von Handschriften als auch die Arbeit am philologischen Wörterbuch, welches nicht zu verwechseln ist mit dem Bonner Theologischen Wörterbuch zu Qumran von H.-J. Fabry/ U. Dahmen, werden in Göttingen fortgeführt. Nach seiner Emeritierung im Jahr 16 Für nähere Angaben, auch zum Folgenden, vgl. Annette Steudel: Basic Research, Methods and Approaches to the Qumran Scrolls in German-Speaking Countries, in: Devorah Dimant (Hg.): The Dead Sea Scrolls in Scholarly Perspective: A History of Research (STDJ 99), Leiden 2011, 565 – 599.
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2002 übergab Hartmut Stegemann die Leitung der Qumranforschungsstelle seinem alttestamentlichen Kollegen Reinhard Kratz, der diese auch institutionell an der Fakultät etablierte. Stegemann erlebte noch mit, unter welch enorm verbesserten Umständen seit der Publikation des gesamten Textmaterials in den DJD und auch neuer Datenbanktechnik die Arbeit am Wörterbuch möglich geworden war. Er hat nicht nur seiner Qumranforschungsstelle ein reiches Erbe an wissenschaftlichen Herausforderungen hinterlassen – die meisten seiner Werke sind bis heute noch nicht annähernd zureichend ausgewertet –, sondern der internationalen Qumranforschung überhaupt. Diese gewinnt in den letzten Jahren auf eigenen Wegen sorgfältig argumentierend zunehmend Erkenntnisse, die überraschenderweise Hartmut Stegemann und, von ihm vermittelt, der deutschsprachigen Bibelwissenschaft teils seit Jahrzehnten geläufig waren. Dazu gehört etwa die Einsicht, dass die Handschriften aus den Höhlen von Qumran keineswegs ein einheitliches Korpus darstellen, sondern zwischen „qumranischen“ und „vorqumranischen“ (heute vorsichtiger „außerqumranischen“) Werken unterschieden werden muss; dass längst nicht alle Handschriften in der Qumransiedlung am Toten Meer entstanden sind; dass Qumran nicht der einzige Wohnort der Gruppe war, der wir den Textfund verdanken; dass es sich bei der Qumrangemeinschaft nicht um eine „Gemeinde“, sondern eher um eine Bewegung (heute „movement“) großen Ausmaßes gehandelt hat und vieles mehr. Bei Hartmut Stegemann wird diese Gruppierung noch mit den Essenern identifiziert, ein alter Forschungskonsens, der gegenwärtig zunehmend auseinander bricht (auch wenn sich keine besseren Identifizierungen aufgetan haben), ebenso wie inzwischen das weitgehend von Stegemann entworfene und breit akzeptierte historische Bild vom „Lehrer der Gerechtigkeit“ der Qumrantexte als amtsvertriebenem Hohenpriester und Gemeindegründer ins Wanken gerät und durch andere Modelle zu ersetzen versucht wird (z. B. Amt oder literarische Figur). Das, was die Mitarbeiter der Göttinger Qumranforschungsstelle, die Autorin des Beitrags eingeschlossen, neben der Erarbeitung des philologischen Wörterbuchs und der materiellen Rekonstruktion zu leisten versuchen, ist, in enger Vernetzung mit der internationalen Qumranforschunsgemeinschaft weiterhin Fragen zu stellen, hin und wieder Antworten zu finden, alte und neue methodische Zugänge zu den Texten zu prüfen, Wissen zu vermitteln, die Begeisterung weiterzugeben und zu hoffen und zu bitten, dass die eigenen „Schülerinnen und Schüler“ einmal besser werden mögen als man selbst.
Primärtexte Hartmut Stegemann/Eileen Schuller, Qumran Cave 1.III: 1QHodayot a with Incorporation of 4QHodayot a–f and 1QHodayot b, Carol A. Newsom (Übers.), DJD 40, Oxford 2008.
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Hartmut Stegemann: Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg 102007 (auch in englischer, spanischer und italienischer Übersetzung). –: Methods for the Reconstruction of Scrolls from Scattered Fragments, in: Lawrence H. Schiffman (Hg.): Archaeology and History in the Dead Sea Scrolls, JSPSup 8, Sheffield 1990, 189 – 220.
Sekundärtexte Jörg Frey: Qumran Research and Biblical Scholarship in Germany, in: Devorah Dimant (Hg.): The Dead Sea Scrolls in Scholarly Perspective: A History of Research (STDJ 99), Leiden 2011, 529 – 564, bes. 540 – 560. Peter Porzig: Hartmut Stegemann (1933 – 2005), in: Henoch 28 (2006), 198 – 201. Annette Steudel: Basic Research, Methods and Approaches to the Qumran Scrolls in German-Speaking Countries, in: Devorah Dimant (Hg.): The Dead Sea Scrolls in Scholarly Perspective: A History of Research (STDJ 99), Leiden 2011, 565 – 599.
Teil III: Stiftsthemen
Andrea Bieler
Spiritualität im Theologiestudium
1.
Spiritualität als Praxis der dislocation
Das Studium der evangelischen Theologie verlangt die Erarbeitung von Zugängen zu den biblischen Texten und den vielgestaltigen christlichen Traditionen, die die Rezipientinnen der Inhalte in eine aktive Auseinandersetzung mit der eigenständigen Artikulation ihres Glaubens verwickelt. Als kritische Reflexion christlichen Glaubenslebens ist die Theologie eine hermeneutische Wissenschaft, die in das Deuten, Interpretieren, Verstehen und Urteilen einführt. Dabei geht es um das kritische In-Beziehung-setzen und kreative Kombinieren verschiedener Referenzsysteme. Zu diesen gehören der Glaube, der sich auf die Schrift, das Bekenntnis, die Theologie und die vielgestaltigen Formen von Kirche bezieht, die kritische Reflexion zeitgenössischer Lebenserfahrungen und das darin implizite Orientierungswissen sowie die Bezugnahme auf wissenschaftliche Theoriebildung, die den theologischen Diskurs herausfordert und deshalb von Bedeutung ist.1 Dieser Verwicklungsprozess wird produktiv, wenn in der Arbeit an Glaubensfragen kritische Reflexion, Gefühl und Aufmerksamkeit für die Welt in ein kreatives Zusammenspiel gebracht werden. Dies kann nur vor dem Hintergrund geschehen, dass der christliche Glaube für viele Menschen heute keineswegs mehr eine naheliegende Plausibilität besitzt, die mit einfachen Rezepten vermittelt werden könnte; vielmehr muss um diese in Kommunikationsprozessen gerungen werden. Diese Anstrengung ist jedoch nicht nur den spätmodernen Individualisierungs- und Pluralisierungsschüben geschuldet, sondern sie ist eine grundsätzliche Aufgabe, die dem Studium der Theologie inhärent ist. Nach evangelischem Verständnis bilden die wissenschaftlich-theologische Reflexion, das Sprachfähigwerden im eigenen Glauben sowie die Einübung einer praxis pietatis keine Gegensätze, sondern sie stehen in einem konstruktiven Span1 Vgl. hierzu Ingolf U. Dalferth: Kombinatorische Theologie. Probleme theologischer Rationalität, Freiburg 1991, 18 f.
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Andrea Bieler
nungsverhältnis. So bedarf einerseits die praxis pietatis der kritischen Reflexion im Hinblick auf die Begründungszusammenhänge ihrer jeweiligen Ausdrucksformen, andererseits bedarf die wissenschaftliche Theologie einer reflektierten Bezugnahme auf die Wirklichkeit Gottes als das lebendige Gegenüber, das letztlich unverfügbar bleibt und sich dem kontrollierenden Bemühen rationaler Spekulation immer wieder entzieht. Demzufolge können wir sagen, dass das Studium der Theologie eine existenzial-erfahrungsbezogene Dimension haben muss, um der Sache, um die es geht, entsprechen zu können. Martin Luthers Überlegungen zum Zusammenhang von Glaubenspraxis und wissenschaftlicher Theologie sind in diesem Zusammenhang hilfreich.2 Er spricht von der Theologie als sapientia experimentalis, die die scientia in sich aufnimmt. Als solche gehört sie dem weisheitlichen Wissen an „und bedenkt den Zusammenhang der Wissenschaft mit der vorwissenschaftlichen Lebenswelt. Zur Weisheit gehört ein Weg: die Verbindung von Theoretischem und Praktischem, ja die Gründung von beidem in einem Dritten, nämlich in einer vita experimentalis als vita passiva.“3 Für Martin Luther stand im Zentrum der Theologie das Studium der Schrift, das im Dreischritt von oratio, meditatio und tentatio die Texte immer wieder durchschreitet und darin einen Prozess der Selbstbefragung einleitet. Dieser kulminiert in der tentatio, der Anfechtung, in der das Wissen und Verstehen in die Erfahrung überführt wird, wie tröstlich, mächtig und lieblich Gottes Wort sei. Und weiter: „Denn so bald Gottes wort auffgehet durch dich, so wird dich der Teuffel heimsuchen, dich zum rechten Doctor machen, und durch seine anfechtungen leren, Gottes wort zu suchen und zu lieben.“4 Auch wenn wir heute den Prozess der tentatio nicht mehr auf diese Weise als Konfrontation mit dem Teufel beschreiben, ist es immer noch sinnvoll, den Begriff zu benutzen, um die Widerstände, die die Wirklichkeitsreflexion dem Studium der Schrift und auch der Tradition aufdrängt, zu benennen. Widerstände sind insbesondere zu Beginn des Theologiestudiums bei vielen Studierenden spürbar, wenn vertraute biblische Leseweisen durch philologische bzw. historisch kritische Methoden infrage gestellt werden. Der Übergang von der Schule ins Studium trägt in vielfacher Weise liminoide Züge; die Auseinandersetzung mit der Auslegung und Interpretation biblischer Texte gehört oftmals zu den anfänglichen Krisenerfahrungen.5 Die Ausdrucksformen, die der eigene 2 Vgl. hierzu auch Peter Zimmerling: Integration der Spiritualität in das Studium der evangelischen Theologie, in: Ralph Kunz und Claudia Kohli Reichenbach (Hg.): Spiritualität im Diskurs. Spiritualitätsforschung in theologischer Perspektive, Zürich 2012, 127 – 129. 3 Oswald Bayer: Oratio, Meditatio, Tentatio. Eine Besinnung auf Luthers Theologieverständnis, in: Lutherjahrbuch 55 (1988), 7 – 59, 11. 4 WA 50, 660, 3 – 7. 5 Vgl. zu liminoiden Erfahrungen innerhalb des Theologiestudiums Brigitte Enzner-Probst:
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Glaube in der Jugendzeit gefunden hat, werden mit Fragestellungen wissenschaftlicher Theologie konfrontiert. Dies kann Verunsicherungen hervorrufen, die produktiv als Möglichkeit der Weiterentwicklung der eigenen theologischen Einsicht genutzt werden können. Anfechtung, Zweifel und Widerstand können Produktivkräfte für einen integrativen Zugang zum Theologiestudium sein, in dem wissenschaftliche und geistliche Bildung in Beziehung gesetzt werden. Sie können aber ebenso das wissenschaftliche Interesse ersticken oder die aufbrechenden Glaubensfragen unterdrücken. Die theologische Ausbildung sollte dementsprechend Studierende dazu befähigen, in diesen Prozess der tentatio, der Anfechtung, einzutreten, in diesem sprachfähig zu werden und die auftretenden Widerstände zu bearbeiten. Dies impliziert die Ausbildung einer Ambiguitätstoleranz, die dazu verhilft, Komplexitäten, Paradoxien und offenen Fragen Raum zu geben.6 Hierfür bedarf es eines Ethos der Lehrenden, das sich nicht einfach nur mit der Vermittlung ‚sicherer‘, in sich geschlossener Wissensbestände begnügt, sondern eine Praxis der dislocation fördert.7 In intellektueller und sozialer Hinsicht werden vertraute Einsichten verlassen, die Irritation eines vermeintlichen theologischen Common Sense eingeübt und die Unterbrechung eingeschliffener Weltwahrnehmungen praktiziert. In der Praxis der dislocation geht es um eine Form von Bildung, die die dynamische Persönlichkeitsentwicklung von Theologiestudierenden in ihrer Konflikthaftigkeit mit in den Blick nimmt. Hier setzt meines Erachtens die Frage nach der Spiritualität im Theologiestudium an. Dieser Ansatzpunkt wurde in den USA in den Feldern der spiritual formation und des immersion learning seit den siebziger Jahren in der Ausbildung von Theologinnen und Theologen weiterentwickelt. Spiritual formation ist z. B. an der Yale Divinity School, New Haven (USA), eine von drei Säulen der theologischen Ausbildung neben dem wissenschaftlichen Studium und den Kursen, die Praxisübungen und theologische Reflexion verbinden.8 Spiritual formation Spiritualität lehren und lernen. Aspekte einer systemisch konzipierten theologischen Didaktik von Spiritualität im Theologiestudium, in: Kunz/Reichenbach, Spiritualität im Diskurs (s. o. Anm. 2), 113 – 124. 6 Vgl. zum Konzept der Ambiguitätstoleranz in praktisch theologischer Hinsicht Andrea Bieler: Ambiguitätstoleranz und empathische Imagination. Praktisch-theologische Erkundungen, in: Andrea Bieler und Henning Wrogemann (Hg.): Was heißt hier Toleranz? Interdisziplinäre Zugänge, Neukirchen Vluyn 2014, 131 – 145. 7 Der Begriff der dislocation umfasst in diesem Zusammenhang das Bedeutungsspektrum von „versetzen“, „verlagern“, „entwurzeln“ und „durcheinanderbringen“. 8 Vgl. hierzu grundlegend: George A. Lindbeck: Spiritual Formation and Theological Education, in: TheologicaI Education 24, Supp. 1, (1988), 10 – 32. Im Vergleich zur deutschen Situation bleibt zu bedenken, dass die theologische Ausbildung in den USA kein an das wissenschaftliche Studium der Theologie angeschlossenes Vikariat kennt; die berufsbezogene Ausbildung ist in das Master of Divinity Studium integriert. Zur Auseinandersetzung mit den Impulsen Lindbecks vgl. auch Sabine Hermisson: Spiritualität in der Ausbildung zum Pfarrberuf. Eine
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umfasst den Bereich der geistlichen Bildung, die auf unterschiedliche Weise die Frage nach der Wirksamkeit des Heiligen Geistes im eigenen Leben, den religiösen Gemeinschaften und der Welt in den Blick nimmt. Geistliche Übungen, grundsätzliche Fragen der Lebensgestaltung sowie verschiedene Dimensionen der Persönlichkeitsbildung kommen in der spiritual formation in den Fokus. Unter immersion learning werden beispielsweise an der Pacific School of Religion in Berkeley, Kalifornien (USA) diejenigen Projekte in der theologischen Ausbildung gefasst, in denen Studierende und Lehrende gemeinsam die komfortable Sicherheit der theologischen Ausbildungsinstitution verlassen und kirchliche und kommunale Orte kennenlernen, die in unterschiedlicher Weise eine physische, psychische und religiöse dislocation darstellen. So lernen Studierende beispielsweise beim Besuch der afrikanisch-amerikanischen Gemeinde ‚City of Refuge‘, die im Armutsviertel des Tenderloin in San Francisco beheimatet ist, verschiedene diakonische Projekte kennen, die die Situation wohnungslos lebender Menschen in den Blick nehmen. Hinzu kommt eine Einführung in die reiche afrikanisch-amerikanische Gottesdienstkultur, durch die die diakonische Arbeit eine besondere Prägung erfährt. Eine zentrale Lernerfahrung dieses Projektes besteht darin, eine Gemeinde kennenzulernen, in der das diakonische und das liturgische Handeln nicht in zwei getrennten Welten stattfindet, sondern intensiv miteinander verknüpft ist; gottesdienstliche Spiritualität und das Leben auf den Straßen von San Francisco sind hier in organischer Weise aufeinander bezogen. Diese immersion classes sollen insbesondere den weißen Studierenden dazu verhelfen, in eine unbekannte Kultur christlichen Lebens einzutauchen, sie sensibel und kritisch wahrzunehmen, um im Anschluss die Herausforderungen zu formulieren, die sich aus der Tenderloin-Erfahrung im Hinblick auf das eigene Theologiestudium und die eigene Spiritualität stellen. Im immersion learning der Pacific School of Religion wird ein transgressives Verständnis von Spiritualität kultiviert, in dem es nicht nur um die Pflege der individuellen innerlichen Religiosität geht, sondern um die Kultivierung einer Praxis der dislocation. Die Bedeutung der Spiritualität im Theologiestudium ist ein viel diskutiertes Thema. Sandra Schneiders, die in den USA eine der maßgeblichen Protagonistinnen war, die Spiritualität als Disziplin im Fächerkanon der Theologie profiliert haben,9 schlägt hinsichtlich der anthropologischen Grundierung vor, Spiritualität als die menschliche Fähigkeit zur Selbsttranszendenz durch Wissen und Liebe zu begreifen, die es Menschen ermöglicht, in tiefgreifender Bezogenheit auf Bestandsaufnahme im Dialog mit George Lindbecks Überlegungen zum Thema, in: ZThK 108 (2011), 225 – 251. 9 Vgl. hierzu Sandra Schneiders: Spirituality in the Academy, in: Theological Studies 50 (1989), 676 – 697.
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andere Menschen und den Planeten Erde zu leben. Sie definiert Spiritualität als „experience of conscious involvement in the project of life integration through self-transcendence toward the ultimate value one perceives.“10 Schneiders betont den Erfahrungshorizont von Spiritualität, d. h., es geht zunächst weniger um eine vorgeordnete Weltanschauung, sondern um eine gelebte, inhaltlich vom Einzelnen zu verantwortende Praxis, die sowohl passive als auch aktive Dimensionen hat. Mit dem Begriff des bewussten Involviertseins grenzt Schneiders sich sowohl gegenüber der Vorstellung ab, dass primär außergewöhnliche bzw. überwältigende Erlebnisse die spirituelle Fundierung des Glaubens ausmachen, als auch gegenüber der Auffassung, es ginge allein um die Einführung in geistliche Übungen. Vielmehr umfasst Spiritualität eine fundamentale Haltung, die von Aufmerksamkeit und Offenheit den Alltagsphänomenen gegenüber geprägt ist. Spirituelle Praxis dient dem Ziel, eine Aufmerksamkeit dem Leben gegenüber zu kultivieren, die das selbstbezogene Eigeninteresse immer wieder übersteigt. Der Begriff der Integration zielt auf einen umfassenden Zugang zur Wahrnehmung des Lebens, der die Ausdrucksformen von Verstand und Gefühl, Aktivität und Passivität, innen und außen, Individualität und Sozialität gleichermaßen zu würdigen weiß. Dieses sich im Prozess des eigenen Lebens kontinuierlich entwickelnde Projekt der Integration ist auf den Horizont dessen ausgerichtet, was uns unbedingt angeht. Die Konturierung dieses Horizontes muss dabei von einer stetigen kritischen Selbst- und Normenreflexion begleitet sein, um autoritäre oder destruktive spirituelle Ausdrucksformen der Spiritualität kenntlich machen zu können. Dieses sehr weit gefasste Verständnis von Spiritualität kann einen religiösen Horizont einschließen, der von der Existenz Gottes ausgeht, zwingend erforderlich ist dies freilich nicht. Spiritualität als Praxis der Selbsttranszendenz existiert niemals kontextlos, sondern ist immer eingebunden in partikulare kulturelle bzw. religiöse Symbolsysteme. Christliche Spiritualität ist bezogen auf die Gaben des Heiligen Geistes, insbesondere auf Glaube, Liebe und Hoffnung, die die christliche Lebensführung insgesamt prägen und sich zutiefst im Doppelgebot der Nächstenliebe ausdrücken. Sie kultiviert Aufmerksamkeit für das Wirken des Heiligen Geistes im Alltag der Welt. Die Transzendierung des Selbst hat im christlichen Verständnis eine pathische Qualität: Menschen werden bewegt von der Kraft des Heiligen Geistes; sie empfangen die Gaben des Geistes; lebt jemand im Geist Christi, so ist er ein neues Geschöpf (2 Kor 5,17). Die Kultivierung dieser Aufmerksamkeit bedarf sowohl der Reise nach innen im Gebet, im Hören auf die Schrift und in der Stille als auch des äußerlichen Weges in die Welt, die uns in ihrer Zwiespältigkeit und Uneindeutigkeit entgegenkommt und die der vertief10 Sandra M. Schneiders: Approaches to the Study of Christian Spirituality, in: Arthur Holder (Hg.): The Blackwell Companion to Christian Spirituality, Malden (MA) 2005, 15 – 33, hier 16.
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ten Wahrnehmung sowohl der vertrauten Lebenswelt als auch desjenigen, das als fremd erscheint, bedarf.
2.
Spiritualität im Theologischen Stift
Das Theologische Stift der Georg-August-Universität Göttingen, so wie ich es in den neunziger Jahren während meiner Tätigkeit als Stiftsinspektorin kennenlernen durfte, wurde maßgeblich von den Studierenden und ihren Anliegen geprägt. Diese haben sich im Laufe der Jahre immer wieder gewandelt. In der Organisation des gemeinsamen Lebens wurden entsprechend unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Strukturell bot das Stift einen Raum für informelle Geselligkeit, für gemeinsames Leben und Lernen. Eine Kapelle gab es im Haus nicht, wohl aber die Möglichkeit, die in der Nachbarschaft gelegene Marienkirche zu nutzen. Die gemeinsamen Mahlzeiten gaben dem Alltag während des Semesters einen wiederkehrenden Rhythmus. Das gemeinsame Essen kann im Horizont des dargelegten Spiritualitätsverständnisses als eine wichtige Übung im Hinblick auf soziale Aufmerksamkeit begriffen werden. Immer wieder gab es eine Gruppe von Studierenden, die sich in herausragender Weise als Teil des Ganzen verstanden und Selbsttranszendierung in der Sorge und Pflege der Gemeinschaft eingeübt haben. Als Ort gemeinsamen Lebens und Lernens widerstrebte das Leben im Stift immer wieder einer Konsummentalität hinsichtlich des Theologiestudiums, da die Veranstaltungen, die angeboten wurden, fast durchgängig die Artikulation einer eigenen Perspektive herausforderten. Das Theologische Stift war ein experimenteller Ort im Hinblick auf die Bedeutung der Spiritualität im Theologiestudium. Die oben herausgearbeiteten Aspekte der Praxis der dislocation, der Persönlichkeitsbildung ebenso wie das Experimentieren mit rituellen Formen geistlichen Lebens fanden hier zu unterschiedlichen Zeiten einen Ort. Die Praxis der dislocation fand immer dann eine Gestalt, wenn die Heterogenität der Gruppe der Studierenden zu produktiven Auseinandersetzungen führte und nicht einfach ein stillschweigendes Nebeneinander praktiziert wurde. Studierende, die unterschiedliche theologische und politische Überzeugungen innehatten, die in ihrem Lebensgefühl und Lebensstil teilweise kaum Verständnis füreinander hatten, trafen im Stift aufeinander. Unter anderen Umständen hätten viele Studierende sich vermutlich dafür entschieden, mit Gleichgesinnten zusammen zu wohnen. Dies stellte eine besondere Möglichkeit und Herausforderung dar, insbesondere wenn die Grenzen des gegenseitigen Verstehens erreicht wurden bzw. die Bedingungen für aktive, reflektierte Toleranz ausgelotet werden mussten. Dislocation hatte in diesen Situationen mit dem Bemühen zu tun, den eigenen Ort zu verlassen und
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zumindest für eine Weile eine unbekannte, vielleicht sogar anstößige Perspektive einzunehmen, um den gegenseitigen Verstehens-Prozess zu vertiefen. Geistliche Gemeinschaft im christlichen Sinne zielt ja gerade nicht auf die Geselligkeit der Gleichgesinnten im Hinblick auf politische Überzeugungen, den guten Geschmack oder die spontane Sympathie, sondern ist gegründet in dem Bemühen, Fremdheitserfahrungen zu kommunizieren und Diversität zu suchen und auf diese Weise der paulinischen Vorstellung von den verschiedenen Gliedern am Leib Christi eine gelebte Gestalt zu geben. Eine herausfordernde dislocation zeigte sich insbesondere in der Internationalität der Gemeinschaft, in der gegenseitige Wahrnehmung immer wieder eingeübt werden musste. So hatten die deutschen Studierenden z. B. das Privileg, von der sudanesischen Theologin Niashangog Along zu lernen, was es bedeutet, im Kontext von Bürgerkrieg und dauernder Gewaltandrohung zu leben und sich als Christin zu artikulieren. Dieses Lernen war für uns wohlbehütete Deutsche bruchstückhaft; immer wieder wurden wir mit unserer Ignoranz und unseren unhinterfragten Privilegien konfrontiert. Viele ausländische Studierende machten in der Stiftsgemeinschaft schmerzhafte Erfahrungen der Marginalisierung, sei es durch Infantilisierung oder durch Exotisierung. Sie fühlten sich oftmals nicht ernst genommen oder als exotische Objekte vorgeführt. In den Situationen, in denen diese schmerzhaften Bruchstellen in der Begegnung als Möglichkeit des gemeinsamen Lernens begriffen wurden, fand spirituelles Lernen statt. An den Bruchstellen wurde manchmal im Konflikt eine Aufmerksamkeit für Fremdheitserfahrungen ermöglicht, die die Dimension der Selbsttranszendierung in sich barg. Die Aufgabe der Stiftsinspektorin beinhaltete auch die seelsorgerlich ausgerichtete geistliche Begleitung von Studierenden. In vielen Einzelgesprächen habe ich den Bewohnenden des Stifts angeboten, die Krisen bzw. Anfragen, die das wissenschaftliche Studium der Theologie provoziert, als Herausforderung für den je individuellen Dialog von Glauben und Wissen zu begreifen und die Integration von Verstand und Gefühl, der individuellen und der sozialen Dimension des eigenen Glaubens zu thematisieren. In der geistlichen Begleitung wird die Krise in der Gottesbeziehung auch als potenzielle Wachstumsmöglichkeit begriffen; dies habe ich in meiner Begleitung von Theologiestudierenden zu vermitteln versucht. Der Zweifel, die Verwirrung, die Anfechtungen, die in den Gesprächen zum Ausdruck gebracht wurden, wurden von mir, soweit es möglich war, mit einer Haltung der Wertschätzung aufgenommen. Die neunziger Jahre waren im Hinblick auf die rituelle Einübung geistlicher Praxis ein unstetes Terrain. Studierende organisierten Taizé-Andachten und Morgengebete, es gab Einkehrwochenenden, in denen geschwiegen und gestritten wurde, bibliodramatische Zugänge und kreative Inszenierungen des Evangeliums wurden erprobt. Ein solcher experimenteller Charakter scheint mir
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Andrea Bieler
für diese Phase der Ausbildung hilfreich zu sein. Auch hier ging es darum, den Horizont der Studierenden zu erweitern und nicht einfach nur den Rückbezug auf die Frömmigkeitsformen der Schulzeit zu praktizieren. Auch gab es in den neunziger Jahren immer noch die Aversion der ‚politischen Fraktion‘ gegen die ‚Spiri-Gruppe‘. Diese wenig hilfreichen, stereotypen Unterscheidungsbemühungen hatten allerdings schon in jenen Jahren an Überzeugungskraft verloren. Immer mehr Studierende zogen ins Stift, die beides sein wollten: fromm und politisch.
Hans-Martin Gutmann
Stiftsarbeit in interreligiöser Perspektive
Meine Zeit als Stiftsinspektor begann vor einem Vierteljahrhundert und endete vor zwanzig Jahren – vieles wird sich seitdem verändert haben. Ich habe das Theologische Stift als einen Ort voller Leben in Erinnerung. Vieles trug zu dieser Lebendigkeit bei. Damals gab es nach jedem Mittagessen ein Plenum für Debatten über Hauskultur, über universitätspolitische und allgemeinpolitische Themen, über Organisatorisches und vieles mehr. Es gab für alles, was im Haus unter studentischer Selbstverwaltung stand (und das war faktisch alles, was zum Hausleben hinzugehörte) „Ministerien“ – für die Bibliothek, den Garten, die Kulturabende und viele weitere Lebensbereiche. Deshalb gab es auch eine „Regierung“, in der die „Minister und Ministerinnen“ mit dem Stiftsinspektor die Selbstverwaltung koordinierten, meistens bei einem gemeinsamen Frühstück einmal die Woche. Außer den Kulturabenden, in denen Hausbewohner und Hausbewohnerinnen einmal im Semester ihre Qualitäten an Trompete, Klavier, Gedichtsammlung, szenischem Spiel und vielem anderen bis hin zu Kammermusik vorstellten, gab es auch zwei „Stiftsübungen“ pro Semester, also vom Stiftsinspektor angebotene Veranstaltungen als Teil des Lehrangebots der Göttinger Fakultät. Es gab Andachten und eine studentische Gruppe, die die Andachten gestaltete. Eine vegetarische Kochgruppe. Eine studentische Hausmeisterin. Einen klapprigen VW-Bus, mit dem mittags das Essen für alle aus der Mensa geholt wurde, die nicht zur vegetarischen Kochgruppe gehörten. Es gab eine ausgezeichnet ausgestattete Stiftsbibliothek und mit ihr einen wunderbaren Arbeitsplatz für Examenskandidaten und Examenskandidatinnen. Neben den zentralen organisierbaren Aktivitäten gab es auch das immer neue und immer lebendige, d. h. im Tiefsten unkalkulierbare Leben auf den Fluren, in den Zimmern, in den Duschen und im zentralen Ovalen Raum, in dem alle Mahlzeiten, aber auch die Mittagsplena und selbst Kickerturniere an einem halbprofessionellen Automaten stattfanden. Es gab Herrn Schlote, einen damals bereits älteren Herrn, ehemaliges Ass der Göttinger Universitätsverwaltung, der sich irgendwann in seiner Lebensgeschichte in das Theologische Stift verliebt hatte und seitdem dafür sorgte, dass die Finanzen halbwegs auf Linie blieben.
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Hans-Martin Gutmann
Und unendlich vieles mehr, das nicht im Einzelnen aufgezählt werden kann – Begegnungen, Beziehungsanbahnungen und -trennungen, Streitereien, Parties (die damals Feten hießen), Intrigen, Bündnisse, Mobbingaktionen, Versöhnungen. Das ganze wilde Leben. Und weil dies so war, war das Theologische Stift für all seine Bewohner und Bewohnerinnen eine Art lebensgeschichtlicher Durchlauferhitzer. Die Studierenden kamen in jedem Fall anders heraus, als sie hereingekommen waren. Gereifter? Freier? Erwachsener? Abgeklärter? Radikalisiert? Theologisch gebildeter? Alles war möglich. Gibt es all dies noch? Ich möchte es hoffen, denn daran hängen die Überlegungen, die ich jetzt anstellen möchte. Zunächst jedoch ein notwendiger Umweg: Wir leben in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft. In Metropolen wie Hamburg, im Ruhrgebiet, in Berlin ist dies im alltäglichen Verkehr ständig präsent, in Geschäften und U-Bahnen, Universitäten und Schulen, Hausfluren, Stadtbussen und Ämtern. In ländlichen Regionen wie in SchleswigHolstein oder Mecklenburg-Vorpommern, im Ammerland oder in Ostfriesland, im Helmstedtischen oder im Oberharz bestimmt diese Realität oft auch dann das Lebensgefühl der Leute, wenn sie im Alltag den Fremden gar nicht begegnen, wenn sie türkischen oder libanesischen, jüdischen oder indonesischen, ghanaischen oder kenianischen Mitbürgern in der Regel gar nicht im Supermarkt oder im eigenen Hausflur gegenüberstehen werden. Dann manifestiert sich dieses Lebensgefühl oft als Angst, als Sorge um den drohenden Verlust eigener Lebensmöglichkeiten, als diffuses Gefühl von Bedrohung Es ist eines der zentralen Erfordernisse für die Bewahrung des Friedens und der demokratischen Kultur in unserem Lande, dass diese Situation anerkannt wird; dass Konflikte nicht verleugnet, sondern möglichst ohne Niederlagen und Ausgrenzungen geführt werden können; dass den Fremden mit Respekt, Wahrnehmungsoffenheit und ohne Angst begegnet wird; und dass zugleich Eigenes nicht verleugnet oder zurückgestellt wird, sondern ebenso klar zur Gestalt gebracht wird, in immer neuen Versuchen und angesichts immer zu gewärtigender Rückschläge. Gegenwärtig aktualisiert sich die langfristige Entwicklung hin zu einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft in unserem Land vor allem durch unabweisbar drängendes Leid. Wie kann Deutschland als eines der reichsten Länder dieser Erde seiner Verantwortung gerecht werden, Flüchtlingen aus Gebieten ein Zuhause zu bieten, die durch Gewalt, Terror, Krieg, Menschenrechtsverletzungen desaströsen Ausmaßes, durch ökonomische und ökologische Zerstörungen gezwungen sind, eben die Regionen zu verlassen, die ihnen dieses Zuhause nicht mehr bieten können? Es gibt gesellschaftliche Orte, die für diese Aufgabe besonders prädestiniert sind. Die Zivilgesellschaft kennt in Deutschland verschiedene hervorgehobene soziale Interaktionsräume wie Vereine, Parteien, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen. Hier spielen auch religiöse Institutionen eine wichtige
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Rolle. Kirchen und muslimische Verbände gehören auf gesamtgesellschaftlicher Ebene dazu, ebenso auch die Repräsentanten und Repräsentantinnen des Judentums, des Buddhismus, der Hindus, Alewiten und anderer lebendiger religiöser Gemeinschaften im Land. Vor Ort sind es Kirchengemeinden, Synagogen, Moscheen, Tempel. Vor allem sind es die in ihren jeweiligen Religionen engagierten Menschen, die dem religiösen Leben nach innen in ihren Gemeinschaften und nach außen im Dialog mit anderen Gesicht geben. Und es sind die Bildungsanstalten: Universitäten und Kindergärten, Schulen aller Stufen und Ausrichtung. Ein Ort, an dem kulturelle und religiöse Differenz vor allem spürbar und zugleich reflektierbar wird, ist der Religionsunterricht ganz gleich welcher Gestalt, ob als konfessioneller Religionsunterricht oder wie in Hamburg als dialogischer Religionsunterricht für alle, in dem die Schüler und Schülerinnen gerade dann nicht voneinander getrennt werden, wenn es besonders konzentriert um die existenziellen Fragen ihres Lebens geht. Woran hängst du dein Herz? Was ist für dich, für deine Lebensführung und in deinen lebensweltlichen Kontexten das Heilige? Wie lebst du dieses dir existenziell grundlegend Wichtige und wie nimmst du Anderes wahr, das andere Menschen in ähnlicher Intensität unbedingt angeht? Um es noch einmal zu sagen: alle denkbaren Formen des Religionsunterrichtes, ob konfessionell oder dialogisch, aber auch alle Formen der schulkooperativen Arbeit von Kirchen und religiösen Gemeinschaften, auch die Schulseelsorge, stehen vor dieser gleichen Aufgabe und in dieser gleichen Verantwortung. Und alle Formen von Religion in der Schule stehen an einem spezifischen Punkt in der Gefahr, eine Seite dieser Aufgabe unter zu betonen. Nicht aus bösem Willen, sondern wegen ihrer strukturellen Grenzen. Denn die Angemessenheit der Wahrnehmung von kulturell und religiös Anderen entscheidet sich nicht nur und oft nicht zuerst dort, wo konzentriert religiöse Themen, Bekenntnisse, Symbole, Rituale und theologisch-dogmatische Traditionen thematisiert werden. Sie entscheidet sich im Alltag gelebten Lebens. Sie entscheidet sich in der Weise, wie sich Menschen in Supermärkten und Hausfluren, Kinos und Wohnungen, Straßen und Betrieben begegnen. Darin, wie sie einander wahrnehmen und sich selbst im Gegenüber zu den Anderen verstehen. Wir wissen mittlerweile genug über einige Tendenzen in der individualisierten und pluralisierten Gesellschaft, um sicher damit rechnen zu können, dass vereindeutigende Zuspitzungen nicht die Wirklichkeit treffen. „Fundamentalismus“ ist eine solche problematische Vereindeutigung gerade in der Wahrnehmung von Religion. Die Furcht vor religiöser Radikalisierung, die seit den Massakerfeldzügen des „Islamischen Staates“ (IS) stark präsent ist, spiegelt nur einen Teil der Wirklichkeit. Salafisten vor Schulhöfen und auf den Straßen stehen ebenso wenig für die Wirklichkeit des Islam wie der aggressive Dualismus christlicher Fundamentalisten für die Wirklichkeit des Christentums. Gleich-
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zeitig mit Fundamentalisierung entwickelt sich für viele Menschen eine Entwichtigung und Verundeutlichung, aber auch eine Vermischung und Hybridisierung religiöser Orientierungsmöglichkeiten. Selbstverständlich und in der öffentlichen Wahrnehmung weniger im Fokus ist, dass es unendlich viele Formen der Liebe und der Beteiligung gegenüber der eigenen Religion gibt, von distanzierter Mitgliedschaft bis hin zu intensivem Engagement. In der aktuellen medialen Kultur sind Erzählungen, Symbole und Rituale verschiedener Religionen und der populären Kultur gleichzeitig präsent. Sie beeinflussen sich gegenseitig in einem solchen Ausmaß, dass man von einer transmedialen Kultur sprechen kann. Nicht selten tauchen beispielsweise populärkulturelle Versatzstücke in Predigten auf, Harry Potter beispielsweise oder, für eine andere Altersstufe, der Regenbogenfisch oder weitere jeweils gerade „angesagte“ Kuschelfiguren. Auf anderem Gebiet, dem der Politik, sind ohne die Narrationen von Superman und Batman, Dagobert Duck und Serien wie „House of Cards“ oder „Game of Thrones“ grundlegende Orientierungen z. B. der USamerikanischen Politik kaum verständlich. Solche grenzüberschreitenden Beeinflussungen sind nicht grundsätzlich neu. Schon in der frühen Neuzeit durchdrangen und beeinflussten sich die Narrationen und Rituale der „Kultur der Eliten“ und der „Kultur des Volkes“ gegenseitig. Erzählungen und Begehungen, Feste und Rituale wanderten von den Lebenswelten der gewöhnlichen Leute zu den Höfen und Klöstern der Gebildeten und wieder zurück. Heilige und Narren, gottesdienstliche und ökonomische Messen, Schenken und Paläste, biblische Eschatologie und die Fressphantasien vom Schlaraffenland tauschten sich gegenseitig aus, spielten miteinander, befruchteten und belebten sich gegenseitig. Im gelebten Leben geht vieles miteinander, was auf den Schreibtischen der Gebildeten nicht zusammengehört. Das war zu allen Zeiten so und zu allen Zeiten wurde versucht, diesen kulturellen und religiösen Grenzverkehr zu unterbinden – oft genug mit brutalen inquisitorischen Mitteln. Was heute allerdings neu ist, ist die räumliche und zeitliche Radikalisierung dieses Austausches. In der medialen Kultur ist alles gleichzeitig präsent. „Durchs wilde Kurdistan“ ist keine beschauliche innere Reise durch fremde Welten, der Verteidigungskampf von Kobane gegen die Massakermilizen des IS flimmert jede Stunde über die Bildschirme, solange, bis ein neues Thema obenauf liegt. Das überfordert viele. Aufmerksamkeit, Konzentration sind knappe Güter und zugleich ist alltägliches Leben kaum ohne Wahl und Ausgrenzungen möglich. Dies gilt auch für kulturelle und religiöse Zugehörigkeiten: der beständig präsente Zwang zur Wahl kennt als Kehrseite die Ausgrenzung all dessen, was einem und einer zu viel wird. Dennoch ist nicht das Herkommen aus einer Kultur, einer Nation, einer Religion entscheidend, sondern die Wahl. Eindeutige Formen von „belonging“ zu einer und nur einer religiösen Tradition sind, von den hier en-
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gagierten Subjekten aus betrachtet, immer mit der (wie immer bewusst vollzogenen) Nicht-Wahrnehmung anderer Wirklichkeitsdimensionen erkauft. Dies ist immer auch verbunden mit der Exklusion solcher Erzählungen, Symbole und Rituale, die zum „Eigenen“ nicht zugehören sollen oder, genauer, nicht zugelassen werden. Quasi naturwüchsige Zugehörigkeit durch Herkommen wird in dem Maße seltener, wie die Freiheit und der Zwang zur Wahl, jenes charakteristische Kennzeichen für die Individualisierung der Gesellschaft, immer weitere Lebenswelten und Milieus durchdringen. Was für Einzelne „Beheimatung“ in einer spezifischen kulturellen und religiösen Tradition heißt, ist in gleichem Maße in Prozesse der Konstruktion von Wirklichkeiten eingebunden. Gottesbilder, heilsame Erzählungen, das Leben stabilisierende Rituale werden von Einzelnen gewählt, auf diese Weise konstruieren sie die Wirklichkeit ihres Lebens. Aber umgekehrt haben Erzählungen, Symbole und Rituale auch Macht über das Lebensgefühl und über Lebensführungskonzepte der Subjekte. Dass eine Wahl vorliegt, dass auch religiöse Narrationen und Rituale gewählt und von den Beteiligten Subjekten mit-konstruiert werden, wird oft nicht mehr wahrgenommen. Dies ist ein ambivalenter Prozess. Religiöse Erzählungen, Symbole und Rituale können heilsame Macht haben. Sie können Lebensgewissheit stärken und Lebensmut schenken. Problematisch und zerstörerisch werden jedoch Rigidisierungsprozesse. Kulturelle und religiöse Zugehörigkeiten werden dann nicht nur als selbstverständlich und fraglos erlebt, sie werden hermetisch. Anderes wird dann oft nicht einmal mehr ausdrücklich thematisiert und verworfen, sondern es fällt schlicht aus der Wahrnehmung heraus. Prozesse von kultureller und religiöser Wirklichkeitskonstruktion beziehen sich oft nicht vordringlich auf getreue Auslegungen der „offiziellen“ Erzählungs-, Symbol- und Ritualbestände, die zu einer Religion gehören. Es sind auch nicht die offiziellen Bekenntnisse und dogmatischen Traditionen. Es geht um alltägliche Wahrnehmungsmuster, die sich zum großen Teil auf Körperinszenierungen beziehen. Was wird gegessen, wie werden Mahlzeiten zubereitet, was gilt als verboten, und wie rigide wird dies gehandhabt? Das Tragen des Kopftuchs oder die Teilnahme am Schwimmunterricht bei muslimischen Frommen, das Verbot von Tanzveranstaltungen und Kartenspiel in christlich-charismatischen Kreisen lassen sich beim besten Willen nicht als Zentren der reichen und differenzierten Erzähl- und Lebenstradition der jeweiligen Religion verstehen. Die Rigidisierungsgrenzen von religiöser Zugehörigkeit und Differenzmarkierung finden ihre brisantesten Orte im alltäglich gelebten Leben, und hier vor allem in Körperinszenierungen. Ob Respekt, Verständigung und Frieden zwischen den Verschiedenen gelingen können, wird im Alltag entschieden. Seitdem Schüler und Schülerinnen einen großen Teil ihrer Lebenszeit in Ganztagsschulen verbringen, ist schon
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mehr Alltag in die schulische Situation eingekehrt als jemals zuvor und vor diesem Hintergrund haben Wege zu einer religionssensiblen Schulkultur ein unschätzbar großes Gewicht. Dennoch bleibt das Problem bestehen. Ob die Begegnung zwischen den Verschiedenen gelingt, wird nicht daran entschieden, wie eine konzentriert für unterrichtliche Prozesse inszenierte Verständigung z. B. über Gottesvorstellungen und Propheten, über die Geltung heiliger Schriften und die Kraft und Lebendigkeit religiöser Rituale wie der Bestattungsfeier im Dialog vertieft werden kann. Ob diese Begegnung gelingt, wird im Alltag entschieden. Nicht in den schulischen Welten, in denen die „Welt noch einmal“ konzentriert präsentiert und repräsentiert wird, sondern in den Lebenswelten und Lebensführungskonzepten gelebten Lebens. Genau hier kommt die Chance des Theologischen Stifts als Lernort ins Spiel: die Chance der Stiftsarbeit in interreligiöser Perspektive. In den Interaktionen in den Zimmern und auf den Fluren, in Bibliotheks-, Essens- und Andachtsräumen teilen hier junge Erwachsene ihren Alltag, oft auf engstem Raum. Ständig muss entschieden werden, was geht und wie mit anderen Gewohnheiten und Erwartungen umgegangen werden kann. Nähe und Distanz, Teilnahme an Kommunikationen oder Für-Sich-Sein-Können (mit der ständig präsenten Gefahr, Wichtiges nicht mehr mitzubekommen): All dies muss immer wieder neu ausgehandelt werden, sich jeweils neu einspielen. All dies muss bisweilen auch in Konflikten geklärt werden. Was wird gekocht? Wie werden Freundschaften gelebt? Wie werden Liebesbeziehungen gestaltet, gleichgeschlechtliche und heterosexuelle? Welche Öffentlichkeit kann all dies haben, welchen intimen Raum muss es haben? Oder: Welche Zeitungen werden bestellt? Welche Macht hat ein Senior, eine Seniora? Wie entwickelt sich das Klima, die Atmosphäre im Haus? Oft ist das mit sensiblen Sensoren von allen zu erspüren, obwohl die Gründe im Einzelnen noch nicht klar sind für das, was in der Luft liegt. Ausdrückliche, herausgehobene, bewusst gestaltete Zeiten und Räume geben im Stiftsleben Gelegenheit, Diffuses zur Gestalt zu bringen und notwendige Klärungen herbeizuführen. Beim Mittagsplenum oder beim Kulturabend, in den Stiftsübungen und in der Andacht wird – anders als bei normalen Lehrveranstaltungen der Fakultät, selbst anders als in Universitätsgottesdiensten – nicht nur das zur Gestalt gebracht, was konzentriert im Fokus steht, sondern alles das, was „in der Luft liegt“. Umgekehrt: Im Theologischen Stift besteht die Chance, das zu klären, was in alltäglichen Interaktionen im Normalfall diffus bleibt und gerade so seine Macht entfalten kann, allzu oft eine zerstörerische Macht. Ich habe in meiner Zeit als Stiftsinspektor erlebt, was es bedeutet, dass junge Erwachsene aus unterschiedlichen Kulturen und aus verschiedenen Denominationen des globalen Christentums hier ihren „Durchlauferhitzer-Alltag“ miteinander geteilt haben. Ich erinnere mich noch gut an einen aus den USA stammenden koreanischstämmigen Theologiestudierenden und einen syrisch-
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orthodoxen Christen. Was für eine Chance, in alltäglichen Interaktionen Anderes, Fremdes wahrzunehmen. Wie kleiden sich diese Kommilitonen, was essen sie – oder gerade nicht? Was erzählen sie aus den Kontexten, aus denen sie herkommen und die – in diesen Fällen zumindest – auch aktuell lebendig sind? Beim Kulturabend oder in der Andacht kann das ausdrücklich zur Gestalt gebracht werden, was bei den Mahlzeiten oder im sonstigen häuslichen Alltag erlebt wurde und in Lebensvollzügen lebendig geworden ist. Solche Erfahrung und Gestaltungsmöglichkeiten sind für Studierende besonders wichtig, die darauf vorbereitet werden müssen, dass sie später als Religionslehrer und Religionslehrerinnen und als Pfarrer und Pfarrerinnen niemals nur mit konzentrierten Inszenierungen und Interpretationen christlicher Religion zu tun haben werden – in Gottesdienst und Seelsorge, schulischem Religionsunterricht und Konfirmandenunterricht, in diakonischer Arbeit, in der Gestaltung einer religionssensiblen Schulkultur und vielem anderen. Sie werden ihre Arbeit in all diesen Feldern dann gut machen, wenn sie nicht allein theologisch konzentriert gute Werkstücke gestalten, sondern wenn sie wahrnehmungsoffen und wertschätzend umgehen mit der Wirklichkeit gelebten Lebens der Menschen, die ihnen anvertraut sind. Ich habe mir erzählen lassen, dass mittlerweile einige Male muslimische Studierende im Theologischen Stift mit Mietstipendium gewohnt haben. Ich möchte den Vorschlag machen, dieses Angebot zu einem konstitutiven Bestandteil des Zusammenlebens im Stift zu Beginn seines zweiten Vierteljahrtausends zu machen. Lebenschancen und Lernmöglichkeiten im Theologischen Stift können in den Lebensfeldern nutzbar gemacht werden, die für den Frieden und die Verständigung in unserer demokratischen Gesellschaft besonders wichtig sind. Ich möchte vorschlagen, einen Anteil der Mietstipendien – sagen wir: bis zum Anteil der muslimischen an der Gesamtbevölkerung unseres Landes – an Studierende zu vergeben, die sich darauf vorbereiten, muslimischen Religionsunterricht in Niedersachsen zu erteilen oder – auch dies ist eine denkbare Möglichkeit – einmal als Religionslehrer und Religionslehrerinnen im „dialogischen Religionsunterricht für alle“ in Hamburg zu arbeiten. Das Theologische Stift in Göttingen kann ein Ort dafür werden, alltägliche Interaktionen und theologisches Lernen in wertschätzender Wahrnehmung des Fremden einzuüben. So kann ein exemplarischer Ort entstehen, der theologisches Lernen in unterschiedlichen Kulturen und Religionen mit dem verbindet, woran das Zusammenleben der Verschiedenen, so oder so an unterschiedlichsten gesellschaftlichen Orten gelingen oder scheitern wird: mit dem alltäglich gelebten Leben. Die Aufgaben der Stiftsarbeit in interreligiöser Perspektive liegen vor allem: im Durchsichtigmachen, Reflektieren und Verflüssigen von Fundamentalisierungstendenzen; in der Gestaltfindung und Verdeutlichung von religiös und kulturell Eigentümlichem; in der Thematisierung und Interpretation von
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transmedialen Beeinflussungen und Vermischungen. Muslimische Mitbewohner und Mitbewohnerinnen können beispielsweise zu christlichen Andachten eingeladen werden, christliche Studierende zu muslimischen Gebeten. Stiftsübungen, Kulturabende, religionstypische Speiseangebote fürs Mittagessen sind gute Orte der Konzentration dieser Aufgabe. Oder gemeinsame Mediennutzung. Wie erleben muslimische Mitbewohner und Mitbewohnerinnen z. B. eine Serie wie „House of Cards“ oder „Game of Thrones“? Was geschieht nach einem gemeinsamen Kinobesuch, worüber wird geredet? Wie werden die sozialen Netzwerke des Internet genutzt, welche Bedeutung haben sie in den unterschiedlichen lebensweltlichen face-to-face-Netzwerken? Besonders brisant und wichtig in Zeiten der bisher kaum gebremsten Massakerfeldzüge des IS, des Zerfalls und des chaotischen Staatsverlusts in ehemaligen Diktaturen wie Libyen, in Zeiten ständiger Nachrichten über Flüchtlingselend, über Ablehnung und zugleich andererseits über Solidarität der deutschen Bevölkerung mit Flüchtlingen, ist das gemeinsame Anschauen von Nachrichtensendungen. Hier können sich Debatten anschließen, in denen all das zum Tragen kommen wird, was den Einzelnen in den Herzen und Köpfen umhergeht. Zwanglose Gespräche nach gemeinsamem Anschauen können große Lernchancen bieten. Die charakteristische Chance des Theologischen Stiftes in diesem Feld liegt jedoch darin, dass die Beteiligten all dies nicht besuchen wie eine Lehrveranstaltung und danach wieder nach Hause gehen. Konzentrierte Gestaltfindungen sind immer eingebunden in gelebtes Leben, das vieles Weitere ebenfalls umfasst. Man muss sich am nächsten Tag auf dem Flur oder beim Mittagessen oder unter der Dusche wieder begegnen können. Keiner kann deshalb davon absehen, dass man sich mit Menschen, denen man sein Eigenes zeigt und möglicherweise streitbar verteidigt, gleichzeitig ein Dach teilt und sich in vielen weiteren Lebensbereichen einigen muss. Das ist unendlich heilsam und begrenzt die Chancen radikalisierter Selbstinszenierungsstrategien, die in diesem Lebensfeld – der Religion – möglicherweise stärker drohen als in vielen anderen. Um es auf eine Formel zu bringen: Das Theologische Stift ist ein hervorragender Lernort, um zu verstehen und immer wieder neu eine gute Gestalt dafür zu finden, dass es in unserer Gesellschaft nicht um einen „Kampf der Kulturen“ gehen darf, sondern um einen „Kampf um Kultur“. Mit derselben Dringlichkeit: Nicht um einen „Kampf der Religionen“, sondern um einen „Kampf um Religion“. Das Theologische Stift kann zu einem wichtigen Lernort in einer der gegenwärtig zentralen Fragen des Zusammenlebens in unserem gemeinsam geteilten Gemeinwesen werden. Fraglos für einen immer überschaubar bleibenden Kreis von Menschen. Aber für sie mit großer Intensität, weil all das, was hier gelebt und gelernt wird, für die Beteiligten zum lebensgeschichtlichen „Durchlauferhitzer“ für wichtige Orientierungen und Entscheidungen ihres Lebens werden kann.
Lars Röser
Im Takt der Zeit – Musik im Theologischen Stift
Musik spielt und spielte im Leben des Theologischen Stifts immer eine große Rolle. So habe ich das in meiner eigenen Zeit im Stift erlebt und auch aktiv mitgestaltet; so habe ich das auch in den Jahren danach beobachten können. Und das zeigen auch Archivalien des Theologischen Stifts. Bei allen Festlichkeiten, aber immer wieder auch an anderen Stellen begegnet Musik. Über die Rolle, die sie im Stift hatte und hat, möchte ich an dieser Stelle ein wenig nachdenken. Was hat sich verändert und wie sind diese Veränderungen zu verstehen? Und was darf man dem Stift für die musikalische Zukunft wünschen? Der Blick in das Archiv des Theologischen Stifts zeigt – nicht nur hinsichtlich des Themas Musik, sondern auch in anderen Bereichen –, dass sich das Stift in den 1960er Jahren anscheinend einer großen Aktivität, zumindest aber eines großen Dokumentationseifers erfreute.1 Die Musik- und Geselligkeitspflege dieser Jahre möchte ich im Folgenden umreißen, um danach ein wenig aus späterer Zeit zu berichten. Den Stellenwert der Musikpflege in den 1960er Jahren zeigt bereits die immer wieder in den Berichten und Stiftlerlisten begegnende Erwähnung des Kantorenamtes, das wie andere Ämter – zu meiner Zeit hießen sie Ministerien – jedes Semester neu bestimmt wurde. Auffällig sind auch die vielfältigen Formen der musikalischen Arbeit. Der Chorgesang wird wie selbstverständlich bei einer Vielzahl von Veranstaltungen genannt. Oft wurde aber auch bei geselligen Anlässen spontan, ohne Probenarbeit mehrstimmig gesungen. Darüber hinaus berichten die Quellen auch von einem Posaunenchor, der gern bei Anlässen unter freiem Himmel eingesetzt wurde. Ebenso gab es kammermusikalische Formen wie den „Kleinen Chor“ oder das Musizieren mit dem Cembalo, welches sich auch heute noch – leider oft ungenutzt – in den Kellerräumen des Stifts befindet. Ebenso wird eine Hauskapelle erwähnt, die bei geselligen Anlässen Tanzmusik darbot. Wichtig und interessant fand ich beim Quellenstudium neben den einzelnen musikalischen Aktivitäten aber vor allem die Formen des 1 Das Archiv des Stifts ist nicht archivalisch aufgearbeitet oder mit Signaturen und Blattzählungen versehen. Die Verweise auf Quellen erfolgen hier daher nur recht grob.
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Lars Röser
gemeinschaftlichen Lebens, in denen die Musik eine Rolle spielte. Gerade hier wurde mir der Abstand zu meiner eigenen Stiftszeit besonders deutlich. So wird z. B. umfangreich von den Examensfeierlichkeiten anlässlich des Ersten Kirchlichen Examens im Jahr 1964 berichtet.2 Insgesamt sechs Stiftler hatten im Dezember an drei aufeinanderfolgenden Tagen ihre Examen in Hannover abgelegt. An jedem dieser Tage trafen also abends immer wieder neue Examinierte aus Hannover mit dem Zug auf dem Göttinger Bahnhof ein. Die daheimgebliebenen Stiftler zogen daraufhin zum Bahnhof, um die Examinierten schon am Bahnsteig zu begrüßen. Zum Empfang spielte der Posaunenchor auf. Gemeinsam wurden die beiden damals traditionellen Stiftslieder „Das ist der Tag des Herrn“ und „Sehet wie lieblich“ gesungen. Diese Begrüßung wiederholte sich auch an den beiden folgenden Abenden. Für den dritten Tag, an dem schließlich auch die letzten Stiftler ihre Prüfungen hinter sich hatten, war dann aber noch eine umfangreichere Feier geplant. In einer Weise, die den universitätsgeschichtlich Interessierten an frühneuzeitliche Studentenzeremonien erinnert, wurden Prüfung und Erhebung der examinierten Kandidaten rituell nachvollzogen. Die Examenskandidaten der Vortage mussten daher ebenfalls zum Bahnhof zurückkehren, um nun mit den zuletzt eintreffenden Kandidaten gefeiert zu werden. Die anderen Stiftler bereiteten sich im Stumpfebiel auf ihre Weise auf diesen Empfang vor. Ihr „Ornat“ waren braune Wolldecken; Verlängerungsschnüre oder kleine Eisenketten dienten als Gürtel. In schweigender Prozession zogen sie dann um 22 Uhr zum Bahnhof. Vorangetragen wurde der „Ochse“ – also der alte Ochsenkopf, der dem Stumpfebielstift auch den Namen „Stiller Ochse“ eingebracht hatte. Auf dem Bahnhof wurde dann der Zug aus Hannover erwartet. Für den Empfang wurden ein improvisierter Roter Teppich sowie ein Harmonium auf einem Handwagen mitgeführt. Nach der Ankunft des Zuges wurde dann ein umfangreiches Begrüßungsprogramm aufgeführt. Der Posaunenchor spielte, das Harmonium intonierte Händels Largo aus der Oper Xerxes und es wurde vier- und vielstimmig gesungen. Es folgte eine lateinische Begrüßungsrede einschließlich einer (wohl sehr freien) Übersetzung. Den Examinierten wurden als Zeichen ihrer Ehrung gelbe Stolen umgehängt, die ihrem ursprünglichen Zweck nach als Gardinen im Stumpfebiel verwendet worden waren. Als Höhepunkt mussten dann die Kandidaten den Bruderkuss an alle „Brüder“ austeilen. Auch der zufällig anwesende Dekan Götz Harbsmeier wurde nicht verschont. Besonders ausgiebig wurde der Bruderkuss aber dem Ochsen zuteil. Nach der Rückkehr in einem Fackelzug setzten sich die Feierlichkeiten im Stumpfebiel fort.
2 Dieses Material findet sich auf Einzelblättern, die zum maschinenschriftlichen Bericht für das WS 1964/65 gehören.
Im Takt der Zeit – Musik im Theologischen Stift
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Auch für andere Jahre wird von solchen Feierlichkeiten berichtet. Dem heutigen Betrachter erscheint diese Mischung aus akademischen Ernst und studentischer Persiflage aus einer weit vergangenen Zeit zu kommen. Geprägt war die Feier durch „ehrwürdige“ Rituale, die allerdings nur in der Form der ironischen Durchbrechung begegnen. Diese ironische Brechung ist m. E. allerdings kein Zeichen eines Zerfalls vormals noch ernsthafter Rituale. Die ironisierten Rituale sind nicht als Abbruch der Traditionen der Ordinarienuniversität zu werten. Vielmehr waren studentische Rituale, insbesondere die Übergangsrituale, bereits in der Frühen Neuzeit oft derbe Späße und Verballhornungen. Eine aufkommende Institutionenkritik verbirgt sich hinter den ironischen Ritualen der Stiftler ebenso wenig. Die Musik dagegen erscheint bei diesem und anderen Anlässen mit großer Ernsthaftigkeit vorgetragen worden zu sein. Hier findet sich kein ironisch-distanzierendes Moment. Sie erscheint als Identitätsgeber und darf gerade an den entscheidenden Stellen im Stiftsleben nicht fehlen. Ebenso wie die Examensfeiern war auch die Nikolausfeier ein jährlicher Höhepunkt im Stiftsleben. Hier wurde der Kontakt mit den Professoren gepflegt, hier wurden die geladenen Professoren auch aufs Korn genommen. Ein entscheidender Einschnitt in das Stiftsleben war dann der Umzug des Stifts in den Kreuzbergring. Zum WS 1967/68 war das alte Stift im Stumpfebiel so baufällig geworden, dass einige Teile durch die Universität gesperrt wurden. Ein Ausweichquartier konnte im Kreuzbergring gefunden werden. Die Folge war aber nun, dass das Stift zweigeteilt war. Deutlich zeigen die Berichte die damit verbundenen Fragen nach der Identität des Stifts und der Bewahrung der Traditionen. Deutlich ist auch ein Überlegenheitsgefühl des Stumpfebiels gegenüber dem Kreuzbergring zu erkennen. Dass der Umzug aufgrund der Baufälligkeit beinahe zeitgleich zur Studentenbewegung geschah, war zufällig. Das Zusammentreffen dieser Ereignisse verstärkte aber die folgenden Veränderungen des Stifts. In die Kontroverse zwischen Stumpfebiel und Kreuzbergring geriet auch der „Ochse“ als Symbol des alten Stifts. Bereits im WS 1967/68 kam es zum Versuch, diesen heimlich in den Kreuzbergring zu überführen. Dieses konnte durch die Stumpfebieler verhindert werden. Es ging um die Vormachtstellung im Stift. Wäre der Ochse nicht im Stumpfebiel geblieben, so hätte – in der Sicht des Chronisten – „das Stumpfebielstift […] damit de facto seinen Alleinvertretungsanspruch aufgegeben, ja abgegeben!“3 Und weiter führt er aus: „[M]an hätte gerade jenen subversiven Elementen in die Hände gespielt, die nur darauf lauerten, dem alten angestammten, auf eine jahrhundertelange Tradition zurückblickenden Stillen Ochsen, nun, wo er schon schwer angeschlagen war, den Todesstoß zu geben.“ Der Ochse und das Stumpfebielstift, der „Stille Ochse“, 3 Rotes Chronikbuch, 59.
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Lars Röser
waren aufs Engste miteinander verbunden. Wohl Anfang der 1970er Jahre wurde der „Ochse“ dann feierlich beerdigt. Er gehörte einer anderen Zeit an. Doch kehren wir zur Musik zurück. Ebenso wie der Ochse gehörte auch die Stiftshymne zu den alten Traditionen des Stifts. Seit wann sie in Gebrauch war, ist nicht mehr zu ermitteln. In den Unterlagen aus den 1960er Jahren scheint sie aber schon auf eine längere Tradition im Stift zurückzublicken. Sie war eines der Identitätsmerkmale des Stifts und wurde bei feierlichen Anlässen und wohl auch sonst öfter gesungen. In der im Stiftsarchiv überlieferten Notenfassung präsentiert sich die Stiftshymne in einer eigentümlichen Doppelgestalt. Den ersten, deutlich längeren Teil stellt das Verbindungslied „Hehr und heilig ist die Stunde“ dar. Der Text stammt von dem badischen Dichter Aloys Schreiber aus dem Jahr 1812, Melodie und Satz von Friedrich Silcher aus dem Jahr 1823. Die ersten vier der acht Strophen des Liedes wurden in die Stiftshymne aufgenommen. Dieser erste Teil der Stiftshymne steht in G-Dur. Der Refrain schließt dann in hartem harmonischen Bruch in B-Dur an. Er ist ein Singspruch des Schwaben Johannes Rösle auf den Text „Sehet, wie lieblich, sehet, wie gut Brüder in Eintracht wohnen“. Wie und inwieweit diese beiden Teile zusammengehören, lässt sich aus dem Archiv nicht mehr ermitteln. Die Chroniken dieser Jahre nennen das „Sehet, wie lieblich“ häufiger als eigenständiges Stück, es erscheint als Leit- und Wahlspruch des Stifts. „Hehr und heilig ist die Stunde“ wird dagegen in den Quellen nicht genannt. Dafür nennen die Quellen häufiger das Lied „Das ist der Tag des Herrn“. Noten sind hierzu nicht vorhanden. Vielleicht handelt es sich um „Schäfers Sonntagslied“ von Ludwig Uhland, das in verschiedenen Vertonungen bekannt geworden ist. Unabhängig von der Antwort auf die Frage, inwieweit die beiden Teile der Stiftshymne zusammengehören, sind doch die Lieder und deren Traditionen kennzeichnend für das Stift bis in die 1960er Jahre. Auffällig ist, dass die Lieder süddeutschen Ursprungs sind. Das Stift pflegte hier also keinen norddeutsch-hannoverschen Lokalpatriotismus. Und ebenso ist allen drei Liedern gemein, dass sie nicht aus der kirchlichen Lied- und Singtradition stammen, wiewohl sie sich durchaus religiöser Sprache bedienen. Das „Hehr und heilig ist die Stunde“ ist ein Verbindungslied, das sich auch im Allgemeinen Deutschen Kommersbuch findet. Hier steht der Gedanke des Bundes, nämlich des Bundes zwischen den Brüdern, im Vordergrund. Dieser Bund ist das eigentliche religiöse Element des Textes, denn er erscheint im Lied als etwas, das das irdische Dasein transzendiert und die Zeiten überdauern werde (Strophe 1). Auch vom Glauben und dem „Blick nach oben“ dichtet Schreiber, wobei der Bezug dieser religiösen Sprache zunächst unklar bleibt. Erst die vierte Strophe vergleicht den Bund der Brüder dann mit dem „Ring der Ewigkeit“. Der Singspruch „Sehet, wie lieblich“ stammt von Johannes Rösle (1813 – 1891), der sich in Augsburg stark für die deutsche Sängerbewegung engagierte. Der Text ist Ps
Im Takt der Zeit – Musik im Theologischen Stift
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133,1 nachgedichtet. Textlich wird dieser religiös-biblische Bezug allerdings nicht deutlich, da die beiden sich inhaltlich anschließenden Verse des Psalms, die die Gemeinschaft der Brüder auf Gott hin deuten, ausgelassen werden. Der Blick in die Traditionsgeschichte der Stiftshymne zeigt diese deutlich in der Nähe der Traditionen der Studentenverbindungen wie der Sängerbewegung. Und auch wenn es sich hier um religiöse Sprache handelt, so ist diese doch auch eindeutig nicht kirchlich-christlich. Dies trifft im Übrigen auch auf „Schäfers Sonntagslied“ von Uhland zu, falls dieses mit dem Lied „Das ist der Tag des Herrn“ gemeint sein sollte. Die Stiftshymne als Teil der Stiftsidentität bis in die 1960er Jahre fügt sich in die studentischen Traditionen ein, die sich auch bei den Ritualen der Stiftler gezeigt hatten. Auffällig ist in beiden Fällen, dass kirchliche Bezüge nicht zu erkennen sind. Denn weder sind die Lieder geistliche Lieder noch werden Gottesdienste oder Andachten in den Chroniken besonders erwähnt. Die Unterschiede der eben beschriebenen Musikkultur zu meiner eigenen Stiftszeit in den 2000er Jahren wie auch zum Stift im Jahr 2015 sind augenfällig. Die Stiftshymne ist schon lange nicht mehr im Gebrauch. Auch eine „Wiederentdeckung“ im Jahr 2008 konnte ihr nicht zu einer Renaissance verhelfen. Der „brüderliche“ (und nun auch schon lange schwesterliche) Gesang hat seinen Ort im Stiftsalltag verloren. Auch die vielen verschiedenen musikalischen Gruppen vom Posaunenchor bis zur Tanzkapelle existieren nicht mehr. Das Stift hat sich verändert. Deutlich mehr Studenten und Studentinnen aus anderen Ländern finden ihren Weg für kürzere oder längere Zeit ins Stift und mittlerweile wohnen auch einige Nicht-Theologen im Haus. Aber der – zumindest bei mir zunächst entstandene – erste Eindruck täuscht, dass mit den Veränderungen im Stift auch die Musikkultur im Stift nachhaltig eingebrochen sei. Aus meiner eigenen Stiftszeit und aus der Wahrnehmung des Stifts in den letzten Jahren zeigt sich mir eher das Bild, dass die Musik im Stift stark an einzelne Personen und an die sich doch recht schnell ändernden Personenkonstellationen gebunden ist. So gab es in meiner eigenen Stiftszeit 2005 – 2008 mehrere kirchenmusikalisch interessierte Mitbewohner, so dass in dieser Zeit eigentlich in jedem Semester ein Kirchenmusikplenum in St. Marien stattfinden konnte.4 Es gab also durch das Zusammenwirken vieler Beteiligter ein etwa einstündiges Konzert mit Chor- und Orgelmusik, in der Adventszeit oft auch mit Lesungen und Adventsliedersingen. Ebenso konnte der Stiftschor mehrere Ehrenpromotionen der Theologischen Fakultät in der Aula der Universität musikalisch mitgestalten. Vor allem werden aber die einmal im Semester 4 Dieses fand als „Montagabendplenum“ statt. Die Montagabendplena gehören zu den regelmäßigen und verpflichtenden Veranstaltungen im Stiftsleben während der Vorlesungszeit. Sie bilden den geselligen Teil des Stiftslebens. Ihre inhaltlichen Ausgestaltungen werden zu Semesterbeginn durch die Stiftis festgelegt.
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Lars Röser
stattfindenden Kulturabende zur Musikpflege genutzt. Und hier zeigt sich auch die kulturelle Vielfalt des Stifts. Es gibt den klassischen Liedgesang genauso wie Chansons. Es gibt geistliche Musik wie humoristische Beiträge, Selbstgetextetes und Altbekanntes. Es gibt Musik, die Stiftler und Stiftlerinnen aus anderen Ländern mitbringen. Die Kulturabende bieten die bemerkenswerte Möglichkeit, vor kleinem Publikum auf der Bühne zu stehen und sich – auch den Professoren und Professorinnen gegenüber – noch einmal von einer ganz anderen Seite zu zeigen. Wie oft wird man nach dem Studium noch die Chance dazu haben? Außerdem hat die Musik ihren Ort im Stift in den Gottesdiensten und Andachten gefunden. So wird in den regelmäßigen wöchentlichen Andachten gesungen. Am Ende des Semesters steht eine gemeinsame Andacht in St. Marien. Eine Zeit lang gab es auch eine wöchentliche Hora in St. Marien unter der Mitwirkung von Stiftsbewohnern. Neben dem Stift finden die musikalischen Aktivitäten der Stiftis aber auch außerhalb der Geiststraße statt. Bei den beiden großen Göttinger Kantoreien, beim Posaunenchor von St. Johannis, beim Universitätschor und in eigenen Bands sind Stiftis immer und regelmäßig zu finden. Mit der zu früh verstorbenen Stiftsinspektorin und Privatdozentin Dr. Frances Back durfte ich zusammen in der Jacobi-Kantorei singen. Die Musik im Stift hat sich über die Zeit als sehr wandlungsfähig gezeigt. Wie das Stift hat sich auch die Musik den Zeiten angepasst und sich gerade durch die Wandlungsfähigkeit als zeitgemäß erwiesen. Die Musik spiegelt die Vielfalt des Stifts wieder. Sie trägt die Spiritualität im Haus. Es ist dem Stift zu wünschen, dass dies auch weiterhin so bleibt, denn Musik kann Menschen verschiedener Kulturen verbinden, sie kann den eigenen Horizont erweitern und sie macht einfach unglaublich viel Freude.
Yves Töllner / Michael Lapp
Selbstverwaltung im Spannungsfeld von Spiritualität und politischem Engagement – * Reminiszenzen an eine Zeit des Umbruchs
1. Es ist ein Privileg, im Stift zu wohnen. Das Stift liegt zentral und doch ruhig, einen Steinwurf vom Bahnhof entfernt und ist mit einem kleinem Garten ausgestattet, dem leider sehr bald nach unserem Auszug die mächtige Ulme verloren ging. Besonders erfreulich und hilfreich ist die hervorragende theologische Handbibliothek, und das Allerbeste: Mietfreiheit! Zudem wird das Essen gebracht und man darf auch noch selber auswählen, was man essen möchte. Darüber hinaus gibt es eine vegetarische Kochgruppe. Die Selbstverwaltung – „Ministerien“ genannt –, ist ein elementares und wesentliches Charakteristikum des Theologischen Stifts. Hier soll der Gemeinschaft gedient werden. Wir betrachteten dies als unsere pure, selbstverständliche Pflicht. Wer so privilegiert wohnen und lernen kann, darf sich auch ruhig ein wenig engagieren. Das Besondere unseres viersemestrigen Aufenthalts von 1989 – 1991 war, dass dieser in eine Zeit des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs, insbesondere in Deutschland, aber auch weit darüber hinaus, hinein fiel. Sinnenfällig wurde dies im Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989, nur wenige Tage nach unserem Einzug in die Geiststraße. Unvergesslich stehen uns in diesem Zusammenhang die Heerscharen von kreuz und quer parkenden „Trabbis“ vor Augen, die unmittelbar vor unserem neuen Domizil parkten. In der folgenden Darstellung werden wir einerseits auf die politischen Herausforderungen jener Zeit, andererseits auf die damit verbundenen spirituellen Fragestellungen eingehen, die sich im Lebensraum des Theologischen Stiftes widergespiegelt haben. Dabei werden wir die Art und Weise, wie wir auf diese Herausforderungen geantwortet haben, darstellen. Wir verbinden damit – auch nach 25 Jahren – die Überzeugung, dass uns die Zeit im Theologischen Stift mit seinen besonderen Möglichkeiten einen wichtigen Beitrag für das nötige * Den Abschnitt 2 verantwortet Yves Töllner, Abschnitt 3 Michael Lapp; alle übrigen Abschnitten sind gemeinsam verantwortet.
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„Rüstzeug“ für die Teilnahme an Diskursen zu Fragen von Glaube, Kirche und Gesellschaft geleistet hat. Das Theologische Stift war für uns im Blick auf die bunte Vielfalt der Bewohnerinnen und Bewohner und deren mannigfaltige Interessen und Begabungen ein hervorragendes Übungsfeld. Die Verfasser dieses Artikels haben sich darauf verständigt, die zu behandelnden Inhalte in persönlicher, erzählender Form zu veröffentlichen. Am Ende steht ein gemeinsam verfasstes Schlusswort.
2. 2.1
Die Lebens- und Lerngemeinschaft im Stift
Das Besondere an meiner insgesamt zweijährigen Zeit im Theologischen Stift war ohne Zweifel die Vielfalt unterschiedlichster Menschen aus unterschiedlichen Landeskirchen (auch international – aus Indien, Korea, Brasilien, Schweiz) mit jeweils ganz eigener biografischer Prägung. Zugespitzt könnte man sagen: „Die Mischung macht’s“ oder auch: „Wir waren ein bunter Haufen“ – angefangen von sog. „Ökofreaks“, die besonders ernährungsbewusst waren, bis hin zu Anhängern von Currywurst und Pommes – oder auch von besonders politisch Engagierten bis hin zu Freunden der Klosterfrömmigkeit. Hinzu kam noch, dass die Zusammensetzung des Theologischen Stifts im Blick auf die Bewohnerinnen und Bewohner unterschiedliche Altersstufen umfasste und damit sowohl Studienanfänger als auch Studierende, die im Theologiestudium schon weiter vorangeschritten waren, unter einem Dach beherbergte. Auch das bot immer wieder – je nach persönlichen Neigungen und Gestimmtheiten – Möglichkeiten zum regen Austausch und die Bildung leicht organisierbarer Arbeitsgemeinschaften.
2.2
Das Seniorat – Zwei prägende Begegnungen
Zum eigentümlichen Wesen des Theologischen Stifts gehört das Prinzip der Selbstverwaltung, das dadurch seinen Ausdruck fand (und findet), dass jede Bewohnerin und jeder Bewohner durch Übernahme eines „Ministeriums“ eine verantwortliche, für das Gemeinwohl unverzichtbare Aufgabe als Dienst an der Lebens- und Wohngemeinschaft erfüllt. Das Wichtigste dieser Ministerien ist das „Seniorat“, das Claudia Glebe (Jahrgang 1968) und ich im WS 1990/91 gemeinsam – und das heißt: in Zusammenarbeit und Absprache mit dem Proseniorat – gestalteten. Das war eine schöne und verantwortungsvolle Aufgabe, zumal sich bei der Wahrnehmung dieses Amtes auch inhaltlich Schwerpunkte setzen ließen. Zwei Themen, die wir
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im SoSe 1990 in Angriff nahmen, sind mir noch heute in besonderer Erinnerung. Sie markieren zugleich die Erinnerung an prägnante Persönlichkeiten, die wir als Gastgeber im Theologischen Stift willkommen heißen durften. Das eine Thema war der christlich-muslimische Dialog. Dazu luden wir Bekir Alboga, den damaligen Imam der Göttinger Moschee und heutigen Beauftragten für interreligiösen Dialog der DITIB, in das Theologische Stift ein. Dabei stellte er uns die fünf Säulen des Islam vor und war auch und gerade durch seine freundliche, persönliche und zugewandte Art ganz offen für die unterschiedlichen Fragen, die an ihn herangetragen wurden. Unvergesslich ist mir, wie er dabei mitten im Gespräch abbrach und dann fragte, wo bei uns ein Raum zum Beten sei, da es für ihn als gläubigen Muslim Zeit für das rituelle Gebet sei. Ich lud ihn dann in mein Zimmer ein, er fragte mich nach den Himmelsrichtungen (wg. Mekka als Gebetsrichtung), und dann verrichtete er sein Gebet in meinem Zimmer, während ich auf mein Hochbett stieg. Als er fertig war, fragte er mich: „Hast Du auch gebetet?“ Und ich konnte ihm darauf antworten: „Ja, ich habe auch gebetet.“ So waren wir – zwei Beter, ein Moslem und ein Christ (und damit unterschiedlichen Glaubens) – in einem Raum, und es war ein Raum des Friedens. Das ist mir bis heute unvergesslich geblieben. Zugleich war es ein persönliches Erlebnis, wie lebendiger und aufrichtiger Dialog (ohne Nivellierung der Unterschiede) zwischen Menschen unterschiedlichen Glaubens Wirklichkeit werden kann. Das andere Thema, das wir während dieses SoSe 1990 im Theologischen Stift verhandelten, war die Wirtschaftsethik – und zwar in christlicher Perspektive. Dazu hatten wir den promovierten Theologen und Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Peter Diepold (zugleich auch ordinierter Pastor) eingeladen. In der Rückschau muss ich sagen: Wir hatten schon damals ein feines Gespür für bestimmte aktuelle Themen, die uns als Christen in besonderer Weise herausfordern. Heute stehen wir vor der Herausforderung, dass der Mensch zunehmend nur noch als „homo oeconomicus“ im Blick auf die mit ihm verbundenen wirtschaftlichen Fragen betrachtet wird. In Spannung dazu steht der Mensch, wie er im Lichte Gottes, im Lichte der Frohen Botschaft gesehen wird: als der gerechtfertigte und begnadigte und befreite Sünder! Als der, der sich in seiner Existenz eben nicht zu rechtfertigen braucht! Der Mensch als Geschöpf in Beziehung zu Gott und zum Mitmenschen – als unendlich kostbar und wertvoll und damit als ein ganz und gar nicht verrechenbares und niemals zu ersetzendes Wesen – eben der einzelne Mensch als das, was einmal die Aufschrift auf einem T-Shirt so formulierte: “I am God’s original“ („Ich bin ein Original Gottes“). Unvergesslich von jenem Abend mit Prof. Dr. Diepold ist mir auch ein Ausspruch, den er uns als jungen Theologiestudierenden in ermutigender Weise mit auf den Weg gab: „Sie können fast alles machen, wenn Sie dabei authentisch sind!“ An dieses Wort habe ich mich auch in meinem pfarramtlichen Alltag noch
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oftmals und gern erinnert. Dieses Wort ist eine Ermutigung, den pfarramtlichen Dienst nicht „windschnitttig“ oder „stromlinienförmig“, sondern in Echtheit und Hingabe zu tun und zu leben. 2.3
Spiritualität
Von der unterschiedlich gefärbten Spiritualität – von „eher politisch motiviert“ bis hin zu einer „von Klosterfrömmigkeit gefärbt“(en) Gestalt – war bereits im Eingangsteil kurz die Rede. Dies gilt es nun noch einmal zu konkretisieren. Für mich persönlich war der Gegensatz von „politisch“ oder „fromm“ übrigens nie ein Gegensatz – damals so wenig wie heute. Das eine gehört zum Leben wie das andere. Nur war für mich immer das Evangelium das Fundament, eben das Grundlegende. Wir, die wir in gewisser Weise als „die Frommen“ galten, obgleich wir uns bei politischen Diskussionen immer lebhaft beteiligten, machten uns erst einmal daran, allmorgendlich eine Andacht zu halten, bevor wir uns ans Tagewerk machten. Damals fand die Andacht noch im Keller in einer „Nische“ statt – insofern waren wir „Konservativen“ eigentlich schon wieder eher „subversiv“, oder soll ich sagen: unserer Zeit voraus? Wie ich erfahren habe, ist ja der Andachtsraum mittlerweile „aufgestiegen“ – vom „Kellerloch“ hinauf in eine höhere Etage, unweit der stiftseigenen Bibliothek. Des Weiteren entwickelten sich auch unter denen, die – mit unterschiedlichem Frömmigkeitsprofil ausgestattet – an den morgendlichen Andachten im Theologischen Stift teilnahmen, im Anschluss daran beim gemeinsamen Frühstück mancherlei angeregte Diskussionen über Fragen von Glaube, Gott und Kirche. Immer wieder ging es dabei im persönlichen Gespräch in vertrauter Runde um wesentliche Fragen persönlich gelebten Glaubens in Kirche und Gesellschaft. Eine Frucht, die auch während dieser Stiftszeit noch reifte und die ich zusammen mit anderen Bewohnern des Theologischen Stifts noch gemeinsam genießen durfte, war dann im Sommer 1990 ein einwöchiger Aufenthalt bei der Ökumenischen Gemeinschaft der Brüder von Taizé mit Frère Roger (1915 – 2005). So zeigt sich auch hieran, dass zu der Art und Weise, wie wir im Theologischen Stift „Spiritualität“ gelebt und diskutiert haben, immer eine Innen- und Außenseite gehört. Wir hatten unseren Rückzugsraum für die Andacht und das Gebet – aber zugleich bedeutete diese Konzentration auf Andacht und Gebet eben keinen Rückzug aus der Welt, sondern Hinwendung zur Welt. Die Brüder von Taizé verstehen ihre Gemeinschaft nicht anders.
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3. 3.1
Das Stift als Ort der Gemeinschaft
Als Studienanfänger bin ich eher zufällig auf das Theologische Stift aufmerksam geworden. Ich versprach mir davon zu Beginn eines neuen Lebensabschnittes nach einer Ausbildung zum Buchhändler und nach dem Wehrdienst einen Raum der Geborgenheit und eine preiswerte Unterkunft. Das Zusammenleben gerade mit älteren Semestern erwies sich als vorteilhaft. Hier fand ich Helfer beim Sprachenlernen und bei den ersten Schritten im Studium. Das Stift erwies sich als eigenes Subsystem und stellte sich als ein hervorragendes „Biotop“ heraus, in das man sich selbst einzubringen und gleichzeitig auf die Bedürfnisse, Vorlieben und Interessen der Mitbewohnenden Rücksicht zu nehmen hatte. Einen besonderen Akzent setzten dabei die Abende, in denen die neuen Bewerber aufgenommen wurden. Grundsätzlich ist es der christlichen Tradition nicht fremd, dass die Bewohner über den Zuzug neuer Bewerber abstimmen und das Für und Wider diskutieren. So stimmt seit alters her in benediktinischer Tradition der Konvent über einen Bewerber ab. Was das Theologische Stift als besonders zeitgemäße „basisdemokratische Methode“ angesehen hat, ist also „ein alter Hut“. Spannend war es dennoch, denn auch dies kann als Übungsfeld für die spätere pfarramtliche Arbeit angesehen werden. Wie ging man mit den Bewerbern um? Welche Charaktereigenschaften oder Persönlichkeitsfragen waren wichtig? Welche Biografie wiesen die Bewerber auf, und welche Aspekte waren ausschlaggebend? Dass es zwischen der Empfehlung der Auswahlkommission und der bis in die frühen Morgenstunden tagenden Vollversammlung durchaus unterschiedliche Auffassungen gab, war selbstverständlich. Nicht selten spielten bereits jetzt Beziehungen und Zu- oder Abneigungen eine nicht zu unterschätzende Rolle. Dies alles zu harmonisieren und die Entscheidung schließlich zu akzeptieren und von allen mitzutragen, rang nicht wenigen ein hohes Maß an Toleranz ab. 3.2
Das Proseniorat
Das Theologische Stift hat eine schöne Tradition: die sog. „Ministerien.“ Vom Blumengießen über die Wartung des Kopierers bis hin zum „Kulturministerium“ (mit der damit verbundenen Organisation von Feten und Kulturabenden) war in der studentischen Selbstverwaltung im Stift alles vertreten. Die wichtigsten und einflussreichsten Ministerien sind sicherlich das Seniorat und das Proseniorat.1 1 Anm. d. Hg.: Heute gibt es von diesen beiden Ministerien nur noch das Seniorat. Die vormaligen Aufgaben des Proseniorats werden u.a. vom Finanzministerium übernommen.
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Zu den Pflichtaufgaben des Proseniorats, eines der Ministerien, gehören die wöchentlichen Treffen zum Frühstück beim Stiftsinspektor gemeinsam mit der Hausmeisterin, in dem organisatorische Fragen geklärt wurden. Doch die Möglichkeiten des Seniorats gehen darüber hinaus, man hat erheblichen Gestaltungsspielraum. So sind viele inhaltliche Themen im Gespräch des Seniorats entstanden. Das Seniorat nahm dabei erheblichen Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung des Semesters. Wenn ich heute zurückblicke, deutete sich mit der Übernahme des Proseniorats bereits ein Teil meiner späteren Tätigkeit im Pfarramt an. Man sollte auch in der Kirche einen wachsamen Blick auf die finanziellen Mittel haben, diese aber nicht als Selbstzweck verstehen, sondern sie für den Dienst an der Gemeinschaft sinnvoll einsetzen. Daher ist es auch sinnvoll, dass das Proseniorat das einzige Ministerium ist, das für zwei Semester vergeben wurde, was der Materie der Geldverwaltung geschuldet ist und einiges an Fachwissen voraussetzen sollte, zumal eine Abstimmung mit der Universitätsverwaltung notwendig ist. Natürlich kam mir meine kaufmännische Ausbildung als Buchhändler, die ich vor dem Studium absolviert hatte, zugute. Sie schärft den Blick für die Realitäten im Leben und schränkt die Ideologisierung, mit der wir uns im Stift das eine oder andere Mal zu beschäftigen hatten, ein. So gab es auch hinsichtlich der Finanzen ein Stiftsspezifikum. Es gehörte zu der selbstgestellten Verpflichtung, für die Stiftgeschäfte ein Konto bei der damals gewerkschaftseigenen Bank für Gemeinwirtschaft (BfG) führen zu müssen. Das war unabänderlicher Beschluss und Tradition des Hauses. Die Begründung lag nicht gerade auf der Hand, verdeutlichte aber die beginnende sog. „political correctness“, die mich im Leben noch weiterhin begleiten sollte. Die Begründung war politisch gefärbt. Allerdings nicht, wie ich es zunächst vermutete, hinsichtlich des gewerkschaftlichen Charakters der Gemeinwirtschaft, sondern gleich ganz groß, nämlich weltpolitisch – auf der Ebene der sogenannten „Nord-SüdVerantwortung“: „Keine Geschäfte mit dem Apartheidstaat Südafrika“. Hier positionierte sich das Stift gegen die Commerzbank und die Deutsche Bank, die mit einigem Recht als „blutige Banken“ im Zusammenhang der Apartheidspolitik angesehen wurde. „Wir müssen Zeichen setzen“, so die Stiftsmeinung, der ich mich einzuordnen hatte. Die Geschäftsführung des Stiftes wurde so zu einem Teil der christlichen Verantwortung für die unterdrückten Völker Afrikas. Wie in jeder richtigen Körperschaft stand die Haushaltsdebatte am Anfang des Semesters. Gemeinsam war zu überlegen, wofür das gemeinsame Geld ausgegeben wird und welche Anschaffungen getätigt werden. Es war eine spannende Angelegenheit und der große Auftritt des Proseniors. Wie sich das in der Politik gehört, hatten wir uns im Seniorat bereits Gedanken über die Verteilung der Mittel gemacht. Nicht immer konnten wir uns mit unseren Vorschlägen durchsetzen, aber das haben wir gern als Teil der demokratischen Spielregeln
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akzeptiert. Die wichtigste Aufgabe des Proseniors war ohnehin die Einziehung der Verpflegungskosten, des Gemeinschaftsbetrages und einer Pauschale, zusammen etwa 650 DM im ganzen Semester. Da der Prosenior formal eine Verwaltungsaufgabe der Universität übernahm, bestand eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Herrn Schlote von der Universitätsverwaltung. Ich war also so etwas wie der „Finanz- und Außenminister“ des Theologischen Stiftes in einer Person, da kann man gestalten und Kontakte herstellen. Dass das Stift als Institut der Universität eine gewisse Selbstständigkeit und Renommée besitzt, erwies sich als positiv. Man musste diese nur nutzen. Im letzten Semester gab ich turnusgemäß das Amt ab und kümmerte mich mit Yves um die Umwelt. Auch das ist eine wichtige Erfahrung für das Pfarramt, man muss Einfluss und Macht abgeben können.
4. 4.1
Der Mauerfall
Gleichzeitig mit dem Einzug ins Stift neigte sich das DDR-Regime seinem Ende entgegen. Am 9. November 1989 fiel die Mauer. Ich begrüßte das Ende der Unterdrückungsregime in Osteuropa, zumal vor allem in Polen und in der DDR die Kirchen einen wichtigen Beitrag dazu geleistet hatten. Dass diese Freude nicht von allen geteilt wurde, wunderte mich. Manche geäußerten Argumente hinsichtlich der angeblich besseren sozialen Situation in der DDR fand ich lächerlich, und sie zeugten weder von einem wirklichen Demokratieverständnis noch von tieferen Einsichten in die tatsächliche Lebenssituation wenige Kilometer östlich. Hierbei gab es eine für eine derartige Übergangszeit typische Situation. Seit Jahren bestand ein enger Austausch zwischen dem Theologischen Stift Göttingen und dem Sprachenkonvikt Halle. Zur Zeit der Teilung war es üblich, dass die Göttinger einmal im Jahr nach Halle fuhren. In diesem Jahr war es umgekehrt. Die Hallenser konnten Ende November 1989 ohne große Probleme nach Göttingen reisen, während es den Göttingern wegen der unklaren Rechtslage in der noch bestehenden DDR nicht möglich war, nach Halle zu fahren. So konnten die Hallenser Kommilitonen herzlich in Göttingen begrüßt und willkommen geheißen werden. Erst im November 1990, wenige Wochen nach der Wiedervereinigung reisten wir in die sachsen-anhaltinische Universitätsstadt und übernachteten in den damals noch nicht renovierten historischen Gebäuden der Franckeschen Stiftungen.
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Die „große“ Politik „im Kleinen“
Das Stift ermöglichte ganze eigene Experimente. So galt es, sich politisch auszuprobieren. Im Vorfeld der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl von 1990 fand eine Wahldiskussion im Stift statt. Das Stift wurde ein eigener „Wahlkreis“, und einige Bewohner erklärten sich bereit, als Direktkandidaten der Parteien aufzutreten. Selten habe ich mich so intensiv mit Wahlprogrammen beschäftigt. Wenige Tage vor der Bundestagswahl fand eine Diskussionsrunde im Stile der damals bereits üblichen Wahlrunden aller im Bundestag vertretenen Parteien statt. Für mich selbst, der die Vertretung einer Volkspartei übernahm, war das Ergebnis verheerend. Wie gut, dass ich mich wenigstens selbst gewählt hatte. Aber genau das empfinde ich weiterhin als eine Stärke. Es wurde hart mit Worten gekämpft und argumentiert und wie in der großen Politik trafen die verschiedenen Auffassungen und Weltsichten aufeinander. Aber man konnte sich hinterher in die Augen schauen und darüber lachen. Den Gewinn der Fußballweltmeisterschaft erlebten wir gemeinsam im Juli 1990. In großer Gruppe versammelt, saßen wir um einen alten Farbfernseher und bejubelten den Sieg „unserer“ Nationalmannschaft. Im Vorfeld hatte es im Zusammenhang der anstehenden Wiedervereinigung Deutschlands größere Diskussionen darüber gegeben, ob man sich denn freuen darf und nicht etwa das „Gespenst des Nationalismus wieder heraufbeschwört“.
4.3
Ausgewählte Aktionen mit Gesellschaftsbezug
Zu Beginn des WS 1989/90 kam bei einem misslungenen Polizeieinsatz eine Studentin ums Leben. Dies führt zu einer aufgeheizten Stimmung in der Universitätsstadt. Trauermärsche und teilweise gewaltsame Demonstrationen wechselten sich ab. Rechts-und Linksextremisten standen sich feindlich und militant gegenüber. Auch das Theologische Stift blieb davon nicht verschont. Diskussionen über ein theologisch begründetes Widerstandsrecht wurden geführt, der Staat pauschal der Sympathie für rechte Gesinnung verdächtigt. Der Stiftsinspektor Hans-Martin Gutmann erkannte die Gelegenheit, verschiedene Gruppen ins Gespräch zu bringen, so lud er über den ihm bekannten Polizeipfarrer eine Gruppe von Polizeischülern aus Hannover ins Theologische Stift ein. Kritische Studenten auch von außerhalb des Stiftes und Polizeianwärter gleichen Alters saßen sich einen Vormittag lang gegenüber, diskutierten die aktuelle Situation und mussten zum Schluss feststellen, dass sie viel weniger trennte als zuvor gedacht. Das Stift war hier ein guter Ort, durch ein gemeinsames Gespräch Vorurteile abzubauen und Kommunikation zu ermöglichen.
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Selbstverständlich war das Theologische Stift „Atomwaffenfreie Zone“. Diese Bezeichnung hatte sich das Stift vermutlich bereits mehrere Jahre zuvor in der Zeit des Höhepunktes der Auseinandersetzung um die Nachrüstung Anfang der 80 Jahre gegeben. Wie nah Krieg und Frieden beieinander liegen können, war gerade in diesen Jahren erkennbar. Konnte 1990 noch das friedliche Ende des Kalten Krieges gefeiert werden, kam es wenige Monate später zum Ersten Golfkrieg und zum Konflikt im zerbrechenden Jugoslawien. Dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner des Stiftes in der Tradition der Friedensbewegung besonders engagierten, war folgerichtig, wenn es auch durchaus unterschiedliche Auffassungen gab. Zu den regelmäßigen Veranstaltungen im Semester gehörten die Stiftsabende. Hier bestand die Möglichkeit der Gestaltung ganz individueller Art nach Lust und Interesse. Für mich besitzen bis heute – und das ist sicherlich nicht zuletzt durch das Stift geprägt worden – Fragen von Wirtschaftsethik gerade im theologischkirchlichen Bereich eine große Bedeutung. Im Stift war unter der Überschrift „2/ 3 Welt“ dieses Thema fest etabliert. Der Titel leitet sich von der richtigen Überlegung ab, dass die damals als „Dritte Welt“ bezeichneten sogenannten „Entwicklungsländer“ 2/3 der Weltbevölkerung repräsentieren. Das Thema besaß daher große Relevanz, und es fanden immer wieder Informations- und Diskussionsveranstaltungen statt. Mir lag das Thema sehr am Herzen, allerdings wollte ich es nicht auf die moralische Kategorie beschränkt sehen. Da der frühere Stiftsinspektor und Alttestamentler Peter Diepold von der Theologie in die Wirtschaftswissenschaft gewechselt war, ergab sich die Möglichkeit, mit ihm einen aufschlussreichen Stiftsabend zu verbringen, der die Fragen der Weltwirtschaftsordnung fundiert theologisch und ökonomisch zur Sprache brachte.
4.4
Spirituelle Fragen
In unsere Zeit fiel die verstärkte Zuwendung zu spirituellen Fragen. Die von Florian Illies so genannte „Generation Golf“ – der zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 1970er Jahre Geborenen – stellt eine Übergangsgeneration dar, was sich historisch am Fall der Mauer festmachen lässt. Wir verstanden früh, was es bedeutet, in einer Übergangszeit zu leben. Wir verstehen es bis heute dahingehend, dass wir uns des politisch engagierten Erbes der sog. 68er – allerdings mit einer anderen Fragestellung – durchaus bewusst waren, aber gleichzeitig im Theologiestudium auch die Spiritualität berücksichtigt sehen wollten. Da zu unserer Zeit mehrere Mitbewohner Erfahrungen mit temporärem Leben in Klöstern hatten, verstärkte sich der Wunsch nach einem Andachtsraum. An dieser Frage konkretisierte sich der Konflikt zwischen denen, die das Theologische Stift neben dem Wohnraum als Ort wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Reflexion verstanden und denen, die im
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Yves Töllner / Michael Lapp
Theologiestudium neben der Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Fragen ebenfalls spirituelle und religiöse Formen ausprobieren und ihnen eine Gestalt verleihen wollten. Die Spannungspole „Tradition und Moderne“ und „Spiritualität und Politik“ schienen sich umgekehrt zu haben. Mit viel Leidenschaft und Improvisationstalent machten sich Interessierte daran, zunächst einen fensterlosen Kellerraum neben der Waschküche einzurichten und zu gestalten. Dabei kam die Breite der Spiritualität der Bewohner zum Tragen. Neben den uns vertrauten Kreuzen fanden sich orthodoxe Ikonen und Kniebänke aus Taizé. Regelmäßig fanden selbst gestaltete Andachten statt. Dass die Spiritualität mittlerweile aus dem Keller in den obersten Stock in einem schon fast repräsentativ zu nennenden zentralen Raum gekommen und inzwischen eine kleine Kapelle entstanden ist, freut die Autoren sehr.
5. Uns beiden war von Anfang an klar, dass das Theologische Stift eine ausgezeichnete Übungsfläche für die spätere Arbeit im Pfarramt darstellt. Wie leite ich an? Wie gehe ich mit Rollenkonflikten um? Wie werden divergierende Meinungen zusammengefasst? Wie können Gesichter gewahrt werden? Was bleibt? Was hat sich durchgehalten? Was ist prägend geblieben, bis heute, 25 Jahre danach, da wir erste graue Haare bekommen haben, die Kinder herangewachsen und wir im Pfarramt etabliert und in der gesellschaftlichen – und damit kirchlichen – Realität „angekommen“ sind? Wir möchten es einmal so sagen: Das „Konservative“ und – mirabile dictu – auch das „Rebellische“ ist geblieben. Was uns damals wichtig war – das Evangelium von Jesus Christus als Mitte – dies ist auch bis heute die Mitte geblieben. Um des Evangeliums willen müssen wir kirchenkritisch sein und bleiben, wir können nicht einfach „angepasst“ sein. Immer wieder müssen wir um die angemessene Gestalt von Kirche ringen, die sich da abbildet, wo Menschen sich um Gottes Wort und Sakrament sammeln. Ein ganz wesentlicher Beitrag scheint uns die Diskussionskultur als „Stiftskultur“ zu sein, in der wir Toleranz eingeübt haben – und zwar im tiefsten Sinne des Wortes, im evangelischen Sinne. „Einer trage (tolerare) des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ (Gal 6,2). Geblieben sind Wertschätzung, gerade als Folge einer ehrlichen Konfrontation, und das Bestreben, Menschen in ihrer Andersartigkeit und Widerständigkeit kennen und schätzen zu lernen. Im Theologischen Stift konnten wir in unterschiedlichen Lebensbezügen exemplarisch einüben, unsere persönlichen Gaben verantwortungsbewusst uns selbst gegenüber und für die Mitbewohner einzubringen. Dies kam (und kommt) uns bis heute für unseren Dienst in Kirche und Gesellschaft zugute.
Emanuel Hübner
„Himmlisches Haus“ und Ernst-August-Hospital – Die Geschichte der Gebäude des Theologischen Stifts
Zur Versorgung von Armen, Kranken und durchreisenden Pilgern wurde Ende des 13. Jahrhunderts im Westen des mittelalterlichen Göttingen, in unmittelbarer Nähe der Kommenden des Deutschen Ordens, das Hospital St. Spiritus eingerichtet; der Name der Geiststraße leitet sich hiervon her. Es war die erste Einrichtung dieser Art in Göttingen.1 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstanden in der Stadt erste bauliche Einrichtungen und Neubauten für den klinischen universitären Unterricht und die stationäre Behandlung. Den ersten Neubau bildete das 1785 – 1791 errichtete sog. Accouchierhause/Accoucir-Hospital (Entbindungshaus), ein bis heute erhaltenes Gebäude in der Kurzen Geismarstraße Nr. 40.2 1781 wurde in der Nähe dieses Entbindungshauses, ebenfalls in der Kurzen Geismarstraße, ein erstes akademisches Hospital eingerichtet, das bis 1809/1810 an seinem Standort, einem ehemaligen Wirtshaus, verblieb.3 Akademische Hospitäler dienten zu jener Zeit der Ausbildung der Medizinstudenten an Patienten mit akuten Erkrankungen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts belegten die einzelnen Abteilungen des Göttinger akademischen Hospitals mehrere, über das Stadtgebiet verteilte Gebäude.4 1806 kaufte zu diesem Zwecke – in jener Zeit nicht unüblich – Medizinprofessor Carl Gustav Himly ein dreigeschossiges Haus (Mühlenstraße 1) und richtete auch dort eine Hospitalabteilung ein.5 1809/1810 1 Dietrich Denecke: Göttingen. Materialien zur historischen Stadtgeographie und zur Stadtplanung. Erläuterungen zu Karten, Plänen und Diagrammen, Göttingen 1979, 15. 2 Vgl. Dieter Jetter: Geschichte des Hospitals 1: Westdeutschland von den Anfängen bis 1850, Wiesbaden 1966, 143 – 146 und Gerd Weiß (Hg.): Georg Dehio. Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler: Bremen, Niedersachsen, München/Berlin 1992, 514 f. Bauzeichnungen abgebildet in Alfred Oberdiek: Göttinger Universitätsbauten. Die Baugeschichte der GeorgAugust-Universität, Göttingen 22002, 27. 3 Axel Karenberg: Lernen am Bett der Kranken. Die frühen Universitätskliniken in Deutschland (1760 – 1840), Hürtgenwald 1997, 99; Jetter, Geschichte (s. o. Anm. 2), 147. 4 Vgl. Gunda Jentzsch: Zur Geschichte der klinischen Medizin in Göttingen: das Ernst-AugustHospital, 1850 – 1890, Diss. Göttingen 1988, 8 f. 5 Oberdiek, Universitätsbauten (s. o. Anm. 2), 34.
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Emanuel Hübner
kaufte er zusätzlich das angrenzende Eckgrundstück (Stumpfebiel 2, sog. Boehmersches Haus), um sein Hospital zu erweitern, das im Volksmund nun das „Himmlische Haus“ genannt wurde.6 Das Boehmersche Haus war bereits 1735/36 erbaut worden.7 Es handelt sich hierbei um ein zum Stumpfebiel traufenständiges Fachwerkgebäude mit 13 Fensterachsen und Krüppelwalmdach. Zur Mühlenstraße hin besitzt es einen Seitenflügel mit Tordurchfahrt zum Innenhof. Die gegenwärtige äußere Gestaltung entspricht weitgehend dem bauzeitlichen Aussehen;8 auch der heutige Anstrich in altrosa wurde nach historischen Befunden Mitte der 1980er Jahre erneuert (Abb. 1 – 2).9 Das Haus verfügte während der Nutzung als Hospital im Erdgeschoss über einen Hörsaal und Bewirtschaftungsräume und im ersten Obergeschoss über einen Operationssaal, ca. 30 Patientenbetten in zwei Sälen und weiteren Zimmern für Ansteckende u. a.m. Im zweiten Obergeschoss lagen die Wohnungen für Ärzte und weitere Wirtschaftsräume.10 In den 1840er Jahren mehrte sich aufgrund des Zustandes und insgesamt der Beschaffenheit des Gebäudekomplexes die Kritik an der Nutzbarkeit von Himlys Einrichtung als Hospital.11 Zu dieser Zeit existierten in anderen Universitätsstädten bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts Neubauten für akademische Hospitäler, besonders dann ab den 1820er Jahren. Die Göttinger Medizinprofessoren versuchten daher auch für ihre Stadt auf einen solchen Neubau hinzuwirken, zumal in Göttingen nicht nur der bauliche Zustand die medizinische Funktion einschränkte, sondern die Hospitalabteilungen dazu auch noch auf mehrere Standorte verteilt waren.12 1844 trug der Direktor des Göttinger Hospitals, Johann Wilhelm Heinrich Conradi, seinem König Ernst August I. die Bitte vor, in Göttingen ein neues akademisches Hospital zu errichten.13 Bei einem Besuch in Göttingen im Juli 1845 nahm der König die bestehenden Hospitalanlagen selbst in Augenschein und
6 Vgl. Jürgen Bartholdi: Zur Geschichte des Theologischen Stifts, Referat vor Stiftlern WS 64/ 65, Archiv Theologisches Stift, Bl. 6. Vgl. auch Jetter, Geschichte (s. o. Anm. 2), 147 f. und Oberdiek, Universitätsbauten (s. o. Anm. 2), 34. 7 Helga-Maria Kühn: Stumpfebiel 2, in: Fremdenverkehrsverein Göttingen (Hg.): Hundert Häuser, hundert Tafeln. Ein Führer zu Göttinger Baudenkmälern, Göttingen 32000, 25. 8 Auskunft durch: Stadt Göttingen, Fachdienst 61.3 (Bauordnung, Denkmalschutz und Archäologie): Gesamtreport Einzelobjekte, Göttingen, Stadt, Stumpfebiel 2. 9 Vgl. Stadtverwaltung Göttingen, Fassadengestaltung am Gebäude in Göttingen, Stumpfebiel 2 (Theologisches Stift), 8. 11. 1985 und Stadt Göttingen, Fachdienst 61.3 (s. o. Anm. 8). 10 Vgl. Karenberg, Lernen (s. o. Anm. 3), 102 f. 11 Vgl. hierzu z. B. das Schreiben des Prorektors Wagner vom 13. 2. 1845. Universitätsarchiv Göttingen: Kur. 9484, Bl. 39 f. 12 Vgl. Jentzsch, Ernst-August-Hospital (s. o. Anm. 4), 11 f. 13 Vgl. Unterthänigster Bericht des Hofraths Conradi das akademische Hospital betreffend, 2. 12. 1844. Universitätsarchiv Göttingen: Kur. 9484, Bl. 28 – 32.
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sicherte daraufhin den gewünschten Neubau zu.14 Noch im September jenes Jahres beauftragte er seinen Hofbaumeister Christian Adolf Vogell mit der Bauplanung.15 Im Januar des Folgejahres legte dieser einen ersten Planentwurf vor. Er beschrieb den geplanten Bau darin ausführlich u. a. mit den Worten: „Das Aeußere des Gebäudes ist in einem einfachen, aber nicht unfreundlichen Style gedacht, um das Unheimliche, was der Begriff eines Hospitals mit sich führt, nicht durch das Aeußere bei den Kranken zu bestärken.“16 Die Verantwortlichen in der Regierung – sowohl der Minister der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten, als auch der König selbst – hielten den geplanten Bau und die vorgesehene Bettenzahl von 156 jedoch für unangemessen. Die Bau- und Unterhaltskosten wären dann zu hoch; 120 Betten würden genügen.17 Im März legte Vogell einen überarbeiteten Entwurf vor.18 Auch später noch versuchte der König, Einfluss auf die Bauplanung auszuüben.19 Finanziert wurde der Bau durch den Allgemeinen Hannoverschen Klosterfonds20, der sich aus dem Vermögen der zu Beginn des 19. Jahrhunderts an das Königreich Hannover gefallenen geistlichen Besitzungen und Territorien speiste.21 Unter den Göttinger Medizinern gab es verschiedene Meinungen dazu, wo der geeignetste Bauplatz für den Hospitalneubau zu finden wäre. Schließlich bestimmte der König Anfang 1846 den Bauplatz auf der Ostseite der Geiststraße. Im April des Jahres begannen sowohl der Ankauf der benötigten Grundstücke durch die Stadt Göttingen aus privater Hand22 als auch die ersten Ausschachtungsar-
14 Ernst August I., Stiftungsurkunde des Hospitals, 6. 8. 1851. Als Faksimile abgedruckt in Jentzsch, Ernst-August-Hospital (s. o. Anm. 4), 248 – 250. 15 Brief von Langenbeck, 4. 10. 1845. Universitätsarchiv Göttingen: Kur. 9484. Zur Biographie Vogells vgl. Wilhelm Rothert: Im alten Königreich Hannover. 1814 – 1866. Ein Gedenkbuch zur Jahrhundertwende, Hannover 1914, 587. 16 Bericht des Hofbaumeisters Vogell, Hannover den 31ten Januar 1846, den Bau des neuen Hospitals in Göttingen betreffend. Universitätsarchiv Göttingen: Kur. 9485, Bl. 16 (Rückseite). 17 Vgl. Cabinet seiner Majestät des Königs, Hannover, an den Minister der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten, Freiherrn von Stralenheim, 16. 2. 1846. Universitätsarchiv Göttingen: Kur. 9485, Bl. 76 – 79. 18 Vgl. Jentzsch, Ernst-August-Hospital (s. o. Anm. 4), 36 f. 19 Vgl. z. B. Brief Ernst Augusts an den Universitätskurator, Freiherrn von Stralenheim, 3. 10. 1846. Universitätsarchiv Göttingen: Kur. 5277, Bl. 15 – 20. 20 Vgl. Jentzsch, Ernst-August-Hospital (s. o. Anm. 4), 43. 21 Zum Allgemeinen Hannoverschen Klosterfonds vgl. Andreas Franitza: Der Allgemeine Hannoversche Klosterfonds und die Klosterkammer Hannover. Untersuchung zur rechtsgeschichtlichen Entwicklung, Frankfurt a.M. et al. 2000. 22 Zur Diskussion um den geeignetsten Bauplatz vgl. z. B. Brief von Langenbeck, 4. 10. 1845. Universitätsarchiv Göttingen: Kur. 9484. Zur Bauplatzentscheidung durch den König vgl. Cabinet seiner Majestät des Königs, Hannover, an den Minister der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten, Freiherrn von Stralenheim, 16. 2. 1846. Universitätsarchiv Göttingen: Kur. 9485, Bl. 76 – 79.
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beiten. Hierbei gab es von Beginn an Probleme mit der Feuchtigkeit durch das Grundwasser.23 Am 9. Oktober 1850 wurde der Hospitalneubau eröffnet (Abb. 3).24 Die auf den 20. November 1850 datierende „Bekanntmachung, die Benutzung des academischen Hospitals zu Göttingen betreffend“ setzte fest, dass „[n]ur arme, für den klinischen Unterricht interessante Kranke […] unentgeltlich aufgenommen“ würden (§ 1). Bemittelte dagegen würden „nur gegen Bezahlung aufgenommen. Unheilbare und Geisteskranke jedoch auch nicht gegen diese“ (§ 3).25 Die feierliche Einweihung des Hospitals, die mit der Benennung der Einrichtung als „Ernst August Hospital“ einherging, fand dagegen erst am 6. August 1851 in Anwesenheit des Königs statt.26 Ernst August I. besichtigte die meisten Krankenzimmer, ließ die Stiftungsurkunde verlesen und übergab sie dem Prorektor der Universität.27 Zudem wurde im Obergeschoss eine Statue des Königs, geschaffen von Ernst Augusts Hofbildhauer Heinrich Hesemann, aufgestellt.28 Zu dieser Zeit gab es neben dem Ernst-August-Hospital nur wenige weitere Krankenhäuser im Königreich Hannover, so z. B. in Hannover selbst das Stadtlazarett (erbaut 1734 – 1736) und das Allgemeine Krankenhaus (erbaut 1829 – 1832).29 Nach dem Umzug der Hospitaleinrichtungen in die Geiststraße nutzten verschiedene andere Universitätseinrichtungen das Gebäude im Stumpfebiel, zeitweise stand der Großteil des Gebäudes jedoch leer. Da die Theologische Fakultät eine kostengünstige Unterbringungsmöglichkeit für Ihre Repetenten suchte, stellte sie den Antrag, das Gebäude für deren Unterbringung nutzen zu dürfen, was die Universität als Besitzer der Immobilie 1858 genehmigte. Im Mai 1859 folgten die feierliche Einweihung und der Bezug des Hauses.30 So zogen nun drei Repetenten und acht Studenten in das Haus ein, das 1878 offiziell den Namen Theologisches Stift erhielt; doch schon vor dem Ersten Weltkrieg trug es zusätzlich den Spitznamen „Stiller Ochse“, wohl abgeleitet von „stillem ochsen, büffeln“31 (Abb. 2).
23 Vgl. Jentzsch, Ernst-August-Hospital (s. o. Anm. 4), 30.43.70 – 72. 24 Conrad Heinrich Fuchs: Universität, in: Nachrichten von der G. A. Universität und der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Nr. 7, 28. April 1851, 81 – 89, hier 81. 25 „Bekanntmachung, die Benutzung des academischen Hospitals zu Göttingen betreffend“ vom 20. 11. 1850. Universitätsarchiv Göttingen: Kur. 5282, Bl. 1. 26 Ernst August I., Stiftungsurkunde des Hospitals, 6. 8. 1851. Als Faksimile abgedruckt in Jentzsch, Ernst-August-Hospital (s. o. Anm. 4), 248 – 250. 27 Vgl. Carl Ernst von Malortie: König Ernst August, Hannover 1861, 186. 28 Jentzsch, Ernst-August-Hospital (s. o. Anm. 4), 44. 29 Vgl. Axel Hinrich Murken: Die bauliche Entwicklung des deutschen Allgemeinen Krankenhauses im 19. Jahrhundert, Göttingen 1979, 341 f. 30 Vgl. Bartholdi, Geschichte (s. o. Anm. 6), Bl. 5 – 7. 31 Jürgen Bartholdi: Jubiläum des „Stillen Ochsens“, in: Göttinger Tageblatt (10. 2. 1965).
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Die Planungen der 1960er Jahre, ein neues Rathaus an der Geiststraße zu errichten – wobei der gesamte Gebäudebestand auf der östlichen Seite der Geiststraße dem Rathausneubau zum Opfer gefallen wäre – wurden nicht umgesetzt.32 Die äußere Gestaltung des Ernst-August-Hospitals hat vielmehr im Laufe seiner über 150-jährigen Geschichte keine großen Veränderungen erfahren, so dass eine Beschreibung den bauzeitlichen wie den gegenwärtigen Zustand wiedergibt.33 Das Gebäude des Ernst-August-Hospitals erstreckt sich mit seiner Längsseite zur Geiststraße hin über eine Länge von 73 m.34 Das gesamte Gebäude besteht aus einem zweischaligen Mauerwerk: die äußere Schale aus Bruchstein und die innere aus gebrannten Ziegelsteinen.35 Das Gebäude gliedert sich in mehrere Etagen: ein Souterraingeschoss, eine Hochparterre, ein Obergeschoss und ein Drempelgeschoss. Nach oben schließt es mit zeittypischen Walmdächern über den einzelnen Gebäudeteilen ab (Abb. 3). Das Souterraingeschoss besitzt eine Sandsteinverkleidung, die einen Sockel aus großen Blöcken vortäuscht. Der Rest der Fassade ist verputzt. Das gesamte Gebäude ist achsensymmetrisch aufgebaut: In der Mitte der Straßenseite befindet sich an einer vierstufigen Freitreppe eine fast 4 m breite und bis zu 5,50 m hohe Türöffnung. Die hölzerne, dreigliedrige Tür stammt noch aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.36 Hoch über der Eingangstür, auf Höhe des Drempelgeschosses, befindet sich die Bauinschrift „ERNESTVS AVGVSTVS GEORGIAE AVGVSTAE“, die den Namen des regierenden Königs nennt und die Zugehörigkeit des Hospitals zur Georg-AugustUniversität zum Ausdruck bringt (Abb. 4). Zur Linken und Rechten der Eingangstür schließen sich in allen Geschossen fünf Fensterachsen und dann, leicht über die Gebäudefront vortretend, ein rechteckiger Kopfbau mit (zur Straßenseite hin) ebenfalls je fünf Fensterachsen an. Zur Gartenseite hin treten die Kopfbauten tiefer hervor. Auf dieser Seite befindet sich zudem in der Mitte des Gebäudes ein tief in den Gartenbereich ragender Baukörper mit halbrundem Abschluss, der bauzeitlich in der Hochparterre einen Untersuchungsraum der Poliklinik und im Obergeschoss einen Operationssaal beherbergte. Während 32 Vgl. Denecke, Göttingen (s. o. Anm. 1), 62 f. 33 Zum Zustand der Fassade um 1900 vgl. Elisabeth Beierle: Die Krankenversorgung und der Beginn der Krankenpflegeausbildung in Göttingen des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Göttinger Jahrbuch 45 (1997), 126. 34 Vgl. Plan „Umbau der Pharmakologie für Zwecke d. Theologischen Stifts“, Grundriss Erdgeschoss, Maßstab 1:100, 20. 6. 1978, als Anlage zu Staatshochbauamt Göttingen an Stadt Göttingen, Bauverwaltung, 26. 4. 1979. Stadt Göttingen, Fachdienst 61.3 (Bauordnung, Denkmalschutz und Archäologie): Akte. Stadt Göttingen, Bauverwaltung, Bauordnungsamt, St 24/79 – Einrichtung Theologisches Institut. 35 Vgl. Bericht des Hofbaumeisters Vogell, Hannover den 6ten November 1846, den Bau des neuen academischen Hospitals in Göttingen betreffend. Universitätsarchiv Göttingen: Kur. 9486, Bl. 2 – 4, hier 3. 36 Stadt Göttingen, Fachdienst 61.3 (s. o. Anm. 8), Geiststraße 9.
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die Fenster zur Straßenseite hin eine Sandsteineinfassung besitzen und durch Gesimse horizontal gegliedert werden, sind alle übrigen Fenster wesentlich schlichter gestaltet. Hinter der bereits erwähnten Eingangstür befindet sich eine Eingangshalle von fast 9 m Breite und 15 m Tiefe.37 Nahe der Haustür besitzt sie eine Höhe von ca. 6,5 m – im Treppenbereich zwischen Hochparterre und Obergeschoss sogar von 14 m.38 Eine die gesamte Breite der Eingangshalle einnehmende zwölfstufige Treppe führt von der Eingangstür hinauf in die Hochparterre. Von hier gehen Türen in angrenzende Räume und Flure ab. Eine etwa 2 m breite bauzeitliche Treppe führt von hier in das Obergeschoss hinauf. Sie wird in der Hochparterre von Säulen flankiert und besitzt schmiedeeiserne Geländer (florales Rankenwerk) aus der Erbauungszeit.39 Die Architekturelemente dieses Hospitalbaus sind typisch für den zeitgenössisch vorherrschenden Stil des Historismus.40 Auch die Grundrissgestaltung ist typisch für die zeitgenössischen Krankenhausanlagen, die meist symmetrisch als Drei- und Mehrflügelanlage (H-Form) zwei- bis viergeschossig errichtet wurden. Der symmetrische Aufbau ergab sich dabei aus der Geschlechtertrennung innerhalb der Hospitalbauten.41 Bei seiner Inbetriebnahme waren im Soutterraingeschoss des Ernst-AugustHospitals Wirtschaftsräume untergebracht. In der Hochparterre befanden sich eine Poliklinik, d. h. ein allgemeines Krankenhaus mit Ambulanz, und Krankensäle. Im Obergeschoss waren die chirurgische Abteilung inklusive der Operationssäle und eine Abteilung für sog. Sinneskranke, d. h. Augen- und Ohrenkranke, eingerichtet. Vorher waren alle diese Abteilungen auf verschiedene Standorte in Göttingen verteilt gewesen. Die insgesamt 16 Krankensäle des Neubaus besaßen jeweils maximal zwölf Betten. Der südliche Flügel war dabei grundsätzlich für die Behandlung von Männern und der nördliche für die von 37 Vgl. Plan „Umbau der Pharmakologie für Zwecke d. Theologischen Stifts“, Grundriss Erdgeschoss, Maßstab 1:100, 20. 6. 1978, als Anlage zu Staatshochbauamt Göttingen an Stadt Göttingen, Bauverwaltung, 26. 4. 1979. Stadt Göttingen, Fachdienst 61.3 (s. o. Anm. 34). 38 Vgl. Plan „Umbau der Pharmakologie für Zwecke d. Theologischen Stifts“, Querschnitt durch die Eingangshalle, Maßstab 1:100, 20. 6. 1978, als Anlage zu Staatshochbauamt Göttingen an Stadt Göttingen, Bauverwaltung, 26. 4. 1979. Stadt Göttingen, Fachdienst 61.3 (s. o. Anm. 34). 39 Vgl. Stadt Göttingen, Fachdienst 61.3 (s. o. Anm. 8). 40 Der Hospitalbau befindet sich dabei im Übergangszeitraum vom sehr schlichten, stark antikisierenden Klassizismus zum von der italienischen Frührenaissance geprägten Romantischen Historismus. Für einen Entwicklungsüberblick vgl. Gottfried Kiesow: Kulturgeschichte sehen lernen, Bd. 5, Bonn 2011, 36 – 45. Einführend zum Klassizismus vgl. Klaus Jan Philip: Architektur des Klassizismus und der Romantik in Deutschland, in: Rolf Toman (Hg.): Klassizismus und Romantik. Architektur, Skulptur, Malerei, Zeichnung. 1750 – 1848, Köln 2006, 152 – 193. 41 Vgl. Dankwart Leistikow: Das deutsche Krankenhaus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Hans Schadewaldt (Hg.): Studien zur Krankenhausgeschichte im 19. Jahrhundert im Hinblick auf die Entwicklung in Deutschland, Göttingen 1976, 21 und 25.
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Frauen und Kindern vorgesehen. Das Drempelgeschoss wurde als Speicherraum für Betten und zum Wäschetrocknen genutzt. Zudem befanden sich hier Wasserbehälter für fließend kaltes Wasser. Östlich des Hospitalgebäudes wurde in einem Nebengebäude ein Sektionssaal mit sog. Totenkammer untergebracht. In dem Garten, der dem Hospital auf der westlichen Seite der Geiststraße gegenüberlag, wurde eine sog. Separir-Anstalt (Isolierhaus) errichtet.42 Im Laufe der Nutzungsgeschichte des Hospitalgebäudes gab es einige Umbauten, die besonders den nördlichen Teil des Gebäudes betroffen haben, in dessen unmittelbarer Nähe 1873 eine Augenklink als separater Neubau errichtet wurde (Geiststraße 12). Nachdem bereits 1862 im Garten des Hospitals ein dreigeschossiges Gebäude für das Pathologische Institut errichtet worden war (Abriss Ende der 1970er Jahre), wurden in den folgenden Jahrzehnten im unmittelbaren Umfeld des Hospitalgebäudes weitere Gebäude für die Universität errichtet, die sich alle bis zur Gegenwart erhalten haben: Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurden von 1900 bis 1901 als eingeschossiger Fachwerkbau die Universitäts-Fechtanstalt (Geiststraße 4) und von 1902 bis 1903 die Akademische Turnhalle, ein zur Geiststraße hin zweigeschossiger Fachwerkbau (Geiststraße 6), errichtet. 1907 folgte auf derselben Straßenseite das zweigeschossige Institut für gerichtliche und versicherungstechnische Medizin (Geiststraße 7), wobei ein Großteil des alten Isolierhauses des Hospitals abgebrochen wurde. Der direkt an der Geiststraße gelegene Teil (mit zwei Schornsteinen) wurde jedoch in den Neubau integriert und ist erhalten. 1925 wurde, ebenfalls zweigeschossig, die Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten (Geiststraße 5) errichtet.43 Schon bald nach der Einweihung des Ernst-August-Hospitals zeigten sich Baumängel und der Mangel an Möglichkeiten für Erweiterungsbauten. Zudem wurde offensichtlich, dass das Hospitalgebäude nicht mehr den Ansprüchen eines modernen Krankenhausbetriebs entsprach. Dieser ging in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weg vom mehrflügeligen Großbau hin zu mehreren dezentralen Gebäuden, dem sog. Pavillonsystem.44 Bereits 1877 stellte daher die
42 Vgl. Jentzsch, Ernst-August-Hospital (s. o. Anm. 4), 48. Zu den Nebengebäuden vgl. auch den Bericht des Hofbaumeisters Vogell, Hannover den 6ten November 1846, den Bau des neuen academischen Hospitals in Göttingen betreffend. Universitätsarchiv Göttingen: Kur. 9486, Bl. 2 – 4. 43 Zu den erwähnten Universitätsbauten vgl. Oberdiek, Universitätsbauten (s. o. Anm. 2), 57 f., 63, 81, 86 f., 91 und 103. Zu den erwähnten Universitätsbauten siehe Oberdiek, Universitätsbauten (s.o. Anm. 2), 57-58, 63, 81, 86-87, 91, 103, und Hermann Frenzel, Die Hals-NasenOhren-Klinik der Universität Göttingen. Eine kurze Darstellung ihrer baulichen Entwicklung 1878-1963, Göttingen [1963], 5 – 6. 44 Vgl. Matthias Barth: Kaiserliches Berlin. Architektur zwischen 1871 und 1918, Freiburg 2012, 161 – 175; Axel Hinrich Murken: Das deutsche Baracken- und Pavillon-Krankenhaus von
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Medizinische Fakultät den Antrag für einen Hospitalneubau.45 Ende der 1880er Jahre begannen der Bau und der Bezug erster Klinikgebäude am Kirchweg, der heutigen Humboldtallee.46 Für das Hospitalgebäude an der Geiststraße hatte dies eine mehrfache Nutzungsänderung zur Folge. Um 1890 wurde es von der Augenklinik genutzt, die den gesamten nördlichen Kopfbau bezog, der nun zudem durch einen Verbindungsbau an das 1873 erbaute Klinikgebäude angeschlossen wurde. Das Institut für Pharmakologie belegte im verbleibenden Teil des Hospitalbaus Räume in der Hochparterre und das Institut für Hygiene solche im Obergeschoss. 1906 zog auch die Augenklinik an einen neuen Standort an der Humboldtallee um, und die Poliklinik für Ohrenkranke übernahm deren bisherige Räumlichkeiten.47 Die veränderte Nutzung des Hospitalgebäudes hatte langfristig auch Folgen für das Theologische Stift am Stumpfebiel. Hier wurde zwar 1951/52, nördlich an das Stiftgebäude angrenzend, ein kleiner Erweiterungsbau mit 20 Einzelzimmern für besonders bedürftige Studenten errichtet, der im SoSe 1952 bezogen48 und 1965 durch das Theologische Stift übernommen wurde. Der bauliche Zustand des Stiftsgebäudes aus der Mitte des 18. Jahrhunderts verschlechterte sich dagegen zusehends.49 Mitte der 1960er Jahre mussten Teile des Hauses wegen Einsturzgefahr gesperrt und ein Abriss in Erwägung gezogen werden. Zunächst nur als Provisorium gedacht, wurden daher einige Stiftler in ehemaligen Häusern einer Wohnungsbaugenossenschaft am Kreuzbergring untergebracht.50 Ende der 1970er Jahre gab es dann konkrete Planungen, das Theologische Stift in das Gebäude des ehemaligen Ernst-August-Hospitals umzusiedeln. Der Mittel- und der Südteil des Gebäudes sollten hierfür genutzt werden. Im Erläuterungsbericht der Universität aus dem September 1978 wurde dabei jedoch der Nordflügel explizit als Erweiterungsmöglichkeit „nach Auszug der Klink für Hals-NasenOhrenkranke aus den restlichen Gebäudeteilen“ bezeichnet.51 Bei den beabsichtigten Umbaumaßnahmen für das Stift sollten Zwischenwände in Leicht-
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1866 bis 1906, in: Hans Schadewaldt (Hg.): Studien zur Krankenhausgeschichte im 19. Jahrhundert im Hinblick auf die Entwicklung in Deutschland, Göttingen 1976, 72 – 104. Vgl. Jentzsch, Ernst-August-Hospital (s. o. Anm. 4), 243. Vgl. Oberdiek, Universitätsbauten (s. o. Anm. 2), 72 – 75. Vgl. Jentzsch, Ernst-August-Hospital (s. o. Anm. 4), 244. Vgl. Art. „Förderung der Selbsterziehung. Neues Studentenwohnheim im Stumpfebiel eingeweiht“, in: Göttinger Tageblatt (3. 5. 1952) und Art. „Ein Haus ohne Budenzauber“, in: Göttinger Presse (3. 5. 1952). Zu den Baumaßnahmen bis Mitte der 1960er Jahre vgl. Bartholdi, Geschichte (s. o. Anm. 6), 6 f. Zum Zustand Mitte der 1960er Jahre vgl. Franz-Josef Schlote: Zeitzeugenbericht, Archiv Theologisches Stift 40, Bl. 3 f. Vgl. ebd., Bl. 4 f. Universität Göttingen, Umbaumaßnahmen im Pharmakologischen Institut der Universität für Zwecke des Theologischen Stifts. Aufgestellt: Göttingen, den 29. 9. 1978. Staatshochbauamt Göttingen, Bl. 1.
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baukonstruktion die Zimmerzahl vergrößern, die Decken abgehängt und das gesamte Wasserleitungssystem ausgetauscht werden. Zudem sollten „Leitungen für einen öffentl. Münzfernsprecher“ und eine „Klingel- und Wechselsprechanlage mit Klingel für jeden Wohnraum und Wechselsprechanlage in jedem Flur“ vorgehalten werden.52 Die Umbauzeit wurde auf zehn Monate veranschlagt. Das Staatshochbauamt erläuterte der Stadtverwaltung Göttingen im April 1979:„[E]s ist geplant, das Gebäude Geiststraße 9 (ehem. Ernst-AugustHospital) soweit es bislang durch das Institut für Pharmakologie und Toxikologie genutzt wurde, für Zwecke des Theologischen Stifts der Universität umzubauen. Der Umbau des Gebäudeteils, der zurzeit noch von der HNO-Klinik genutzt wird, bleibt zunächst vorbehalten.“53 Die geplanten Umbaumaßnahmen sollten dabei das äußere Erscheinungsbild des Gebäudes nicht verändern und ein bislang als Tierstall genutztes Hintergebäude (ehemals Pathologisches Institut) sollte zugunsten von Grünflächen abgerissen werden. Das Staatshochbauamt kündigte zudem an: „Denkmalwerte Innenbereiche (z. B. Treppenhaus) werden von störenden Einbauten befreit.“54 Das SoSe 1982 war das letzte Semester des Theologischen Stifts am alten Standort Stumpfebiel und am provisorischen am Kreuzbergring. Der Semesterbericht des Stiftsinspektors Dr. Korsch an den Ephorus Prof. Zimmerli schloss mit den Worten: „Das letzte Semester in den alten Häusern hat bei vielen Wehmut ausgelöst. Ihr steht aber gegenüber die Hoffnung auf einen guten Neuanfang in der Geiststraße.“55 Ende 1982 erfolgte dann der Einzug in die Geiststraße 9.56 Das Theologische Stift bezog dabei den planungsgemäß hergerichteten Mitteltrakt und den südlichen Kopfbau des Hospitals. Im nördlichen Kopfbau war zu dieser Zeit noch immer die Hals-Nasen-Ohrenklinik untergebracht.57 Sowohl das ehemals vom Theologischen Stift genutzte Gebäude Stumpfebiel 2, als auch das derzeitige in der Geiststraße 9 stehen seit 1982 gemäß Niedersächsischem Denkmalschutzgesetz (1978) unter Schutz.58 Das Gebäude Geiststraße 9 52 Universität Göttingen, Umbaumaßnahmen im Pharmakologischen Institut der Universität für Zwecke des Theologischen Stifts. Aufgestellt: Göttingen, den 29. 9. 1978. Staatshochbauamt Göttingen, Bl. 5 – 8. 53 Staatshochbauamt Göttingen an Stadt Göttingen, Bauverwaltung, 26. 4. 1979. Stadt Göttingen, Fachdienst 61.3 (s. o. Anm. 34). Dem Schreiben sind die Umbaupläne im Maßstab 1:100 als Anlage beigefügt. 54 Ebd. 55 Bericht des Inspektors an den Ephorus über das SoSe 1982, 18. 9. 1982. Archiv Theologisches Stift, Ordner: Stiftskuratorium 1977 – 1988. 56 Protokoll der ordentlichen Sitzung des Stiftskuratoriums am 24. 1. 1983, 1. 2. 1983. Archiv Theologisches Stift, Ordner: Stiftskuratorium 1977 – 1988. 57 Vgl. Jentzsch, Ernst-August-Hospital (s. o. Anm. 4), 245. 58 Vgl. Stadt Göttingen, Fachdienst 61.3 (s. o. Anm. 8).
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war zudem bereits seit 1968 durch die vom Göttinger Stadtrat verabschiedete „Satzung über Baugestaltung“ geschützt, die bauliche Änderungen untersagte, welche die Eigenart von Bauwerken geschichtlicher oder künstlerischer Bedeutung beeinträchtigten.59 Es stellt durch seine weitgehend erhalten gebliebene Bausubstanz aus der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Baudenkmal von besonderem Rang dar.
Abb. 1. Das Boehmersche Haus (erbaut 1735/1736), Standort des Theologischen Stifts von 1859 bis Ende 1982 (Aufnahme E. Hübner, Januar 2015).
59 Vgl. § 4 II der Satzung über Baugestaltung, Rat der Stadt Göttingen, am 5. 7. 1968. Abgedruckt als Anlage 3 zu Waldemar R. Röhrbein: Die Göttinger Satzung über Baugestaltung und das Problem des Denkmalschutzes, in: Göttinger Jahrbuch 20 (1972), 183 – 223.
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Abb. 2. Bewohner des Theologischen Stifts im SoSe 1968 vor dem Haupteingang des Stiftsgebäudes (Aufnahme: Archiv Theologisches Stift).
Abb. 3. Das Ernst-August-Hospital (erbaut 1846 – 1850), Standort des Theologischen Stifts seit Ende 1982. Die Lithographie von Friedrich Besemann zeigt das Gebäude und seine Umgebung um die Mitte des 19. Jahrhunderts (Städtisches Museum Göttingen).
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Abb. 4. Haupteingang zum Theologischen Stift von der Geiststraße aus (Aufnahme: H. Wojtkowiak, Juni 2014).
Emanuel Hübner
Ole Großjohann
Stiftsarbeit als Bruderdienst
1.
Einleitendes
Um eine weitere Facette der Stiftsgeschichte zu betrachten, lohnt es sich, das Engagement der Stiftsbewohner für den DDR-Bruderdienst zu untersuchen. In den Jahren der deutschen Teilung bestanden zwischen dem Theologischen Stift in Göttingen und dem reformierten Konvikt in Halle/Saale Verbindungen, die einen „patenähnlichen Charakter“ hatten.1 Darüber hinaus engagierten sich die Bewohner des Göttinger Stifts in der DDR-Bücherhilfe. Um ein tiefergehendes Verständnis des Stiftsengagements zu ermöglichen, gehe ich zunächst auf die zeitgeschichtliche Situation ein, um anschließend auf diesem Hintergrund die Zusammenarbeit der beiden theologischen Wohnheime und das Engagement in der Bücherhilfe zu entfalten.2
2.
Zur Signatur der Zeit: 1965 – 1970 als Zeit des Umbruchs
Gerade in Zeiten struktureller Umbrüche stellen sich Beziehungen von Institutionen und Individuen in besonderer Klarheit heraus. Betrachtet werden soll im Folgenden daher der enge Zeitraum 1965 – 1970, da in diesen Abschnitt gleich mehrere Umbruchsituationen fallen: Die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse in Westdeutschland, die durch die sogenannte 68er-Bewegung im Bereich der Hochschule die bestehenden Strukturen aufweichten und in Göttingen u. a. zu einer Politisierung der Fachschaften führten, der Bruch des Kirchenbundes und die Gründung des Bundes Evangelischer Kirchen (BEK) sowie die in Ostdeutschland durchgeführte dritte Hochschulreform. Gleichzeitig stabilisierten 1 So beschrieben auf den ersten Seiten der Stiftschronik zum WS 1964/65, Archiv des Theol. Stiftes der Georg-August-Universität Göttingen, Rote Mappe. 2 In beiden Fällen wird maßgeblich auf die im Archiv des theologischen Stifts erhaltenen Dokumente zurückgegriffen. Da dieses zurzeit nicht geordnet ist, werden die Quellen so genau wie möglich benannt.
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sich die Beziehungen zwischen West- und Ostdeutschland durch eine von der BRD betriebene veränderte Ost-Politik. Nach dem Mauerbau 1961 wurde die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) als Verbund der evangelischen Kirchen in Deutschland vor besondere Herausforderungen gestellt: Wie konnten die einzelnen Landeskirchen vertreten und unterstützt werden, wenn die dazu erforderlichen Strukturen abgetrennt wurden? Die Kommunikation zwischen den Landeskirchen in Ostdeutschland und denen im Westen Deutschlands war dramatisch erschwert. Vermehrt traten inhaltliche Differenzen in der Kirchenpolitik auf und die Lebenssituation der Gemeindeglieder der Ost- und Westkirchen driftete auseinander. Der Versuch, über die Nationentrennung hinaus den Bund der Kirchen als EKD fortzuführen, wurde schwieriger. Mit der Verfassungsänderung 1968 in der DDR wurde die grenzüberschreitende organisatorische Einheit der Kirchen endgültig aufgebrochen. Die Verfassungsänderung verbot es den Ostkirchen, Teil einer über die Landesgrenzen hinausgehenden Vereinigung zu sein. Um nun in der DDR eine organisatorische Einheit der evangelischen Landeskirchen zu schaffen, gründeten die Landeskirchen, die auf dem Gebiet der DDR lagen, den Bund Evangelischer Kirchen (BEK). Der BEK war in seiner organisatorischen Struktur somit Ansprechpartner für die SED-Regierung, aber auch Mittler zwischen der EKD und den Landeskirchen der DDR. Finanziell waren die Kirchen in der DDR dabei von der EKD abhängig. Die Katholische Kirche wiederum trennte sich in administrativer Hinsicht nicht auf. Da der Vatikan die DDR nicht als Staat anerkannt hatte, beließ sie die Strukturen wie vor dem Mauerbau. Der Bischof von Berlin war somit auch Bischof von Ostberlin. Die SED-Regierung lies ihn jedoch nicht in die DDR einreisen. Gleichzeitig fiel in die Zeit des Bruchs des Kirchenbundes die Zeit einer massiven Veränderung der Hochschullandschaft in der DDR: Die dritte Hochschulreform in der DDR wurde 1965 – 1971 mit dem Ziel durchgeführt, die in der SED-Bildungspolitik getroffenen Entscheidungen zur Bildung von Ausbildungs- und Forschungsschwerpunkten durchzusetzen. Somit wurden die letzten eigenständigen Theologischen Fakultäten und Institute abgelöst und durch „Sektionen“ an den Hochschulen ersetzt. Der dadurch einsetzende Hochschulstrukturwandel führte dazu, dass die einzelnen Sektionen an Eigenständigkeit verloren und gleichzeitig die Position des Hochschulrektors stärkten, da dieser den Sektionsleitern direkt übergeordnet war. Die bisherige mittlere Ebene der Dekane entfiel. Diese dritte Hochschulreform veränderte die Stellung der Theologie in der DDR-Bildungslandschaft enorm. Zum einen stellte das Fach Theologie in den Augen der SED keinen Inhalt dar, der zum Forschungs- oder Ausbildungsschwerpunkt an Hochschulen gehörte, zum anderen wurde der Einfluss der Theologischen Fakultäten durch die Verminderung des Hierar-
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chiestatus innerhalb der Hochschulverwaltung gemindert. Dies alles ging mit finanziellen Einbußen der theologischen Sektionen einher. In den 1960er Jahren veränderten sich ebenfalls die Beziehungen zwischen West- und Ostdeutschland. Die Diskussion um eine veränderte Ost-Politik in der Bundesrepublik wurde maßgeblich durch die EKD-Denkschrift „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis der Deutschen zu ihren östlichen Nachbarn“ vorangetrieben. Im Herbst 1963 wurde die EKD-Kammer für öffentliche Verantwortung beauftragt, sich dem Thema des veränderten Umgangs mit den OstGebieten anzunehmen. In der Bundesrepublik leistete die Ostdenkschrift durch die dadurch ausgelösten öffentlichen Diskussionen einen wesentlichen Beitrag zur Durchsetzung der neuen Ostpolitik der sozialliberalen Koalition unter Brandt und Scheel.3 In der 1965 schließlich publizierten Denkschrift stellt die Kammer – und dann auch der Rat der EKD – im sechsten Kapitel „Theologische und ethische Erwägungen“ heraus, dass die Theologie zur Frage der Anerkennung der strittigen Oder-Neiße-Grenze keine direkte Antwort geben könne. Inhaltlich wägt sie die Probleme im Umgang mit den Vertriebenen und den im Osten verlorengegangenen Gebieten ab und bewertet letztlich die Option, die Ostgebiete evtl. aufzugeben und deren Wiedererlangung nicht weiter anzustreben, als durchaus legitim. „Die Diskussion aus Anlaß der Vertriebenendenkschrift gewann ihre Schärfe durch den Umstand, daß die Kirche hier nicht im Bereich politischer Neutralität verblieb, sondern, vom Gedanken der Versöhnung ausgehend, bestimmte Gesichtspunkte entwickelte, die festgelegten Verbandsmeinungen und -interessen deutlich entgegenstanden.“4 Obwohl eine Wiedererlangung der Ostgebiete von kaum einer der großen Parteien mehr ernsthaft angestrebt wurde, war ein eventueller Verzicht darauf zuvor nicht öffentlich formuliert worden. In diesem Spannungsfeld sich strukturell verändernder Rahmenbedingungen von Kirche, theologischer Ausbildung und politischer Lage mussten sich in Ostdeutschland die Studierenden der Theologie bewegen. Sie mussten zunehmend selbst dafür sorgen, dass sie eine gute Ausbildung bekamen und waren dabei auf Unterstützung von der EKD angewiesen. Die theologische Ausbildung an den Hochschulen und auch an den Predigerseminaren in Ostdeutschland unterlag bekanntermaßen strengen Kontrollen durch die Behörden. Gerade geisteswissenschaftliche Literatur des Westens unterlag dem Generalverdacht, subversiven Inhalts zu sein und den Vorstellungen des Sozialismus entgegen3 Vgl. Martin Greschat: Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn (1965). Eine Einführung, in: Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland/Sozialwissenschaftliches Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.), Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland 1962 – 2002. Digitale Edition auf CD-ROM , Hannover, 2002. 4 Vgl. Wolfgang Huber: Kirche und Öffentlichkeit, Stuttgart 1973, 382.
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zustehen. Da das Studium der Theologie umfangreiche Literaturstudien beinhaltet und gerade protestantische Theologie sich den Grenzen vorgegebener Strukturen entgegenstellt, war es nötig, dass westliche theologische Literatur in gedruckter Form oder aber deren Positionierungen und Denkfiguren in referierter Form Gegenstand des Studiums sein konnten. Dies wurde durch Patenschaften und Begegnungen zwischen west- und ostdeutschen Studierenden ermöglicht – oder durch die „DDR-Bücherhilfe“.
3.
Patenschaft mit dem reformierten Konvikt in Halle
Zwischen dem Theologischen Stift in Göttingen und dem reformierten Konvikt in Halle/Saale bestand eine Patenschaft, die durch regelmäßige Besuche der Göttinger Stiftsbewohner in der DDR aufrechterhalten wurde. Um die Organisation der Patenschaft und der durchgeführten Besuche kümmerte sich ein gewählter „Halle-Minister“. Obwohl manche Ämter im Stift nicht durchgängig besetzt waren, so ist den Akten des „Halle-Ministers“ zu entnehmen, dass die Besetzung dieses „Ministeriums“ keine Schwierigkeit darstellte. Nach dem Mauerbau intensivierten sich die Kontakte zwischen den beiden theologischen Wohnheimen und ab der Mitte der 1960er Jahre wurde versucht, zu jedem Semester eine Fahrt durchzuführen. Es ist sicher kein Zufall, dass dies in die Zeit fällt, in der auch die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der DDR eine qualitative Veränderung erfuhren. Auf der Ebene der Kirchen in der BRD lässt sich für diesen Zeitraum eine Politisierung des Protestantismus feststellen, auf der Ebene der theologischen Wohnheime in Göttingen und Halle die Verdichtung der Patenschaft.5 Um einen Einblick in die Organisation und Abläufe eines solchen Treffens zu bekommen, soll exemplarisch ein Blick in das Jahr 1969 geworfen und ein Treffen anhand der im Archiv des Göttinger Stifts liegenden Dokumente rekonstruiert werden.6 1969 fand vom 30. April bis 5. Mai ein Treffen zwischen den Bewohnern des Göttinger Stifts und den Studierenden des Konvikts in Halle statt. Gemeinsamer Treffpunkt sollte Berlin sein. Um die Finanzierung der Fahrtkosten in die DDR zu sichern, beantragte der „Halle-Arbeitskreis“ in Göttingen beim Bundesministerium für Finanzen Mittel, die für ebensolche Zwecke bereitgehalten wurden.7 In einem zusätzlichen, vom Bundesamt für Finanzen herausgegebenen 5 Siehe hierzu Klaus Fitschen/Siegfried Hermle/Katharina Kunter et al. (Hg.): Die Politisierung des Protestantismus. Entwicklungen in der Bundesrepublik während der 1960er und 70er Jahre, Göttingen 2011. 6 Rekonstruiert wurde dieses anhand der „Blauen-“ und „Grünen-Mappe“ des „Halle Arbeitskreises“ aus den Jahren 1959 – 68. 7 Siehe hierzu „Allgemeine Bewilligungsbedingungen für die Gewährung von Zuwendungen des
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und als vertraulich eingestuften Papier wurden die „Besondere[n] Bewilligungsbedingungen für die Gewährung von Beihilfen für die Begegnungen im Sowjetsektor von Berlin und in der sowjetischen Besatzungszone“ festgehalten. Neben den Details zur Verwendung der Mittel heißt es dort: „Die Maßnahme ist von allen Beteiligten vertraulich zu behandeln.“8 Zudem wurde versucht, den Schutz der Teilnehmer solcher Begegnungen zu gewährleisten. Hierzu heißt es im gleichen Schreiben: „Von den Bewohnern der sowjetischen Besatzungszone und des Sowjetsektors von Berlin dürfen zu deren Sicherheit keine schriftlichen Empfangsbestätigungen verlangt werden.“9 Es wird schnell deutlich, dass die durchgeführten Treffen nicht bei den zuständigen Organen der DDR angemeldet waren. Aus einem Bericht des „Halle-Arbeitskreises“ zur durchgeführten „Gesamtdeutschen Begegnung in Berlin“ werden Details zu Ablauf, Inhalt und Rahmenprogramm eines solchen Treffens deutlich.10 Die Personen aus Göttingen, die an den Treffen in Berlin teilnahmen, wiesen anscheinend eine hohe personale Beständigkeit auf. Im Bericht wird zur Zusammensetzung „ca. 70 % Kontinuität“ festgehalten, wobei an dem Treffen vom 30. April bis 5. Mai auch Personen aus Halle teilnahmen, die keine Kontakte zum Theologischen Stift, sondern zum reformierten Studienhaus in Göttingen unterhielten.11 Ort des Treffens in Berlin war das „Kandidaten-Konvikt Johanneum“, in dem einige Teilnehmer der Begegnung auch übernachteten. Die Einreise in die DDR als Gruppe wurde verdeckt durchgeführt, um das geplante Treffen zu verschleiern und erfolgte daher in unterschiedlichen Transportmitteln: Acht Personen reisten mit der Bahn und vier Personen fuhren gemeinsam im privaten VW-Bus nach Ost-Berlin. Ein Göttinger Teilnehmer reiste sogar mit dem Flugzeug in die DDR ein. Neben den Bewohnern des Theologischen Stifts in Göttingen nahmen auch ein Repetent des Gerhard-Uhlhorn-Konviktes in Göttingen teil sowie „ein Heidelberger Doktorand, der bis zuvor dem Halle-Arbeitskreis angehört“ hatte.12 Bei der Einreise gab es keine weiteren Probleme, lediglich der „stellvertretende Reiseleiter“ wurde bei der
8
9 10 11 12
Bundes an ausserhalb der Bundesverwaltung stehende Stellen und für den Nachweis der Verwendung der Mittel nach § 64 a Abs. 1 RHO vom 1. April 1953“, Archiv des Theol. Stiftes der Georg-August-Universität Göttingen, Blaue Mappe. Zitiert nach: „Besondere Bewilligungsbedingungen für die Gewährung von Beihilfen für die Begegnungen im Sowjetsektor von Berlin und in der sowjetischen Besatzungszone“ [Vertrauliche Anlage zu § 64 a Abs. 1 RHO vom 1. April 1953], Archiv des Theol. Stiftes der GeorgAugust-Universität Göttingen, Blaue Mappe, 2. Ebd. Vgl. „Sachbericht über die Gesamtdeutsche Begegnung vom 30. April bis 5. Mai 1969“, Archiv des Theol. Stiftes der Georg-August-Universität Göttingen, Blaue Mappe. Ebd. Ebd.
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Einreise verhört. Als Zweck seiner Einreise gab er an, „Bekannte seiner Verlobten treffen zu wollen.“13 Sein mitgeführtes Manuskript über Thielickes Ethik wurde nicht weiter beanstandet, es sei seiner Aussage nach aber „als solches nicht unbedingt zu erkennen“ gewesen.14 Die inhaltliche Vorbereitung der gemeinsamen Treffen wurde jeweils durch den Vorsitzenden des „Halle-Arbeitskreises“ in Göttingen und den Vorsitzenden des Vorbereitungskreises in Halle postalisch durchgeführt. Der thematische Schwerpunkt für das Treffens vom 30. April bis zum 5. Mai war bereits auf dem Treffen im November 1968 abgestimmt worden: Es sollte zur theologischen Ethik des 20. Jh. gearbeitet werden. Beide Seiten fertigten hierzu Referate an, die anschließend für die Vorbereitung genutzt wurden. Auf dem durchgeführten Treffen in Berlin wurden dann aber von den Göttinger Teilnehmern anstatt der vorbereiteten sechs Referate nur drei und von den Hallenser Teilnehmern nur zwei gehalten, da „der Wunsch nach offenen Gesprächen“ stärker war. Hauptsächlich wurden die Entwürfe von Barth, Løgstrup und Thielicke diskutiert. Am ersten Tag des gemeinsamen Treffens wurde durch einen Hallenser Assistenten ein Referat vorgetragen, dann wechselten sich die Arbeitsformen „Referat und themengebundene oder offene Diskussion“ ab. Die akademische Landschaft der DDR wurde dabei für den Bereich der Theologie diskutiert. Die Bewohner des Konvikts in Halle äußerten ihren Unmut über die Umbrüche im Bildungswesen und die Bedingungen der theologischen Ausbildung. Zwischen den Studierenden in Berlin und Halle, schien sich dabei ein Unterschied auszumachen: „Mit zur Sprache kamen ferner die unterschiedlichen Verhältnisse an der Ostberliner und der Hallenser Theologischen Fakultät. Während in der ersteren durchweg linientreue, von der SED lancierte Dozenten sitzen, gehört bislang kein einziger Hallenser Theologiestudent der FDJ an.“15 Am Sonntag fand schließlich ein gemeinsamer Besuch des Gottesdienstes in der Ostberliner Marienkirche statt. Auch das weitere Rahmenprogramm ist in dem Bericht des Halle-Arbeitskreises dokumentiert: Zu den Abendveranstaltungen gehörte ein Besuch von Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“ in der komischen Oper, ferner wurde Brechts „Brotladen“ im Brecht-Theater besucht. Eine kleinere Gruppe besuchte zudem auf Anregung der Hallenser den Film „Panzerkreuzer Potemkin“.16 In der Beurteilung der Ökumene waren Göttinger und Hallenser Studierende unterschiedlicher Auffassung. Die Hallenser zeigten großes Misstrauen gegenüber den offiziellen Vertretern der Ost-Kirchen, und warfen ihnen vor, dass „sie 13 14 15 16
Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd.
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dem Staat in die Hände arbeiteten“ – eine Sorge, die den Göttinger Teilnehmern eher fremd war.17
4.
DDR-Bücherhilfe und das Göttinger Stift
Um die Landeskirchen des BEK in der Beschaffung von theologischer Literatur zu unterstützen, hatte die EKD das Evangelische Verlagswerk in Stuttgart beauftragt, eine „Bücherhilfe“ zu organisieren. Mit dieser Bücherhilfe sollte ein Verbot umgangen werden: Westliche Organisationen durften Institutionen in Ostdeutschland nicht direkt unterstützen. Privatpersonen im Westen aber durften anderen Privatpersonen in Ostdeutschland Bücher überlassen. Im Rahmen dieser Bücherhilfe sollte theologisches Schrifttum für den Weiterversand oder die Weitergabe an Paten und Freunde in der DDR vermittelt werden. Die DDR-Bücherhilfe war dabei folgendermaßen organisiert: An westlichen Theologischen Fakultäten wurden von den Fachschaften „Bücherreferenten“ benannt, die über mehrere Semester hinweg die DDR-Bücherhilfe eigenständig organisierten und auch verantworteten. Die Bücherreferenten der Fachschaften sammelten die Bücherwünsche, die über persönliche Kontakte oder durch die zahlreichen Patenschaften zu Gemeinden oder Partnerfakultäten bekannt waren und führten beim Evangelischen Verlagswerk eine Sammelbestellung durch. Die daraus resultierende Bücherlieferung wurde den Bücherreferenten kostenfrei zugestellt. Die Bücherreferenten hatten schriftlich zu versichern, dass die zugestellten Bücher restlos zum Weiterversand in die DDR bestimmt waren, und mussten darüber Buch führen, wer wann welches Buch erhalten hatte. Zudem waren die Bücherreferenten beauftragt, regelmäßig nach Semesterende Bericht über die gemachten Erfahrungen mit der DDR-Bücherhilfe an das Evangelische Verlagswerk zu erstatten. Der jeweilige Bücherreferent sorgte dann für den jeweiligen Weiterversand per Post oder die direkte Überbringung in die DDR.18 Im Sommer 1969 konnte in Göttingen innerhalb der Fachschaft an der Theologischen Fakultät jedoch kein Student gefunden werden, der die umfangreichen Aufgaben des Bücherreferenten übernehmen wollte. Da aber das Theologische Stift in Göttingen mit dem Theologischen Konvikt in Halle eng verbunden war und die dort anfälligen Bücherwünsche regelmäßig über die Fachschaft an der Theologischen Fakultät erfüllte, übernahm kurzerhand der 17 Ebd. 18 Vgl. hierzu die als vertraulich eingestufte Mitteilung des Ev. Verlagswerkes an den „HalleArbeitskreis“ vom 12. Juni 1969: Verwaltungsrichtlinie zur DDR-Bücherhilfe, Archiv des Theol. Stiftes der Georg-August-Universität Göttingen, Blaue Mappe.
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zuständige „Halle-Minister“ das Buchreferat und teilte dem Evangelischen Verlagswerk mit, dass in Zukunft die Büchersendungen an das Theologische Stift in Göttingen gesandt werden mögen.19 Fortan wurde die DDR-Bücherhilfe in Göttingen nicht mehr über die Fachschaft, sondern über das Theologische Stift organisiert, bis 1989 das Diakonische Werk der EKD seine Mittel für die Bücherhilfe einstellte.20 Welche theologische Literatur aber fehlte in Ostdeutschland und welche Bücher wurden von den Studierenden dort angefordert? Sieht man die Bestelllisten durch, die im Archiv des Theologischen Stiftes in Göttingen erhalten sind, so wird enttäuscht, wer erwartete, dass gerade durch die Göttinger Bücherhilfe „besonders subversive“ Literatur vermittelt wurde. Vornehmlich wurde die in Westdeutschland aktuelle theologische Standardliteratur angefordert, wobei allerdings die Systematik den Spitzenplatz innehate. Die Werke von Rudolf Bultmann und seinen Schülern Hans Conzelmann, Gerhard Ebeling, Ernst Fuchs und Ernst Käsemann tauchen besonders oft auf den Bestelllisten auf. Daneben aber auch die Dogmatik von Otto Weber und diverse Schriften von Dietrich Bonhoeffer. Während es anscheinend kein Problem war, die Werke von Karl Barth in der DDR zu beschaffen, wurden die Bücher von Emil Brunner im Paketkontrollamt abgefangen und beschlagnahmt.21
5.
Stiftsarbeit als Bruderdienst – ein Fazit
Parallel zu den großen Linien der Ostpolitik der BRD der 1960er Jahre, aber auch derjenigen der EKD, entwickelten sich im Theologischen Stift Strukturen, die eine Annäherung zwischen den Menschen in West- und Ostdeutschland förderten. Die Bundesrepublik verfolgte zum einen das Interesse, die Beziehungen zwischen den Deutschen in beiden Staaten zu fördern, um so die Staatentrennung nicht fester werden zu lassen. Hierzu wurden u. a. durch geheime Finanzmittel „gesamtdeutsche Begegnungen“ ermöglicht, die implizit sicher auch das Ziel hatten, westliche Lebenskonzepte in der DDR aufzuzeigen. Zum 19 Vgl. Brief vom 10.06.1969 an das Ev. Verlagswerk, Archiv des Theol. Stiftes der Georg-AugustUniversität Göttingen, Blaue Mappe. 20 Mit dem Mauerfall 1989 wurden die Mittel des Diakonischen Werkes der EKD für Bücherhilfe oder auch für anfällige Fahrtkosten eingestellt. Vgl. Karoline Rittberger-Klas: Kirchenpartnerschaften im geteilten Deutschland. Am Beispiel der Landeskirchen Württemberg und Thüringen, Göttingen 2006, 200. 21 Siehe exemplarisch die Mitteilung des Amtes für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs: Zur Begründung wurde lediglich angegeben: „Literarische Erzeugnisse, Zeitungen und Zeitschriften mit antidemokratischem Charakter sind zur Einfuhr in die DDR nicht zugelassen.“ Beschlagnahmeprotokoll 75258, Archiv des Theol. Stiftes der Georg-August-Universität Göttingen, Grüne Mappe.
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anderen hatte die EKD ein Interesse daran, die Landeskirchen auf dem Gebiet der DDR zu unterstützen und kanalisierte dieses u. a. in der „Bücherhilfe“. Indem die Theologiestudierenden in der DDR mit schwer beschaffbarer Fachliteratur ausgestattet wurden, wurde mittelbar die Qualität der theologischen Ausbildung angehoben. Gleichzeitig versuchte die EKD damit sicherzustellen, dass die theologische Ausrichtung in der DDR nicht zu stark von derjenigen in der EKD abdriftete. Die auf der Makroebene von BRD und EKD verfolgten Interessen finden ihren Niederschlag auf der Mikroebene des Theologischen Stifts. Die von BRD und EKD bereitgestellten Instrumente zur Durchsetzung ihrer Interessen wurden von den Stiftlern genutzt. Durch die regelmäßigen Besuche der Göttinger Studierenden in die DDR wurden die dortigen Studierenden als „Brüder“ identifiziert, die zwar gemeinsame Interessen im Studium der Theologie aufwiesen, bei weitem aber nicht die gleichen Voraussetzungen und Möglichkeiten dazu hatten. Durch die entstandenen persönlichen Kontakte bekamen die Studierenden der DDR für die Göttinger Stiftsbewohner ein Gesicht. So ist es nicht verwunderlich, dass die Göttinger Stiftler einsprangen, als die Bücherhilfe der Göttinger Fachschaft nicht besetzt werden konnte. Von einer „Instrumentalisierung“ der Stiftler durch BRD und EKD kann dabei keineswegs ausgegangen werden: Vielmehr zeigt sich, dass die insgesamt in Westdeutschland verfolgte Linie, den Kontakt nach Ostdeutschland durch persönliche Verbindungen aufrecht zu halten, im geschichtlichen Rückblick von herausragendem Erfolg gekrönt wurde. Einen Teil dazu haben auch die Bewohner des Göttinger Theologischen Stifts geleistet.
Repetenten, Inspektorinnen und Inspektoren sowie Ephoren des Theologischen Stifts der Georg-August-Universität Göttingen (1765 – 2015) Zusammengestellt von Dr. Heiko Wojtkowiak
Repetenten (1765 – 1876) Christian Peter Polchow Johann Karl Siegfried Radefeld Johann Gottfried Wilhelm Rademann Christoph Daniel Ebeling Christian Friedrich Schnurrer Johann Friedrich Ludwig Schnobel Johann Ernst Faber Johann Christoph Friedrich Schulz Johann Wilhelm Rau Johann Lorenz Ancher Johann Benjamin Koppe Benedikt Friedrich Daniel Ballhorn Johann Heinrich Walther Christoph Heinrich Nestler Johann Karl Volborth Paul Caspar Dürr Daniel Gotthilf Moldenhawer Johann Christian Heinrich Krause Johann Philipp Gabler David Julius Pott Johann Wilhelm Koithan Johann Friedrich Adolf Kirsten Heinrich Carl Alexander Haenlein Werner Karl Ludwig Ziegler Johann Heinrich Heinrichs Johann Friedrich Wilhelm Möller Anton Friedrich Wilhelm Leiste Heinrich Friedrich Pfannkuche Christian Wilhelm Flügge Johann Gottfried Immanuel Berger
1765 1765 1765 1765 1766 1766 – ? 1768 – 1769 1770 1770 (-1773?) 1770 – 73 1772 – 74 1773 1774 1775 1776 – 1784 1776 1777 1779 – 1783 1780/81 (?) 1783 – 1784 1783 1785 1786 1788 1789 – 1791/92 (?) 1791 1792 1794 1794 1797
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Repetenten, Inspektorinnen und Inspektoren
Friedrich Wilken Friedrich Kohlrausch Johann von Horn Philipp Konrad Marheineke Julius August Ludwig Wegscheider Heinrich Ludwig Planck Friedrich Heinrich Wilhelm Gesenius Ernst August Philipp Mahn Johann Jakob Pestalozzi Georg Wilhelm Friedrich Freitag N.N. Lüttke Johann Philipp Bauermeister Gottfried Christian Friedrich Lücke Johann Friedrich Burkhard Köster Ernst Gottlieb Christian Grosse Johann Georg Reiche Ernst Wilhelm Christian Sartorius Christoph Heinrich Friedrich Bialloblotzky Hermann Wilhelm Bödeker Heinrich Ewald Arnold Karl Conrad Hoelty Friedrich August Holzhausen Adolf Göschen Friedrich Wilhelm Rettberg Wilhelm Heinrich Dorotheus Edward Köllner Rudolf Ernst Klener Ferdinand Piper Ernst Bertheau Karl Georg Wieseler Karl Heinrich Sonne Gottlieb Kuno Arnold Karl Wilhelm Haenell Georg August Christlieb Wolde Georg Konrad (Amadeus) Gottlieb Lünemann Friedrich Hermann Christian Düsterdieck August Wilhelm Dieckhoff Gerhard Uhlhorn Carl Ferdinand Hermann Meßner Ernst Karl Wilhelm Elster Karl Gunckel Karl Friedrich Wilhelm Held Ernst Andreas Heinrich Hermann Held Dietrich Harries C. Hermann Jeep August Markus Andreas Hüpfeld
1800 – 1803 1801 1803 – 1804 1804 1805 – 1806 1806 – 1809 1806 1809 1809 1812 – 1813 1812 – 1816 1813 – 1815 1813 1815 1816 1818 1819 – 1821 1821 – 1822 1821 1824 – 1827 1824 – 1826 1827 1826 – 1830 1830 – 1833 1830 – 1833 1833 – 1836 1833 – 1836 1836 – 1839 1836 – 1839 1839 – 1840 (als Repetent verstorben) 1839 – 1843 1841 – 1844 1843 – 1845/46 (?) 1844 – 1847 1846 – 1849 1847 – 1850 1849 – 1852 1850 – 1857 1852 – 1855 1856 – 1859 1857 – 1858 1859 – 1861 1859 – 1862 1860 – 1863 1861 – 1864
393
Repetenten, Inspektorinnen und Inspektoren
Johann Cropp Theodor Heinrich Fürchtegott Hansen Heinrich August Klostermann Richard Schmidt Franz Theodor Zahn Heinrich Christoph Dietrich Rotermund Julius Wellhausen Hermann Hachfeld Max Besser Richard Otto Zöpfel August Johann Dorner Bernhard Duhm Ludwig Lemme Ferdinand Kattenbusch Hermann Guthe Leberecht Kluth
1862 – 1865 1863 – 1866 1864 – 1868 1865 – 1868 1865 – 1868 1866 – 1868 1868 – 1870 1868 – 1871 1868 – 1870 1870 – 1871 1870 – 1873 1871 – 1873 1872 – 1874 1873 – 1876 1873 – 1876 1875 – 1876
Inspektoren (1878 – 2015) Arnold Jacobshagen Philipp Meyer Wilhelm Bornemann William Wrede Karl Theodor Mirbt Alfred Rahlfs Heinrich Hackmann Friedrich Schultzen Rudolf Otto Wilhelm Heitmüller Hermann Schuster Hugo Berthold Heinrich Wilhelm Thimme Gerhard Heinzelmann Karl Reuter Emanuel Hirsch Carl Sachsse Erik Peterson Ernst Strasser Heinz (Heinrich) Weidemann Kurt Dietrich Schmidt Rudolf Heyken Hans Freiherr von Campenhausen Alfred Brauer Kurt Möhlenbrink Carl Heinz Ratschow Urich Cruse
1878 – 1880 1880 – 1881 1882 – 1884 1884 – 1886 1886 – 1888 1888 – 1890 1890 – 1893 1893 – 1895 1895 – 1896/97 (?) 1896/97 (?) – 1900 1900 – 1902 1902 – 1905 1905 – 1907 1907 – 1910 1910 – 1912 1912 – 1914 1914 – 1915 / 1919 – 1920 1916 – 1919 1920 – 1922 1922 – 1925 1925 – 1929 1929 – 1930 1930 – 1935 1935 (Kommissarischer Inspektor) 1935 – 1936 (Kommissarischer Inspektor) 1936 – 1939 / 1945 – 1946 1939 – 1940
394 Hans Crome Karl Adolf Gottschald Erwin Janssen Hans Kropatschek Erich Roth Karl Gerhard Steck Wolf-Dieter Marsch Dietrich Rössler Reinhard Fey Peter Diepold Ed Noort Dietrich Korsch Hans-Martin Gutmann Andrea Bieler Frank Austermann Francis Back Matthias Wilke Heiko Wojtkowiak
Repetenten, Inspektorinnen und Inspektoren
1940 – 1941 1941 1941 – 1942 1942 – 1945 1946 – ? 1948 – 1953 1953 – 1958 1958 – 1961 1961 – 1967 1967 – 1975 1975 – 1979 1979 – 1988 1988 – 1994 1995 – 2000 2001 – 2003 2003 – 2007 2008 – 2013 2013 –
Ephoren (1948 – 2015) Hans Joachim Iwand Wolfgang Trillhaas Kurt Galling Carsten Colpe Walther Zimmerli Christoph Bizer Hartmut Stegemann Reinhard Feldmeier Bernd Schröder
1948 (oder früher) – 1952 1952 – 1957 1957 – 1962 1962 – 1969 1969 – 1983 1983 – 1992 1992 – 2002 2002 – 2013 2013 –
Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Andrea Bieler, geboren 1963, lehrt Praktische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Vulnerabilitätsforschung in der Praktischen Theologie und Praktische Theologie in interkultureller Perspektive zu Themen wie Altern, Migration und Erinnerungskulturen. Andrea Bieler war von 1995 bis 2000 Inspektorin des Theologischen Stifts. Zu Andrea Bielers jüngeren Veröffentlichungen zählen: –: The Embodiment of Grace. Proclaiming Justification in the Real World, Minneapolis 2010. – / Luise Schottroff: The Eucharist. Bodies, Bread and Resurrection, Minneapolis 2007. – / Henning Wrogemann: Was heißt hier Toleranz? Interdisziplinäre Zugänge, Neukirchen-Vluyn 2014.
Prof. Dr. Gerard Cornelis den Hertog, geboren 1949, lehrt Systematische Theologie an der Theologischen Universität Apeldoorn (Niederlande). Zu seinen Veröffentlichungen gehören:
–: Befreiende Erkenntnis: die Lehre vom unfreien Willen in der Theologie Hans Joachim Iwands, Neukirchen-Vluyn 1994. – / Jan Roskovec (Hg.): Familie: Verwandtschaft, die den Unterschied macht = Family: kinship that matters (Beihefte zur Ökumenischen Rundschau 92), Leipzig 2012. – / Christian Neddens (Hg.): Über das Zusammenleben in einer Welt: grenzüberschreitende Anstöße Hans Joachim Iwands, Gütersloh 2014.
Dr. Stefan Dietzel, geboren 1960, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen am Fachbereich Ethik (DFG-Projekt: »Heinz-Dietrich Wendland: Theologie der Gesellschaft in den Transformationsprozessen zur BRD«) sowie an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (Langzeitvorhaben: »Gelehrte Journale und Zeitungen als Netzwerke des Wissens im Zeitalter der Aufklärung«). Von Stefan Dietzel sind erschienen:
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Autorinnen und Autoren
–: Zur Entstehung des Diakonats im Urchristentum. Eine Auseinandersetzung mit den Positionen von Wilhelm Brandt, Wolfgang Hermann Beyer und John N. Collins, in: Volker Herrmann u.a. (Hg.): Diakonische Konturen im Neuen Testament, Heidelberg 2 2007, 136–170. –: Reinhold Seeberg als Ethiker des Sozialprotestantismus. Die »Christliche Ethik« im Kontext ihrer Zeit, Göttingen 2013.
Florian Dinger, geboren 1983, ist Lehrer für die Fächer Evangelische Religion, Deutsch und Darstellendes Spiel. Er arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik und Bildungsforschung von Prof. Dr. Bernd Schröder an der GeorgAugust-Universität Göttingen. Von Florian Dinger sind erschienen:
–: Hören – Lesen – Studieren. Wege kreativer Bibellektüre im 9./10. Jahrgang, in: Themenhefte Religion 11 (2013), 40–51. –: Religion in Form bringen! – Aber wie? Performative Religionsdidaktik in katholischer und evangelischer Auslegung, in: Theo-Web 13/2 (2014), 170–177.
Prof. Dr. Christoph Elsas, geboren 1945, lehrte Religionsgeschichte am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg. Schwerpunkte seiner Forschung sind die Spätantike, der Islam, die Religionsbegegnung, die Mystik und der Tod. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen: –: Religionsgeschichte Europas: Religiöses Leben von der Vorgeschichte bis zur Gegenwart, Darmstadt 2002. – (Hg.): Sterben, Tod und Trauer in den Religionen und Kulturen der Welt. 3 Bände Berlin 2007/10/14. – (Hg.): Interreligiöse Verständigung zu Glaubensverbreitung und Religionswechsel (Carsten Colpe gewidmet), Berlin 2009.
Prof. Dr. Reinhard Feldmeier, geboren 1952, lehrt Neues Testament an der Georg-August-Universität Göttingen mit den Forschungsschwerpunkten Biblische Gotteslehre, Ethik, Neues Testament und hellenistische Religionsgeschichte. Reinhard Feldmeier war von 2002 bis 2013 Ephorus des Theologischen Stifts. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen: –: Der Höchste. Studien zur hellenistischen Religionsgeschichte und zum biblischen Gottesglauben, WUNT I 330, Tübingen 2014. –: Macht – Dienst – Demut. Ein neutestamentlicher Beitrag zur Ethik, Tübingen 2012. – / Hermann Spieckermann: Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre, TOBITH 1, Tübingen 2011.
Prof. Dr. Peter Gemeinhardt, geboren 1970, lehrt Kirchengeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Bildung und Religion in historischer Perspektive, Hagiographie sowie Trinitätstheologie in Antike und Mittelalter. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen:
Autorinnen und Autoren
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–: Das lateinische Christentum und die antike pagane Bildung, Tübingen 2007. –: Antonius: Der erste Mönch. Leben – Lehre – Legende, München 2013. –: Die Kirche und ihre Heiligen. Studien zu Ekklesiologie und Hagiographie in der Spätantike, Tübingen 2014.
Ole Großjohann, geboren 1982, ist ehemaliger Stiftsbewohner und derzeitig Vikar der Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theologische Ethik und Zeitgeschichte. Er wurde 2014 mit folgender Arbeit promoviert: –: Evangelische Kirche auf dem Weg zur Bioethik. Die gemeinsame Erklärung »Gott ist ein Freund des Lebens« als kirchliche Antwort auf die Herausforderungen der Bioethik, Göttingen 2015 (im Druck).
Prof. Dr. Hans-Martin Gutmann, geboren 1953, lehrt Praktische Theologie mit dem Schwerpunkt Homiletik an der Universität Hamburg und ist dortiger Universitätsprediger. Er war von 1989 bis 1994 Inspektor des Theologischen Stifts. Von Hans-Martin Gutmann erschienen kürzlich folgende Titel:
–: Da liegt was in der Luft. Predigten und Gebete, Berlin 2014. –: Martin Luthers »christliche Freiheit« in zentralen Lebenskonflikten heute. Intimität gestalten – verantwortlich leben – Freiheit realisieren, Berlin 2013. – / Birgit Kuhlmann / Katrin Meuche: Praxisbuch Schulseelsorge, Göttingen 2014.
Prof. Dr. Jan Hermelink, geboren 1958, lehrt Praktische Theologie an der GeorgAugust-Universität Göttingen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Homiletik, Kybernetik und Pastoraltheologie. Zu Jan Hermelinks wichtigsten Veröffentlichungen zählen: –: Praktische Theologie der Kirchenmitgliedschaft. Interdisziplinäre Untersuchungen zur Gestaltung kirchlicher Beteiligung, Göttingen 2000. –: Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens. Eine Praktische Theologie der evangelischen Kirche, Gütersloh 2011. –: Kirche leiten in Person. Beiträge zu einer evangelischen Pastoraltheologie, Leipzig 2014.
Dr. Emanuel Hübner, geboren 1978, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Sportpädagogik & Sportgeschichte des Instituts für Sportwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Er ist studierter Archäologe, Historiker und Denkmalpfleger. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Geschichte der Olympischen Spiele in Antike und Neuzeit. Seine wichtigste Veröffentlichung ist: –: Das Olympische Dorf von 1936. Planung, Bau und Nutzungsgeschichte, Paderborn 2015 (im Druck).
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Autorinnen und Autoren
PD Dr. Martin Keßler, geboren 1975, hat die Lehrstuhlvertretung für Kirchengeschichte an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn inne mit Forschungsschwerpunkten in Reformationsgeschichte, Wissenschaftsgeschichte und Aufklärungstheologie. Seine wichtigsten Veröffentlichungen sind:
–: Das Karlstadt-Bild in der Forschung, Tübingen 2014. –: Johann Gottfried Herder – der Theologe unter den Klassikern. Das Amt des Generalsuperintendenten von Sachsen-Weimar, Berlin/New York 2007. –: »Dieses Buch von einem protestantischen Frauenzimmer«. Eine unbekannte Quelle von Lessings »Erziehung des Menschengeschlechts«?, Göttingen 2009.
Prof. Dr. Dietrich Korsch, geboren 1949, lehrte Systematische Theologie an der Philipps-Universität Marburg. Er wurde 1978 in Göttingen promoviert und habilitierte sich ebendort 1987. Dietrich Korsch war von 1979 bis 1988 Inspektor des Theologischen Stifts. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen: –: Dogmatik im Grundriß. Eine Einführung in die christliche Deutung menschlichen Lebens mit Gott, Tübingen 2000. –: Religionsbegriff und Gottesglaube. Dialektische Theologie als Hermeneutik der Religion, Tübingen 2005. –: Martin Luther. Eine Einführung, Tübingen 22007.
Prof. Dr. Reinhard G. Kratz, geboren 1957, lehrt Altes Testament an der GeorgAugust-Universität Göttingen mit den Forschungsschwerpunkten Literatur- und Theologiegeschichte des Alten Testaments, altorientalische und biblische Prophetie sowie Judentum in persischer und hellenistischer Zeit. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen:
–: Historisches und biblisches Israel, Tübingen 2013. –: Die Propheten Israels, München 2003. –: Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments, Göttingen 2000 (englisch London/New York 2005).
Prof. Dr. Dietz Lange, geboren 1933, lehrte Systematische Theologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Prinzipienlehre der Dogmatik und Ethik, die Christologie, die Ekklesiologie und die Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts mit Schwerpunkten in den USA und in Skandinavien. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen: –: Glaubenslehre, Bd. 1 und 2, Tübingen 2001. –: Ethik in evangelischer Perspektive, Göttingen ²2002. –: Nathan Söderblom und seine Zeit, Göttingen 2011 (schwedisch 2014).
Michael Lapp, geboren 1967, war von 1989 bis 1991 Bewohner des Theologischen Stiftes. Seit 2007 ist er Schulpfarrer und Schulseelsorger an den Beruflichen Schulen in Gelnhausen. Er ist Mitglied im Vorstand der Luther-Gesellschaft.
Autorinnen und Autoren
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Prof. Dr. Martin Laube, geboren 1965, lehrt Systematische Theologie (Lehrstuhl für Reformierte Theologie) an der Georg-August-Universität Göttingen. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen: –: Theologie und neuzeitliches Christentum. Studien zu Genese und Profil der Christentumstheorie Trutz Rendtorffs, Tübingen 2006. – (Hg.): Freiheit, TdT 7, Tübingen 2014.
Prof. Dr. phil. Dr. theol. Frieder Ludwig, geboren 1961, lehrt Geschichte der Weltchristenheit und Missionswissenschaft an der Fachhochschule für Interkulturelle Theologie Hermannsburg (FIT) und ist Rektor der Einrichtung. Er unterrichtet im M.A.-Studiengang »Intercultural Theology«, der von der Universität Göttingen in Zusammenarbeit mit der Fachhochschule für Interkulturelle Theologie durchgeführt wird. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen:
–: Zwischen Kolonialismuskritik und Kirchenkampf. Interaktionen afrikanischer, indischer und europäischer Christen während der Weltmissionskonferenz in Tambaram 1938, Göttingen 2000. – / K. Koschorke / M. Delgado (Hg): Außereuropäische Christentumsgeschichte. Asien, Afrika, Lateinamerika 1450-1990, Neukirchen-Vluyn 32010. – / K. Asamoah-Gyadu (Hg.): The African Christian Presence in the West, Trenton 2011.
Prof. Dr. Ekkehard Mühlenberg, geboren 1938, lehrte Kirchengeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im Bereich der Alten Kirche, insbesondere in Patristischer Theologie. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen:
–: Die Unendlichkeit Gottes bei Gregor von Nyssa. Gregors Kritik am Gottesbegriff der klassischen Metaphysik, Göttingen 1966. –: Epochen der Kirchengeschichte, Wiesbaden 31999. –: Altchristliche Lebensführung zwischen Bibel und Tugendlehre. Ethik bei den griechischen Philosophen und den frühen Christen, Göttingen 2006.
Prof. Dr. Ed Noort, geboren 1944, lehrt Altes Testament an der Universität Groningen. Er ist Vizepräsident der European Federation of Academies of Sciences and Humanities. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Archäologie Palästinas, Josua, die Problematik von Land und Gewalt sowie die Hermeneutik. Ed Noort war von 1975 bis 1979 Inspektor des Theologischen Stifts. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen: –: Das Buch Josua. Forschungsgeschichte und Problemfelder, Darmstadt 1998. –: »Denn das Land gehört mir, Ihr seid Fremde und Beisassen bei mir« (Lev 25,23). Landgabe als eine kritische Theologie des Landes, JBTh 23 (2008), 25–45. – (Hg.): The Book of Joshua, Leuven 2012.
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Autorinnen und Autoren
Apl. Prof. Dr. Hans Otte, geboren 1950, lehrt Kirchengeschichte an der GeorgAugust-Universität Göttingen und ist Archivdirektor am Landeskirchlichen Archiv Hannover. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Kirchengeschichte Norddeutschlands, speziell Niedersachsens, Kirchengeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts sowie Kirchliche Zeitgeschichte und Verwaltungsgeschichte der Neuzeit. Zu seinen jüngeren Veröffentlichungen zählen:
–: Die evangelischen Kirchen in Niedersachsen 1918-1990, in: Geschichte Niedersachsens, Bd. 5: Von der Weimarer Republik bis zur Wiedervereinigung, Hannover 2010, 1023– 1107. –: Mehr Kirchen? Werdende Großstädte als kirchliche Herausforderung im 19. Jahrhundert, in: Michael Gehler (Hg.): Die Macht der Städte. Von der Antike bis zur Gegenwart, Historische Europa-Studien 4, Hildesheim u.a. 2010, 351–376.
Prof. Dr. Joachim Ringleben, geboren 1945, lehrte Systematische Theologie an der Georg-August-Universität Göttingen und ist seit dem Jahr 2000 Abt von Bursfelde. Zu seinen jüngeren Veröffentlichungen zählen: –: Jesus. Ein Versuch zu begreifen, Tübingen 2008. –: Gott in Wort. Luthers Theologie von der Sprache her, Tübingen 2010. –: Das philosophische Evangelium: theologische Auslegung des Johannesevangeliums im Horizont des Sprachdenkens, Tübingen 2014.
Lars Röser, geboren 1981, ist Vikar der Ev-Luth. Kirche Hannovers in Wilkenburg. Er war von 2005 bis 2008 Bewohner des Theologischen Stiftes. Sein Forschungsinteresse gilt der Lutherischen Orthodoxie. Von Lars Röser erscheint in Kürze: – / Jana Madlen Schütte: Erschaffen Rituale Experten? Attributierung von Meisterschaft bei Theologen und Medizinern, in: Frank Rexroth / Teresa Schröder-Stapper (Hg.): Performativität von Expertenkulturen. Rituale und Sprachen, Göttingen 2015 (im Druck).
Apl. Prof. Dr. Thilo Alexander Rudnig, geboren 1966, ist Lektor für Biblisches Hebräisch und verwandte semitische Sprachen an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen mit den Forschungsschwerpunkten Geschichtsschreibung in Israel, Samuelbücher, Der Jerusalemer Tempel und seine Theologie sowie Prophet und Prophetenbuch. Seine wichtigsten Veröffentlichungen sind:
–: Davids Thron. Redaktionskritische Studien zur Geschichte von der Thronnachfolge Davids, BZAW 358, Berlin/New York 2006. –: »Ist denn Jahwe nicht auf dem Zion?« (Jer 8,19). Gottes Gegenwart im Heiligtum, in: ZThK 104 (2007), 267–286. –: »König ohne Tempel. 2. Samuel 7 in Tradition und Redaktion«, in: VT 61 (2011), 426– 446.
Autorinnen und Autoren
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Christian Schäfer, geboren 1983, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Septuaginta-Unternehmen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. In seiner alttestamentlichen Dissertation, betreut von Prof. Dr. R.G. Kratz (Georg-AugustUniversität Göttingen, Theologische Fakultät), analysiert er das wissenschaftliche Lebenswerk von Alfred Rahlfs. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen:
–: Benutzerhandbuch zur Göttinger Septuaginta, Bd. 1: Die Edition des Pentateuch von John William Wevers, Göttingen 2012; Bd. 2: Die Edition des Buches Ruth von Udo Quast, Göttingen 2013.
Prof. Dr. Bernd Schröder, geboren 1965, lehrt Praktische Theologie mit den Schwerpunkten Religionspädagogik und Bildungsforschung an der Georg-August-Universität Göttingen und ist seit 2013 Ephorus des Theologischen Stifts. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen:
–: Jüdische Erziehung im Modernen Israel. Eine Studie zur Grundlegung vergleichender Religionspädagogik, APrTh 18, Leipzig 2000. – (Hg.): Institutionalisierung und Profil der Religionspädagogik, PThGG 8, Tübingen 2009. –: Religionspädagogik, Tübingen 2012.
Prof. Dr. Rudolf Smend, geboren 1932, lehrte Altes Testament an der GeorgAugust-Universität Göttingen mit den Forschungsschwerpunkten Theologie des Alten Testaments und Geschichte der Bibelwissenschaft. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen zählen: –: Die Entstehung des Alten Testaments, Stuttgart u.a. 41989. –: Bibel und Wissenschaft. Historische Aufsätze, Tübingen 2002. –: Zwischen Mose und Karl Barth. Akademische Vorträge, Tübingen 2009.
Apl. Prof. Dr. Annette Steudel, geboren 1963, lehrt Altes Testament an der GeorgAugust-Universität Göttingen. Sie ist Leiterin der Arbeitsstelle »Hebräisches und Aramäisches Wörterbuch zu den Texten vom Toten Meer« an der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Von Annette Steudel sind unter anderem erschienen:
–: Der Midrasch zur Eschatologie aus der Qumrangemeinde (4QMidrEschata.b). Materielle Rekonstruktion, Textbestand, Gattung und traditionsgeschichtliche Einordnung des durch 4Q174 (»Florilegium«) und 4Q177 (»Catena A«) repräsentierten Werkes aus den Qumranfunden, Studies on the Texts of the Desert of Judah XIII, Leiden u.a. 1994. –: Basic Research, Methods and Approaches to Qumran in German-Speaking Countries, in: D. Dimant (Hg.): The Dead Sea Scrolls in Scholarly Perspective. A History of Research, STDJ 99, Leiden 2012, 565–599.
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Autorinnen und Autoren
Yves Töllner, geboren 1964, war von 1989 bis 1991 Bewohner des Theologischen Stifts. Seit 2010 ist er Pastor in der Ev. St. Jakobi-Gemeinde in Bremen-Neustadt. Er ist Mitglied in der Hauptversammlung der Norddeutschen Mission. Prof. Dr. Joachim Weinhardt, geboren 1959, lehrt Evangelische Theologie an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Theologiegeschichte der Neuzeit, der Dialog zwischen Naturwissenschaften und Theologie sowie die empirische Schul- und Hochschulforschung im Bereich konfessioneller und konfessionell-kooperativer Religionsunterricht. Von Joachim Weinhardt sind unter anderem erschienen:
–: Savonarola als Apologet. Der Versuch einer empirischen Begründung des christlichen Glaubens in der Zeit der Renaissance, AKG 83, Berlin 2003. – (Hg.): Naturwissenschaften und Theologie. Methodische Ansätze und Grundwissen zum interdisziplinären Dialog, Stuttgart 2010. –: Konfessionell-kooperativer Religionsunterricht in Baden-Württemberg, in: Bernd Schröder (Hg.): Religionsunterricht wohin? Modelle seiner Organisation und didaktischen Struktur, Neukirchen-Vluyn 2014, 19-30.
Dr. Matthias Wilke, geboren 1973, ist Pastor in Kirchwalsede (Kirchenkreis Rotenburg, Wümme). Er war von 2008 bis 2013 Inspektor des Theologischen Stifts. Seine wichtigste Veröffentlichung ist: –: Die Kierkegaard-Rezeption Emanuel Hirschs. Eine Studie über die Voraussetzungen der Kommunikation christlicher Wahrheit, Tübingen 2005.
Dr. Heiko Wojtkowiak, geboren 1978, ist seit dem Jahr 2013 Inspektor des Theologischen Stifts. Er studierte von 1998 bis 2006 Ev. Theologie in Marburg und Münster und wurde 2011 mit einer Arbeit im Fach Neues Testament promoviert. Seine Forschungsschwerpunkte sind Paulus, das Matthäusevangelium und die Umwelt des Urchristentums. Von Heiko Wojtkowiak sind erschienen:
–: Christologie und Ethik im Philipperbrief. Studien zur Handlungsorientierung einer frühchristlichen Gemeinde in paganer Umwelt, FRLANT 243, Göttingen 2012. –: Unter der Herrschaft Christi. Ernst Käsemanns Paulusverständnis. Entwicklungen und Konstanten. Teil 1, in: BN.NF 163 (2014), 103–120.