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German Pages 332 Year 2015
Das gekränkte Gänseliesel 250 Jahre Skandalgeschichten in Göttingen Herausgegeben von Franz Walter und Teresa Nentwig
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit 34 Abbildungen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-30080-1 Umschlaggestaltung: Mario Moths, mm design Marl, unter Verwendung der Fotos »Göttinger Rathausplatz« (© Foto: Markus Hanselmann) und »Lightning with dramatic cloudscape« (© iStockphoto). © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen
Inhalt 9
30
Skandale in einer Universitätsstadt Zur Einleitung von Teresa Nentwig und Franz Walter
Das skandalumwitterte Leben des Gottfried August Bürger (1747–1794) von Teresa Nentwig
40
Ein Ritt mit Folgen
48
Heinrich Heine und die Göttinger Duellaffäre von 1820/21
Die Göttinger Gendarmen-Affäre (1809) von Hanna Feesche und Robert Mueller-Stahl
von Danny Michelsen
55
Bismarck und seine Ausschweifungen als Student (1832/33) von Otto-Eberhard Zander
65
Die Göttinger Sieben und der hannoversche Verfassungskonflikt 1837 von Lars Geiges
82
»Sire, geben Sie Kussfreiheit!«
91
Ulrich Kahrstedt und seine »Absage an die internationale Gelehrtenrepublik« (1934)
Über die Aushandlung von gesellschaftlichen Normen zwischen Göttinger Bürgerschaft und Studierenden am Beispiel des Kuss-Prozesses von Graf Henckel von Donnersmarck (1926/27) von Stine Marg und Karin Schweinebraten
von Malte Lübke
Inhalt
5
99 »Kein Ehrenmann alten Schlages«
Das »Diktat der Menschenverachtung« und der »Dokumentenstreit« in der Göttinger Universitätszeitung (1947/48) von Katharina Trittel
116 »Wir wollen keine Harlans mehr«
Proteste gegen die Rückkehr des Jud Süß-Regisseurs im Winter 1952 von Robert Pausch
126 »Kultusminister der vierzehn Tage«
Der Skandal um Leonhard Schlüter 1955 von Teresa Nentwig
139 Vater Courage
Heinz Hilpert, die Wehrpflichtdebatte und eine Brecht-Aufführung (1956) von Robert Lorenz und Katharina Rahlf
153 Weckruf im Zeitalter der Kernkraft Die »Göttinger Erklärung« von 1957 von Robert Lorenz
162 »Sind Sie Oberstudienrat Kraus?« Das Attentat im Rohnsweg (1963) von Felix Butzlaff
171 Über Kunst lässt sich nicht streiten – oder doch? Das Bronzerelief an der Stadthalle (1964) von Marika Przybilla
178 Der Abriss des Reitstalls im Jahr 1968
Ein »bilderstürmerisches Unternehmen, das jedem Sinn für Tradition Hohn spricht« von Teresa Nentwig
204 Klassenkampf am Felix-Klein-Gymnasium (1969/70) von Matthias Micus
6
Inhalt
215 Fluch der klammheimlichen Freude Die Mescalero-Affäre 1977 von Franz Walter
228 Wisente und Atomraketen
Der Streit um das Ratssaalportal von Jürgen Weber (1983) von Jöran Klatt
241 Der letzte Oberschlesier
Der Nationalist und Revanchist Christian Stoll (1985) von Florian Finkbeiner
250 »Göttingen, Bullenstadt, wir haben dich zum Kotzen satt.«
Die JuZI-Razzia vom Dezember 1986 und ihre Folgen von Christoph Hoeft und Jonas Rugenstein
262 »Conny heute von den Bullen ermordet« Der Tod von Kornelia »Conny« Wessmann am 17. November 1989 von Teresa Nentwig
271 Gefährliches Spiel mit dem Leben
Der Skandal um HIV-verunreinigte Blutkonserven (1993) von Carolin Schwarz
281 Schneeballschlacht am Gänseliesel
Die Skandalinsolvenz der Göttinger Gruppe 2007 von Christopher Schmitz
291 Am Abgrund
Der Veruntreuungsskandal am Jungen Theater Göttingen (2010) von Sebastian Kohlmann
301 Zwischen politischem Theater und unpolitischer Posse
Der AStA-Finanzskandal von 2010/11 und seine Folgen von Hannes Keune
Inhalt
7
309 Umverteilte Lebenschancen
Der Organspendeskandal (2012) von Leona Koch
319 Erregte Tierwesen
Der Skandal um Doppelkentaur und Kragenbär (1985–1987 und 2014/15) von Julia Kiegeland
331 Abkürzungen 332 Bildnachweis
8
Inhalt
Skandale in einer Universitätsstadt Zur Einleitung von Teresa Nentwig und Franz Walter
Die Geschichte der Stadt Göttingen ist auch eine Geschichte von Skandalen. Ob im 18. oder im 21. Jahrhundert – immer wieder erschütterten Berichte über unerhörtes Verhalten das Stadtleben. Manchmal blieb die Empörung auf kleine Kreise beschränkt; manchmal wurden mutmaßliche Verfehlungen und Missstände aber auch über die Stadtgrenzen hinaus zu einem Ärgernis: ob die sogenannte Schlüter-Affäre im Jahre 1955 oder der Organspendeskandal 2012 – sie stießen bundes-, ja weltweit auf Resonanz. Ganz allgemein gilt: Skandale geben Auskunft über die Kräfteverhältnisse in einer Gesellschaft, sie spiegeln Macht und Ohnmacht, signalisieren, ob und wie unsere sozialen, politischen, rechtlichen oder wirtschaftlichen Systeme funktionieren oder funktioniert haben, und weisen somit auf Fehlentwicklungen hin. Sie bieten Gelegenheit zur öffentlichen Auseinandersetzung über Verhaltensweisen und die mit ihnen verknüpften Wert- und Normvorstellungen. Skandale dienen damit entweder der Durchsetzung bzw. Verstärkung von sozialen Normen oder deren Infragestellung und Aufgabe. Sie zeigen und setzen Grenzen.1 Dieses Prinzip trifft nicht nur auf Skandale zu, die die Bundesrepublik Deutschland bewegt haben – von der Spiegel-Affäre im Jahr 1962 über den CDU-Parteispendenskandal 1999 bis hin zur GuttenbergAffäre 2011 –, sondern auch auf Skandale, die über die Grenzen einer Stadt hinaus keine oder nur geringe Resonanz erfahren haben. So ist der sogenannte Kuss-Skandal, der in den 1920er Jahren die Göttinger Bürgerschaft aufwühlte, ein prägnantes Beispiel für einen – gewiss nicht ganz einfachen – Aushandlungsprozess von gesellschaftlichen Normen. Dabei gilt immer: Was gestern als Bagatelle behandelt wurde, kann heute zum größten Aufreger werden. Mit anderen Worten: Skandale, seien es lokale oder überregionale, haben ihre jeweils eigene Konjunktur. Skandale in einer Universitätsstadt
9
Jedenfalls scheint es auch ein anthropologisches Bedürfnis nach einem Ventil des Skandals zu geben, neben der wohl funktionellen Notwendigkeit, über Skandale in regelmäßigen Abständen Licht in die Dunkelkammern der verschwiegenen Vereinbarungen zwischen den Führungsgruppen zu bringen und die Kluft im Wertehaushalt einer Gesellschaft zwischen oben und unten stärker zu schließen. Skandale werden inszeniert. Und das geschieht durchweg nach dem Muster des Bühnenstücks, das Schurken und Helden kennt, Aufstieg, Ruhm und Fall darstellt.2 Bevor der Skandal ausbricht, genauer: durch Enthüllungen aparter Fehltritte erst zu einem Ereignis wird, existiert eine Phase der Latenz, in der einige oder mehrere Personen bereits längst in Kenntnis sind über das, was später Gegenstand allgemeiner Empörung wird. Aber, nochmals, erst die geeignete Konstellation, der richtige Moment und dann das zielstrebige Werk professioneller Enthüller, Informationsjäger und Kreuzigt-ihn-Rhetoren, freundlicher formuliert: energischer Aufklärer, transformiert die Kolportage oder das vagabundierende Gerücht zum handfesten Skandal.3 Mündet im Fortgang die primäre Enthüllung in eine ausgedehnte Choreografie des Bannfluchs und geraten gleichsam tagtäglich immer mehr diskreditierende Hinweise an das Tageslicht, dann kann die Dynamik des Skandals den Schurken im Drama ins Wanken, schließlich zu Fall bringen – sei es in der Bundes- oder der Landespolitik, sei es in einer Klein- oder in einer Großstadt. Auch in anderer Hinsicht trifft das, was für die großen politischen Skandale auf Bundes- oder Landesebene gilt, auf die städtische Ebene zu: Kaum ein Skandal, der die Stadt Göttingen erschütterte, war wie der andere. Zwar lassen sich durchaus Grundmuster und Gemeinsamkeiten erkennen, etwa die bedeutende Rolle der lokalen Medien, insbesondere der Göttinger Zeitung (seit 1864 bis 1935), der Göttinger Presse (seit 1949 bis 1971) und des Göttinger Tageblatts (seit 1889 bis heute). Lokale Medien decken Missstände auf, ordnen sie ein und bewerten sie, beobachten den weiteren Verlauf. Sie geben aber auch Raum für wahre »Leserbrieffluten«, ja für »Leserbriefkriege«, die wiederholt für in diesem Buch dargestellte Skandale kennzeichnend sind, etwa für den bereits erwähnten »Kuss-Skandal«, den Stine Marg und Karin Schweinebraten beschreiben. In früheren Jahrzehnten hingegen spielten die Medien noch eine geringere Rolle – etwas wurde zu einem Skandal, 10
Teresa Nentwig und Franz Walter
weil in der Stadt oder im Dorf Gerüchte kursierten, etwa auf dem Marktplatz oder in der Gastwirtschaft. Man empörte sich gemeinsam und erzählte den Skandal weiter. »Solche Stimmungen drangen dann auch zu den am Skandal Beteiligten, was sie wie heute zu Reaktionen zwang.«4 Mit der wachsenden Bedeutung der Medien wuchs zugleich die Zahl der durch sie öffentlich ausgetragenen Skandale, da Enthüllungen und Entrüstungen auf dem Markt von Kommunikation und Unterhaltung hohe Prämien abwarfen.5 In den letzten Jahren zeigte sich der Wandel der Medien aber auch bei der Entwicklung von Skandalen. So ist Bundesverteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg 2011 »in großen Teilen von der Macht des Internets überführt worden«6. Wohl durfte die Skandalisierung zeitlich nie zu weit getrieben und zu häufig in Gang gesetzt werden, da sonst das Interesse des Publikums abflachte.7 Wohldosiert angewandt aber durfte man mit den vitalen Interessen der lesenden und schauenden Konsumenten medialer Angebote für den Fall rechnen, dass einzelne Figuren zunächst strahlten, hoch aufstiegen, sich dann in Widersprüchen verfingen, den falschen Umgang pflegten, dem Mammon erlagen und die Ideale verrieten, gar in den begründeten Verdacht der Korruption gelangten. Die Entzauberung früherer Lichtgestalten übte eine schauerliche Faszination aus auf diejenigen, welche sozial weit entfernt von den Stars in Gesellschaft, Wirtschaft und nicht zuletzt in der Politik ansässig waren.8 Auch auf lokaler Ebene spielt das Internet, spielen soziale Medien mehr denn je eine Rolle bei Skandalen und Skandalisierungen. Diese gewinnen durch das Zusammenspiel von alten und neuen Medien eine besondere Dynamik, bedingt auch durch die zunehmende Aggressivität im Netz: »Die digitalen Öffentlichkeiten sind sehr viel härter und direkter als all das, was früher in der massenmedialen Welt, abgepolstert und herausgefiltert durch journalistische Selektionsmechanismen, passiert ist«, so Martin Emmer, Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin im Sommer 2015.9 Sein Kollege, der Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen Bernhard Pörksen, sprach zur gleichen Zeit gar von »einem bedeutsamen Moment des Medienwandels«, in dem wir uns derzeit befänden – »auf dem Weg von der Mediendemokratie der klassischen Leitmedien hin zur Empörungsdemokratie des digitalen Skandale in einer Universitätsstadt
11
Zeitalters. Hier verlieren die traditionellen Machtzentren und publizistischen Monopole an Einfluss. Und auf einmal kann sich jeder zuschalten.«10 Beispiele für die z. T. »enthemmte Aggression«11, die sich bei Skandalen mehr denn je im Internet niederschlägt, bietet bereits der Veruntreuungsskandal am Jungen Theater Göttingen im Jahr 2010, den Sebastian Kohlmann im vorliegenden Buch behandelt. Neben der bedeutsamen Rolle der Medien fällt bei der Betrachtung von in Göttingen geschehenen Skandalen auf, dass die Georgia Augusta in Gestalt ihrer Studenten und/oder ihrer, z. T. prominenten Gelehrten regelmäßig eine wichtige Akteurin bei Skandalen war – nicht nur im 20. Jahrhundert (etwa Anfang 1952 bei den Protesten gegen Veit Harlan; vgl. dazu den Beitrag von Robert Pausch im vorliegenden Buch), sondern schon viel früher, u. a. zu Beginn des 19. Jahrhunderts. So bewegten 1809 Ereignisse die Studierendenschaft, die später als die sogenannte GendarmenAffäre in die Annalen der Stadtgeschichte eingingen (vgl. dazu den Beitrag von Hanna Feesche und Robert Mueller-Stahl in diesem Band). Diese enge Verknüpfung ist jedoch nicht überraschend, prägt doch die 1737 gegründete Universität in weiten Teilen das Stadtleben. Infolgedessen »blieben Protest und Aufbegehren der Studierenden in unterschiedlicher Form und Ausprägung nicht aus«12. Eine weitere Gemeinsamkeit vieler »Göttinger Skandalge schichten« ist schließlich die Klage zahlreicher Bürger, von der Politik ignoriert zu werden. Auf dieses Lamento trifft man z. B. bei den Diskussionen um den abrissbedrohten Reitstall, dem ältesten Universitätsgebäude der Stadt Göttingen, im Jahr 1968, aber auch im Jahr 2015, als das geplante Denkmal »Dem Landesvater seine Göttinger Sieben« von der Bildhauerin und früheren Kunstprofessorin Christiane Möbus ein öffentliches Ärgernis war: »Wo bleibt eigentlich die Demokratie, also die Stimme des Volkes? Hat man schon die Göttinger gefragt? Übrigens, man fragt, bevor man einen Vertrag unterschreibt. […] Lernt man nichts aus der Geschichte? Gewählte Politiker sollten das aber!«, fragte erzürnt ein Leserbriefschreiber.13 Doch trotz aller Proteste: Der Reitstall wurde abgerissen, das umstrittene Denkmal kommt – Ende Juni 2015 begann der Sockelbau14, im November 2015 soll es übergeben werden15. So überrascht es kaum, dass Skandale und Skandälchen vielfach als Quelle von Politikverdrossenheit angesehen werden. 12
Teresa Nentwig und Franz Walter
Doch auch wenn die in diesem Buch betrachteten Skandale vielfach ähnlich verliefen, gleiche Mechanismen aufwiesen und die Akteure sich ähnelten – am Ende hatte jeder Skandal seine Besonderheiten, seine Spezifika. Ein Beispiel hierfür ist der Reitstallabriss. »Unter den Talaren Muff von 1000 Jahren«, war eines der Mottos der Studentenbewegung. Nicht länger wollte man allein durch Tradition begründete Hierarchien tolerieren. Auch in Göttingen veranstalteten die Studierenden Happenings, Teachins, Straßendemonstrationen und sprengten im Juni 1969 sogar die überfüllte Vorlesung des beliebten Germanisten Prof. Dr. Albrecht Schöne im Auditorium Maximum, um gegen eine aus ihrer Perspektive unzeitgemäße Veranstaltungsform zu protestieren.16 Dennoch: Verglichen mit anderen Städten blieb es in Südniedersachsen relativ ruhig17, ja im Sommer 1968 kam es auch zu einer ungewöhnlichen Koalition: Teile der Studentenschaft und der Professoren taten sich zusammen, um gegen den Abriss des Reitstalles, also des ältesten Universitätsgebäudes, zu protestieren. Der Reitstallabbruch ist ferner ein Beispiel für ein Geschehnis, welches zu seiner Zeit vergleichsweise wenig öffentliche Empörung hervorgerufen hat. So vermisste z. B. der Hildesheimer Regierungspräsident, der den Abriss genehmigen musste, »den Aufschrei des historischen Gewissens«18 aus den Reihen der Göttinger Bevölkerung. Damit trifft auf den Abriss des Reitstalles ein wesentliches Kriterium von Skandalen – »die kollektive Entrüstung«19 – nur begrenzt zu. Doch je mehr wir in die Gegenwart kommen, desto stärker wurde der Reitstallabbruch als etwas Unerhörtes wahrgenommen. Mit anderen Worten: Er entwickelte sich nachträglich zu einem Skandal. Der Abriss des Reitstalles spiegelt damit die Veränderung der städtischen Normen seit dem Jahr 1968, mehr noch: Die heutige Beschäftigung mit diesem Gegenstand bringt bisher kaum bekannte skandalöse Aspekte ans Licht. Sie erlauben es mehr denn je, den Reitstallabriss als einen Skandal zu bezeichnen (vgl. dazu den Beitrag von Teresa Nentwig in diesem Band). In der Alltagssprache, in der medialen Berichterstattung und auch in der Wissenschaft werden die Begriffe »Skandal« und »Affäre« vielfach synonym verwendet; zum Beispiel ist sowohl vom Parteispendenskandal als auch von der Parteispendenaffäre die Rede, um den gleichen Sachverhalt zu bezeichnen, nämlich die Skandale in einer Universitätsstadt
13
1999 aufgedeckte illegale Spendenpraxis der CDU in den 1990er Jahren unter Helmut Kohl. Hinzu kommt, dass »die größten europäischen Skandale«20 Namen tragen wie die »Dreyfus-Affäre« in Frankreich (1894), die »Eulenburg-Affäre« im deutschen Kaiserreich (1907) oder auch die schon angesprochene »Spiegel-Affäre«. Mit Blick auf die beiden Begriffe »Skandal« und »Affäre« gilt somit die Schlussfolgerung des Historikers Frank Bösch: »Eine Abgrenzung der Begriffe scheint […] wenig sinnvoll.«21 * * * Die in diesem Buch versammelten Aufsätze behandeln vornehmlich Skandale aus den Bereichen Politik, Medizin, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft, wobei aus Platzgründen eine Beschränkung auf rund dreißig Skandale notwendig war. So wird der eine oder andere Leser sicherlich den einen oder anderen Skandal vermissen, etwa die »Spudok-Affäre«22 1982, den »Fälschungs-Skandal um Ärzte der Uniklinik Göttingen«23 im Jahr 2001, einen weiteren »Fälschungsskandal«24 im Jahr 2009, diesmal an der Fakultät für Geowissenschaften und Geografie der Göttinger Universität, oder den »Umweltskandal«25 2012, als illegal gelagerte Chemikalien nach einem Großbrand den kleinen Bach Grone giftgrün färbten und krebsauslösende, weltweit verbotene Chlorverbindungen bis in die Leine schwemmten. Aus früheren Jahrhunderten mussten aus Platzgründen ebenfalls mehrere Skandale weggelassen werden, darunter der »Skandal um gefälschte Liebesbriefe«26, der bereits 1458 in Göttingen für Aufsehen sorgte, oder der »weitreichende Skandal«27, den der junge Ferdinand Freiherr von Grote, Baron zu Schauen, Ende des 18. Jahrhunderts verursachte, als er die Georgia Augusta mit einem riesigen Berg Schulden verließ – hervorgerufen durch Glücksspiel, Liebesabenteuer, Landpartien und weitere Ausschweifungen.28 Auch fehlt ein Beitrag über die Beziehung von Georg Christoph Lichtenberg zur kindlichen Maria Dorothea Stechard. Handelte es sich dabei um einen Skandal? Aus der Sicht des Jahres 2015 ganz gewiss. Ein 34-jähriger Universitätsprofessor, der mit einem zunächst noch elfjährigen Mädchen anbandelt, sie bald ganz zu sich nach Hause holt, um ein eheähnliches Verhältnis, wenngleich »ohne priesterliche Einsegnung«29, mit ihr zu praktizieren – ein solcher Professor wäre heute unzweifelhaft ein Fall für den Straf14
Teresa Nentwig und Franz Walter
richter. Die schöne Stelle als Beamter auf Lebenszeit wäre sicher alsbald perdu. Und ein Ortswechsel wäre ihm fraglos dringend anzuraten. Aber Lichtenberg, der bis heute viel gelesene und gerühmte Aphoristiker, in seiner Zeit ein hoch geachteter Physiker, Mathematiker und Astronom30, lebte nicht im Hier und Jetzt, sondern in den Jahren 1742 bis 1799. Das Mädchen Maria Dorothea Stechard, Tochter eines Leinewebers, geboren am 26. Juni 1765, traf er im Frühjahr 1777 auf dem Göttinger Wall, als es Blumen feilbot, was von einigen Historikern und Literaten als eine Art Vorstufe der Prostitution gedeutet wird.31 Lichtenberg war vom Anblick des Mädchens sofort entzückt, bat sie um einen Besuch in seiner Stube. Sie kam mit ihrer Mutter, der – so die Vermutung von Klaus Harpprecht – »für die blutjunge Maria Dorothea ein nettes Sümmchen Abstand bezahlt« wurde, angesichts der Missgestalt des zwergenhaften Professors mit seinem ausgeprägten Buckel »vermutlich ein wenig mehr als üblich«32. Sei es, wie es sei, nach einiger Zeit blieb die »Stechardin« ganz in der Lichtenberg’schen Wohnung, als Bedienstete, Haustochter und Geliebte des um 23 Jahre älteren Gelehrten, bis sie 1782 mit 17 Jahren starb. Also doch ein Skandal, ein empörenswerter Akt verruchter Pädosexualität, ausgeübt von einem Professor der Georgia Augusta, die den Delinquenten gar noch heute ehrt, indem sie ein Kolleg des geisteswissenschaftlichen Elitenachwuchses nach ihm benennt, was auch die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen mit einem Preis so hält? Für die beachtlich große Zahl der literarisch eifrig aktiven Lichtenbergianer, die oft bemerkenswert rüde auf Kritik an ihrem Säulenheiligen reagieren33, ist eine solche Interpretation rundum abwegig. Zwar rührt ihre Passion für das Œuvre Lichtenbergs meist in dessen scharfer, ironischer Kritik der Konventionen seiner Zeit. Aber was die sexuellen Begehrlichkeiten Lichtenbergs gegenüber sehr jungen Dienstboten weiblichen Geschlechts angeht, verweisen sie – zweifelsohne nicht zu Unrecht, aber eben doch verblüffend apologetisch – auf die auch ihren Helden fest determinierenden Zeitumstände und herrschenden Gepflogenheiten des späten 18. Jahrhunderts. In der Tat, mit 14 Jahren, für Protestanten: nach der Konfirmation, hatten Mädchen das heiratsfähige Alter erreicht.34 Philosophie und Rechtswesen hatten sich seinerzeit, anders als noch in der Antike, kaum Gedanken Skandale in einer Universitätsstadt
15
über einen besonderen, den sexuellen Missbrauch reflektierenden Schutz von Kindern gemacht, wenngleich nach Jahrhunderten der Indifferenz gerade im späten 18. Jahrhundert im Zuge der Aufklärung Mediziner und Moraltheologen mehr und mehr auf »die Gefahr einer Verführung durch Erwachsene«35 hinwiesen. Dennoch mag der Eindruck von Eckart Kleßmann richtig sein: »Ein Skandalon? […] Es existiert kein Zeugnis, das bezeugen könnte, man habe in Göttingen an dieser Verbindung [zwischen Lichtenberg und dem Blumenmädchen, Anm. d. V.] ernstlich Anstoß genommen.«36 Ähnlich urteilt Wolfgang Promies: »In der Tat scheint die Moral Göttingens nicht eben berühmt gewesen zu sein. Man flüsterte von Kästners präsumtiver Tochter, wußte eines Theologen Frau als Dirne; die Menge der unehelichen Kinder, die von einheimischen Müttern geboren wurden, war wenigstens so groß wie die Zahl der geschlechtskranken Purschen.«37 Auch Klaus Harpprecht glaubt nicht an eine besondere Prüderie der damals gut 8.000 Einwohner zählenden »Kleinstadt und GelehrtenRepublik« Göttingen. Schließlich: »Die Professorentöchter versagten sich keinem Flirt, und die Gattinnen betrogen des öfteren nach Strich und Faden. So verrenkten sich wohl nicht viele Bürger den Hals, als Lichtenberg, das bucklicht Männlein, eines der Blumenmädel auf dem Wall zu sich ins Haus lud: die kleine Stechardin.«38 Mit den Professorentöchtern und Frauen des gebildeten Bürgertums fädelte Lichtenberg indes nie ein erotisches Techtelmechtel oder auch nur ein freundschaftlich-diskursives Verhältnis ein. Zu den Professorentöchtern, die sich durch wissenschaftliche oder literarische Produktionen (nicht nur) in der Stadtgesellschaft hervortaten, darunter Caroline Schlegel-Schelling, Dorothea Schlözer, Meta Liebeskind und Marie Therese Heyne, pflegte er keine größeren Kontakte. Lichtenberg mochte diesen Typus der »Universitätsmamsellen« nicht. Er goutierte vielmehr die »Aufwärterinnen«, oft sehr junge Mädchen aus sozial einfachen Verhältnissen39, »unschuldig und ohne Erfahrungen und Ansprüche«40. Lichtenberg stand damit unter den Granden der Geisteselite keineswegs allein: »Schon Rousseau«, so die Münchener Professorin für Literaturwissenschaft Barbara Vinken, »fand, dass der Mann, der eine Intellektuelle heiratet, wahnsinnig sein muss. Auch bei Schiller gibt es sie schon: die berühmte Frau, von der man besser die Finger lässt. Wenn die Frau sich einen Namen gemacht hat und nicht 16
Teresa Nentwig und Franz Walter
der Mann, macht sie das sowohl bei Rousseau, als auch bei Schiller, [sic!] fast schon zur Kurtisane. Ehebruch ist nichts dagegen. Darin spiegelt sich die männliche Angst vor diesem Typus von Frau.«41 Dass es den Göttinger Bürgern gänzlich gleichgültig war, wie Lichtenberg es mit den Mädchen hielt, dürfte allerdings eine etwas zu pauschalisierende Mutmaßung sein. In Weimar zumindest wurde in jener Zeit über die amourösen Verhältnisse Goethes durchaus auch maliziös geklatscht.42 Und für Göttinger wird über tadelnde Tratschereien in Bezug auf Lichtenberg ebenfalls berichtet. Jedenfalls versuchte Lichtenberg seine junge Geliebte länger vor der Öffentlichkeit zu verbergen, selbst vor guten Bekannten und Freunden.43 Als er nach dem Tod der Stechardin abermals ein Mädchen von aus bildungsbürgerlicher Perspektive niederem Stand in sein Haus aufnahm, Kinder mit ihr zeugte, sie später dann heiratete, erregte dies die Missbilligung in seinem professoralen Umfeld.44 Gleichviel, man hat die gesellschaftlichen Kontextbedingungen der Zeit zu berücksichtigen: »Außereheliche Verhältnisse und uneheliche Kinder, sexueller Verkehr mit Abhängigen (Köchinnen, Mägden, Dienstboten etc.) und jede Form von – oft sogar durch Mütter betriebene – Kuppelei (unter anderem verdeckte Kinderprostitution) gehören zum Alltag im 18. Jahrhundert, es ist nicht einmal anzunehmen, daß Göttingen hierin etwas Besonderes bot.«45 Man kann die Historie nicht mit den Maßstäben der Gegenwart in staatsanwaltlicher Strenge durchschreiten und durchmustern. Aber ein wenig skeptisch innehalten darf man schon, wenn man wieder und wieder liest, wie groß und gegenseitig die Liebe zwischen Lichtenberg und seinem Mädchen doch war.46 Dabei existieren nur zwei – in der Tat berührende – Briefe Lichtenbergs, voller Schmerz unmittelbar nach dem Tode der Stechardin verfasst, die dafür als Quellenbeleg genommen werden und das Fundament schlechthin für eine solche Sicht der Dinge bilden.47 Von Maria Dorothea Stechard hingegen ist kein Zeugnis überliefert. Kurzum: Wir wissen nur, wie der Mann empfand. Wir wissen hingegen nicht, was das Mädchen fühlte.48 Und dass die sexuellen Wünsche eines männlichen Mittdreißigers nicht identisch sind (oder zumindest sein müssen) mit denen eines Kindes, dürfte für das 18. Jahrhundert nicht weniger zutreffend gewesen sein wie für das 19., 20., 21. Jahrhundert auch. Die Diskussion um dieses Skandale in einer Universitätsstadt
17
Problem ist in ihren Befunden eindeutig: Es existieren fundamentale Unterschiede, ja Disparitäten zwischen den erotischen/sinnlichen Bedürfnissen eines Mannes weit jenseits der Pubertät und eines Mädchens im Stadium noch davor. »Zwischen der kindlichen Sexualität und der eines Erwachsenen«, so der Frankfurter Sexualforscher Volkmar Sigusch, »klafft ein unüberwindbarer Abgrund, der nur durch mehr oder weniger erkennbare Gewaltanwendung und Machtausübung überwunden werden kann«.49 Kinder sind, so der klassische Befund des amerikanischen Soziologen und Missbrauchsforschers David Finkelhor, von Natur aus – also nicht lediglich aufgrund historisch zu erklärender, von den Umständen ihrer Zeit abhängiger Normen – unfähig, »dem Geschlechtsverkehr mit Erwachsenen wirklich zuzustimmen.«50 Der erste Impuls von Kindern, so beschrieb es der ungarische Psychoanalytiker Sándor Ferenczi Anfang der 1930er Jahre, auf die sexuelle Bedrängnis durch Erwachsene sei: »Ablehnung, Haß, Ekel, kraftvolle Abwehr. ›Nein, nein, das will ich nicht, das ist mir zu stark, das tut mir weh. Laß mich‹, dies oder Ähnliches wäre die unmittelbare Reaktion, wäre sie nicht durch eine ungeheure Angst paralysiert. Die Kinder fühlen sich körperlich und moralisch hilflos, ihre Persönlichkeit ist noch zu wenig konsolidiert, um auch nur in Gedanken protestieren zu können, die überwältigende Kraft und Autorität des Erwachsenen macht sie stumm, ja beraubt sie oft der Sinne.«51 Auch der Hamburger Sexualforscher Eberhard Schorsch, der über viele Jahre die Gefahren des »einvernehmlichen« sexuellen Verkehrs von Erwachsenen mit Kindern eher bagatellisiert hatte, kam zum Ende seines Lebens zu einem revidierten Urteil, was die zuvor von ihm angenommene Gewaltfreiheit einer solchen Beziehung angeht: »Gewalt ist Machtgefälle. Selbst der überaus liebevolle, jegliche Aggression verleugnende Pädophile wird in den Augen des Kindes allein durch sein Alter, sein größeres Wissen, seine überlegene Beurteilungsfähigkeit, ja schon durch die Ungleichheit der Körpergröße und -kraft als stark, imponierend und gewaltig wahrgenommen, was seine, des Starken Werbung um das kleine Kind nur noch verführerischer machen kann. All dies ist gar nicht hinwegzuargumentieren.«52 Nochmals: In all diese Wertungen sind Erfahrungen und Lernprozesse, auch ein Wandel der Normen in der Medizin, Psychoanalyse, Sexualwissenschaft und Pädagogik eingegangen, die im 18
Teresa Nentwig und Franz Walter
18. Jahrhundert noch nicht vorlagen. Daher überwog seinerzeit eher die Entrüstung über die soziale Mesalliance im Haus Lichten berg. Ein erheblicher städtischer Skandal, der sich am Alter der Haustochter und Geliebten entzündet hätte, blieb offenkundig aus. In der Lichtenberg-Gemeinde hernach war das hinreichend Grund, dem verehrten Aphoristiker Unbedenklichkeitsbescheide, was seinen Umgang mit jungen Mädchen anging, auszustellen. Zum Topos gerann in der Literatur das Argument, wie sehr doch die Stechardin durch die Beziehung mit dem exzellenten Professor gewonnen hat. Sie lebte dadurch nicht mehr in Enge, Armut und Bedrängnis, sondern in einem großzügigen Haushalt. Der Professor beschenkte sie mit Kleidern und Kettchen53, lehrte sie schreiben und lesen. Und das war Lichtenberg wichtig: Sein Mädchen zu formen, ihr einen neuen, allein von ihm kreierten Rahmen zu geben, sie ganz in seinem Sinne zu erziehen. »Die meinige«, schrieb Lichtenberg in seinem Brief an den Mathematiker und Philosophen Albrecht Ludwig Friedrich Meister im August 1782, »gab immer nach und ließ sich alles gefallen und hat mich sehr oft mit Nachgeben beschämt.«54 Auch das war nicht ungewöhnlich, wie Bruno Preisendörfer in seiner »Reise in die Goethezeit« beschreibt: »Die gebildeten Männer mochten es, junge ungebildete Geschöpfe in einer ehelichen Nacherziehung den eigenen Lebens- und Liebesbedürfnissen anzupassen.«55 Lichtenberg beabsichtigte bewusst nicht, die Stechardin, wie es bei den »Professorentöchter[n]« seiner Zeit der Fall war, »so weit zu bilden, daß sie tätig in die männlich dominierten Bereiche der Wissenschaften und Literatur eindringen konnte«.56 In einer gegen die weiblichen »Superklugen« polemisierenden Notiz spottete er, dass deren Denken durch künstliche Systeme so verstellt sei, dass sie »das Natürliche«, was für ihn die wünschenswerte Eigenschaft des »Frauenzimmers« ausmachte, »fast allemal« verfehlten.57 Gewiss ist fragwürdig, ob man aus alledem so drastische und analytisch nicht sonderlich komplex-differenzierte Schlussfolgerungen ziehen sollte wie die feministische Linguistin Luise F. Pusch, die Lichtenberg mit den Thailand-Sextouristen auf eine gleiche oder ähnlich rangierte Stufe stellt: »Ob Göttingen vor 200 Jahren oder Bangkok heute, ob ›genialer Aufklärer‹ oder simpler Bumstourist: Männer vergewaltigen mit Vorliebe Mädchen, die vier- bis zehnmal jünger sind als sie selber – und (fast) niemand Skandale in einer Universitätsstadt
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schert sich drum, (fast) niemand auch nennt die sexuelle Gewalt beim Namen: Lichtenberg, der große Geist, vergewaltigt seine jungen Opfer nicht als Serientäter, sondern er ›hat eine Liaison mit ihnen‹, ›nimmt sie zu sich‹, ›hält sie unter Verschluß‹, ›zeugt mit ihnen acht Kinder‹ und was dergleichen ›Leistungen‹ mehr sein mögen. Wahnsinn.«58 Aber erstaunlich ist schon, dass in einem universitären Kolleg, das nach Lichtenberg heißt und an dem in den letzten Jahren auch GenderforscherInnen gearbeitet haben, dem Vernehmen nach bislang kaum oder gar nicht über den hier geschilderten problematischen Zug im Leben des Autors der »Sudelbücher« diskutiert worden sein soll. *** Die zuletzt genannten, im Folgenden nicht weiter behandelten Beispiele unterstreichen, wie sehr die Göttinger Stadtgeschichte auch eine Geschichte von Skandalen ist. Und das wird sie wohl auch bleiben. Denn schon allein das Thema »Kunst« dürfte auch weiterhin ein zuverlässiger Produzent von Skandalgeschichten bleiben – »Denkmale in Göttingen sind immer strittig«, stellte nämlich der Leiter des Fachbereichs Kultur der Stadt Göttingen, Hilmar Beck, im Frühjahr 2014 richtig fest.59 So tobte in der Stadtöffentlichkeit unmittelbar vor Drucklegung dieses Buches wieder einmal ein »Kulturstreit«60, der u. a. in »Leserbriefduellen«61 im Göttinger Tageblatt und im Extra Tip seinen Ausdruck fand und an die hitzigen Diskussionen über das Bronzerelief an der Stadthalle in den 1960er Jahren und den »Doppelkentaur« in den 1980er Jahren (vgl. dazu in diesem Buch die Beiträge von Marika Przybilla und Julia Kiegeland) erinnerte. Die einen sahen einen Skandal darin, dass die Stadt Göttingen ein von Christiane Möbus zu Ehren der »Göttinger Sieben« entworfenes Denkmal auf dem Bahnhofsvorplatz aufstellen will, das lediglich aus einem Granitsockel besteht, an dessen Seite neben den Namen der sieben Professoren auch der der Künstlerin in gleicher Größe und in einer Linie eingraviert ist – eine Schenkung mehrerer südniedersächsischer Bürger an die Stadt Göttingen, die die Kosten für Fundament und Unterhaltung übernimmt. Da war von der »Hässlichkeit des Betonklotzes«62 die Rede, von der »nächste[n] Abscheulichkeit«, die »unsere Stadt [ziert]«63, von einem »Schandmal«64, einem »geschmacklose[n] Monstrum«65, einem »unvollkommenen Werk«66, einem 20
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»unfertige[n] Ding«67, einem »peinlichen Geschenkvorschlag«68, einem »nutzlosen Sockel«69, einem »unverständliche[n] Klotz in der Landschaft«70, einer »Lachnummer«71, gar einem »Plagiat«72 – weil der Sockel »in Form, Farbe, Material und Dimension«73 eine genaue Kopie des Ernst-August-Reiterstandbilds vor dem Hauptbahnhof in Hannover ist; lediglich der berittene König, der 1837 die sieben verfassungstreuen Göttinger Professoren entlassen und z. T. aus der Stadt vertrieben hatte, fehlt. Eine Göttinger Bürgerin fand es »höchst empörend, dass sich die Künstlerin auf eine Stufe mit diesen großartigen Männern setzt«74. Eine weitere Göttingerin kritisierte ebenfalls »die Anmaßung und Dreistigkeit der Christiane Möbus«75; der Geschäftsführer der Jungen Union in Göttingen, Lauritz Kawe, sprach von einer »beispiellose[n] Selbstinszenierung«76 der Künstlerin, ein Bürger von ihrer »ausgeprägte[n] narzisstische[n] Veranlagung«77. Kritisiert wurde aber auch, dass die sieben Göttinger Professoren »keine Demokraten und auch keine Liberale [sic!]«78 gewesen seien (vgl. dazu auch den Beitrag von Lars Geiges in diesem Band), ja die Brüder Grimm würden »in ihren Märchen Minderheiten, Menschen mit Handikap und Frauen in infamer Weise diskriminieren, zumindest aber politisch unkorrekt darstellen«79. Man solle das Denkmal daher »nicht mit ihrem Namen belasten«80. Daneben sorgten schließlich die zu erwartenden Folgekosten für erhitzte Gemüter: ob die »Reinigung von Umweltschmutz und Taubendreck« (die »Göttinger Tauben« würden »sich schon auf den neuen Treffpunkt [freuen], saubere Toiletten sind begehrt«) oder die »Entfernung von Graffiti (zu befürchten bei dem überwiegenden Unverständnis der Bürger; ist ja auch eine gute Plakatwand mit viel Laufkundschaft)«81 – das dafür erforderliche Geld könne auch für einen besseren Zweck Verwendung finden. So lauten nur einige wenige Beispiele für die empörten Reaktionen, die vielfach mit großer rhetorischer Vehemenz und sprachlicher Kreativität (mehrere Leserbriefe in Reimform!) geäußert wurden. Die anderen – auffallend wenige – lobten das vier Meter hohe und 160 Tonnen schwere Denkmal: »In einem Land mit vielen ihrer Botschaft beraubten und noch mehr vergessenen Denkmälern« mache »ein Sockel ohne Figur Sinn. Ein leeres Denkmal als Stein des Anstoßes ist der Demokratie angemessen.«82 Ein anderer Leserbriefschreiber bezeichnete es als »originell und witzig«83, ein Skandale in einer Universitätsstadt
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weiterer »als einfach (und) genial«84; das Denkmal symbolisiere die »permanent[e] Aufforderung an uns Bürger, uns keiner Herrschaft irgendeiner Art zu unterwerfen, seien es Menschen, Systeme oder Doktrinen«85. In diesem Zusammenhang tat ein weiterer Bürger seine Überzeugung kund, dass »[d]er Mensch keinen Sockel [braucht]« und man »immer den Menschen, niemals den Übermenschen« suchen solle. Vor diesem Hintergrund sei das Denkmal ohne Ross und Reiter »wirklich genial«.86 Hervorgehoben wurde schließlich, dass das Denkmal »zu kreativ-kontroversem Denken anregt«87. Der Stadt könne »nichts besseres [sic!] passieren«, denn »Denkanstöße, Auf- und Anregendes, Widersprüchliches, Künstlerisches, Probleme, Lösungen und Herausforderungen waren schon immer Dinge, die die Menschen weitergebracht haben.«88 Die Repräsentanten der Göttinger waren im Übrigen genauso gespalten wie die Repräsentierten: Die Annahme der Schenkung wurde im Stadtrat bei 22 Ja- und 19 Nein-Stimmen sowie einer Enthaltung beschlossen.89 Zwischenzeitlich deutete sich bereits ein anderer potenzieller Skandal an: Anfang Juni 2015 berichtete das Göttinger Tageblatt auf einer ganzen Seite über das Göttinger Unternehmen »Erneuerbare Energie Versorgung AG « (EEV), bei dem in den vergangenen Jahren über 2.400 Anleger rund 25 Millionen Euro angelegt hatten. Seinen Sitz hatte es im Stadtteil Groß Ellershausen, genauer: in der Dransfelder Straße 7 – bis Mitte 2015. Seitdem steht das repräsentative Gebäude leer, und es kam ans Licht, dass die Staatsanwaltschaft Braunschweig bereits seit September 2014 wegen des Verdachts des Anlagebetrugs ermittelt, dass das Unternehmen seit 2013 keinen Jahresabschluss vorgelegt und den Vorstand ausgewechselt hat, ohne die Kapitalgeber von dieser personellen Änderung in Kenntnis zu setzen. Auch über den abrupten Umzug an den neuen Unternehmenssitz in Papenburg an der Ems wurden sie nicht informiert.90 Das alles »verspricht nichts Gutes«, denn hier, in der Dransfelder Straße 7, waren schon einmal »Milliarden verschwunden, das Kapital der insolventen Göttinger Gruppe, dessen Rechenzentrum einst hier residierte«.91 Der Skandal um die »Göttinger Gruppe« im Jahr 2007 sorgte bundesweit für Schlagzeilen und findet dementsprechend im vorliegenden Buch Platz (vgl. den Beitrag von Christopher Schmitz). Wird sich nun im beschaulichen Göttingen ein Finanzskandal wiederholen? 22
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Skandale, so machen die vorstehenden Bemerkungen deutlich, sind oft ein heikles Thema. Bei der Beschäftigung mit ihnen stößt man nicht selten auf brisante personenbezogene Daten, manches Mal vielleicht sogar auf justiziable Fakten. Den Herausgebern und Autoren dieses Buches war vor diesem Hintergrund ein verantwortungsvoller Umgang mit Archivfundstücken, Interviewsequenzen und anderen Materialien selbstverständlich. *** Am Ende dieser Einleitung ist vor allem den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der von den Autorinnen und Autoren benutzten Archive zu danken. Sie haben die umfangreichen Quellenrecherchen ermöglicht und sachkundig unterstützt. Großer Dank gilt zudem dem Leiter des Fotoarchivs des Städtischen Museums Göttingen, Dr. Wolfgang Barsky, der trotz der Diskussion um den Standort des Museums und dessen finanzielle Zuwendungen von Seiten der Stadt Göttingen viel Zeit investiert hat, um uns bei der Suche nach Abbildungen zu unterstützen. Und schließlich ist natürlich allen Gesprächspartnerinnen und -partnern zu danken. Sie haben einem Teil der Autorinnen und Autoren nicht nur ihre persönliche Sichtweise und ihre Eindrücke geschildert, sondern ihnen z. T. auch Unterlagen zur Verfügung gestellt. Göttingen, August 2015
Anmerkungen 1 Zu Skandalen vgl. grundlegend u. a. Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, München 2009, S. 1–43 u. S. 469–485; Kristin Bulkow/Christer Petersen (Hg.), Skandale. Strukturen und Strategien öffentlicher Aufmerksamkeitserzeugung, Wiesbaden 2011; Steffen Burkhardt, Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse, Köln 2006; Andreas Gelz/Dietmar Hüser/Sabine Ruß-Sattar (Hg.), Skandale zwischen Moderne und Postmoderne. Interdisziplinäre Perspektiven auf Formen gesellschaftlicher Transgression, Berlin u. a. 2014; Hans Mathias Kepplinger, Die Mechanismen der Skandalisierung: zu Guttenberg, Kachelmann, Sarrazin & Co.: Warum einige öffentlich untergehen – und andere nicht, München 2012. Skandale in einer Universitätsstadt
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2 Vgl. hierzu Burkhardt, S. 178 ff. 3 Vgl. auch Frank Bösch, Politische Skandale in Deutschland und Großbritannien, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 7/2006, S. 25–32, hier S. 26. 4 Frank Bösch, Skandale – ein Zeichen des Sittenverfalls?, in: spurensuchen, Jg. 24 (2010), S. 25–29, hier S. 29. 5 Vgl. Karl Otto Hondrich, Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 2002, S. 11 ff. 6 Teresa Nentwig, Rausch und Ratio. Der Fall Guttenberg, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 2 (2013), H. 3, S. 37–44, hier S. 39. Vgl. dazu auch Bernhard Pörksen/Hanne Detel, Der entfesselte Skandal. Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter, Köln 2012, S. 92–107. 7 Vgl. Hans Leyendecker, Eine kleine Skandalkunde aus Sicht eines Journalisten, in: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hg.), Skandale in Deutschland nach 1945, Bielefeld 2007, S. 194–199. 8 Vgl. Heinz Bude, Typen von Skandalpolitikern, in: Rolf Ebbinghausen/ Sighard Neckel (Hg.), Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 1989, S. 396–411. 9 Zit. nach Christoph Driessen, Promis am Online-Pranger, in: Frankfurter Rundschau, 22.07.2015. 10 Zit. nach Christoph Driessen, »Es gibt einen verborgenen Kulturkampf«, in: Frankfurter Rundschau, 22.07.2015. 11 Bernhard Pörksen. Zit. nach ebd. 12 Rolf Kohlstedt, Das Stadtarchiv Göttingen – Jugendkultur und Soziale Bewegungen im Archiv einer Universitätsstadt, in: Gudrun Fiedler/Susanne Rappe-Weber/Detlef Siegfried (Hg.), Sammeln – erschließen – vernetzen. Jugendkultur und soziale Bewegungen im Archiv, Göttingen 2014, S. 97–111, hier S. 99. 13 G. Buder, Stimme des Volkes, in: Extra Tip, 03.05.2015. 14 Vgl. Katharina Klocke, Sockelbau beginnt, in: Göttinger Tageblatt, 23.06.2015. 15 Vgl. Andreas Fuhrmann, Umstrittenes Denkmal am Bahnhof hat Verspätung, in: Göttinger Tageblatt, 29.07.2015. 16 Vgl. Hans-Joachim Dahms, Die Universität Göttingen 1918 bis 1989: Vom »Goldenen Zeitalter« der Zwanziger Jahre bis zur »Verwaltung des Mangels« in der Gegenwart, in: Rudolf von Thadden/Günter J. Trittel (Hg.), Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866–1989, Göttingen 1999, S. 395–456, hier S. 451; Hans-Joachim Dahms, 1968. Wie es kam und was es war, in: ders./Klaus P. Sommer, 1968 in Göttingen. Wie es kam und was es war. In unbekannten Pressefotos, Göttingen 2008, S. 10–23, hier S. 14 u. S. 154 f. 17 Vgl. Dahms, Die Universität Göttingen, S. 447–451; ders., 1968, S. 17 f.; Sonja Girod, Protest und Revolte – Drei Jahrhunderte studentisches Aufbegehren in der Universitätsstadt Göttingen (1737 bis 2000), Göttingen 2012, S. 235 u. S. 240 f., online einsehbar unter http://ediss.uni-goettingen.de/
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bitstream/handle/11858/00-1735-0000-000D-EF34-B/girod.pdf [eingese hen am 29.07.2015]. Zit. nach Vermerk über die Besprechung in der Stadthalle der Stadt Göttingen am 27.05.1968 betreffend: Antrag der Stadt Göttingen vom 19.03.1968 auf Genehmigung des Abrisses der Reithalle, S. 4, in: StAG, C 28 Nr. 1221. Hondrich, S. 16 (Hervorhebung im Original). Bösch, Skandale – ein Zeichen des Sittenverfalls?, S. 25. Ebd. Flugblatt der Grün-Alternativen Liste (GAL) mit dem Titel »Wut und Trauer. Polizei tötet Antifaschistin«, abgedruckt in: Fachschaftsräteversammlung der Uni Göttingen (Hg.), Dokumentation Antifaschistischer Widerstand in Südniedersachsen 1989. Erklärungen, Dokumente, Berichte, Plakate, Presse, Fotos, Göttingen 1990, S. 145–148, hier S. 148. Damals, Anfang 1982, wurde öffentlich bekannt, dass die Kriminalpolizei in großem Ausmaß die Göttinger linke Szene bespitzelte und in einem sogenannten Spurendokumentationssystem (Spudok) zahlreiche Personendaten speicherte – ein Skandal, der bis in den Niedersächsischen Landtag Wellen schlug und es überregional u. a. auch in den Spiegel schaffte. Vgl. dazu z. B. Rolf Gössner, Einmal verdächtig, immer verdächtig – Göttinger Spudok-Skandal: BürgerInnen unter Dauerverdacht, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP, H. 3/1999, S. 78 ff.; Eckhard Stengel, »Kleines Loch hacken, reinschmeißen!« – Wie die Göttinger Polizei die »Szene« observierte, in: Wolfgang Bittner/Rainer Butenschön/Eckart Spoo (Hg.), Vor der Tür gekehrt. Neue Geschichten aus Niedersachsen, Göttingen 1986, S. 107–111; o. V., Bißchen angefaßt, in: Der Spiegel, 12.04.1982. Thorsten Dargartz, Krebsforschung um Jahre zurückgeworfen, in: Welt am Sonntag, 12.08.2001. Das, was zunächst als »Impfung gegen Krebs« (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 08.03.2000), als »Sensations-Imp fung« (Süddeutsche Zeitung vom 03.07.2001), als »Riesenerfolg für deutsche Krebsforscher« (Kölner Express vom 01.03.2000) und »bahnbrechende Forschungsarbeit« (so die Jury eines der höchstdotierten Medizinpreise in Deutschland) gefeiert worden war, weckte bald große Zweifel und sorgte für Ernüchterung: Aufgrund diverser Unregelmäßigkeiten wurde der Impfstoff nicht weiterentwickelt. Vgl. dazu auch Burkhardt Röper/Kurt-Martin Mayer, Wiederholte Fälschung?, in: Focus Magazin, 09.07.2001; Holger Wormer/Hubert Rehm, Gebräu aus Göttingen, in: Süddeutsche Zeitung, 03.07.2001. O. V., Gerügte Forscher. Konsequenzen aus Göttinger Fälschungsskandal, in: Der Tagesspiegel, 12.10.2009. Mehrere Wissenschaftler der Universität Göttingen hatten bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit gefälschten Publikationslisten eine Nachfolgefinanzierung für einen zuvor mit zwölf Millionen Euro geförderten Sonderforschungsbereich beantragt. Vgl. dazu auch Reimar Paul, Falsche Angaben im Forschungsantrag, in: die tageszeitung, 08.05.2009; o. V., Ermittlungen gegen 14 Göttinger Wissenschaftler, in: Die Welt, 18.03.2010. Skandale in einer Universitätsstadt
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25 Heidi Niemann, Streit um Entsorgungskosten, in: Göttinger Tageblatt, 09.02.2015. Vgl. dazu u. a. auch Matthias Heinzel, Grüne Grone: Krebsauslösende Stoffe durch Brand freigesetzt, in: Göttinger Tageblatt Online, 05.03.2012, online einsehbar unter http://www.goettinger-tageblatt.de/ Nachrichten/Goettingen/Uebersicht/Gruene-Grone-KrebsausloesendeStoffe-durch-Brand-freigesetzt [eingesehen am 28.07.2015]. 26 http://www.stadtarchiv.goettingen.de/texte/stadtgeschichte_stationen _1458.htm [eingesehen am 28.07.2015]. 27 Peter Aufgebauer, »Eine Menge beschnittener Fremdlinge …«. Zur Geschichte der Juden in Göttingen im 18. und 19. Jahrhundert, in: Klaus Grubmüller (Hg.), 1050 Jahre Göttingen. Streiflichter auf die Göttinger Stadtgeschichte, Göttingen 2004, S. 138–156, hier S. 138. 28 Vgl. ebd. 29 Zit. bei Wolfgang Promies, Georg Christoph Lichtenberg. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1964, S. 91. 30 Siehe etwa Gert Sautermeister, Georg Christoph Lichtenberg, München 1993; Rainer Baasner, Georg Christoph Lichtenberg, Darmstadt 1992. 31 Vgl. etwa Beate Klepper, Spurensuche nach einer Unbekannten oder: Maria Dorothea Stechard mit und über Lichtenberg hinaus betrachtet, in: Ulrich Joost/Alexander Neumann (Hg.), Lichtenberg-Jahrbuch, Saarbrücken 1997, S. 67–95, hier S. 76. 32 Klaus Harpprecht, Der Krüppel und das Kind, in: Die Zeit, 18.03.1994. 33 Vgl. paradigmatisch etwa Ancleto Verrecchia, Georg Christoph Lichtenberg. Der Ketzer des deutschen Geistes, Wien u. a. 1988. 34 Vgl. ebd., S. 87. 35 Danny Michelsen, Pädosexualität im Spiegel der Ideengeschichte, in: Franz Walter/Stephan Klecha/Alexander Hensel (Hg.), Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte, Göttingen 2015, S. 23–59, hier S. 34. 36 Eckart Kleßmann, Universitätsmamsellen. Fünf aufgeklärte Frauen zwischen Rokoko, Revolution und Romantik, Frankfurt am Main 2008, S. 37. 37 Promies, S. 86 (Hervorhebung im Original). 38 Harpprecht. 39 Vgl. auch Baasner, S. 12, und das Kapitel »›Dietrichs Marie‹ und ›Satan‹. Lichtenberg und die beiden Mädchen aus Arnstadt« bei Horst Gravenkamp, Bei näherem Hinsehen. Bemerkungen zu Georg Christoph Lichtenbergs Sudelbüchern, Göttingen 2010, S. 26–39. 40 Magdalene Heuser, Zwischen Aufwartung und Emanzipation durch Schreiben. Frauen im 18. Jahrhundert, in: Georg Christoph Lichtenberg. 1742–1799. Wagnis der Aufklärung, Ausstellungskatalog, hg. vom Land Hessen, vom Ministerium für Wissenschaft und Kunst, von der Hessischen Kulturstiftung, der Stadt Darmstadt und der Lichtenberg-Gesellschaft e. V., Konzeption von Ulrich Joost, München 1992, S. 202–210, hier S. 206. 41 Interview von Marie Schmidt mit Barbara Vinken, Gleichheit tötet die Erotik, in: Die Zeit, 28.12.2014.
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42 Ähnliches trifft auf Gottfried August Bürger und Göttingen zu. Vgl. dazu den Beitrag von Teresa Nentwig im vorliegenden Buch. 43 Vgl. Franz Mautner, Lichtenberg. Geschichte seines Geistes, Berlin 1988, S. 167. 44 Vgl. Wilhelm Grenzmann, Georg Christoph Lichtenberg, Salzburg/Leipzig 1939, S. 45. 45 Baasner, S. 10 f. 46 Siehe etwa Dorothea Götz, Georg Christoph Lichtenberg, Leipzig 1980, S. 52. 47 Siehe Ulrich Joost, Zwei Briefe Lichtenbergs über den Tod der Maria Dorothea Stechard, Darmstadt 1983. 48 Hier wird man Beate Klepper folgen können: »Wir werden trotz aller Rekonstruktion, trotz aller Auskünfte Lichtenbergs nie die eigenen Gedanken und Beweggründe Maria Stechards wissen können, mit denen sie zu Lichtenberg kam und bei ihm lebte. Es bleibt unter dem Strich die Möglichkeit, daß sie ganz im Sinne Friederike Baldingers handelte, die das Glück auch als solches bezeichnete, welches man macht, wenn ›man seinen Leib für Essen und Trinken zeitlebens an Männer verkauft, die man nicht lieben kann‹. Der Handlungsgrundsatz, lieber mit Lichtenberg zu leben, als arm zu bleiben, steht als Spekulation gleichberechtigt neben der Spekulation von der großen Liebe oder Bewunderung, wofür es von Maria Stechards Seite keinerlei Hinweise gibt.« Klepper, S. 91. 49 Volkmar Sigusch, Sexueller Kindesmissbrauch: zum Stand von Forschung und Therapie, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 108 (2011), H. 37, S. 1898–1902, hier S. 1902 50 David Finkelhor, What’s wrong with sex between adults and children? Ethics and the problem of sexual abuse, in: American Journal of Orthopsychiatry, Jg. 49 (1979), S. 692–697, hier S. 694. 51 Sándor Ferenczi, Sprachverwirrung zwischen den Erwachsenen und dem Kind. Die Sprache der Zärtlichkeit und der Leidenschaft, in: Internatio nale Zeitschrift für Psychoanalyse, Jg. 19 (1933), H. 1/2, S. 5–15, hier S. 9–11. 52 Eberhard Schorsch, Kinderliebe. Veränderungen der gesellschaftlichen Bewertung pädosexueller Kontakte, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, Jg. 72 (1989), H. 2, S. 141–146, hier S. 143. 53 Vgl. Carl Brinitzer, Lichtenberg. Die Geschichte eines gescheiten Mannes, Tübingen 1965, S. 225. 54 Dokumentiert in Wolfgang Promies, Georg Christoph Lichtenberg. Schriften und Briefe, Bd. 4: Briefe, Frankfurt am Main 1994, S. 459. 55 Bruno Preisendörfer, Als Deutschland noch nicht Deutschland war. Reise in die Goethezeit, Köln 2015, S. 387. 56 Volker Schümmer, Georg Christoph Lichtenbergs Konzept aufgeklärter Kultur, Würzburg 2000, S. 87. 57 Zit. nach ebd. 58 Luise F. Pusch, Nachwort. Die Frau ist nicht normal, denn sie ist kein Mann, in: Sibylle Duda/Luise F. Pusch (Hg.), WahnsinnsFrauen, Frankfurt am Main 1992, S. 339–358, hier S. 343 (Hervorhebung im Original). Skandale in einer Universitätsstadt
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59 Zit. nach Michael Brakemeier, 41 Kubikmeter Granit und acht Namen, in: Göttinger Tageblatt, 14.05.2014. 60 Uwe Graells, Geschenkter Gaul, in: Göttinger Tageblatt, 06.09.2014. 61 Ebd. 62 Inge Brinkmann, Anmaßend, in: Extra Tip, 19.04.2015. 63 Birgit Rau, Unser Schilda, in: ebd. 64 Alexander Voigt, Symmetrie zerstört, in: Göttinger Tageblatt, 05.06.2015. 65 Roswitha Uhde, Passt doch zum Rest, in: Göttinger Tageblatt, 01.08.2014. 66 Theo Zoll, Weitere Ideen, in: Göttinger Tageblatt, 27.06.2015. 67 Uhde. 68 Klaus Hübner, Anmaßend, in: Göttinger Tageblatt, 23.05.2014. 69 Rolf Meyer, Geld sinnvoll ausgeben, in: Göttinger Tageblatt, 05.06.2015. 70 Inge Behr-Hoyer, Ein Kunstwerk bleibt ein Kunstwerk, in: Göttinger Tageblatt, 06.08.2014. 71 Peter Ritzka, Arroganz der Mächtigen, in: Extra Tip, 03.05.2015. 72 Roswitha Uhde, Künstlerische Arroganz, in: Göttinger Tageblatt, 28.04. 2015; Jürgen Spönemann, Achter Name passt nicht, in: Göttinger Tage blatt, 09.05.2015. 73 Christiane Möbus, Dem Landesvater seine Göttinger Sieben, März 2013, online einsehbar unter https://www.goettingen.de/pics/medien/1_ 1404906050/Dem_Landesvater_seine_Goettinger_Sieben_Denkmal_ fuer_die_Goettinger_Sieben_%E2 %80 %93_ein_Kunstprojekt_von_ Christiane_Moebus_Maerz_2013.pdf [eingesehen am 30.07.2015]. 74 Brinkmann. 75 Uhde, Künstlerische Arroganz. 76 Zit. nach Michael Brakemeier, Selbst verewigt, in: Göttinger Tageblatt, 19.05.2015. 77 Sören Pett, Tugce Albayrak sollte die Göttinger Sieben ergänzen, in: Göttinger Tageblatt, 19.05.2015. 78 Dr. Ulrich Hunger, Göttinger Sieben keine Demokraten und keine Liberale [sic!], in: Göttinger Tageblatt, 14.08.2014. 79 Volker Grundmann, Keine Satiriker, in: Göttinger Tageblatt, 01.07.2014. 80 Ebd. 81 Werner Grübl, Geld sinnvoller in einem SOS-Kinderdorf investieren, in: Göttinger Tageblatt, 31.07.2014. 82 Klaus Wettig, Stein des Anstoßes, in: Extra Tip, 19.04.2015. 83 Prof. Martin Vogel, Schriftgröße ändern, in: Göttinger Tageblatt, 19.08. 2014. 84 Georg Hoppenstedt, Ein Denkmal mit Potenzial, in: Göttinger Tageblatt, 01.08.2014. 85 Ebd. 86 Wolfgang Christ, Der Mensch braucht keinen Sockel, in: Göttinger Tage blatt, 28.08.2014. 87 Anzeige »Denk mal …«, abgedruckt im Göttinger Tageblatt vom 15.07. 2014. Zu den Urhebern heißt es am Ende der Anzeige: »Für die Denkmalstifter und Sympathisanten der Göttinger Sieben V.i.S.d.P. Jürgen Beyer«.
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Rechtsanwalt Beyer ist neben anderen, darunter dem Aufsichtsratsvorsitzenden der KWS Saat SE Dr. Drs. h. c. Andreas Büchting, dem Soziologen Prof. Dr. Michael Schumann und dem Inhaber von Ottobock Prof. Hans Georg Näder, einer der Stifter. Vgl. Michael Brakemeier, 480.000 Euro für 41 Kubikmeter Granit, in: Göttinger Tageblatt, 26.07.2014. Anzeige »Denk mal …«. Vgl. Stadt Göttingen, Denkmal Göttinger Sieben: Rat nimmt Geschenk an, Pressemitteilung vom 18.07.2014, online einsehbar unter https://www. goettingen.de/magazin/artikel.php?artikel=14595&menuid=619 [eingesehen am 28.07.2015]; Ulrich Schubert, Stadt nimmt Mahn-Sockel an, in: Göttinger Tageblatt, 19.07.2014. Vgl. Jürgen Gückel, Windkraft-Investor verlässt Göttingen, in: Göttinger Tageblatt, 06.06.2015; ders., »Da ist ein Leck entstanden«, in: ebd.; Sven Grünewald, Risiko in der Schusszone, in: ebd.; o. V. (Kürzel: cl), Sorge ums Ersparte, in: ebd. Gückel, Windkraft-Investor.
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Das skandalumwitterte Leben des Gottfried August Bürger (1747–1794)1 von Teresa Nentwig
»Das Leben dieses Gottfried August Bürger war ein fortdauernder Skandal«, so der Literaturwissenschaftler Harro Zimmermann.2 In der Tat: Der Dichter Bürger bot immer wieder Anlass für Gesprächsstoff, ja sorgte regelmäßig für öffentliche Empörung. Doch letztlich war sein Leben vor allem eines: eine ganze Kette von Unglücken, Kämpfen, Krisen und Widrigkeiten.3 Dabei fing alles verheißungsvoll an: Bürger wurde 1747 in einfachen Verhältnissen in einem Dorf am östlichen Harzrand geboren; der Großvater holte ihn aus der beengten Atmosphäre seines Elternhauses heraus und ermöglichte ihm zunächst den Schulbesuch und dann ein Studium. Ein sozialer Aufstieg durch Bildung zeichnete sich ab. Schon früh lassen sich aber auch Entwicklungen feststellen, die später Bürgers Karriere hemmen sollten. So musste er die Schule wechseln, weil er freche Gedichte über den Perückenkult von seinen Mitschülern und Lehrern in Umlauf gebracht hatte. Und als Student pflegte Bürger einen recht liederlichen Lebenswandel. Während seines Theologiestudiums in Halle, wo sich damals eine der führenden Universitäten des Heiligen Römischen Reiches befand, nahm er etwa an verbotenen Trinkgelagen teil, wirkte an der Gründung einer illegalen studentischen Landsmannschaft mit, führte wohl auch ein reiches Liebesleben und machte eine große Summe Schulden. 1768 wechselte Bürger an die Universität Göttingen, die zu jener Zeit als Adelsuniversität galt, d. h. hier ging es gesitteter als an anderen deutschen Universitäten zu. In Göttingen studierte, wer aus reichem Elternhaus kam. Wie die meisten Kommilitonen entschied sich Bürger für Rechtswissenschaften. Damit gehörte er »zu den Privilegierten, die erwarten durften, als Funktionselite in den Territorien des Alten Reichs die Ministerien zu besetzen«4. Doch auch in Göttin30
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gen änderte sich sein Lebenswandel nicht. Bürger, der in der Roten Straße 28 bei einer Apothekerwitwe mit anrüchigem Ruf wohnte, häufte weiter Schulden an, sodass sein Großvater schließlich Ende 1770 die finanzielle Unterstützung vollständig einstellte. Wie schon einmal in Halle, kam ihm der Dichter und Kanonikus Johann Wilhelm Ludwig Gleim zu Hilfe, der von einem väterlichen Freund Bürgers auf dessen Notlage hingewiesen worden war. Trotz dieser Eskapaden zeichnete sich Bürger sowohl während seines Theologie- als auch während seines Jurastudiums durch außerordentlichen Fleiß aus. Bereits in Halle widmete er sich zudem mit großem Eifer der Poesie, einer Vorliebe, die er in Göttingen ausbaute. Kurz nach seiner Ankunft in der Universitätsstadt gelang es Bürger, ein Gedicht in den prestigeträchtigen Göttingischen gelehrten Beyträgen zu veröffentlichen; mit seiner Probeschrift »Etwas über eine deutsche Übersetzung des Homer« (1769) machte er die gelehrte Welt auf sich aufmerksam. Selbst Goethe war überzeugt, Bürger könne ein berühmter Dichter werden. Der hoch Gelobte fuhr unterdessen weiter mehrgleisig: Neben der Dichtung studierte er Jura und beschäftigte sich intensiv mit historischen Themen. Als Bürger schließlich 1772 sein Studium beendet hatte, erhielt er sogleich eine Stelle: Als Amtmann übernahm er die Gerichtshalterstelle zu Alten-Gleichen, die sich abgelegen bei Göttingen befand. Der Konflikt, der sich bereits in Halle angekündigt hatte, schlug nun vollends durch: Bürger war fortan hin- und hergerissen zwischen seinen beruflichen Verpflichtungen und seinen literarisch-philologischen Ambitionen. Doch eine Kündigung seiner Stelle kam nicht infrage, denn aufgrund seiner hohen Schulden war Bürger auf das Gehalt angewiesen. Im April 1771 hatten seine Göttinger Gläubiger sogar beantragt, »ihn, der ohnehin schon mit ›Stadtarrest‹ belegt ist, einzukerkern, weil sie fürchten, er wolle sich aus dem Staub machen. Eine Gefahr, die Bürger mit knapper Not abwenden kann, indem er sich verpflichtet, seine jeweiligen Schulden binnen vier bzw. sechs Wochen abzustoppeln.«5 Mit der Gerichtshalterstelle hatte Bürger überdies keine leichte Position übernommen. Zum einen befand sie sich in einem desolaten Zustand: Viel Arbeit hatte sich angestaut; große Unordnung herrschte. Zum anderen geriet Bürger immer wieder in die Intrigen der in sich zerstrittenen Familie von Uslar hinein, in deren BeDas skandalumwitterte Leben des Gottfried August Bürger
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sitz das Gericht stand. Er versuchte daher wiederholt, sich dieses ungeliebten Amtes zu entledigen, allerdings viele Jahre ohne Erfolg. Seine Pläne kamen entweder erst gar nicht zur Ausführung (darunter die Auswanderung und die Leitung eines Theaters) oder scheiterten (wie die Bewirtschaftung eines Gutes oder das Lotteriespielen – beides brachte ihm neue Schulden ein). Als Bürger als Amtmann tätig war, kam das Schreiben notgedrungen zu kurz; unter anderem musste er sich intensiv mit einem Kindsmord auseinandersetzen, dessen die 23 Jahre alte Dienstmagd Catharina Elisabeth Erdmann beschuldigt wurde6. An der Schwierigkeit, zwei grundverschiedene Tätigkeitsfelder miteinander in Einklang zu bringen, litten im 18. Jahrhundert zahlreiche Autoren und Intellektuelle. Bei Bürger jedoch kam zu diesem zeitspezifischen Problem noch ein individueller, sein Privatleben betreffender Konflikt hinzu: 1774 heiratete er die 18-jährige Dorothea (Dorette) Marianne Leonhart, von der er ein Kind erwartete. »Weib und Kind sind meine ganze und einzige Freude«, schrieb Bürger wenige Wochen nach der Geburt.7 Doch bereits kurz darauf verliebte sich Bürger in Dorettes erst 16-jährige Schwester Auguste8, genannt Molly. Um ihren Mann nicht zu verlieren, stimmte Dorette einer Ehe zu dritt zu – Bürgers näheres Umfeld reagierte empört; in Göttingen und Hannover mokierte man sich über diese Ménage-à-trois; sie diskreditierte den Dichter. Die drei setzten sich trotzdem über die obwaltenden gesellschaftlich-moralischen Zwänge hinweg und lebten am Ende mehrere Jahre zusammen.9 Zum Gesprächsstoff wurde Bürger allerdings nicht nur, weil seine Lebensweise den herrschenden bürgerlichen Moralvorstellungen widersprach. Hinzu kam »die unerhörte Offenheit«, mit der er »in seinen lyrischen Selbstbekenntnissen seine skandalösen Liebesprobleme ausbreitete«, womit der Dichter »gegen ein weiteres Tabu [verstieß]: daß nämlich private Unregelmäßigkeiten, sollten sie denn einmal vorkommen, unter dem Ausschluß der Öffentlichkeit zu geschehen hätten«10. Ob »Für Sie mein Eins und Alles«, »Der Liebeskranke«, »An die kalten Vernünftler«, »Als Molly sich losreißen wollte« oder »Überall Molly und Liebe«: Bürger schrieb diverse Liebes- und Klagegedichte, die das interessierte Publikum – überwiegend das gebildete Bürgertum – »mit moralischer Ächtung«11 quittierte. 32
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Das Dreiecksverhältnis endete im Mai 1782, als Molly zu einer Schwester Bürgers nach Obersachsen zog, um die kurz bevorstehende Geburt des illegitimen Sohnes zu verheimlichen und damit einen Skandal zu vermeiden.12 Doch nachdem die schwerkranke Dorette Mitte 1784 kurz nach der Geburt ihres dritten Kindes gestorben war, heiratete Bürger ein Jahr später Molly. Aus der erhofften glücklichen Zukunft wurde allerdings nichts: Ein halbes Jahr nach der Hochzeit, Anfang 1786, starb Molly an den Folgen einer weiteren Geburt. Über diesen Schicksalsschlag kam Bürger nie hinweg. In der Zwischenzeit, nach zwölf Jahren als Amtmann, hatte er es allerdings geschafft, eine andere Stelle zu finden: Durch die Förderung dreier Professoren, darunter Georg Christoph Lichtenberg, war Bürger 1784 Privatdozent an der Universität Göttingen geworden. Bis zu seinem Tod zehn Jahre später hielt er Vorlesungen über Ästhetik, Stilistik, deutsche Sprache und Philosophie. Während dieser Zeit wurden ihm Ehrungen zuteil, so die Bitte um eine Ansprache zum fünfzigjährigen Jubiläum der Universität Göttingen 1787, die Auszeichnung mit dem Doktortitel zum gleichen Anlass und die Ernennung zum außerordentlichen Professor 1789. Bürgers Lebenssituation verbesserte sich dennoch nicht. Dies lag daran, dass mit seinem Recht, Vorlesungen zu halten, kein Gehalt verbunden war – Bürger bekam nur kleine Hörergelder. Seine Bittbriefe an die hannoversche Regierung, ihn als ordentlichen Professor anzustellen, blieben ungehört. Drei Gründe dürften hierfür ausschlaggebend gewesen sein: Erstens war sein Ruf, den er als Amtmann besaß, nicht der beste. So war es immer wieder vorgekommen, dass Bürger Säumnisstrafen zu zahlen hatte, weil er Akten unbearbeitet liegen ließ. Zweitens zeigten sich jetzt die Folgen seiner ersten Jahre in Göttingen: Mit seinem unkonventionellen und unakademischen Auftreten hatte sich Bürger im Universitätsbetrieb keine Freunde gemacht. Und drittens war er auch jetzt anders als die übrigen Professoren: »Ein Mann, der ohne Magisterexamen und lateinische Disputation auftrat und sich dabei als Poet einen Namen gemacht hatte, wurde von der Mehrzahl der Professoren als Schöngeist belächelt und zum Außenseiter abgestempelt.«13 Auch aus einem weiteren Grund galt Bürger in der akademischen Kollegenschaft als »nicht salonfähig«14: »Unerhört, dass er sich […] unverhohlen zur Französischen Revolution bekannte!«15 Das skandalumwitterte Leben des Gottfried August Bürger
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Auch außerhalb der Wissenschaft wurde Bürger mehr und mehr zum Sonderling. Im September 1789 erklärte die erst 19-jährige Stuttgarterin Elise Hahn anonym in einem Gedicht dem ihr persönlich unbekannten Dichter ihre Liebe, ein »ScherzGedicht«16, wie sie später hervorhob, das aber »durch die Indiskretion eines Dritten«17 den Weg in die Öffentlichkeit und damit auch in Bürgers Hände fand. Dieser fühlte sich geschmeichelt, machte den Namen und die Anschrift seiner Verehrerin ausfindig, schrieb ihr einen Brief und reiste schließlich nach Stuttgart, um Elise Hahn – entgegen des Rates aller Freunde – als seine Frau mit nach Göttingen zu bringen. Diese hatte Bürger inzwischen eine schriftliche Absage erteilt, doch ihr Brief kam erst einen Tag nach Bürgers Abreise nach Stuttgart in Göttingen an. Und so umwarb der Dichter, der das Huldigungspoem mitsamt seiner Antwort darauf sogar im Göttinger Musenalmanach18 veröffentlicht hatte, die mehr als zwanzig Jahre jüngere Frau persönlich – mit Erfolg, denn die Heirat fand Ende September 1790 »unter großer Anteilnahme des Publikums«19 statt. Die Ehe entpuppte sich jedoch schnell als Reinfall. Elise Hahn pflegte einen extravaganten Lebensstil, der Bürgers Schulden in die Höhe schießen ließ. Aber es kam noch schlimmer: Das »Schwabenmädchen« betrog ihn – ganz Göttingen wusste davon, nur Bürger ahnte zunächst nichts. Doch irgendwann – nachdem »in der sozial stark kontrollierten Universitätsstadt«20 Karikaturen im Umlauf gewesen waren, die ihn als Gehörnten gezeigt und seiner Frau Affären mit diversen Studenten nachgesagt hatten, anonyme Warnungen und Hinweise nicht abrissen und Anekdoten über den Hahnrei Bürger weiterhin kursierten – konnte dieser nicht mehr die Augen verschließen. Im Februar 1792, nach nur 18 Monaten, wurde die Ehe geschieden.21 Dieser »Skandal seiner dritten Ehe« machte »die Isolation«, in der sich Bürger befand, »total«.22 Doch damit nicht genug: Zwischenzeitlich, im Jahr 1791, hatte Friedrich Schiller vernichtende Kritik an seinen Gedichten geübt, was ihn zutiefst verletzt hatte. In diesen Jahren wurde Bürger immer kränker, die Schulden immer drückender; letzte Bittschriften brachten nicht den erhofften Erfolg – 1794 starb er einsam mit nur 46 Jahren. Was bleibt von ihm? Die deutsche Übersetzung des Homer, der die literarische Öffentlichkeit mit so großer Erwartung entgegensah, brachte Bürger nicht zu Ende. Das war hauptsächlich bedingt 34
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durch seine zwei Existenzen als Dichter auf der einen und als Amtmann eines adligen Gerichts auf der anderen Seite. Daneben trugen bestimmte Persönlichkeitszüge dazu bei, dass Bürger verschiedene literarische Vorhaben (darunter die Übersetzung des »Königs Lear« und des »Sommernachtstraums« von Shakespeare) nicht verwirklichte. Der Germanist Günter Häntzschel beschreibt seine Persönlichkeit in diesem Zusammenhang sehr plastisch: »Aus seinen Briefen lernen wir Bürger als einen überaus unsicheren, labilen Menschen kennen, zwischen Extremen schwankend, bald sich zu wenig, bald sich zu viel zutrauend, schnell resignierend und ebenso schnell triumphierend, voller genialer Ideen, aber oft unfähig, sie in die Tat umzusetzen – sei es aus persönlicher Anlage, eigener Schuld, oder aufgrund äußerer Umstände.«23 Und schließlich war es der Mangel an geistigem Austausch, der dazu führte, dass Bürger viele seiner Ideen nicht in die literarische Praxis umsetzte. Die Gerichtshalterstelle lag abgelegen; inspirierende Gespräche und Begegnungen mit gleichwertigen Partnern waren dort nicht möglich. Und doch: Bürgers literarisches Werk ist beträchtlich. Viele Gedichte, darunter die bekannte Ballade »Lenore«, gehören dazu, aber auch theoretische Texte und die »Wunderbaren Reisen zu Wasser und zu Lande, Feldzüge und lustige Abentheuer des Freyherrn von Münchhausen«, eine Sammlung von Erzählungen, in deren Mittelpunkt der »Lügenbaron« Freiherr von Münchhausen steht24. Vor allem durch dieses Werk ist Bürger heute noch bekannt. Daneben war er Verfasser zahlreicher politischer und sozialkritischer Schriften. Darin vertrat Bürger die Rechte der unteren Schichten, der Unterdrückten gegenüber den Feudalherren, deren Willkür er angriff. Das Ideal, das sein gesamtes literarisches Schaffen leitete, war die Volkstümlichkeit. Das heißt, Bürger wollte alle gesellschaftlichen Schichten ansprechen. Zu Lebzeiten fand Bürger für all das Anerkennung und Ruhm – nur in Göttingen nicht. Drei Monate vor seinem Tod beklagte er etwa: »Meine Celebrität, sollte ich denken, stände nicht unter den letzten, und ob sie gleich von einer Art ist, die für das kalte Hannoversche und Göttingische Klima wenig Werth zu haben scheint, so ist es doch wahrlich im Auslande damit ganz anders beschaffen […].«25 Während man ihn in Göttingen selten anspreche, werde er außerhalb des Königreichs Hannover »mit einer Das skandalumwitterte Leben des Gottfried August Bürger
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Bürger und Molly. Unter der Lithografie sind die ersten drei von insgesamt 24 Strophen seines Gedichts »Untreue über Alles« abgedruckt (siehe nächste Seite).
Hochachtung und Wärme, ja oft mit einem Enthusiasmus aufgenommen«26, der ihn in Verlegenheit setze. Erst postum erwies Göttingen dem Dichter Reverenz: Mitte des 19. Jahrhunderts wurde ein Grabdenkmal auf dem Bartholomäusfriedhof errichtet, das die Widmung »Die Stadt Göttingen dem Dichter Gottfried August Bürger« trägt. Auf eine private Initiative geht eine lebensgroße Bronzebüste zurück, 1894 auf dem Bartholomäusfriedhof enthüllt und am 8. Juni 1994 – Bürgers zweihundertstem Todestag – an die Bürgerstraße verlegt.27 Diese vielbefahrene Ringstraße trägt bereits seit 1864 ihren Namen – in Reverenz an den Dichter und nicht, wie vielfach angenommen, zu Ehren der Göttinger Bürgerinnen und Bürger.28 Am Haus Rote Straße 28 erinnert zudem eine Gedenktafel an Gottfried August Bürger. Und schließ36
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lich sei die »Bürgergrotte« erwähnt: Bürger, der immer wieder das Licht der Öffentlichkeit suchte und Molly zahlreiche »öffentlich[e] lyrisch[e] Liebesbekenntnisse«29 widmete, traf sich mit ihr heimlich im Wald – in einer kleinen, in einem Felshang versteckten Grotte zwischen den Dörfern Benniehausen und Niedeck.30 *** »Ich lauschte mit Molly tief zwischen dem Korn, Umduftet vom blühenden Hagebutt-Dorn. Wir hatten’s so heimlich, so still und bequem, Und koseten traulich von Diesem und Dem. Wir hatten’s so heimlich, so still und bequem; Kein Seelchen vernahm was von Diesem und Dem; Fast achteten unser die Lüftchen nicht mehr; Die spielten mit Blumen und Halmen umher. Wir herzten, wir drückten, wie innig, wie warm! Und wiegten uns, eia popeia! im Arm. Wie Beeren zu Beeren an Trauben des Weins, So reihten wir Küsse zu Küssen in eins.«
Anmerkungen 1 Bei diesem Text handelt es sich um die erweiterte Fassung meines Blog artikels »Zwei Existenzen«, erschienen am 06.10.2011 im Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung und später veröffentlicht in: Alexander Hensel/Daniela Kallinich/Katharina Rahlf (Hg.), Gesellschaftliche Verunsicherung und politischer Protest. Jahrbuch des Göttinger Instituts für Demokratieforschung 2011, Stuttgart 2012, S. 209–211. 2 Harro Zimmermann, Rebell im Jammertal. Eine Erinnerung an Gottfried August Bürger, in: ders., WortWörtlich. Kleine Arbeiten zur Literaturgeschichte im Radio, Bremen 2003, S. 24–31, hier S. 24. 3 Wenn nicht anders gekennzeichnet, bezieht sich dieser Text auf die folgenden Darstellungen über Gottfried August Bürger: Günter Häntzschel, Gottfried August Bürger, München 1988; Hermann Kinder, Nachwort, in: ders. (Hg.), Bürgers Liebe. Dokumente zu Elise Hahns und G. A. Bürgers unglücklichem Versuch, eine Ehe zu führen, Frankfurt am Main 1981, S. 155–186; Gerhard Lauer, Die Poesie beim Wort genommen. Das ganz unwunderbare Leben des Dichters Gottfried August Bürger, in: Klaus Grubmüller (Hg.), 1050 Jahre Göttingen. Streiflichter auf die Göttinger Stadtgeschichte, Göttingen 2004, S. 78–101; Helmut Scherer, Gottfried August Bürger. Der Dichter des Münchhausen. Eine Biographie, Berlin 1995; Das skandalumwitterte Leben des Gottfried August Bürger
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Walter Schübler, Bürger, Gottfried August. Biographie, Nordhausen 2012. Speziell zu Bürger in Göttingen vgl. Guntram Vesper, Galeere meiner Sklaverei. Zu Gottfried August Bürger in Göttingen, in: ders., Lichtversuche Dunkelkammer, Frankfurt am Main 1992, S. 182–210. Lauer, S. 80. Schübler, S. 183. Vgl. hierzu Herbert Günther, Vermutungen über ein argloses Leben, Göttingen 1997. Bürger an Gleim, 05.07.1775. Zit. nach Gerd Ueding, Von der unheilbaren Liebe als Stimulans der Poesie. Der Dichter Gottfried August Bürger, in: ders., Die anderen Klassiker. Literarische Porträts aus zwei Jahrhunderten, München 1986, S. 13–34, hier S. 19. 1790 schrieb Bürger dann: »Ich habe zwei Schwestern zu Weibern gehabt. Auf eine sonderbare Art […] kam ich dazu, die erste zu heirathen, ohne sie zu lieben. Ja, schon als ich mit ihr vor den Altar trat, trug ich den Zunder zu der glühendsten Leidenschaft für die Zweite, die damahls noch ein Kind und kaum vierzehn bis fünfzehn Jahr alt war, in meinem Herzen.« (zit. nach Heinrich Pröhle, Gottfried August Bürger. Sein Leben und seine Dichtungen, Leipzig 1856, S. 50) Daher liest man auch immer wieder, dass Bürger Dorette nicht geliebt, sich aber trotzdem zur Heirat entschlossen habe, da die junge Frau ein Kind von ihm erwartete. Teilweise liest man auch von Augusta. Vgl. Ueding, S. 21–31; Schübler, S. 99–115. Zu Bürger und seiner Beziehung zu Dorette und Molly vgl. auch Heidi Ritter, Liebe und Ehe bei Gottfried August Bürger – Wirklichkeit und Poesie, in: Hans-Joachim Kertscher (Hg.), G. A. Bürger und J. W. L. Gleim, Tübingen 1996, S. 137–148. Ueding, S. 30. York-Gothart Mix, Der gefeierte, kritisierte und vernichtete Autor. Gottfried August Bürger und die semiöffentliche Kommunikation über Sexualität und Erotik, in: Jochen Strobel (Hg.), Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur, Heidelberg 2006, S. 79–98, hier S. 80. Vgl. Schübler, S. 112; Ueding, S. 30. Häntzschel, S. 19. Walter Schübler, Temperamentvoll in allen Registern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.08.2015. Ebd. Zit. nach Traudel Weber-Reich, Elise Bürger, geborene Hahn, in: dies. (Hg.), »Des Kennenlernens werth«. Bedeutende Frauen Göttingens, Göttingen 1993, S. 87–102, hier S. 90. Zit. nach ebd. In dieser literarischen Zeitschrift publizierte Bürger regelmäßig. Seit 1779 war er sogar deren Herausgeber. Vgl. Häntzschel, S. 96. Helmuth Mojem, Elise Hahn, das »Schwabenmädchen«, in: Blätter des Schwäbischen Albvereins, Jg. 108 (2002), H. 2, S. 6 f., hier S. 6. Schübler, Bürger, S. 39.
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21 Zu dem Zustandekommen, der Entwicklung und dem Ende der Ehe vgl. ebd., S. 23–40; Kindler, S. 168–181; Mojem; Weber-Reich, S. 90–93. 22 Vesper, S. 208. 23 Häntzschel, S. 8. 24 Bürger hat sich nicht als Autor des »Münchhausen« bekannt – beide Ausgaben (1786 und 1788) erschienen anonym. Der Grund hierfür war, dass er fürchtete, als Verfasser der Lügengeschichten noch mehr verachtet zu werden und vollständig seine Glaubwürdigkeit zu verlieren. 25 Schreiben Bürger-Christian Gottlob Heyne, 16.03.1794, in: Adolf Strodtmann (Hg.), Briefe von und an Gottfried August Bürger. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte seiner Zeit. Aus dem Nachlasse Bürger’s und anderen, meist handschriftlichen Quellen, Bd. 4: Briefe von 1790 bis 1794, Berlin 1874, S. 247–252, hier S. 249. 26 Ebd. 27 Vgl. Stadt Göttingen – Fachdienst Kultur –, Gottfried August Bürger, online einsehbar unter http://www.denkmale.goettingen.de/denkmale/ gottfriedaugustbuerger.html [eingesehen am 11.07.2015]; August Tecklenburg, Geschichte von Göttingen und Umgegend, Hannover 1897, S. 62; Theo Weinobst, Straßen einer alten Stadt, Göttingen 1974, S. 11. 28 Vgl. Gerd Tamke/Rainer Driever, Göttinger Straßennamen, 3. Aufl., Göttingen 2012, o. S., online einsehbar unter http://www.stadtarchiv. goettingen.de/strassennamen/tamke-driever%20goettinger%20strassen namen_01.pdf [eingesehen am 13.07.2015]; Weinobst. 29 Mix, S. 80. 30 Vgl. Ulrich Schubert, 333 Dinge… die man in und um Göttingen gemacht haben sollte. Folge 291: Romantisches Plätzchen eines Literaten, in: Göttinger Tageblatt, 13.12.2011. Seit 1774 wohnte Bürger in Niedeck (im nahen Gelliehausen befand sich der Sitz der Gerichtshalterstelle zu AltenGleichen); 1775 zog er mit Dorette in das nahe gelegene Wöllmarshausen um. Vgl. Häntzschel, S. 95.
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Ein Ritt mit Folgen Die Göttinger Gendarmen-Affäre (1809) von Hanna Feesche und Robert Mueller-Stahl
Göttingen im August 1809: Ein Student zu Pferd galoppiert ohne Rücksicht an einer Gendarmerie-Brigade vorbei, wahrscheinlich streift er einen der königlich-westphälischen Reiter. Dadurch wird eine Kette von Ereignissen ausgelöst, an deren Ende mehr als die Hälfte der Studenten zur Ultima Ratio des akademischen Protests jener Zeit greift und Göttingen verlässt. Wie konnte diese vermeintlich unbedeutende Begegnung derart eskalieren? Noch wenige Jahrzehnte vor den Göttinger Ereignissen vom August 1809 hätten Zeitgenossen eine solche Frage vermutlich kaum gestellt. Sie hätten sich wohl eher gewundert, weshalb man einem studentischen Aufbegehren gegen die Obrigkeit überhaupt eine solche Bedeutung zumessen sollte. Denn bis in das späte 18. Jahrhundert gehörten lautstarke und zuweilen auch gewaltsame von Studenten provozierte Auseinandersetzungen mit ihrem universitären und städtischen Umfeld zu den gängigen Vorkommnissen an den Universitäten im Heiligen Römischen Reich.1 Doch ein Auszug von so vielen Studenten mit den damit verbundenen weitreichenden ökonomischen Konsequenzen für Universität und Stadt übertraf das Ausmaß üblicher Konflikte bei weitem.2 Grund dafür war der besondere Status, den der akademische Nachwuchs im sozialen Geflecht der Stadtbevölkerung einnahm. Als Hinzukömmlinge waren Studenten in Göttingen, wo die Universität 1737 gegründet worden war, eine außenstehende Gruppe, in ihrer Isolation jedoch zugleich auch privilegiert. Auf dem Boden einer eigenen, akademischen Gerichtsbarkeit, der die Studenten vom Moment der Immatrikulation an unterstanden und die sie in den zahlreichen Streitigkeiten mit anderen Gruppen begünstigte, entwickelte sich unter ihnen ein standesgemäßes Ehrgefühl.3 Zugleich wurde den Studenten damit aber auch ein strenger Normen- und Sittenkatalog auferlegt, der vor allem die weitverbrei40
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teten Landsmannschaften und geheimen studentischen Orden in Schach halten sollte.4 Diese besondere Zusammengehörigkeit der Studenten verlangte nach einer ständigen Herausforderung und Bestätigung, sie machte die »Devianz geradezu zur Norm«5. Doch zum Ende des 18. Jahrhunderts verlor der Gemeinschaftsgedanke unter Studenten zunehmend an Kraft. Die Universität wurde mehr und mehr zum Schauplatz interner Konkurrenzkämpfe. Kollektiv ausgetragene Konflikte verschwanden unter diesem Wandel zur akademischen »Selbstdisziplinierung« zwar nicht gänzlich, sie reduzierten sich jedoch in dem Maße, wie die Studenten selbst vereinzelten.6 Die Universitäten, speziell die Georgia Augusta, begrüßten diese Entwicklung durchaus. Schließlich versuchte das Rektorat in den turbulenten Jahren während und nach der Französischen Revolution vehement, jeden auch nur vermeintlichen politischen Aktionismus zu unterbinden. Das galt insbesondere für die kurze, aber folgenreiche Zeit zwischen 1807 und 1813, in der Göttingen als Hauptstadt des Leinedepartements dem neu geschaffenen Königreich Westphalen zugehörte.7 Unter dem Druck finanzieller Engpässe hatten die Universitäten im napoleonischen Modellstaat permanent Kürzungen oder gar die Schließung zu befürchten.8 In einem angespannten Klima der Konkurrenz versuchte die Stadt Göttingen, sich als ruhiger, rein wissenschaftlicher und apolitischer Bildungsstandort zu profilieren und so die Gunst Jérômes, des Bruders Napoleons und Königs von Westphalen, zu gewinnen.9 Mitten in diese Phase der zur Schau gestellten akademischen Besonnenheit fielen nun die Ereignisse des Sommers 1809. Ausgehend von den seit Beginn des Jahres im »Allgemeine[n] Comment der Göttinger Burschenschaft«10 fünf neu konstituierten Landsmannschaften11 flackerte das studentische Aktions- und Protestwesen wieder auf. Es veranlasste den Prorektor der Universität, Carl Friedrich Stäudlin, am 16. Mai 1809 alle Studenten zur Abgabe ihrer »Flinten, Büchsen, Pistolen und Säbel«12 aufzurufen. Die Anordnung scheint jedoch nur bedingt erfüllt worden zu sein. Justus Christoph Leist, Generaldirektor des öffentlichen Unterrichts – ein Amt, das am ehesten der heutigen Leitung des Bildungsministeriums eines Bundeslandes entspricht –, musste gut zwei Monate später ein neues Edikt erlassen, das die Studierenden Die Göttinger Gendarmen-Affäre
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erneut aufforderte, nicht nur ihre Waffen, sondern auch ihre landsmannschaftlichen Symbole und die Gewohnheiten wie »das Tragen der farbigen Mützen [und] der Schnurrbärte […] das Tobackrauchen [sic!] auf dem Walle und auf den Straßen, das nächtliche Singen und Lermen und die Begehung anderer dergleichen Unanständigkeiten und Unsittlichkeiten«13 abzulegen. Doch auch dieser Erlass hatte keinen Erfolg: Die Studenten ließen dem Prorektor ihre abgeschnittenen Bärte in einem Umschlag zukommen und trugen fortan, auch das eine unmissverständliche Geste der Provokation, Schlafmützen, Frauenhüte und ähnlich unpassende Kopfbedeckungen.14 Wiederum keine vier Wochen später, am Abend des 17. August, findet der durch Verbote und deren demonstrative Übertretung hochgeschaukelte Konflikt zwischen den Studenten und der Obrigkeit seinen vorläufigen Höhepunkt.15 An der Weender Straße/ Ecke Buchstraße, der heutigen Prinzenstraße, versammeln sich mehrere hundert Studenten. Anlass und Ablauf sind nicht mehr genau nachzuvollziehen. Doch waren laute und spontane Zusammenkünfte unter Studenten, sogenannte Aufläufe, nicht unüblich.16 Nur sind es dieses Mal beträchtlich mehr Studenten, die sich vor »Deuerlichs Ecke« einfinden. Grund genug für die örtliche Polizei, zur Auflösung der Veranstaltung die sechsköpfige Brigade der in Göttingen stationierten Gendarmerie zur Unterstützung herbeizurufen. Als »paramilitärische« Einheit, die in den Provinzen des napoleonischen Reiches mehr als jede andere Institution die staatliche Ordnung durchsetzen und zugleich repräsentieren sollte, war die Gendarmerie für die »Überschreitung ihrer Befugnisse« und ihr »gewaltthätige[s] Vorgehen«17 ebenso berüchtigt wie unbeliebt.18 Auf ihrem Weg zum Ort des Geschehens kommt es zu jenem nicht gänzlich geklärten Ereignis, von dem eingangs die Rede war: Ein Schweizer Student, der sich von einem Ausritt auf dem Nachhauseweg befindet, galoppiert an den Gendarmen vorbei. Womöglich kommt es dabei zu einer Kollision mit dem Pferd eines Brigadiers. Doch auch ohne einen Zusammenstoß konnte eine unterlassene Begrüßung in einer nach Ehrzuweisungen geordneten Gesellschaft allzu oft Auslöser von Streitigkeiten sein. So kommt es auch heute: Nach einem kurzen, aber derben Wortgefecht reitet der Student eilends davon. Der Unteroffizier nimmt die Verfolgung auf und bekommt 42
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Ende des 18. Jahrhunderts eröffnete Gastwirt Ulrich vor dem Albanitor ein Gartenrestaurant – »Ulrichs Garten« (später, nach Besitzerwechseln, »von Seelens« und »Marwedels Garten«) –, das bei den Studierenden sehr populär war. Die aquarellierte Federzeichnung, die von Friedrich Besemann (1794–1854) stammt, ist um 1820 entstanden.
ihn schließlich – »die Pistole in der Hand«19 – an der Roten Straße unsanft zu fassen. Wutentbrannt und »kräftig französisch schimpfend«20 bringt er den Studenten zur Hauptwache am Wilhelmsplatz, um ihn anschließend in den Karzer zu sperren. Zugleich gelingt es der Polizei zusammen mit dem Rest der Brigade, die studentische Versammlung trotz beidseitiger Provokationen aufzu lösen und die erhitzen Gemüter zu beruhigen.21 Indes dauert es nicht lange, bis sich die Nachricht des schikanierten und weggesperrten Kommilitonen verbreitet und die Studenten erneut aufgebracht zusammenkommen, dieses Mal auf dem Ulrich, einer beliebten studentischen Gaststätte nahe der heutigen Stadthalle. Polizei und Gendarmerie sehen sich nun abermals einer aufgebrachten Gruppe Studierender gegenüber, deren Auflauf sie auseinandertreiben sollen. Der Konflikt spitzt sich zu in einer verbalen Auseinandersetzung zwischen dem Brigadier Delenne und Armand Godefroy, einem Pariser Studenten. Als Godefroy dem Gendarmen auf dessen Befehl, »im Namen des Königs Ihren Auflauf aufzulösen und sich nach Hause zu begeben«, ein »im Namen Eures Königs«22 erwidert, wird er an Ort und Stelle Die Göttinger Gendarmen-Affäre
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verhaftet und ebenfalls in den Karzer gesperrt. Die beiden Aufsässigen verbringen dort einige Stunden, vielleicht auch die ganze Nacht. Zurück auf freiem Fuß verlangen sie Satisfaktion, also die ritualisierte und in gehobenen Kreisen jener Zeit etablierte Wiedergutmachung einer Beleidigung. Für ihre Forderung erfahren sie sowohl von Seiten ihrer Kommilitonen als auch von der nachsichtigen Universität Zuspruch.23 Unterdessen bleiben die Hörsäle am Morgen des 18. August leer. Die Studenten, deren Aufregung sich trotz der schnellen Frei lassung ihrer beiden Kommilitonen kaum gelegt hat, beschließen den Verruf oder genauer: den Verschiß24 der Georgia Augusta. Mit der Unterschrift auf einer der landsmannschaftlich organisierten Listen verpflichten sie sich dazu, Göttingen zum Ende des Sommersemesters zu verlassen. Der Präfekt und Staatsraath Friedrich Freiherr von Hövel richtet die »höflichst[e]«25 Aufforderung an die Studenten, die Kollegien wieder zu besuchen und bezüglich des Fortgangs des Verfahrens den Kasseler Behörden zu vertrauen. Die verlangte Genugtuung wird den Studenten jedoch nicht zuteil. Zwar wird der Brigadier Delenne vier Tage später durch den Minister für das Justizwesen und die inneren Angelegenheiten nach Halberstadt versetzt – ein durchaus übliches Vorkommnis in der Berufslaufbahn eines Gendarmen26 –, doch erscheint den Studenten diese Anordnung eher als Beförderung denn als Bestrafung. Auch versäumt es der Brigadier Delenne vor seinem Abzug nicht, mit seinen neu erworbenen Abzeichen durch Göttingen zu stolzieren.27 Entrüstet treiben die Studenten die Verbreitung und Unterzeichnung der Verschisslisten weiter voran. Nun äußert sich auch Jérôme zu den Vorfällen an der von ihm begünstigten Universität. Obwohl er das Verhalten der Aufsässigen als überzogen erachtet, schließlich könne er »für 200 abgehende 400 neue Studenten«28 herbeiziehen, sorgen seine grundsätzlichen Sympathien für die Studenten kurzzeitig für Entspannung. Anfang September erhalten jedoch sechs der landsmannschaftlichen Rädelsführer das consilium abuendi29, eine nachdrückliche Aufforderung, die Universität zu verlassen, oder werden gar relegiert, also der Universität mitsamt einem landesweiten Studienverbot verwiesen. Die Verschisslisten verzeichnen dadurch weiteren Zuwachs.30 Schlussendlich versichern 418 von 615 Studenten ihren Auszug aus Göttingen zum Ende des Sommersemesters. Etwa 330, 44
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immer noch mehr als die Hälfte der Jungakademiker, folgen ihrem Ehrversprechen. Jérôme gelang es nicht, die vierhundert neuen Studenten an die Universität zu holen. Stattdessen zählte die Universität Göttingen zum Wintersemester 1809 nur noch 453 Immatrikulierte – nie waren es während der französischen Herrschaft weniger.31 Die Proteste der Göttinger Studierenden, von der Missachtung gesellschaftlicher Ehrenkodizes gegenüber der Gendarmerie durch den Schweizer Studenten bis hin zum kollektiven Fortgang der Studenten, sowie die Reaktionen auf sie sind Zeugnisse einer historischen Umbruchphase im akademischen Milieu. Zum Ende des 18. Jahrhunderts wurde die Studentenschaft zunehmend individueller und disziplinierter, gemeinschaftliches Aufbegehren immer seltener. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund konnte sich die Gendarmen-Affäre überhaupt zu einem Skandal entwickeln. Dennoch verlief diese »Verbürgerlichung« der Universität und ihres Umfelds keineswegs kontinuierlich. Die tumultartigen Versammlungen der Studenten und vor allem ihr Auszug sind dafür eindrucksvolle Belege. Es waren Proteste im alten Gewand. Gleichzeitig fielen die Ereignisse vom August 1809 in eine politisch aufgeladene und wechselhafte Zeit, die auch am beschaulichen Göttingen und seiner um größtmögliche politische Enthaltung bemühten Universität nicht spurlos vorbeizog. War der Verdacht des politischen Aktivismus gegen die Landsmannschaften bis hierhin zumeist unbegründet gewesen, begannen sie sich im frühen 19. Jahrhundert für nationale und liberale Ideen zu begeistern. Die Auflehnung gegen die Gendarmerie, zugespitzt in der demonstrativen Ablehnung des Königs, ist ein frühes Anzeichen dieses aufkommenden Gesinnungswandels. Ihrer Form nach war die Göttinger Gendarmen-Affäre somit durchaus althergebracht. Ihrem Inhalt nach war sie es keineswegs.
Die Göttinger Gendarmen-Affäre
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Anmerkungen 1 Vgl. Stefan Brüdermann, Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert, Göttingen 1990, S. 459–487. 2 Zur wirtschaftlichen Abhängigkeit der Stadt und Universität von Studenten vgl. Stefan Brüdermann, Studenten als Einwohner der Stadt, in: Ernst Böhme/Rudolf Vierhaus (Hg.), Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 2: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Anschluss an Preußen – Der Wiederaufstieg als Universitätsstadt (1648–1866), Göttingen 2002, S. 395–426, hier S. 424 f. 3 Vgl. ebd., S. 395–405; vgl. außerdem Ulrich Rasche, Cornelius relegatus und die Disziplinierung der deutschen Studenten (16. bis frühes 19. Jahrhundert). Zugleich ein Beitrag zur Ikonographie studentischer Memoria, in: Barbara Krug-Richter/Ruth E. Mohrmann (Hg.), Frühneuzeitliche Universitätskulturen. Kulturhistorische Perspektiven auf die Hochschule in Europa, Köln u. a. 2009, S. 157–221, hier S. 157–163. 4 Im 18. Jahrhundert waren schätzungsweise bis zu zwei Drittel der Studenten in Orden organisiert. Vgl. Brüdermann, Göttinger Studenten, S. 214–248. 5 Marian Füssel, Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006, S. 251 f. 6 Zur Verbürgerlichung der Studenten vgl. Rasche, S. 200–220; Konrad H. Jarausch, Deutsche Studenten 1800–1970, Frankfurt am Main 1984, S. 24–33; vgl. für Göttingen Brüdermann, Studenten als Einwohner, S. 416–418. 7 Zur Entwicklung Göttingens im Königreich Westphalen vgl. Jörg H. Lampe, Politische Entwicklungen in Göttingen vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Vormärz, in: Böhme/Vierhaus (Hg.), S. 43–102, hier S. 45–54. 8 Von den fünf westphälischen Universitäten wurden zwei, Helmstedt und Rinteln, Ende 1809 geschlossen und nicht wieder geöffnet. Vgl. Anika Bethan, Napoleons Königreich Westphalen. Lokale, deutsche und europäische Erinnerungen, Paderborn u. a. 2012, S. 270–273. 9 Vgl. ebd., S. 269–278; vgl. außerdem Brüdermann, Göttinger Studenten, S. 169–187. 10 Vgl. o. V., Göttingen. SC-Komment von 1809, in: Einst und Jetzt, Sonderheft 1967, S. 121–134. 11 Involviert waren die Westphalen, Vandalen, Ruthenen, Hannoveraner und Ostfrisia. 12 Universitätsarchiv Göttingen, Kuratorium, 3627, Bl. 219. 13 Ebd., Bl. 261. 14 Vgl. Friedrich Thimme, Die inneren Zustände des Kurfürstentums Hannover unter der französisch-westphälischen Herrschaft 1806–1813, Bd. 2, Hannover/Leipzig 1895, S. 312; vgl. weiterhin Michael Römling, Göttingen. Geschichte einer Stadt, Soest 2012, S. 166–175, hier S. 173.
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15 Hier sei erwähnt, dass die Gendarmen-Affäre in den zeitgenössischen Akten nur selten auftaucht. Dies mag jedoch am universitären Bemühen gelegen haben, studentische Aufstände gegenüber der Regierung möglichst kleinzuhalten. Den Beinamen »Affäre« bekamen die Ereignisse dennoch bereits zur Zeit ihres Geschehens. Der Status als »Skandal« festigte sich retrospektiv, vor allem durch die Aufzeichnungen Otto Denekes. 16 Brüdermann, Göttinger Studenten, S. 459. 17 Thimme, S. 182 f. 18 Vgl. Michael Broers, Die napoleonische Gendarmerie: Eine protokoloniale paramilitärische Polizeitruppe, in: Tanja Bührer/Christian Stachelbeck/Dierk Walter (Hg.), Imperialkriege von 1500 bis heute. Strukturen – Akteure – Lernprozesse, Paderborn u. a. 2001, S. 111–127. 19 Thimme, S. 182. 20 Otto Deneke, Franz Eichhorn der Vandale. Studenten-Leben in Napoleonischer Zeit, Göttingen 1931, S. 33. 21 Vgl. ebd., S. 33 ff. 22 Zit. nach ebd., S. 34, Übersetzung: H. F., Hervorhebung d. V. 23 Vgl. ebd. 24 Rainer Assmann, Der Verschiß, in: Einst und Jetzt, Bd. 33 (1988), S. 213–220, hier S. 219: »Der Verschiß ist ein Bann (heute Boykott) zur Wahrung grundsätzlicher studentischer Belange. Die Bannwirkung zielt auf Bestrafung wegen Verletzung dieser Belange, Erzwingung einer Maßnahme oder Erzwingung der Rücknahme einer Maßnahme zugunsten dieser Belange. Der Verschiß wird zeitlich begrenzt oder unbegrenzt, durch den SC [Senioren-Convent, Anm. d. V.] verbindlich für die Gesamtheit oder einen Teil der Studenten, durch eine einzelne Korporation nur für diese verbindlich ausgesprochen. Der Verschiß richtet sich gegen einzelne Studenten, gegen Korporationen, gegen die Universität selbst oder gegen Philister (Nichtstudenten). […] der Auszug ist eine Folge des Verschisses.«; vgl. auch o. V., Göttingen. SC-Komment von 1809, S. 129 f. 25 Zit. nach Deneke, S. 32. 26 Vgl. Broers, S. 113. 27 Vgl. Albert Du Casse, Les rois frères de Napoléon Ier. Documents inédits relatifs au premier empire, Paris 1883, S. 309. 28 Zit. nach Arthur Kleinschmidt, Zur Geschichte der Universität Göttingen unter Jérôme, in: Zeitschrift des historischen Vereins für Niedersachsen, Bd. 56 (1891), S. 199–211, hier S. 205. 29 Vgl. Friedhelm Golücke, Studentenwörterbuch. Das Akademische Leben von A bis Z, Graz u. a. 1987, S. 98. 30 Vgl. Thimme, S. 312. 31 Vgl. Friedrich Saalfeld, Versuch einer academischen Gelehrten- Geschichte von der Georg-August-Universität zu Göttingen. Dritter Theil: von 1788 bis 1820, Hannover 1820, S. 31; Otto Deneke, Alte Göttinger Landsmannschaften. Urkunden zu ihrer frühesten Geschichte (1737–1813), Göttingen 1937, S. 75. Die Göttinger Gendarmen-Affäre
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Heinrich Heine und die Göttinger Duellaffäre von 1820/21 von Danny Michelsen
Mit der Beziehung Heine-Göttingen wird in erster Linie das ge lungenste literarische Erzeugnis assoziiert, das aus ihr hervorgegangen ist: die »Harzreise«, die in der Zeit von Heines zweitem Göttinger Studienaufenthalt in den Jahren 1824/25 entstand und die nach ihrem Erscheinen in dem Band Reisebilder in Göttingen zunächst verboten wurde.1 Die Schärfe, mit der Heine hier gegen das gelehrte »Lumpenpack« der Georgia Augusta polemisiert, um dem »Unmuth, den ich gegen Göttingen im Allgemeinen hege«2, Ausdruck zu verleihen, lässt bereits vermuten, dass der Autor in dieser Stadt schlimme Kränkungen erfahren haben muss. In der Tat hat die »Harzreise« eine wenig harmonische Vorgeschichte, die bereits vier Jahre zuvor, im Wintersemester 1820/21, begann – mit Heines erstem Versuch, in Göttingen das Studium der Rechtswissenschaft abzuschließen, das er ein Jahr zuvor an der gerade erst gegründeten Universität Bonn begonnen hatte. Dazu sollte es nicht kommen. Nicht einmal vier Monate nach seiner Immatrikulation wurde Heine der Göttinger Universität verwiesen – wegen seiner Forderung zu einem Duell, das nie stattgefunden hat. Nur widerwillig hatte Heine im Herbst 1820 seinen geliebten Rhein verlassen, um sich in Göttingen ganz dem Studium zu widmen – aus seinen Briefen geht hervor, wie sehr er an der »steifen« Atmosphäre in Göttingen litt: »Jeder muss hier wie ein Abgeschiedener leben. Nur gut ochsen kann man hier.«3 Heine arbeitete viel in der Universitätsbibliothek, die schon damals zu den größten in Europa zählte; nebenbei schrieb der gerade 23-Jährige emsig an einer Tragödie mit dem Titel »Almansor«, die 1823 zusammen mit einem anderen Stück und einigen Gedichten in Heines erste Buchpublikation aufgenommen werden sollte – obwohl ihm sein Onkel und Förderer, der Hamburger Bankier Salomon Heine, die Schriftstellerei untersagt hatte, da er sich auf sein Studium konzentrieren 48
Danny Michelsen
Heinrich Heine, Öl auf Elfenbein, ca. 1820 bis 1825, Signatur: Colla.
sollte.4 Und Heine bemühte sich, dieser Anforderung gerecht zu werden. Eine der wenigen Ablenkungen, die er sich gönnte, war die Teilnahme an Aktivitäten der Allgemeinen Deutschen Burschenschaft, die sich in Göttingen gerade erst konstituiert hatte. Wahrscheinlich hat Heine sogar an einer ihrer ersten Zusammenkünfte teilgenommen.5 Bereits während seiner Studienzeit in Bonn, wo er Vorlesungen von Ernst Moritz Arndt gehört und seine Begeisterung für altdeutsche Sprache und Geschichte entdeckt hatte, hatte Heine Anschluss an die »Allemannia« gefunden, in der er sich – angezogen von dem reichen, von Arndt geförderten kulturellen Leben der vergleichsweise freiheitlich eingestellten und von den preußischen Behörden streng verfolgten Verbindung – offenbar so wohlgefühlt hatte, dass ihm eine Kontaktaufnahme mit der Göttinger Heinrich Heine und die Göttinger Duellaffäre
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Burschenschaft selbstverständlich erschien.6 Doch in Göttingen schienen die Dinge anders zu liegen: Die von karrierebetonten Jurastudenten getragene Burschenschaft hatte einem Intellektuellen wie Heine wenig zu bieten; sein Interesse für mittelhochdeutsche Literatur etwa wurde hier kaum geteilt.7 Als er zu Beginn seines Göttinger Semesters ein altgermanistisches Kollegium bei dem berühmten Philologen Georg Friedrich Benecke hörte, reagierte Heine verärgert auf die geringen Teilnehmerzahlen: »Unter 1300 Studenten, worunter doch gewiss 1000 Deutsche, sind nur 9, die für die Sprache, für das innere Leben und für die geistigen Reliquien ihrer Väter Interesse haben. O Deutschland! Land der Eichen und des Stumpfsinnes!«8 Und doch fühlte sich Heine seiner Verbindung offenbar so verpflichtet, dass er Anfang Dezember 1820 die Provokation eines Kommilitonen, der sich ihm als Mitglied einer der überwiegend aus Adeligen bestehenden konservativen Landsmannschaften vorstellte, mit der Forderung nach einem Pistolenduell quittierte, trotz des Risikos, das ein solches Duell für seine Universitäts laufbahn bedeutete. Der Hergang dieser Duellforderung ist in der protokollierten Aussage Heines vor dem Göttinger Universitätsgericht vom 4. Dezember festgehalten: Er, Heine, habe beim Mittagessen in dem Wirtshaus »Zum Englischen Hof« (heute Jüdenstraße Nr. 35) mit einem Studenten namens Wilhelm Wiebel einen Streit über die Frage begonnen, »ob eine Verbindung von Studenten die andere in Verruf erklären dürfe«, wobei Heine die Position vertrat, dies sei eine »Schweinerey«. Als Wiebel vom Nachbartisch aufsprang und energisch die Gegenposition vertrat, muss sich eine lautstarke Konfrontation ergeben haben, die zunächst geschlichtet werden konnte – aber am darauffolgenden Tag ließ Heine W iebel über einen Bekannten zum Duell auf Pistolen fordern; als Ort wurde Hannoversch Münden festgelegt.9 Allerdings erfuhr der Prorektor und Orientalistik-Professor Thomas Christian Tychsen von der Affäre, woraufhin gegen die beiden Kontrahenten Stubenarrest verhängt und das Duell verhindert wurde.10 Am 23. Januar 1821 fällte das Universitätsgericht sein Urteil: Über Heine wurde ein consilium abeundi, ein Studien- und Aufenthaltsverbot, von einem halben Jahr verhängt.11 »Nur unter dem Vorwand, daß ich zu krank sei, das Zimmer zu verlassen«12, wurde 50
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es ihm erlaubt, noch ein paar Tage in der Stadt zu bleiben, sodass er Göttingen erst am 7. Februar verlassen musste. An diesem Tag wurde ihm zudem sein Ausschluss aus dem Göttinger »Burschenhaus« mitgeteilt13 – und das, obwohl Heine seine Strafe aufgrund seines Einsatzes für die Interessen dieser seiner Verbindung er halten hatte. Der Ausschluss erfolgte angeblich aufgrund eines »Vergehens gegen die Keuschheit, begangen in der ›Knallhütte‹ bei Bowenden«14, einem unter Studierenden beliebten Bordell nördlich von Göttingen, das von Heine wohl tatsächlich besucht worden war. In der biografischen Forschung besteht jedoch Konsens, dass Heines Ausschluss in Wahrheit von antisemitischen Ressentiments motiviert war. So verweist Eberhard Galley auf einen geheimen Burschentag, der kurz vor Heines Ankunft in Göttingen, im September 1820, in Dresden stattgefunden hatte: Dort wurde eine Art Verfassung für die gesamte Burschenschaft beschlossen, der zufolge fortan Juden »als solche, die kein Vaterland haben und für unseres kein Interesse haben können«, als »nicht aufnahmefähig« gelten sollten.15 Zwar argumentieren andere Heine-Biografen, wie z. B. Kerstin Decker, nichts würde dafür sprechen, dass Heines Kommilitonen von dessen Judentum gewusst haben.16 Das ist richtig. Heine dürfte ja bereits in Bonn klar geworden sein, dass er seine Konfession geheim halten musste, wollte er die deutschnationalen Burschenschafter nicht gegen sich aufbringen. Aber Göttingen war (und ist) klein, Gerüchte verbreiteten sich rasch, und der Schutz von Persönlichkeitsrechten war im Königreich Hannover ohnehin nicht garantiert (Heine beklagte sich dann auch, dass seine Briefe vor der Zustellung geöffnet worden waren).17 Es könnte daher schon genügt haben, dass die Burschenschafter über Umwege Heines Verbindung zu seinem Onkel Salomon, der damals einer der reichsten Männer Deutschlands und somit nicht unbekannt war18, in Erfahrung brachten, um seine jüdischen Wurzeln zu entdecken. Das alles muss zwar letztlich Spekulation bleiben – aber so oder so ist festzuhalten, dass die Göttinger Ereignisse einen tiefen Einschnitt in Heines Leben markierten, der, wie Jochen Hörisch urteilt, den Beginn einer »produktiven Traumatisierung« darstellt: Hier, in Göttingen, »muß Heine lernen, sich in jeder Hinsicht als Ausgeschlossenen, als Exilierten zu erfahren.«19 Heines Frustration über diese Erfahrung wird deutlich, wenn man sich eines der Heinrich Heine und die Göttinger Duellaffäre
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nicht für den Druck bestimmten lyrischen Erzeugnisse aus der ersten Göttinger Periode anschaut: »Der Weltlauf ist’s: den Würd’gen sieht man hudeln, Der Ernste wird bespöttelt und vexirt, Der Muth’ge wird verfolgt von Schnurren, Pudeln, Und Ich sogar – ich werde konsilirt.«20 Es wird vermutet, dass Heine zu Beginn seiner folgenden Berliner Studienzeit noch einmal versucht hat, in eine dortige Burschenschaft einzutreten – um abermals wegen seines Judentums abgelehnt zu werden.21 So verwundert es nicht, dass er sich in der Folgezeit eindeutig gegen seine einstigen Freunde wendet. In seinen 1922 im Rheinisch-Westfälischen Anzeiger erscheinenden »Briefen aus Berlin« mokiert er sich plötzlich über jene »winzigen, breitschwatzenden Freiheitshelden in ihrer aschgrauen Armseligkeit« und mit ihren »roten Mützen«, für deren Ehre er knapp zwei Jahre zuvor noch zu sterben bereit gewesen war.22 Hier, in den »Briefen«, bekennt sich Heine nun endgültig zu einem universalistischen Republikanismus, von dem er nicht zuletzt mit Blick auf die Ereignisse auf dem Wartburgfest von 1817 schon zuvor gewusst haben musste, dass er sich mit den nationalliberalen Ideen der Burschenschaftsbewegung nicht vereinbaren ließ: »Ich liebe Deutschland und die Deutschen; aber ich liebe nicht minder die Bewohner des übrigen Teils der Erde, deren Zahl vierzig Mal größer ist, als die der Deutschen. Die Liebe gibt dem Menschen seinen Wert. Gottlob! ich bin also vierzig Mal mehr wert als jene, die sich nicht aus dem Sumpfe der Nationalselbstsucht hervorwinden können und die nur Deutschland und die Deutschen lieben.«23 Der Entschluss, mit seinem Bekenntnis zum Universalismus der Französischen Revolution auf direkten Konfrontationskurs zu den Altdeutschen zu gehen – auf die Gefahr hin, sich innerhalb der liberalen Bewegung politisch zu isolieren –, ist zweifellos eine direkte Folge der Strapazen, die er bei seinem ersten Göttingen-Aufenthalt hatte erleben müssen. Diese Ereignisse prägten Heine sein ganzes Leben lang. Wenn er über Göttingen schrieb, dann nur, um die Stadt als Schablone für geistlose Pedanterie und fremdenfeindlichen Chauvinismus zu benutzen. Als er Jahrzehnte später im französischen Exil über die Beharrlichkeit »jene[s] beschränkte[n] Teutomanismus« klagte, 52
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der »nichts anders war als Haß des Fremden und dessen Glaube nur in der Unvernunft bestand«, waren es nicht selten seine Erlebnisse »im Bierkeller zu Göttingen«, die er als Beweise vorbrachte. Dort, so Heine, »mußte ich einst bewundern, mit welcher Gründlichkeit meine altdeutschen Freunde die Proskripzionslisten anfertigten, für den Tag wo sie zur Herrschaft gelangen würden. Wer nur im siebenten Glied von einem Franzosen, Juden oder Slawen abstammte, ward zum Exil verurteilt.«24
Anmerkungen 1 Vgl. Jan-Christoph Hauschild/Michael Werner, »Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst«. Heinrich Heine: Eine Biographie, Köln 1997, S. 106. 2 Heinrich Heine, Die Harzreise, in: ders., Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Säkularausgabe, Bd. 5: Reisebilder I. 1824–1828, hg. von der Stiftung Weimarer Klassik und dem Centre National de la Recherche Scientifique in Paris, Berlin 1970, S. 8 u. S. 56. Im Folgenden als HSA. 3 Brief an Friedrich Steinmann und Johann Baptist Rousseau vom 29.10. 1820, in: HSA Bd. 20, S. 28. 4 Vgl. Wilfried Barner, Der ignorierte »Maulkorb«. Heinrich Heines Göttinger »Schriftstellerei«, in: Volker Lipp u. a. (Hg.), Heinrich Heine. Dichter und Jurist in Göttingen, Göttingen 2007, S. 9–31, hier S. 13 f. 5 Vgl. Eberhard Galley, Heine und die Burschenschaft. Ein Kapitel aus Heines politischem Werdegang zwischen 1819 und 1830, in: Heine-Jahrbuch 1972, S. 66–95, hier S. 70. 6 Vgl. Jost Hermand, Eine Jugend in Deutschland. Heinrich Heine und die Burschenschaft, Berlin 2002, S. 4, online einsehbar unter http://www. burschenschaftsgeschichte.de/pdf/hermand_heine_und_die_burschen schaft.pdf [eingesehen am 07.06.2015]. 7 Vgl. ebd., S. 6. 8 Brief an Friedrich von Beughem vom 09.11.1820, in: HSA Bd. 20, S. 33. 9 Zit. nach Michael Werner (Hg.), Begegnungen mit Heine. Berichte der Zeitgenossen, Bd. I, Hamburg 1973, S. 44 f. 10 Vgl. ebd.; Fritz Mende, Heinrich Heine: Chronik seines Lebens und Werkes, Stuttgart 1981, S. 21. 11 Vgl. Werner, S. 48. 12 Brief an Friedrich Steinmann vom 04.02.1821, in: HSA Bd. 20, S. 35. 13 Vgl. Jochen Hörisch, Heine in Göttingen. Geschichte einer produktiven Traumatisierung, in: Heine-Jahrbuch 1984, S. 9–21, hier S. 11. 14 Zit. nach Werner, S. 49. 15 Zit. nach Galley, S. 71. 16 Vgl. Kerstin Decker, Heinrich Heine: Narr des Glücks, Berlin 2007, S. 68. Heinrich Heine und die Göttinger Duellaffäre
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17 Vgl. Brief an Friedrich Steinmann und Johann Baptist Rousseau, in: HSA Bd. 20, S. 31. 18 Vgl. Rolf Hosfeld, Heinrich Heine. Die Erfindung des europäischen Intellektuellen, München 2014, S. 37. 19 Hörisch, S. 11. 20 Auf den 29.01.1821 datiertes Gedicht, abgedruckt in: HSA Bd. 1, S. 251. 21 So Galley, S. 73. 22 Zit. nach Hermand, S. 7. 23 Zit. nach ebd. 24 HSA Bd. 9, S. 347. Auch am Ende seiner Abhandlung »Religion und Philosophie in Deutschland« erinnert sich Heine an eine solche Göttinger Bierkeller-Szene, in der ihm »ein junger Altdeutscher« mitgeteilt habe, »daß man Rache an den Franzosen nehmen müsse für Konradin von Staufen, den sie zu Neapel geköpft« (HSA Bd. 8, S. 230). Vgl. dazu auch Hörisch, S. 13.
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Danny Michelsen
Bismarck und seine Ausschweifungen als Student (1832/33) von Otto-Eberhard Zander
»Weit wichtiger als Studium und Universität, von der er [Bismarck, Anm. d. V.] rückblickend denn auch meinte, man lerne in dieser ›heillosen Anstalt‹ nichts als die ›Gesundheit zu verwüsten und ein nichtsnutziges Leben zu führen‹, waren ihm andere Dinge: […] die Vergnügungen des ungebundenen studentischen Daseins.«1 »Die Stadt Göttingen, berühmt durch ihre Würste und Universität, […] ist schön und gefällt einem am besten, wenn man sie mit dem Rücken ansieht.«2 Mit diesen Worten beschreibt Heinrich Heine in seinem Buch »Die Harzreise« im Jahre 1824 die Stadt der Georg-August-Universität, an der er studiert hatte und wo sich im Jahre 1832 der pommersche Abiturient3 Otto von Bismarck immatrikulierte. Die Georgia Augusta galt seinerzeit als das Zentrum der »englischen Aufklärung« auf dem europäischen Kontinent.4 In seinen Gedanken und Erinnerungen schreibt Bismarck: »Als normales Product unsres staatlichen Unterrichts verließ ich Ostern 1832 die Schule als Pantheist, und wenn nicht als Republikaner, doch mit der Überzeugung, daß die Republik die vernünftigste Staatsform sei […]. In mein erstes Semester fiel die Hambacher Feier (27. Mai 1832), deren Festgesang mir in Erinnerung geblieben ist […].«5 Von dem Hambacher Fest hat sich der junge Studiosus allerdings wenig beeindrucken lassen und er widmete sich auch kaum dem Studium, eher »führte er zwischen Kneipen und Paukböden das freie Leben eines Korpsstudenten«6. Eine etwas vornehme Umschreibung der skandalträchtigen Studentenzeit des 17-jährigen Bismarck durch den amerikanischen Histo riker Otto Pflanze, wie noch zu zeigen sein wird. »Langsam schreitet über den Marktplatz mit affektierter Feierlichkeit ein junger Mann […], mit hellem Schlafrock angetan […]. Bismarck und seine Ausschweifungen als Student
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So nähert er sich der Hochschule von Göttingen, um dort vor den Richter zu treten, der den Studenten wegen auffälliger Haltung und Kleidung vorgeladen hatte.«7 Dieser Aufzug des Studenten Otto von Bismarck hatte einem Pedell der Universität missfallen und dieser hatte Bismarck wegen anstandswidriger Kleidung angezeigt. Bei dem Termin vor den Richtern hatte Bismarck nun wieder seinen langen Rock, ähnlich einem Schlafrock, angezogen und diese Bekleidung wortreich vor dem Richterkollegium verteidigt. »Er wurde dann von der akademischen Obrigkeit mit der wohlmeinenden Mahnung entlassen, sich künftig in einer mehr gebräuchlichen Kleidung auf der Straße sehen zu lassen.«8 Nach dem Termin beim Universitätsgericht traf er an der Kreuzung Theaterstraße/Weender Straße einige Studenten des Corps Hannovera, die sich über den Aufzug Bismarcks mokierten und lauthals lachten. »Der Rockbesitzer wandte sich um, nannte seinen Namen und sagte: ›Sie sind alle dumme Jungen‹ (der damals übliche Tusch, auf den eine Forderung folgen mußte).«9 Die friedliche Beilegung des nicht vollzogenen Duells hatte zur Folge, dass Bismarck, der wohl auf die damaligen Kontrahenten einen nachhaltigen Eindruck gemacht haben muss, sich zur Aufnahme in das Corps Hannovera vorschlagen ließ und sich dort intensiv am Verbindungsleben beteiligte. Als Mitglied dieses Corps »hat der hochaufgeschossene Pommer – ein seltsames Gemisch von imponierendem Ernst und burschikosem Lebensüberschwang – das bramarbasierende Studentenleben jener Kreise geführt, das aus Kommersen, lustigen Streichen, Raufhändeln, Mensuren – Bismarck selbst hat nicht weniger als achtundzwanzig Partien geschlagen – bestand. Konflikte mit der Universitätsbehörde ge hörten zum guten Ton.«10 Neben dem Verbindungsleben widmete er sich aber kaum dem Studium der Jurisprudenz, hörte wohl die eine oder andere Vorlesung beim Göttinger Professor Arnold Heeren, genoss gleichwohl die studentische Freiheit in vollen Zügen. »Da habe ich […] wie ein junges Füllen nach hinten und nach vorn ausgeschlagen«, so Bismarck im Rückblick auf seine Göttinger Semester.11 Wie er denn auch in Göttingen etliche Liebschaften hatte, »wobei er nach eigenem Bekunden ›dem Naturtriebe ohne große Skrupel‹ folgte«12. Aber nicht nur durch diese von ihm selbst eingestandene bisweilen exzessive Lebensführung machte der junge Bismarck in 56
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der behäbigen und geordneten Universitätsstadt Göttingen von sich reden, bisweilen überspannte er auch durch übermäßigen Alkoholkonsum den Bogen der akademischen Freizügigkeit und wurde »bald als mächtiger Trinker bekannt«13, der »innerhalb nur kurzer Zeit erhebliche Schulden an[häufte]«14 und damit seinen Eltern nicht unerhebliche Sorgen bereitete.15 Aber die Trinkgewohnheiten des jungen Otto von Bismarck werden wohl auch mit auf biografische Einflüsse, insbesondere auf seinen Vater, zurückzuführen sein, der dem Alkohol munter zusprach und Wein und andere Alkoholika zu Therapiezwecken gebrauchte.16 Bismarck ging keinem Streit aus dem Wege, lebte in gleichsam – gelinde gesagt – jugendlicher Unbeschwertheit und soll nach der Rückkehr von einer Harzwanderung »ein feuchtfröhliches Mahl in der Göttinger ›Krone‹ gehalten haben, bei dem er eine Flasche aus dem Fenster warf, wofür er den ersten Verweis der akade mischen Behörde erhielt«17. Später befreundete er sich auch mit etlichen Studenten und hier insbesondere mit dem Amerikaner John Lothrop Motley, der Historiker wurde und als Diplomat u. a. Gesandter der Vereinigten Staaten von Nordamerika in Wien war. Motley, am 1. April 1814 geboren, also auf den Tag ein Jahr älter als Bismarck, lernte diesen »zusammen mit anderen Studienanfängern kennen, die eine ›Bierreise‹ unternahmen, deren Zweck es war, sich in so vielen Städten wie möglich zu betrinken«18. Wenngleich sich Motley intensiver dem Studium widmete als sein Kommilitone Otto von Bismarck, denn »er war an die Universität gekommen um zu lernen und er fand sie wie die Stadt unbefriedigend. 1832 schrieb er an seine Eltern, dass es ›sich keinesfalls lohnt in Göttingen zu bleiben, weil die meisten Professoren, die Ornamente der Stadt waren, entweder tot oder hinfällig sind und die Stadt selbst ausgesprochen langweilig‹«19. Zumindest in dieser Einschätzung der Stadt Göttingen und der Georgia Augusta hat sich Motley nahezu in Übereinstimmung mit Heinrich Heine befunden.20 Auch wenn Motley ein strebsamerer Student war als sein Freund Bismarck, so war er doch kein Spielverderber bei studentischen Streichen. Er soll mit Bismarck Straßenlaternen zertrümmert haben. »Beide wurden wegen Mangels an Beweisen freigesprochen.«21 Einen zweiten Verweis erhielt Bismarck wegen Hausfriedensbruch und der Bedrohung eines Kommilitonen: »Nach einem Besuch bei Freunden in einem Haus am Markt Bismarck und seine Ausschweifungen als Student
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war Bismarck in das Zimmer eines gleichfalls dort wohnenden Studenten aus Altona, der schon im Bette lag, eingedrungen und hatte diesem unbarmherzig Furcht eingejagt.«22 Anfang des Jahres 1833 bemühte sich Bismarck als Vermittler bei einem Pistolenduell zwischen zwei Studenten. Das Duell fand in einer Kneipe in der Nähe Göttingens statt und ging glimpflich aus – ohne Verwundung der Kontrahenten. Die Richter urteilten nachsichtig – vielleicht eingedenk möglicher eigener Verfehlungen während der Studienzeit23 – und schickten den jungen Studenten in den Karzer, wo dieser sich dann auch mit einer Inschrift verewigte.24 Bevor Bismarck allerdings eine weitere verhängte Karzerstrafe antrat, war er bereits in Berlin und schrieb im November 1833 an den Prorektor der Göttinger Universität: »Eure Magnificenz hatten die Güte, eine mir zuerkannte Karzerstrafe bis nach […] den Michaelisferien aufzuschieben. Jetzt nötigt mich ein neuer Rückfall meiner Krankheit […] hier zu bleiben und meine Studien fortzusetzen, da meine ohnehin geschwächte Gesundheit eine so weite Reise nicht tunlich erscheinen lässt. Aus diesem Grund ersuche ich […] um Erlaubnis meine Karzerstrafe hier statt in Göttingen abhalten zu dürfen. Euer Magnificenz unterthänigster Otto von Bismarck, Stud. jur.«.25 Dieser Brief des gerade einmal 18-jährigen Studenten Otto von Bismarck lässt bereits die exzellente Formulierungskunst des späteren Politikers und Staatsmannes erkennen, eine Formulierungskunst, die in einer Vielzahl von Schriftstücken, Depeschen, Briefen zum Ausdruck kommt.26 Im vorliegenden Fall war sie ein Mittel zum Zweck, sich Annehmlichkeiten hinsichtlich der Vollstreckung der Karzerstrafe zu erkaufen. Eines der Bismarck sehr gut zu Gebote stehenden Mittel, sich als »Skandalisierter« zur Wehr zu setzen. Es bleibt festzustellen, dass der junge Student Bismarck in den knapp eineinhalb Jahren der Zeit in Göttingen sich ohne Zweifel skandalträchtig verhalten hat, und die dargestellten Verhaltensweisen bewegten sich mit Sicherheit zur damaligen Zeit außerhalb der Norm eines ehrbaren Studenten. Dafür sprechen die zwei Verweise, mehrere Vorladungen vor Gericht, die Verhängung von Strafen und schließlich auch die Ausquartierung aus der Wohnung in der Roten Straße in das Haus am Wall27, unmittelbar an der Stadtgrenze Göttingens am Leinekanal gelegen. 58
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Bismarck als Student in Göttingen – Corpsbruder Gustav Scharlach fertigte eine Bleistiftskizze seines spä‑ ter berühmt gewordenen Kommilitonen an.
An Selbstbewusstsein mangelte es dem jungen Bismarck allerdings in dieser Zeit durchaus nicht; zu einem Corpsbruder soll er sich wie folgt geäußert haben: »Weißt Du, Scharlach, ich werde entweder der größte Lump oder der erste Mann Preußens.«28 Und Bismarcks künftiger Lebensweg wird zeigen, dass er das Ziel, erster Mann Preußens zu werden, wenn auch auf Umwegen, erreichte. Ende 1833 verließ Bismarck Göttingen und wechselte zum Studium nach Berlin. Dort bestand er das Examen und war von 1835 bis 1838 Referendar in Berlin und Aachen. Die Lebensweise in Göttingen muss aber nachhaltige Spuren hinterlassen haben, denn die Bürotätigkeit eines Beamten behagte ihm nicht und so bewirtschaftete er ab 1838 für mehr als zehn Jahre die Güter Kniephof und Schönhausen. Die Eheschließung mit Johanna von Puttkamer im Jahre 1847 wird beruhigend auf sein unstetes Temperament gewirkt haben, denn im gleichen Jahr wurde Bismarck Mitglied des preußischen Vereinigten Landtages und ab 1849 Mitglied der Bismarck und seine Ausschweifungen als Student
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zweiten preußischen Kammer. Weitere Stationen waren dann Gesandter am Bundestag in Frankfurt am Main, ab 1859 (bis 1862) in gleicher Funktion in St. Petersburg. Eine kurze Tätigkeit als Gesandter in Paris endete jäh, als ihn Prinzregent Wilhelm zum preußischen Ministerpräsidenten berief. Über die Kriege 1864, 1866 und 1870/71 gelang es ihm, das Deutsche Reich unter Preußens Führung zu schaffen und dem preußischen König die Kaiserwürde zu verleihen. Nach 1871 suchte es das Erreichte durch eine komplizierte Bündnispolitik zu sichern, bis ihn im Jahre 1890 Kaiser Wilhelm II . nach massiven Meinungsverschiedenheiten als Reichskanzler entließ. In einer österreichischen Zeitung hieß es: »Sein Maßhalten im Siege, diese Umwandlung eines alten, tiefverwundeten Gegners in einen verlässlichen Bundesgenossen, wird immer als einer der meisterhaftesten Züge seiner Staatskunst angesehen werden.«29 Der Franzose Paul de Cassagnac schrieb nach Bismarcks Rücktritt: »Das Himmelsgewölbe wären uns nicht erhaben genug, um einen Mann darunter zu stellen, der uns solche Dienste geleistet hätte.«30 Und im gleichen Jahr äußerte der französische Botschafter Herbette zur Person Bismarcks: »Die geringsten Worte dieses außergewöhnlichen Mannes verdienen aufgezeichnet zu werden.«31 Und so mögen einige wenige Äußerungen von Bismarck dessen politische Weitsicht belegen, Einsichten, die auch heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben. »Leider ist die Jagd auf Wählerstimmen stärker als die einsichtige und vernünftige Erwägung dessen, was zu tun ist.«32 Und auf das Thema Frauen und Politik angesprochen, äußerte Bismarck: »Ich bedaure stets, daß unserer besseren Hälfte des menschlichen Geschlechts nicht mehr Einfluß auf die politischen Verhältnisse gestattet ist.«33 Die Handhabung seiner Staatskunst hinsichtlich der Grenzen politischen Handelns und Einwirkens zeigt sich in einer Äußerung aus dem Jahre 1895: »Der Mensch kann den Strom der Zeit nicht schaffen und nicht lenken, er kann nur darauf hinfahren und steuern.«34 Und auf dem Strom der Zeit hat Otto von Bismarck das Staatsschiff vor mehr als einhundert Jahren erfolgreich gesteuert. Zwei seiner großen Nachfolger – und nicht nur diese – sehen ihn allerdings kritisch. So sagte Konrad Adenauer: »Ich gehöre nicht zu Bismarcks Bewunderern, denn er ist der Hauptverantwortliche dafür, daß die Demokratie im deutschen Kaiserreich 60
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sich nicht entfalten konnte.«35 Und Willy Brandt wird nachstehende Aussage zugeschrieben: »Für die demokratische Entwicklung Deutschlands war Bismarck jedenfalls ein Unglück.«36 Diese kurzen biografischen Ausführungen zu Otto von Bismarck und Äußerungen von ihm und über ihn mögen im Kontext der skandalträchtigen Göttinger Studienzeit des späteren großen Staatsmannes hier genügen. Einer der vom Kaiser am 14. März 1890 Bismarck gemachten Vorwürfe, die dann zu Bismarcks Entlassungsgesuch führten, war, dass Bismarck ohne kaiserliche Genehmigung den Abgeordneten Ludwig Windthorst empfangen hatte.37 Dieser Ludwig Windthorst war 1832/33 Kommilitone von Bismarck an der Georgia Augusta. Im Jahre 1832 wohnten beide Studenten zweihundert Meter auseinander: Bismarck in der Roten Straße 27 und Windthorst im traditionsreichen Restaurant »Zum Schwarzen Bären« in der Kurzen Straße. Mit Sicherheit werden sich die beiden Studenten, die später zu erbittertsten politischen Gegnern wurden, auf der Weender Straße oder in der Universität begegnet sein. Für die Zuschauer werden beide ein etwas komisches Bild abgegeben haben, wenn sie sich denn begegneten, zumal der über einen Meter neunzig große Bismarck seinen Kommilitonen Windthorst um fast einen halben Meter überragte, denn Windthorst war von sehr kleiner Gestalt.38 Es hat nahezu tragikomische Züge, dass mehr als ein halbes Jahrhundert später die beiden Studenten der früheren Jahre in Göttingen sich am Ende der politischen Karriere des Reichsgründers wieder begegneten. Auf die Frage eines britischen Schriftstellers im Jahre 1891 hinsichtlich seiner Lebenserwartung, dass er – Bismarck – doch das Alter von Kaiser Wilhelm und Feldmarschall Moltke erreichen könne – beide wurden neunzig Jahre alt –, antwortete er: »Ach nein […]. Moltke war sein ganzes Leben ein in jeder Beziehung sehr mäßiger Mann, während ich mein Licht immer an beiden Enden gebrannt habe, besonders in meinen jüngeren Tagen.«39 Wie die Darstellung der eineinhalb Jahre studentischen Lebens Otto von Bismarcks in den Jahren 1832 und 1833 deutlich gemacht hat, wird der spätere große Staatsmann mit den vorstehenden Worten sicherlich auch die Zeit in Göttingen gemeint haben. Und auch wenn diese Zeit von Skandalen geprägt und mitunter strafwürdig war, so hat es sich die Stadt Göttingen doch nicht nehmen Bismarck und seine Ausschweifungen als Student
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lassen, dem ehemaligen »skandalträchtigen« Studenten der Georgia Augusta am 15. März 1877 die Ehrenbürgerwürde der Stadt zu verleihen.40 Anlässlich der Namensverleihung des Bismarckturmes im Göttinger Stadtwald am 18. Juni 1896 schrieb der ehemalige Reichskanzler – zu jenem Zeitpunkt ja bereits Ehrenbürger der Stadt – dem Baukomitee des Turmes: »Ich danke für die Ehre, welche mir durch die Benennung erzeigt wird […].«41
Anmerkungen 1 Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionär, Frankfurt am Main 1980, S. 35. 2 Zit. nach Gert Woerner, Kleine Lektüre für hellwache Göttinger, München o. J., S. 57. 3 Vgl. Ernst Engelberg, Bismarck, Bd. 1: Urpreuße und Reichsgründer, Berlin 1989, S. 104. Im Entlassungszeugnis hieß es unter der Rubrik Fleiß: »War zuweilen unterbrochen, auch fehlte seinem Schulbesuch unausgesetzte Regelmäßigkeit«. 4 Vgl. Jonathan Steinberg, Bismarck. Magier der Macht, Berlin 2015, S. 59. 5 Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, Bd. 1, Stuttgart 1898, S. 1 f. 6 Otto Pflanze, Bismarck. Der Reichsgründer, München 1997, S. 54. 7 Emil Ludwig, Bismarck, München 1975, S. 24. 8 Franz Stadtmüller, Otto von Bismarck als Student in Göttingen 1832/33 und seine späteren Beziehungen zu seinem Corps Hannovera, zur Georgia Augusta und zur Stadt, in: Göttinger Jahrbuch, Bd. 8 (1960), S. 89–104, hier S. 93. 9 Ebd., S. 93. Diese Forderung nach einer sogenannten Contrahage war den Angehörigen des Corps Hannovera, die bereits in höheren Semestern waren, nicht angenehm und so wurde der Streit friedlich beigelegt. 10 Richard Carstensen, Bismarck. Anekdotisches, München 1985, S. 15. 11 Zit. nach Rainer F. Schmidt, Bismarck. Realpolitik und Revolution, München 2006, S. 15. 12 Ebd., S. 15. 13 Hans-Christof Kraus, Bismarck. Größe – Grenzen – Leistungen, Stuttgart 2015, S. 19. 14 Ebd. 15 Vgl. Stadtmüller, S. 97. 16 Nachzulesen unter http://www.fc-eichenberg.de/epitaphien/doc11.htm [eingesehen am 14.06.2015]. 17 Stadtmüller, S. 91. 18 Steinberg, S. 61. 19 Ebd., S. 60.
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Vgl. Woerner, S. 58. Stadtmüller, S. 100. Ebd. Vgl. Woerner, S. 11. »Extra Gottingam non est vita, si est vita, non est ita.« (›Außerhalb Göttingens kann man nicht leben, wenn aber doch, dann nicht so gut.‹) Dieser Spruch ist heute im Eingangsbereich des ehemaligen Ratskellers am Markt (heute Restaurant »Bullerjahn«) angebracht und erinnert an die Stätte studentischen Frohsinns von der Mitte des 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Vgl. Stadtmüller, S. 100. »Er erhielt zehn Tage Karzer und einen elften Tag, weil er auf die erste Ladung nicht erschien.« (ebd.) Duelle waren verboten, und Verstöße gegen dieses Verbot wurden streng geahndet. Zit. nach Steinberg, S. 64. Vgl. Sidney Whitman, Fürst von Bismarck. Persönliche Erinnerungen an den Fürsten Bismarck, Stuttgart 1902, S. 80. Dieses Haus – das »Bismarckhäuschen« – erinnert neben dem Bismarckturm auf dem Göttinger Hainberg (erbaut von 1892 bis 1896) neben der dorthin führenden Bismarckstraße an den im wahrsten Sinne des Wortes großen – und langen – Studenten. Ebenfalls, am Ende des Göttinger Hainberges in der Nähe der Herzberger Landstraße, gibt es den – mittlerweile baufälligen – »Bismarckstein«, einen wuchtigen Bau mit dem Plateau einer Feuerstelle, wo man sich bis in die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nach durchfeierter Nacht oft traf. Wegen des Volumens der Baumasse des Bismarcksteines wurde und wird dieses Bauwerk heute im studentischen Jargon noch »Elefantenklo« genannt. Zit. nach Whitman, S. 98. Zit. nach Carstensen, S. 55. Zit. nach Whitman, S. 174. Zit. nach Robert Imgrim, Bismarck selbst. Tausend Gedanken des Fürsten Otto von Bismarck, Stuttgart 1950, S. 9. Zit. nach Uwe Greve (Hg.), Otto von Bismarck. Die Kunst des Möglichen, Husum 1981, S. 48. Zit. nach Imgrim, S. 280. Zit. nach ebd., S. 40. Zit. nach Walter Henkels, … gar nicht so pingelig meine Damen und Herren … Neue Adenauer-Anekdoten, Düsseldorf 1965, S. 41. Zit. nach Wolfgang Schmidt, Otto von Bismarck im Urteil Willy Brandts, in: Ulrich Lappenküper (Hg.), Otto von Bismarck im Urteil deutscher Bundeskanzler, Friedrichsruh 2009, S. 31–58, hier S. 47. Vgl. Holger Afflerbach u. a. (Hg.), Otto von Bismarck. Gesammelte Werke. Gedanken und Erinnerungen. Neue Friedrichsruher Ausgabe, Paderborn 2012, S. 461 f. Am Haus in der Roten Straße ist heute noch eine Tafel zu sehen: »Otto von Bismarck Reichskanzler 1832–1833«, am Haus in der Kurzen Straße: »Ludwig Windthorst 1832–1833«. Zit. nach Whitman, S. 65. Bismarck und seine Ausschweifungen als Student
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40 Nachzulesen unter http://www.stadtarchiv.goettingen.de/texte/ehren buerger.htm [eingesehen am 14.06.2015]. 41 Zit. nach o. V., Der gründerzeitliche Bruchsteinbau. Der Bismarckturm im Göttingen, online einsehbar unter http://www.bismarcktuerme.de/ ebene4/nieders/goett1.html [eingesehen am 31.03.2015].
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Die Göttinger Sieben und der hannoversche Verfassungskonflikt 1837 von Lars Geiges
Die Weender Straße wogte von Studierenden.1 Der Aufforderung, sich zu zerstreuen, kamen die zornigen Studenten nicht nach. Verhaftungen schon am frühen Nachmittag. Bis zur Dämmerung war die Nachricht durch die ganze Stadt gegangen und erregte lebhafte Teilhabe. Bestürzung, Neugierde, Trauer trieben viele auf die Gasse. Zahlreiche Studentengruppen zogen durch die Straßen. Sie marschierten in Richtung Goetheallee, zum Haus der Brüder Grimm. Sie liefen weiter zum Geismar Tor, an dem Heinrich Ewald wohnte. Sie machten sich auf zum Weender Tor, vor dem Friedrich Dahlmann und Wilhelm Eduard Albrecht lebten. Allein die Tore waren gesperrt. Mit gezogenen Säbeln marschierten Landdragoner durch die Menge. Pedelle mahnten im Namen des Prorektors zur Ruhe und forderten die Studenten auf, sich nach Hause zu begeben. Die Torwachen waren doppelt und mehrfach besetzt und sollten es noch einige Tage bleiben. Lärmposten wurden bis nach Weende hin aufgestellt; Garde du Corps von Northeim her beordert. Das Universitätsgefängnis war längst überfüllt. Einige verhaftete Studenten sperrte man kurzerhand in die Aula. Erst gegen 19 Uhr beruhigte sich die Lage, die Tore aber blieben vorerst geschlossen. 909 junge Männer waren im Wintersemester 1837 in Göttingen immatrikuliert. Viele von ihnen waren an diesem 12. Dezember auf den Straßen der Stadt unterwegs. Sie wollten ihre Wut rauslassen, irrten letztlich jedoch ziellos umher und beendeten den Abend zumeist in den Bierkellern der Stadt, wo Frust und Enttäuschung literweise ihre Hälse hinunterflossen. Für sie Unvorstellbares war geschehen: Sieben von ihren hoch angesehenen Professoren mussten die Universität verlassen. Sie hatten gegen die Aufhebung der Verfassung des Königreiches Hannover durch Ernst August I. protestiert und mussten deshalb am Mittag ihre Die Göttinger Sieben und der Verfassungskonflikt
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Entlassungsurkunden entgegennehmen, die Universität verlassen. Der König verwies drei von ihnen – die Historiker Dahlmann und Georg Gottfried Gervinus sowie den Juristen und Germanisten Jacob Grimm – gar des Landes. In den Augen (nicht nur) der Studenten ein unerhörter Vorgang, ein bodenloser Akt der Willkür des Monarchen, ein Skandal. Knapp einen Monat zuvor hatte die Gruppe Göttinger Gelehrter einen Protestbrief verfasst und verbreitet, in dem sie sich gegen das Vorhaben Ernst Augusts aussprach, die hannoversche Verfassung von 1833, das sogenannte Staatsgrundgesetz, zu ändern. Der König war entschlossen, diese relativ freiheitliche Verfassung wieder zu revidieren. Sie hatte dem Bürgertum sowie dem Bauernstand Zugang zur Ständeversammlung garantiert, eine beschränkte Ministerverantwortung eingeführt sowie das Haushaltsrecht neu ausgerichtet, indem eine »Generalsteuerkasse« etabliert wurde, die der Ständeversammlung – und nicht mehr allein dem Königshaus – unterstand. Das wollte Ernst August wieder zu seinen Gunsten umkehren. Im Juni 1837 inthronisiert, kündigte er bereits im Folgemonat in einem »Patent« an, die Verfassung zu ändern. Die Bekanntgabe löste Aufregung aus. Die süddeutschen Landtage sahen die eigenen Rechte bedroht und forderten Einspruch beim Bundestag. Preußen und Österreich mahnten den König von Hannover, nicht vom verfassungsmäßigen Weg abzugehen. Zahlreiche Flugschriften gegen das »Julipatent« erschienen und wiesen darauf hin, dass eine anerkannte wirksame Verfassung nicht der Zustimmung eines neuen Regenten bedürfe. Die deutsche liberale Presse schrieb erbost Berichte des Zorns. Keine Verfassung erschien mehr gesichert. Nur in Hannover selbst blieb es vorerst ruhig. Niemand formulierte öffentlichen Protest.2 Die Georgia Augusta blieb stumm. Im September 1837 fand die große Feier anlässlich ihres hundertjährigen Bestehens statt. Die Universität wollte offenbar ihr pompöses Fest nicht gefährden und schwieg auch deshalb zum Verfassungskonflikt. »[M]an schmauste über Gräbern«, befand Dahlmann3, der »Wortführer der Göttinger Sieben«4. Auch Ernst August war trotz seiner allseits bekannten Geringschätzung für die akademische Welt zur Säkularfeier nach Göttingen gereist, präsentierte sich als soldatischer Befehlshaber, trug Husarenuniform. Auf dem heutigen Wilhelmsplatz weihte er das Denkmal für seinen Bruder und Vorgänger Wilhelm IV. ein.5 66
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Als die Hülle fiel, so berichtete ein Beobachter, drehte der 66-jährige Ernst August »mit scharfer Wendung dem Denkmal den Rücken zu«6. Für viele Studenten und die entstehende frühliberale Öffentlichkeit war der neue König ein Gestriger. Bis zur Übernahme des hannoverschen Throns war er mehr als dreißig Jahre lang Mitglied des englischen Oberhauses gewesen, hatte dort zu den radikalsten Parteigängern der äußersten Rechten gehört – ein robuster Kämpfer für die Vorrechte der Monarchie, der Kirche von England, der herrschenden Schicht. Dabei war Ernst August überaus schlachterprobt. Als junger Reitoffizier hatte er im Koalitionskrieg in den Niederlanden gekämpft. Er sei dort »immer wieder als toller Draufgänger im Handgemenge gewesen, mit dem Säbel, mit dem abgebrochenen Säbel, mit der bloßen Faust«7. Ein Auge hatte er dabei verloren und mehrere Verwundungen davongetragen. Trotz militärischer Meriten war er jedoch nie in die Kommandoführung aufgestiegen, was ihm zugesetzt, ihn zu weiteren Härten gegen sich und andere getrieben hatte. Für alles Schöngeistige, die Kunst und das Gelehrtentum hatte Ernst August dabei wenig übrig. Die Göttinger Professoren bezeichnete er – während der Auseinandersetzung – als »Federvieh der Tintenkleckser«8. Beinahe Legende ist sein Ausspruch bei einem Abendessen mit Alexander von Humboldt einige Jahre nachdem er die Göttinger Sieben entlassen hatte. Ernst August kommentierte deren Fortgang knapp: »Professoren, Tänzerinnen und Huren kann man überall für Geld wiederhaben.«9 Der im 19. Jahrhundert wohl bekannteste Historiker Heinrich von Treitschke notiert über den Charakter des hannoverschen Königs, dass er »mit der einzigen Ausnahme des Selbstmordes […] schon jedes erdenkliche Verbrechen begangen«10 hat. Rudolf Smend beschreibt ihn als »eine der verhaßtesten Figuren des öffentlichen Lebens« Englands. Ernst August sei »brutal und […] intrigant und ein hämischer Zyniker«11. Kurzum: Dass dieser Mann auf einen professoralen Protestbrief harsch reagierte, überrascht nicht, war vielmehr zu erwarten. Vielleicht zögerten auch deshalb die Göttinger Sieben. Denn die Gruppe zog keineswegs forsch gegen den soldatischen Regenten ins Gefecht. Ernst Augusts Pläne waren bekannt, spätestens seit dem Julipatent publik, es gab keinen Anlass, an seiner Entschlossenheit zu zweifeln. Er schuf am 1. November 1837 Tatsachen, Die Göttinger Sieben und der Verfassungskonflikt
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löste die Ständeversammlung auf, erklärte das Staatsgrundgesetz von 1833 für erloschen. Dennoch dauerte es bis Mitte November, ehe die Sieben ihren Widerstand so aufsehenerregend verkündeten. Dem vorangegangen war unter den Göttinger Professoren eine Vielzahl von Korrespondenzen über den adäquaten Umgang mit der neuen Lage. Die Beamten sahen sich in einem Konflikt. Sie fragten sich: War der König überhaupt berechtigt, sie vom Eid auf die 1833er-Verfassung zu entbinden? Müsse nicht ihr Schwur weiterhin gelten? Dürften sie einem König dienen, der die Verfassung bricht? Und wenn sie dies täten, würden sie dann nicht selbst eidbrüchig? Die Ansichten der Professoren waren divers; man schwankte und rang mit sich. Einige unterwarfen sich bereitwillig den neugeschaffenen Umständen, andere sahen die Entwicklung zwar kritisch, wollten jedoch die Universität nicht gefährden und schwiegen daher. Jacob Grimm beschrieb die Positionen der Professorenschaft: »[D]ie Charactere […] fiengen an sich zu entblättern gleich den Bäumen des Herbstes bei Nachtfrost; da sah man viele in nackten Reisern, des Laubes beraubt, womit sie sich in dem Umgang des gewöhnlichen Lebens verhüllten.«12 Auch der erste Versuch einiger Professoren – von den späteren Sieben waren mindestens Jacob Grimm, Albrecht, Ewald und W ilhelm Weber vertreten – scheiterte. Neun Professoren, so berichtet Dahlmann, trafen sich am 11. November im Hause Albrechts – »man wollte sich besprechen«13 –, gingen aber zunächst ergebnislos wieder auseinander. Dennoch bewegte sich ein kleiner Kreis von Professoren. Weber erinnert sich: »Man sprach sich unter Freunden auf Spaziergängen aus; wir haben durchaus kein Geheimnis aus unseren Ansichten gemacht […] und Niemand kann sich beschweren, daß er von unseren Ansichten nichts gewußt hätte. Die Sache lag in der Luft damals; wer sich anschließen wollte, konnte es; aber man wußte, daß man belauert wurde.«14 So entwickelte sich die Entscheidung, sich mit einem Schreiben zu Wort zu melden, gemächlich, wobei Einzelheiten wieder und wieder erörtert, abgewogen wurden. Erst als Dahlmann am Freitag, 17. November, einen Protestbrief an das Kuratorium – nicht an den König direkt – entwarf (»ich habe es nur geradezu so hingeworfen«15), wurde es konkret. Jacob und Wilhelm Grimm waren die ersten Leser des Entwurfes, erhielten ihn am nächsten Morgen. Die drei waren gut miteinander befreundet. Die Grimms 68
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waren 1830 von Kassel nach Göttingen gezogen, bereits acht Tage nach ihrer Ankunft erhielten sie von Dahlmann und seiner Frau eine Abendeinladung. Danach trafen sie sich wöchentlich zu Speis, Trank und Unterhaltung. Dahlmann und Jacob Grimm trugen Gedichte vor, Wilhelm Grimm steuerte »Hampelmanniaden« bei, kleine Frankfurter Lustspiele, die ihm aus seiner südhessischen Jugend vertraut waren.16 Georg Gottfried Gervinus, der die Protestation ebenfalls unterzeichnete, stieß 1836 zu dem Kreis, nachdem er als Professor für Geschichte und Literaturgeschichte nach Göttingen berufen worden war.17 Die übrigen drei Unterzeichner waren gute Bekannte Dahlmanns und der Grimm-Brüder. Der Jurist Wilhelm Eduard Albrecht lehrte Staats- und Kirchenrecht, der Theologe Heinrich Ewald erforschte an der philosophischen Fakultät altorientalische Sprachen. Wilhelm Weber, der siebte Unterzeichner, war Physiker, forschte seit 1831 in Göttingen, ein Schüler und enger Mitarbeiter des berühmten Göttinger Mathematikers und Astronomen Carl Friedrich Gauß. Er war der einzige Naturwissenschaftler unter den Sieben. Die anderen sechs waren Geisteswissenschaftler, Germanisten im erweiterten Sinn, die sich mit der historischen Untersuchung von deutscher Sprache und Kultur, deutschem Recht und deutscher Geschichte im Geiste der Romantik beschäftigten. Man weiß nicht genau, wieso es bei den Sieben blieb und nicht weitere Professoren die Protestation kurzfristig unterschrieben. Insgesamt wirkten immerhin 41 akademische Lehrer seinerzeit in Göttingen. Jedenfalls sollte es nun schnell gehen, daher signierten die befreundeten sieben Professoren rasch und bereiteten von sich aus die Veröffentlichung vor. In der Nacht und am nächsten Tag fertigten Studenten wie elektrisiert Abschriften des Protestbriefes an und brachten sie in einem für die damalige Zeit nicht gekannten Tempo in Umlauf. Sie sandten Abschriften in ihre Heimatorte, in ihnen bekannte Redaktionsstuben und an befreundete Studentenverbindungen außerhalb Göttingens, die wiederum von sich aus Kopien erstellten und weiterleiteten. Auch im Ausland trafen noch am selben Wochenende Abschriften ein, die von Teilen der dortigen Presse begierig nachgedruckt wurden. Waren die sieben Professoren bei ihren Studenten schon vor dem Verfassen der Protestation beliebt, machte diese sie im Wortsinn über Nacht für die Kommilitonen zu Helden, zu Freiheitskämpfern, zu Ikonen – und Die Göttinger Sieben und der Verfassungskonflikt
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schon bald zu Märtyrern, denn ihre Verbannung legte der König kurz darauf fest. Am 17. Dezember 1837 mussten Dahlmann, Grimm und Gervinus früh morgens Göttingen in Richtung Kassel verlassen. So befahl es der König. Bereits in der Nacht hatte sich eine Gruppe von rund zweihundert Studenten auf den Weg zur Landesgrenze nach Witzenhausen gemacht, wo man sich von den Gelehrten verabschieden wollte. Die Straßen waren von Militär besetzt, um jede Kundgebung auf hannoverschem Boden zu verhindern. Gegen Mittag erreichten die Pferdewagen der Professoren die hessische Grenze. Die Studenten empfingen sie mit Abschiedsgrüßen, Lobreden und Jubelrufen. Sie baten den Bürgermeister Witzenhausens, den Saal des Rathauses für sie zu öffnen, in den Räumen des Gasthauses »Zur Krone« hatten nicht alle Anwesenden Platz.18 Ein Fest zum Abschied, dann zogen die meisten Studenten zurück nach Göttingen und die Professoren weiter nach Kassel. Auf den Straßen kehrte Ruhe ein, die anhielt. Das änderte sich auch nicht, als vier Tage nach dem Abschied der Professoren frühmorgens der Universitäts-Pedell Müller einen »hochrevolutionären Zettel« an der Ecke des Kaufhauses entdeckte. »Bald ist er reif, der Hunde König Ernst August – durch meine Hand wird er fallen. Ein Bundesbruder«, stand auf ihm geschrieben.19 Der Verfasser wurde nicht ausgemacht, der Vorfall nicht bekannt. Man verordnete strengstes Stillschweigen in der Zettelangelegenheit. Die Göttinger Sieben, ihre Protestation, die studentischen Unruhen – »wieder ein Fall bescheidener Art, verglichen mit dem, woran spätere Generationen sich gewöhnen werden«, hält Golo Mann in seiner deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts über den Professoren-Protest fest, fügt jedoch hinzu: »Aber das, was ein Element anrichtet, hängt von der chemischen Lösung ab, mit der man es mischt. So sehr ist Deutschland ein Rechtsstaat, so tief ist überall der Respekt vor den Meistern des gelehrten, schönen Wortes, daß die Absetzung der sieben Unabsetzbaren einen Entrüstungssturm entfacht, als sei […] ein Kaiser Nero erschienen.«20 Es waren zweifelsohne aufständische Zeiten. Im Sommer 1830 brannten in Paris Barrikaden. Handwerker, Arbeiter und Studenten erhoben sich gegen den Bourbonenkönig Karl X., der die Verfassung umzustoßen gedachte. An nur drei Tagen Ende Juli – »Les Trois Glorieuses« – wurde er davongejagt und sein Verwandter 70
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Louis Philippe von Orleans inthronisiert. Auch in Belgien wurde revoltiert. Im August 1830 protestierte man gegen die landfremde Bürokratie des Königs der Niederlande. Im November desselben Jahres erhoben sich Polen gegen die russische Herrschaft des Zar Nikolaus I. Im Februar des nächsten Jahres standen Römer gegen den Papst auf und in England fanden blutige Auseinandersetzungen für eine »Parlamentsreform« statt. Auch in Göttingen kam es im Januar 1831 zu Unruhen gegen die Regierung des Königsreichs Hannover.21 Ein Revolutionssenat sowie eine Nationalgarde von Studenten und Bürgern wurden gebildet, doch der König setzte Militär ein und zerschlug die »Göttinger Revolution«.22 Kurzum: Ein »Funkenflug von einem Zentrum zum anderen«23 war nach den Pariser Juli-Ereignissen in Europa zu beobachten. Die alte Ordnung, »das Bestehende« (Metternich), bröckelte, doch ein internationaler Liberalismus setzte sich (noch) nicht durch – weder in Europa noch in Deutschland. Dabei sah die Verfassungsbewegung des deutschen Frühlibera lismus in den Göttinger Sieben unterdessen Verbündete, stellte über ihre Schriften und Publikationsorgane Nähe zu ihnen her. Der jungen Bewegung zufolge sollte nicht die Republik das staatliche Gehäuse sein, in dem sich eine auf Vernunft und Freiheit gegründete Gesellschaft entfalte, sondern die konstitutionelle Monarchie. Man trat an gegen jede Willkür – ob von oben oder von unten – und forderte eine Verfassung, die »das bürgerliche Verhältnis auf das feste und veränderliche Gesetz der Sittlichkeit« (K. H. L. Pölitz) gründe. Denn ohne Verfassung gebe es auch kein Volk, sondern lediglich eine »Summe von Untertanen«. So lautete das Glaubensbekenntnis des deutschen Frühliberalismus.24 Auch die Göttinger Sieben waren alles andere als Revolutionäre25, wollten nicht den Umsturz, wandten sich gegen jeden Republikanismus, gleichwie sie Willkür von Volk und Herrschenden ablehnten. Dahlmann unterstrich in seiner Rechtfertigungsschrift: »Was uns allein am Herzen liegt, ist, unsere Handlung von seiten ihrer Rechtmäßigkeit […] und namentlich vor dem Vorwurfe eines revolutionären Schrittes zu verteidigen.«26 Insofern standen die Göttinger Sieben tatsächlich in frühliberaler Tradition. Verfassungsrechtliche Grundsatzfragen trieben sie indes nicht zuvörderst an – auch wenn die Protestation diesen Eindruck erweckt. In dem Protestbrief, den sie als »untertänigste Vorstellung«27 begannen, Die Göttinger Sieben und der Verfassungskonflikt
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hoben sie zwar »bei aller schuldigen Ehrfurcht« an und formulierten überaus vorsichtig rechtliche Einwände am Vorgehen des Königs: Dass, wie es Ernst August verkündete, der 1830er-Staatsvertrag wesentliche königliche Rechte verletze, wiesen die »unterthänigst Unterzeichneten« zurück; dass das Gegenteil stimme, die Verfassung »landesherrliche Rechte« sicherstelle, betonten sie hingegen; und dass niemand seither gegen die Verfassung Einwände erhoben habe, man sich an sie gebunden fühle, sie nicht »allein auf dem Wege der Macht zu Grunde« gehen dürfe, stellten sie in ihrer Protestation heraus. Vor allem aber die Symbolkraft des königlichen Handstreichs, der rabiat eine ausgehandelte Verpflichtung zwischen Volksvertretern und Regenten für nichtig erklärt hatte, empörte sie. J acob Grimm betonte: »Es ist vor allem königlich, wort zu halten.«28 Wilhelm Grimm schrieb: »Es liegt in der Natur der Sache daß ein König ein Grundgesetz nicht einseitig und aus bloßer Machtvollkommenheit aufheben und den darauf geleisteten Eid lösen kann.«29 Ein Schweigen zu diesem Vorgang hätte aus ihrer Perspektive die Verneinung des eigenen Schaffens dargestellt, denn Ernst Augusts Coup griff die Grundlagen ihrer Wissenschaft und damit ihres Lebens auf fundamentale Weise an. Für die Sieben beruhte das ganze »Gelingen ihrer Wirksamkeit […] nicht sicherer auf dem wissenschaftlichen Werthe ihrer Lehren, als auf ihrer persönlichen Unbescholtenheit«30. Stets habe man die Studenten Regierungstreue gelehrt, vorgelebt, immer vor politischen Extremen gewarnt. Wenn nun aber der König selbst ein Abkommen einseitig aufkündige, dessen Einhaltung die Professoren während ihrer Lesungen als Pflicht präsentierten, seien die Wissenschaftler zum Handeln gezwungen. Andernfalls hätte es ihre Reputation gekostet, wäre als Gesichtsverlust von ihnen wahrgenommen worden. Albrecht schrieb: »Als Lehrer an einer Universität sind wir dem Urteil des Publikums in einem weit über Stadt und Land sich erstreckenden Kreise ausgesetzt; täglich und fortwährend sind wir genötigt, unsere Ansichten und Überzeugungen […] öffentlich auszusprechen. Was muß uns wohl mehr am Herzen liegen, als daß unsere Handlungen mit unsern Lehren in Übereinstimmung erscheinen und nicht […] unser Charakter in das verächtlichste Licht gestellt wird?«31 Bei Jacob Grimm heißt es: »Ich verlange für unseren Schritt nicht den Beifall andrer Leute, nur, daß unsere 72
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Lithografie von Carl Rohde um 1837/38. In der Mitte ist Friedrich Christoph Dahlmann zu sehen, in der oberen Reihe Georg Gottfried Gervinus und Wilhelm Eduard Albrecht, in der Mitte neben Dahlmann Heinrich August Ewald und Wilhelm Eduard Weber, in der unteren Reihe Wilhelm und Jacob Grimm.
Gesinnung rein und unverfälscht der folgenden Zeit überliefert werde.«32 Und Weber fasst zusammen: »Es war ein Protest des Gewissens, der sich im Inneren eines Jeden vollzog.«33 Deutlich wird also ein Selbstverständnis der Gruppe, wonach zum einen Wissenschaftler keinesfalls entkoppelt aller gesellschaftlicher Räume ihre Forschungen betreiben, sondern sich selbst als aktiven Part öffentlich stattfindender politischer Bildungs- und Aushandlungsprozesse begreifen. Damit lösten sich die Sieben vom »vielgelobten Altgöttinger Grundsatz«, wie Dahlmann es nannte, »daß die WisDie Göttinger Sieben und der Verfassungskonflikt
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senschaft ganz vom Leben getrennt bleiben müsse«34. Zum anderen pochte man in seinen Stellungnahmen wiederholend auf den reinen Charakter, die Redlichkeit, betonte die eigene intakte Innerlichkeit. Das Gewissen – nicht die Vernunft – habe sie zum Protest gezwungen. Eine besondere Rolle kam der Öffentlichkeit zu. Die verschiedenen Streitschriften, das Für und Wider zeichneten die »Konturen eines Skandals«35 überhaupt erst scharf. Auf der einen Seite publizierte die konservative thronnahe Presse gegen die abtrünnigen Professoren, auf der anderen Seite feierten liberale Zeitungen die Sieben. Eine emphatische Presseresonanz war zu vernehmen, »eine wahre Sündfluth von Schriften aller Art«36. Unzählige Presseartikel erschienen, zudem Gedichte und Miniaturen zu Ehren der Sieben. Es wurden die Konterfeis der Protagonisten auf Collagen, Zeichnungen, Bierkrügen und Pfeifenköpfen abgebildet.37 Zudem gründeten sich deutschlandweit »Göttinger Vereine«, die, von liberalen Gruppierungen getragen, Geld für die sieben entlassenen Professoren sammelten. Der deutsche Frühliberalismus hatte sich im Vormärz bereits programmatisch und organisatorisch ausgebreitet und dadurch eine hohe Integrationskraft erreicht.38 Liberale Volksfeiern und Massenkundgebungen fanden statt, das Hambacher Fest von 1832 war dabei das größte. Dem »Deutschen Preß- und Vaterlandsverein« gehörten mehr als 5.000 Mitglieder an.39 Er produzierte und vertrieb zahlreiche liberale Schriften, die die Aktion der Göttinger Sieben größtenteils begeistert aufnahmen. König Ernst August teilte später mit, er hätte wohl weniger resolut reagiert, wenn sich die Sieben mit einem Brief an ihn für ihr Verhalten entschuldigt hätten. Doch gerade die Tatsache, dass sie die Öffentlichkeit suchten und fanden, habe dem König kaum eine andere Wahl gelassen. Auch Göttinger Professoren warfen den Sieben den Gang an die Öffentlichkeit vor – und nicht nur das. Der Anatomie-Professor Konrad Johann Martin Langenbeck beispielsweise behauptete, die Sieben hätten »aus Habsucht gehandelt«. Sie hätten das öffentliche Interesse vorausgesehen und geschickt ausgenutzt, um an ihren Verteidigungsschriften zu verdienen.40 Langenbeck nannte Gervinus während einer Gesellschaft einen »Lumpen« und über die beiden Grimms sagte er: »[O]b so ein paar alte Märchen hier sind oder nicht, darauf kommt nichts an.«41 Der Jurist Christian Friedrich 74
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Simon Mühlenbruch tönte während eines Balles in seinem Haus im März 1838 stundenlang und mit großer Heftigkeit über die sieben entlassenen Professoren, tadelte nicht nur die Protestation, sondern wurde auch persönlich. Er griff die »wissenschaftliche Tüchtigkeit und anderweitige Brauchbarkeit der Sieben auf herabsetzendste Weise«42 an. Und die Studenten, die die Sieben in Witzenhausen verabschiedeten, hätten sich unter das Vieh herabgewürdigt. Ein Riss ging durch die Professorenschaft. Die Göttinger Sieben polarisierten. Am 17. Dezember erschien in der Kasselschen Allgemeinen Zeitung eine »Erklärung«, die sechs Göttinger Professoren verfasst hatten. Darin solidarisierten sich Carl Otfried Müller, Wilhelm Theodor Kraut, Heinrich Ritter, Heinrich Thöl, Ernst von Leutsch und Friedrich Wilhelm Schneidewin mit den Sieben: »Wir unterzeichneten Professoren der hiesigen Universität erklären hiermit öffentlich, […] daß wir uns niemals tadelnd über die in der bekannten Protestation unserer sieben Collegen enthaltenen Gesinnung ausgesprochen haben […].«43 Als die Sechs ihre Erklärung schrieben, war die Entlassung der Sieben in Göttingen noch nicht bekannt, aber bereits ausgesprochen worden. Auch ihre Erklärung verbreitete sich rasch in ganz Deutschland. Die Regierung in Hannover indes ignorierte die »Nachprotestierenden«, unternahm nichts. Anders als das Verfasser-Sextett selbst angenommen hatte, wurde es nicht entlassen. Ernst August wollte offenkundig Ruhe. Doch gestritten wurde weiterhin – vor allem in der Universitätsstadt. Im gemächlichen Göttingen, in dem »ein tiefes Stillschweigen über alle Angelegenheiten der Welt« herrsche, wie Gervinus noch 1836 schrieb, in dem »eine allgemeine Flucht vor wissenschaftlichen Gesprächen« zu beobachten sei und in dem »Wein und Kalbsbraten noch wichtiger ist als die Interpretation des Cicero«44, veränderte sich etwas. Der geistige Leerlauf der Stadt, den die Brüder Grimm beklagten, wurde kurzzeitig unterbrochen. Bildungsbürger der Stadt diskutierten kontrovers den Fall der Göttinger Sieben, wobei allzu lautstarke Fürsprachen zugunsten der entlassenen Professoren Folgen nach sich ziehen konnten. So wie im Falle des Göttinger Buchhändlers Carl August Adolf Ruprecht. Ruprecht war durch die Entlassung der Sieben »in seinem Rechtsempfinden dermaßen verletzt, daß er bis 1848 ein entschiedener Gegner der Regierung […] wurde«45. Oft und öffentlich bezog er Die Göttinger Sieben und der Verfassungskonflikt
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Stellung, äußerte seine Meinung auch in großen Abendgesellschaften, machte seiner Wut »oft in bitteren Worten Luft«46. Während des bereits erwähnten Festes im Haus des Jura-Professors Mühlenbruch äußerte sich Ruprecht erneut wohlwollend über die Göttinger Sieben, was den Gastgeber erzürnte. Er sprang plötzlich, »von Wut und Wein erhitzt«, auf, brüllte, die Sieben und all diejenigen, die sie verehren, mögen verrecken, und lieferte sich mit Ruprecht ein Wortduell. »Es hat großen Spectakel gegeben«, wusste Wilhelm Grimm zu berichten.47 Ruprecht verließ das Fest. Es mag Ruprecht getröstet haben, dass Wutreden auf die Göttinger Sieben vonseiten der Studenten nicht unbeantwortet blieben. In großer Zahl sollen sie sich nach dem Vorfall mit Ruprecht in Mühlenbruchs Kolleg versammelt haben. Als dieser das Auditorium betrat, konnte er nicht lesen: »Ein ungeheurer Lärm, Stampfen, Zischen, Pfeifen und Schreien erhebt sich, einer bringt ein Vivat auf die Sieben aus, Mühlenbruch versteht in dem Lärm nur das Wort ›Hinaus‹, und so muß er denn unter Trommeln und Pfeifen der Studenten das Kolleg schließen.«48 Auch um neues Fensterglas musste er sich bald kümmern. Folgt man dem ruprechtschen Familienchronisten, erfuhr jedoch auch die Buchhandlung Konsequenzen aufgrund wiederholter öffentlicher Parteinahmen für die Professoren. Unter anderem ist die Portofreiheit der Buchhandlung »ohne jede Begründung wie zur Strafe verhängt«49 aufgehoben worden. Die Buchhändler Dietrich und Wohlthat in Lüneburg wurden für die politischen Haltungen ihrer Besitzer auf ähnliche Weise bestraft, während der hannoversche Buchhändler Hahn – in den Augen Ruprechts nicht nur ein besonderer Wettbewerber in Südhannover, sondern zudem ein willfähriger Anhänger des Königs – seine Privilegien behalten durfte. Auch quer durch die Familien verliefen in Göttingen zu dieser Zeit die Konfliktlinien. Ruprechts Vetter, ein Polizeidirektor, leitete ein Verfahren gegen den Buchhändler ein, als dieser wieder einmal »im Unmut eine tadelnde Bemerkung über die Polizei« machte. Ruprecht empfand das – erneut – als »bittere Kränkung«50. Zudem liefen die Geschäfte nach dem Weggang der Göttinger Sieben schlechter. Göttingens Studentenschaft war dabei, sich zu halbieren, Kunden blieben vermehrt aus. Das war damals. Dieser Jahre gelten die Göttinger Sieben als »Symbolfiguren der Verfassungsbewegung«51, als »Märtyrer und 76
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Helden des Liberalismus«52, ihre Protestation als »Höhepunkt des Vormärz«53 und ihr Widerstand »als ein Sinnbild staatsbürgerlicher Verantwortung und zivilen Mutes«54. Das war nicht immer so, teils schwankte die Wahrnehmung der Göttinger Sieben55, doch heute erscheint sie zementiert. Irgendwann in den 1980er Jahren setzte bei der Universität Göttingen sowie dem Land Niedersachsen ein erhöhtes Bedürfnis ein, sich in die Tradition der Sieben zu stellen. 1985 begann man, an neu ernannte Professoren sowie neu Promovierte einen Sonderdruck der Rechtfertigungsschrift Jacob Grimms auszugeben. Der zentrale Platz der Universität in Göttingen wurde 1987 in »Platz der Göttinger Sieben« umbenannt. Seit 2011 befindet sich auf den Stufen, die zum zentralen Hörsaalgebäude führen, eine etwa drei Meter hohe Stahlskulptur, die ein »G« und eine »7« zeigt. Literaturnobelpreisträger Günter Grass hat sie gefertigt und der Universität geschenkt. Eine schwarz-rot-goldene Sonderbriefmarke mit den Konterfeis der Sieben erschien 2012. Zahlreiche Gedenkveranstaltungen, Ausstellungen und Vorträge wurden über die Göttinger Sieben in Göttingen ausgerichtet. In Hannover enthüllte der Niedersächsische Landtag 1988 in der Wandelhalle des Leineschlosses eine Gedenktafel für die berühmten Professoren und 1998 wurde ein Bronzeguss auf dem Vorplatz des Landesparlamentes eingeweiht. »Ein Denkmal für Zivilcourage«, wie der Präsident des Niedersäch sischen Landtages damals befand.56 Eine bemerkenswerte Entwicklung. Denn der Verfassungsstreit zeigt auch: Demokraten waren die Sieben nicht. Als bekennende Monarchisten betrachteten sie die Verfassung eher als nützliches Instrument, um Form und Aufbau des Staates zu regeln (und damit festzuziehen), und nicht als Garant bürgerlicher Rechte, erst recht nicht als Rechtssicherheit minoritärer Bevölkerungsgruppen. Das von ihnen mit Verve vorangestellte primäre Protestmotiv des Gewissens ist individueller, privater, nicht-öffentlicher Natur und damit frei jedweden republikanischen Impetus, weil es Perspektiven anderer ausblendet, allein auf sich selbst fokussiert. Ebenfalls das Risiko, das die Professoren eingingen, die aufgebrachte Courage zum Protest waren begrenzt. Ihr Renommee garantierte ihnen eine Vielzahl von universitären Anstellungsmöglichkeiten andernorts, ihre Entlassungen wirkten womöglich gar karrierefördernd. Auch individuell, in den Biografien, den Die Göttinger Sieben und der Verfassungskonflikt
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Lebensläufen und -brüchen der Professoren finden sich teils Vorgänge, die einer Glorifizierung der Beteiligten zuwiderlaufen.57 Und dennoch fasziniert die Gruppe der Sieben – heute vielleicht mehr denn je. Das kann auch nachdenklich stimmen.
Anmerkungen 1 Hier stark angelehnt an die thronnahe Berichterstattung der Hannoverschen Zeitung, 1837, vgl. Steffen Martus, Die Brüder Grimm. Eine Biographie, Berlin 2009, S. 380 ff.; vgl. auch ders., Die Göttinger Sieben und das politische Leben der Brüder Grimm, Vortrag an der Universität Göttingen im Rahmen der öffentlichen Ringvorlesung »Die Grimms in Wort und Tat« am 23.04.2013, online einsehbar unter https://www.youtube. com/watch?v=iPfgLWJEza8 [eingesehen am 26.06.2015]. 2 Jacob Grimm, Dahlmann und Albrecht beantragten zwar beim Senat der Universität, eine Kommission zu bilden, die sich mit der Verfassungsfrage beschäftigen solle, doch ihr Antrag wurde von der Universität nicht beachtet. 3 Zit. nach Rudolf von Thadden, Georg Gottfried Gervinus und Friedrich Christoph Dahlmann. Geschichte und Politik, in: Hartmut Boockmann/ Hermann Wellenreuther (Hg.), Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, Göttingen 1987, S. 186–203, hier S. 198. 4 Wilhelm Bleek, Friedrich Christoph Dahlmann. Eine Biographie, München 2010, S. 159. 5 Eine insgesamt überaus »kühle Aufnahme« Ernst Augusts vonseiten der Göttinger Bürger als Hinweis darauf, dass die Göttinger der Verfassungspolitik des Königs mehrheitlich ablehnend gegenüberstanden, u. a. bei Hermann Wellenreuther, Die Göttinger Sieben, Göttingen und der Verfassungskonflikt von 1837, in: Edzard Blanke u. a. (Hg.), Die Göttinger Sieben. Ansprachen und Reden anläßlich der 150. Wiederkehr ihrer Protestation, Göttingen 1988, S. 61–84, hier S. 68. 6 Erzählung eines Augenzeugen, zit. nach Hans Kück, Die Göttinger Sieben. Ihre Protestation und ihre Entlassung im Jahre 1837, Aachen 1987, S. 20. 7 Rudolf Smend, Die Göttinger Sieben. Rede zur Immatrikulationsfeier der Georgia Augusta zu Göttingen am 24. Mai 1950, Göttingen 1951, S. 9. 8 Zit. nach Albrecht Schöne, »Protestation des Gewissens«: Die Göttinger Sieben im Widerstand gegen den Souverän, in: Horst Albach (Hg.), Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat, Göttingen 2007, S. 9–26, hier S. 25. 9 Zit. nach Bleek, S. 207. 10 Heinrich von Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Jahre 1840. Staatengeschichte der neuesten Zeit, Bd. 27, Leipzig 1889, S. 643.
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11 Smend, S. 10. 12 Jacob Grimm über seine Entlassung, S. 21 u. S. 23 ff., zit. nach Kück, S. 25. 13 Friedrich Christoph Dahlmann, Zur Verständigung, 1838, in: Wilhelm Bleek/Bernhard Lauer (Hg.), Protestation des Gewissens. Die Rechtfertigungsschriften der Göttinger Sieben, Kassel 2012, S. 39–100, hier S. 60. 14 Brief Weber an Schuster, 19.01.1889, zit. nach Kück, S. 27 f. 15 Brief Dahlmann an Jacob Grimm, 18.11.1837, zit. nach Kück, S. 29. 16 Vgl. Wilhelm Bleek, Die aufrechten Sieben, in: Zeit Geschichte, H. 4/ 2012, online einsehbar unter http://www.zeit.de/zeit-geschichte/2012/04/ Goettinger-Sieben-Vormaerz-Brueder-Grimm/komplettansicht [eingesehen am 30.06.2015]. 17 Zu den Verbindungen und Politikauffassungen Gervinus’ und Dahlmanns vgl. Thadden. Vgl. zudem Andreas Cser, Die Lehre von der »Politik« bei Dahlmann und Gervinus, in: Werner Moritz (Hg.), Georg Gottfried Gervinus 1805–1871. Gelehrter – Politiker – Publizist, Heidelberg 2005, S. 27–34. 18 Vgl. Winfried Löschburg, Es begann in Göttingen, Berlin 1964, S. 20 ff. 19 Zit. nach Kück, S. 123. 20 Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1958, S. 143. 21 Vgl. Jörg H. Lampe, Politische Entwicklungen in Göttingen vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zum Vormärz, in: Ernst Böhme/Rudolf Vierhaus (Hg.), Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 2: Vom Dreißigjährigen Krieg bis zum Anschluss an Preußen – Der Wiederaufstieg als Universitätsstadt (1648–1866), Göttingen 2002, S. 43–102, hier S. 59 ff. 22 Vgl. dazu auch Löschburg, S. 20 ff. 23 Mann, S. 137. 24 Dazu vgl. grundsätzlich Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1988, S. 12–38, hier vor allem S. 21 ff. 25 Das Volk solle an seinem Recht festhalten, es einfordern, aber nicht Unrecht mit Unrecht vergelten, meinte beispielsweise Jacob Grimm, der folglich Proteste nach ihren Motiven unterschiedlich bewertete. Den Aufstand in Göttingen infolge der Pariser Julirevolution 1830 nennt er so auch einen »in allem betrachtet widerwärtigen aufruhr« und teilt damit die Auffassung Dahlmanns. Vgl. Roland Feldmann, Jacob Grimm und die Politik, Frankfurt am Main 1969, S. 69. 26 Wilhelm Eduard Albrecht, Die Protestation und Entlassung der sieben Göttinger Professoren, Leipzig 1838, S. 4. 27 Die Protestation der sieben Professoren vom 18. November 1837, hier wie im Folgenden zit. nach Rudolf von Thadden, Die Göttinger Sieben, ihre Universität und der Verfassungskonflikt von 1837, Hannover 1987, S. 37– 39. 28 Zit. nach Martus, Die Brüder Grimm, S. 384. 29 Zit. nach ebd., S. 385. 30 Zit. nach ebd. Die Göttinger Sieben und der Verfassungskonflikt
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31 Wilhelm Eduard Albrecht, Die Protestation und Entlassung der sieben Göttinger Professoren, 1838, zit. nach Bleek/Lauer (Hg.), S. 101–124, hier S. 119. 32 Brief Jacob Grimm an Dahlmann, 15.01.1838, in: Eduard Ippel, Briefwechsel zwischen Jacob und Wilhelm Grimm Dahlmann und Gervinus, Berlin 1885, S. 72. 33 Brief Weber an Schuster, 19.01.1889, zit. nach Kück, S. 28. 34 Brief Dahlmann an Ewald 16.03.1838, zit. nach Kück, S. 181. 35 Wilhelm Bleek, Protestation auf der Grundlage bürgerlicher Werte. Die Rechtfertigungsschriften der Göttinger Sieben, in: Lothar R. Waas (Hg.), Politik, Moral, Religion – Gegensätze und Ergänzungen. Festschrift zum 65. Geburtstag von Karl Graf Ballestrem, Opladen 2004, S. 77–108, hier S. 106. 36 Robert von Mohl, zit. nach Miriam Saage-Maaß, Die Göttinger Sieben – demokratische Vorkämpfer oder nationale Helden?, Göttingen 2007, S. 22 f. 37 Vgl. hier Hermann Wellenreuther (Hg.), Die Göttinger Sieben. Eine Ausstellung der Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen 1987; vgl. auch Carl Philipp Nies, Sieben gegen den König. Texte und Materialien zum Hannoverschen Verfassungskonflikt, Hannover 2007. 38 Vgl. Langewiesche, S. 35. 39 Vgl. dazu Cornelia Foerster, Sozialstruktur und Organisationsform des deutschen Preß- und Vaterlandsvereins von 1832/33, in: Wolfgang Schieder (Hg.), Liberalismus in der Gesellschaft des deutschen Vormärz, Göttingen 1983, S. 147–166. 40 Brief von Wilhelm Grimm an Jacob Grimm, 21.03.1838, zit. nach Kück, S. 145. 41 Briefe von Wilhelm Grimm an Jacob Grimm, 21.03.1838 und 13.08.1838, zit. nach Kück, S. 145. 42 Zit. nach Kück, S. 146. 43 Zit. nach ebd., S. 99. 44 Brief Gervinus an Karl Hegel, 23.12.1836, zit. nach Gangolf Hübinger, Georg Gottfried Gervinus. Historisches Urteil und politische Kritik, Göttingen 1984, S. 111. 45 Chronik des Geschlechtes Ruprecht, Göttingen 1932, S. 162. 46 Ebd. 47 Wilhelm Grimm, 12.03.1838, zit. nach ebd., S. 163. 48 Brief Mühlenbruch an das Kuratorium der Universität, 16.03.1838, zit. nach Kück, S. 147. 49 Chronik des Geschlechtes Ruprecht, S. 163. 50 Ebd., S. 165. 51 Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 3, Wiesbaden 2001, S. 135. 52 Wolfgang Hardtwig, Vormärz. Der monarchische Staat und das Bürgertum, München 1985, S. 26. 53 Adolf Laufs, Rechtsentwicklung in Deutschland. Ein rechtsgeschichtliches Arbeitsbuch, Berlin 1973, S. 176.
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54 Bleek, Die aufrechten Sieben. 55 Vgl. Saage-Maaß. 56 Der Präsident des Niedersächsischen Landtages, Das Landesdenkmal »Die Göttinger Sieben« vor dem Landtagsgebäude, Hannover 2009, S. 4, online einsehbar unter http://www.landtag-niedersachsen.de/ps/tools/ download.php?file=/ltnds/live/cms/dms/psfile/docfile/84/goettinger 4b6c0eef1d97d.pdf&name=goettinger_sieben_deutsch&disposition= attachment [eingesehen am 30.06.2015]. 57 Hervorzuheben ist Gervinus, der minderjährige Mädchen sexuell nötigte. Von einem »sexuellen Angriff auf das pubertierende Mädchen durch den bewunderten und verehrten Hausfreund, Georg Gottfried Gervinus«, schreibt beispielweise Dirk Kaesler, Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn, München 2014, S. 84 f.; von einem sexuellen Aufdrängen des damals 55-jährigen Gervinus gegenüber dem minderjährigen Mädchen berichtet auch Jürgen Kaube, Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen, Berlin 2014, S. 40 f.; überdies dokumentiert Gervinus seine Neigung in seinen autobiografischen Notizen hinlänglich; vgl. Georg Gottfried Gervinus, G. G. Gervinus Leben, Leipzig 1893, darin insbesondere S. 301–307.
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»Sire, geben Sie Kussfreiheit!«1 Über die Aushandlung von gesellschaftlichen Normen zwischen Göttinger Bürgerschaft und Studierenden am Beispiel des Kuss-Prozesses von Graf Henckel von Donnersmarck (1926/27) von Stine Marg und Karin Schweinebraten
Es war winterlich und sicherlich auch ein wenig rutschig – dennoch wagte ein Student der Palatia Göttingen Ende 1926 die Besteigung der glitschigen Brunneneinfassung, überwand mühevoll den weiten Abstand zur Bronzefigur des Marktbrunnens, um dem Gänseliesel seine Aufwartung zu machen. Doch während er seine Lippen auf das kalte Gesicht drückte und sein Kuss keinerlei Erwiderung erfuhr, erregte seine verbotene Tat die Aufmerksamkeit der Göttinger Polizei. Obwohl es zehn Tage vor Weihnachten war, kannte der Schutzmann kein Erbarmen und nahm die Personalien des Delinquenten auf. Im Januar 1927 wurde Georg Graf Henckel von Donnersmarck ein Strafzahlungsbescheid für seine Tat in Höhe von zehn Reichsmark zugestellt. Während der Name Henckel von Donnersmarck im Kaiserreich noch das Symbol für überbordenden Reichtum war – Fürst Guido Henckel von Donnersmarck lieh Kaiser Wilhelm II . regelmäßig größere Summen –, wollte dieser Graf Henckel von Donnersmarck keinesfalls die Strafe oder wahlweise einen Tag Haft akzeptieren. Er reichte stattdessen Klage gegen den Zahlungsbescheid ein und provozierte damit – und nicht mit der Straftat an sich – einen städtischen Skandal. Um diesen zu verstehen, muss man sich die Geschichte der Geküssten und ihre Bedeutung für die Universitätsstadt Göttingen vergegenwärtigen. Immerhin galt und gilt das Gänseliesel, wie die bronzene Magd mit drei Gänsen unter einem Baldachin von den Göttingern genannt wird, als das Wahrzeichen der Stadt. Dabei ist das Brunnenmädchen keineswegs so eng mit der Stadtgeschichte verwoben, wie man annehmen mag. Zur Tatzeit im Jahr 82
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1926 stand es erst 25 Jahre vor dem Rathaus der Stadt.2 Damals ersetzte das Gänseliesel nach einer städtischen Ausschreibung und dem darauffolgenden Künstlerwettbewerb eine schmucklose Fontäne auf dem Marktplatz. Obwohl sie später zur meistgeküssten Frau Göttingens werden sollte, war das Gänseliesel zunächst nicht die Gewinnerin des Preisausschreibens, sondern bekam unter den 46 eingereichten Modellen und Zeichnungen im Juni 1898 nur den zweiten Platz. Ein Umstand, der schon damals eine beachtliche städtische Diskussion entfachte. Während das Preisgericht unter dem Vorsitz des amtierenden Bürgermeisters Georg Friedrich Calsow insbesondere die Laube des Entwurfes missfiel, die einem Baldachin ähnele, welcher ausschließlich Fürsten und Königen vorbehalten sei, tobte in den Göttinger Zeitungen, wie bei vielen anderen hier beschriebenen Skandalen auch, ein heftiger Leserbriefkrieg, in dem sich zahlreiche Bürger für die Gänsemagd aussprachen, weil diese endlich die Chance habe, die breite Göttinger Bürgerschaft zu berühren, im Gegensatz zu allen anderen königlichen und professoralen Denkmälern der Stadt, die den Menschen »herzlich gleichgültig« seien.3 Weil die Göttinger Bürger durch beachtliche Spenden einen Großteil zur Verschönerung ihres Marktplatzes beitrugen, konnten sie sich schließlich durchsetzen. Dieses Vorgehen war durchaus symptomatisch für die Zeit. Mit zunehmendem Wohlstand und gestiegenen künstlerischen Ansprüchen setzte sich die städtische Bürgerschaft reichsweit für Verschönerungen zentraler Plätze ein.4 Dass sich die Göttinger Bürger mit einer Gänsemagd offenbar besser identifizieren konnten als mit einem universitären oder königlichen Denkmal, war letztlich ein Zufallsprodukt der selbstbewussten Bemühungen um Abgrenzung von der Monarchie einerseits und der Universität andererseits. Wenngleich die Tradition der »Chöttinger Mastgänse« – der Gänseverkauf zur Weihnachtszeit durch städtische Bewohner und Anrainer – sicherlich auch in anderen Städten praktiziert worden ist, schien das Motiv der Gänse, die als Wassertiere für einen Brunnen nicht völlig abwegig sind, doch irgendwie »in der Luft zu liegen«: Immerhin reichten beim Brunnenwettbewerb drei weitere Künstler Gänsemotive ein.5 Das Brunnenmädchen wurde im Jahr seiner Fertigstellung 1901 zwar nicht durch eine offizielle Feier als Göttinger Neubürgerin begrüßt, aber trotzdem rasch in der Stadt aufgenommen. Der Kuss-Prozess von Graf Henckel von Donnersmarck
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Dazu trug nicht nur der Göttinger Fremdenverkehrsverein bei, der schon bald Postkarten mit dem Gänseliesel produzierte und kleine Miniaturen verkaufte, sondern sicher auch die Studentenschaft. Es entwickelte sich unter den Erstsemestern der Brauch, an der zierlichen Liesel das Küssen zu üben, wobei teilweise das Brunnenwasser durch Bier ersetzt worden sei. Es ist sicherlich dem zentralen Standort und dem symbolischen Gehalt des Gänseliesels zu verdanken, dass die Göttinger Studenten sie statt andere für das Küssen erwählten: Schließlich stehen Gänse für Gattentreue und eheliche Liebe, auch für Zuverlässigkeit, Reinheit und die weibliche Kraft der Schöpfung.6 Die meist aus Adel und Bildungsbürgertum stammenden jungen Studenten nahmen sich hier das Recht des Küssens heraus, schließlich war das Mädchen – trotz Baldachin – nur eine Magd. Diese konnte offenbar durch solcherlei unsittliches Verhalten nicht entehrt werden. Die akademische Kussprobe wurde – bei den studentischen Gepflogenheiten nicht ganz unüblich – meist des Nachts durchgeführt und provozierte oftmals nächtlichen Lärm mitten in der Stadt. Überdies traten bei den für den Kuss nötigen Klettertouren häufig Beschädigungen an den Gänsen, den Verzierungen des Baldachins oder den seitlichen Wasserspendern auf. Die stark steigenden Studentenzahlen der Stadt während der Weimarer Republik führten zu einer unverhältnismäßigen Häufung des Rituals, sodass nach und nach der Brauch von den Füchsen der Korporationen auf die Doktoranden transformiert wurde. Reibungspunkte zwischen der Göttinger Bürgerschaft und den studentischen Gepflogenheiten blieben damit jedoch bestehen. Das rund um das Gänseliesel veranstaltete studentische Kneipen, Klettern, Küssen war in Göttingen eine Tradition – wenn auch keine sehr alte. Dennoch bleibt die Frage, warum es ausgerechnet Georg Graf Henckel von Donnersmarck war, der nun durch den schon viele Male zuvor praktizierten Kuss zunächst einen städtischen Eklat provozierte und schließlich republikweit eine Diskussion innerhalb der Studierendenschaft erregte. Henckel von Donnersmarck gehört im Übrigen zur älteren katholischen Beuthner Linie, während der Industriemagnat und einer der reichsten Männer des Kaiserreiches, Guido Fürst Henckel von Donnersmarck, aus der jüngeren evangelischen Familie stammt und ein gemeinsamer Vorfahre7 sich erst im 17. Jahrhundert finden lässt. 84
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Der Gänselieselbrunnen um 1914.
Skandale sind immer Ausdruck von Normbrüchen8 bzw. der Differenz zwischen Geltungsanspruch und -realität gesellschaftlicher Maßstäbe9. Und genau das lag vor. Eine Mehrzahl der Göttinger Bürger war nicht bereit, die zunehmende Störung der Nachtruhe und eine ständige Beschädigung ihres weltberühmten sowie selbst finanzierten Wahrzeichens weiter hinzunehmen. Daher wurde bereits im Oktober 1925 gegen den Studenten Werner Kuehn wegen »groben Unfugs« eine Strafverfügung durch die Polizei erlassen. Kuehn akzeptierte den Bescheid nicht und ließ es – ebenso wie anderthalb Jahre später Henckel von Donnersmarck – auf ein gerichtliches Urteil ankommen. Offenbar gehörten nicht nur der nächtliche Bier-Kuss zur studentischen Sitte, sondern ebenso die Konfrontation mit dem Schutzmann und die anschließende Beharrung auf die Rechtmäßigkeit und Vorrangstellung des studentischen Brauches. Am 9. Oktober 1925 sprach Amtsrichter Dr. Andrae sein Urteil im Sinne Kuehns.10 Die Strafe sei unzulässig, da »grober Unfug« definiert werde als eine »vorsätzliche Handlung«, die »in erheblicher Weise gegen die allgemeine Verkehrssitte verstößt und geeignet ist, die auf dieser Sitte beruhende Ordnung zu stören.« All dies läge nach Einschätzung des Gerichts nicht vor, da Kuehn lediglich einen »harmlosen Studentenulk« praktiziert habe und es nachts zu keinerlei Menschenauflauf gekommen sei, der einen Verkehrsstau oder dergleichen zur Folge gehabt hätte. Der Kuss-Prozess von Graf Henckel von Donnersmarck
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Die Göttinger Polizei und mit ihr ein Teil der Bürgerschaft waren fassungslos über dieses Urteil – schienen ihnen somit zumindest zunächst alle Hände gebunden zu sein, um effektiv gegen dieses, die bürgerlichen Verschönerungsbemühungen und das städtische Ruhebedürfnis ignorierende Treiben vorzugehen. Auch die Revision der Göttinger Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht in Celle war erfolglos.11 Woraufhin der Polizeidirektor und ab 1926 auch als Bürgermeister tätige Dr. Paul Warmbold aufgrund der Befürchtung »zunehmenden Unfugs« in Abstimmung mit dem städtischen Magistrat an den Regierungspräsidenten in Hildesheim um die Zustimmung des Erlasses einer Polizeiverordnung über den Verkehr auf dem Markt- und Rathausplatz bat. Diese trat schließlich am 31. März 1926 in Kraft und untersagte mit einer Geldstrafe bis zu 150 Mark die Betretung des Gänselieselbrunnens. Mit der neuen Verordnung im Rücken war die Göttinger Polizei nun entschlossen, dem nächtlichen Treiben auf dem Rathausmarkt ein Ende zu bereiten. Mindestens ebenso entschlossen waren die Göttinger Studenten, die ihre Tradition nicht ohne weiteres kampflos aufgeben wollten. Offenbar in einer gemeinsam besprochenen Aktion, zumindest innerhalb der katholischen, Farben tragenden, nicht-schlagenden Verbindung der 1883 in Göttingen gegründeten Palatia, der Henckel von Donnersmarck angehörte, plante man gegen die Verordnung vorzugehen.12 Henckel von Donnersmarck schien als Protagonist hierfür recht geeignet zu sein. So war er einerseits kurz vor Abschluss seiner juristischen Promotion in Rechtsfragen durchaus bewandert und andererseits als Erbe von Gut Grambschütz, ein knapp 3.000 Hektar großer Betrieb in Niederschlesien, finanziell unabhängig. Sein Vater, Hugo Graf Henckel von Donnersmarck, war 1911 im Alter von fünfzig Jahren plötzlich verstorben. Georg wuchs also seit seinem neunten Lebensjahr ohne väterliche Autorität auf und konnte gleichzeitig auf ein ansehnliches jährliches Einkommen zurückgreifen. Dies ermöglichte ihm nicht nur, sich vor dem Göttinger Amtsgericht vertreten zu lassen, sondern auch ein juristisches Gutachten erstellen zu lassen, welches gegen die Rechtmäßigkeit der Polizeiverordnung agitierte und durch ihn unmittelbar im Göttinger Tageblatt veröffentlicht wurde13. Henckel von Donnersmarck vertrat die grundsätzliche Auffassung, dass die Polizeiverordnung, die aus dem Gänseliesel ein 86
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»Dornrösschen« machen wollte14, ungültig sei. Er behauptete sogar, dass sowohl die »Volksmeinung« als auch die gesamte »alma mater Georgia-Augusta« auf Seiten seiner Argumentation stünden. Die Argumente des Gutachtens sind schnell zusammengefasst: Der Brunnen befinde sich in städtischer Eigentümerschaft und sei somit nicht öffentlich. Die Polizei hingegen übertrete eindeutig ihre Befugnis unter dem Deckmantel des »sicheren Schutzes für Groß und Klein, zur Verhütung von Gefahr, für Ruhe, Ordnung, Sicherheit« etc. (§ I0 II 17 des Allgemeinen Preußischen Landrechts), wenn sie dieses private Gut durch eine Verordnung schützen wolle. Überdies komme keinerlei Verkehrsbehinderung durch die Kusszeremonie, welche die »natürliche Bestimmung« des Brunnenmädchens sei, zustande.15 Damit traf der angehende Gutsherr das Zentrum der Diskussion um die Rolle der Polizei in der Weimarer Republik. Diese sollte zwar einerseits für den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zuständig sein, jedoch gleichzeitig aus dem Bereich der sogenannten Wohlfahrt zurückgedrängt und funktional auf die Gefahrenabwehr reduziert werden.16 Der Paragraf 10 II 17 des Allgemeinen Preußischen Landrechts diente somit – insbesondere durch die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichtes – als eine Art »Generalklausel«, um die Polizeigewalt von Willkür abzugrenzen und in einer für einen Rechtsstaat angemessenen Form auszulegen. Die privaten Interessen – als welche Henckel von Donnersmarck die Brunnenverordnung klassifizierte – gehörten nicht in das Aufgabengebiet der Polizei, die sich ausschließlich um das Allgemeinwohl und die Interessen der Allgemeinheit zu kümmern habe.17 Während in Berlin um ein neues Polizeiverwaltungsgesetz gerungen wurde, das die Aufgaben der Polizei insbesondere in der Frage der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung in Bezug auf private Rechte und allgemeine Interessen regeln sollte und bei seiner Verabschiedung im Jahr 1931 als »wichtigstes preußisches Reformgesetz«18 galt, kämpfte Henckel von Donnersmarck stellvertretend für alle kneipenden Studenten in Göttingen gegen die örtliche Polizeiverfügung. Dass er damit innerhalb der Göttinger Bürgerschaft zunehmend auf verlorenem Posten stand, dokumentiert ein zynischer Leserbrief aus dem Göttinger Tageblatt19, dessen Verfasser sich fragt, ob Henckel von Donnersmarck nicht eher Der Kuss-Prozess von Graf Henckel von Donnersmarck
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des Raubes angeklagt werden sollte, da er einen Kuss gestohlen habe – der, so bemerkt der Kommentator am Ende, doch bezüglich »Hygiene und Ästhetik« äußerst problematisch sei, da die Küssenden Staub und Rost von einer Statue »ablecken« würden. Andere wiesen darauf hin, dass die studentische »Tradition«, die hier so vehement verteidigt werde, keine zwanzig Jahre alt und dass sie von Göttinger Bürgern schon immer als bloßer Unfug klassifiziert worden sei; überdies sei der Brunnen öffentliches Eigentum, das selbstverständlich von der Polizei zu schützen sei.20 Darüber hinaus sei der Rechtsspruch im Falle des Studenten Kuehn ein Fehlurteil gewesen, da sich Kuehn auf Zeugen berufen habe, die unter Angst vor wirtschaftlichen Einbußen eine Falschaussage getätigt hätten. Im Kuehn-Prozess sagten drei Göttinger Geschäftsleute aus, dass durch das Kuss-Gebaren keine Störung der öffentlichen Ordnung stattgefunden habe. Es sei jedoch erwiesen, dass sie sich von den Ausschreitungen rund um die Küssende belästigt fühlten, nur als Kaufmänner, die größtenteils von den Studenten lebten, dies nicht zugeben wollten.21 Diese Argumentation macht sich Amtsrichter Andrae nun in der ausführlichen Urteilsbegründung gegen Henckel von Donnersmarck vom 7. März 1927 ebenfalls zu eigen.22 Auch er verweist auf den »nicht ganz nüchternen Zustand« der das Kuss-Ritual pflegenden Studenten und darauf, dass die Polizeiverordnung rechtens sei, schon allein wegen der Möglichkeit der Störung, die sich durch diese Tradition ergäbe. Mit dieser Begründung befindet sich Andrae auf der Höhe der Zeit und greift dem Paragrafen 19 der Polizeiverordnung von 1931 vor, in der eine sogenannte Handlungshaftung, also eine Verantwortlichkeit derjenigen, die eine Störung verursacht haben, gesetzlich verankert wird.23 Andrae fährt fort mit der Feststellung, dass es gegen den »öffentlichen Anstand verstösst, wenn alle Augenblicke Studierende in ihrer Bierlaune an einem auf einem öffentlichen Platze der Stadt aufgestellten schönen Brunnen herumturnen«. Daher stütze sich die Polizeiverordnung darauf, dass »eine den öffentlichen Anstand störende Unsitte« unterbunden werden solle. In den Göttinger Zeitungen wurde die Gültigkeit der Gänselieselverordnung gefeiert. Dass Henckel von Donnersmarck im Juni 1927 mit einer Revision vor dem Berliner Kammergericht ebenso scheiterte, machte nicht nur den Göttinger Studenten, sondern 88
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auch zahlreichen anderen Corpsbrüdern deutlich, dass ihre alkoholseeligen Praktiken zunehmend als Störung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung empfunden und immer weniger toleriert wurden. Im Göttinger Kuss-Skandal wurde schließlich eine gesellschaftliche Norm ausgehandelt, darüber, welches studentische Treiben die Stadtbewohner akzeptierten und welches sie ablehnten.24 Dass sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts die städtischen Normen verändert haben, machen schließlich die Aufhebung des Kussverbotes im Juni 2001 und die noch heute, jedoch meist bei Tageslicht praktizierte Tradition des Gänselieselküssens deutlich. Wobei es fragwürdig ist, ob die Polizeiverordnung, die am 14. Mai 1932 durch den Hildesheimer Regierungspräsidenten erneuert worden war, überhaupt im Jahr 2001 noch immer Gültigkeit besaß, schließlich schrieb das fortschrittliche Weimarer Polizeiverwaltungsgesetz 1931 vor, dass alle Polizeiverordnungen eine zeitlich begrenzte Gültigkeit von dreißig Jahren haben.
Anmerkungen 1 Graf Henckel von Donnersmarck, Das Kußverbot des Gänseliesels, in: Göttinger Tageblatt, 18.02.1927, Abschlusssatz seines Plädoyers, der als stehende Redewendung seitdem immer wieder gebraucht wird. 2 Vgl. zur Geschichte des Gänseliesels: Günther Meinhardt, Die Geschichte des Göttinger Gänseliesels, Göttingen 1967, sowie Helga-Maria Kühn, Vom Löwenbrunnen zum Gänseliesel. Die Geschichte des Göttinger Marktbrunnens, Göttingen 1995. Frau Helga-Maria Kühn verdanken wir in einem freundlichen Telefonat auch den Hinweis auf einen anderen Skandal im Zusammenhang mit dem zierlichen Brunnenmädchen. Dieses ist nämlich keinesfalls einzigartig, denn während der Künstler Paul Nisse ohne Wissen der Stadt am Ausgang des 19. Jahrhunderts zwei Mädchen goss und eines an einen Leipziger Privatmann verkaufte, steht seit 1990 die von Graf Henckel von Donnersmarck geküsste Magd im Städtischen Museum Göttingen, während sich auf dem Marktplatz lediglich eine Kopie befindet. Vgl. Kühn, S. 13 f. Überdies existieren ähnliche Brunnenf iguren beispielsweise in Hannover (Gänseliesel-Brunnen), in Berlin (Gänselieselbrunnen) und in Wien (Gänsemädchenbrunnen). 3 I., o. T., in: Göttinger Zeitung, 16.07.1898. Hinter dem Pseudonym verbarg sich Ernst Honig, Bäckermeister und angesehener Kommunalpolitiker der Stadt. Vgl. Meinhardt, S. 13. 4 Vgl. Michael Lissok, Ein neuer Marktbrunnen für die mecklenburgische Landstadt Teterow. Ideen und Entwurf zur Errichtung des Teterower »Hechtbrunnens 1912–1914, in: Bernfried Lichtenau (Hg.), Bildende Der Kuss-Prozess von Graf Henckel von Donnersmarck
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Kunst in Mecklenburg und Pommern von 1880 bis 1950. Kunstprozesse zwischen Zentrum und Peripherie, Berlin 2011, S. 264–283, hier S. 270. Vgl. Meinhardt, S. 13. Vgl. Annette Kupiz-Klimpel, Die Ganz, in: Symbollexikon, online einsehbar unter www.symbollexikon.de/ganz [eingesehen am 30.06.2015]. Leo Ferdinand Henckel von Donnersmarck (1640–1699). Vgl. Frank Bösch, Skandale, Normen und politische Kultur. Entwicklungslinien seit 1990, in: Der Bürger im Staat, Jg. 64 (2014), H. 1, S. 5–12, hier S. 6. Vgl. Steffen Burkhardt, Skandal und soziale Norm, in: Corinna Schwarzer (Hg.), Soziale Normen und Skandalisierungen, Münster 2008, S. 11– 32, hier S. 11. Vgl. hierzu und im Folgenden: Urteil in der Strafsache gegen den Studierenden Werner Kuehn, Geschäftsnummer E112/25, StAG: Pol. Dir. VI B F 41 Nr. 14. Vgl. Abschrift des Urteils, StAG: Pol. Dir. VI B F 41 Nr. 14. Diesen Hinweis verdanken wir einem freundlichen Telefon mit Peter Graf Henckel von Donnersmarck, Sohn von Georg Graf Henckel von Donnersmarck, am 29.06.2015. Graf Henckel von Donnersmarck, Das Kußverbot des Gänseliesels, in: Göttinger Tageblatt, 18.02.1927. Ebd. Ebd. Vgl. hierzu und im Folgenden: Stefan Naas, Die Entstehung des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes von 1931. Ein Beitrag zur Geschichte des Polizeirechts in der Weimarer Republik, Tübingen 2003, hier S. 119. Vgl. ebd., S. 124. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945, Bd. III, München 1999, S. 130. O. V., Um das Gänseliesel, in: Göttinger Tageblatt, 04.02.1927. O. V., o. T., in: Göttinger Tageblatt, 10.02.1927. Vgl. o. V., Aus den Gerichtssälen, in: Göttinger Tageblatt, 27.03.1927. Vgl. StAG: Pol. Dir. VI B F 41 Nr. 14. Naas, S. 314. Zur Normaushandlung im Skandal vgl. Bösch, S. 8.
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Ulrich Kahrstedt und seine »Absage an die internationale Gelehrtenrepublik« (1934) von Malte Lübke
Am Vormittag des 18. Januar 1934 wurde in der Aula der GeorgAugust-Universität zum letzten Mal der Reichsgründungstag mit einem akademischen Festakt gefeiert.1 Als Festredner hatte man den Gründer und Leiter des Göttinger Instituts für Altertumskunde, Ulrich Kahrstedt, gewinnen können, der zu diesem Zeitpunkt bereits seit über 13 Jahren als Professor in Göttingen lehrte. Kahrstedt genoss vor allem in der Studentenschaft hohes Ansehen. Seine öffentlichen Vorlesungen zur »Außenpolitik der Mächte« fanden nicht zuletzt durch seine skeptischen Ausführungen gegenüber der Weimarer Republik sowie die im DNVP-Parteiblatt Eiserne Blätter verbreiteten kritischen Aufsätze stets regen Zulauf.2 Dementsprechend hoch waren die Erwartungen, dass er auch diesen feierlichen Anlass zu einer polarisierenden und politisierenden Rede nutzen würde. Doch Kahrstedt übertrieb. Die Bilanz seiner Rede, die am nächsten Tag im Wortlaut auch in den Göttinger Nachrichten3 abgedruckt wurde: zwei Aufforderungen zum Duell, drei ministerielle Rügen sowie wütende Protestnoten des deutschen Historikerverbands. Als Kahrstedt die ersten Sätze seiner in drei Hauptabschnitte eingeteilten Rede vortrug, deutete noch nichts auf das Bevorstehen eines bis nach Berlin reichenden »Göttinger Skandals« hin. Er begann mit einem klassischen althistorischen Abstract über den Aufstieg und Fall antiker Mächte, von Ägypten über Alexander den Großen bis hin zum Römischen Reich. Kahrstedt sprach von Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft in den verschiedenen Zeitepochen. Besonders auffallend ist aus heutiger Sicht der verwendete Wortschatz, der die antike Geschichte mit »modernen« Begriffen unterfüttert und sehr subjektive Tendenzen offenbart. So fragte Kahrstedt nach den Gründen für den Untergang der »Absage an die internationale Gelehrtenrepublik«
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römischen Kultur: »Mußte der einmalige Zusammenbruch des Gleichgewichts der Mächte über die Revolution der Farbigen und der Proletarier notwendig zum Ende aller geistigen Kultur führen?«4 Die Antwort darauf führte er u. a. auch auf den Niedergang der hellenistischen Welt zurück: »Sie [die Kulturwelt des Hellenentums, Anm. d. V.] ging unter zwischen der asiatisch-proletarischen Bewegung und dem westlichen Hochkapitalismus.«5 Aus seiner Analyse des Falls großer Mächte zog Kahrstedt darauf aufbauend Parallelen zur Moderne: Bedingt durch die Ereignisse der Jahre 1918/19 habe in der Weimarer Republik ebenfalls eine »Zerstörung der Kultur«6 stattgefunden. Im Gegensatz zur Antike stünden der Moderne jedoch mit dem Nationalsozialismus und dem Faschismus zwei Alternativen bereit. Das Volk habe »die Wahl zwischen einer neuen Kultur der schlechthinnigen Verwirklichung der Volkseinheit unter Opferung aller gewohnten Vorurteile und Sonderansichten der Klassen oder dem Ausgang aller eigenen Kultur nicht nur bei uns sondern überhaupt in der Welt. Entweder wir schaffen eine Kultur aus der Ideenwelt der genannten neuen Kräfte [Faschismus und Nationalsozialismus, Anm. d. V.] oder wir sehen zu, wie unsere Gesittung den Weg der antiken geht und versinkt.«7 Noch weitaus kontroverser war jedoch der letzte Teil seiner Rede, in dem er abschließend scharfe Kritik an der Situation der Wissenschaften an den Hochschulen äußerte. Kahrstedt nahm Anstoß daran, dass er »allerlei Ratschläge« erhalten würde, »wie wir zeitgemäß eine politische Universität aufbauen sollen.«8 Die Loslösung vom Kaiserreich und die Abkehr von der alten Lehre missfielen ihm. So sprach er zynisch über »die deutsche Würde in der Hand der deutschen Hochschulen im Zwischenreich«9 und bemängelte, dass die nationalen Wissenschaften zunehmend zugunsten eines wachsenden internationalen Austausches an den Universitäten preisgegeben worden seien. Kahrstedts vielfach zitierte »Absage an die internationale Gelehrtenrepublik«10 war gleichzeitig als Kritik an seinen Göttinger Kollegen, aber auch als genereller Angriff auf eine seinen Ansichten widersprechende Entwicklung innerhalb der deutschen Wissenschaften zu verstehen. Dass die Rede nicht nur an der Göttinger Universität, sondern auch auf nationaler Ebene hohe Wellen schlug, hatte seine Ur sachen letztlich vor allem in diesem Punkt. 92
Malte Lübke
Bei der Deuerlich’schen Buchhandlung gab es in den 1920er und 1930er Jahren die Postkartenserie »Bildnisse Göttinger Professoren«. Neben dem Mathematiker David Hilbert und dem Physiker Ludwig Prandtl war u. a. auch Ulrich Kahrstedt einer derjenigen Hochschullehrer, die für ein Porträt posieren durften.
Das Motiv seines Misstrauens in die internationale Wissensgemeinde lag zu einem erheblichen Teil in der nicht verwundenen Niederlage des Deutschen Kaiserreiches im Ersten Weltkrieg verwurzelt; eine Kränkung, die seinerzeit für »viele Hochschullehrer eine Welt«11 zusammenbrechen ließ. Kahrstedt war es suspekt, dass sich die deutschen Hochschulen dem »Versailler Diktat« beugten und viele Professoren und Dozenten regelmäßigen Austausch mit Kollegen aus »ehemaligen Besatzungsmächten«12 wie Frankreich und Großbritannien pflegten. Hinzu kam sein Ärger »Absage an die internationale Gelehrtenrepublik«
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darüber, dass im Jahr 1927 die Generalversammlung des internationalen Historiker-Komitees in Göttingen getagt hatte und sehr »gastfreundlich […] aufgenommen«13 worden war. So mahnte er in seiner Rede von 1934, dass der »Apparat internationaler Kollegialität«14, der seiner Auffassung nach über alle aktuellen Entwicklungen und Nationalitäten hinweg das Monopol des objektiven Erklärens von aufkommenden und verschwindenden Phänomenen für sich reklamierte, in der »gewandelten Welt« keine Zukunft mehr habe, und zwar nicht erst »durch den Nationalsozialismus, sondern durch Versailles.«15 Für Kahrstedt lag die Zukunft der Wissenschaft vor allem in deren Nutzen für die Nation und sollte nicht länger als »Forschung um der Forschung willen«16 betrieben werden. Er führte weiter aus: »Bei uns wird Medizin gelehrt und gelernt nicht um die Zahl der bekannten Bakterien zu vermehren, sondern um die Deutschen gesund und stark zu halten. Bei uns wird Geschichte gelehrt und gelernt nicht um zu sagen wie es eigentlich gewesen ist, sondern um die Deutschen aus dem wie es war lernen zu lassen. Bei uns werden Naturwissenschaften gelehrt und gelernt nicht um abstrakte Gesetze zu entdecken sondern um den Deutschen ihr Handwerkszeug im Wettbewerb der Völker zu schärfen.«17 Kahrstedt reklamierte für sich, die Zeichen eines neu angebrochenen Zeitalters erkannt zu haben, und appellierte an die Universitäten des Landes, eine nationale und von äußeren Einflüssen abgeschirmte Lehre anzubieten, ehe man sie als verräterisch und zwiespältig entlarven würde. Er führte aus, »daß die deutschen Hochschulen, sich in dem neuen Deutschland einrichtend, Erfolg nur haben können, wenn sie sich ohne jede Beschönigung die Frage beantworten: wo stehen wir? Haben wir uns so verhalten, daß wir beanspruchen können von der ersten Stunde an das große Wort über deutsches geistiges Leben zu führen oder haben wir erst manches Geschehene gut zu machen, ehe wir verlangen, als Ex ponenten auch des neuen Deutschlands zu gelten?«18 Aus dieser grundsätzlichen Kritik formulierte Kahrstedt in seiner Rede auch einen direkten Angriff auf seine Göttinger Kollegen. Hauptadressat war der Ordinarius für Mittlere und Neuere Geschichte, Karl Brandi. Dieser hatte im Jahr zuvor mit einer Delegation am Internationalen Historikerkongress in Warschau teilgenommen. Für Kahrstedt war dies ein offener Affront. Er bezich94
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tigte Brandi, die deutsche Bevölkerung in Polen bei seinem Besuch weder unterstützt noch vor der repressiven Regentschaft Pilsudskis geschützt zu haben, obwohl er als »Vertreter des Deutschen Reiches« nationale Interessen hätte durchsetzen sollen.19 Dass Brandis Reise im Besonderen und der wachsenden internationalen Dependenz der Wissenschaftler im Allgemeinen kein größerer Aufschrei an den Hochschulen gefolgt war, führte Kahrstedt in erster Linie auf die vorbildliche Rolle der Studenten zurück, die ihre nationale Ehre trotz des »internationalen Treibens an deutschen Universitäten«20 zurückhaltend aufrechterhalten hätten. Seinen Kollegen redete er ins Gewissen, dass diese Gefasstheit in anderen Ländern, beispielsweise in Italien, unvorstellbar wäre. »Ich glaube, wir sind uns alle einig, was passiert: Die Studenten nehmen Knüppel und schlagen die Professoren tot.«21 Während diese Ausführungen von den anwesenden Studenten begeistert aufgenommen wurden, führten sie bereits unmittelbar nachdem Kahrstedt seine Rede mit einem dreifachen »Sieg Heil!« beendet hatte zu wütenden Protesten bei den angegriffenen Kollegen. Karl Brandi forderte Kahrstedt im Beisein des Göttinger Universitätsrektors Friedrich Neumann nur wenige Minuten später »zum direkten Duell mit der ›Waffe in der Hand‹«22 als Reaktion auf die verbale Provokation auf. Am nächsten Tag wurde auch Brandis Kollege Percy Ernst Schramm bei Kahrstedt vorstellig, um ihn seinerseits zum Duell aufzufordern. Dieser lehnte zwar beide Ansinnen ab, musste sich aber öffentlich entschuldigen, außerdem veröffentlichte Rektor Neumann eine Gegendarstellung Brandis.23 Dass die Angelegenheit damit noch nicht erledigt war, lag nicht nur an der durch die Rede nochmals massiv vertieften Spaltung unter den Göttinger Geschichtsprofessoren. Vielmehr erhielt die »Debatte« nun auch eine nationale Komponente, da zum einen die Rede durch die Publizierung öffentlich einsehbar war; zum anderen reichte Neumann die Angelegenheit an das Ministerium für Reichserziehung weiter.24 Kahrstedts Vortrag hatte aber auch den Verband deutscher Historiker aufhorchen lassen, der sich daraufhin an das Reichsinnenministerium wandte. Was Kahrstedt bei seinem Vorwurf an Brandis Teilnahme am Warschauer Historikerkongress nicht ausreichend berücksichtigt hatte, war die Tatsache, dass die Delegation vom Reichsinnenministerium und vom Auswärtigen Amt nach Polen geschickt worden war – auf »Absage an die internationale Gelehrtenrepublik«
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ausdrückliche Forderung von Joseph Goebbels.25 Sein Vorwurf, Brandi habe deutsche Interessen verraten, fiel damit auf die politische Führung des Reiches zurück. Nach mehrwöchiger Prüfung und auf Betreiben Brandis wurden Kahrstedt letztendlich drei Rügen durch den Außen-, Innen- sowie den Erziehungsminister zugestellt. Auf der anderen Seite erhielt der Verband deutscher Historiker die schriftliche Versicherung des Innenministeriums, dass die Teilnahme am Warschauer Kongress »sowohl in wissenschaftlicher wie in politischer Beziehung«26 ein voller Erfolg gewesen sei. Der Grund für diese scharfen und mehrfachen Missbilligungen hatte jedoch auch eine starke außenpolitische Komponente, denn Kahrstedts Äußerungen torpedierten die laufenden bilateralen Verhandlungen zwischen dem Reich und Polen, die nur eine Woche nach seiner Rede zum deutsch-polnischen »Nichtangriffspakt« führten.27 Ob Kahrstedt die Reichweite seiner Äußerungen in dieser Hinsicht bewusst war, ob er sie gar vorsätzlich in dieser Form formulierte, kann angezweifelt werden. Festzuhalten aber bleibt vor allem, dass sich die Diskussion im Nachgang weit von seinen Hauptkritikpunkten und der eigentlichen Thematik und Zielgruppe entfernte. Allerdings dauerte es nicht lange, bis Kahrstedts Befürchtungen und Anliegen in der Hochschulpolitik auch im NS -Regime Einzug hielten: Auslandsreisen von deutschen Wissenschaftlern mussten nun unter verschärften Kontrollen vorab genehmigt werden und die Universitäten wurden dazu angehalten, Listen mit geeigneten Dozenten für Vorträge im Ausland zusammenzustellen.28 Ulrich Kahrstedt lehrte in der Folge noch bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1952 an der Göttinger Universität. Dass er nie der NSDAP beigetreten war, kam ihm nach Kriegsende zugute: Von der britischen Militärregierung wurde er 1946 lediglich für einen Monat vom Dienst suspendiert.29 Im Gedächtnis blieb aber insbesondere seine Rede aus dem Jahr 1934, deren skandalöse Züge nicht nur an der Georgia Augusta, sondern auch auf Reichsebene Empörung und Konsequenzen zur Folge hatten.
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Anmerkungen 1 Die Reichsgründungsfeier wurde anlässlich der Kaiserproklamation 1871 jährlich am 18. Januar mit einem Festakt begangen. Ab 1934/35 wurde diese Feier von den Nationalsozialisten mit der Feier der Machtergreifung zur sogenannten Reichsfeier zusammengelegt und fortan jeweils am 30. Januar veranstaltet. Vgl. Markus Drüding, Akademische Jubelfeiern. Eine geschichtskulturelle Analyse der Universitätsjubiläen in Göttingen, Leipzig, Münster und Rostock (1919–1969), Berlin 2014, S. 100 u. S. 159 f. 2 Vgl. Cornelia Wegeler, Das Institut für Altertumskunde der Universität Göttingen 1921–1962: Ein Beitrag zur Geschichte der Klassischen Philologie seit Wilamowitz, in: Heinrich Becker/Hans-Joachim Dahms/Cornelia Wegeler (Hg.), Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus. Das verdrängte Kapitel ihrer 250jährigen Geschichte, München u. a. 1987, S. 246–271, hier S. 251. 3 Vgl. Göttinger Nachrichten: Reichsgründungsfeier der Göttinger Universität, 19.01.1934. Wie bei den nachfolgenden Zitaten mehrfach deutlich wird, ist die Interpunktion hier fehlerhaft. 4 Ebd. 5 Ebd. 6 Ebd. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Vgl. Cornelia Wegeler, »…wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik«. Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921–1962, Wien u. a. 1996. 11 Wegeler, Das Institut für Altertumskunde, S. 250. 12 GN: Reichsgründungsfeier, 19.01.1934. 13 Wegeler, Wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik, S. 154; vgl. auch Karl Friedrich Erdmann, Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Comité International des Sciences Historiques, Göttingen 1987, S. 201. 14 GN: Reichsgründungsfeier, 19.01.1934. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Vgl. Wegeler, Das Institut für Altertumskunde, S. 256. 20 GN: Reichsgründungsfeier, 19.01.1934. 21 Ebd. 22 Wegeler, Wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik, S. 156. 23 Vgl. Wegeler, Das Institut für Altertumskunde, S. 257. 24 Vgl. ebd. »Absage an die internationale Gelehrtenrepublik«
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25 Vgl. ebd. u. S. 229 f. 26 Zit. nach Wolfgang Petke, Karl Brandi und die Geschichtswissenschaft, in: Hartmut Boockmann/Hermann Wellenreuther (Hg.), Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, Göttingen 1987, S. 287–320, hier S. 306 f. 27 Vgl. Wegeler, Wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik, S. 157. 28 Vgl. Wegeler, Das Institut für Altertumskunde, S. 257. 29 Vgl. ebd., S. 251.
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»Kein Ehrenmann alten Schlages« Das »Diktat der Menschenverachtung« und der »Dokumentenstreit« in der Göttinger Universitätszeitung (1947/48) von Katharina Trittel
»Als der Prozeß am 9. Dezember 1946 begann, fuhr ein schneidender Wind über die Ruinenhügel Nürnbergs und warf Wolken groben Staubes gegen jedermann.«1 Als am 20. August 1947 in Nürnberg die Urteile vor dem I. Amerikanischen Militärgerichtshof gegen 23 deutsche Ärzte wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit2 in der Zeit des National sozialismus fielen, wurden sie mancherorts als Richterspruch über einen gesamten Berufsstand wahrgenommen, mitnichten jedoch angenommen. Von vielen als vermeintliche Verhandlung einer Kollektivschuld abgelehnt, geriet der Prozess, der von den Medizinern Alexander Mitscherlich und seinem Assistenten Fred Mielke dokumentiert wurde, für einzelne Zugehörige der ärztlichen Elite zum Ausgangspunkt einer hitzigen Kontroverse, die öffentlich in der Göttinger Universitätszeitung (GUZ) ausgetragen wurde: dem »Dokumentenstreit«3. Obwohl diese Wissenschaftszeitschrift, die sich anfangs vor allem mit wissenschaftspolitischen Themen beschäftigte, landesweit gelesen wurde, fand in den allermeisten Diskussionszirkeln der medizinischen Wissenschaft ein Nachdenken über persönliche und kollektive Schuld, über eine mögliche Entgrenzung der Wissenschaft während des Nationalsozialismus und die daraus resultierenden Verbrechen lange Zeit wenig Raum. Am Ende des Nürnberger Prozesses standen sieben Todesurteile, neun Haftstrafen und sieben Freisprüche. Verhandelt wurden u. a. Humanversuche an KZ -Häftlingen, häufig mit tödlichem Ausgang; im »Dokumentenstreit« ging es vor allem um die Unter druck- und Unterkühlungsexperimente. Insbesondere bei den »Diktat der Menschenverachtung« und »Dokumentenstreit«
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terminalen Höhenversuchen von Dr. Siegmund Rascher im KZ Dachau, bei denen Fallschirmabsprünge simuliert wurden, war die absichtliche Tötung unter großen Qualen Teil des Experiments und der wehrwissenschaftlichen Zweckforschung.4 Die Sprengkraft des Prozesses und seiner Auswirkungen auf den gesamten Berufsstand erkennend, beschloss die Westdeutsche Ärztekammer, eine Kommission zu entsenden, die den Prozess für die Ärzteschaft dokumentieren sollte. Diese sei »tief beunruhigt«, da sie über Art und Ausmaß der strafbaren Handlungen nicht unterrichtet sei – zweifellos werde das Vertrauensverhältnis zwischen Bevölkerung und Ärzten durch den Prozess eine Erschütterung erfahren, mehr noch: Die Ehre eines gesamten Berufsstandes schien auf dem Spiel zu stehen. Denn es würden bereits generalisierende Zweifel laut an der moralischen Qualität der Ärzteschaft und der Art der medizinischen Forschung. »Dadurch ist die Gefahr beschworen, dass die notwendigen Lehren, die aus dem Vorgefallenen gezogen werden müssen, von der Abwehr ungerechtfertigter Anschuldigungen überschattet werden und schließlich unterbleiben.«5 Aber natürlich sei man auch selbst an der Klärung der Anklagepunkte interessiert, da sich unter den Beschuldigten »eine größere Anzahl von namhaften Universitätslehrern«6 befand. Das Kollektiv der Ärzteschaft wollte also informiert und beteiligt sein, letztlich: die eigenen Interessen wahren können. Überraschend wurde als Leiter der Kommission der junge Privatdozent Alexander Mitscherlich eingesetzt, den sein Widerstand gegen die Nationalsozialisten auszeichnete. Ahnend, dass er auserkoren war, um für die Ärztekammer die »Kastanien aus dem Feuer«7 zu holen, ließ Mitscherlich das Vorhaben der Kommission von allen deutschen medizinischen Fakultäten bestätigen, da er argwöhnte, dass man ihm »ein Unterfangen gegen ärztliche Kollegen zuschob«8, weil er als relativ unbedeutender Vertreter seines Standes9 mangels der Bereitschaft etablierter Standesvertreter den Vorsitz der Kommission übernehmen sollte. Vor allem die etablierten Standesvertreter aus Göttingen, an deren Spitze sich im Verlauf des Konfliktes der renommierte Göttinger Physiologe Hermann Rein stellen sollte, waren skeptisch. Der Göttinger Dekan Hans Joachim Deuticke verlieh der Hoffnung Ausdruck, dass der Prozess kläre, dass nur eine verschwindend geringe Zahl von 100
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Ärzten, die in eigener Verantwortung handelten, sich schuldig gemacht habe, »daß aber die deutsche Ärzteschaft als solche entsprechend ihrer Tradition und ihrer inneren Überzeugung frei von Schuld und nicht mit Vorwürfen zu belasten ist«. Man würde begrüßen, wenn die Ärztekammer Vorkehrungen träfe, »böswillige Vorwürfe gegen die deutsche Ärzteschaft« zurückzuweisen; es sei wichtig, dass der geplanten Kommission Kollegen angehörten, »deren Meinung und Stellungnahme Gewicht« hätten und die es verstünden, in der Öffentlichkeit »Verständnis für ärztliche Belange und Sorgen zu wecken.«10 Dafür schien Mitscherlich nicht gerade prädestiniert zu sein. Die im Raum stehende Kollektivschuld lehnten die Fakultäten aus Göttingen und auch Freiburg ausdrücklich ab, die deutsche Ärzteschaft sei »frei von Schuld«, lediglich eine kleine nationalsozialistische Clique habe »sich die Finger verbrannt«11, der »deutsche Arzt im allgemeinen [hat] ebenso wie der deutsche Wissenschaftler nicht das Geringste mit diesen Scheußlichkeiten zu tun.«12 Als die Dokumentation »Das Diktat der Menschenverachtung«13 von Mitscherlich, die allgemeines Beweismaterial der Prozesse dokumentiert und dieses in Bezug zu einer ärztlichen Ethik setzt, erstmals 1947 erschien, machten die Herausgeber deutlich, dass sie sich nicht über Einzelne selbstgerecht erheben, niemanden ankläglich belasten wollten, »denn die Jahre des Unheils haben uns alle genug in Schuld verstrickt und es geht nunmehr darum eine Brücke zur tieferen Einsicht zu finden.«14 Nicht Anklage, sondern Klärung sei das Ziel, durch die Präsentation eines »Teil stückes einer Zeitchronik«15. Mit diesen Aussagen sind die Stoßrichtungen im Kampf um die Deutungshoheit bereits benannt: Während die Wortführer des etablierten Ärztestandes die medizinische Wissenschaft an sich als unbelastet und unbelastbar verteidigten, die Standesehre als unantastbar, die in ihren Augen verallgemeinerten Vorwürfe für unaussprechbar und eine Kollektivschuld für unbelegbar hielten, trat Mitscherlich für die Aufarbeitung konkreter Verbrechen, kollektiven Schuldigwerdens, für eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und mit den ethischen Handlungsmaximen des Berufsstandes ein. Nicht die Verbrechen Einzelner, sondern die Erkenntnis, »daß ein Kollektiv die Menschenverachtung gelehrt und die nationalsozialistische Ideologie nur zu ihrer Legitimation »Diktat der Menschenverachtung« und »Dokumentenstreit«
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benutzt hatte«16, beschreibt seine Perspektive, die exemplifiziert am Schicksal der Angeklagten den Blick auf eine mögliche zeitgenössische Mithaftung richten wollte. Doch genau gegen eine solche wehrte sich der Ärztestand mit Vehemenz, Geschlossenheit und strategischem Kalkül, angeführt durch seine hochrangigen Vertreter Franz Büchner, Wolfgang Heubner, Ferdinand Sauerbruch und Hermann Rein. Den drei Erstgenannten ging es in erster Linie um die Darstellung ihrer Person. Deswegen setzte Büchner eine einstweilige Verfügung gegen die Dokumentation durch, sodass in späteren Auflagen bestimmte Passagen nicht mehr enthalten waren, die in seinen Augen seine schuldhafte Verstrickung in Medizinverbrechen suggerierten. Büchner war an einer schnellen Unterlassung gelegen, weil er sich sorgte, in der Presse entstünde der Eindruck, er hätte sich »zum Wortführer derjenigen deutschen Ärzte gemacht, die einer Auseinandersetzung mit den Dokumenten aus dem Wege zu gehen suchen.«17 Büchner, der 1947 Direktor des Pathologischen Institutes der Universität Freiburg war und somit an Reins Ausbildungsstätte wirkte, ließ vor allem seinen untadeligen Leumund in das Verfahren einfließen. Er habe sich »entsprechend seiner grundsätzlichen Einstellung stets auf das entschiedenste für die volle und uneingeschränkte Aufrechterhaltung der ärztlichen Ethik«18 ausgesprochen. Anlass seiner Kritik war, dass er und andere ihr Verhalten bei einer Tagung »Ärztliche Fragen bei Seenot und Winternot« 1942 in der Dokumentation falsch dargestellt sahen: Sie bestanden darauf, gegen die dort referierten Menschenversuche Einspruch erhoben zu haben. Er habe sogar eine eidesstattliche Erklärung hinterlegt, die zeige, dass er über diese Ausführungen »ausserordentlich bestürzt«19 gewesen sei. Und mehr noch: »Ich habe ihm [gemeint ist Prof. Holzlöhner, verantwortlich für verschiedene Versuche im Konzentrationslager Dachau, Anm. d. V.] dabei erklärt, dass er mit diesen Versuchen die alte Tradition der Medizin durchbrechen [sic!] habe, gefährliche Versuche nur an sich selbst oder freiwilligen Mitarbeitern durchzuführen.«20 Mitscherlich habe weder Büchner noch Rein im Vorfeld der Veröffentlichung kontaktiert; diese hätten – entgegen Mitscherlichs Behauptung – »energisch Einspruch gegen die Menschenversuche erhoben«21; die Klärung des Widerspruches war ein wichtiger Punkt ihres Selbstverständnisses und der »Vergan102
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genheitsbewältigung«.22 Belege dafür sind und bleiben jedoch nur ihre eigenen Aussagen. Die vor Gericht Stehenden behaupteten indes das Gegenteil23, der angeklagte und »von Rein positiv begutachtete Becker-Freyseng machte das Ausbleiben eines solchen Protestes geradezu zu einem wichtigen Teil seiner Verteidigung.«24 Er argumentierte, er mit seiner »begrenzten wissenschaftlichen Einsicht könne […] nicht für Vorkommnisse haftbar gemacht werden, gegen die namhafte wissenschaftliche Koryphäen nichts einzuwenden gehabt hätten.«25 Dass Büchner als Teil eines Kollektivs den Angriff gegen Mitscherlich führte, verdeutlichte er einem Heidelberger Kollegen gegenüber: »Vielmehr habe ich die Bereinigung dieser persönlichen Angelegenheiten, vor allem im Bereiche der Hochschule, vertrauensvoll in die Hände meiner Fakultät und der mir befreundeten Heidelberger Kollegen gelegt. […] Zum Schluss danke ich Ihnen noch einmal herzlich dafür, daß Sie so nachdrücklich für meine Ehre […] eintreten.«26 Nicht nur die Auseinandersetzung mit Mitscherlich, auch das Einstehen füreinander wird zur Ehrensache erklärt. Dass indes nicht nur Büchners persönliche Ehre, sondern weit mehr Gegenstand des Konfliktes war, zeigt eine Generalisierung seiner Kritik: »Es liegt hier eine in hohem Maße leichtfertige Verunglimpfung unseres Standes vor«27. Dass überhaupt gewagt würde, die Ehre des gesamten Standes infrage zu stellen, hält Büchner für eine »schlimme Zeitseuche«, ebenso, dass »unser Name gelegentlich ohne unser Verschulden öffentlich in einem Atemzug mit dem von Verbrechern genannt wird«28. Auch für Wolfgang Heubner, der mit ähnlichen Begründungen gegen die Dokumentation vorging, war die Tatsache, dass Mitscherlich es versäumt habe, die Grenzen zwischen verbrecherischem Verhalten und einer »einwandfreien Haltung« herauszuarbeiten, ein Beleg dafür, dass Mitscherlich kein »Ehrenmann alten Schlages«29 sei. »Man darf nach dieser Haltung wohl daran zweifeln, ob Herrn Mitscherlich an der Wiedergutmachung eines geschehenen Unrechts sehr viel liegt und ob er sich im Inneren ernstlich belastet fühlt, wenn unsere Namen befleckt bleiben.«30 Dass für Mitscherlich das geschehene Unrecht in den verhandelten Medizinverbrechen lag, war für Heubner sekundär. Mit dem Ziel der Nichtweiterverbreitung des »Diktat[s] der Menschenver»Diktat der Menschenverachtung« und »Dokumentenstreit«
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achtung« in seinem und Ferdinand Sauerbuchs Namen verzichtete sein Anwalt auf eine gerichtliche Klage, da er davon ausging, dass allein der gute Ruf seiner Mandanten ausreichen würde, die Schrift zu indizieren31, und pochte beharrlich auf ein standeskonformes Verhalten Mitscherlichs: »Ich möchte noch immer annehmen, daß Ihnen […] die Wahrnehmung der Interessen der deutschen Wissenschaft und Ihrer untadeligen Kollegen mehr am Herzen liegt als die Veröffentlichung der Erklärung eines Anklägers der Alliierten.«32 Eine klare Erwartung, wo die Loyalitäten eines deutschen Arztes zu liegen hatten. Mitscherlich indes stellte dem von Heubner bemühten Stereotyp des Ehrenmannes alten Schlages »die Realität der Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Regime gegenüber. Er und sein Mitherausgeber hätten in der Tat nicht die Ehre gehabt, wie Prof. Sauerbruch, zu den Staatsräten Hitlers zu zählen oder, wie Prof. Heubner 1943, zu einer Sitzung eingeladen zu werden, bei der über Versuche an 75 ›rechtskräftig zum Tode verurteilten Menschen‹33 berichtet wurde.«34 Eine Verständigung war aussichtslos, Mitscherlich sah sich einer breiten Front gegenüber. »Zur Verteidigung und zur ›Rettung ihrer formalen Ehre‹ hätten ›namhafteste Vertreter der deutschen Medizin‹ in der GUZ eine Phalanx gebildet. Sie partizipierten in einem nahen funktionellen Zusammenhang zu Ereignissen mit Humanversuchen im Nationalsozialismus und würden mit keinem Wort Einsicht verraten. Kein Bedauern und auch kein Abwenden mit Schrecken könne man bei diesen Medizinern konstatieren. Stattdessen stehe Reins, Heubners und Sauerbruchs eigenes persönliches Ansehen im Zentrum ihrer Verlautbarungen, in denen die veröffentlichte Dokumentation das ›Eigentlich Ehrenrührige‹ und nicht die inhaltlich dargelegten Sachverhalte seien.«35 Hermann Rein, der zwar ebenfalls die Ehre der deutschen Wissenschaft für unantastbar erklärte36, ging es allerdings weniger um seine persönliche Rolle. Er führte bestimmte Argumente zur Abwehr einer vermeintlichen Kollektivschuld ins Feld und verfolgte spezifische Entschuldungsstrategien. Vor dem Hintergrund der bereits skizzierten Frontenbildung bezweifelte Rein als Angehöriger einer Elite, dass es sinnvoll wäre, »einer breiten Laienöffentlichkeit diese Medizinverbrechen im einzelnen vorzulegen«, auf jeden Fall aber sei es »unverantwortlich«, dass Mitscherlich »einige hervorragende Wissenschaftler, die der Welt durch ihre völlige 104
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Untadeligkeit und gerade durch ihre hohe Menschlichkeit bekannt sind, in den furchtbaren Verdacht der Billigung oder gar der Anregung dieser Verbrechen bringt.«37 Vor allem die nachfolgend diskutierte Frage nach einem Schuldigwerden der Wissenschaft (Mitscherlich) und die These einer »reinen« Wissenschaft (Rein) zielten deutlich über die Beurteilung persönlicher Schuld hinaus. »Während Mitscherlich sich gegen eine liberalistisch-positivistische Ausrichtung von medizinischer Wissenschaft und einen naiven Fortschrittsoptimismus wandte, erklärte Rein die unmittelbar Verantwortlichen für die in Deutschland im Nationalsozialismus begangenen Medizinverbrechen zu Angehörigen einer Randgruppe, zu Perversen, Psychopathen, Dekadenten und Sadisten, die sich außerhalb der wahren medizinischen Wissenschaft gestellt hätten.«38 Sich selbst zu den »wirklichen« Vertretern der Wissenschaft zählend, basiert Reins Wissenschaftsverständnis auf der Überzeugung von einer objektiven Grundlagenforschung39. Für ihn folgerichtig weigert er sich, das, was »in Himmlers Konzentrationslagern«40 geschehen sei, überhaupt als Wissenschaft anzuerkennen, vor allem, weil die Versuche keine über den damaligen Stand der Forschung hinausgehenden Erkenntnisse gebracht hätten.41 Die Möglichkeit einer Entgrenzung und Pervertierung42 der Wissenschaft weist er zurück. Mitscherlich hingegen betont, dass sein Buch vor allem auf die Gefährdung hinweise, »in welche die Wissenschaft dadurch geraten ist, daß die durch ihre Leistungen entbundenen Kräfte nicht mehr von ihr selbst beherrscht werden können«. Man müsse es als »nationale Beschämung empfinden, daß […] bedeutende Vertreter der deutschen Wissenschaft keinen besseren Beitrag zur Wieder findung menschlicher Würde und Freiheit zu leisten haben als einen demonstrativen Blick auf ihre Person.«43 Indem Rein darauf beharrte, die Verantwortlichen hätten nicht wissenschaftlich gearbeitet, beschwor er eine »Selbstreinigung der Wissenschaft von ihren Abweichlern«44. Mitscherlich wandte sich gegen diese vereinfachte Form der Entlastung und Abweisung von Mitschuld und Leugnung von Mitverantwortung. Die beiden konträren Standpunkte blieben unvereinbar, sodass der »Dokumentenstreit« öffentlich nicht fortgeführt wurde. »Die Mechanismen der ›Derealisierung‹, die vor allem bei den alten Kadern des NS -Regimes, die eine gewisse gesellschaftliche Kontinuität garantierten, »Diktat der Menschenverachtung« und »Dokumentenstreit«
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Der Nürnberger Ärzteprozess – Aufnahme vom 19. Juli 1947. Auf der Anklagebank (jeweils von links): 1. Reihe: Karl Brandt, Siegfried Handloser, Paul Rostock, Oskar Schröder, Karl Genzken, Karl Gebhardt, Kurt Blome, Joachim Mrugowsky, Rudolf Brandt, Helmut Poppendick; 2. Reihe: Gerhard Rose, Siegfried Ruff, Viktor Brack, Wolfgang Romberg, Hermann Becker-Freyseng, Georg August Weltz, Konrad Schäfer, Waldemar Hoven, Wilhelm Beiglböck, Adolf Pokorny, Herta Oberheuser, Fritz Fischer. Im Vordergrund die Verteidiger: ganz vorn Robert Servatius, in der 2. Reihe Fritz Sauter und Georg Fröschmann (2. und 3. von links).
einsetzten, verhinderten in der Wiederaufbauphase eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Diejenigen, die den Frieden der ›insgeheim fortbestehenden Volksgemeinschaft‹ störten, wurden als Nestbeschmutzer angesehen.«45 Diese Derealisierung stand einer bewussten Aufarbeitung der Vergangenheit entgegen und wurde reflexartig durch »Das Diktat der Menschenverachtung« ausgelöst, das nahezu einen gesamten Berufsstand unter Führung seiner prominentesten Vertreter zu einer systematischen Abwehr bewegte. Die Argumentation einer »reinen«, unkorrumpierbaren Wissenschaft wurde flankiert durch gerichtliche und öffentliche Attacken, aber auch durch einen Bann der Kollegen, die den »Nestbeschmutzer« Mitscherlich aus ihrer Mitte verstießen. Auch wenn der »Dokumentenstreit« wohl wenig öffentliche Auf106
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merksamkeit fand – hinter den Kulissen war der Konflikt noch lange nicht ausgestanden. Zunächst warb Rein bei Mitscherlichs Lehrer, Viktor von Weizsäcker, für Zustimmung zu seiner eigenen Position. Dieser lehnte es jedoch rundheraus ab, auf seinen Schüler in der von Rein gewünschten Weise einzuwirken, denn Mitscherlichs Äußerungen fanden die Zustimmung seines Mentors. Eine unantastbar sakrosankte Wissenschaft erkenne er nicht an; der Auffassung, dass Unwissenschaftlichkeit »einige jener Nürnberger Männer […] ins Unheil gejagt«46 habe, konnte sich Weizsäcker nicht anschließen. Bei Mitscherlichs Lehrer abgeblitzt, wollten Rein und der Dekan der Medizinischen Fakultät Heidelberg, Hermann Hoepke, nun die große mediale Bühne suchen. Kurz vor der Nürnberger Urteilsverkündung strebten sie nach einer offiziellen Erklärung aller medizinischen Fakultäten, in der sich die deutsche Ärzteschaft von den verhandelten Verbrechen distanzieren und in der alle strategischen Abwehrargumente gebündelt sein sollten: »Die Medizinischen Fakultäten Deutschlands als die berufenen Erzieher des ärztlichen Nachwuchses und als die Vertreter der medizinischen Wissenschaft erklären zu dem in Nürnberg gefällten Urteil: Wir lehnen die in diesem Prozess aufgedeckten Verbrechen einmütig ab. Sie haben nichts mit Wissenschaft zu tun und sind nicht aus den Anschauungen erwachsen, die wir von jeher vertreten haben. Wir betonen vor aller Welt, daß die in Nürnberg verurteilten Ärzte einen verschwindend kleinen Teil der deutschen Ärzteschaft darstellen. Die Welt hat sich inzwischen überzeugen können, daß deutsche Ärzte nicht anders denken, empfinden und handeln als die Ärzte aller Kulturstaaten.«47 Interessanterweise scheiterte die Erklärung u. a. an der Weigerung der Freiburger Fakultät, Reins wissenschaftlicher Lehrstätte. Aber auch aus Mainz wurden »ernste Bedenken«48 artikuliert, doch wolle man sich, wenn alle anderen zustimmten, nicht aus der Gemeinschaft ausgrenzen. Man fürchtete, dass eine Stellungnahme in »dieser unruhigen Zeit« kontraproduktiv sei und die Aufmerksamkeit erst recht auf sich lenken werde. »Im jetzigen Augenblick wirkt eine solche Erklärung u. U. wie der Ausdruck eines schlechten Gewissens, wie eine Form prophylaktischen Sich-Entlasten»Diktat der Menschenverachtung« und »Dokumentenstreit«
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Wollens. Jedenfalls würde es in Laienkreisen so aufgefasst werden können. Es könnte damit das Gegenteil von dem erreicht werden, was Sie anstreben. Man würde in Hinsicht auf die Gerichtsverhandlung sagen: Die, die jetzt diese Erklärung abgeben, waren doch die Erzieher, Lehrer und Chefs derjenigen, die sich in so schwere Schuld verstrickt haben. […] Wir meinen, dass jetzt nicht der Zeitpunkt für derartige Bezeugungen an die breite Öffentlichkeit gekommen ist. […] Jetzt stört sie nur auf, was besser in Ruhe gelassen wird«, heißt es in einem Schreiben an Hoepke.49 Wie eng verbunden die Zirkel der »Ehrenmänner alten Schlages« auch nach 1947 waren, zeigte sich, als Hermann Rein 1952 ausgerechnet nach Heidelberg, der Wirkungsstätte Mitscherlichs, übersiedeln wollte. Wie die gemeinsam geplante Erklärung mit Hoepke schon andeutet, waren Reins Verbindungen nach Heidel berg hervorragend. Auch zu dem dort lebenden Karl Heinrich Bauer, berühmtester Schüler von Reins Göttinger Kollegen Rudolf Stich, Dekan der Medizinischen Fakultät während der NS -Zeit, hatte Rein beständigen Kontakt, kamen sie doch aus der gleichen Gegend, ihre Familien kannten sich gut.50 Bauer indes stand in einem äußerst angespannten Verhältnis zu seinem Kollegen Mitscherlich. Ausgangspunkt war eine Kontroverse in der New York Times51 über eine mögliche Renazifizierung der Universität Heidelberg, hinter der Bauer Mitscherlich vermutete, der damit, wie auch schon durch sein »Diktat der Menschenverachtung«, erneut seinem eigenen Berufsstand schade. Der Artikel von 1949 nimmt direkt auf die Auseinandersetzung 1947 Bezug. Dort war zu lesen, dass Mitscherlich mit einer konsequenten Ausgrenzung aus dem Ärztestand zu kämpfen hätte, da er damals durch ein »Scherbengericht« als »Verräter verurteilt« worden sei52 – auch während Bauers Dekanat53. Der Streit eskalierte, kurz bevor Rein nach Heidelberg kommen sollte. Mitscherlich argwöhnte, Bauer betreibe seine Diskreditierung an der Fakultät, damit Rein nicht auf seinen einstigen Gegner treffen würde. »Wenn es, wie ein verbreitetes on dit54 besagt, die Absicht von Herrn Prof. Bauer war, mich aus der Fakultät zu verdrängen, ehe sein Landsmann Prof. Rein nach Heidelberg kommt – dessen Gegnerschaft in einer die ärztliche Selbstkritik herausfordernden Situation gefunden zu haben ich nicht um meinetwillen bedauere –, so kann ich nur feststellen, dass ihm das gelungen ist. […] Es ist eine der Ironien des Schicksals, 108
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dass genau das, was seinerzeit in der New York Times angezeigt wurde, meine Isolierung in der Fakultät, nun durch Prof. Bauer selbst so erfolgreich zum Abschluss gebracht wird, während er mich gegen meine tiefsten Erwartungen eines neuen geistigen Aufschwunges der deutschen Universitäten deren Denunziation bezichtigt.«55 Die Unterstellung, er bereite Reins Ankunft durch Intrigen vor, weist Bauer, ebenso wie Rein, scharf zurück und bekennt, dass er »noch nie in meinem Leben eine derartige m. E. niedrige Unterstellung in einem offiziellen Schreiben an die Fakultät von Seiten eines Privatdozenten erlebt habe, wie diese.«56 Unumwunden gibt er jedoch zu, dass das Verhältnis der Fakultät zu Mitscherlich in seinen Augen reservierter geworden sei, da dieser seinerzeit nur das Material der Ankläger, nicht aber das der deutschen Verteidigung berücksichtigt habe. Wer 1947 und in den folgenden Jahren nicht nur die erschütternden Inhalte des »Diktat[s] der Menschenverachtung« zur Kenntnis nahm, sondern auch dessen Vorwort las, »dem wurde klar, dass das Buch seinerseits eine komplizierte Vorgeschichte hatte, die einer sich herausbildenden kritischen Öffentlichkeit skandalös erscheinen musste«57. Dass die Publikation seit 1946 mancherseits behindert oder bekämpft wurde, bot nicht minder Anlass zur Skandalisierung, als dass die Erstausgabe, die eigentlich zunächst nur unter Medizinern verbreitet werden sollte, im Heidelberger Verlag Lambert Schneider erschien, auch, weil sich die Herausgeber der Medizinischen Wochenschrift geweigert hatten, den Bericht in der Standeszeitschrift zu veröffentlichen. Auch weil der Abschlussbericht von 1949 größtenteils auf Schweigen stieß, monierte Mitscherlich 1960, es habe in der Folge des Nürnberger Ärzteprozesses weder in der Ärzteschaft noch in der deutschen Gesellschaft eine ausreichende Auseinandersetzung um die nationalsozialistischen Medizinverbrechen gegeben. Obwohl 10.000 Exemplare seines Buches an die Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammer zur Verteilung an die Ärzteschaft gegangen seien, sei eine Wirkung völlig ausgeblieben. »Es war und blieb ein Rätsel – als ob das Buch nie erschienen wäre.«58 Immer wieder wurde später vermutet – auch von den Herausgebern selbst –, dass interessierte ärztliche Kreise die Gesamtauflage aufgekauft und beiseite geschafft hätten. »Die Wahrheit ist banaler und bezeichnender für das vergangenheitspolitische Klima der 1950er-Jahre. [Die Exemplare] la»Diktat der Menschenverachtung« und »Dokumentenstreit«
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gen wie Blei in den Regalen – und wurden schließlich wohl zum großen Teil vernichtet.«59 Dennoch brachten sie Mitscherlich heftige Feindschaften innerhalb der medizinischen Zunft ein. Einen Lehrstuhl erhielt er erst mit 59 Jahren – in einer Philosophischen Fakultät.60 Der Hochachtung internationaler Kollegen konnte Mitscherlich sich indes sicher sein. Robert J. Lifton bekannte noch 1988, er und alle anderen Forscher im Bereich der NS -Medizingeschichte stünden »wie Zwerge auf den Schultern von Alexander Mitscherlich, der das Ausmaß der medizinischen Verbrechen der Nazis als erster der Öffentlichkeit bekannt machte«.61 Letztlich: Ob die vehementen Attacken oder das jahrelange Schweigen: Das »Diktat der Menschenverachtung« und den »Dokumentenstreit« begleitet mehr als ein Skandal – »Wolken groben Staubes gegen jedermann.«
Anmerkungen 1 Alexander Mitscherlich/Fred Mielke, Das Diktat der Menschenverachtung, Heidelberg 1947, S. 11. 2 Die Angeklagten hätten »an einem gemeinsamen Vorhaben oder einer Verschwörung zur Begehung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit […] teilgenommen und solche Verbrechen begangen«. Angeklagt waren: Viktor Brack, Karl Brandt, Rudolf Brandt, Karl Gebhardt, Waldemar Hoven, Joachim Mrugowsky, Wolfram Sievers, Fritz Fischer, Karl Genzken, Siegfried Handloser, Gerhard Rose, Oskar Schröder, Hermann Becker-Freyseng, Herta Oberheuser, Wilhelm Beiglböck, Helmut Poppendick, Kurt Blome, Adolf Pokorny, Paul Rostock, Konrad Schäfer, Siegfried Ruff, Georg August Weltz und Wolfgang Romberg, vgl. Bundesarchiv (im Folgenden BA) Koblenz, Nürnberger Prozesse, Fall 1: Ärzteprozess, Anklageschrift der Anklage, All.Proz.1 LXIV B 1. 3 »Dokumentenstreit« deswegen, weil es vor allem um die authentische Wiedergabe der Vorgänge, also den Umgang mit den veröffentlichten Dokumenten durch Mitscherlich ging. Aus der GUZ ging später die Deutsche Universitätszeitung hervor, die Redaktion wurde von Göttingen nach Bonn-Godesberg verlegt. 4 Solche und andere Versuche wurden vom Reichsführer SS, Heinrich Himmler, angeregt, der 1942 das Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung innerhalb des SS-Ahnenerbe ins Leben rief, vgl. u. a. die Archivalien im BA Berlin, NS 21, Forschungs- und Lehrgemeinschaft »Das Ahnenerbe«; Michael H. Kater, Das »Ahnenerbe« der SS, 1935–1945. Ein Beitrag zur Kulturpolitik des Dritten Reiches, München 2006, und Julien
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Reitzenstein, Himmlers Forscher. Wehrwissenschaft und Medizinverbrechen im »Ahnenerbe« der SS, Paderborn 2014. Schreiben von Dr. Carl Oelemann, Vorsitzender der Ärztekammer Grosshessen, an die Medizinische Fakultät der Universität Göttingen vom 09.11.1946, in: Alexander-Mitscherlich-Archiv (AMA) II 2/112.1a, zit. nach Jürgen Peter, Der Nürnberger Ärzteprozess im Spiegel seiner Aufarbeitung anhand der drei Dokumentensammlungen von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke, Münster 1994, S. 32. Ebd. Alexander Mitscherlich, Ein Leben für die Psychoanalyse. Anmerkungen zu meiner Zeit, Frankfurt am Main 1980, S. 157. Ebd. Alexander Mitscherlich war Privatdozent und wurde maßgeblich von Fred Mielke, einem Medizinstudenten, unterstützt. Die Verwunderung über die Auswahl dieser Protagonisten beschreibt auch Peter, S. 38 ff. Schreiben von Deuticke an Carl Oelemann vom 19.11.1946, zit. nach Peter, S. 36 (vgl. auch AMA II 2/112.13). Schreiben von Paul Hoffmann an Carl Oelemann vom 09.11.1946, zit. nach ebd., S. 37 (AMA II 2/112.16). Ebd. Es erschienen folgende Ausgaben: 1947: Das Diktat der Menschenverachtung, Zwischenbericht; 1949: Wissenschaft ohne Menschlichkeit. Medizinische und eugenische Irrwege unter Diktatur, Bürokratie und Krieg; 1960: Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses (Neuauflage und seither in der 18. Auflage); englische Übersetzung der Erstausgabe von 1947 und englische Ausgabe von 1962. Mitscherlich/Mielke 1947, vgl. in manchen Ausgaben enthaltenes Vorblatt »An den Leser«. Alexander Mitscherlich/Fred Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Von der Absicht dieser Chronik (1960), 17. Aufl., Frankfurt am Main 2009, S. 12. Alexander Mitscherlich, Menschenversuche im Dritten Reich. Zur Problematik ethischer Orientierung in der Medizin, in: ders., Gesammelte Schriften VI. Politisch-Publizistische Aufsätze 1, hg. von Herbert Wiegandt, Frankfurt am Main 1983, S. 195. Schreiben von Büchner an Janssen, den Dekan der Medizinischen Fakultät, Universität Freiburg vom 25.06.1947, in: Universitätsarchiv (im Folgenden UA) Freiburg B 53/33. Schreiben des Anwalts Dr. W. Bappert an das Landgericht Freiburg im Breisgau vom 24.04.1947 wegen einstweiliger Verfügung, in: UA Freiburg B 53/33. Ebd. Eidesstattliche Erklärung Büchners vom 23.04.1947, in: UA Freiburg B 53/33. Schreiben des Anwalts Dr. W. Bappert an das Landgericht Freiburg im Breisgau vom 24.04.1947 wegen einstweiliger Verfügung, in: ebd. »Diktat der Menschenverachtung« und »Dokumentenstreit«
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22 Vgl. Rainer Driever, Hermann Rein, online einsehbar unter http://www. stadtarchiv.goettingen.de/strassennamen/Hermann-Rein.pdf [eingesehen am 11.06.2015]. 23 Der Vorsitzende der Tagung »Ärztliche Fragen bei Seenot und Winternot«, Prof. Hippke, führender Vertreter der deutschen Luftfahrtmedizin, legte eine eidesstattliche Erklärung ab, dass niemand auf der Tagung und auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt Einspruch erhoben habe. Auch Ruff und Weltz versicherten, dass niemand widersprochen habe. Vgl. Alexander Mitscherlich, Absicht und Erfolg, in: GUZ, Jg. 3 (1948), H. 3, S. 5. 24 Driever. 25 Ulrich Beushausen u. a., Die Medizinische Fakultät im Dritten Reich, in: Heinrich Becker/Hans-Joachim Dahms/Cornelia Wegeler (Hg.), Die Universität Göttingen unter dem Nationalsozialismus, 2. Aufl., Göttingen 1998, S. 183–286, hier S. 255. 26 Schreiben von Büchner an Engelking vom 10.05.1947, in: UA Freiburg B 53/33. 27 Schreiben der Medizinischen Fakultät Freiburg, o. D., in: ebd. 28 Schreiben von Büchner an Engelking vom 10.05.1947. 29 Wolfgang Heubner, Protest von Heubner und Sauerbruch, in: GUZ, Jg. 3 (1948), H. 3, S. 6. 30 Ebd. 31 Peter, S. 197. 32 Schreiben von Anwalt Achelis an Mitscherlich vom 06.04.1948, zit. nach Peter, S. 211 (AMA II 2/71.21). 33 Mitscherlich, Gesammelte Schriften VI, S. 164. 34 Peter, S. 238. 35 Vgl. ebd. und Mitscherlich, Gesammelte Schriften VI, S. 165. 36 Vgl. Hermann Rein, Rein: Vorbeigeredet, in: GUZ, Jg. 2 (1947), H. 17/18, S. 8. 37 Hermann Rein, Wissenschaft und Unmenschlichkeit. Bemerkungen zu drei charakteristischen Veröffentlichungen, in: GUZ, Jg. 2 (1947), H. 14, S. 4. 38 Peter, S. 224. 39 Dass jedoch in Göttingen am Physiologischen Institut zweckgebunden an kriegswichtigen luftfahrtmedizinischen Belangen geforscht wurde und Rein äußerte, es erfülle ihn »mit Stolz und Freude, dass wir auf diese Weise entscheidend mithelfen können, die Wehrfähigkeit Deutschlands zu steigern«, wurde bereits herausgearbeitet, vgl. Kai-Thorsten Bretschneider, Friedrich Hermann Rein. Wissenschaftler in Deutschland und Physiologen Göttingen in den Jahren 1932–1952, Göttingen 1997, hier S. 45, Brief von Rein an den Staatsminister a. D. Schmitt-Ott vom 17.03.1941. Auch darüber, dass diese Forschungen thematisch eng mit den in Nürnberg geschilderten Unterdruckversuchen in Verbindung stehen, besteht Einigkeit in der Forschung. So wird bei Beushausen u. a. (S. 241) betont: »Definitiv zu klären, ob die Parallelen in den Themen und die
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zweifellos vorhandenen Unterschiede in den Zielen und Methoden zwischen den Versuchen in der Göttinger Universitätsphysiologie und denen Raschers im KZ Dachau reiner Zufall, Ergebnisse eines einseitigen Nachahmungsversuchs durch Rascher, einer abgesprochenen Arbeitsteilung oder gar – im härtesten Sinne von Baaders mehrdeutig formulierten und bislang unbewiesenen Thesen – einer direkten Beteiligung gewesen sind, muß weiteren Forschungen überlassen bleiben.« Dass Dachau und das Rein’sche Institut zu einem Forschungsnetzwerk gehörten, betonen u. a. auch Karl-Heinz Roth, Wolfgang U. Eckart und Julien Reitzenstein. Ash stellt fest, dass vor allem in der Luftfahrtforschung keine prinzipielle Abgrenzung zwischen »reiner Grundlagenforschung« und »angewandter Forschung« zu konstatieren sei, vgl. Mitchell G. Ash, Wissenschaft und Politik. Eine Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd. 50 (2010), S. 11–46, hier S. 28. Überblicksweise und allgemein zur Thematik vgl. u. a. Ernst Klee, Deutsche Medizin im Dritten Reich: Karrieren vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2001, S. 186 ff.; Angelika Ebbinghaus/Karl Heinz Roth, Medizinverbrechen vor Gericht. Die Menschenversuche im Konzentrationslager Dachau, in: Ludwig Eiber/Robert Sigel (Hg.), Dachauer Prozesse. NS-Verbrechen vor amerikanischen Militärgerichten in Dachau 1945–48. Verfahren, Ergebnisse, Nachwirkungen, Göttingen 2007, S. 126–159, und Angelika Ebbinghaus/ Klaus Dörner, Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozess und seine Folgen, Berlin 2001. 40 Rein, Wissenschaft und Unmenschlichkeit, S. 4. 41 Vor allem Roth machte deutlich, dass gerade in der Luftfahrtforschung wegen der Dringlichkeit des Luftkrieges Pionierarbeit geleistet wurde. Doch waren der Erkenntnisproduktion innerhalb der etablierten Forschung Grenzen gesetzt ohne Versuchspersonen, deren Tod man hätte in Kauf nehmen müssen. Indes wurden bei den Versuchen in Dachau durchaus neue Erkenntnisse generiert, vgl. Karl Heinz Roth, Strukturen, Paradigmen und Mentalitäten in der luftfahrtmedizinischen Forschung des »Dritten Reichs« 1933 bis 1941: Der Weg ins Konzentrationslager Dachau, in: Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Jg. 15 (2000), H. 2, S. 49–77. Besonders deutlich wird dies in einem Schreiben von Rascher vom 23.08.1942 an seinen Vorgesetzten Sievers, der in Nürnberg zum Tode verurteilt wurde, über Prof. Holzlöhner, eine »weiche Type«, der die Kältetodversuche in Dachau leitete und sich 1945 das Leben nahm. »Die bisherigen Resultate stellen auch hier das bisher Gewusste weit in den Schatten, da bis jetzt noch nicht derartige Fälle beobachtet werden konnten. Aber ich sehe schon: um die extremen Resultate zu erhalten, werde ich alleine arbeiten müssen, da stärkste Hemmungen und Mitleid: ›meine Arbeitskraft würde ein halbes Jahr gelähmt sein, wenn ich die armen Leute schreien hören müßte‹«, zitiert Rascher Holzlöhner, vgl. BA Berlin, NS 21/913. Ash (S. 40) weist darauf hin, dass der Topos der reinen Grundlagenforschung im vergangenheitspolitischen Diskurs gezielt genutzt worden sei: »So organisiert war dieser Diskurs »Diktat der Menschenverachtung« und »Dokumentenstreit«
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gut geeignet, Verstrickungen von Wissenschaftlern und Wissenschaften in der NS-Zeit so umzudeuten, dass eine neue Einbindung derart bereinigter Wissenschaftler und Forschungsinhalte in neue Zusammenhänge leichter vonstattengehen konnte.« Roth stellt die These auf, dass der Weg nach Dachau durch Strukturen und Paradigmen der etabliert-akademischen Luftfahrtmedizin im Zuge einer zunehmenden Entgrenzung geebnet worden sei. Vor allem zwischen medizinischen Stellen der Wehrmacht und Forschungsstätten der SS, wie dem Ahnenerbe und Himmlers Institut für wehrwissenschaftliche Zweckforschung, lässt sich eine spezifische Forschungskonkurrenz nachweisen. Dass mindestens die SS erwiesenermaßen bereit war, dabei Grenzen zu überschreiten, zeigen die in Nürnberg verhandelten Versuche. Vgl. auch Kater, Ahnenerbe, und Reitzenstein. Alexander Mitscherlich, Protest oder Einsicht? Antwort Mitscherlichs an die Professoren Heubner und Sauerbruch, in: GUZ, Jg. 3 (1948), H. 10, S. 8. Peter, S. 224. Ebd., S. 225. Abschrift des Briefes von Viktor von Weizsäcker an Friedrich Hermann Rein vom 05.09.1947, zit. nach Peter, S. 244 (AMA, II 2/164.2). Entwurf der Erklärung vom 12.08.1947, in: UA Freiburg, B 53/33. Schreiben von Dekan Voit aus Mainz an Janssen im September 1947, in: ebd. Schreiben aus Freiburg an Hoepke vom 08.09.1947, in: ebd. Vgl. Nachlass von Karl Heinrich Bauer im UA Heidelberg, Ordner Heidelberg II, 5. Angelegenheit Prof. Mitscherlich. Delbert Clark, Heidelberg Held Failure in Policy: Reactionary Elements have taken over Old University, some critics declare, in: New York Times, 16.12.1947. Vgl. auch Steven P. Remy, The Heidelberg myth. The nazification and denazification of a german university, Cambridge 2002, S. 224 f. Vgl. Schreiben von Bauer an den Heidelberger Rektor vom 12.12.1952 bezüglich Einleitung einer Vermittlung bzw. Disziplinarverfahren gegen Mitscherlich, in: Nachlass Karl Heinrich Bauer. Mitscherlich ist bereit, dem Rektor die Quellen zu nennen, von denen er erfuhr, dass Bauer ihn im Namen Reins aus der Fakultät drängen soll, vgl. Schreiben von Mitscherlich an den Rektor vom 03.11.1952, Nachlass Karl Heinrich Bauer. Schreiben von Mitscherlich an den Rektor vom 23.10.1952, in: ebd. Schreiben von Bauer an den Rektor am 12.12.1952, in: ebd. Tobias Freimüller, Wie eine Flaschenpost. Alexander Mitscherlichs Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, Jg. 7 (2010), H. 1, online einsehbar unter http://www.zeithistorische-forschungen.de/ 1–2010/id=4474 [eingesehen am 12.06.2015]. Mitscherlich, Medizin ohne Menschlichkeit, S. 19.
Katharina Trittel
59 Freimüller. 60 Ebd. 61 Vorwort zur deutschen Ausgabe von Robert J. Lifton, Ärzte im Dritten Reich, Stuttgart 1988, S. XI.
»Diktat der Menschenverachtung« und »Dokumentenstreit«
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»Wir wollen keine Harlans mehr« Proteste gegen die Rückkehr des Jud Süß-Regisseurs im Winter 1952 von Robert Pausch
Gegen 13 Uhr setzte sich der Tross in Bewegung. Von der Akademischen Burse liefen eine Handvoll Studenten zum Wilhelmsplatz, wo sie vor der Mensa von ihren Mitstreitern bereits erwartet wurden. Nun waren es über hundert, die an diesem kalten Donnerstagnachmittag im Januar 1952 zum Centraltheater in der Barfüßerstraße zogen. Einige von ihnen hatten die Flugblätter bei sich, die Tage zuvor in den Hörsälen der Georg-August-Universität verteilt worden waren. Andere trugen Transparente. »Frieden mit Israel« stand darauf, und: »Wir wollen keine Harlans mehr«.1 Um 14 Uhr sollte die zweite Vorstellung von Hanna Amon beginnen, des neuen Stücks von Veit Harlan, »des Teufels Regisseur«2. So hieß es auf den Flugblättern der Demonstranten.3 Im Nationalsozialismus war Veit Harlan ein Star. Der Regisseur galt als »Virtuose der Gefühle«4 und Meister der pompösen, schwerblütigen Melodramen, die das deutsche Kinopublikum so liebte. Seine Filme waren zuverlässige Kassenschlager und auch Joseph Goebbels zeigte sich beeindruckt von dem jungen, karriere versessenen Filmemacher, der es wie kein anderer verstehe, das Herz des Kinobesuchers zu erreichen.5 Im November 1939 erteilte der Reichspropagandaminister Harlan eine besondere Aufgabe: Der deutsche Film müsse antisemitischer werden und als Massenmedium seinen Beitrag dazu leisten, das Volk in seiner Judenfeindlichkeit weiter zu radikalisieren. Auf der Basis der Novelle Jud Süß von Wilhelm Hauff nahm sich Harlan also der Geschichte des jüdischen Bankiers Josef Süß Oppenheimer, im 18. Jahrhundert ein Finanzberater des Herzogs Karl Alexander von Württemberg, an, spitzte sie weiter anti semitisch zu, klischierte, überdrehte und hetzte. Gleichwohl sollte das gleichnamige Machwerk nicht offen propagandistisch daher116
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kommen. Vielmehr demonstrierte die erste Szene des Films dem Publikum, dass hier ein »historischer« Stoff verhandelt würde. So galt es zu vermitteln, wie raffgierig, feige, ehrlos, lüstern, intrigant die Juden »wirklich« seien und dass, so die Moral des Films, das deutsche Volk nur in Eintracht fortbestehen könne, wenn es sich der Juden entledigte.6 Harlans Umsetzung war in diesem Sinne ein voller Erfolg. »Ein ganz großer, genialer Wurf. Ein antisemitischer Film, wie wir ihn uns nur wünschen können. Ich freue mich darüber«7, notierte Goebbels in sein Tagebuch und weiter, nachdem der Film im September 1940 in Berlin vor dem Reichskabinett aufgeführt worden war: »Man hört nur Worte der Begeisterung. Der Saal rast. So hatte ich es mir gewünscht.«8 Jud Süß, der auf perfide Art und Weise die antisemitischen Vorurteile, Bedürfnisse und Erwartungen des deutschen Publikums bediente, ohne dabei allzu offensichtlich zu indoktrinieren, wurde zu einem der größten Propagandaerfolge des nationalsozialistischen Kinos.9 Bis 1943 strömten mehr als zwanzig Millionen Zuschauer in die Kinosäle, Himmler war so begeistert, dass er Pflichtbesuche für die Waffen-SS anordnete, und so heißt es in einem Bericht des NS -Sicherheitsdienstes beinahe überschwänglich: »Es ist wohl noch keinem Film gelungen, eine derartige Wirkung auf weite Kreise des Publikums zu erzielen.«10 Der Film übertreffe schlicht »alle Erwartungen«11 und habe seine Aufgabe, eine »Pogromstimmung zu erzeugen«12, effizient erfüllt. Harlan drehte bis 1945 noch vier weitere Filme, unter denen das kurz vor Kriegsende uraufgeführte Durchhalteepos Kolberg hervorragte, das, ausgestattet mit einem immensen Budget und den neuesten filmischen Techniken, den Volkssturm heraufzubeschwören suchte. Doch verbunden blieb der Name Veit Harlan nach 1945 zuvörderst mit Jud Süß, dem propagandistischen Meisterstück und, wie der jüdische Schriftsteller Curt Riess schrieb, »ewigen Schandfleck des deutschen Films«.13 Nach 1945 war der Regisseur bemüht, seine Karriere möglichst unbeschadet fortzusetzen, und strebte zügig ein Entnazi fizierungsverfahren an, galt ihm die Bescheinigung, kein Nazi gewesen zu sein, doch als Billet für eine Rückkehr in die Ateliers der deutschen Produktionsfirmen. Harlan verfocht eine Strategie der Selbstexkulpation, in der er sich als apolitischer Künstler, als »unschuldiges Opfer schicksalhaften Pechs« und externer Proteste gegen die Rückkehr des Jud Süß-Regisseurs
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Zwänge inszenierte, das schlicht keine andere Wahl gehabt hätte, als dem »Teufel« Goebbels Folge zu leisten.14 Im Dezember 1947 wurde der Vorzeigeregisseur der Hitlerzeit schließlich in der Kategorie V als »Unbelasteter« entnazifiziert. Doch kaum war das Urteil gesprochen, kam es zu Protesten gegen Harlans Entnazifizierung und auf Anklage des Vereins der Verfolgten des Naziregimes leitete die Hamburger Staatsanwaltschaft ein neues Verfahren gegen den Regisseur ein. Die Anklage lautete nun auf Verbrechen gegen die Menschlichkeit.15 Die bereits in den Wochen und Monaten zuvor immer wieder aufkochende Debatte um die moralische Schuld der NS -Künstler und ihren Beitrag zu den Verbrechen des Nationalsozialismus erreichte mit dem Harlan-Prozess ihren vorläufigen Höhepunkt. Bis zu siebzig Reporter tummelten sich auf den Rängen des Hamburger Schwurgerichts, der Fall wurde zum medialen Großereignis.16 Im April 1950 wurde Harlan freigesprochen, da nicht bewiesen werden konnte, dass Jud Süß den Genozid an den Juden in irgendeiner Weise beeinflusst hätte. Ein Foto von Harlan, auf den Schultern seiner Anhänger, die ihn jubelnd aus dem Gerichtssaal trugen, ging tags darauf um die Welt und kurze Zeit später unterschrieb der Regisseur bei dem Göttinger Produzenten Hans Domnick einen Vertrag für seinen ersten Nachkriegsfilm, das Rührstück Unsterbliche Geliebte.17 Doch dem juristischen Freispruch stand die moralische Schuld entgegen, welche für Harlan, wie er im Rückblick selbst verbittert konstatierte, »eine Strafe ganz besonderer Art« darstellen sollte.18 Den Aufschlag für das, was der Historiker Wolfgang Kraushaar später eine »eigene Anti-Harlan-Bewegung«19 nannte, machte ein Hamburger Beamter: Erich Lüth, Leiter der staatlichen Pressestelle der Hansestadt. Anlässlich der Eröffnung der »Woche des deutschen Films« im September 1950 hielt Lüth eine Brandrede gegen Harlan, »diese[n] unwürdigen Repräsentanten des deutschen Films«20, die in einem Aufruf zum Boykott seiner Filme gipfelte: »Ein Mann, der einen mörderischen Hetzfilm produzierte, der in einem zweiten Film ›Kolberg‹ zu sinnlosem Durchhalten bis zur Selbstvernichtung aufrief […], dessen ganzes Wirken also die Mordhetze der Nazis und die Massenvernichtung […] förderte, machte sich selber damit für die Demokratie untragbar.«21 Die Domnick-Filmproduktion reichte daraufhin eine Unterlassungsklage gegen Lüth ein, bekam zunächst Recht, doch verlor schließlich 118
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Flugblatt aus dem Jahr 1951 gegen Veit Harlan und seine Filme, darunter die »Unsterbliche Geliebte«. Gegen die Aufführung dieses Films gab es in Göttingen im Februar 1951 Kundgebungen. Im Jahr darauf folgten dann die Proteste gegen »Hanna Amon«.
vor dem Bundesverfassungsgericht, das in dem bis heute grundlegenden »Lüth-Urteil« ein Bekenntnis zum Recht auf freie Meinungsäußerung als konstitutives Element des demokratischen Staates und »eines der vornehmsten Menschenrechte« formulierte.22 Während die regionale und überregionale Presse seinen Rechtsstreit mit Harlan und Domnick aufmerksam begleitete, zeigte sich, dass Lüths Boykottaufruf verfing und sich vielerorts Widerstand gegen die Aufführungen der Harlan-Filme regte. Zunächst noch zaghaft, durch Protestschreiben und vereinzelte Störaktionen, doch schließlich im Winter 1952, als Hanna Amon, Harlans zweiter Nachkriegsfilm, in die Kinos kam, in Gestalt einer veritablen Bewegung. Der Donnerstagnachmittag im Januar, als sich die Göttinger Studenten vor dem Centraltheater formierten, sollte später als Scheitelpunkt der Proteste in die Geschichtsbücher Eingang finden.23 Als der Protestmarsch der Studenten die Barfüßerstraße erreichte, wurden sie bereits erwartet. Einige korporierte Studenten und Göttinger Bürger hatten sich zu einer rasch anwachsenden Proteste gegen die Rückkehr des Jud Süß-Regisseurs
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Gegendemonstration formiert und empfingen die Protestierenden mit Pfiffen und »Pfui«-Rufen. Die Stimmung unter ihnen war aufgeheizt, die Harlan-Gegner wurden als »Judenlümmel« und »Judensäue« beschimpft, lautstark drohte man den »Judensöldlingen« Prügel an und als die Studenten ihre Parole »Friede mit Israel« skandierten, antwortete die mittlerweile wutschnaubende Menge mit dem »Heckerlied«, dessen Chorus »Blut muss fließen knüppelhageldick / und wir scheißen auf die Freiheit dieser Judenrepublik« für einige gespenstische Minuten durch die Gassen der Göttinger Innenstadt schallte.24 »Im Verlauf des Nachmittags wurde die Haltung der Menge immer drohender und radikal antisemitisch«, schrieb ein Reporter der Hamburger Zeit. »Um 19 Uhr war der Siedepunkt erreicht und die Straße bot haargenau den Anblick wie einst in der Kampfzeit, als des Führers treueste Garde den Nationalsozialismus mit brutaler Gewalt praktizierte.«25 Die Polizei traf die Eskalation des Protests gänzlich unvorbereitet. Nur mit wenigen Beamten war sie vor Ort, um die Zugänge zum Centraltheater zu sichern, doch als sich die Gegendemonstranten schließlich daran machten, den HarlanGegnern ihre Transparente zu entreißen und mit Faustschlägen auf die Studenten losgingen, waren die Versuche, die Parteien voneinander zu trennen, zwecklos. Begleitet von Schmähgesängen und den Hassparolen »Ab ins Arbeitslager mit ihnen« und »Brecht den Juden die Knochen« wurden einzelne Harlan-Gegner von der enthemmten Masse in die Seitenstraßen getrieben und dort mit Hieben und Fußtritten traktiert. 23 Demonstranten wurden teils schwer verletzt, ein Student erlitt eine Schädelfraktur, als mehr als ein Dutzend Männer auf ihn eintraten.26 »Harmlose Bürger, die alltags am Postschalter sitzen oder Heringe verkaufen, übertrumpfen sich gegenseitig in Haßausbrüchen. Keine einzige Stimme der Vernunft und Mäßigung, der Nazi-Ungeist triumphiert – ein Anblick jammervoll und tief beschämend«, konstatierte die Zeit.27 Noch am Abend des 28. Januar wurde vom Leiter der Göttinger Polizei der Notstand ausgerufen und alle weiteren Vorstellungen von Hanna Amon zunächst vorläufig und später durch den Regierungspräsidenten in Hildesheim endgültig abgesagt.28 In den folgenden Tagen entspann sich in Göttingen eine hitzige Debatte um die Harlan-Filme sowie Protest und Gegenprotest. 120
Robert Pausch
Das seinerzeit stramm konservativ-deutschnationale Göttinger Tageblatt gab hierbei das Sprachrohr der Parteigänger Harlans und wetterte gegen den moralinsauren Gesinnungsterror der »demonstrierenden Eiferer«.29 Hier wurden die »wüsten Radau szenen« gegeißelt, die von einem »lächerlichen Häuflein Mißvergnügter« ausgingen, das »einer ganzen Stadt [seinen] Willen aufzwingen« wolle.30 Die Protestierenden wurden als marginale Aufrührer in einer ansonsten ganz und gar anständigen Studentenschaft dargestellt, welche in »beschämender« Art und Weise das Ansehen der friedlichen Mehrheit sowie der Universitätsstadt Göttingen besudelten.31 Kein Wort verlor das Tageblatt über die nazistischen Ausfälle und den unverhohlenen Antisemitismus der Harlan-Freunde. In einer abenteuerlichen Verdrehung der Tatsachen wurden die Gegendemonstranten stattdessen als mutige Hüter von Recht und Ordnung stilisiert.32 Der Ring freier Studentenvereinigungen, ein Zusammenschluss linker und liberaler Studentengruppen, der den Protest gegen Harlan maßgeblich organisiert hatte, zeigte sich über die ehrverletzende Berichterstattung und den politischen Ungeist des Tage blatts erbost33 und auch die Göttinger Professorenschaft ergriff einige Tage später das Wort. In einem offenen Brief kritisierten 48 Hochschullehrer, darunter etwa Rudolf Smend, Carl Friedrich von Weizsäcker, Otto Hahn und Werner Heisenberg, die »unrichtigen und im Hinblick auf den Ernst der Tatsachen bedenklichen Darstellungen« des Tageblatts und lobten demgegenüber die Proteste gegen Harlan als Zeichen eines »politische[n] Verantwortungsgefühl[s], das sie [die Studenten , Anm. d. V.] antisemitischen und undemokratischen Tendenzen entschieden entgegentreten lässt.«34 Tags darauf stellte sich auch der Rektor der Universität, der Theologe Wolfgang Trillhaas, hinter seine Hochschüler. In einer öffentlichen Erklärung bescheinigte er ihnen, vorbildlich demokratisch und anständig gehandelt zu haben, als sie gegen Harlan demonstrierten und dem offenen Antisemitismus ihrer Gegner die Stirn boten.35 Gleichwohl: So entschlossen die Göttinger Ordinarien den Protestierenden den Rücken stärkten, so zögerlich und zaudernd gebärdete sich die Mehrheit der Kommunalvertreter. Einen Antrag von Konrat Ziegler, Verfolgter des NS -Regimes und seit 1946 Ratsherr der SPD, der einen Tag vor den Protesten gefordert hatte, die Proteste gegen die Rückkehr des Jud Süß-Regisseurs
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Aufführung von Hanna Amon zu untersagen, um blutige Ausschreitungen zu vermeiden, lehnte die Mehrheit von FDP und CDU ab. Nach längerer Diskussion wurde stattdessen beschlossen, die Sache dem niedersächsischen Innenministerium zu übergeben.36 Historische Verantwortung und moralische Schuld waren keine Kategorien, in denen die Ratsherren der bürgerlichen Parteien den Fall Harlan zu verhandeln gedachten.37 Harlan selbst reagierte auf die nun auch in zahlreichen anderen Städten aufflammenden Proteste gegen ihn und seinen Film mit der selbstgefälligen Larmoyanz, der Attitüde des Leidtragenden, mit der er sich schon in den Gerichtsprozessen zu verteidigen wusste. »Mein Vater schämte sich nie, die Scham war den Kindern vorbehalten«, schrieb sein Sohn Thomas Jahrzehnte später.38 Bereits 1951 hatte Veit Harlan es zu einem »tragische[n] Vorkommnis« erklärt, dass ausgerechnet ihn, einen »ausgesprochenen Philosemiten«, der Befehl getroffen habe, Jud Süß zu drehen.39 Im Januar 1952, wenige Tage nach den Ausschreitungen in Göttingen, erklärte er, dass er die ewigen »Verleumdungen« gegen seine Person »satt« habe und den missgünstigen Studenten mit einem »systematischen Orientierungsfeldzug« entgegentreten werde.40 Sie wollte er aufklären, über die unheilvolle Situation, in der er sich als Goebbels’ Paraderegisseur befunden hätte, über die politischen und lebensweltlichen Zwänge, die ihm schlicht keine andere Wahl gelassen hätten, als den Jud Süß zu drehen, kurz: über seine Unschuld, juristisch wie moralisch.41 Das öffentliche Urteil vermochte Harlan mit seinem Feldzug in eigener Sache mithin kaum mehr abzumildern, hatten sich doch im Laufe der Proteste beinahe die gesamte überregionale Presse wie auch Teile der Bundespolitik auf die Seite der Protestierenden gestellt.42 Dem Regisseur gelang es kaum noch, Produzenten für seine Filme zu finden, die Angebote blieben nach und nach aus und gegen die Aufführung der Harlan-Filme wurde weiterhin demonstriert.43 Der einstige Star des deutschen Kinos war in den letzten Jahren seines Lebens voller Bitterkeit darüber, dass ausgerechnet ihm, dem Künstler, eine Rückkehr in den Beruf derart erschwert, ja letztlich – so seine Deutung – versagt wurde.44 Und tatsächlich markiert der »Fall Harlan« eine der prominentesten Ausnahmen von der »gewissen Stille«, der »Diskretion«, mit der in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft üblicherweise die 122
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Reintegration nationalsozialistischer Verantwortungsträger vollzogen wurde.45 Obwohl sich Harlans Selbsterzählung als »willenloses Werkzeug« eines teuflischen Regimes nahtlos in die vorherrschenden vergangenheitspolitischen Deutungsmuster der frühen 1950er Jahre, den Umbau der Täter- zur Opfergesellschaft, einpasste, überwog doch in seinem Fall offenbar sein moralisches Versagen für Teile der Öffentlichkeit die juristische Entlastung: Der Widerspruch gegen das Comeback des Jud Süß-Regisseurs fungierte als notwendige Demonstration eines deutschen Bewusstseinswandels. Es war »eine Frage der Scham«.46 Für die normative Selbstfindung der postfaschistischen Gesellschaft war der Skandal um das Comeback des NS -Regisseurs entsprechend von kaum zu überschätzender Bedeutung:47 Die Ächtung des öffentlichen Antisemitismus wurde symbolisch verfestigt, moralische Grenzziehungen ausgehandelt und aufrechterhalten und nazistische Anklänge aus den öffentlichen Räumen verdrängt. Die Proteste der Göttinger Studenten leisteten hierzu einen wesentlichen Beitrag.
Anmerkungen 1 Siehe die Dokumentation in: Bericht über den fünftägigen Prozess anlässlich der Erstaufführung des Films »Hanna Amon« in Göttingen, in: StAG, Sammlung Nr. 16/24, Jüdische Gemeinde Göttingen. 2 Das Wort von Harlan als »des Teufels Regisseur« geht zurück auf eine Äußerung des Staatsanwalts im ersten Schwurgerichtsprozess 1949 gegen Harlan. Dieser antwortete im Verlauf des Prozesses: »Ihr nennt mich des Teufels Regisseur, aber wir waren alle des Teufels.« Siehe auch: Frank Noack, Veit Harlan: »Des Teufels Regisseur«, München 2000. 3 Siehe: Flugblatt, in: StAG, Sammlung Nr. 16/24. 4 Ingrid Buchloh, Veit Harlan. Goebbels’ Starregisseur, Paderborn 2010, S. 39. 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, München 2007, S. 131. 7 Elke Fröhlich, Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Sämtliche Fragmente, Bd. 4, München u. a. 1987, S. 286. 8 Ebd., S. 339. 9 Vgl. Frank Liebert, Vom Karrierestreben zum »Nötigungsstand«. »Jud Süß«, Veit Harlan und die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft, in: Thomas Henne/Arne Riedlinger (Hg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht, Berlin 2005, S. 111–146, hier S. 113. Proteste gegen die Rückkehr des Jud Süß-Regisseurs
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10 Zit. nach Friedländer, S. 126. 11 Zit. nach ebd. 12 Zit. nach Wolfgang Kraushaar, Der Kampf gegen den »Jud Süß«-Regisseur Veit Harlan, in: Mittelweg 36, Jg. 4 (1995), H. 6, S. 4–33, hier S. 10. 13 Curt Riess, Das gab’s nur einmal. Die große Zeit des deutschen Films, Bd. 3, Wien 1977, S. 109. 14 Liebert, S. 115. Der zuständige Richter, Walter Tyrolf, war während der NS-Zeit als Staatsanwalt am Sondergerichtshof in Hamburg angestellt und hatte dort in mindestens 18 Fällen wegen Bagatelldelikten auf Todesstrafe plädiert. 15 Vgl. Kraushaar, S. 12. 16 Vgl. Liebert, S. 130. 17 Vgl. Kraushaar, S. 13. 18 Veit Harlan, Im Schatten meiner Filme, Gütersloh 1966, S. 238. 19 Kraushaar, S. 18. 20 Erich Lüth, zit. nach ebd., S. 16. 21 Lüth, zit. nach ebd., S. 17. 22 Zit. nach Gerhard Ziegler, Freie Meinungsäußerung bleibt tabu, in: Die Zeit, 23.01.1958. 23 In den gängigen Darstellungen der Anti-Harlan-Proteste gelten die Auseinandersetzungen in Freiburg und Göttingen als die bedeutsamsten, vgl. Liebert, S. 143. 24 H. P., Antisemitischer Terror in Göttingen, in: Göttinger Presse, 28.01. 1952. 25 Werner Schwier, »Das wollen nun Akademiker sein!«, in: Die Zeit, 07.02.1952. 26 Vgl. Sonja Girod, Proteste und Revolte. Drei Jahrhunderte studentisches Aufbegehren in der Universitätsstadt Göttingen (1737–2000), Göttingen 2011, S. 187. 27 Schwier; siehe auch: H. P., Harlans Saat geht wieder auf, in: Göttinger Presse, 29.01.1952. 28 Vgl. o. V., Harlan-Film in Göttingen vorläufig verboten, in: Göttinger Tageblatt, 26.01.1952. 29 Margrit Stoeck, Göttinger Studenten im Zwielicht?, in: Göttinger Tageblatt, 28.01.1952. 30 P. W., Verbeugung vor dem Straßenterror, in: Göttinger Tageblatt, 29.01.1952. 31 Vgl. Stoeck, Göttinger Studenten im Zwielicht; P. W., Verbeugung vor dem Straßenterror; Heinz Koch, Hanna Amon – keine Sensation, in: Göttinger Tageblatt, 16.01.1952. 32 Dass die gewalttätigen Ausschreitungen während der Proteste von den Gegendemonstranten ausgingen, wurde später, ebenso wie die vielerorts dokumentierten antisemitischen Ausrufe der Harlan-Freunde, durch die polizeilichen Ermittlungen bestätigt. Siehe: Bericht über den fünftägigen Prozess anlässlich der Erstaufführung des Films »Hanna Amon« in Göttingen, in: StAG, Sammlung Nr. 26/24, Bl. 42.
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33 Vgl. o. V., Gegen tendenziöse Berichte, in: Göttinger Presse, 30.01.1952. 34 Zit. nach o. V., Göttinger Professoren nehmen das Wort, in: Göttinger Presse, 05.02.1952. 35 Vgl. o. V., Der Rektor meint: »Bedeutung der Methoden zweitrangig«, in: Göttinger Tageblatt, 06.02.1952. 36 Vgl. das Protokoll der Sitzung des Hauptausschusses der Stadt Göttingen vom 24.01.1952, in: StAG, Protokolle des Hauptausschusses 1952. 37 Vgl. auch Ernst Böhme, Zwischen Restauration und Rebellion. Die Georgia Augusta und die politische Kultur Göttingens in den fünfziger Jahren, in: Göttinger Jahrbuch, Bd. 53 (2005), S. 125–156, hier S. 146. 38 Thomas Harlan, Veit, Reinbek bei Hamburg 2011, S. 21. 39 Veit Harlan, Offener Brief, in: Hamburger Abendblatt, 30.01.1951. 40 Zit. nach o. V., Veit Harlan war in Göttingen, in: Göttinger Tageblatt, 08.02.1952. 41 Vgl. auch die eindrückliche Auseinandersetzung von Thomas Harlan, S. 65. 42 Vgl. Arne Riedlinger, Vom Boykottaufruf zur Verfassungsbeschwerde, Erich Lüth und die Kontroverse um Harlans Nachkriegsfilme, in: Henne/ Riedlinger (Hg.), S. 147–185, hier S. 153 f. 43 Vgl. Buchloh, S. 210. 44 Siehe etwa Harlan, Im Schatten, S. 238 ff. 45 Hermann Lübbe, Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein, in: Historische Zeitschrift, Jg. 236 (1983), H. 3, S. 579–599, hier S. 585 ff. 46 Ernst Friedlaender, zit. nach Riedlinger, S. 155. 47 Vgl. Liebert, S. 145; Riedlinger, S. 151 ff.
Proteste gegen die Rückkehr des Jud Süß-Regisseurs
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»Kultusminister der vierzehn Tage« Der Skandal um Leonhard Schlüter 19551 von Teresa Nentwig
Enthüllungen über die NS -Vergangenheit von Politikern sorgten in der Bundesrepublik Deutschland immer wieder für Aufregung. Ob Adenauers Kanzleramtschef Hans Globke, sein Vertriebenenminister Theodor Oberländer, der baden-württembergische Ministerpräsident Hans Filbinger oder der grüne Bundestagsabgeordnete Werner Vogel – ihre »braune« Vergangenheit lieferte Schlagzeilen. Auch Niedersachsen hatte 1955 einen solchen Skandal. Selten war die niedersächsische Politik derart präsent in den ausländischen Medien wie damals: Ob die französische Tageszeitung Le Monde, die englische Times, die Neue Zürcher Zeitung oder die New York Times – sie und viele weitere Zeitungen richteten im Mai und Juni 1955 ihren Blick auf die Landeshauptstadt Hannover und die südniedersächsische Universitätsstadt Göttingen als den beiden zentralen Orten des Skandals. Was war passiert? Am 24. April 1955 waren die Niedersachsen zur Landtagswahl aufgerufen gewesen. Doch weder hatten sie die Regierung des Sozialdemokraten Hinrich Wilhelm Kopf bestätigt noch für einen klaren Sieg von CDU, DP (Deutsche Partei) und FDP gesorgt. Erst Mitte Mai wurde klar, dass Niedersachsen zukünftig von einer Koalition aus DP, CDU, BHE (Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten) und FDP regiert werden würde.2 In der Kabinettsliste, die der designierte Ministerpräsident Heinrich Hellwege der Öffentlichkeit vorstellte, sorgte ein Name für Erstaunen: Der erst 33-jährige Leonhard Schlüter, Vorsitzender der FDP-Fraktion im Niedersächsischen Landtag, sollte neuer Kultusminister werden.3 Doch es war nicht sein Alter, sondern sein Werdegang, der die Gemüter erregte.4 Schlüter war nach nationalsozialistischem Sprachgebrauch »Halbjude«, hatte darunter in persönlicher wie beruflicher Hinsicht zu leiden gehabt und viele seiner Verwand126
Teresa Nentwig
ten in Konzentrationslagern verloren. Das hatte ihn jedoch nicht gegen jede Form des Rechtsextremismus immun gemacht, im Gegenteil: Seit Februar 1948 engagierte sich Schlüter in der DKPDRP (Deutsche Konservative Partei-Deutsche Rechtspartei), u. a. seit September 1948 als deren niedersächsischer Landesvorsitzender und seit November desselben Jahres als Mitglied des Rates der Stadt Göttingen. Anfang Dezember 1948 hielt Schlüter in seiner Funktion als Chef des niedersächsischen Landesverbandes der DKP-DRP eine Rede in der Wolfsburger Stadthalle, die er mit den folgenden Worten beendete: »Man spricht von einer nationalen Erhebung, die 1933 das schlafende Deutschland aus den Angeln hob. So war es bei Gott, und es wird nicht mehr lange dauern, und ein neues 1933 wird über uns hereinbrechen. Ich will es jedenfalls hoffen.«5 Mit einer Verfügung vom 30. April 1949 verbot ihm die britische Besatzungsmacht aufgrund seiner rechtsextremen und nationalistischen Agitation schließlich jegliche Form der politischen Betätigung, selbst den Besuch von Versammlungen. Doch daran hielt sich Schlüter nicht. So soll er den Nationalsozialismus Anfang 1950 auf einer Versammlung in Gifhorn als »die gesündeste Bewegung in Deutschland seit 1900«6 bezeichnet haben.7 Nachdem Schlüter schließlich Anfang 1951 den Vorsitz der »Nationalen Rechten« übernommen hatte, wurde er bei der niedersächsischen Landtagswahl am 6. Mai 1951 als gemeinsamer Spitzenkandidat der rechtsextremen »Deutschen Reichspartei« (DRP) und der »Nationalen Rechten« in den Landtag gewählt. Einen Monat später begann Schlüters Karriere in der FDP : Seit Juni 1951 war er Hospitant, seit September desselben Jahres vollwertiges Mitglied der FDP-Landtagsfraktion, wo er sich in der Folgezeit zum Wortführer des rechten Flügels der FDP-Abgeordneten entwickelte. Im Mai 1954 stieg Schlüter, der erst 1953 Mitglied der FDP geworden war, zum stellvertretenden Vorsitzenden, im April 1955 schließlich zum Vorsitzenden der freidemokratischen Landtagsfraktion auf. In Göttingen war Schlüter aber vor allem aus zwei anderen Gründen kein Unbekannter: Zum einen hatte der in Rinteln an der Oberweser geborene Offizierssohn von Anfang Mai 1945 bis Anfang August 1947 als Leiter der Kriminalpolizei Göttingen-Südhannover gearbeitet. Die Ursache für sein Ausscheiden war wenig rühmlich: Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen ihn, u. a. wegen Der Skandal um Leonhard Schlüter
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Aussageerpressung und der Verfolgung Unschuldiger. Zum anderen war Schlüter in Göttingen auch deswegen bekannt, weil er parallel zu seiner Tätigkeit als Politiker als Verleger wirkte. So hatte er im September 1951 die »Göttinger Verlagsanstalt für Wissenschaft und Politik« gegründet, die in den Folgejahren hauptsächlich Werke rechter bis rechtsextremer Provenienz veröffentlichte, darunter 1954 die Schrift »Der Fall Otto John. Hintergründe und Lehren« des ersten Gestapo-Chefs Rudolf Diels. Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass bereits Schlüters Wahl zum Vorsitzenden der FDP-Fraktion für den SPD -Pressedienst vom 29. April 1955 »ein Alarmsignal erster Ordnung«8 darstellte. Da Schlüter sich jedoch in seinen Jahren als Landtagsabgeordneter in der Schulpolitik profiliert hatte, war es vom Fraktionsvorsitz nicht mehr weit zum Posten des Kultusministers: Seine Fraktion schlug ihn einstimmig dafür vor, Heinrich Hellwege setzte dem nichts entgegen und so tauchte Schlüters Name im Mai 1955 auf der Kabinettsliste auf. Der Rektor der Universität Göttingen, Emil Woermann, reagierte sofort: In persönlichen Gesprächen mit Hellwege, FDP-Vertretern (darunter der Landesvorsitzende Joachim Strömer) und mit Leonhard Schlüter selbst brachte er seine Bedenken gegen dessen Berufung zum Ausdruck. Da allerdings weder Hellwege noch die Liberalen einlenkten, vereinbarte Woermann einen Tag vor der Vereidigung der neuen Regierung mit seinen Senatskollegen den Rücktritt von ihren Ämtern, sollte Schlüter tatsächlich zum neuen Kultusminister ernannt werden.9 Und so kam es auch: Am 26. Mai 1955 wurde Schlüter zum Kultusminister ernannt und von der Landtagsmehrheit in diesem Amt bestätigt. Daraufhin kam es zu vielfältigen, sehr heftigen öffentlichen Protesten. Wie angekündigt, traten Emil Woermann, die Dekane sowie alle übrigen Mitglieder des Akademischen Senats noch am gleichen Tag demonstrativ von ihren Ehrenämtern zurück. In den Zeitungen wurden sie daraufhin als die »neuen Göttinger Sieben« gefeiert.10 Und die Studierenden? Im Historischen Seminar der Universität erzählte der »sehr kommunikative«11 Prof. Dr. Percy Ernst Schramm, der dem Senat angehörte, seinen beiden Assistenten, den Mitgliedern des Historischen Colloquiums12 Joist Grolle und Norbert Kamp, von Leonhard Schlüter und davon, dass der Senat für den 26. Mai zu einer Sondersitzung einberufen sei, um im 128
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Falle einer Ministervereidigung Schlüters unmittelbar reagieren zu können. Da für den 25. Mai eine Sitzung des Studentenrats angesetzt war, entschieden sich die beiden Studenten und zwei weitere Colloquiumsmitglieder, Helmut Lippelt und Sigurd Graf von Pfeil, sofort aktiv zu werden: »Uns war aufgefallen, daß ein wichtiger Teilbereich von Schlüters Wirken, seine Aktivität als Verleger, bisher noch kaum aufgehellt war. So beschlossen wir, dies in aller Eile bis zur Sitzung der Studentenvertretung nachzuholen. Wir besorgten uns einen Publikationsprospekt der […] ›Göttinger Verlagsanstalt‹. Schon auf den ersten Blick war erkennbar, daß die meisten seiner Autoren eine tiefbraune Vergangenheit hatten.«13 Hätte es damals bereits Facebook und Twitter gegeben, hätten die jungen Männer sicherlich darauf zurückgegriffen, um ihre Dokumentation der Autoren und der Buchtitel unter ihren Kommilitonen zu verbreiten. Sie jedoch mussten die Ausarbeitung »[b]is in die Nacht hinein […] mit Hilfe eines Matrizenapparates«14 vervielfältigen. Außerdem formulierten Grolle, Kamp, Lippelt und Pfeil einen Antrag an den Studentenrat, der auch von anderen Colloquisten (darunter Rudolf von Thadden) unterschrieben wurde und in dem ein Vorlesungs- und Übungsstreik für den Fall, dass Rektor und Senat zurücktreten, vorgeschlagen wurde.15 Dieser wurde schließlich – da er über die ursprünglich geplanten Aktionen hinausging und der Politisierungsgrad noch nicht so hoch wie später war – knapp mit elf gegen acht Stimmen bei zwei Enthaltungen angenommen.16 Und so nahm auch der Protest der Studierenden seinen Lauf: Die Angehörigen des AStA folgten noch am 26. Mai dem Beispiel der Professoren und erklärten ebenfalls den Rücktritt von ihren Ämtern der studentischen Selbstverwaltung.17 Außerdem riefen sie ihre Kommilitonen am nächsten Morgen zu dem Vorlesungs- und Übungsboykott auf. Sogleich mit Erfolg: »In drei der größten Universitätsgebäuden [sic!] fanden während des Vormittags insgesamt 5 Vorlesungen vor einem Gesamtauditorium von 25 Hörern statt.«18 Dabei blieb es nicht: Trotz ungünstiger Bedingungen (»kürzeste Ankündigungsfrist, Ferienbeginn, strömender Regen bis zum Abend«19) folgten am Abend des 27. Mai rund dreitausend von damals 4.500 Göttinger Studenten einem Aufruf des AStA vom Vormittag und marschierten in einem Fackelzug durch Der Skandal um Leonhard Schlüter
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Demonstration und Fackelzug gegen die Ernennung von Leonhard Schlüter am 27. Mai 1955. Zufällig ist direkt über dem Transparent »Ernennt einen BESSEREN KULTUSMINISTER!« zweimal der Name des Mode hauses »E. Schlüter Nachf.« zu sehen.
die Göttinger Innenstadt. Am Ende wurden sie »auf dem Wilhelmplatz [sic!] von den zurückgetretenen Mitgliedern des Senats empfangen«20 und hörten eine Ansprache des bisherigen AStA-Vorsitzenden, Dieter Stöckmann, und des zurückgetretenen Dekans der Theologischen Fakultät, Prof. D. Dr. Wolfgang Trillhaas.21 Auch die Zahl der Solidaritätsbekundungen nahm von Tag zu Tag zu. So baten der Rektor der Technischen Hochschule Braunschweig sowie die Direktoren der Pädagogischen Hochschulen in Göttingen, Braunschweig, Lüneburg und Osnabrück den niedersächsischen Ministerpräsidenten um die Entbindung von ihren Ämtern.22 Und sogar aus dem Ausland übermittelten viele Wissenschaftler und andere Persönlichkeiten der Universität Göttingen ihre Unterstützung, darunter z. B. der Physiker und Nobelpreisträger von 1925 James Franck, der von 1921 bis zu seiner Emigration im Jahr 1933 in Göttingen gelehrt hatte und zum Zeitpunkt der Schlüter-Affäre in Chicago lebte.23 Schlüter stand damals zwar auch aufgrund eines Ermittlungsverfahrens wegen Beamtenbestechung, das gegen ihn schwebte, 130
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Kundgebung gegen die Ernennung von Leonhard Schlüter am 27. Mai 1955 vor dem Eingang der Mensa am Wilhelmsplatz. Hinter dem Redner Dieter Stöckmann (zurückgetretener 1. AStA-Vorsitzender) Prof. D. Dr. Wolfgang Trillhaas (zurückgetretener Dekan der Theologischen Fakultät). Vor der Abzäunung von links nach rechts: der Mediziner Prof. Dr. Hemmo Müller-Suur, der Pädagoge Prof. Dr. Erich Weniger und der Theologe Prof. Dr. Joachim Jeremias. Stöckmann erinnerte in seiner Rede an die »Göttinger Sieben«, die 1837 die öffentliche Aufgabe und Verantwortung der Universität vorgelebt hätten.
in den Schlagzeilen24, aber die Proteste geschahen hauptsächlich wegen seiner Biografie und seiner Verlegertätigkeit. So zogen die Studierenden während ihres Fackelzugs mit Transparenten durch die Straßen, auf denen zu lesen war: »SCHLÜTER : ›Mein Leben spricht für sich‹« (siehe Abbildung), »Lernt aus der Vergangenheit« und »Die Universität mahnt zur Verantwortung«25. Und auf dem Pflaster vor der Universität war in großen weißen Buchstaben zu lesen: »SCHLÜTER«. Daneben sah man ein großes weißes Hakenkreuz.26 Trotz aller Proteste hielten der Ministerpräsident und die niedersächsischen Liberalen an ihrem Minister fest. Während Hellwege angesichts des akademischen Vorstoßes in die Tagespolitik von einer »ernste[n] Gefahr für den Gedanken der parlamentarischen Demokratie«27 sprach, verurteilte Strömer die universitären Proteste als »Eingriffe in die Freiheit des Parlaments«28. Damit sorgten die beiden Politiker für ein weiteres skandalöses Moment. Der Skandal um Leonhard Schlüter
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Doch nach und nach distanzierten sich mehrere FDP-Landes verbände von Schlüter29; zudem lehnten in der Bildungspolitik relevante Entscheidungsträger und Institutionen jede Zusammenarbeit mit ihm ab30. Infolgedessen sah sich Hellwege am Ende doch gezwungen, Schlüter zum Rücktritt zu drängen. Nachdem dieser bereits am 4. Juni 1955 auf eigene Bitte hin beurlaubt worden war – und zwar für die Dauer der Überprüfung der gegen ihn erhobenen Vorwürfe durch einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss –, legte er schließlich am 9. Juni 1955 mit Hinweis auf den öffentlichen Druck sein Amt nieder.31 Schlüter ging damit als »Kultusminister der zehn Tage« bzw. als »Kultusminister der vierzehn Tage«32 in die Geschichte ein. Als der parlamentarische Untersuchungsausschuss, der am 23. August 1955 seine Arbeit aufgenommen hatte33, im Februar 1956 seinen Abschlussbericht vorlegte, trat Schlüter aus der FDP wie auch aus der Landtagsfraktion aus.34 Einer »der größten politischen Skandale der Nachkriegszeit«35 war damit endgültig zu Ende. *** Die Schlüter-Affäre hat noch eine andere, meist übersehene Seite. Die vier Geschichtsstudenten Grolle, Kamp, Lippelt und Pfeil forcierten mit dem von ihnen zusammengestellten Material und ihrem Antrag eines Vorlesungs- und Übungsboykotts unbestritten den Skandalverlauf und erhöhten damit die Aufmerksamkeit, die die in- wie ausländische Presse dem Geschehen in Göttingen widmete. Oder mit anderen Worten: Sie trugen »zum Erfolg des Göttinger Protestes«36 bei. Doch für sie hatte ihr Engagement »noch ein Nachspiel, diesmal ohne große Öffentlichkeit«37. Da ihre Recherchen ergeben hatten, dass alle im Schlüter’schen Verlag publizierenden Professoren seit 1945 keine Lehrtätigkeit mehr ausübten, hatten sie diese in ihrer Auflistung unter der Rubrik »Professoren, die nicht wieder zur Lehrtätigkeit zugelassen wurden« zusammengefasst.38 Das war jedoch nicht ganz korrekt gewesen, denn die Professoren gehörten zwar zu denjenigen Hochschullehrern, die nach 1945 ihr Amt verloren hatten, aber durch die spätere Gesetzgebung ihre Beamtenrechte zurückerhalten hatten. Ein Teil davon lehrte wieder, ein anderer Teil – diejenigen, »die für eine Rückkehr allzu diskreditiert waren«39 – hingegen nicht. Zu 132
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diesem zählten die in Schlüters Verlag publizierenden Professoren. »Sie waren zwar im Besitz ihrer Bezüge geblieben, hatten aber auf nachdrückliches Drängen der Fakultäten letztendlich auf die Wiederausübung ihrer Lehrtätigkeit verzichten müssen. In ihren Augen war dies jedoch ein Agreement gewesen, keine Aberkennung von Rechten. Vor diesem Hintergrund kränkte sie tief, daß wir von ›Nichtzulassung zur Lehre‹ gesprochen hatten«, erinnert sich Joist Grolle.40 Und so gingen sechs Professoren gegen ihn und seine drei Kommilitonen vor: Von der Universitätsleitung verlangten sie – mit Erfolg – ein Verfahren vor dem Universitätsrichter und erstatteten zudem bei der Staatsanwaltschaft Göttingen Anzeige wegen übler Nachrede. »Wir wurden vorgeladen und eingehend verhört«, so Grolle.41 Er, Kamp, Lippelt und Pfeil bedauerten die Formulierung »Nicht wieder zur Lehrtätigkeit zugelassen«, sodass die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren einstellte und die beschwerdeführenden Professoren auf den Weg der Privatklage verwies. Weil sie die Kosten dafür hätten selbst tragen müssen, aber auch wegen der Aussichtslosigkeit einer solchen Klage und der »Angst […], dass dann wieder ihre ganze braune Vergangenheit ans Licht kommt«42, machten die Professoren davon jedoch nicht Gebrauch und setzten stattdessen auf das Verfahren vor dem Universitätsrichter, das u. a. eine vierstündige Verhandlung im März 1956 beinhaltete, an der auch Rektor Woermann teilnahm43. Der Universitätsrichter zeigte zwar – wie schon zuvor der Staatsanwalt – Sympathien für die Handlungen der vier jungen Männer44, sorgte bei den Betroffenen aber auch für Ernüchterung: »Von der NS -Vergangenheit der […] Professoren war an keiner Stelle die Rede. Es ging ausschließlich um die beamtenrechtliche Seite des Vorgangs.«45 Die vier Beklagten stimmten am Ende einem amtlichen Anschlag an allen Schwarzen Brettern der Universität zu, in dem sie nochmals die juristisch nicht korrekte Formulierung bedauerten46, u. a. mit den folgenden Worten: »Wir sehen ein, dass es unsere Pflicht gewesen wäre, den Sachverhalt sorgfältiger zu prüfen. Wir bedauern das, insoweit der Umdruck geeignet war, das Ansehen der genannten Professoren herabzuwürdigen. Dies ist keineswegs von uns beabsichtigt gewesen.«47 Und so hat die Schlüter-Affäre, die sich unbestritten positiv auf die demokratische Kultur der jungen Bundesrepublik auswirkte, Der Skandal um Leonhard Schlüter
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auch einen gewissen Beigeschmack: Auf der einen Seite fürchtete die Universität aufgrund der Formulierung »Nicht wieder zur Lehrtätigkeit zugelassen«, »der mühevoll eingedämmte Konflikt mit den ›draußen‹ Gebliebenen könnte wieder aufbrechen«48. Die Universitätsvertreter, so erinnert sich Grolle, »haben uns zu verstehen gegeben: Nun seht mal zu, dass ihr euch entschuldigt und dann ist die Sache beerdigt, denn wir möchten auf keinen Fall, dass da noch mal dieser alte Streit, den wir glücklich beerdigt hatten, noch mal aufkommt. Und dann haben wir gesagt: Na gut, der Universität zuliebe entschuldigen wir uns und damit hat es sein Bewenden.«49 Die Erleichterung der Universität war deshalb groß, als das Verfahren vor dem Universitätsrichter beendet war. Unter die NS -Vergangenheit der Georgia Augusta, mit deren Aufarbeitung man sich bereits in den ersten Nachkriegsjahren schwergetan hatte, sollte endgültig ein Schlussstrich gezogen werden. Auf der anderen Seite ist nicht zu vergessen, dass der Professorenprotest zumindest teilweise auch »auf einem egoistischen Interesse [gründete]«50: Man fürchtete »die Entfremdung bisheriger Freunde der Universität, das Fernbleiben von akademischen Feiern, das Scheitern von Berufungen, der [sic!] Weggang nach auswärts berufener Kollegen, das Erkalten des Verhältnisses zur Landesregierung, die Störung der Beziehungen der Universität zur Wissenschaft des Auslandes«51. Hinzu kommt schließlich: »Nach [19]45 hatten ja die deutsche Gesellschaft insgesamt und auch die Universitäten ein schlechtes Gewissen. Sie haben alles über sich ergehen lassen und kaum einer konnte von sich behaupten, dass er wirklich so mutig gewesen wäre, mal ein Wort dagegen zu sagen. Und nun war dieses so eine Chance, mal zu zeigen: ›Wir sind doch wer. Und wir haben doch so was wie Mut. Und diese Demokratie ist uns was wert.‹«52 Drei Tage nach Schlüters Rücktritt hatte bereits die Neue Zürcher Zeitung gefragt: »Will die Universität vielleicht gerade mit einer Art von freiwilligem demokratischem Nachexerzieren heute etwas von dem wieder gutmachen, was sie damals versäumt hat?«53 Wie dem auch sei: Die vier Geschichtsstudenten bewiesen Zivilcourage54 und sorgten mit dafür, dass sich sogar die konservative, der neuen Regierungskoalition eigentlich wohlgesinnte Frankfurter Allgemeine Zeitung in einem Leitartikel geradezu pathetisch über die Göttinger Ereignisse und deren Folgen äußerte: 134
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»Hätte man vorher gewußt, was man heute weiß, hätte man mit der Bewegung gerechnet, die nun entfesselt worden ist, Herr Hellwege und auch andere Politiker hätten sich die Ernennung Schlüters dreimal überlegt. Aber mußten sie nicht mit einer solchen Bewegung rechnen? Nun, man wird ihnen mildernde Umstände zubilligen müssen: Wir haben uns in den letzten Jahrzehnten allzuoft als Untertanen und nicht als freie Bürger gezeigt, als daß die Parteigewaltigen nicht hätten glauben sollen, ihre Beschlüsse seien unverletzlich. Daß dies ein Irrtum war, daß das deutsche Volk und daß seine geistigen Führer nicht mehr Untertanen sein wollen, dies ist das Erfreuliche und hoffentlich das Bleibende an den Ereignissen der letzten vierzehn Tage.«55
Anmerkungen 1 Bei diesem Text handelt es sich um die erheblich erweiterte Fassung meines Blogartikels »60 Jahre Schlüter-Affäre«, erschienen am 26.05.2015 im Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. 2 Vgl. Teresa Nentwig, Hinrich Wilhelm Kopf (1893–1961). Ein konservativer Sozialdemokrat, Hannover 2013, S. 402–405. 3 Vgl. Matthias Frederichs, Niedersachsen unter dem Ministerpräsidenten Heinrich Hellwege (1955–1959), Hannover 2010, S. 81; Heinz-Georg Marten, Die unterwanderte FDP. Politischer Liberalismus in Niedersachsen. Aufbau und Entwicklung der Freien Demokratischen Partei 1945–1955. Eine politiksoziologische Untersuchung der krisenreichen Neubelebung des politischen Liberalismus unter besonderer Berücksichtigung der innerparteilichen, programmatischen und sozialstrukturellen Konstitutionsbedingungen des niedersächsischen FDP-Landesverbandes, Göttingen 1978, S. 343. 4 Zu Schlüters Lebenslauf bzw. politischer Karriere vgl. vor allem Helmut Beyer/Klaus Müller, Leonhard Schlüter, in: dies., Der Niedersächsische Landtag in den fünfziger Jahren. Voraussetzungen, Ablauf, Ergebnisse und Folgen der Landtagswahl 1955, Düsseldorf 1988, S. 273–282; HeinzGeorg Marten, Der niedersächsische Ministersturz. Protest und Widerstand der Georg-August-Universität Göttingen gegen den Kultusminister Schlüter im Jahre 1955, Göttingen 1987, S. 14–21; ders., Die unterwanderte FDP, S. 338–343; Barbara Simon (Bearb.), Abgeordnete in Niedersachsen 1946–1994. Biographisches Handbuch, hg. vom Präsidenten des Niedersächsischen Landtages, Hannover 1996, S. 330 f.; o. V., Ein Feuer soll lodern, in: Der Spiegel, 15.06.1955. Diverse Zeitungsartikel, Dokumente u. Ä. zur Schlüter-Affäre sind unter den Signaturen C 46 Nr. 585 und Nr. 586 im Stadtarchiv Göttingen zu finden. Der Skandal um Leonhard Schlüter
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5 Zit. nach o. V., Eine unvergessene Schlüter-Rede, in: Göttinger Presse, 09.06.1955. 6 Zit. nach Paul Sethe, Herr Schlüter, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.01.1950; o. V., Schlüter zurückgewiesen. Eine sozialdemokratische Stellungnahme, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.01.1950. 7 Ende Mai 1955 wurde ihm diese Aussage, die bereits im Januar 1950 von der SPD-Bundestagsfraktion scharf kritisiert worden war, erneut vorgeworfen. Paul Sethe, einer der Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, appellierte an Schlüter, doch endlich dazu Stellung zu nehmen, denn die Aussage stehe immer noch unwidersprochen im Raum (vgl. Paul Sethe, Was sagt Schlüter?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.05.1955). Schlüter reagierte darauf jetzt mit einem Brief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung, in dem er u. a. schrieb, »daß ich einen solchen Ausspruch nie getan habe« (zit. nach o. V., Ein Brief Schlüters. »Ich habe den Ausspruch nie getan«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.05.1955). In einer anonymen Rechtfertigungsschrift für Schlüter, die 1958 in seiner Göttinger Verlagsanstalt für Wissenschaft und Politik erschien, hieß es dann: »Ta t s ä c h l i c h hatte Schlüter erklärt: ›Seit der Jahrhundertwende ist kaum einer politischen Bewegung soviel gesunder Idealismus von der deutschen Jugend entgegengebracht worden wie dem Nationalsozialismus. Die Enttäuschung dieser Jugend ist heute umso größer und daher stammt ihre offenkundige Zurückhaltung in der Politik.‹« (o. V., Die große Hetze. Der niedersächsische Ministersturz. Ein Tatsachenbericht zum Fall Schlüter, Göttingen 1958, S. 57, Hervorhebung im Original). 8 O. V. (Kürzel: sp), Von Foege zu Schlüter, in: Sozialdemokratischer Pressedienst, 29.04.1955, S. 5 f., hier S. 6. 9 Vgl. Buschke, S. 281; Frederichs, S. 81 f.; Marten, Die unterwanderte FDP, S. 344. 10 Vgl. z. B. o. V., Studenten protestieren gegen Schlüter, in: Göttinger Presse, 26.05.1955; Kurt Becker, Revolte der Hochschulen, in: Die Welt, 31.05.1955; Wilhelm Emanuel Süskind, Nicht nur Sieben in Göttingen, in: Süddeutsche Zeitung, 01.06.1955; Curt Bley, Aufstand der Georgia Augusta, in: Welt am Sonntag, 05.06.1955. 11 Interview mit Dr. Joist Grolle am 11.06.2015 in Hamburg. 12 Dabei handelt es sich um eine Vereinigung von Studierenden der Geschichte, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden war. Einmal in der Woche wurden Entwürfe von Staatsexamensarbeiten und Dissertationen besprochen, neue Bücher vorgestellt oder aktuelle politische Fragen diskutiert. Außerdem wurde im Winter 1952 ein selbstverwaltetes Studentenwohnheim am Kreuzbergring eingeweiht. Vgl. die »Persönlichen Erinnerungen« von Dr. Joist Grolle, S. 126–129 [unveröffentlichtes Manuskript]. Zum Historischen Colloquium vgl. außerdem Barbara Nägele u. a. (Hg.), »Wir wollten ja nun was anderes in der Bundesrepublik!« Das Historische Colloquium in Göttingen. Die Geschichte eines selbstverwalteten studentischen Wohnprojektes seit 1952, Göttingen 2004.
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Persönliche Erinnerungen von Dr. Joist Grolle, S. 131. Ebd. Eine Abschrift des Antrags befindet sich im Besitz von Dr. Joist Grolle. Vgl. die »Persönlichen Erinnerungen« von Dr. Joist Grolle, S. 132; Interview mit Dr. Joist Grolle. Vgl. Buschke, S. 280. Offener Brief des AStA Göttingen an alle Allgemeinen Studentenausschüsse vom 04.06.1955, unterzeichnet vom 1. AStA-Vorsitzenden Dieter Stöckmann. Zit. nach Marten, Ministersturz, S. 51. Der Vorlesungs- und Übungsstreik der Studierenden wurde erst nach Schlüters Beurlaubung am 4. Juni 1955 beendet. Vgl. o. V., Aufruf des AStA, in: Göttinger Tageblatt, 06.06.1955. Offener Brief des AStA Göttingen an alle Allgemeinen Studentenausschüsse vom 04.06.1955. O. V., Studenten wollen anderen Kultusminister, in: Göttinger Presse, 28.05.1955. Vgl. ebd.; o. V., 3000 protestierten, in: Göttinger Presse, 31.05.1955; Josef Schmidt, Der Kultusminister auf dem Pulverfaß, in: Süddeutsche Zeitung, 01.06.1955. Vgl. Becker; Buschke, S. 282, Anm. 17; Marten, Ministersturz, S. 59; Volkmar von Zühlsdorff, Der Streit um den Minister Schlüter, in: Die Zeit, 02.06.1955. Vgl. Marten, Ministersturz, S. 62; o. V., Wissenschaftler von Weltruf protestieren, in: Göttinger Presse, 02.06.1955; o. V., »… beglückwünschen wir Sie zu diesem Schritt«. Hunderte von Telegrammen beweisen Verbundenheit, in: Göttinger Presse, 04.06.1955. Vgl. o. V., Die Universität Göttingen verwahrt sich, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.06.1955; o. V., Schlüter gab angekündigte Erklärung ab, in: Göttinger Presse, 04./05.06.1955; Zühlsdorff. Vgl. o. V., Studenten wollen anderen Kultusminister. Vgl. o. V., Ein Feuer soll lodern. Öffentliche Erklärung Hellweges. Zit. nach Marten, Ministersturz, S. 42. Zit. nach Marten, Die unterwanderte FDP, S. 349. Vgl. ebd., S. 348 f. Vgl. Buschke, S. 282; o. V., Die Universität Göttingen verwahrt sich. Vgl. Marten, Ministersturz, S. 65 u. S. 67. Ein Teil des Spiegels vom 15.06.1955 wurde mit einer Titelseite gedruckt, auf der – unterhalb eines großen Schlüter-Konterfeis – »Kultusminister der zehn Tage« stand; bei dem anderen Teil war unter dem Porträt »Kultusminister der vierzehn Tage« zu lesen. Vgl. die Ausgaben in: StAG, C 46 Nr. 586. Zu dessen Arbeit vgl. Frederichs, S. 87–91. Vgl. Marten, Die unterwanderte FDP, S. 358; Simon, S. 331. Manfred Jenke, Die nationale Rechte. Parteien, Politiker, Publizisten, Berlin 1967, S. 201. Persönliche Erinnerungen von Dr. Joist Grolle, S. 130. Der Skandal um Leonhard Schlüter
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37 Ebd., S. 132. 38 Vgl. ebd., S. 131. 39 Ebd., S. 133. Insgesamt handelte es sich dabei lediglich um 16 Professoren und Dozenten. Vgl. Ernst Böhme, Zwischen Restauration und Rebellion. Die Georgia Augusta und die politische Kultur Göttingens in den fünfziger Jahren, in: Göttinger Jahrbuch, Bd. 53 (2005), S. 125–156, hier S. 131. 40 Persönliche Erinnerungen von Dr. Joist Grolle, S. 133. 41 Ebd. 42 Interview mit Dr. Joist Grolle. 43 Vgl. Marten, Ministersturz, S. 57. 44 Vgl. das Interview mit Dr. Joist Grolle. 45 Persönliche Erinnerungen von Dr. Joist Grolle, S. 133. 46 Vgl. ebd. 47 Die Erklärung vom 28.03.1956 befindet sich im Besitz von Dr. Joist Grolle. Zuvor, am 29.10.1955, hatten die vier Studenten bereits eine Erklärung abgegeben, in der sie auf die Entstehung der unzutreffenden Formulierung eingingen. Vgl. Marten, Ministersturz, S. 54 f. 48 Persönliche Erinnerungen von Dr. Joist Grolle, S. 133. 49 Interview mit Dr. Joist Grolle. 50 Robert Lorenz, Göttingens Tradition der Nonkonformisten, in: Alexander Hensel u. a. (Hg.), Demokratien am Wendepunkt. Jahrbuch des Göttinger Instituts für Demokratieforschung 2012, Stuttgart 2013, S. 223–226, hier S. 226. 51 Protokoll der Besprechung vom 24.05.1055 zwischen Emil Woermann und Werner Weber auf der einen Seite und Leonhard Schlüter und Erich Schmidt (ehemaliger Oberstadtdirektor der Stadt Göttingen) auf der anderen Seite, angefertigt von Weber, abgedruckt in: Marten, Ministersturz, S. 29–31 (Zitat: S. 30 f.). 52 Interview mit Dr. Joist Grolle. 53 O. V. (Kürzel: Lg.), Der Protest der Universität Göttingen gegen Schlüter, in: Neue Zürcher Zeitung, 12.06.1955. Die Zeitung der niedersächsischen FDP sprach von einem »nachgeholte[n] Widerstand«, um das Verhalten der zurückgetretenen Professoren zu charakterisieren (o. V., Der nachgeholte Widerstand. Der Mut kam erst zehn Jahre danach, in: Das Sprachrohr der FDP Niedersachsen, Jg. 6 (1955), Sonderausgabe vom Juni 1955, S. 3). 54 Den im Zusammenhang mit der Schlüter-Affäre häufig Verwendung findenden Begriff »Widerstand« lehnt Grolle, wie er im Gespräch mit der Verfasserin deutlich machte, für sich und seine Mitstudenten, aber auch für die zurückgetretenen Professoren ab. Vgl. dazu auch S. 133 f. seiner »Persönlichen Erinnerungen«. 55 Paul Sethe, Nicht mehr Untertanen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.06.1955. Sethe war damals Mitherausgeber der FAZ.
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Vater Courage Heinz Hilpert, die Wehrpflichtdebatte und eine Brecht-Aufführung (1956) von Robert Lorenz und Katharina Rahlf
»In Göttingen wird damit gerechnet, daß es am Samstag bei der Premiere des Schauspiels und am Sonntag bei einer Morgenfeier für Bert Brecht, [sic!] zu Störungen kommt.«1 Und an anderer Stelle hieß es: »Wir betrachten es daher als einen Mißbrauch dieser Stellung des Intendanten Hilpert gegenüber der Öffentlichkeit und dem Personal ›seines‹ Hauses, wenn er sich jetzt als Theaterleiter für eine derartig eindeutige politisch-demagogische Aktion hergibt.«2 Seinerzeit, im Spätsommer 1956, leitete Heinz Hilpert, der schon damals berühmte Intendant, bereits seit sechs Jahren das »Deutsche Theater Göttingen«. Seinetwegen richteten sich in jenen Monaten die Augen der jungen Bundesrepublik auf die südniedersächsische Universitätsstadt. Was war geschehen? Alles begann ganz harmlos. Im Juni 1956 erschien der Spielplan des Deutschen Theaters Göttingen und enthielt u. a. Bertolt Brechts »Mutter Courage und ihre Kinder«. Mit dieser »Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg« – einer gesellschafts- und kapitalismuskritischen Kriegswarnung – sollte die neue Saison im Herbst eröffnet werden. Einen Aufschrei gab es nicht, vielmehr waren die Platzabonnements schnell ausverkauft. Erst kurze Zeit später beschwerte sich die Göttinger Ortsgruppe der Pommerschen Landsmannschaft (PLM) beim Intendanten Hilpert mit der Bitte, dem ostzonalen Dichter Brecht doch die westdeutsche Bühne zu verwehren. Hilpert indes ließ sich nicht beirren, stattdessen ging er einen Schritt weiter – vielleicht sogar gerade weil er sich durch die Reaktion des Göttinger Vertriebenenverbands herausgefordert fühlte: Nicht nur beließ er Brechts Stück auf dem Spielplan, auch unterstützte er Anfang Juli einen Brief Brechts an den Deutschen Bundestag. Das Bundesparlament stand kurz vor der Verabschiedung des Wehrdienstgesetzes, das äußerst kontrovers debattiert Heinz Hilpert, die Wehrpflichtdebatte und eine Brecht-Aufführung
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wurde. In seinem Schreiben fragte Brecht: »Wollt ihr wirklich den ersten Schritt tun, den ersten Schritt in den Krieg?«, und schloss mit den Worten: »Da ich gegen den Krieg bin, bin ich auch gegen die Wehrpflicht in beiden Teilen Deutschlands, und da es eine Frage auf Leben und Tod sein mag, schlage ich eine Volksbefragung darüber in beiden Teilen Deutschlands vor.«3 Brecht hatte Hilpert eine Kopie des Briefs gesandt, den er zuvor an den christdemokratischen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier geschickt hatte. Hilpert setzte kurzerhand ein Begleitschreiben auf, in dem er bekundete, sich zwar nicht mit Brecht zu identifizieren, jedoch bei dessen »Auffassung von den Konsequenzen, die sich aus der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht im Bundesgebiet ergeben«, »ganz auf seiner Seite« zu stehen.4 Das heftete er in den Eingangsbereich des Theaters, sammelte rund hundert Unterschriften von Ensemble und Belegschaft und schickte es ebenfalls an den Bundestagspräsidenten. Erst jetzt erhielt Hilperts Entscheidung zur Aufnahme eines Brecht-Stücks in den DT-Spielplan öffentliche Brisanz. Was daran war eigentlich skandalös? Skandalträchtig war Hilperts Entscheidung, Brecht öffentlich zu unterstützen. Denn Brecht, der nach seiner Rückkehr aus der Emigration in die DDR gegangen war, hatte nach dem Aufstand des 17. Juni 1953, als in der DDR eine Massenbewegung der Bevölkerung mit Panzern und Polizei gewaltsam niedergeschlagen wurde, in einem Schreiben den ZKGeneralsekretär Walter Ulbricht seiner »Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands«5 versichert. Dadurch hatte sich Brecht vielerorts in der Bundesrepublik diskreditiert. Für die Bundesregierung war Hilperts Aktion auch deswegen unangenehm, weil nun die DDR-Presse mit Genugtuung suggerieren konnte, dass »einer der führendsten Theaterleute Deutschlands«6 mit einem der wichtigsten Kulturschaffenden der DDR politisch auf einer Linie lag. Dazu sei hier angemerkt: Erst kurz zuvor, im Juni 1956, hatte Hilpert bei einem Festvortrag zur Eröffnung des Volksbühnentages in Bremen Brecht als »den größten dramatischen Dichter unserer Zeit« und »einen der größten Gestalter des Theaters« hervorgehoben,7 ohne dass darauf eine Empörungswelle folgte. Auch ein Jahr zuvor – also bereits zwei Jahre nach Brechts politischer Brandmarkung – hatte Hilpert ein öffentliches Bekenntnis zum Künstler Brecht abgelegt.8 Brecht und Hilpert ent140
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stammten beide einer verschworenen Theaterwelt, die sich in den 1920er und 1930er Jahren in Berlin eingespielt hatte, in der man einander kannte, sich nicht immer mochte, aber sich, auf Grundlage gegenseitigen Respekts, eine gewisse Solidarität bewahrte. Dass Hilpert Brecht spielen ließ und Brecht zustimmte, war kein politischer Komplott gegen die westdeutsche Regierung, sondern entsprang zuallererst Hilperts Überzeugung, mit Brecht ließe sich ein Theater machen, das zum Nachdenken, zur kritischen Reflexion der politischen und gesellschaftlichen Gegenwart reizte – erst recht vor dem Hintergrund der westdeutschen Wiederbewaffnung und der Annahme einer dadurch steigenden Kriegsgefahr. Außerdem waren damals, im weltanschaulich gefärbten Konflikt zwischen West- und Ostdeutschland, Brechts Motive nie hinterfragt worden. Brecht stand im Juni 1953 unter großem Druck.9 Kurz zuvor war einer seiner Adepten und Ensemblemitglieder von der Stasi abgeholt und interniert worden. Ende Mai war Brecht zudem heftig in der DDR-Presse für seine Interpretation des »Urfaust« angegriffen worden;10 das Stück wurde abgesetzt und die Akademie der Künste strich Brechts monatliches Gehalt. Zudem rang Brecht zeitgleich um das Theatergebäude am Berliner Schiffbauerdamm. Und vermutlich übersandte Brecht seine Solidaritätsadresse an Ulbricht zwar mit dem Hintergedanken, sich beim Regime gutzustellen, jedoch noch in den Stunden vor der Niederschlagung des Aufstands.11
Gescheiterter Zensurversuch In Göttingen war es nun aber keineswegs so, dass Hilpert von mehreren Seiten angegriffen wurde, dass die Göttinger Bevölkerung kollektiv nach seiner sofortigen Absetzung verlangte, dass er in den Massenmedien als Handlanger des DDR-Regimes oder gar des Kreml verunglimpft wurde. Die schärfste Reaktion kam vom Gesamtdeutschen Block/Bund der Heimatvertriebenen (GB/BHE) in Göttingen. Dieser verurteilte öffentlich Hilperts Brief-Aktion und forderte Rat und Verwaltung der Stadt indirekt auf, derlei Schritte zukünftig zu unterbinden – schließlich sei Hilpert als Leiter des Theaters ja keine gewöhnliche Privatperson.12 Dieser Konflikt zog sich hin, bis die Aufführung des kontroversen Stücks nahte. Heinz Hilpert, die Wehrpflichtdebatte und eine Brecht-Aufführung
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Anfang September 1956 schließlich besprach sich der Aufsichtsrat der Göttinger Theater GmbH mit Hilpert; der Verwaltungsausschuss der Stadt indessen wünschte sich, dass das Deutsche Theater künftig nicht mehr im Ruf stehen sollte, sich mit tagespolitischen Fragen in der Öffentlichkeit zu positionieren.13 Hilpert wiederum wollte sich von der Stadt nicht hineinreden lassen und wandte sich seinerseits an die Presse: Er, Hilpert, stehe auch weiterhin zu seiner Ablehnung der Wehrpflicht und werde sich auch in Zukunft »nie – aus welchen Gründen auch immer – in meiner künstlerischen und politischen Freiheit diffamieren« lassen.14 Tatsächlich wurde das Stück aber um eine Woche nach hinten verschoben, sodass es nicht mehr der Saisoneröffnung diente – jedoch, wie Hilpert unterstrich, aus »spielplantechnischen Gründen«. Das Stadtoberhaupt, der FDP-Landtagsabgeordnete Hermann Föge, kritisierte Hilpert für dessen Bekräftigung des Juli-Briefs und machte klar, dass ihm und dem Verwaltungsausschuss der Stadt politische Interventionen des Theaterleiters generell missfielen.15 Mehr geschah nicht, keineswegs hatte sich ein Fall von Zensur ereignet, lediglich war ein (gescheiterter) Zensurversuch unternommen worden.16 Die Möglichkeit einer Zensur bestand im Grunde auch gar nicht erst. Denn Hilpert war einer der mächtigsten Theaterleiter der Republik. Das Deutsche Theater Göttingen war, als erstes in der Bundesrepublik überhaupt, 1950 als GmbH neugegründet worden, wodurch der Intendant neben der künstlerischen auch die finanzielle Leitung besaß.17 Hilpert selbst hatte dieses Arrangement durchgesetzt, als ihn die Göttinger seinerzeit aus Konstanz abzuwerben versuchten.18 Ohnehin hatte Hilpert erst kurz zuvor, nachdem er im Januar 1956 gegenüber der Presse seinen Weggang aus Göttingen verkündet hatte,19 einen verbesserten Vertrag mit der Deutschen Theater GmbH ausgehandelt und abgeschlossen.20 Deren einziger Gesellschafter war die Stadt, weswegen Oberbürgermeister und Oberstadtdirektor nach all ihren Bemühungen um Hilpert nun schwerlich gegen den aufwändig Umworbenen vorgehen konnten. Schließlich sei der Vertrag »so eindeutig« gewesen, dass die Stadt bei rigoroseren Verbotsversuchen »vertragsbrüchig« geworden wäre – und »[d]as hat auch wieder keiner riskiert«.21 In jener Phase der Bundesrepublik gab es deutlich drastischere Fälle staatlicher Unterdrückung künstlerischer Freiheit. So hatte 142
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im September 1961 zunächst der Lübecker Senat dem Städtischen Theater die Aufführung des geplanten Brecht-Stückes »Pauken und Trompeten« untersagt, ehe das Verbot nach teils starken Protesten für die Kunstfreiheit wieder aufgehoben wurde.22 Und in Baden-Baden erwirkte 1962 der dortige CDU-Oberbürgermeister Ernst Schlapper ein vorübergehendes Aufführungsverbot des Brecht-Stückes »Mutter Courage und ihre Kinder«.23 Auch wurde andernorts mindestens genauso stark, sogar heftiger gegen Hilpert opponiert: So versuchten im August 1956 die CDU-Abgeordneten des Oberhausener Stadtparlaments, eine Gastvorlesung von Heinz Hilpert an der Volkshochschule zu verhindern.24 Hilperts Göttinger Gegner, allen voran die Pommersche Landsmannschaft, argumentierten in ihren Attacken auf den Theaterleiter, dass dieser mit seiner politischen Haltung nicht zuletzt staatliche Fördergelder gefährde, und bezichtigten ihn außerdem der »souveränen Mißachtung des Mehrheitswillens der Bevölkerung«.25 Doch Hilpert war 1950 von der Stadt und mit Unterstützung des Landes geholt worden, um aus dem mittelmäßigen Unterhaltungsbetrieb eine zur Universität gleichrangige Kulturstätte zu formen. Im Göttinger Rathaus wie auch in der hannoverschen Staatskanzlei herrschte damals Einmütigkeit, dass Hilpert eine eigenwillige Persönlichkeit sei und deshalb manches Mal unbequem sein mochte, doch seinen ursprünglichen Auftrag vollauf erfüllte. Mit ihm hatte in der Tat eine Ära begonnen, in der die Geschehnisse auf der Göttinger Bühne am Wall regelmäßig im Blickpunkt der großen Feuilletons standen. Hilpert verhalf dem Theater zu übernationalem Rang, verlieh der Stadt an der Leine ein kosmopolitisches Flair, kurz: Er vermochte, dass die kulturelle Welt – wenigstens manchmal – auf Göttingen blickte. So einen konnte und wollte man nicht gehen lassen, auch wenn er schwierig war. Hilpert dürfte sich dieses Umstands wohl nicht unbewusst gewesen sein. Hilpert war zudem nicht der einzige Intendant, der Brecht auf die Bühne brachte; neben dem Göttinger hatten auch andere westdeutsche Theater Brecht-Aufführungen geplant, so etwa in Kassel (»Der gute Mensch von Sezuan«), Bochum (»Die Dreigroschenoper«) und Freiburg im Breisgau (»Der kaukasische Kreidekreis«).26 Und der Norddeutsche Rundfunk hatte sich, noch zu Brechts Lebzeiten, von diesem die Radioaufführung eines HörHeinz Hilpert, die Wehrpflichtdebatte und eine Brecht-Aufführung
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spiels ausbedungen, das im Dezember 1956 gesendet wurde.27 Ein Jahr zuvor – und auch da war Brecht ja aus westdeutscher Sicht seiner Äußerungen im Jahr 1953 wegen schon der Apologet eines Unrechtsregimes gewesen – hatte sich der Magistrat der Stadt Frankfurt mit der von den Städtischen Bühnen geplanten Uraufführung eines Brecht-Stücks befasst und sich gegen die Äußerung von Bedenken entschieden.28 Auch war die Wehrpflichtkritik nicht Hilperts erste politische Intervention: Erst im April 1956, also vor seinem Brief an den Bundestag, hatte er sich mit einem Schreiben an das Wiener Kulturamt gewandt und sich darin für die Erhaltung der Scala eingesetzt.29 Hilpert, so beschrieb ihn Norbert Baensch, sei »kein Politiker, aber ein politisch empfindender Mensch« gewesen, der sich nach seinen Erfahrungen mit der »Goebbel’schen Maxime« nicht noch einmal sein Theaterprogramm vorschreiben lassen wollte.30 Mit seiner demonstrativen Würdigung von Brecht als Künstler durch die Aufnahme eines seiner Stücke in den Göttinger Spielplan, aber auch mit seiner Unterstützung von Brechts politischer Meinung im Juli 1956 mit dem Brief an den Bundestag vertrat Hilpert nicht notwendigerweise die Auffassung einer kleinen Minderheit. Ohnehin begann sich Brecht damals auf den Bühnen der westdeutschen Theaterwelt zu etablieren. Außerdem: Auf Brechts Tod am 14. August 1956 nach einem Herzinfarkt folgten in den westdeutschen Medien euphorische Nachrufe auf sein Leben und Werk. So fragte etwa die der DDR-Sympathie unverdächtige Welt: »Ein bedeutender Dichter ist gestorben und ein Mensch mit seinem für dieses Jahrhundert so bezeichnenden und argen Widerspruch. […] Und doch: Wenn wir die Wüste der dramatischen Dichtung unserer Zeit überblicken – wie viele sind da von der Statur Bert Brechts?«31 Und auch die Wehrpflicht, gegen die sich erst Brecht, dann Hilpert gewandt und damit den Stein des Anstoßes erst richtig ins Rollen gebracht hatte, war durchaus umstritten, die Bundestagsdebatte dazu geriet zu einem rhetorischen Schlagabtausch großen Formats. Mit dem Entschluss zur Wiederbewaffnung und der Wehrpflicht schwand in der Bevölkerung die Zustimmung zur Bundesregierung, Adenauers Wiederwahl 1957 war ungewiss. Die Skepsis gegenüber der Verteidigungspolitik der Bundesregierung schwächte sich erst Ende 1956 ab. Das hatte mit weltpolitischen Ereignissen zu tun, deren dichte Abfolge als be144
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drohlich für den Frieden empfunden wurde und die akute Gefahr eines Dritten Weltkriegs, eines Atomkriegs zumal, wach werden ließ. Diese Ereignisse waren die Suez-Krise und die Revolution in Ungarn – beide ereigneten sich im Oktober 1956, also erst nach der Göttinger Hilpert-Kontroverse. Hilperts Meinung konnte im Spätsommer 1956 folglich mit deutlich mehr Zuspruch rechnen als nur kurze Zeit später.
Die Kampagne des Göttinger Anti-Hilpert-Blocks Wie erklärt sich aber die heftige Attacke des Göttinger Kreisverbands des GB/BHE auf Hilpert – zumal, wenn die GB/BHE -Abgeordneten im Bundestag kurz darauf gegen das Wehrdienstgesetz stimmten und damit, zumindest im Ergebnis, genau das taten, was Brecht und Hilpert gefordert hatten? Der GB/BHE war eine politische Interessenvertretung der deutschen Heimatvertriebenen.32 Als solche musste er gegenüber seiner Klientel eine politische Existenzberechtigung nachweisen. Weil jedoch auf absehbare Zeit das Ultimativziel, die Zurückerlangung der verlorenen Ostgebiete, unrealistisch war, hielten die BHE -Funktionäre nach kleineren, überschaubaren, vor allem aber erreichbaren Zielen Ausschau. Dazu gehörte etwa, politische Stellungnahmen anderer Akteure anzufechten, eine entschiedene Gegenposition einzunehmen und dies in aller Öffentlichkeit kundzutun. Hilperts öffentliche Solidarisierung mit Brechts politischer Forderung eignete sich dafür auf den ersten Blick ganz gut. Denn so konnten die BHE -Funktionäre einen politischen Streit anzetteln, auf Grundlage einer Meinung, die mit ihrer Klientel mutmaßlich übereinstimmte. Ließen sich Brecht und Hilpert nicht mit Leichtigkeit als ideologische Handlanger des Sowjetregimes darstellen? Hinzu kam, dass der GB/BHE in Göttingen damals unter besonders großem Druck stand.33 Seine Wählerstimmen, zu diesem Schluss waren auch dessen Funktionäre gelangt, hingen stets eng mit dem Vertriebenenanteil an der Bevölkerung zusammen.34 In Göttingen war dieser überdurchschnittlich hoch,35 trotzdem hatte der GB/BHE bei der Landtagswahl 1955 mit 5,9 Prozent eines seiner schlechtesten Ergebnisse in Niedersachsen verzeichnet.36 Hier stand die Partei also stärker als andernorts vor der HerausforHeinz Hilpert, die Wehrpflichtdebatte und eine Brecht-Aufführung
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derung, ihr politisches Profil zu schärfen, um das Potenzial ihrer Klientel auszuschöpfen.37 Auch war Hilperts Unterstützung eines ostzonalen Parteigängers gerade zu diesem Zeitpunkt aus Sicht des GB/BHE brisant, weil sich am Sonntag, dem 8. Juli 1956, in der Landeshauptstadt Hannover eine große Zusammenkunft ereignete, bei der sich rund 30.000 vertriebene Westpreußen versammelten und ihre Ansprüche auf die Ostgebiete bekräftigten.38 Jemand, der wie Brecht in der DDR lebte, überdies dort eine kulturelle Institution leitete und sich dann auch noch in aller Öffentlichkeit für die DDR-Regierung einsetzte, war aus Sicht rechtskonservativer und nationalliberaler Kreise ein Repräsentant der kommunistischen Weltanschauung, eine unerträgliche Reizfigur. Für den Göttinger GB/BHE war Brecht ein Apologet der »blutigen Unterdrückung dieser Menschenrechte durch ein diktatorisches Terrorregime«, der »seine Verbundenheit mit dem Ulbricht-Benjamin-System des blutigen Terrors und der Vergewaltigung der Menschenrechte so eindeutig bekundet hat«.39 Die Pommersche Landsmannschaft in Göttingen war eine zentrale Zielgruppe des GB/BHE . Deren Vorsitzender erklärte, dass eine Brecht-Aufführung für Vertriebene und Flüchtlinge eine »Herausforderung«40 sei. Für den Vertriebenenverband war Brecht derjenige, der 1953 eine »Ergebenheitsadresse an einen der Hauptschuldigen, den SED -Generalsekretär Ulbricht«, abgeliefert hatte, nachdem »der Aufstand der unterdrückten Arbeiter […] gegen das bolschewistische Terrorsystem und für ihre Freiheit« mit dem Einsatz ihres Lebens »blutig niedergeschlagen war, viele ihr Leben gelassen hatten und Tausende in die Gefängnisse und Zuchthäuser gesteckt wurden«.41 Aber auch Hilpert dürfte bei diesen beiden Interessenorganisationen schon vor seiner offenen Unterstützung Brechts auf Unmut gestoßen sein. Denn Göttingen gehörte in den 1950er Jahren wegen ständigen Geld- und Wohnungsmangels zu den Städten mit der größten Einwohnerdichte pro Wohnung, zudem war der Flüchtlingsanteil an der Bevölkerung wie schon erwähnt überdurchschnittlich hoch, hier ließen sich durch eine auffälligere Interessenvertretung Wählerpotenziale nutzen. Das Theater kostete viel Geld und Hilpert selbst, darauf spielten zornige Stimmen seitens des GB/BHE und der PML immer wieder an, hatte erst im Frühjahr 1956 für seinen Verbleib in Göttingen eine Pension ausgehandelt.42 146
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Der Eklat um Hilpert lässt sich auch noch in einem anderen Kontext betrachten. So sprachen wenige Tage vor der Aufführung von »Mutter Courage und ihre Kinder« ein GB/BHE -Politiker und der Vorsitzende der Göttinger PLM auf einer Veranstaltung, die von rund 120 Menschen besucht war – von denen aber vermutlich allenfalls ein Drittel Anhänger der PLM waren – und die einen letzten Versuch zum Boykott der Premiere darstellte.43 Diese Versammlung im »Deutschen Garten«44 wurde ausgerichtet von der »Gesellschaft der Theater- und Musikfreunde Göttingen«. Diese hatte schon im Frühjahr 1956 – also sowohl vor der Ankündigung der Brecht-Aufführung als auch vor dem Brief an den Bundestag – eine Kampagne gegen Hilpert gestartet und war Sammelpunkt desjenigen Teils der Göttinger Bevölkerung, der die Wiedereinführung von Oper und Operetten-Theater forderte.45 Die »Gesellschaft« missbilligte Hilpert, Hilperts politische Attitüde und Hilperts finanzielle Forderungen; das Theater solle Opern und Operetten spielen, man verlangte nach mehr »Musik und Vaterland«46, nicht nach anspruchsvollen gesellschaftskritischen Stücken. Hier zeigte sich bereits, dass Hilpert mit Rückhalt bei der Stadtverwaltung rechnen konnte, denn Oberbürgermeister und Oberstadtdirektor versicherten dem Intendanten in einem »gemeinsamen Telegramm des uneingeschränkten Vertrauens einer Mehrheit von über drei Vierteln des Stadtparlaments und aller maßgebenden Kreise in Göttingen […]. Auch der Vorstand des Göttinger Symphonieorchesters ist offiziell bei der Stadt vorstellig geworden und hat ihr erklärt, daß das Orchester mit der Protestversammlung des sogenannten Clubs freier Bürger gegen den Intendanten nichts zu tun habe.«47 Diese Fehde eines Teils der Göttinger mit Hilpert hat eine längere Vorgeschichte. Zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg war das Göttinger Theater (damals unter dem Namen »Stadttheater Göttingen«) zum Drei-Sparten-Theater mit starkem musikalischen Schwerpunkt ausgebaut worden.48 In den ersten Nachkriegsjahren nach 1945 musste die Stadt sparen, mit einer Neuorientierung des Theaterbetriebs winkten Fördergelder des Landes, zumal sich so der in Konstanz unglückliche Hilpert gewinnen und endlich der überregional bekannten Göttinger »Theaterkrise« beikommen ließ.49 Daraufhin entschied sich die Stadt, mit Ablauf der Spielzeit 1949/50 Oper und Operette aufzugeben und den Theaterbetrieb Heinz Hilpert, die Wehrpflichtdebatte und eine Brecht-Aufführung
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»Mutter Courage und ihre Kinder« am Deutschen Theater Göttingen, aufgenommen in der Spielzeit 1956/57, also unmittelbar nachdem die geplante Aufführung des Stückes auch über Göttingen hinaus für Gesprächsstoff gesorgt hatte.
völlig neu, letztlich auf die Belange Hilperts und auf das Niveau der Universität auszurichten.50 Hierzu kündigte sie zum Sommer 1950 sämtlichen Mitgliedern des Göttinger Stadttheaters.51 Die verbliebenen Entlassenen des alten Theaters begründeten als Konkurrenz und Alternative zu Hilperts neuer Spielstätte das »Göttinger Opern- und Operettentheater«, das im Stadtpark aufführte; Unterschriftensammlungen gegen Hilperts Theater blieben erfolglos, seit seiner Ankunft war der neue Intendant für die Göttinger Opern- und Operettenfans das Symbol für das Ende ihrer geliebten Unterhaltungsquelle.52 Schon damals war mit Blick auf die Schließung des alten Theaters die Rede von einer »Schockwirkung dieses chirurgischen Wagnisses«53, die Hilpert zu überwinden habe. Der Verdruss dürfte sich verstärkt haben, als nach der Spielzeit 1952/53 das Göttinger Opern- und Operettentheater nach nur knapp drei Jahren seinen Betrieb wieder einstellen musste.54 Auch vor diesem Hintergrund lässt sich der Konflikt zwischen Hilpert und einigen 148
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Göttinger Bürgerinnen und Bürgern im Sommer 1956 sehen: ein Streit, der offiziell ausschließlich um eine politische Stellungnahme des Theaterintendanten kreiste, vermutlich aber nach wie vor ganz simpel um kulturelle Unterhaltungsvorlieben ging – die sich nun in einen großen politischen Zusammenhang stellen ließen.
Die Zeichen standen auf Liberalisierung In der »Spiegel-Affäre« solidarisierte sich 1962 das Gros der westdeutschen Medienmacher mit Rudolf Augstein und der Redaktion des Nachrichtenmagazins Der Spiegel gegen die Repressionsversuche der Bundesregierung und des Staats – sie gilt bis heute als Geburtsstunde der unabhängigen Presse in Deutschland. Etwas von diesem historischen Ereignis, in dem sich in Gestalt einer einhelligen Haltung von Journalisten, Literaten und Professoren ein »neues staatsbürgerliches Verständnis«55 artikulierte, hatte sich schon in der Göttinger Hilpert-Affäre angedeutet. Denn der Tenor im Sommer 1956 fiel ähnlich wie im Herbst 1962 aus: Mit Motiven und Meinungen, so schrieben viele der Kommentatoren in beiden Fällen, müsse man nicht übereinstimmen; wohl aber dürfe man nicht hinnehmen, dass die Politik die freie Meinungsäußerung behindere, schon gar nicht bestrafe und somit unterdrücke. Frei nach Voltaire bedeutete dies im Göttinger Fall: Man müsse H ilperts Meinung nicht teilen, aber ihm das Recht auf Meinungsäußerung einräumen. Im Unterschied zu 1962 beugte sich die Exekutive dann letztlich auch sehr schnell dieser Haltung – wenngleich ihr aufgrund von Hilperts Position innerhalb der GmbH-Konstellation auch kaum etwas anderes übrig blieb. Immerhin: Selbst in Göttingen, wo in den 1950er Jahren politisch ein rechtsnationales Klima vorherrschte,56 das sich u. a. in der außergewöhnlichen Stärke der nationalliberalen Freidemokraten ausdrückte, die ununterbrochen zwischen 1948 und 1966 die beiden Oberbürgermeister dieses Zeitraums stellten, selbst in dieser Stadt überwog inzwischen die Sympathie für Hilperts Meinungsfreiheit den Zuspruch zu rechtsnationalistischen Parolen. Die »Störungen«, über die im Vorfeld spekuliert worden war, blieben gänzlich aus. Vielmehr geriet die Premiere zu einem Triumph Hilperts und seines Ensembles. Die Kommentatoren überschlugen Heinz Hilpert, die Wehrpflichtdebatte und eine Brecht-Aufführung
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sich mit Lob für den »großen Theaterabend«57, dessen Verantwortlicher »stürmisch gefeiert«58 wurde. Dass die Haltung des Göttinger Stadtoberhaupts und der Vertriebenenpolitiker nicht übernommen wurde, war Ausweis ideologischer Läuterung und kosmopolitischer Aufgeschlossenheit. Heinz Hilpert wurde nicht als verkappter Kommunist, weltfremder Idealist oder gar faktischer Sympathisant des ostzonalen Regimes diffamiert, es folgten keinerlei Schmähworte in der Zeitung, nicht einmal Buhrufe und Obstwürfe im Theatersaal. Der Applaus des Premierenpublikums endete erst nach 54 Vorhängen.
Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10
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O. V., Angriff auf Heinz Hilpert, in: Frankfurter Nachtausgabe, 23.09.1956. Leserbrief GB/BHE, in: Göttinger Tageblatt, 13.07.1956. Beides zit. nach einem Artikel in der Göttinger Presse vom 10.07.1956. Hilperts Brief an den Bundestag ist im Wortlaut abgedruckt in der Göttinger Presse vom 10.07.1956. Zit. nach o. V., Bertolt Brecht an Walter Ulbricht, in: Neues Deutschland, 21.06.1953; auch o. V., Werktätige, die zu ihrem Worte standen und stehen, in: Berliner Zeitung, 21.06.1953. O. V., Die Wahrheit ist stärker, in: Neue Zeit, 25.09.1956. Zit. nach o. V., Hilpert über Brecht, in: Neues Deutschland, 28.06.1956; siehe aber auch o. V., »Keine Krise des heutigen Theaters«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.06.1956. Siehe o. V., Hilpert über Brecht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.05.1955. Vgl. hierzu John Fuegi, Brecht & Co. Biographie, Hamburg 1997, S. 778–782. Siehe etwa Johanna Rudolph, Weitere Bemerkungen zum »Faust«-Problem, in: Neues Deutschland, 27.05.1953. Dort heißt es u. a., Brecht werde »die großen künstlerischen Potenzen und die Ziele seines eigenen Lebenswerkes zerstören, wenn er den Weg der Negierung des nationalen kulturellen Erbes« noch weiter beschritte. Vgl. Fuegi, S. 784 u. S. 789. Siehe Leserbrief GB/BHE, in: Göttinger Tageblatt, 13.07.1956. Siehe o. V., Hilpert soll politisch schweigen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.09.1956. Hier und im folgenden Satz zit. nach o. V., Hilpert steht zu seinem Brief, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.09.1956. Siehe etwa o. V., Gewerbeschule – Löhne – Spielplätze, in: Göttinger Presse, 08./09.09.1956.
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16 Zu diesem Schluss kommt Stephan Buchloh, »Pervers, jugendgefährdend, staatsfeindlich«. Zensur in der Ära Adenauer als Spiegel des gesellschaftlichen Klimas, Frankfurt/New York 2002, S. 167–177. 17 Vgl. Norbert Baensch, Heinz Hilpert. Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter. Gedenkrede anläßlich der Präsentation seiner Bronze-Büste im Deutschen Theater Göttingen am 1.3.1998, in: Göttinger Jahrbuch, Bd. 46 (1998), S. 163–167, hier S. 163; vgl. auch Gespräch mit Norbert Baensch am 3. August 2015 (Baensch unterhielt 1956 als Student bereits enge Kontakte zum Deutschen Theater, erhielt 1958 unter Hilpert seine erste Anstellung und war von 1963 bis 1999 dort Chefdramaturg). 18 Vgl. Norbert Baensch, 100 Jahre Theater am Wall. Stationen Göttinger Theatergeschichte, in: ders. (Hg.), Theater am Wall. Stationen Göttinger Theatergeschichte. Ein Theaterbuch, Göttingen 1992, S. 9–66, hier S. 41. 19 Siehe o. V., Hilpert verläßt Göttingen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.01.1956. 20 Siehe o. V., Kulturelle Nachrichten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.06.1956. 21 Gespräch mit Norbert Baensch am 3. August 2015. 22 Vgl. Stephan Buchloh, Erotik und Kommunismus im Visier: Der Staat gegen Bertolt Brecht und gegen die ›Schundliteratur‹, in: York-Gothart Mix (Hg.), Kunstfreiheit und Zensur in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin/Boston 2014, S. 67–95, hier S. 78–81. 23 Vgl. ebd., S. 81–84. 24 Siehe o. V., Bonner Meinungsfreiheit, in: Neues Deutschland, 08.08.1956. 25 Siehe Leserbrief GB/BHE, in: Göttinger Tageblatt, 13.07.1956 (auch Zitat). 26 Siehe o. V., Neue Dramatik auf westdeutschen Bühnen, in: Neues Deutschland, 13.09.1956. 27 Siehe o. V., Verhör im Jenseits, in: Der Spiegel, 05.12.1956. 28 Siehe o. V., Keine Bedenken gegen Brecht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.04.1955. 29 Siehe o. V., Harry Hindemith in Wien, in: Berliner Zeitung, 10.04.1956. 30 Gespräch mit Norbert Baensch am 3. August 2015. 31 Willy Haas, Ein Dichter und ein Mensch mit seinem argen Widerspruch, in: Die Welt, 16.08.1956. 32 Vgl. Franz Neumann, Der Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten 1950–1960. Ein Beitrag zur Geschichte und Struktur einer politischen Interessenpartei, Meisenheim am Glan 1968, S. 379 f. 33 Vgl. ebd., S. 269–277. 34 Vgl. ebd., S. 296–306. 35 Vgl. Günter J. Trittel, Göttingens Entwicklung seit 1948, in: Rudolf von Thadden/Günter J. Trittel (Hg.), Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt, Bd. 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1966–1989, Göttingen 1999, S. 291–356, hier S. 308–311. 36 Vgl. Eike Frenzel, Vom Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten zur Gesamtdeutschen Partei. Aufstieg und Niedergang einer Interessenpartei in Niedersachsen 1950–1963, Hamburg 2008, S. 264 ff. Heinz Hilpert, die Wehrpflichtdebatte und eine Brecht-Aufführung
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Vgl. dazu auch ebd., S. 269–277. Siehe o. V., »Kein Verzicht auf die Ostgebiete«, in: Die Welt, 09.07.1956. Leserbrief GB/BHE, in: Göttinger Tageblatt, 13.07.1956. O. V., Wer ist Bert Brecht?, in: Göttinger Tageblatt, 22./23.09.1956. Leserbrief von Paul Schulz, Vorsitzender der Ortsgruppe Göttingen der Pommerschen Landsmannschaft, in: Göttinger Tageblatt, 13.07.1956. Siehe o. V., Mit »Musik und Vaterland« gegen Hilpert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.03.1956. Siehe o. V., Demonstration gegen Hilpert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.09.1956; o. V., Nie gesehen – aber abgelehnt, in: Göttinger Presse, 22./23.09.1956; vgl. auch Klaus Wettig, Spurensuche und Fundstücke. Göttinger Geschichten, Göttingen 2007, S. 192 f. Das heutige »Hotel Eden« in der Reinhäuser Landstraße. Siehe o. V., Mit »Musik und Vaterland« gegen Hilpert. Zit. nach o. V., Vaterland und Hilpert in Göttingen, in: Hamburger Abendblatt, 23.03.1956. O. V., Kulturelle Nachrichten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.03.1956. Vgl. Jürgen Gidion, Kulturelles Leben in Göttingen, in: Thadden/Trittel (Hg.), S. 535–590, hier S. 547 f.; Wettig, S. 100 f. Siehe o. V., Göttinger Theaterkrise, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.02.1950; vgl. Wettig, S. 101 f. Vgl. Baensch, 100 Jahre Theater am Wall, S. 42. Siehe o. V., Notizen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.02.1950. Vgl. Wettig, S. 102 f. O. V., Göttinger Theaterkrise. Siehe o. V., Kulturelle Nachrichten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.03.1953. Axel Schildt, Materieller Wohlstand – pragmatische Politik – kulturelle Umbrüche. Die 60er Jahre in der Bundesrepublik, in: ders./Detlef Siegfried/Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2003, S. 21–53, hier S. 40. Vgl. Trittel, S. 298 f. O. V., Bert Brechts Demaskierung des Krieges, in: Die Welt, 28.09.1956. O. V., Ohne Zwischenfälle, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.09.1956.
Robert Lorenz und Katharina Rahlf
Weckruf im Zeitalter der Kernkraft Die »Göttinger Erklärung« von 1957 von Robert Lorenz
Damit hatte er wahrlich nicht gerechnet. Konrad Adenauer, der schon im Kaiserreich Politik gemacht hatte – ein Routinier seines Fachs, der nun bereits seit beinahe acht Jahren Bundeskanzler war –, dürfte am 13. April 1957 die Zornesröte im Gesicht gestanden haben. Soeben hatten nicht weniger als 18 Professoren der Kernphysik1 in einer »Göttinger Erklärung«2 der Öffentlichkeit ihre »tiefe Sorge« über die »Pläne einer atomaren Bewaffnung der Bundeswehr« mitgeteilt. Viel gelesene Blätter wie Die Welt oder die Frankfurter Allgemeine Zeitung druckten den Wortlaut des Manifests und berichteten darüber auf ihren Titelseiten. Dieses überwältigende Medienecho hatte der Kanzler, der am Vortag über diese politische Aktion informiert worden war, nicht erwartet. Eine Handvoll Gelehrter, allesamt Laien der Politik, die sich mit Fragen von weltpolitischem Belang auseinandersetzen, sollen ein Problem darstellen? Undenkbar. Zumindest für einen wie Adenauer, der den Nationalsozialisten getrotzt und sich ungeachtet seines biblischen Alters zum ersten Bundeskanzler aufgeschwungen hatte. Den Anlass für das Ereignis hatte Adenauer freilich selbst geliefert: Kurze Zeit zuvor hatte er gegenüber Journalisten eine bestimmte Variante von Kernwaffen als »Weiterentwicklung der Artillerie«3 bezeichnet. In der Tat unterschieden militärische Fachkreise damals zwischen sogenannten »taktischen« und »strategischen« Atombomben – die neue, gravierende Qualität, die diese Waffen durch radioaktive Strahlung erhielten, ganz abgesehen von der selbst im »kleinen« Rahmen gewaltigen Zerstörungskraft, blieb aber in der Formulierung des Regierungschefs unberücksichtigt. Die Wortwahl des Kanzlers unterschlug also zentrale Merkmale dieser Waffengattung. Obwohl die Reaktion der 18 Professoren sehr spontan wirkte, waren ihr eine längere Vorgeschichte und eine gewisse OrganiDie »Göttinger Erklärung«
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sationsarbeit vorausgegangen.4 So waren einige der Unterzeichner als politische Berater der Bundesregierung tätig (gewesen); seit geraumer Zeit hatte sich bei ihnen der Eindruck verfestigt, dass vor allem Franz Josef Strauß, der inzwischen vom Bundesatomzum Bundesverteidigungsminister aufgestiegen war, nach westdeutschen Nuklearwaffen strebte. Mehrmals hatten spätere Unterzeichner der Göttinger Erklärung versucht, von Strauß eine verbindliche Stellungnahme zu erhalten – vergebens. Adenauers Pressestatement vertiefte ihr Misstrauen gegenüber der Bundesregierung, von der nun zu erwarten war, dass sie die erst vor Kurzem begründete Bundeswehr mittelfristig mit einem nuklearen Waffenarsenal bestücken würde. Aus unterschiedlichen Gründen war das Gros der westdeutschen Atomwissenschaftler jedoch gegen einen solchen Schritt. Denn sie fürchteten die Reaktionen des Auslands und der Öffentlichkeit – sie wollten nicht, dass ihr Fachbereich vorwiegend mit der militärischen Nutzung von Kernkraft assoziiert wird, stand diese doch nach Hiroshima und Nagasaki für Tod und Verderben, ja für die permanente Angst vor einer atomaren Apokalypse. Vielmehr wollten die Forscher, dass ihre Wissenschaft als Quelle von Fortschritt betrachtet wird; deswegen auch unternahmen sie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zahllose Versuche, die wirtschaftliche und medizinische Anwendung der Kernkraft in den Vordergrund zu rücken. Einige der Unterzeichner des Göttinger Manifests hatten auch schon zuvor, im Sommer 1955, die »Mainauer Kundgebung«5 unterschrieben. In ihr warnten zahlreiche Nobelpreisträger vor einem globalen Atomkrieg, der die Menschheit in den Untergang stürzen könne. Trotz des viel größeren, internationalen Rahmens, in dem sich dieses Manifest bewegte, zeitigte es fast keinerlei Wirkung. Sein wesentlicher Autor, Carl Friedrich von Weizsäcker, hatte sich jahrelang über den faktischen Misserfolg des Mainauer Appells Gedanken gemacht; nun, im Frühjahr 1957, konnte er auf die Ergebnisse dieses Reflexionsprozesses zurückgreifen und relativ schnell einen neuen Text anfertigen. Mit seiner rhetorischen Konstruktion einer weiterentwickelten Artillerie bot Adenauer eine große Angriffsfläche für fundierte Kritik. Zufällig tagte gerade in Bad Nauheim die Deutsche Physikalische Gesellschaft, wodurch rasch Unterzeichner gewonnen werden konnten. Nahezu alle 18 Manifestanten kannten sich unter154
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einander aus früheren Begegnungen – nicht wenige waren eng befreundet, hatten gemeinsame Urlaube verbracht, an denselben Lehrstühlen geforscht, eine größere Gruppe von ihnen war nach Kriegsende etliche Monate in einer englischen Villa interniert gewesen. Viele von ihnen empfanden Adenauers Wortwahl als eine fahrlässige Verharmlosung gemeingefährlicher Waffen, der umgehend widersprochen werden müsse. Auf diese Weise kamen die 18 Unterschriften schnell zusammen, die fertige Erklärung ließ dann Otto Hahn, seinerzeit Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, über sein Göttinger Büro an die Presse übermitteln. Obwohl nur ein Bruchteil der Manifestanten damals tatsächlich in Göttingen lebte und forschte, ging das Manifest deshalb nicht als »Bad Nauheimer«, sondern als »Göttinger Erklärung« in die Geschichte ein. Auflagenstarke Tageszeitungen wie Die Welt oder die Frank furter Allgemeine Zeitung druckten nicht nur den Wortlaut des Manifests, sondern verfassten ebenso zustimmende, zumeist auch anerkennende Kommentare.6 Auch behauptete sich das politische Manifest in der in- wie ausländischen Berichterstattung selbst noch in den folgenden Wochen an prominenter Stelle.7 Vor allem stießen die »Göttinger Achtzehn«, als die sie sogleich mit einem öffentlichkeitswirksamen Etikett versehen wurden, auf breite Zustimmung nicht bloß in ohnehin als pazifistisch, bisweilen dogmatisch bekannten Kreisen, sondern auch in der bürgerlich-konservativen Presse. Deren Kommentatoren verneigten sich »vor dem Mute dieser 18 Professoren, die es wagten, gegen eine Welt, in der sich die Staatsmänner und Strategen in der Logik des Schreckens bewegen und die Massen den Kopf in den Sand stecken, vom Gewissen her Stellung zu nehmen«8, waren »von Dankbarkeit erfüllt, daß die auf diesem Gebiet erfahrensten Fachleute sich zutiefst der Verantwortung bewußt sind, die der wissenschaftliche Fortschritt, an dem sie mitwirken, mit sich bringt«9, und feierten sie als die »unsichtbaren Helden des Tages«10. Wohl kaum eine politische Stellungnahme aus Universitätskreisen erzielte in der Geschichte der Bundesrepublik eine solch fulminante Wirkung in der Öffentlichkeit. Dieser enorme, zugleich ungewöhnliche Erfolg erklärt sich vor allem aus dem hohen Nachrichtenwert, der dem Ereignis innewohnte. Erstens ergab sich eine regelrechte Duellsituation – der Die »Göttinger Erklärung«
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Bundeskanzler und sein Verteidigungsminister auf der einen, die 18 Gelehrten auf der anderen Seite. Das war damals durchaus eine spektakuläre Konfrontation, schließlich waren Adenauer und Strauß zwei äußerst prominente Politiker; aber auch einige der Manifestanten waren einer breiten Öffentlichkeit bekannt, allen voran die vier Nobelpreisträger Max von Laue, Werner Heisenberg, Otto Hahn und Max Born. Zumal, die Sympathie der Bürgerinnen und Bürger dürfte auf Seiten der Professoren gelegen haben, die sich hier, in ihrer Rolle als politische Laien, als sprichwörtlicher David gegen den übermächtigen Goliath aufzubäumen schienen. Medienmacher lieben es, solche persönlichen Konflikte zu inszenieren – und dafür eignete sich die Göttinger Erklärung ganz wunderbar. Hinzu kam die Persönlichkeit der Unterzeichner: Sie alle waren Professoren, als solche Angehörige der akademischen Elite; Titel und Preise verbürgten Sachkompetenz und Fachrenommee. Mehr noch waren manche von ihnen, wie Born, Hahn oder Heisenberg, weltbekannte Titanen des heraufziehenden Atomzeitalters. Außerdem waren sie, die mehrheitlich politisch den Regierungsparteien nahestanden und habituell dem Bildungsbürgertum angehörten, nicht verdächtig, weltanschaulich befangen zu sein – so ließen sie sich schwerlich als notorische Revolutionäre oder verbohrte Ideologen darstellen. Inhaltlich unterschied sich das Manifest von vielen anderen Mahnworten, die aus der Wissenschaftlerzunft mit Blick auf die akute Gefahr eines atomaren Weltenbrandes bereits ergangen waren, in zwei wesentlichen Punkten: Zum einen sprachen die Forscher nicht bloß von einer abstrakten Bedrohung, sondern sie veranschaulichten ihre Warnung ob der »lebenausrottenden Wirkung der strategischen Atomwaffen« an einem konkreten Beispiel, unter dem sich alle etwas vorstellen konnten: So könne »eine taktische Atombombe eine kleinere Stadt zerstören, eine Wasserstoffbombe aber einen Landstrich von der Größe des Ruhrgebietes zeitweilig unbewohnbar machen«; die von Adenauer als »taktisch« bezeichneten Kampfmittel hätten »eine ähnliche Wirkung wie die erste Atombombe, die Hiroschima [sic!] zerstört hat«, Wasserstoffbomben könnten »die Bevölkerung der Bundesrepublik heute schon ausrotten«. Das waren Szenarien, die besonders damals schockierend geklungen haben mochten, war doch in großen Teilen der 156
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deutschen Bevölkerung die Erinnerung an die beklemmenden Bombennächte und die grausamen Kämpfe in der Endphase des Zweiten Weltkriegs noch wach. Zum anderen ließen die Unterzeichner ihr Manifest mit einer verbindlichen Konsequenz enden, als sie erstens ihre entschiedene Meinung verkündeten, dass sich »ein kleines Land wie die Bundesrepublik […] heute noch am besten schützt und den Weltfrieden noch am ehesten fördert, wenn es ausdrücklich und freiwillig auf den Besitz von Atomwaffen jeder Art verzichtet«; und sie zweitens jegliche Beteiligung an der »Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen« verweigerten. Nicht zuletzt stieß das Manifest auf eine politisch günstige Lage. Denn im Unterschied etwa zu 1955, als die »Mainauer Kundgebung« mit ähnlicher politischer Stoßrichtung weitgehend ungehört im medialen Äther verhallte, begann nun, im Frühjahr 1957, der Bundestagswahlkampf – eine Zeit des zugespitzten Parteienkonflikts, in der die Kandidaten unter besonders aufmerksamer Beobachtung standen, allen voran natürlich der Regierungschef. Und so belanglos dies klingen mag, aber auch die zeitliche Nähe zu den bevorstehenden Osterfeiertagen dürfte eine Rolle für den medialen Erfolg gespielt haben, denn in den Zeitungsspalten war aufgrund einer Nachrichtenflaute wenig los, für den Skandal um die Göttinger Erklärung also viel Platz. Die Resonanz der Massenmedien, zumal weltweit, bereitete der Bundesregierung erhebliche Probleme und dürfte daher eine elementare Rolle für den weiteren Verlauf des Skandals gespielt haben. Denn erst die überwältigende und anhaltende Reaktion der Öffentlichkeit bewirkte, dass Adenauer seine anfänglichen Versuche, Integrität und Kompetenz der Professoren in Zweifel zu ziehen, einstellte und zu einem kooperativen Konfliktmanagement überging. Zunächst hatte sich die Regierungsseite nämlich ihrerseits empört gegeben, hatte versucht, die Manifestanten als unfreiwillige Handlanger des Kremls und sicherheitspolitisch unbedarfte Pseudoexperten zu diskreditieren.11 So sprach Strauß von einem »leichtfertigen Experiment« und zieh die Professoren der politisch verantwortungslosen »Dienstleistung für den Kommunismus«.12 In Anbetracht des Medienechos ließ sich Adenauer allerdings von seinen politischen Beratern, vor allem mit Blick auf den baldigen Wahltermin, umstimmen und beraumte ein TrefDie »Göttinger Erklärung«
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fen mit den widerständigen Professoren ein. Die Achtzehn entsandten daraufhin eine Delegation ins Kanzleramt, um sich mit Adenauer auszusprechen. Dort hatten die politischen Profis der Regierungsseite allerdings leichtes Spiel mit den politisch unerfahrenen Professoren. Eingerahmt von Staatsvertretern wurden die fünf Repräsentanten der Achtzehn an einem Tisch drapiert und hörten sich Monologe des Kanzlers und zweier Bundeswehrgeneräle an, in einer Pause spazierten sie – immer paarweise mit einem Regierungsvertreter – durch den Garten, anschließend folgte ein gemeinsames Hühnchen-Essen. In dieser versöhnlichen Atmosphäre konnte Adenauer glaubwürdig darlegen, im Kern mit den protestierenden Professoren übereinzustimmen, die Schuld am Konflikt lud er unterschwellig dem schon damals als temperamentvoll und zuweilen stürmisch bekannten Strauß auf. Sodann einigte man sich, auf Grundlage eines »vorbereiteten Entw urf[s]«13, auf eine gemeinsame Erklärung, die wichtige Forderungen – wie etwa den Verzicht auf Kernwaffen zu gewährleisten – nicht enthielt und die politisch brisante Situation ganz im Sinne Adenauers entschärfte. Das Fazit über die Wirkung der Göttinger Erklärung fällt deshalb auch gemischt aus. Kurzfristig war das Manifest in der Lage gewesen, einen weltpolitisch beachteten Skandal hervorzurufen und damit die Bundesregierung zu zwingen, eine öffentliche Stellungnahme zu ihrer Atompolitik abzugeben. Das ist sicherlich kein geringes Verdienst, aber schon im Herbst 1957, also kein halbes Jahr später, war die politische Wirkung weitgehend verpufft; denn die zuvor im April noch allseits kritisierte Regierung konnte bei den Bundestagswahlen einen historisch beispiellosen Erfolg feiern, als sie die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen erhielt und damit ihr ohnehin schon sensationelles Resultat von 1953 – die absolute Mandatsmehrheit im Bundestag – übertraf. Adenauer, der politische Antagonist der Göttinger Achtzehn, stand damit im Zenit seiner Macht. Auch langfristige Folgen hatte die Göttinger Erklärung im Bereich der Politik kaum. Nur ein knappes Jahr später verabschiedete der Bundestag eine parlamentarische Entschließung, die »Streitkräfte der Bundesrepublik mit den modernsten Waffen so (auszurüsten), daß sie den von der Bundesrepublik übernommenen Verpflichtungen im Rahmen der NATO zu genügen vermögen und 158
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Drei Professoren auf dem Weg ins Bundeskanzleramt: Otto Hahn, Walther Gerlach und Carl Friedrich von Weizsäcker (von links nach rechts) im April 1957.
den notwendigen Beitrag zur Sicherung des Friedens wirksam leisten können«14 – was die künftige Bewaffnung der Bundeswehr mit atomaren Sprengkörpern nahelegte. Darüber hinaus liefen unterdessen zwischen der Bundesrepublik, Italien und Frankreich geheime Verhandlungen über eine gemeinsame Atomwaffenproduktion, die erst im Sommer 1958, durch den Widerwillen von Charles de Gaulle, endeten.15 Anfang der 1960er Jahre verfügte die Bundes wehr dann bei unterschiedlichsten Waffengattungen über Vorrichtungen, die für Nuklearraketen konstruiert waren; aufgrund ihrer vergleichsweise kleinen Reichweite von vierzig Kilometern handelte es sich um jene als »taktisch« bezeichneten Kernwaffen, von denen Adenauer im April 1957 so skandalträchtig gesprochen hatte. Formal verzichtete die Bundesrepublik auf Atomwaffen erst mit der Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags im Jahr 1974 – und ausschlaggebend dafür dürfte kaum die Göttinger Erklärung, vielmehr jedoch die Erkenntnis gewesen sein, mit einer solchen Vereinbarung den Status als atomare Schwellenmacht festigen und wenigstens im Bereich des Exports atomindustrieller Anlagen expandieren zu können. Die »Göttinger Erklärung«
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Zugleich verzögerte das Manifest der Göttinger Achtzehn die Entstehung der Anti-AKW-Bewegung. Denn im letzten Satz der Göttinger Erklärung betonten die Unterzeichner, dass »es äußerst wichtig ist, die friedliche Verwendung der Atomenergie mit allen Mitteln zu fördern«. Mit ihrem Manifest avancierten sie zwar zu Ikonen der Friedensbewegung, verteidigten jedoch die friedliche bzw. zivile Nutzung von Nuklearenergie als uneingeschränkt wünschenswerten Beitrag zum technologischen Fortschritt der Zivilisation. Die Risiken, die mit dieser Technologie verbunden sind, dürften ihnen indes nicht unbekannt gewesen sein.16 Dennoch: Während die 18 Kernphysiker in ihrem Manifest nachdrücklich eine realistische Sicht auf das Zerstörungspotenzial moderner Nuklearwaffen und eine Aufklärung der Bevölkerung forderten, schwiegen sie sich über die Kehrseite auch der zivilen, friedlichen Nutzung aus. Stattdessen setzten sie sich energisch für die Kernkraft ein, stellten diese als eine gefahrlose, beherrschbare und uneingeschränkt segensreiche Technologie dar. Insofern muss man die Göttinger Achtzehn wohl als ambivalente Experten betrachten, die ihre Kritikfähigkeit höchst selektiv einsetzten. Trotzdem war die Göttinger Erklärung in der Lage, bürgergesellschaftlichen Protest und kritisches Denken anzuregen, notwendige Debatten zu entfachen. Dieses Verdienst ist nicht gering.
Anmerkungen 1 Diese waren: Fritz Bopp, Max Born, Rudolf Fleischmann, Walther Gerlach, Otto Hahn, Otto Haxel, Werner Heisenberg, Hans Kopfermann, Max von Laue, Heinz Maier-Leibnitz, Josef Mattauch, Friedrich-Adolf Paneth, Wolfgang Pauli, Wolfgang Riezler, Fritz Straßmann, Wilhelm Walcher, Carl Friedrich Freiherr von Weizsäcker und Karl Wirtz. 2 Siehe etwa Abdruck in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.04.1957; nachträglich abgedruckt u. a. in: Carl Friedrich von Weizsäcker, Bewußtseinswandel, München/Wien 1988, S. 384 ff. 3 Ein stenografischer Auszug aus Adenauers Erklärung findet sich in: Der Spiegel, 17.04.1957, S. 8. 4 Vgl. dazu insgesamt Robert Lorenz, Protest der Physiker. Die »Göttinger Erklärung« von 1957, Bielefeld 2011. 5 Die Mainauer Kundgebung ist als Faksimile abgedruckt in: Elisabeth Kraus, Von der Uranspaltung zur Göttinger Erklärung. Otto Hahn, Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker und die Verantwortung
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des Wissenschaftlers, Würzburg 2001, S. 162. In der Unterschriftenliste kamen mehr als fünfzig Nobelpreisträger zusammen. Siehe beispielhaft o. V., 18 deutsche Forscher warnen vor Atomwaffen, in: Die Welt, 13.04.1957; o. V., Beschwörender Appell der deutschen Atomforscher, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.04.1957. Vgl. Hans Karl Rupp, Außerparlamentarische Opposition in der Ära Adenauer. Der Kampf gegen die Atombewaffnung in den fünfziger Jahren. Eine Studie zur innenpolitischen Entwicklung in der BRD, Köln 1980, S. 81 u. Fußnote 403/S. 81 f. Hans Zehrer, Atomwaffen – ja oder nein?, in: Die Welt, 15.04.1957. N. B., Die Bombe, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.04.1957. Werner Friedmann, Das Risiko des Irrtums, in: Süddeutsche Zeitung, 11.05.1957. Vgl. Walter Euchner, Strategisches Kalkül und politisches Denken. Lehren der »Göttinger Erklärung«, in: Frankfurter Hefte/Neue Gesellschaft, Jg. 34 (1987), H. 11, S. 1012–1016, hier S. 1013; o. V., Adenauer: »Atomare Aufrüstung bedrückt mich«, in: dpa, 13.04.1957; Alexandra Rese, Wirkung politischer Stellungnahmen von Wissenschaftlern am Beispiel der Göttinger Erklärung zur atomaren Bewaffnung, Frankfurt am Main u. a. 1999, S. 60 ff. Zit. nach Rupp, S. 78 u. S. 79. Zit. nach Philipp Sonntag, Der Streit um die atomare Bewaffnung. Argumente der Ära Adenauer, Schriftenreihe Militärpolitik-Dokumentation, Jg. 6 (1982), H. 25, S. 45. Zit. nach Rupp, S. 41. Zu Adenauers Geheimverhandlungen vgl. Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann: 1952–1967, Stuttgart 1991, S. 364–401. Vgl. Lorenz, S. 167–171.
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»Sind Sie Oberstudienrat Kraus?« Das Attentat im Rohnsweg (1963) von Felix Butzlaff
Die Nachtluft fühlte sich frisch an. Es war kalt geworden für Anfang Mai. Adolf Kraus knöpfte den Mantel zu und steckte das Kinn unter den hochgeschlagenen Kragen. Die Luft war noch feucht vom letzten Schauer und kam ihm nach den Stunden im verrauchten Gasthof schneidend klar vor. Ein wenig benebelt fühlte er sich, seit dem späten Nachmittag schon war er mit den Verbindungsbrüdern unterwegs gewesen, der Abend hatte, wie so oft, in ihrem Stammhaus »Zum Schwarzen Bären« geendet. Er blickte einmal kurz nach rechts Richtung Wall, das Pflaster lag verwaist, und wandte sich dann gen Markt zum Gehen. Kraus sog die Luft tief ein, es war schon nach Mitternacht und er schwankte leicht. Der hitzige Lärm des Gasthauses verblasste Schritt für Schritt hinter ihm und er bog in die Groner Straße ein. Er kannte den Weg bestens, schließlich war er nach den regelmäßigen Verbindungstreffen bereits in wesentlich schlimmerem Zustand nach Hause gewankt. Zwischen den eng stehenden Fachwerkhäusern hallten seine Schritte und er ließ den Abend in Gedanken noch einmal Revue passieren. Es hatte heftige Diskussionen gegeben über die wiederholten Angriffe gegen Burschenschaften und Verbindungen in Göttingen. Er versuchte sich an den Namen zu erinnern, irgendein Theologieprofessor hatte tags zuvor öffentlich verkündet, er würde von nun an keine Mitglieder schlagender Verbindungen mehr in sein Seminar aufnehmen. Kraus spürte erneut die Empörung in sich aufsteigen. Ein Studentenratsvertreter der befreundeten Gothia Königsberg zu Göttingen war abends dazugestoßen und hatte davon berichtet, ebenso von seiner geplanten Gegenresolution, die er einbringen wollte. Doch dieser Conzelmann – der Name war ihm wieder eingefallen – schien unter den Ordinarien wie unter den zunehmend forscher auftretenden Studierendengruppen mit seinen Provoka162
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tionen großen Anklang zu finden. Kraus verstand die Zeit nicht, auch die längeren Haare, Studenten, die Jeans trugen und über Imperialismus, Algerien und Klassenkampf philosophierten, klangen ihm fremd. Selbst seine Abiturienten wagten nun manchmal Widerworte. Ab der Jüdenstraße führte ihn sein Weg bergauf ins Ostviertel. Sein Blick schweifte kurz über die Wahlplakate, die nun überall hingen. In zwei Wochen war Landtagswahl und der Wahlkampf hatte die Stadt und auch seine Schule ganz im Griff. Alle paar Tage kam einer der Landesvorsitzenden oder Prominenten der Parteien auch nach Göttingen und alle sprachen sie in der Aula des Felix-Klein-Gymnasiums, an dem er Deutsch und Religion unterrichtete. Die Wochen bis zur Wahl waren besonders vollgepackt, kommenden Donnerstag sollte Dr. Nevermann, Oberbürgermeister der Hamburger Sozialdemokraten, sprechen, tags darauf sogar Prof. Erhard als Vizekanzler! Und am Mittwoch vor der Wahl Ministerpräsident Dr. Diederichs persönlich. Ständig war der Schulalltag mit Auf- und Abbau, Anreise, Presse und Berichterstattung eingeschränkt, obwohl es natürlich eine Ehre war, die eigene Aula als Vortragsort der Politikgrößen zu sehen. Lediglich die Sozialdemokraten gingen ihm auf die Nerven. Nicht nur, dass er ihnen nicht traute – das neue, selbstbewusst-nassforsche Auftreten der jungen Leute brachte er irgendwie mit ihnen in Verbindung –, jetzt taten sie auch noch so, als hätten sie sich ihrer bolschewistischen Vergangenheit einfach per Federstrich entledigt. Ganz unschuldig in Himmelblau waren nun die Wahlplakate gehalten, nichts deutete mehr auf das sozialistische Rot hin. Seit 1946 hatten sie fast kontinuierlich die Landesregierung geführt, Kraus hatte sich nie so richtig mit dem Gedanken anfreunden können. »Niedersachsen vorn – mit Dr. Diederichs«. Er blieb kurz stehen und musterte das Konterfei des Ministerpräsidenten. Kraus spürte die Wirkung der vier großen Dunkelbiere, die er getrunken hatte, und starrte zurück. Die blau gepunktete Krawatte, der eindringliche, fast starrende Blick – Kraus schnaubte verächtlich und wandte sich wieder ab. »Wir gestalten heute Ihr Schicksal« – was sollte denn das schon heißen? An der Albanikirche kam ihm ein einsamer Spaziergänger entgegen, ansonsten war er allein auf der Straße. Rechts von ihm zeichneten sich die Bäume des Stadtparks gegen den Nachthimmel Das Attentat im Rohnsweg
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ab, ein unnachgiebiger Wind aus dem Norden trieb Wolken vor sich her, man sah nur ab und zu ein Sternlicht kurz aufblitzen. Solange er die Lange Geismarstraße hochgelaufen und dann im Windschatten der Kirche geblieben war, hatte er ihn jedoch kaum wahrgenommen. Nun trat er auf den Platz vor der Göttinger Großbaustelle und spürte die Kälte auf der linken Gesichtshälfte. Eine große Stadthalle wurde hier gebaut, auch so ein Prestigebau der neuen Zeit, er war schon weit gediehen. Für das kommende Jahr war die Eröffnung angesetzt. Er eilte quer über den Platz und bog in die Düsteren Eichen ein, dann wieder bergauf in den Rohnsweg. Nun lief er schon durchs obere Ostviertel, immer bergan, ganz oben wohnten sie, die Frau und das Kind schliefen bereits. Er war froh, dass er sich hatte alleine absetzen können, die jungen Verbindungsbrüder feierten und lärmten noch und ihm war immer ein wenig unwohl, wenn man gemeinsam in lauter Runde den Heimweg antrat. Bis hierher wäre der Weg zum oberen Ende des Rohnswegs und zum Verbindungshaus in der Wilhelm-Weber-Straße noch gleich gewesen und er hatte sich bereits so manches Mal gegen den Übermut der Jungen wehren müssen, wenn sie singend und torkelnd gen Schlafstatt zogen. Alleine genoss er den Heimweg viel mehr, ging zwar strammen Schrittes, mal mehr, mal weniger schwankend, aber konnte doch den Blick und die Gedanken schweifen lassen. Er war gerne Lehrer, mochte es, die Jungen anzuführen, ihnen von Werten und Ehre zu erzählen, ihnen die Klassiker nahezubringen. Er war gerne Vorbild, Schule fürs Leben, der Gedanke gefiel ihm. Nur in den letzten Wochen hatte sich eine kleine Unsicherheit in sein Leben eingeschlichen. Er hatte Drohungen bekommen. Anonym natürlich. Beschimpfungen, düstere Ankündigungen, so etwas. Er hatte sie jedes Mal zerknüllt und weggeworfen. Auch jetzt schnaubte er beim Gedanken daran. So etwas würde ihn nicht einschüchtern. Aber er fragte sich doch oftmals, was wohl dahintersteckte. Er hatte auch lange gezögert, jemandem davon zu erzählen, wollte nicht als ängstlicher Bedenkenträger dastehen und er wollte auch nicht darüber nachdenken. Dann aber hatte er doch seinem Lateinkollegen davon erzählt. Wahrscheinlich irgendein gekränkter Schülerkopf. Manche schwächliche Natur konnte eben den Anforderungen des Lebens nicht standhalten. Aber er würde doch keine Streicheleinheiten verteilen, nur weil 164
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einer der verwöhnten Bürgersöhnchen zu faul oder zu empfindlich war. Oder aber – der Gedanke war ihm auch schon gekommen – einer der Mittelschullehrerkandidaten, die er als Mitglied der Prüfungskommission vor sich sitzen gesehen hatte, schwitzend, nervös. Nicht alle waren gut durch seine schneidenden Fragen gekommen. Aber ungerecht war er nie, darauf hielt er viel. Kraus gefiel sich als streng, aber gerecht. Und als ihm ein Kollege einmal berichtet hatte, dass ihn Schüler mit diesen Worten beschrieben, war er vor Stolz fast geplatzt. Es konnten so viele sein. Der Rohnsweg zog dunkel und stetig gen Stadtwald und bergauf. In den meisten Häusern war das letzte Licht längst gelöscht. Es war bereits kurz vor eins, als Kraus die Dahlmannstraße überquerte, dann die Ewaldstraße, und schließlich rechts vor sich das Haus mit den beiden Bäumen davor sah, welche den Eingang zum Grundstück umrahmten. Alles lag im Schatten, aber er kannte hier jede Stufe. Er beschleunigte noch einmal den Schritt, in Gedanken schon zur Ruhe gelegt, und bog nach rechts in die Pforte ein. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie sich vom linken Baumstamm ein Schatten löste. »Sind Sie Oberstudienrat Kraus?« Die Stimme klang nervös, zu hoch und zu laut. Antworten konnte er nicht mehr. Schneidend schoss ihm der Schmerz in den Unterleib, nahm ihm alle Luft. Seine Beine knickten ein und er schlug hart auf dem Bürgersteig auf. Adolf Kraus versuchte, um Hilfe zu rufen, aber es kam kein Laut. *** »Hochmut des Amerikafahrers?« Hatte er das wirklich gesagt? An den Lateinstoff hatte er nach seinem Austauschjahr in den Vereinigten Staaten keinen rechten Anschluss mehr bekommen. Kraus, an den er sich gewandt hatte, hatte auch nur streng den Kopf geschüttelt. Und hatte ihn vom Abitur zurückgestellt. Michael B. ballte noch immer innerlich die Fäuste und unterdrückte ein aufsteigendes Zittern, wenn er daran denken musste. Wenn er hingegen in seinen Erinnerungen blätterte, die er schon vor sieben Jahren im Braunschweiger Prozess niedergeschrieben hatte, mit kaum 22 Jahren, dann stieg eine Zufriedenheit in ihm auf, die nur der fühlt, der einen lange gehegten Wunsch endlich erfüllt sieht – oder eine immer wieder gepflegte Rachefantasie. Alles hatte aus seiner Sicht Sinn ergeben und sich zusammengefügt. Das Attentat im Rohnsweg
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Die Jahre der Kindheit, »Wald und Wasser, ein altes Haus und ein weiter Garten am Rande der pommerschen Landstadt Woldenberg«. Der Vater Jurist, Richter, später in Celle und Göttingen. Michael hatte immer gespürt, dass es in der Verwandtschaft einige der Onkel und Tanten nicht leicht hatten, gegen Dämonen kämpften, die ihnen das – durchaus erfolgreiche – Leben zur Qual machten. Und auch er fühlte einen Drang zum Kampf, musste sich wehren, um Raum und Rolle ringen: »Anderen Kindern, jeder näheren Berührung mit Fremden suchte ich zu entgehen.« Er wähnte sich stets bewusst, das eigene Leiden klar vor sich. »In einigen hellen Augenblicken wusste ich schon als Kind, was die Uhr geschlagen hat. Und um dem auszuweichen, wünschte ich das harte Leben ohne Gedanken. Nicht sicher, es zu finden, blieb ich auf der Schule. Eine Spannung, die mit der Erlösung des Abiturs aufhören sollte. Es kam anders. Die Demütigung, der Zwang, noch ein Jahr auszuhalten, überspannte: den Knacks bekomme ich, wenn überhaupt, erst in Jahren weg. Zu tief.« Wohin ihn die Suche auch gespült hatte, nichts konnte ihm Ruhe und Gelassenheit geben. Bergbau, Baustellenarbeiten, Schiffsmatrose, zu gebrechlich war er gewesen. Am Ende der väterliche Fingerzeig: Michael studierte Jurisprudenz, schrieb sich in Göttingen ein. Die Unruhe aber blieb, er trieb, von Träumen gejagt, durch Literatur und die Göttinger Nächte. Und landete in seinen Fantasien immer wieder vor Adolf Kraus – wie der den Kopf geschüttelt hatte. Die Demütigung würde er nie vergessen. Er hatte sich in eine Rachewelt zurückgezogen, in der er einen Plan entwickelte, der die Schmach zurückzahlen sollte und gleichzeitig all jenen, die an ihm zweifelten, beweisen würde, zu was er fähig war: »das Böse zu bestehen, ohne ihm zu verfallen.« Er ging in Schritten vor, planvoll, übte. Fuhr lange Strecken mit dem Rad, duschte im Winter eiskalt. Brach Autos auf. Fuhr mit einem gestohlenen Opel Kapitän, Kennzeichen vom Schrottplatz, nach Braunschweig. Dort zerschlug er die Schaufensterscheibe von Waffen Knappworst und stahl zwei amerikanische Smith & Wesson Trommelrevolver. Als die Reifen losquietschten, klang es für ihn wie ein kleiner Triumph, der Rache an Adolf Kraus einen kleinen Schritt näher. Die Rückfahrt hatte sich schwebend angefühlt. Dennoch war es für ihn eine Erleichterung gewesen, als er im Jahr nach seinem Abitur in einer kalten Märznacht plötzlich 166
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Schritte hinter sich gehört hatte. Er ließ die Werkzeuge sofort fallen und hetzte davon, doch der Streifenwagen war schneller. Michael B. wurde wegen 25-fachen Autoaufbruchs und -diebstahls sowie dem Einbruch in Braunschweig angeklagt. Der Prozess war für seine Familie eine große Schmach gewesen, der Vater als Göttinger Landgerichtsrat trug schwer daran. Dennoch hatten die Eltern alles in die Waagschale geworfen, auch wenn sich Michael im Gericht als uneinsichtiger und philosophisch motivierter Kopf zeigte. Zur »Bestätigung seiner eigenen Person« und um »vor sich selbst zu bestehen« habe er sein Schlüsselerlebnis, die Zurückstellung vom Abitur, mit der Planung und Durchführung einer »großen Tat« ausradieren wollen, gab er zu Protokoll. Als psychiatrischer Gutachter wurde Dr. Dr. Kloos vom Göttinger Landeskrankenhaus bestellt, die Mutter kannte ihn, hatte sich dort häufiger ehrenamtlich um Patienten gekümmert. Und der hatte es tatsächlich hinbekommen: ihn als unzurechnungsfähig zu erklären und gleichzeitig aber eine psychiatrische Unterbringung zu verhindern. Kloos hatte betont, er sei sich nicht sicher, ob B. an einem »beginnenden Spaltungsirresein« leide. Das Gericht hatte sich diesem Eindruck, auch aufgrund seines ruhigen Auftretens vor Gericht, angeschlossen und zudem seinen Vater als Garantie herangezogen. Die Kammer war im Urteil »zu der Überzeugung gekommen, dass die Festnahme, die Untersuchungshaft, die Unterbringung in der Heilanstalt und das Leid, das er seinen Eltern zugefügt hat, schockartig auf ihn gewirkt haben und er danach von seinen früheren Gedanken abgerückt ist und er durch ein Nachreifen das Schlüsselerlebnis – die Zurückstellung vom Abitur – überwunden hat«. »Die erforderliche Beaufsichtigung« sei durch den Vater »auch infolge seines Berufs« gesichert. Der Staatsanwalt ging zwar in Revision, der Bundesgerichtshof aber bestätigte das Urteil: Michael B. verließ den Gerichtssaal als freier Mann. Wie es in seinem Inneren aussah, ahnte kaum jemand, und der Fluss mäanderte weiterhin, auf dem er trieb. Er schrieb sich in Graz ein, kaum ein Semester später wechselte er nach Hamburg. Der Kontakt, vor allem zu weiblichen Gleichaltrigen, fiel ihm nach wie vor schwer. Er suchte Halt und Rat, erst bei einem Jugendpsychiater, dann bei einem Psychotherapeuten. Doch immer wieder kehrten seine Gedanken zurück zu diesem Moment vor Adolf Kraus, sie verschwanden nicht. Das Attentat im Rohnsweg
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Den ganzen Winter 1962/63 über plante er, spähte aus, lauerte auf. Er wollte vorbereitet sein, hatte alles tausendmal in Gedanken durchlebt. Wie der Finger am Abzug sich krümmte, wie er seine Wut und seine Rache dem Leidenden entgegenschleuderte. Doch immer, wenn er nachts auf Kraus vor seinem Haus wartete, kam der nicht allein oder aber gar nicht. Doch er wollte nicht ungeduldig werden. Seine Zeit würde kommen. Erst Anfang Mai 1963 war er wieder in Göttingen. Den Eltern hatte er Gute Nacht gesagt, sie wähnten ihn oben schlafend, als er leise aus dem Fenster stieg, das alte Rad aus der Garage schob, den Klausberg hinab- und die Ewaldstraße hochradelte. Von hier war es nur noch ein kleines Stück den Rohnsweg links hinauf. Er versteckte das Fahrrad leise in einer Hecke und bezog im dunklen Schatten des Baumes Stellung. Es waren kaum Menschen unterwegs, ein kalter Wind ließ die alten Bäume rauschen. Nur ganz vereinzelt ein paar Schlaflose mit ihren Hunden. Michael hatte den langen, grauen Wintermantel an und einen breiten Hut tief ins Gesicht gezogen. Er fror nicht, glühte fast vor Erregung. Und dann kam er, schwankte beim Gehen. Einmal tief einatmen noch. »Sind Sie Oberstudienrat Kraus?« Ihm kam es vor, als ob er den Oberschenkelknochen brechen hörte. Er hatte sich immer vorgestellt, wie er den Triumph genießen würde. Nun aber zog er mit zitternden Händen das Fahrrad aus der Hecke und hetzte den Rohnsweg hinab, wieder in die Ewaldstraße, dann den Habichtsweg hinauf. Das fast tonlose Stöhnen von Kraus blieb ihm noch lange in den Ohren. *** Mitte Oktober 1963 war die Aula des Felix-Klein-Gymnasiums bis auf den letzten Platz gefüllt. Die hölzernen Sitzreihen knarzten wie alte Kirchbänke und außer einzelnen Räusperern war es still. Der Knabenchor stand hinten auf der Empore und setzte zu Beginn der Trauerfeier ein. Die Orgel spielte tragend dazu. Das blasse Herbstlicht drang von links durch die hohen Fenster. Adolf Kraus war am 16. Oktober gestorben, am Tag, als Ludwig Erhard zum Bundeskanzler gewählt wurde. Achtmal hatte er operiert werden müssen, es hatte ihn nicht gerettet. Er starb durch die Komplikationen und an einem Magengeschwür. Natürlich hatte es große Aufregung gegeben. Schon als im Mai nach dem Attentat am 168
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Artikel aus der Göttinger Presse vom 6. Mai 1963.
Sonntag die Sonne wieder aufgegangen war, wurde »der Mann mit dem Schlapphut« zum Stadtgespräch. Ein Schusswaffenanschlag im distinguierten Ostviertel! Auf einen Oberstudienrat! Geschossen in die edlen Teile! Von einem »heimtückischen Mordanschlag« schrieb die Göttinger Presse und von »Verletzungen, die zu den schrecklichsten gehören«. Und über die Spekulationen nach dem Verbleib des Attentäters, die Jagd nach dem auffällig alten Fahrrad mit einem »Gesundheitslenker« aus den 1930er Jahren hatte sich ganz Göttingen den Kopf zerbrochen. Ein paar Zeugen hatten ihn vorbeihasten sehen. Die Göttinger Presse und das Göttinger Tageblatt berichteten jeden Tag von der Fahndung nach dem Täter und verfolgten die Fortschritte mit angehaltenem Atem. Viele Hinweise gingen bei der Polizei ein. Der Täterkreis war rasch auf die ehemaligen Schüler eingegrenzt und keine drei Wochen nach der Tat, am 21. Mai, wurde Michael B. in Hamburg festgenommen. Gutachter Kloos, aus dem Prozess von 1958, hatte sich erinnert und der Polizei den Hinweis gegeben. Am 1. Juli 1965 wurde B. zu zwölf Jahren Zuchthaus, fünf Jahren Ehrverlust und die anschließende Einweisung in eine Heil- und Pflegeanstalt verurteilt. Das Attentat im Rohnsweg
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Quellen und Literatur Gerhard Eckhardt, Der Mann mit dem Schlapphut, in: ders., Göttinger Kriminal- und Gerichtsfälle, Göttingen 2007, S. 156–164. Gerhard Mauz, Kant, ein Student und der Oberstudienrat, in: Der Spiegel, 07.07.1965. O. V., Eine große Sache, in: Der Spiegel, 26.11.1958. O. V., Studienrat zusammengeschossen, in: Göttinger Presse, 06.05.1963. O. V., Der Sohn eines Juristen in Hamburg festgenommen, in: Göttinger Presse, 23.05.1963. Gerhard Ziegler, Warum starb Oberstudienrat Kraus?, in: Die Zeit, 03.04.1967.
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Über Kunst lässt sich nicht streiten – oder doch? Das Bronzerelief an der Stadthalle (1964) von Marika Przybilla
Elf Quadratmeter schockieren eine Stadt. Elf Quadratmeter und ein Mann sorgen für hitzige Diskussionen. Elf Quadratmeter Bronzerelief mit dem Titel »Die Stadt. Der Einzelne – das Paar – die Gruppe – die Masse« des Bildhauers Jürgen Weber veranlassen den Superintendenten Ernst Achilles zu einer Brandpredigt in der gegenüberliegenden Kirche und lassen ihn von einer »nationalen Schande«1 sprechen. Was steckt dahinter? Friedlich liegt sie da, die Göttinger Stadthalle, umgeben von Park, Stadtwall und der Kirche St. Albani. Sie ist quadratisch, praktisch, bunt. Die Spaziergänger und Einwohner Göttingens laufen an ihr vorbei und würdigen sie nur selten eines Blickes. Vor rund einem halben Jahrhundert sieht dies noch ganz anders aus. Die in der Mitte der sechziger Jahre in Betrieb genommene kubusförmige Stadthalle wird auf der rechten Seite von einem Bronzerelief verziert, welches in den Jahren zwischen 1963 und 1964 durch den Künstler, Bildhauer und Professor Jürgen Weber fertiggestellt wurde.2 Das 24 Zentner schwere Kunstwerk zeigt sich innig umarmende Menschen, sich leidenschaftlich küssende Paare, dicht nebeneinanderstehende Personen und dies in all ihren erdenklichen Körperformen. Es ist ein Abbild einer intimen zwischenmenschlichen Kommunikation. Hier zeigt sich aber auch der Stein des Anstoßes – die gezeigten menschlichen Körper. Von diesen sieht man nach Meinung und Anstandsgefühl einiger Göttinger Bürger in den sechziger Jahren eindeutig zu viel. Denn man sieht alles: den Menschen ohne Kleidung in all seiner Nacktheit, den Menschen in privaten Handlungen, den Menschen in seiner gesamten Natur, den Menschen ohne Scham. Auf dem Relief sieht man nicht nur Umarmungen, Küsse und miteinander verbundene Menschenketten. Nein, man sieht Nackte. Gerade dies gibt Anlass zur EmDas Bronzerelief an der Stadthalle
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pörung für viele Göttinger und Bewohner der Umgebung. Die entblößten Menschen in solch intimen Handlungen, in all ihrer Freizügigkeit, und dies dann auch noch abgebildet in einem Relief an der Stadthalle Göttingens, der gesamten Öffentlichkeit preisgegeben und für jeden sichtbar – ein Skandal! Als eine der ersten Personen des öffentlichen Lebens äußert sich ein Vertreter der evangelischen Kirche. Während seiner Predigt in der ältesten Kirchengemeinde Göttingens, der St. Albani-Kirche, die in Sichtweite direkt gegenüber der Stadthalle und dem skandalösen Werk liegt, tut der Superintendent Ernst Achilles seine Meinung kund. Das Relief Jürgen Webers und die darauf gezeigten Abbildungen erzürnen Achilles und bringen ihn gar dazu, nach eigener Aussage, sich dafür zu schämen, ein Bürger Göttingens zu sein.3 Er prangert die Darstellungen an und fordert die Entfernung des Reliefs von der Stadthalle. Es wird dadurch eine heftige Diskussion mit vielen Beteiligten in der Universitätsstadt Göttingen losgetreten. Auf der Jahreshauptversammlung des Fremdenverkehrsvereins, die nur einige Tage nach der Enthüllung des Reliefs und der Predigt stattfindet, äußert sich Oberstadtdirektor Erich H. Biederbeck zu dem Kunstwerk und den erfolgten Aussagen. Er steht für das Relief ein und merkt dabei an, dass stets irgendjemand irgendetwas an der Kunst auszusetzen habe und man dadurch über eben jene nicht abstimmen könne. Zudem ordnet er die Äußerungen von Achilles nicht in einen religiösen Bereich ein, sondern sieht sie als Äußerungen aus dem Bereich des Anstandes an.4 Er plädiert für das Bronzerelief und seinen Verbleib, er positioniert sich so gegen Achilles und die Relief-Gegner. Dabei ist er nicht allein. Biederbeck und seine Meinung finden Unterstützer im öffentlichen Raum. Auch der Leiter des Städtischen Museums von Göttingen, Wolfgang Rabe, spricht sich für das Relief aus und erwähnt dabei, dass es keine Kunstausstellung ohne nackte Körper gebe und dies besonders durch Besuche des Städtischen Museums oder anderer Museen für jedermann deutlich werden würde.5 In seinen Aussagen schwingt eine Art Vorwurf der Provinzialität und Engstirnigkeit gegenüber den Kritikern des Kunstwerks mit. Indes zeigen sich die Bürger Göttingens und Umgebung an dem Bronzerelief äußerst interessiert und so zieht es Scharen von BronzereliefBegutachtern zur Stadthalle, die sich dort einen eigenen Eindruck davon verschaffen wollen. Es entsteht ein wahrer Relief-Tourismus. 172
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Das Bronzerelief Jürgen Webers am Aufgang zur Stadthallenterrasse im April 2015.
Eine Diskussion rund um das Kunstwerk und die darauf gezeigten nackten Menschen ist mehr als entfacht. Dies bleibt dem Rest der Öffentlichkeit und Medienlandschaft keineswegs verborgen und so finden sich fast tagtäglich, über Wochen und Monate hinweg, überall Leserbriefe und Zeitungsbeiträge zu dem Thema »Relief an der Stadthalle«. Der Skandal breitet sich aus. Jeder hat seine eigene Meinung dazu und ist dies nicht der Fall, so ist dies erst recht ein Skandal. Die Göttinger Medien sind zunächst federführend in der Berichterstattung rund um den Bronzerelief-Skandal. Es nehmen dabei sowohl Gegner als auch Befürworter des Reliefs ihren Raum in den Zeilen der Zeitungen ein. So schreibt der eine in seinem Leserbrief »Nicht nur von ›alten Tanten‹, sondern auch von Professoren (!), Studienräten und Pädagogen kommt denn auch die Forderung: das Relief muss weg!, denn es zeigt nichts als nackte und bloße Sexualität«6 und gibt so die Meinung der Gegner wieder. Ein anderer Leser wiederum wirft ein, dass er die Diskussion rund um das Kunstwerk begrüße, ihren Verlauf allerdings unsachlich und undemokratisch fände.7 Wenig später schreibt ein Leser der Göttinger Presse, dass er sich über dieses herausragende MeisterDas Bronzerelief an der Stadthalle
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und Kunstwerk hingegen freue.8 So zeigt sich die Stadt in Fragen rund um Kunst, Anstand, Schamgefühl und Skandal gespalten, an der Diskussion darüber hingegen äußerst erfreut und wenigstens darin einig. Das Relief wird zum Stadtgespräch und weckt das Interesse über die Stadtgrenzen hinweg. So sehr, dass die Diskussion sogar die Aufmerksamkeit der Medien auf nationaler Ebene weckt. In Anbetracht dessen titelt die Bild am Sonntag Anfang Oktober 1964 »Zu nackt für Göttingen? Hitziger Streit um das deftige Bronze-Relief an der neuen Stadthalle«9 oder berichtet das Satiremagazin Pardon aus Frankfurt am Main über das Relief mittels einer Inspektion10. Doch nicht nur die Medien beschäftigen sich mit dem Relief und den darauf zu sehenden Darstellungen, sondern ab Ende September 1964 auch die Polizei und Justiz Göttingens und Niedersachsens. Infolge von Schmierereien mit Ölfarbe an dem Relief stellt Erich H. Biederbeck Strafanzeige wegen Sachbeschädigung gegen unbekannt.11 Doch nicht nur an dieser Stelle kommt das Bronzerelief Jürgen Webers in den Akten der Justiz vor. Ein Theologiestudent der Georg-August-Universität Göttingen erstattet ebenfalls Strafanzeige aufgrund Verstoßes gegen den Para grafen 184 (1) des StGB12, welcher u. a. unzüchtige Abbildungen, die öffentlich an einem Ort für Minderjährige zugänglich sind, ahndet. Diese Anzeige setzt sich im Zuge des Verfahrens bis an das Landgericht Hannover durch und das Relief und die darauf gezeigten Figuren werden durch die Zentralstelle zur Bekämpfung von unzüchtigen Schriften und Bildern in Niedersachsen bei der Staatsanwaltschaft Hannover geprüft. Diese stellt im Laufe ihrer Prüfung und Ermittlungen indes fest, dass auf dem Relief keine unzüchtigen Darstellungen zu sehen seien. Das Verfahren wird im November des Jahres 1964 somit eingestellt.13 Die Anzeige seitens Biederbecks aufgrund der Schmierereien auf dem Relief bleibt bestehen.14 Mit der Zeit verebbt die Diskussion in der Medienlandschaft und auch in Göttingen beruhigen sich die Gemüter rund um das Relief und seine nackten Menschen. Sowohl die Bürger als auch die Kirche und die Politik echauffieren sich nicht mehr weiter in der Öffentlichkeit über das Werk oder die unterschiedlichen Positionen und Meinungen darüber. Das Relief und der ihm anhaftende Skandal werden Teil der Stadthalle und der Stadt, bis heute. 174
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Doch was befeuerte die Diskussion und den Skandal um das Relief? Waren es nur die nackten Menschen? War es die Verletzung des sogenannten Anstandsgefühls einiger Bürger? War es ein Streit über Kunst und Moral? Die vertretenen Positionen und Meinungen lassen eine explosive Mischung aus alledem vermuten und zeugen davon, dass Kunst etwas rein Subjektives ist. Ebenso wie die Vorstellung von dem, was Moral oder Anstand ist. Kaum ein anderes Gefühl lässt sich so leicht provozieren und kaum eines wird so ungern in Bewegung gesetzt und verletzt wie jenes des Anstands. Und kaum ein Standard wird so leicht und individuell verletzt wie jener der Moral. Anstand und Moral – diese beiden sind bestimmt durch Strukturen und geprägt von individuellen Vorstellungen, Einstellungen und Überzeugungen. Sie sind fest verankert, in jedem Einzelnen, in jeder Gesellschaft, jeder Gruppe, und üben Einfluss auf das Handeln und Fühlen aus und lassen sich nur schwer verändern – Beständigkeit ist gerade ihr Merkmal. Demgegenüber steht in der Diskussion um das Stadthallenrelief jedoch die Kunst – jenes Produkt, das am Ende eines kreativen Prozesses und Handelns steht, dabei eine Art Bildnis der Kultur und gleichzeitig ihr Erzeugnis ist, dabei flexibel, meist ohne Grenzen, das die Freiheit für sich und sein Wirken beansprucht. Kunst erfreut, weckt Gefühle in jedem Einzelnen, reizt jedermann und sie provoziert. Ja, manch einer sieht darin gar ihre Funktion. Kunst kann provozieren, Kunst soll provozieren, Kunst muss provozieren. Gerade dies trägt dazu bei, dass die Kunst stets den Skandal in sich zu tragen scheint. Ob es die skandalöse Pinselführung, die skandalöse Banalität oder die skandalöse Nacktheit ist, Kunst kann schockieren oder ruft zumindest Meinungen hervor. Auf diese ist sie auch angewiesen, denn ohne sie wäre die Kunst nur ein Teil des Belanglosen und vielleicht sogar des Überflüssigen. Daraus ergibt sich der Schluss, dass die Kunst nichts mehr in ihrem Anstandsgefühl erschüttern würde als die ihr zukommende Tat sache, belanglos zu sein. Dies wäre für sie selbst ein Skandal. Die Kunst kommuniziert mit ihrem Betrachter und regt ihn selbst zu Kommunikation an. Auch darin liegt ihre Funktion. Sie vermittelt, auch wenn sie dabei eine Diskussion, einen Streit oder gar einen Skandal bewirkt. Was den Skandal in Göttingen rund um das Relief an der Stadthalle letztlich auslöste, waren also nicht ein Künstler, ein Mann der Kirche, die Medien oder Bürger Das Bronzerelief an der Stadthalle
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der Stadt Göttingen. Nein, sondern es waren zwei in ihrer Natur grundverschiedene Dinge, die zwar einander benötigen, ja, sogar bedingen, aber dabei jedoch nicht miteinander verschmelzen, sondern sich abstoßen, gegenseitig befeuern, einander hochspielen und explodieren lassen – die Moral und die Kunst, zwei skandalöse Gegenspieler. Das Relief des Bildhauers Jürgen Weber trägt den Obertitel »Stadt«, es zeigt Menschen in all ihrer Lebendigkeit. Es scheint seiner Intention gefolgt zu sein. Denn was verdeutlicht die Lebendigkeit besser als miteinander in Kontakt stehende nackte Menschen in einer Abbildung und miteinander diskutierende und streitende Menschen in der Realität, die eben darin einen Skandal sehen und ihn so erzeugen? Und was verdeutlicht besser die Pluralität der Stadt als die aufeinandertreffenden Interessen und Meinungen verschiedener Bürger in einem Streit um ein Kunstwerk? Die sich Sorgen um den Ruf und den Anstand ihrer Stadt machen? Das Relief und sein Skandal haben die Stadt Göttingen belebt, ihre Bewohner dazu motiviert, das eigene Verständnis von Anstand und Kunst zu prüfen und sich eben darüber auch auszutauschen, miteinander zu kommunizieren. Es hat einen Anstoß zum Nachdenken und Hinterfragen gegeben. Und ist die Kunst nicht eben dafür da? Ja, friedlich liegt sie da, die Stadthalle am Albaniplatz mitten in Göttingen. Mal in der prallen Sonne, mal im Schatten der Bäume, im Wind, Schnee und Regen. Sie ist es noch immer – quadratisch, praktisch, bunt. An so einigen Abenden beherbergt sie tanzende Bewohner Göttingens und Umgebung, gibt Konzerten und Aufführungen einen Raum. Das Relief findet nur noch selten Beachtung. Der Skandal darum liegt längst in der Vergangenheit, ohne jedoch vergessen zu sein. Das Relief und die Stadthalle Göttingen sind noch immer präsent.
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Anmerkungen 1 Zit. nach Klaus Wettig, Spurensuche und Fundstücke. Göttinger Geschichten, Göttingen 2007, S. 207. Vgl. auch ders., Bilderstreit: Göttingens umstrittene Denkmäler, in: Göttinger Tageblatt, 12.09.2014. 2 Vgl. Stadt Göttingen – Fachdienst Kultur –, Die Stadt, online einsehbar unter http://www.denkmale.goettingen.de/printable/kunst/diestadt. html [eingesehen am 10.04.2015]. 3 Vgl. o. V., Kommt es zum Kulturkrieg?, in: Göttinger Presse, 18.09.1964. 4 Vgl. o. V., Erich H. Biederbeck: Kunst nicht auf dem Wege der Abstimmung geboren, in: Göttinger Tageblatt, 18.09.1964. 5 Vgl. Wolfgang Rabe, Moral und Kunst. Stellungnahme des Museumsleiters zu dem umstrittenen Stadthallenrelief, in: Göttinger Tageblatt, 18.09.1964. 6 Leserbrief von U. Kattmann, Das Relief muss weg, in: Göttinger Presse, 19.09.1964. 7 Vgl. Leserbrief von J. Scheele, Diskussion begrüßenswert, in: Göttinger Tageblatt, 24.09.1964. 8 Vgl. Leserbrief von W. F., Abstimmung über Kunstwerk, in: Göttinger Presse, 16.10.1964. 9 Bild am Sonntag, 04.10.1964. 10 Vgl. Peter Sulzbach, Leichte Damen und schweres Relief, in: Pardon, Jg. 3 (1964), H. 11, S. 43. 11 Vgl. o. V., Oberstadtdirektor erstattete Strafanzeige, in: Göttinger Tage blatt, 17./18.10.1964. 12 Vgl. Wettig, Bilderstreit. 13 An dieser Stelle sei kurz vermerkt, dass es bei der Auflösung des Verfahrens noch eine weitere Version gibt. Vgl. hierzu Wettig, Bilderstreit; ders., Spurensuche, S. 210. Die hier erfolgte Aussage speist sich direkt aus den im Stadtarchiv Göttingen vorliegenden und an dieser Stelle angegebenen Quellen. 14 Vgl. o. V., Staatsanwaltschaft entschied klipp und klar. Relief ist nicht unzüchtig. Ermittlungsverfahren eingestellt/Bescheide an die Anzeiger, in: Göttinger Presse, 01.11.1964.
Das Bronzerelief an der Stadthalle
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Der Abriss des Reitstalls im Jahr 1968 Ein »bilderstürmerisches Unternehmen, das jedem Sinn für Tradition Hohn spricht«1 von Teresa Nentwig
»Göttingen ist ein unerwartet glücklicher Fund unter den deutschen Städten der Nachkriegszeit: kaum geritzt vom Stahlgewitter der Jahre 1944 und 1945, in seinem Weichbild völlig intakt, lückenlos geschlossene Straßenfronten von Riegelhäusern, Mittelalter und Biedermeier in einem […]. An jedem vierten, fünften Haus nennt ein weißes Täfelchen den Namen eines Musensohns, der hier gewohnt und gewirkt hat: Brahms, Brentano, Tieck, August Wilhelm Schlegel, Savigny, Jacob und Wilhelm Grimm […]. Unter den Plaketten […] ziehen die Studentenscharen, verstopfen den Gehsteig vor den akademischen Buchhandlungen, radeln von Hörsaal zu Seminar und Klinik, singen abends auf den Tavernen. Es ist […] Oxford auf Deutsch.«2 Wer im Jahr 2015 das nördliche Ende der Göttinger Fußgängerzone erreicht, läuft auf der linken Seite auf das Carré zu, einen großen grauen Kasten, der zahlreiche Geschäfte beherbergt, vom Outlet-Kaufhaus TK Maxx über den Elektronikhändler Saturn bis hin zum Drogeriemarkt dm. 280 Jahre zuvor, zwischen 1734 und 1736, entstand auf diesem Gelände das erste Gebäude der neu gegründeten Universität. Es handelte sich dabei um einen Reitstall, mit dem junge Adlige und wohlhabende Bürgersöhne aus dem In- und Ausland nach Göttingen gelockt werden sollten. Denn damals war für gutsituierte Studenten weniger die Universität an sich als vielmehr »Ruhm und Ruf ihrer Reitbahn ausschlaggebend für die Wahl des Studienortes«3. Um diese sogenannten besseren Kreise warb die junge Universität aus Gründen der Reputation wie auch der Finanzen – die Studenten sollten Geld nach Göttingen bringen.4 Der Reitbetrieb auf der Anlage, die aus einem Hauptbau mit Reithalle, Stallungen, einer Reitlehrerwohnung, einer Reitbahn 178
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unter freiem Himmel und einem Zuschauerpavillon bestand, wurde zum Sommersemester 1736 aufgenommen, also noch vor der feierlichen Eröffnung der Universität am 17. September 1737.5 Rasch blühte das Reiterleben auf – einige Studenten immatrikulierten sich sogar ausschließlich als »studiosi artis equitandi«6 –, und auf dem Gelände machten wiederholt prominente Besucher Halt, darunter 1801 Goethe, der über seine Besichtigung des Reitstalles u. a. Folgendes schrieb: »Ein junger Kestner und von Arnim, früher bekannt und verwandten Sinnes, suchten mich auf und begleiteten mich zur Reitbahn, wo ich den berühmten Stallmeister Ayrer in seinem Wirkungskreise begrüßte. Eine wohlbestellte Reitbahn hat immer etwas Imposantes […]. Warum denn auch eine Reitbahn so wohltätig auf den Verständigen wirkt, ist, daß man hier, vielleicht einzig in der Welt, die zweckmäßige Beschränkung der Tat, die Verbannung aller Willkür, ja des Zufalls mit Augen schaut und mit dem Geiste begreift. Mensch und Tier verschmelzen hier dergestalt in eins, daß man nicht zu sagen wüßte, wer denn eigentlich den andern erzieht. Dergleichen Betrachtungen wurden bis aufs höchste gesteigert, als man die zwei Paare sogenannter weißgeborner Pferde zu sehen bekam, welche Fürst Sanguszko in Hannover für eine bedeutende Summe gekauft hatte.«7 In diesen Jahrzehnten, ungefähr zwischen 1760 und 1832, erlebte der Universitätsreitstall seine Glanzzeit, erlangte »gar europäische Geltung und Berühmtheit. Es heißt, daß Göttingen damals Deutschlands erste Schule gewesen sei und in Europa nur noch von der Versailler Schule übertroffen worden wäre.«8 So überrascht es kaum, dass der Reitstall schließlich 1931 unter Denkmalschutz gestellt wurde9, denn neben seiner historischen Bedeutung als erstes Gebäude der Universität Göttingen stand sein künstlerischer Wert: Der Reitstall zählte zu den wenigen noch erhaltenen Barockbauten Göttingens10, wobei insbesondere sein imposantes Mittelportal herausstach – die Tafel unter dem dortigen Giebelfeld trug folgende Inschrift: »Die Fürsorge Georgs II . Königs von Großbritannien und Kurfürsten von Braunschweig-Lüneburg hat die von ihm gegründete Universität mit diesem Reitstall ausgeschmückt 1735«11. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg galoppierten die Pferde noch in der Universitätsreithalle. Damals entwickelte sich Göttingen soDer Abriss des Reitstalls
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gar zum Zentrum des deutschen Hochschulreitsports; der langjährige Direktor des Instituts für Leibesübungen, Dr. Wilhelm Henze, wurde 1953 Disziplinchef für Reiten im Deutschen Hochschulsportverband.12 Zu diesem Zeitpunkt hatten die Reitsportler bereits mehrfach den Abriss ihrer Halle abgewehrt: Anfang/Mitte der 1930er Jahre waren der Bau einer städtischen Festhalle bzw. eines neuen Landgerichts auf dem Reitstallgelände in der Diskussion gewesen, zu Beginn der 1950er Jahre die Errichtung eines Studentenwohnheims.13 Ende der 1950er Jahre stand dann die Umwandlung des Reitstalles in eine Markthalle im Raum, für die sich die Händler des Wochenmarktes einsetzten. Doch mit dem Hinweis, dass ein Neubau unter Einbeziehung des Reitstalles »zu kostspielig«14 sei, wurden diese Pläne ad acta gelegt. Daneben interessierte sich ein Unternehmen aus Hannover für das ca. 5.000 m² große Grundstück, um dort ein modernes Geschäftshaus zu errichten15; doch auch dieses Vorhaben verlief im Sande, und der Reitstall konnte weiterhin als eines der Göttinger »Baudenkmäler« in Reclams Kunstführer firmieren16. 1964 war der Reitstall, in dessen Seitentrakt sich inzwischen auch das Soziologische Seminar befand17, wieder bedroht: Nach den Plänen der Stadt Göttingen sollte er wegen der »Parkraumnot in der Innenstadt«18 Parkplätzen weichen. Dass dieses Mal die Proteste der Reiter ausblieben, ist darauf zurückzuführen, dass sich der Reitstall, in dessen Stallungen noch dreißig Pferde untergebracht waren19, mehr denn je in einem schlechten baulichen Zustand befand. So musste Anfang Februar 1965 ein Teil der Weender Straße wegen der Gefahr herabfallender Dachziegel abgesperrt werden.20 Hinzu kam, dass damals die Errichtung einer neuen Reithalle und von Stallungen im geplanten Universitätsneubaugebiet vorgesehen war.21 Dort, abseits des Stadtzentrums, sollte wieder das möglich werden, was in der Innenstadt schon lange nicht mehr gegeben war: ein Ausritt in der freien Natur.22 Zunächst ließen sich die Reiter von den Verfallssymptomen nicht abschrecken und trainierten weiter; im Mai 1965 allerdings sah sich die Universität aus Sicherheitsgründen doch zur Einstellung des Reitbetriebs gezwungen23. Wenige Monate später, im September 1965, kaufte die Stadt Göttingen dann den Reitstall dem Land Niedersachsen ab, in dessen Besitz sich das Grundstück befand.24 Das Land hatte zuvor noch versucht, der Stadt die Auflage 180
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zu machen, dass »vom Käufer des Grundstücks, der Stadt Göttingen, hinsichtlich des Gebäudes die denkmalpflegerischen Belange gewahrt werden müssen«25. Doch für die Stadt, die dem Land vorwarf »[s]eit mindestens 23 Jahren […] an der Reithalle keine Bauunterhaltungsarbeiten mehr durchgeführt«26 zu haben, war diese Bedingung »unannehmbar«27, sodass sich das Land bereit erklärte, die Stadt lediglich zu verpflichten, »denkmalpflegerische Belange zu wahren, soweit sie dazu in der Lage ist«28. Das Land war in dieser Hinsicht von der Stadt unter Druck gesetzt worden: Da die Stadt bereit war, eine von der Universität Göttingen für den Bau eines zentralen Heizkraftwerkes dringend benötigte Fläche an das Land zu verkaufen, erwartete man im Gegenzug von der Universität Göttingen, ihr beim Reitstall entgegenzukommen.29
»Das Reitstallgebäude wird baldmöglichst abgerissen.« In der nachfolgenden Zeit tat sich erst einmal nichts – der Reitstall schlummerte friedlich vor sich hin.30 Wohl ahnend, dass ihm bald der Abriss bevorstehen könnte, setzten sich aber sowohl der Niedersächsische Heimatbund als auch der Göttinger Geschichtsverein für seinen Erhalt ein. So betonte der Vorsitzende des Niedersächsischen Heimatbundes, Dr. Herbert Röhrig, am 11. Oktober 1965 auf dem 46. Niedersachsentag in Hildesheim, dass es »[s]chmerzlich wäre […], wenn der historische Reitstall an der Weender Straße geopfert werden müßte, um einem Kaufhaus Platz zu machen. Er ist das älteste für die Universität errichtete Bauwerk der Stadt.«31 Dieser Satz war Bestandteil der sogenannten Roten Mappe, die der Niedersächsische Heimatbund seit 1960 jährlich der Landesregierung überreicht. Der Göttinger Geschichtsverein wiederum richtete eine entsprechende Eingabe an den Niedersächsischen Landtag, woraufhin sich dessen Kultusausschuss Anfang März 1966 einstimmig für die Bewahrung des gesamten Reitstallgebäudes aussprach.32 Im Jahr darauf setzte sich jedoch die damals stärkste und regierende Fraktion im Rat der Stadt Göttingen, die SPD -Fraktion, darüber hinweg – ihr Antrag sollte den Abriss des Reitstalles besiegeln. Der Antrag, der am 3. November 1967 in der Ratssitzung behandelt wurde, lautete wie folgt: »Der Rat wolle beschließen: Der Abriss des Reitstalls
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a) Das Reitstallgebäude wird baldmöglichst abgerissen. b) Unbeschadet möglicher späterer Baupläne wird an dieser Stelle ein neuer Parkplatz errichtet.«33 Einwände gegen den Antrag kamen von der CDU, und auch Oberstadtdirektor Erich H. Biederbeck (FDP) zeigte sich eher zurückhaltend: »Oberstadtdirektor Biederbeck empfiehlt, heute keinen Beschluß zu fassen, sondern die Angelegenheit in Ruhe zu prüfen. Er schlägt vor, der Bevölkerung Einblick in Haupt- und Nebengebäude zu gewähren, eine Diskussion vorzusehen und dann in den Ausschüssen zu beraten.«34 Die Ratsmitglieder folgten diesem Vorschlag, sodass am 9. November 1967 ca. fünfhundert bis sechshundert Göttinger den Reitstall besichtigten.35 An dem sich anschließenden »Hearing«36 nahmen zwischen siebzig und hundert Personen teil – weit mehr als erwartet, sodass in dem Hörsaal, in dem die Diskussion um das Schicksal des Reitstalls stattfand, »eine drangvolle Enge«37 herrschte. Das Meinungsbild war eindeutig: Überwiegend sprachen sich die Bürger für den Erhalt des Reitstalls aus.38 Trotz dieser Stimmungslage stimmte vier Wochen später, am 5. Dezember 1967, zunächst der Bau-, Planungs- und Forstausschuss des Rates der Stadt Göttingen »nach eingehender Diskussion einstimmig« dafür, den Reitstall abzureißen.39 Zehn Tage später fällte der Kulturausschuss seine Entscheidung, ebenfalls nach einer »eingehende[n] Diskussion«40, aber mit einem nicht ganz so eindeutigen Ergebnis: Neben fünf Ausschussmitgliedern, die für den Abriss des Reitstalls votierten, gab es auch zwei Stimmenthaltungen. Im neuen Jahr, am 2. Februar 1968, stimmte schließlich der Rat der Stadt Göttingen ab: Mit »33 Stimmen gegen 4 Stimmen und bei einer Stimmenthaltung«41 wurde der Antrag der SPD auf Abriss des Reitstalls angenommen.
Ein erster, wenn auch begrenzter »Aufschrei des historischen Gewissens« Erst jetzt regte sich Protest. So rief beispielsweise der Rektor der Universität Göttingen, Prof. Dr. Walther Killy, Oberstadtdirektor Biederbeck an, um ihn über seine Bemühungen zu informieren, »die Universitäts-Reithalle doch noch einem Universitätszweck zuzuführen«42. Denn gemeinsam mit dem Soziologen 182
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Prof. Dr. Hans Paul Bahrdt vertrat der Literaturwissenschaftler Killy die Ansicht, dass die Göttinger Innenstadt nach Errichtung der Universitätsneubauten im Norden der Stadt nicht »weitgehend von Studenten frei sein« dürfe und dass deshalb »aus dem ehemaligen Reitstall ein Kultur- und Sozialzentrum für die Studentenschaft zu machen« sei.43 Zudem war Killy »persönlich […] überzeugt, daß bei der Unruhe und Bindungslosigkeit der Studenten, insbesondere der Massenfächer, eine Einrichtung wie die hier konzipierte genauso wichtig ist wie die Einrichtungen, die dem unmittelbaren Unterricht dienen«44. Killy machte in dem Gespräch mit Biederbeck sogar bereits erste Finanzierungsvorschläge.45 Am nächsten Tag brachte er dann seine Vorstellungen zu Papier und schickte sie dem Oberbürgermeister wie auch dem bereits von ihm informierten Oberstadtdirektor.46 Zwei Wochen später schrieb Killy außerdem an den Regierungspräsidenten in Hildesheim, Dr. Günther Rabus, dem damals nach der Niedersächsischen Gemeindeordnung die Aufsicht über historische Gebäude oblag und der den Abbruch daher genehmigen musste. Auch ihm gegenüber legte er dar, dass »der Universität neuerdings Mittel zur Verfügung stehen, die ermöglichen, […] aus dem ehemaligen Reitstall ein Kultur- und Sozial zentrum für die Studentenschaft zu machen«. Seinen Brief ließ Killy mit eindringlichen Worten enden: »Nach meiner persönlichen Überzeugung wird man die Aufgaben der Zukunft nicht lösen können, wenn man Vergangenheit und Herkommen aus opportunistischen Gründen derart ausseracht läßt.«47 Veranlasst möglicherweise durch dieses Schreiben, wollte sich Rabus vor der Erteilung der Abbruchgenehmigung ein Bild vor Ort machen, und so reiste er am 27. Mai 1968 nach Göttingen, um den Reitstall zu besichtigen und ein Gespräch mit Vertretern der Stadt Göttingen, des Rates der Stadt Göttingen, des Landesverwaltungsamtes, der Universität Göttingen48, der Industrie- und Handelskammer und der Bürgerschaftlichen Vereinigung, einer 1965 gegründeten Bürgerinitiative49, zu führen.50 In der Zwischenzeit hatten sowohl der Landeskonservator als auch mehrere Universitätsprofessoren nach (Übergangs-)Lösungen gesucht, darunter die Hinausschiebung des Abrisses so lange, bis endgültig entschieden ist, wie das Gelände bebaut werden soll. Da jedoch auch dafür Geld nötig gewesen wäre, sprach der Der Abriss des Reitstalls
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Vorsitzende der SPD -Fraktion im Stadtrat, Artur Levi, von einem »Schildbürgerstreich«51 – jeder Verständigung wurde aus dem Weg gegangen. Das gilt auch für das Angebot des Universitätsbundes, 100.000 DM für den Bau des Studentenzentrums bereitzustellen. In der Besprechung mit dem Regierungspräsidenten am 27. Mai 1968 handelte es sich dabei zwar noch um ein unverbindliches Angebot52, doch aus den Akten geht hervor, dass von der Stadt aus keinerlei Anstalten gemacht wurden, auf den Universitätsbund zuzugehen. Gleiches trifft auf die Initiativen der Bürgerschaftlichen Vereinigung zu, die anlässlich des Besuchs des Regierungspräsidenten u. a. darauf hinwies, dass sie »für eine Dauerlösung […] 15.000,-- DM aus Spenden aufbringen [würde]«53. Der Regierungspräsident selbst tendierte zur (zumindest) vorläufigen Erhaltung des Reitstalles und versuchte während der Besprechung am 27. Mai, eine Kompromisslösung vorzuschlagen: den Erhalt des Reitstalles bis 1975, denn bis dahin sei aufgrund der Lage der städtischen Finanzen nicht mit dem Baubeginn eines neuen Verwaltungsgebäudes zu rechnen.54 Inzwischen gab es nämlich Pläne, nach dem Abriss des Reitstalls auf dem Grundstück ein neues Gebäude für die Stadtverwaltung zu bauen, deren Dienststellen damals noch auf 18 verschiedene Standorte im Stadtgebiet verteilt waren.55 Finanziert werden sollte die vom Regierungspräsidenten vorgeschlagene Erhaltung des Reitstalles zum einen mit den vom Landeskonservator dafür zugesagten Geldern (25.000 DM) und zum anderen mit von der Universität bereitgestellten Geldern (ebenfalls 25.000 DM).56 Der Kunsthistoriker Prof. Dr. Heinz Rudolf Rosemann, der als einer der Vertreter der Universität an der Besprechung mit dem Regierungspräsidenten teilnahm, sollte bis zum 7. Juni 1968 prüfen, ob die Universität bereit sei, dieses Geld der Stadt zur Verfügung zu stellen, ohne diese zu verpflichten, »den Reitstall nach Ablauf von 5 bis 7 Jahren weiter zu erhalten«57. Doch der Rat ließ auch diese Lösung an sich abprallen und beschloss in seiner Sitzung am 7. Juni 1968: »Der Rat sieht sich außerstande, der Anregung des Regierungspräsidenten in Hildesheim zu entsprechen, unter bestimmten Voraussetzungen einer Hinausschiebung des Abrisses des Reitstalles zuzustimmen. Der Rat bittet deshalb den Regierungspräsidenten, nunmehr über den Antrag der Stadt vom 19. März 196858 zu entscheiden.«59 184
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Dies tat Rabus bereits sechs Tage später: Er genehmigte den Abriss, wobei er in einer Mitteilung an das Göttinger Tageblatt betonte, »die Entscheidung über das Schicksal des Reitstalles sei ihm nicht leicht geworden, weil ›sich Vertreter der Universität und der Bürgerschaftlichen Vereinigung sowie andere Persönlichkeiten, deren Urteil er schätze, mit Wärme für den schlichten, aber durchaus beachtlichen Zweckbau aus der Zeit des Barock eingesetzt hätten.‹«60 Die Stadt, so der Regierungspräsident weiter, benötige jedoch ein neues Verwaltungsgebäude, das »zwangsläufig in seiner Größe, Anlage und Form erheblich behindert und auch stark verteuert werden [würde], wenn die alte Reithalle stehen bliebe und auf sie Rücksicht genommen werden müsse«61. Daneben legitimierte Rabus, der selbst in Göttingen studiert hatte, seine Entscheidung mit dem Argument, dass der Reitstall nicht in das Geschichtsbewusstsein der Göttinger und ihrer Studenten Eingang gefunden habe, der »übliche Aufschrei des historischen Gewissens«62 daher ausgeblieben sei. Dass er diesen »Aufschrei des historischen Gewissens«63 aus den Reihen der Bürger vermisse, hatte Rabus bereits bei der Besprechung vom 27. Mai gesagt.
»Planierraupen raus!« Auch der Theologe Prof. Dr. Walther Zimmerli hatte an diesem 27. Mai seiner Enttäuschung darüber Ausdruck verliehen, »daß sich die Göttinger Bevölkerung nicht stärker für das Gebäude eingesetzt habe«64. Zweieinhalb Wochen nach dem Ratsbeschluss vom 7. Juni und wenige Stunden vor Beginn der Abbrucharbeiten65 war es aber so weit: Die Proteste, die bisher auf einen kleinen Teil der Göttinger Bevölkerung beschränkt geblieben waren, weiteten sich aus. Den Startschuss gaben am 25. Juni ein Schreiben des AStA an den Rat der Stadt Göttingen sowie ein Flugblatt, das auf den wissenschaftlichen Assistenten am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Göttingen, Dr. Heinz Klotz, zurückgeht. In dem Schreiben des AStA, von dem ein Durchschlag u. a. an den Kultusminister des Landes Niedersachsen ging, wurde »ein Studentenzentrum in einer neu ausgebauten Reithalle« gefordert, um den Studenten »endlich innerhalb der Stadt einen Aufenthalt zu bieten«.66 Verbunden war dieser Wunsch mit einem eindringDer Abriss des Reitstalls
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lichen Appell: »Wenn Ihnen die Tradition Göttingens als Universitätsstadt nicht gleichgültig ist, so müssen Sie das e r s t e Bauwerk der Universität erhalten!«67 In dem Flugblatt wird beklagt, dass der Stadtrat über den Vorschlag von Rektor und Senat, »die Reithalle zu einem Sozial- und Kulturzentrum der Studentenschaft auszubauen«, »hinweggegangen« sei. Dabei wollten die Studierenden genau solch ein Zentrum haben, das es im Übrigen in »[j]ede[r] andere[n] westdeutsche[n] Universitätsstadt« gebe. Ähnlich wie das Schreiben des AStA warnte das Flugblatt in diesem Zusammenhang vor einer studentenfreien Innenstadt: »Kommt dieses Zentrum für Göttingen in die Reithalle, so wird das studentische Leben in die Innenstadt gezogen. Andernfalls wird die Studentenschaft mit dem Bau der neuen Universität nach Weende emigrieren.« Daneben wurde dem Rat in dem Flugblatt vorgeworfen, mit »einer durch kein sachliches Argument begründeten Hast« den Reitstall abbrechen zu wollen und auf diese Weise »auf Jahre hin eine Riesenlücke in die Front der Weender Straße« zu reißen. Vor diesem Hintergrund forderte das Flugblatt »die Göttinger Bürger und Studenten« auf, am 26. Juni 1968 um 9 Uhr vor dem Reitstall gegen dessen Abriss zu demonstrieren.68 Das Flugblatt, dessen Wortlaut am 25. Juni 1968 im Göttinger Tageblatt abgedruckt wurde69, war zu diesem Zeitpunkt bereits von bekannten Göttinger Professoren, darunter etwa der Jurist Dr. Rudolf Smend, die Historiker Dr. Hermann Heimpel und Dr. Günther Patzig sowie der Mediziner Dr. Werner Creutzfeld, unterzeichnet worden. Rasch kamen zahlreiche weitere Unterschriften hinzu, beispielsweise von dem damaligen AStA-Vorsitzenden Wolfgang Eßbach, dem Herausgeber der Zeitschrift TEXT + KRITIK Heinz Ludwig Arnold, dem Direktor des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München Prof. Dr. Ludwig Heinrich Heydenreich, dem Direktor des Deutschen Kunsthistorischen Instituts in Florenz Prof. Dr. Ulrich Middeldorf und dem Architekten Prof. Diez Brandi.70 Am Tag nach der Demonstration sprach die Göttinger Presse von einem »magere[n] Protest« vor dem Reitstall. Das »Häuflein«, das sich davor eingefunden hätte, sei »nicht imponierend« gewesen, »sei es, weil es sich im Regen schlecht demonstriert, oder daß die Protestierenden innerhalb der Bevölkerung eben doch in der Minderzahl sind.«71 Es trifft in der Tat zu, dass der Protest gegen 186
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Protestaktion am 26. Juni 1968 gegen den Reitstallabriss.
den Reitstallabriss auf einen Teil der Göttinger Bevölkerung beschränkt blieb, nämlich in erster Linie auf Angehörige des Bildungsbürgertums. Der kleine Mann auf der Straße nahm den Reitstall hingegen als »alte[n] verschmutzte[n] Kasten«72 wahr, der im Weg stehe und der »alt genug [ist], um abgerissen zu werden«73. Selbst der Landeskonservator, der den Reitstall als ein »[h]istorisch und künstlerisch […] besonders wertvolles Gebäude« beschrieb, sprach von einem »traurigen Eindruck«, den das Gebäude derzeit »zweifellos« mache74, während die Studierenden den Reitstall in einem Flyer als »schwarz«, »von Auspuffgasen verrußt« und »für viele abstoßend« beschrieben75. Zu diesem düsteren Eindruck trug wohl auch bei, dass der Reitstall in keiner attraktiven Gegend stand. So befand sich beispielsweise direkt nebenan ein leerstehendes Gebäude, das in einem »verwahrloste[n] Zustand«76 (zerbrochene Fensterscheiben usw.) war und deshalb allerlei dunkle Gestalten anzog: »Lichtscheues Gesindel versucht sich dort einzunisten«, heißt es in einem Schreiben des Hochbauamtes der Stadt Göttingen aus dem Herbst 1967.77 Obwohl der Reitstallabbruch vor diesem Hintergrund in der breiten Bevölkerung auf Gegenliebe stieß78, gelang es dem AStA, der die Federführung der Protestaktion übernommen hatte, in den ersten zwei Stunden der Kundgebung vor dem Reitstall Der Abriss des Reitstalls
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250 Passanten zu mobilisieren, die sich in eine Unterschriftenliste für den Erhalt des Gebäude eintrugen.79 Abends waren es schließlich 2.230 Unterschriften. Zudem hatten Passanten rund 2.000 DM für den Erhalt des Reitstalls gespendet, dessen Mauerwerk nun mit Plakaten behangen war, auf denen u. a. »Stadtväter = Stadtschänder?«80 oder »Planierraupen raus!«81 stand.82 Am nächsten Tag wurde der Protest fortgesetzt, u. a. mit einer Demonstration durch die Innenstadt zum Amtshaus des Stadtbaumeisters, der nach einem Sit-in eine Abordnung der Studenten empfing. Anschließend besetzten die Studierenden das Innere des Reitstallgebäudes.83 Inzwischen war die Zahl der Unterschriften auf 6.780 angewachsen84 – das waren »rund fünf Prozent der Einwohnerschaft«85. Auch außerhalb Göttingens erhoben sich nun vermehrt Stimmen gegen den Reitstallabriss, etwa die Abteilung für Architektur der Technischen Universität Braunschweig, die »grundsätzlich gegen die Vernichtung wertvoller kunsthistorischer Bauten«86 war. Weitere Solidaritätsbekundungen gingen u. a. von der Columbia University in New York, von der Universität Münster, von der Denkmalpflegerkonferenz der Deutschen Denkmalpfleger und der Freien Akademie der Künste in Hamburg ein.87
»Es war alles vergeblich, Göttingen blieb bei seinem Beschluß.« Dass diese und weitere Proteste erst rund fünf Monate nach dem Beschluss des Rates, den Reitstall abzureißen, erfolgten, erklärt sich damit, dass die Studentenschaft »erst in letzter Minute« davon erfahren hatte, dass dem Rat eine Empfehlung88 vorlag, den Reitstall zu einem Studentenzentrum auszubauen. Sie konnte daher »erst im letzten Augenblick und mit einer fast schon hoffnungslosen Verspätung aktiv werden«, wie der Initiator der Proteste, Klotz, angab.89 Doch vermutlich wäre die Stadt Göttingen ähnlich kompromisslos geblieben, wenn es schon eher zu den Protesten gekommen wäre. Denn bereits von Beginn an zeichnete sich ihre Haltung durch fehlende Kompromissbereitschaft aus. Die Studentenschaft spürte dies nun in aller Härte, zunächst am Abend des 27. Juni 1968, als Stadtdirektor Dr. Franz Claaßen den AStA-Vertreter Klotz, zwei Vertreter der Studierenden und einen Sprecher 188
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der Bürgerschaftlichen Vereinigung empfing: »Die Stadt sieht sich außerstande, die Abbrucharbeiten am Reitstallgebäude zu unterbrechen«, lautete das Fazit des Treffens.90 Der nächste Rückschlag für die Studentenschaft folgte bereits am 2. Juli 1968: Ihre Eingabe an den Rat, in der dieser gebeten wurde, den Reitstall vor dem Abbruch zu bewahren und ihn zu einem Studentenzentrum auszubauen91, wurde einfach abgeschmettert: In seiner Stellungnahme betonte der Rat, er habe sich eindeutig für die bauliche Umstrukturierung des nördlichen Teils der Weender Straße ausgesprochen, denn der Entscheidung für den Abbruch des Reitstalles hätten in zwei getrennten Abstimmungen jeweils mehr als achtzig Prozent der Ratsmitglieder zugestimmt. Der Erhalt des Reitstalls würde diese notwendige Erneuerung blockieren.92 Die Stadt stand damit auf einer Linie mit dem Einzelhandelsverband, der Kreishandwerkerschaft und dem Handelsausschuss der Industrie- und Handelskammer Göttingen, die Ende Juni 1968 in einer Stellungnahme für den Ratsbeschluss Partei ergriffen hatten. Allen wirtschaftlich und fortschrittlich denkenden Menschen dürfte es klar sein, dass ein Reitstall an einer Hauptgeschäftsstraße nicht mehr am Platze sei, argumentierten Handel und Gewerbe.93 Die Unnachgiebigkeit der Stadt ist umso erschreckender, als die Studentenschaft in ihrer Eingabe, die im Übrigen von dem Rektor der Universität unterstützt wurde94, konkrete Vorschläge gemacht hatte, um den Reitstall zu retten: mithilfe von Stiftungsgeldern95 Rückkauf des Geländes, inklusive des Gebäudes, durch die Universität und Bau eines Studentenzentrums, finanziert durch weitere Stiftungsmittel. Um die benötigten Gelder zu beschaffen, bat man die Stadt um »einen Verhandlungszeitraum von maximal drei Monaten«. In diesem Zeitraum sollte der Reitstall in seinem augenblicklichen Zustand belassen werden. Abschließend betonte die Studentenschaft: »Sollten die benötigten Geldmittel während dieser Zeit nicht zu beschaffen sein, so kann die Stadt die Reithalle endgültig abbrechen und das Gelände einem neuen Zweck zuführen.«96 Nachdem der Reitstall bereits so viele Monate im Dornröschen schlaf verbracht hatte, war die Stadt also nicht bereit, den Abriss noch um zwölf Wochen hinauszuschieben, um Alternativen zu prüfen. Er ging damit weiter – »das erste Gebäude der UniverDer Abriss des Reitstalls
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sität«, »der einzige klassizistische Barockbau Göttingens« und »die einzige erhaltene Universitäts-Reithalle Europas«97 wurde dem Erdboden gleichgemacht. Der Vorsitzende des Niedersächsischen Heimatbundes Röhrig konnte daher am 21. Oktober 1968 auf dem 49. Niedersachsentag seine Enttäuschung nicht verbergen: »Erschüttert waren wir, als Göttingen trotz aller Proteste an seiner Absicht festhielt, den Reitstall, das älteste für die Universität errichtete Bauwerk, abzureißen. Bis zuletzt ist mit großem Nachdruck versucht worden, den Rat umzustimmen, vom Kultusminister persönlich, vom Rektor und Senat der Universität, von der Historischen Kommission für Niedersachsen, vom Landeskonservator und vielen anderen Stellen. Es war alles vergeblich, Göttingen blieb bei seinem Beschluß.«98
Von »ganz anderen Berechnungen« und »irreführende[n] Photos« Aus heutiger Sicht sind neben der Standhaftigkeit der Stadt Göttingen vor allem vier Aspekte als skandalös zu bezeichnen, und zwar erstens das Übergehen von Professor Killy. Wohl weil er gemerkt hatte, dass seine Vorschläge bei der Stadt auf wenig Gehör trafen, regte er gegenüber Oberstadtdirektor Biederbeck ein Gespräch von Vertretern des Rates und der Verwaltung mit ihm und eventuell weiteren Repräsentanten der Universität an, um noch einmal über den Abriss des Reitstalles zu sprechen.99 Bei Biederbeck stieß dieser Vorschlag auf Zustimmung, wie er am 13. März 1968 Oberbürgermeister Walter Leßner mitteilte: »Ich meine, daß wir diesen Wunsch erfüllen müssen, und schlage deshalb vor, nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub einen Termin für eine Besprechung […] zu vereinbaren.«100 Am gleichen Tag informierte er zudem das Dezernat VII der Stadt Göttingen wie folgt: »Der mir heute vorgelegte Entwurf eines Antrages auf Abbruchgenehmigung der Universitäts-Reithalle bedarf noch einiger Abänderungen. Es ist mir aber mit Rücksicht auf meinen Urlaubsantritt nicht möglich, den Antrag heute noch zu überarbeiten. Ich bitte deshalb, den Antrag bis nach Beendigung meines Urlaubs (31. d. Mts.) zurückzustellen. Die Zurückstellung ist umsomehr erforderlich, als Magnifizenz Prof. Killy um ein Gespräch über die Verwendung 190
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der Universitäts-Reithalle mit Vertretern des Rates und der Verwaltung gebeten hat. Ich habe demgemäß dem Herrn Oberbürgermeister vorgeschlagen, daß wir nach meiner Rückkehr aus dem Urlaub einen Termin mit dem Rektor der Universität vereinbaren sollten. Es erscheint mir nicht angebracht, vor diesem Gespräch den Antrag auf Abbruchgenehmigung zu stellen.«101 Wie sich aus den im Stadtarchiv Göttingen vorliegenden Akten schließen lässt, kam es jedoch anders: Der an den Regierungspräsidenten in Hildesheim gerichtete Antrag, den Abriss des Reitstalles zu genehmigen, erging bereits sechs Tage später, unterzeichnet von Stadtdirektor Claaßen, »in Vertretung« des (im Urlaub weilenden) Oberstadtdirektors. Zu dem von Killy gewünschten Gespräch scheint es nie gekommen zu sein.102 Das zweite skandalöse Moment besteht aus heutiger Zeit darin, dass nicht nur Killy, sondern auch das Niedersächsische Kultusministerium übergangen wurde: Der AStA hatte ein »Protest telegramm«103 an Kultusminister Richard Langeheine geschickt, das dessen Staatssekretär unmittelbar beantwortete: Er bat den Rat der Stadt, die Abrissarbeiten doch zumindest aufzuschieben. Das jedoch lehnte Stadtdirektor Claaßen ab.104 Beschäftigt man sich mit dem Thema Reitstall, stößt man schnell auf einen dritten skandalösen Gesichtspunkt: Die vorhandenen Akten legen nahe, dass die Stadt Göttingen die Kosten für eine Unterhaltung des Reitstalls bewusst hoch kalkulierte, um dessen Abriss mit dem Argument forcieren zu können, dass die Instandsetzung erheblich zu teuer sei. Dies lässt sich beispielsweise aus dem Vermerk über die Besprechung mit dem Hildesheimer Regierungspräsidenten entnehmen, die am 27. Mai 1968 stattfand. So war der Bauassessor der Stadt Göttingen zu dem Schluss gekommen, dass 850.000 Mark erforderlich seien, »[u]m die Substanz des Bauwerkes zu sichern und die Unterhaltung für die Zukunft zu ermöglichen«105. Das Baudezernat der Regierung war hingegen zu »ganz anderen Berechnungen«106 gelangt: Regierungsbaudirektor Mänz rechnete mit einer Summe von 45.000 bis 70.000 DM und betonte bei der Besprechung am 27. Mai, dass die »soeben von der Stadt genannten Beträge den Reitstall in einen neuwertigen Zustand [brächten], was nicht notwendig sei«107. Basis seiner Berechnung waren zwei Gutachten von Ingenieuren, die unabhängig voneinander zu Ergebnissen gekommen waren, die »in auffallendem Der Abriss des Reitstalls
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Gegensatz zu den Angaben«108 der Stadt standen. Und damit nicht genug: Bereits zuvor soll die Stadt Göttingen auf unlautere Weise versucht haben, den Reitstallabriss zu beschleunigen: Nach Informationen von Günther Patzig, der seit 1963 als Professor an der Philosophischen Fakultät lehrte, haben sich die städtischen Vertreter die notwendige Zustimmung des Universitätssenats u. a. durch »irreführende Photos vom Dachstuhl des Reitstalls« besorgt, »die seine Brüchigkeit demonstrieren sollten, aber von einem anderen Gebäude stammten«.109 Hans-Joachim Dahms spricht deshalb von der »Geschichtslosigkeit« und der »verlogene[n] Mauschelei sämtlicher damals im Rat vertretener Parteien«.110 Und schließlich ist das Verhalten der Stadt Göttingen auch in einem vierten Punkt als skandalös zu bezeichnen: Als Argument für den Reitstallabriss führte sie immer wieder an, auf dem freiwerdenden Platz das neue Verwaltungsgebäude errichten zu wollen – von sechs möglichen Standorten sei »kein anderer […] dafür besser [ge]eignet als das Reitstallgelände«, so etwa Stadtbaurat Herbert Wiltenstein111. Konkrete Pläne lagen dazu jedoch noch nicht vor, sodass an der Absicht der Stadt schon damals Zweifel geäußert wurden. So wurde anlässlich des »Hearings« vom 9. November 1967 von Bürgern »Verwunderung darüber geäußert, daß man die Reithalle abbrechen wolle, ohne offensichtlich konkrete Zukunftspläne zu haben. Man möge doch erst planen und dann bauen.«112 Und der Landeskonservator betonte damals bereits, dass das Grundstück für ein Rathaus »zu klein«113 sei.114 Ähnliche Kritik brachten ein Flugblatt der Studentenschaft und das Schreiben des AStA zum Ausdruck: »Rat und Verwaltung täuschen eine Planung vor, für die in Wahrheit die gedankliche und finanzielle Grundlage fehlen. Sie wollen angeblich auf dem Reithallen-Grundstück ein neues Verwaltungszentrum errichten, wofür indessen der Platz nicht einmal ausreicht«, heißt es in dem Flugblatt115, während der AStA dem Rat vorwarf, dass »seitens der Stadt keinerlei konkrete Pläne bestehen, das Grundstück sinnvoll zu nutzen«116. Noch deutlicher wurde der Architekt Peter Pallat in einem Beitrag für das Göttinger Tageblatt: »Stadtbekannt ist […], daß die für die Verwirklichung des Projekts [des Rathausneubaus, Anm. d. V.] erforderlichen 20 Millionen weder in einem mittelfristigen Finanzierungsplan verankert noch durch Verkauf vorhandener Verwaltungsgebäude in absehbarer Zeit beigebracht werden 192
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können.«117 Sie alle sollten bekanntlich recht behalten. Denn hatte die Stadt immer betont, dass sie das Reitstallgelände »für stadteigene Zwecke« benötige und dass an »eine gewerbliche Nutzung oder an eine Veräußerung zur gewerblichen Nutzung […] nicht gedacht [sei]«118, so trat genau Letzteres ein: Im Mai 1973 wurde der Parkplatz, der nach dem Abriss des Reitstalls auf dem Gelände eingerichtet worden war, gesperrt, und der Bau des Kaufhauses Hertie konnte beginnen.119 Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass bereits wenige Tage (!) nach Beginn der Abrissarbeiten das Geismartor als möglicher Standort für das neue Rathaus in der Diskussion war.120 Hertie schloss bereits im Juni 1986 wieder121 und ließ eine »häßliche Architekturruine«122 zurück, die schließlich die Basis des heutigen Einkaufszentrums Carré wurde.
Alt und Neu »Eine künftige Zeit würde den Abriß des Gebäudes nicht verstehen.«123 Mit diesen Worten setzte sich Professor Zimmerli im Mai 1968 gegen den Abbruch des Reitstalles ein.124 Wie recht er haben sollte. Aus heutiger Sicht hätte sich der Reitstall für eine Synthese von Tradition und Moderne, von konservativem Bewahren und zukunftsgerichtetem Fortschritt bestens geeignet, etwa nach dem Muster der Lokhalle, die einem Abriss nur knapp entgangen ist. Doch Senator Walter Meyerhoff (CDU) erhielt für seinen Vorschlag, »einen Wettbewerb auszuschreiben und zu versuchen, Alt und Neu an dieser Stelle zu verbinden«125, keine Unterstützung. Und auch Zimmerli und die Studentenschaft, die ebenfalls eindringlich appellierte, dass »[j]ede lebendige Stadt […] historische Bauten [braucht], damit das Leben nicht in gerasterter Geometrie und verödendem Funktionalismus erstarrt«126, standen damals allein auf weiter Flur. Die Göttinger Verwaltung und der Stadtrat, gefangen in ihrem »Großstadt-Ehrgeiz«127, wie ihr damals in einem Leserbrief vorgeworfen wurde, gaben »der wirtschaftlichen Entwicklung Raum«128 und zeigten, dass Denkmalschutz nicht zwangsläufig vor Abriss schützt. Gleichzeitig darf aber auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Auseinandersetzungen um den Reitstall »erstklassig die Schwäche der 68er-Politik«129 illustrieren. Denn nur wenige MitDer Abriss des Reitstalls
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glieder des in der 68er-Bewegung lange führenden Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und anderer linker Gruppierungen nahmen sich dieses kommunalpolitischen Themas an: »Mochten die Göttinger Kulturtanten dafür eintreten, das alte Gemäuer zu erhalten. Nicht wir! Uns war das zu popelig«, so Erwin Ratzke, der im Sommersemester 1967 sein Studium in Göttingen aufnahm und bald in den SDS eintrat.130 Zwar stieß die schließlich vom wissenschaftlichen Assistenten am Kunstgeschichtlichen Seminar Heinz Klotz initiierte Protestaktion auf nicht geringe Resonanz bei den Göttinger Bürgern, aber sie kam spät und scheint gerade im studentischen Milieu kaum Anklang gefunden zu haben. »Die APO war eben vorzugsweise an ›großer‹ Politik interessiert. Und das hatte auch zur Folge, dass es nicht zu einer politischen Repräsentanz der Bewegung auf kommunaler Ebene kam.«131 Mit anderen Worten: Wäre die Koalition der Studierenden gegen den Reitstallabriss breiter gewesen und hätten sie – wie bei einigen anderen Themen (etwa den Notstandsgesetzen) – einen selbstbewussten Konfrontationskurs gesteuert, würde das erste Universitätsgebäude vielleicht heute noch stehen. Und doch: Bei aller Kritik an der damaligen Geschichtslosigkeit im Umgang mit historischer Bausubstanz darf man nicht vergessen, dass immer noch ein Stück des alten Reitstalles existiert. Die Zerstörung des Portikus, »wertvollste[r] Teil des alten Reitstalles«132, stand nämlich nie zur Debatte. Zunächst sollte der Portikus Bestandteil des neu zu errichtenden Reitinstituts werden133; doch als daraus nichts wurde und er inzwischen jahrelang »in Einzelteilen auf dem Bauhof«134 gelagert hatte, fand er schließlich 1974 auf dem Universitätsgelände Platz135, zwischen dem großen Parkplatz an der Weender Landstraße und dem Campus. Seit Herbst 2013 stößt man dort in gewisser Weise auf die 1968 nicht realisierte Symbiose zwischen Alt und Neu: Vom Campus kommend, führt der Weg durch das Portal oder daran vorbei zum neuen Lern- und Studiengebäude der Georgia Augusta, das auf einem Teil des Parkplatzes gebaut wurde. Am früheren Standort des Tores erinnert heute nur noch der Straßenname – Reitstallstraße – an den bedeutenden Bau aus dem 18. Jahrhundert.
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Das historische Reitstalltor im August 2015.
Anmerkungen 1 Schreiben von Prof. Dr. Walther Killy an den Rat und die Verwaltung der Stadt Göttingen vom 22.12.1967, in: StAG, C 14 Nr. 850. Killy war damals Rektor der Universität Göttingen. 2 Neue Zürcher Zeitung, 12.06.1955 3 O. V. (Kürzel: DS), Einsturzgefahr, in: Göttinger Presse, 05.02.1965. Vgl. dazu auch o. V. (Kürzel: GERT), Der Uni-Reitstall soll Elektrohaus weichen, in: Göttinger Presse, 27.12.1958. 4 Vgl. Carola Gottschalk, Gebaute Geschichte – Versteinerter Fortschritt, in: Kornelia Duwe/Carola Gottschalk/Marianne Koerner (Hg.), Göttingen ohne Gänseliesel. Texte und Bilder zur Stadtgeschichte, GudensbergGleichen 1988, S. 119–125, hier S. 120 f. 5 Vgl. Frank Helwig/Andreas Kolle/Frank Schrödter, Göttingen. Ereignisreiche Zeiten – Die 60er Jahre, Gudensberg-Gleichen 2000, S. 39; Walter Nissen, Der Reitstall – Abbruch oder neue Verwendung?, in: Göttinger Tageblatt, 09.11.1967. 6 Vgl. Helwig/Kolle/Schrödter, S. 39. 7 Zit. nach Erich Trunz (Hg.), Goethes Werke – Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. X: Autobiographische Schriften II, 7. Aufl., München 1981, S. 453 f. 8 Gottschalk, S. 121. Der Abriss des Reitstalls
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9 Vgl. o. V. (Kürzel: ühl), Reitstall wird ein Opfer der Spitzhacke, in: Göttinger Tageblatt, 27.01.1965. Zu präzisieren ist, dass der Reitstall in dem bis 1970 geltenden »Ortsstatut der Stadtgemeinde Göttingen zum Schutz gegen Verunstaltung« vom 08.10.1931 unter den Bauwerken von geschichtlicher und künstlerischer Bedeutung aufgeführt wurde (vgl. ebd.; Gottschalk, S. 123; Nissen). Überdies hatten Rat und Verwaltung noch im Jahr 1960 in der sogenannten Ortssatzung über Anlagen der Außenwerbung »den Schutz des Reitstalles erneuert und bekräftigt« (o. V., Spitzhacke). In dem Schreiben der Stadt Göttingen an den Regierungspräsidenten in Hildesheim vom 19.03.1968, in dem sie um Genehmigung des Reitstallabrisses bittet (enthalten in: StAG, C 28 Nr. 1221), wird jedoch betont, dass das Ortsstatut zum Schutz gegen Verunstaltung dem Abbruch nicht entgegenstehe, da das Preußische Verunstaltungsgesetz, auf dem das Ortsstatut beruhe, dem Eigentümer nicht verbiete, »das geschützte Gebäude vollständig zu beseitigen« (S. 2). 10 Vgl. dazu u. a. den Vermerk über die Besprechung in der Stadthalle der Stadt Göttingen am 27.05.1968 betreffend: Antrag der Stadt Göttingen vom 19.03.1968 auf Genehmigung des Abrisses der Reithalle, S. 3, in: StAG, C 28 Nr. 1221; Sunke Herlyn, Die Bedeutung des Reitstalles, in: Göttinger Tageblatt, 09.12.1965. 11 Übersetzung aus dem Lateinischen. Zit. nach Nissen. 12 Vgl. o. V. (Kürzel: Kell), Nicht Denkmal – Blühendes Reiterleben, in: Göttinger Presse, 28.10.1965. 13 Vgl. Michael Bockemühl, Von der Kartoffelkiste zur Schwimmhalle, in: Göttinger Presse, 27./28.02.1965; Gottschalk, S. 121 f.; Nissen; o. V., Elektrohaus; Sonja Girod, Protest und Revolte – Drei Jahrhunderte studentisches Aufbegehren in der Universitätsstadt Göttingen (1737 bis 2000), Göttingen 2012, S. 244, online einsehbar unter http://ediss.uni-goettingen. de/bitstream/handle/11858/00-1735-0000-000D-EF34-B/girod.pdf [einge sehen am 12.06.2015]. 14 So Stadtrechtsrat Dr. Helmut Busse. Zit. nach o. V., Elektrohaus. 15 Vgl. ebd. 16 Vgl. Heinz Rudolf Rosemann/Oskar Karpa/Erich Herzog (Bearb.), Reclams Kunstführer. Baudenkmäler, Bd. IV: Niedersachsen, Hansestädte, Schleswig-Holstein, Hessen, Stuttgart 1960, S. 287. 17 Vgl. Gottschalk, S. 122. Der Einzug war 1953 erfolgt. Vgl. Carola Dietze, Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner (1892–1985), 2. Aufl., Göttingen 2007, S. 375. 18 Schreiben der Bauverwaltung der Stadt Göttingen an das Neubauamt I für die Universität Göttingen vom 05.02.1964, in: StAG, C 28 Nr. 1221. 19 Vgl. Bockemühl. 20 Vgl. o. V. (Kürzel: BL.), Ziegelbomben statt Einsturzgefahr, in: Göttinger Presse, 09.02.1965. 21 Vgl. Schreiben der Bauverwaltung der Stadt Göttingen vom 05.02.1964. 22 Vgl. Bockemühl. Zu einem solchen Neubau ist es jedoch bis heute nicht gekommen.
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23 Vgl. Helwig/Kolle/Schrödter, S. 39; Gottschalk, S. 122. 24 Vgl. o. V. (Kürzel: H), Göttingen kauft Universitäts-Reitstall, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.09.1965. 25 Schreiben von Ministerialrat Schneider (»Sonderbeauftragter des Niedersächsischen Kultusministers für den Ausbau der Universität Göttingen«) an Oberstadtdirektor Erich H. Biederbeck vom 06.10.1966, in: StAG, C 28 Nr. 1221. 26 Vermerk der Bauverwaltung der Stadt Göttingen vom 11.03.1968, S. 2, in: StAG, C 28 Nr. 1221. 27 Schreiben Schneiders an Biederbeck vom 06.10.1966. 28 Ebd. 29 Vgl. ebd. Vgl. auch Girod, S. 246 f. Zudem spielte ein Schreiben des Universitätskurators an den Göttinger Oberstadtdirektor vom 7. März 1958 eine Rolle. Darin war der Kurator nicht davon ausgegangen, dass der Reitstall unter allen Umständen erhalten werden müsse: »Die Universität würde bei Übernahme des Reitstalles allerdings Wert darauf legen, daß die notwendigen denkmalpflegerischen Rücksichten genommen werden und möglichst die Straßenfront, auf jeden Fall das Portal mit dem antiken Giebel erhalten bleibt.« (zit. nach Schreiben des Stadtdirektors Dr. Claaßen – in Vertretung des Oberstadtdirektors der Stadt Göttingen – an den Regierungspräsidenten in Hildesheim vom 11.06.1968, S. 3, in: StAG, C 14 Nr. 850) Auf diese Briefstelle, die mit dem damaligen Rektor der Universität und dem Vorsitzenden des Denkmälerausschusses der Universität abgestimmt gewesen sein soll, stützte sich die Stadt Göttingen zehn Jahre später, um ihre Interessen durchzusetzen. 30 Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass der Kaufvertrag zwischen der Stadt Göttingen und dem Land Niedersachsen zwar am 22. Dezember 1965 geschlossen worden war, das Reitstallgrundstück mit den darauf stehenden Gebäuden aber erst am 5. September 1967 aus dem Landesbesitz auf die Stadt überging (vgl. den Vermerk der Bauverwaltung der Stadt Göttingen vom 11.03.1968, S. 1). Während dieser Zeit stimmte der Niedersächsische Landtag dem Verkauf zu. Vgl. Girod, S. 247. 31 Die Rote Mappe des Niedersächsischen Heimatbundes. Rückblick und Ausblick, vorgetragen durch den Vorsitzenden, Dr. Herbert Röhrig, Hannover, auf dem 46. Niedersachsentag in Hildesheim in der Festversammlung am Montag, 11. Oktober 1965, S. 14, online einsehbar unter http:// www.niedersaechsischer-heimatbund.de/dokumente/dateien/ROTE%20 MAPPE%20PDF%20komplett/RM_1965.pdf [eingesehen am 05.06.2015]. 32 Vgl. o. V., Kultus-Ausschuß für Erhalt des Reitstalls, in: Göttinger Tage blatt, 03.03.1966; Nissen. 33 Antrag der SPD-Fraktion betreffend Einrichtung eines neuen Parkplatzes an der Stelle des Reitstallgebäudes, in: StAG, C 28 Nr. 1221. 34 Auszug aus der Niederschrift über die 37. Sitzung des Rates der Stadt Göttingen vom 03.11.1967, in: StAG, C 28 Nr. 1221. 35 Vgl. o. V. (Kürzel: glr), Im Kreuzfeuer der Meinungen, in: Göttinger Presse, 10.11.1967. Der Abriss des Reitstalls
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36 Ebd. 37 Bildunterschrift eines in der Göttinger Presse vom 10.11.1967 abgedruckten Fotos. 38 Vgl. o. V., Im Kreuzfeuer; o. V., Erst planen, dann abreißen, in: Göttinger Tageblatt, 10.11.1967. Vgl. auch den handschriftlichen Vermerk vom 09.11.1967 auf einem Schreiben des Oberstadtdirektors an die Mitglieder des Rates der Stadt Göttingen vom 07.11.1967, in: StAG, C 14 Nr. 850. 39 Schreiben der Bauverwaltung an Stadtdirektor Dr. Claaßen vom 12.12. 1967, in: StAG, C 28 Nr. 1221. Vgl. auch den Auszug aus der Niederschrift über die 66. Sitzung des Bau-, Planungs- und Finanzausschusses am 05.12.1967, in: StAG, C 28 Nr. 1221. 40 Auszug aus der Niederschrift über die Sitzung des Kulturausschusses am 15.12.1967, in: StAG, C 28 Nr. 1221. 41 Auszug aus der Niederschrift über die 39. Sitzung des Rates der Stadt Göttingen vom 02.02.1968, in: StAG, C 14 Nr. 850. 42 Vermerk Biederbecks vom 16.02.1968, in: StAG, C 28 Nr. 1221. 43 Schreiben Killys an den Regierungspräsidenten in Hildesheim, Dr. Günther Rabus, vom 29.02.1968, in: StAG, C 14 Nr. 850. 44 Schreiben Killys an den Rat und die Verwaltung der Stadt Göttingen vom 16.02.1968, in: StAG, C 14 Nr. 850. 45 Vgl. Vermerk Biederbecks vom 16.02.1968. 46 Vgl. das Schreiben Killys an den Rat und die Verwaltung der Stadt Göttingen vom 16.02.1968. 47 Schreiben Killys an Rabus vom 29.02.1968. 48 Prof. Dr. Joachim-Ernst Meyer (als Nachfolger von Killy im Amt des Rektors der Universität Göttingen), Prof. Dr. Heinz Rudolf Rosemann und Prof. Dr. Walther Zimmerli. 49 Vgl. Girod, S. 236, Anm. 869, u. S. 250; Gottschalk, S. 124. 50 Zu dem Gespräch vgl. den Vermerk über die Besprechung in der Stadthalle der Stadt Göttingen am 27.05.1968 betreffend: Antrag der Stadt Göttingen vom 19.03.1968 auf Genehmigung des Abrisses der Reithalle. Zu dem Besuch des Regierungspräsidenten in Göttingen vgl. außerdem o. V. (Kürzel: ggo), Gnadenfrist für den Reitstall?, in: Göttinger Presse, 28.05.1968. 51 Zit. nach o. V. (Kürzel: glr), Gnadenfrist hieße Geld vergeuden, in: Göttinger Presse, 29.05.1968. 52 Vgl. den Vermerk über die Besprechung in der Stadthalle der Stadt Göttingen am 27.05.1968 betreffend: Antrag der Stadt Göttingen vom 19.03.1968 auf Genehmigung des Abrisses der Reithalle, S. 10. 53 Ebd., S. 9. 54 Vgl. ebd., S. 8 f. 55 Vgl. den Vermerk der Bauverwaltung Göttingen vom 11.03.1968, S. 3. Vgl. auch o. V. (Kürzel: H), Ratssitzungen in Münchhausens Reitstall, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.11.1966. Das Reitstall-Gelände, so waren die Stadtoberen überzeugt, biete »den entscheidenden An-
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satzpunkt für einen Strukturwandel der Innenstadt in diesem Bereich« (Schreiben der Stadt Göttingen an den Regierungspräsidenten in Hildesheim vom 19.03.1968, S. 2) – das Viertel sollte moderner, eben großstädtischer werden, u. a. mit einem neuen Schwimmbad, dessen Grundstein am 9. Juli 1968 gelegt wurde, nachdem zuvor an gleicher Stelle das Jugendstil-Stadtbad der Abrissbirne zum Opfer gefallen war. Vgl. dazu Michael Brakemeier, Bäderkultur: »Göttingen als Pensionopolis«, in: Göttinger Tageblatt Online, 18.05.2012, online einsehbar unter http://www. goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Goettingen/Themen/GoettingerZeitreise/Baederkultur-Goettingen-als-Pensionopolis [eingesehen am 24.06.2015]; Gottschalk, S. 119, und sehr kritisch: Dieter Gerke u. a. (Hg.), Göttingen. …wenn das so weitergeht…, Göttingen o. J., passim. Vgl. den Vermerk über die Besprechung in der Stadthalle der Stadt Göttingen am 27.05.1968 betreffend: Antrag der Stadt Göttingen vom 19.03.1968 auf Genehmigung des Abrisses der Reithalle, S. 8–10. Ebd., S. 10. Schreiben der Stadt Göttingen an den Regierungspräsidenten in Hildesheim vom 19.03.1968, in: StAG, C 28 Nr. 1221. Auszug aus der Niederschrift über die 45. Sitzung des Rates der Stadt Göttingen vom 07.06.1968, in: StAG, C 28 Nr. 1221. Diese Entscheidung wurde mit 32 gegen fünf Stimmen getroffen. Vgl. ebd. O. V., Schicksal der Reithalle endgültig besiegelt, in: Göttinger Tageblatt, 14.06.1968. Ebd. Ebd. Vermerk über die Besprechung in der Stadthalle der Stadt Göttingen am 27.05.1968 betreffend: Antrag der Stadt Göttingen vom 19.03.1968 auf Genehmigung des Abrisses der Reithalle, S. 4. O. V., Gnadenfrist für die Reithalle, in: Göttinger Tageblatt, 28.05.1968. Der Abriss des Südflügels, der als Pferdestall gedient hatte, war bereits im Dezember 1967 erfolgt. Vgl. o. V., Alter Pferdestall wird abgerissen, in: Göttinger Tageblatt, 24.11.1967. Vgl. darüber hinaus das Foto von den Abbrucharbeiten und die entsprechende Bildunterschrift im Göttinger Tageblatt vom 08.12.1967. Die Vorstellungen von diesem »Studentenzentrum« waren bereits relativ konkret: Es sollte ausgestattet werden mit »einem großen Innenhof (Fußgängerzentrum, Rasenflächen, Bänke)«, »mit Aufenthaltsräumen für die Studenten«, »mit einem Studentencafé«, »mit einem Tanz- und Festsaal«, »mit Tagungsräumen für die studentischen Hochschulgruppen« und »mit einem NEUEN ASTA-ZENTRUM (denn das alte wird abgerissen werden!!)« (Flugblatt »Reithalle – Studentenzentrum!«, in: StAG, C 14 Nr. 850, Hervorhebung im Original). Schreiben des AStA an den Rat der Stadt Göttingen vom 25.06.1968, in: StAG, C 14 Nr. 850 (Hervorhebung im Original). Flugblatt »Rettet die Reithalle!! Wir brauchen ein Zentrum!! Göttinger Bürger und Studenten!!«, in: StAG, C 14 Nr. 850. Der Abriss des Reitstalls
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69 Vgl. o. V., Protest gegen »Kulturnihilismus«, in: Göttinger Tageblatt, 25.06.1968. 70 Vgl. das Flugblatt »Reithalle – Studentenzentrum!«. 71 O. V. (Kürzel: glr), Magerer Protest vor der Reithalle, in: Göttinger Presse, 27.06.1968. 72 Zit. nach Nissen. 73 Zit. nach o. V. (Kürzel: glr), »Der Rest taugt sowieso nichts!« Was die Bürger über den Reitstall-Abbruch denken, in: Göttinger Presse, 04.01.1968. 74 Vermerk über die Besprechung in der Stadthalle der Stadt Göttingen am 27.05.1968 betreffend: Antrag der Stadt Göttingen vom 19.03.1968 auf Genehmigung des Abrisses der Reithalle, S. 3. 75 Flugblatt »Reithalle – Studentenzentrum!«. 76 Schreiben des Hochbauamtes an das Kämmereiamt vom 13.10.1967, in: StAG, C 28 Nr. 1221. 77 Ebd. 78 Vgl. dazu auch o. V., »Der Rest taugt sowieso nichts!«. 79 Vgl. o. V. (Kürzel: jaz), »Bis zum letzten Atemzug gegen die Kulturschande«, in: Göttinger Tageblatt, 27.06.1968. 80 Vgl. Hans-Joachim Dahms/Klaus P. Sommer, 1968 in Göttingen. Wie es kam und was es war. In unbekannten Pressefotos, Göttingen 2008, S. 115. Vgl. auch o. V., »Bis zum letzten Atemzug«. 81 Vgl. Dahms/Sommer, S. 112 u. S. 114 f. 82 Vgl. o. V., Über 2000 Unterschriften, in: Göttinger Tageblatt, 27.06.1968; o. V., Magerer Protest. 83 Vgl. Mechthild Schumpp/Manfred Throll, Raubbau. Der Abbruch des Reitstallgebäudes in Göttingen im Juni 1968, in: Bauwelt, Jg. 59 (1968), H. 33, S. 1016 f.; o. V. (Kürzel: glr), Der Abbruch hat begonnen, in: Göttinger Presse, 28.06.1968. 84 Vgl. die Bildunterschrift eines in der Göttinger Presse vom 28.06.1968 abgedruckten Fotos. 85 Ebd. 86 Schreiben vom 25.06.1968, unterzeichnet von Prof. Dr. Erich Kulke, in: StAG, C 14 Nr. 850. 87 Vgl. einen Vermerk mit dem Betreff »Reitstall« vom 26.06.1968, in: StAG, C 14 Nr. 850. 88 Gemeint ist das Schreiben Killys an den Rat und die Verwaltung der Stadt Göttingen vom 16.02.1968. 89 O. V., Der Abbruch hat begonnen. 90 O. V. (Kürzel: glr), Kein Aufschub, in: Göttinger Presse, 28.06.1968. 91 Die dreiseitige »Eingabe an den Rat der Stadt Göttingen z. Hd. Herrn Oberbürgermeister Leßner (Mit der Bitte um Vorlage zur nichtöffent lichen Ratssitzung am 2. Juli 1968)« ist enthalten in: StAG, C 28 Nr. 1221. 92 Vgl. o. V., Der Rat bleibt dabei, in: Göttinger Tageblatt, 03.07.1968. 93 Vgl. o. V., Jede Mark wäre unwirtschaftlich, in: Göttinger Tageblatt, 29./30.06.1968.
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94 Vgl. den Auszug aus der Niederschrift über die 46. Sitzung des Rates der Stadt Göttingen vom 02.07.1968, in: StAG, C 14 Nr. 850. 95 Man dachte an Gelder von deutschen wie ausländischen Stiftungen, wobei Klotz bereits mündliche Zusagen der Ford und der Kress Foundation vorlagen. Vgl. o. V., Der Abbruch hat begonnen. 96 Eingabe an den Rat der Stadt Göttingen, S. 3. 97 Flugblatt »Reithalle – Studentenzentrum!«. 98 Die Rote Mappe 1968 des Niedersächsischen Heimatbundes. Rückblick und Ausblick, vorgetragen durch den Vorsitzenden, Dr. Herbert Röhrig, Hannover, auf dem 49. Niedersachsentag in Ostfriesland in der Festversammlung am Montag, 21. Oktober 1968, S. 14, online einsehbar unter http://www.niedersaechsischer-heimatbund.de/dokumente/dateien/ ROTE%20MAPPE%20PDF%20komplett/RM_1968.pdf [eingesehen am 05.06.2015]. 99 Vgl. das Schreiben des Oberstadtdirektors an den Oberbürgermeister vom 13.03.1968, in: StAG, C 28 Nr. 1221. 100 Ebd. 101 Schreiben des Oberstadtdirektors an das Dezernat VII vom 13.03.1968, in: StAG, C 28 Nr. 1221. 102 Möglicherweise trug dazu Killys Schreiben an den Rat und die Verwaltung der Stadt Göttingen vom 22.12.1967 bei, über das die Ratsmitglieder »empört« gewesen seien, wie es Oberstadtdirektor Biederbeck ausdrückte (Vermerk über die Besprechung in der Stadthalle der Stadt Göttingen am 27.05.1968 betreffend: Antrag der Stadt Göttingen vom 19.03.1968 auf Genehmigung des Abrisses der Reithalle, S. 2). Es war »als zu scharf empfunden worden«, so der Nachfolger von Killy im Amt des Rektors der Universität Göttingen, der Psychiater Prof. Dr. JoachimErnst Meyer (ebd.). Das Schreiben Killys, das weder eine Anrede noch eine Grußformel enthält (es sollte wohl den Charakter eines offenen Briefes haben), hat folgenden Wortlaut: »Der Senat der Georg-AugustUniversität hat mit Befremden und Bestürzung von Gerüchten Kenntnis genommen, nach denen ein Abriß der Reithalle bevorsteht. Einem derart bilderstürmerischen Unternehmen, das jedem Sinn für Tradition Hohn spricht, und die Hauptstrasse der Stadt Göttingen um ein ehrwürdiges Gebäude – das älteste der Universität – ärmer machen würde, kann nicht entschieden genug entgegengetreten werden. Es gilt, Bürger mit einem Sinn für den Wert des Vergangenen auf den zerstörerischen Plan aufmerksam zu machen; es wäre zu wünschen, daß alle die, welche öffentlich gegen neue Pläne auftreten, mit der gleichen Aufmerksamkeit sich der Erhaltung des Alten widmen wollten.« 103 O. V., Über 2000 Unterschriften. 104 Vgl. ebd. 105 Vermerk über die Besprechung in der Stadthalle der Stadt Göttingen am 27.05.1968 betreffend: Antrag der Stadt Göttingen vom 19.03.1968 auf Genehmigung des Abrisses der Reithalle, S. 5. 106 Ebd., S. 6. Der Abriss des Reitstalls
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107 Ebd. 108 Schreiben des Regierungspräsidenten in Hildesheim an die Stadt Göttingen vom 21.05.1968, in: StAG, C 14 Nr. 850. 109 Hans-Joachim Dahms, 1968. Wie es kam und was es war, in: ders./Sommer, S. 10–23, hier S. 16. 110 Ebd., S. 17. 111 O. V., Reitstall soll nicht weiter vor sich »hinruinieren«, in: Göttinger Presse, 10.06.1968. 112 O. V., Erst planen, dann abreißen. 113 Vermerk über die Besprechung in der Stadthalle der Stadt Göttingen am 27.05.1968 betreffend: Antrag der Stadt Göttingen vom 19.03.1968 auf Genehmigung des Abrisses der Reithalle, S. 10. 114 Der Landeskonservator, Dr. Hans Roggenkamp, beklagte sich später sogar in einem »vertrauensvollen« Schreiben an den Oberbürgermeister darüber, dass seine Stellungnahmen nicht ernst genommen worden seien. »In Göttingen sehe ich mich erstmals in dieser Form betroffen.« (Schreiben Roggenkamps an Leßner vom 17.07.1968, in: StAG, C 14 Nr. 850) 115 Flugblatt »Rettet die Reithalle!! Wir brauchen ein Zentrum!! Göttinger Bürger und Studenten!!« 116 Schreiben des AStA an den Rat der Stadt Göttingen vom 25.06.1968. 117 Peter Pallat, Wohin gehört das neue Rathaus?, in: Göttinger Tageblatt, 02.07.1968. Pallat war Mitglied der Bürgerschaftlichen Vereinigung und hatte Ende Juni auch an den Protesten vor dem Reitstall teilgenommen. Man werde »bis zum letzten Atemzug« kämpfen, um die »Kulturschande« abzuwenden, hatte er damals gesagt. Zit. nach o. V., »Bis zum letzten Atemzug«. 118 Zusammenfassung einer Besprechung zwischen Universität und Stadtverwaltung am 26.02.1960, wiedergegeben in dem Schreiben des Stadtdirektors Dr. Claaßen – in Vertretung des Oberstadtdirektors der Stadt Göttingen – an den Regierungspräsidenten in Hildesheim vom 11.06.1968, S. 3. 119 Vgl. Stadtarchiv Göttingen, Chronik für das Jahr 1973 – 4. Mai 1973, online einsehbar unter http://www.stadtarchiv.goettingen.de/chronik/ 1973_05.htm [eingesehen am 06.06.2015]; Estama Gesellschaft für Real Estate Management mbH, Das Carré, online einsehbar unter http:// www.carre-goettingen.de/index.php?id=35 [eingesehen am 06.06.2015]. 120 Vgl. Christoph Rassek, Wo soll das neue Rathaus stehen?, in: Göttinger Tageblatt, 05.07.1968. Hierbei handelt es sich um einen Leserbrief. 121 Vgl. Gottschalk, S. 124. 122 Monika Zimmermann, Zerschlagene Scheiben und ausgeträumte Träume, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.12.1986. 123 Vermerk über die Besprechung in der Stadthalle der Stadt Göttingen am 27.05.1968 betreffend: Antrag der Stadt Göttingen vom 19.03.1968 auf Genehmigung des Abrisses der Reithalle, S. 4. 124 Bereits Ende 1967 hatte sich Zimmerli in einem offenen Brief gegen den
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Reitstallabbruch gewandt. Darin heißt es u. a.: »Die Zeiten, die nach uns kommen, werden kopfschüttelnd vor der Barbarei stehen, die dieses Stück Geschichte unserer Universitätsstadt aus Tagesrücksichten der Spitzhacke hat zur Beute werden lassen.« Der Brief, der die Überschrift »Soll die Reithalle wirklich fallen?« trägt, ist enthalten in: StAG, C 14 Nr. 850. Auszug aus der Niederschrift über die 83. Sitzung des Verwaltungsausschusses der Stadt Göttingen vom 04.06.1968, in: StAG, C 28 Nr. 1221. Eingabe an den Rat der Stadt Göttingen, S. 2. Walter Goerlach, Verantwortung vor Vergangenheit und Zukunft, in: Göttinger Tageblatt, 30.01.1968. So Stadtbaurat Wiltenstein. Zit. nach Monika Zimmermann, Instandbesetzung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.01.1981. Dahms, S. 17. Erwin Ratzke, »1968« – Studentenbewegung in Göttingen, in: Duwe/ Gottschalk/Koerner (Hg.), S. 212–249, hier S. 217. Dahms, S. 17. O. V., Reitstall droht einzufallen, in: Göttinger Tageblatt, 06./07.02.1965. Vgl. ebd. Auszug aus der Niederschrift über die 24. Sitzung des Verwaltungs ausschusses der Stadt Göttingen vom 02.03.1970, in: StAG, C 14 Nr. 850. Vgl. Stadt Göttingen – Fachdienst Kultur –, Reitstalltor, online einsehbar unter http://www.denkmale.goettingen.de/denkmale/reitstalltor. html [eingesehen am 05.06.2015].
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Klassenkampf am Felix-Klein-Gymnasium (1969/70) von Matthias Micus
Der Sachverhalt ist klar. An Heiligabend 1969 traf sich eine Gruppe ehemaliger Gymnasiasten im Göttinger »Audimin« in der Straße Papendiek. Betrieben wurde die Kneipe von Claus Theo Gärtner, der sich nach seinem Schauspielstudium in den ausgehenden 1960er Jahren u. a. als Gastwirt verdingte, im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) aktiv war und später als Darsteller des Privatermittlers Josef Matula in der Fernsehserie »Ein Fall für zwei« bekannt wurde. Für vier von ihnen endete der Abend aber nicht in der Bar. Das Quartett bildete zwar durchaus keine homogene Gruppe, gemeinsam war ihnen nicht einmal der frühere Besuch des Felix-Klein-Gymnasiums (FKG). Aber sie alle waren Aktivisten in der linken Schülerbewegung gewesen. Und sie hatten an besagtem Abend lange und viel diskutiert, außerdem getrunken, dies freilich nach eigenen Aussagen wenig. Schon weit nach Mitternacht kam ihnen dann die Idee, zu den Häusern einiger Lehrer zu ziehen, um »guten Freunden« einmal »gebührend Fröhliche Weihnachten« zu wünschen. So jedenfalls äußerten sie sich im Nachhinein; und ebenso, dass ihre Tat »der Anfang einer neuen Aktion gegen die alten Nazis an den Schulen« sein sollte.1 Dr. Gerhart Schinke, einer der so Besuchten, reagierte auf das Türenklingeln und die Schneeballwürfe, indem er ein Gewehr zückte, das Schlafzimmerfenster öffnete und mit einem Schrotschuss einen der »Besucher« schwer am Arm verletzte. Das Gewehr hatte Schinke sich, nachdem seine Ruhe in den Monaten zuvor mehrfach gestört worden war und u. a. durch Steinwürfe und Schmierereien Sachschäden an seinem Haus entstanden waren, im Vorfeld besorgt. Nach seiner Aussage löste sich der Schuss aus Zufall. Schlaftrunken habe er, nachdem zuvor seine Familie spät aus der Weihnachtsmesse heimgekommen und er erst gegen Mitternacht zu Bett gegangen wäre, wo er aber nicht recht in den Schlaf 204
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gefunden hätte, den Grund der Ruhestörung zu erfahren versucht, als ihn – nach seiner Aussage – ein Schneeball am Kopf traf, woraufhin er – wiederum nach eigener Aussage – reflexhaft und ungezielt abdrückte.2 So klar, so uneindeutig: Denn schon bei der Frage, was an diesem Ereignis das Skandalöse war, gingen die Meinungen auseinander. War das Empörende der Schuss des Lehrers? War das anstößige Verhalten dasjenige der Jugendlichen, die nur die gerechte Strafe erhalten hatten? Oder war es Schinkes Vergangenheit, die nun ausgebreitet und von dem Aktionszentrum Sozialistischer Schüler (ASS) zur Begründung der nächtlichen Tat vorgetragen wurde?
Unterschiedliche Wahrnehmungen Für die Schüler des FKG war in ihrer Mehrheit der Fall klar. Ab dem Januar 1970 demonstrierten sie gegen Schinke, eine Zitatensammlung mit entlarvenden Äußerungen des Deutsch- und Lateinlehrers wurde erstellt, im Mai kulminierten die Aktionen in einem fünftägigen Streik. Zwar gab es auch Klagen von Schülern, die Übergriffe von linken Schulkameraden beklagten, die Streik unwilligen etwa Busfahrkarten für den Weg nach Hause abgenommen hätten. Aber die große Mehrheit jedenfalls der Oberstufenschüler votierte bei Abstimmungen auf Vollversammlungen für den Konfliktkurs der organisierten Schüler. Ob freilich immer Überzeugung hinter der Unterstützung gestanden hat, ist schon fragwürdiger. Die meisten Schüler, gerade die jüngeren, dürften einfach nur begeistert über den fünftägigen Schulstreik gewesen sein. Wir marschierten, heißt es bei dem damaligen FKG -Schüler Frank Möbus, »mehr oder minder ahnungslos mit auf den Demonstrationen, die vor allem einen großen Spaß bedeuteten«.3 Und selbst das politische Motiv der nächtlichen »Besucher« Schinkes wird im Nachhinein von einem der Beteiligten bestritten. Demzufolge war das Ganze ein ganz gewöhnlicher Schülerstreich gewesen, dessen einzige Besonderheit in der vollkommen unvorhersehbaren Eskalation durch den Schuss bestand. Dafür spricht, dass das erste »Opfer« in der Weihnachtsnacht der von Klassenkampf am Felix-Klein-Gymnasium
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den Schülern grundsätzlich gemochte linksliberale Reformlehrer Ulrich Popplow war, der zwar in der polarisierten Atmosphäre der APO -Zeit als lauer Spießer seinen Kredit bei den Schüleraktivisten verspielte, jedenfalls aber nicht als alter Nazi gelten konnte.4 Die Eltern standen in dem Konflikt zwischen Schülern und Lehrern nach allem, was sich aus den Erinnerungen von Zeitzeugen und Berichten über ihr seinerzeitiges Verhalten rekonstruieren lässt, grundsätzlich und mehrheitlich auf der Seite der Lehrer. Die einen waren zwar gleichzeitig ihre Söhne und Töchter, die anderen aber repräsentierten die Institution Schule – und den Eltern ging es vor allem um die Aufrechterhaltung des Schulbetriebs. Ihre Kinder sollten weiter ungestört lernen können, die Schule ihre Funktion als Lernort unvermindert erfüllen, wozu geordnete Verhältnisse, Ruhe und schulischer Frieden erforderlich waren. Genau diese Priorität aber ließ die Eltern im Schulkonflikt trotz genereller Sympathien zu wenig verlässlichen Bündnispartnern der Schulleitung – und Schinkes – werden. Zwar signalisierten sie im Januar 1970 dem Direktor des FKG zunächst ihre Unterstützung und zeigten sich weitgehend unbeeindruckt von den Vorwürfen, welche ein Teil der Schüler gegen den Lehrer zu erheben begann. Die erwähnte Zitatensammlung vermeintlicher verbaler Entgleisungen Schinkes vor seinen Deutsch- und Lateinklassen, die rasch erstellt wurde und alsbald innerhalb wie außerhalb der FKG -Mauern zirkulierte, vermochte daran anfangs nichts zu ändern, ebenso wenig die Androhung von Schülerstreiks.5 Zumal Schinke ja auf Anraten von Kollegen seinen Dienst in den ersten Monaten des Jahres 1970 ruhen ließ und die Annahme nahelag, dass die Protestenergien sich alsbald erschöpfen würden, wenn nur erst ein bisschen Zeit verstrichen und das Ereignis der vorangegangenen Weihnachtszeit von einem unabhängigen Gericht geklärt und dem Buchstaben der Gesetze gemäß be- und abgeurteilt worden wäre. Als freilich der Irrtum dieser Erwartung offensichtlich wurde, als Schinke im Mai an das FKG zurückkehrte, die Schüler tagelang streikten, vor dem Gänseliesel Kundgebungen abhielten, die Schule blockierten und die Schulleitung ihnen mit Strafen bis hin zum Verweis drohte, als mithin die Eltern den Lernerfolg sowie auch das Abitur ihrer Sprösslinge gefährdet sahen, schlug ihre Stimmung merklich um. Und als Schinke dann noch den Fehler 206
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beging, Schülern eine Unbedenklichkeitserklärung zu diktieren, mit der er einen Keil in die Schülerschaft zu treiben versuchte, begrüßten auch die Eltern Schinkes Versetzung.6 Eine ähnliche Veränderung, freilich in die entgegengesetzte Richtung, vollzog sich in der Lehrerschaft des FKG . Anfangs war das Lehrerkollegium durchaus nicht einig in der Causa Schinke. Durch die Drastik der Schülervorwürfe und das Ausmaß der Proteste aber scharte sich eine Mehrheit im Verlauf der Auseinandersetzungen eng um den angegriffenen Kollegen. Das ging so weit, dass ein unverdrossener Skeptiker dem Spiegel klagte, dass jeder, der eine Festlegung pro Schinke scheue, »von den um ihre Autorität bangenden Kollegen als pflichtvergessener Weichmann angegriffen«7 werde. Noch früher zugunsten Schinkes schlug die Göttinger Öffentlichkeit aus, wie sie sich im Lokalmedium, dem Göttinger Tage blatt, zeigte. Das Gros der Leserbriefe schürte die Furcht vor linken Lümmeln, die das Klima vergiften würden und nichts anderes als eine Zerstörung der Ordnung im Sinn hätten – nach den Universitäten nun an den Schulen. Manch ein Leserkommentar scheute auch nicht vor der Gleichsetzung der kritischen Schüler mit Terroristen zurück. In jedem Fall müsse man Verständnis mit Schinke haben, der das eigentliche Opfer und nach etlichen Übergriffen zu Recht besorgt und nervös gewesen sei, sodass sich der Schrotschuss geradezu von selbst erkläre.
Wieso das FKG? Wieso Schinke? Gerhart Schinke wurde 1910 im oberschlesischen Dittersdorf bei Neustadt geboren. Damit gehört er altersmäßig zur »Generation des Unbedingten«, die der Historiker Michael Wildt auf die Geburtsjahrgänge zwischen 1900 und 1910 bezogen und am Beispiel der Führungsgruppe des Reichssicherheitshauptamtes als in besonderem Maße empfänglich für die nationalsozialistische Weltanschauung beschrieben hat.8 Als Heranwachsende zu jung für den Kampf an den Fronten des Ersten Weltkrieges, aber just im richtigen Alter, die kriegsbedingten »Entgrenzungen« zu verinnerlichen – die Menschlichkeitsgrenzen zersetzende Brutalisierung der Alltagskultur und die zeitweise Lockerung der erziehungs Klassenkampf am Felix-Klein-Gymnasium
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bedingten Grenzen –, verklärten sie später den Krieg und den deutschen Soldaten, »im Felde unbesiegt«, glaubten bereitwillig die Dolchstoßlegende und verachteten den »Schmachfrieden« von Versailles ebenso wie die zeitgleich entstandene Weimarer Republik. Einen besonderen Nährboden fanden die Anschauungen der »Generation des Unbedingten« an den Universitäten, an welchen sich die 00er-Geburtskohorten seit den 1920er Jahren konzentrierten und die deshalb bereits lange vor der Machtergreifung Hochburgen der nationalsozialistischen Ideologie waren. Hier, an den Universitäten in Jena, Rostock und Breslau, hielt sich in der Spätphase der Weimarer Republik auch Gerhart Schinke auf. Nach einem Studium der Philosophie, Germanistik und Klassischen Philologie promovierte er 1937 mit einer Arbeit über »Nietzsches Willensbegriff«. Bereits als junger Student und ebenfalls lange schon vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler 1933 war Schinke 1931 der SA beigetreten, am 1. Juli 1933 dann der SS und 1937 schließlich der NSDAP. Später fungierte er als Dozent in der SS -Junkerschule Braunschweig, er war Abteilungsleiter des Schulungsamtes im SS -Hauptamt und brachte es bis zum Hauptsturmführer der Waffen-SS , nach heutigen Maßstäben ein mittlerer Offiziersrang in der Armee. Dem Hauptamt der SS unterstanden dabei bis 1940 u. a. die SS -Wachverbände, deren Hauptaufgabe die Überwachung der Konzentrationslager war. An Schinkes damaligen Überzeugungen kann von daher kein Zweifel bestehen. Er hatte die nationalsozialistische Ideologie verinnerlicht und beteiligte sich auch aktiv an der Verfolgung Andersdenkender. Während seines Studiums in Rostock brachte er als Gauschulungswart des NS -Studentenbundes etwa den Rostocker Studentenpfarrer Monsignore Leffers ins Gefängnis, den er zuvor in eine Diskussion über Alfred Rosenbergs »Der Mythus des 20. Jahrhunderts« verstrickt hatte, dies ganz planvoll, um ihm Kritik zu entlocken und ihn zu denunzieren.9 Für einen politischen Hintergrund der Weihnachtsaktion auf Schinkes Grundstück spricht auch, dass er bereits seit 1967 in kleineren Kreisen kritisch beleuchtet wurde. Ja, schon seit 1957 soll der damalige Kultusminister Langeheine, Amtsinhaber auch noch in den ersten Monaten 1970, von Vorwürfen gegen den Lehrer gewusst haben – folgenlos. 208
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Nur war dergleichen Politisches offenbar nicht verantwortlich für den »Weihnachtsspaziergang« 1969. Laut Aussage von Reinhard Kahl, in der Weihnachtsnacht 1969 einer der vier Jugendlichen, die Schinke zu Hause aufsuchten, galt ihnen der Deutschund Lateinlehrer auch gar nicht als »rechter Ideologe«.10 Da hätte es seinerzeit am FKG Lehrer gegeben, die spürbarer vergangenheitsbelastet waren, ihre bräunliche Gesinnung deutlicher zur Schau trugen und sich offensichtlicher unbelehrbar zeigten. Wenn sich damals gerade an Schinke die Schulkampagne des Aktionszentrums Sozialistischer Schüler gegen autoritäre Lehrmethoden, lebensfremde Unterrichtsstoffe und den fortgesetzt spukenden Naziungeist an deutschen Gymnasien entzündete, so sei das insofern keineswegs zwangsläufiger Folgerichtigkeit, sondern im Wesentlichen dem Zufall des Schrotschusses geschuldet gewesen. Oder der Tatsache, dass Schinke, schon rein körperlich nach Kahls Aussagen »ein dicklicher, redseliger Weinmönch eher denn ein Offizier«, als Lehrmeister ein »lächerliches Bild« abgab und zur »Schießbudenfigur« der Schülerschaft insofern prädestiniert war. Auch weitere Zeitzeugen betonen manche Schinke’sche Kuriosität, etwa seine Gewohnheit, in späte Unterrichtsstunden seine Tochter mitzunehmen, die dort ihre Hausaufgaben machte, vor allem aber auf ihren Vater zwecks gemeinsamer Heimfahrt wartete. Die Verbindung der Person Schinke und seines Schrotschusses mit der Anprangerung einer fortwährenden schulischen Stoffvermittlung in stabil nazistischer Gesinnung, so wieder Reinhard Kahl, sei letztlich eine Konstruktion gewesen, die sich zu damaliger Zeit »gereimt« habe. Kahls Fazit: »mehr Reim als Sein«. Doch wenn es schon Zweifel an der sachlichen Begründung dafür gibt, warum ausgerechnet Gerhart Schinke zum Gegner und die Verhinderung der Wiederaufnahme seines Unterrichts zum Ziel erkoren wurden, so gilt dies erst recht für den Zusammenhang zwischen dem Zeitpunkt des Schulkonfliktes und dem Protestgrund der Naziverstrickung der Lehrerschaft insgesamt. Einer der selbstbewusstesten und beharrlichsten Altnazis, die in den 1960er Jahren am FKG unterrichteten, war Prof. Heinrich Wolfrum. Zum Jahrestreffen des intellektuellen NachkriegsRechtsextremismus in Lippoldsberg hatte er 1963 den Festvortrag beigesteuert und sich überhaupt zeitlebens dem alten Glauben unverbrüchlich treu gezeigt.11 1969 aber war er längst pensioniert. Klassenkampf am Felix-Klein-Gymnasium
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Bezeichnend ist weiter, dass die Schinke zum Vorwurf gemachten Äußerungen in der Regel lange, zehn bis 15 Jahre, zurücklagen. Sodass also die rein sachlichen Empörungsgründe über den Unterrichtsstoff Gerhart Schinkes im Winter und Frühjahr 1970 schon weitgehend verblasst gewesen sein dürften, zumal die Gymnasialzeit bloß neun Jahre betrug, weshalb damalige Schüler sie wohl nur noch vom Hörensagen kannten, oder sie 1970, im Rahmen des Konfliktes, zum ersten Mal gehört hatten: von anderen Schülern, nicht von Schinke selbst. Es dürften daher – die Vermutung liegt nahe und wird von Zeitzeugen auch dann bestätigt, wenn sie Schinke nicht als unschuldiges Opfer sehen – auch andere als die vordergründigen Motive eine Rolle gespielt haben. Jedenfalls, nach den Schüssen und angesichts der Aufmerksamkeit, welche die Göttinger Stadtgesellschaft auf den Vorfall richtete, bestand jenseits aller sachlichen Berechtigung zur Kritik eben auch eine außerordentlich günstige Gelegenheit für die politisch engagierten Schüler, ihren Anliegen wirkungsvoll Gehör zu verschaffen, weit über den engen eigenen Kreis hinaus Unterstützung zu sammeln und ansonsten inaktive Schülerkreise für Aktionen zu mobilisieren. Allein sachliche Gründe vermögen auch nicht zu erklären, weshalb gerade das FKG seinerzeit im Fokus der Aktivitäten kritisch linker Schüler stand. Klar, Schinke war Lehrer am FKG , insofern ist verständlich, dass die Schule im ersten Halbjahr 1970 im Fokus der Aktionen stand. Aber auch einige Jahre später – der ASS ist mittlerweile vielfach gespalten und die Mehrheitsfraktion hat sich in Sozialistischer Schülerbund Göttingen (SSG) umbenannt, inhaltlich geht es vor allem um die freie politische Betätigung statt gegen rechte Pauker – gehen die Aktionen wiederum vom FKG aus, von diesem Epizentrum weitere Kreise ziehend um das Hainberg-Gymnasium und das Neue Gymnasium (heute Theodor-Heuss-Gymnasium).12 Vermutlich lag dieser zunächst erstaunliche Sachverhalt im Engagement Einzelner begründet, auffällig viele auch bundesweit aktive organisierte linke Schülervertreter kamen damals vom FKG . Und vielleicht lag es auch – zunächst paradox – an der relativen Modernität dieses Gymnasiums. Es galt jedenfalls als »eines der fortschrittlichsten«13 in Niedersachsen. In der Oberstufe konnten die Schüler die Auswahl des Unterrichtsstoffes mitbestimmen. 210
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Der Fall Schinke erschütterte das FKG 1970 »als heftiges Erdbeben« (Frank Möbus).
Und auch Schinke musste sich gleich zu einem frühen Zeitpunkt des Konfliktes um seine Person, quasi als erstes, vor einem Schülerrat rechtfertigen. Gut möglich, dass sich auch hier wieder die frei zitierte soziologische Regel bestätigt, wonach der Wind der Veränderung gesät sein muss, damit der Sturm radikaler Veränderungsforderungen geerntet werden kann.
Folgen des Skandals Für Frank Möbus sind die Proteste »geradezu ein mustergültiges Beispiel der 1968er Auflehnung gegen den politischen Ungeist, der an vielen Schulen […] damals noch herrschte«. In diesem Konflikt hätten die Schüler – also, wenn man so will, der politische Geist – »triumphal« gesiegt. Und in der Tat: Schinke kehrte nur für wenige Tage ans FKG zurück, er verschwand bald wieder, diesmal für immer, da er an ein Gymnasium in Holzminden versetzt worden war. Der neue Kultusminister Peter von Oertzen, ein SPD -Linker, der im Landtagswahlkampf 1970 mit für einen Spitzenpolitiker ungeKlassenkampf am Felix-Klein-Gymnasium
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wöhnlich markigen Worten seine Sympathien für die Schüler bekundet hatte und dessen Wahlkreis Göttingen war, konnte schon aus Gründen der eigenen politischen Glaubwürdigkeit Schinke nicht an seiner alten Wirkungsstätte weiterlehren lassen.14 Die Wortführer unter den Schülern konnten, wiewohl kurzzeitig von Verweisen bedroht, ihr Abitur machen. Und, so abermals Möbus, »wir, die wir nun in den kommenden Jahren am FKG ausgebildet wurden, wurden hier erzogen im Geist von Toleranz, Demokratie, Humanität«.15 Doch hatte Wandel – auch am FKG – zum Zeitpunkt der Schülerproteste gegen Lehrer Schinke bereits eingesetzt. Ende der 1960er Jahre veränderten junge Lehrer, die in das Kollegium nachrückten, bereits das Erscheinungsbild – Lebenserfahrungen, Denkweisen und Erziehungsvorstellungen – des Lehrkörpers. Die »Generation der Uralten« wurde dadurch ergänzt und sukzessive ersetzt durch »Lehrerinnen und Lehrer, die in der hochgradig politisierten Zeit um das Jahr 1968 ihr Examen gemacht hatten«.16 Und inhaltlich – das teilt die Schülerbewegung mit den 68ern – haben die linken Schüler kaum Wirkungen erzeugt. Vielleicht zum Glück. Hochgradig problematisch jedenfalls muten aus heutiger Sicht etwa die Schulvorbilder der kritischen Schüler an: die Landerziehungsheime, namentlich Wickersdorf mit seinem Leiter Gustav Wyneken.17 Die Landerziehungsheimgründungen, die seit etwa 1900 in Deutschland vollzogen wurden, sollten eine alternative Pädagogik verwirklichen, sie zielten auf nichts weniger als eine »neue« Schule. In ihrer Kritik stand vor allem die sogenannte Buchschule samt unpersönlicher Lehrerautorität, Frontalunterricht und der Vermittlung abstrakter Bildungsinhalte. Dagegen setzten die Landerziehungsheime ihr »Credo einer ganzheitlichen Erziehung: naturgemäß, kindgemäß, entwicklungsgemäß und gemeinschaftsgemäß«18. Neben dem Geist sollte auch der Körper durch Hygiene, Sport und eine bewusste Ernährung gebildet werden. Der Lehrer wurde nicht mehr als sachlicher Vermittlungsbeamter von Wissen gedacht, er sollte stattdessen ein einfühlsamer, verständnisvoller Kamerad der Schüler sein, mit ihnen – wie es Wyneken für Wickersdorf formulierte – im Idealfall gar einen »Liebesbund inmitten unserer kalten und stumpfen Welt« begründen, getragen vom »pädagogischen Eros«19. 212
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Mittlerweile ist bekannt, wie anfällig gerade die Landerziehungsheime und das in ihnen angewandte Schulkonzept für den sexuellen Missbrauch von Schülern durch ihre Lehrer waren; wie leicht charismatische Autorität in Hörigkeit umschlagen konnte; wie sehr die Grenzverwischung zwischen schulischer Gemeinschaft und familiärem Bund Übergriffe von Autoritätspersonen in den privat-intimen Bereich der ihnen Anvertrauten begünstigte. Insgesamt haben die Enthüllungen über Pädosexualität20 in den vergangenen Jahren deutlich gemacht, dass die Wahrung professioneller Distanz zwischen Lehrenden und Lernenden im Klassenverband keineswegs reaktionär oder überholt, sondern unverändert wichtig ist. Zum Glück also, kann man im Rückblick nur sagen, setzten sich die Schüler damit nicht durch. Denn sonst würde man vermutlich heute konstatieren müssen, dass ein Skandal – der Fall Gerhart Schinke – aufgrund der unintendierten Folgen der aus ihm gezogenen Konsequenzen weitere Skandale nach sich zog.
Anmerkungen 1 Alex, »Gebührend Fröhliche Weihnachten wünschen…«, in: Göttinger Tageblatt, 19./20.09.1970. 2 Vgl. hierzu u. a. Gerhard Eckhardt, Der Schuss in der Weihnachtsnacht, in: ders., Göttinger Kriminal- und Gerichtsfälle, Göttingen 2007, S. 164–171. 3 Frank Möbus, Festvortrag 100 Jahre FKG-Alumni, 14.07.2012 [unveröffentlichtes Manuskript]. 4 Vgl. Interview des Verfassers mit Reinhard Kahl am 23.07.2015. 5 Vgl. o. V., Eltern akzeptieren Dr. Schinkes Unterricht, in: Göttinger Tage blatt, 13.03.1970. 6 Vgl. o. V., Schrotschuß zu Weihnachten ein »Betriebsunfall«, in: Göttinger Tageblatt, 03.06.1970. 7 Zit. nach o. V., Gibt es überall, in: Der Spiegel, 29.06.1970. 8 Vgl. hierzu und im Folgenden Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002. 9 Vgl. Friedrich Zipfel, Kirchenkampf in Deutschland 1933–1945, Berlin 1965, S. 11. 10 Hierzu und im Folgenden siehe das Interview des Verfassers mit Reinhard Kahl am 23.07.2015. 11 Vgl. Uwe Nettelbeck, Sie graben und graben in der Muttererde, in: Die Zeit, 19.07.1963. Klassenkampf am Felix-Klein-Gymnasium
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12 Vgl. Jürgen Schröder, Schülerbewegung in Göttingen – Kommunistische Schülerfront (KSF) und Sozialistischer Schülerbund (SSG bzw. SSB). Materialien zur Analyse von Opposition, online einsehbar unter http:// www.mao-projekt.de/BRD/NS/BRS/Goettingen_Schueler_KSF.shtml [eingesehen am 30.07.2015]. 13 Detlef Sprickmann Kerkerinck, Ein Schrotschuß auf die APO, in: Die Zeit, 16.01.1970. 14 Vgl. das Interview des Verfassers mit Klaus Wettig am 27.07.2015. 15 Möbus. 16 Ebd. 17 Vgl. Hans-Jürgen Haug, Demokratisierung der Schule durch politische Schülerorganisationen. Kritik, Praxis und Pläne des AUSS, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 12/1967, S. 4 ff. 18 Peter Dudek, Abschied vom pädagogischen Eros, in: Der Tagesspiegel, 18.03.2010; vgl. hierzu auch Christian Füller, Die Revolution missbraucht ihre Kinder. Sexuelle Gewalt in deutschen Protestbewegungen, München 2015. 19 Zit. nach Dudek. 20 Vgl. hierzu Franz Walter/Stephan Klecha/Alexander Hensel (Hg.), Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte, Göttingen 2015.
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Fluch der klammheimlichen Freude Die Mescalero-Affäre 1977 von Franz Walter
Die Publikation studentischer Flugschriften, Zeitungen, Aufrufe dürfte in bundesrepublikanischen Jahren gewiss in Millionen zu zählen sein. Vermutlich lag während der 1970er Jahre besonders viel gedrucktes Papier auf den Tischen in Mensen und Cafeterien der Universitäten im Land. Außerhalb der Hochschulen nahm man wenig Notiz davon, hat wohl auch oft weder Inhalt noch sprachliche Form oder ideologische Stoßrichtung recht verstehen können. Aber auch die Studierenden selbst, primäre Adressaten der Druckschriften, schauten bei den mittäglichen Pommes frites mit Hähnchenschnitzel und dem nachfolgenden Kaffee bei einem Stückchen Apfelkuchen meist nur flüchtig auf schon bald nach Auslage mit Soßenklecksen oder übergeschwappten Getränkeresten einigermaßen versifft wirkende Pamphlete vornehmlich linker Hochschulgruppen. Kurzum: Das Flugblatt und die Broschüren der Allgemeinen Studentenausschüsse gehörten zum selbstverständlichen Bestandteil und Signum der universitären Alltagskultur in diesem »roten Jahrzehnt«. Die Beachtung indes, auf die sie stießen, war wegen der zumeist variationslos vorgetragenen Kampfparolen eher bescheiden. Allein, im Frühjahr 1977, im Jahr der härtesten linksterroristischen Anschläge, war es einmal anders. Das Blatt des Göttinger AStA, die göttinger nachrichten (gn), ein ebenfalls eher nachlässig getipptes und zusammengeklebtes Periodikum, kam am 25. April dieses Jahres mit einer neuen Ausgabe, die u. a. – dabei keineswegs prominent herausgestellt – einen Artikel enthielt, der den Titel »Buback – Ein Nachruf« trug.1 Ein paar Tage dauerte es, bis das Stück außerhalb des Göttinger Campus wahrgenommen wurde. Dann aber brach sich eine Skandal- oder Skandalisierungsdynamik Bahn, die auch noch nach nun bald vierzig Jahren verblüffend wirkt. »Buback – Ein Nachruf« wurde zum Artikel des Jahres 1977 Die Mescalero-Affäre
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schlechthin, ließ alle Beiträge der renommierten Edelfedern im professionellen Journalismus an öffentlicher Bedeutung weit hinter sich. Eine Wendung in diesem Stück, die vom Autor eingangs bekundete »klammheimliche Freude«, ist seither eine in der Publizistik und Rhetorik tausendfach aufgenommene und gebrauchte Sentenz, die zumindest im akademischen Teil der 1950er Geburtsjahrgänge des westlichen Teils Deutschlands noch heute zumindest diffuse Erinnerungen an die Vorgänge, die der Artikel der göttinger nachrichten auslöste, wachruft. Und diese Vorgänge hatten es in sich: Nahezu die gesamte Republik empörte sich über die Auslassungen des Göttinger Anonymus im Studentenblatt. Die sonst politisch durchaus heterogene Zeitungslandschaft uniformierte sich in hitziger Entrüstung gegen die Zeitung des Göttinger AStA. Razzien der Polizei in linksstudentischen Milieus folgten, Anklagen und Gerichtsverfahren schlossen sich an.
Gewalt im »undogmatischen Frühling« Worum ging es nun genau? Die Geschichte begann mit dem mörderischen Attentat eines Kommandos der »Roten Armee Fraktion« (RAF) auf den Generalbundesanwalt der Bundesrepublik Deutschland, Siegfried Buback. Am Morgen des 7. April 1977 bewegte sich dieser in Karlsruhe in seinem Dienstwagen zusammen mit dem Fahrer Wolfgang Göbel und dem Justizwachtmeister Georg Wurster in Richtung Bundesgerichtshof. An einer Ampel lauerten ihm zwei Stadtguerilleros der RAF mit einem Motorrad auf und der Mann oder die Frau auf dem Soziussitz feuerte etliche Schüsse auf die Insassen des bundesanwaltlichen Wagens ab. Buback und der Fahrer starben noch am Tatort; der Justizwachtmeister erlag seinen Schusswunden im Krankenhaus. Zwei Tage später ging, ebenfalls morgens, ein Student der Germanistik, Klaus Hülbrock, in Roringen, einem Dorf im nordöstlichen Stadtgebiet von Göttingen, mit seinem Hund spazieren und grübelte über den Anschlag auf Buback, seine eigene Haltung dazu, die Debatten darüber mit den Freunden im Milieu, die Position der Linken insgesamt. Zurück in seiner Wohnung schrieb er die Gedanken auf, kochte und aß eine Erbsensuppe und fuhr dann, die Zeit drängte allmählich, in die Göttinger Innenstadt zum 216
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AStA der Universität, um das Stück, das er verfasst hatte, noch rechtzeitig vor Redaktionsschluss, der an diesem Tag um 14 Uhr lag, abzuliefern. Gut zwei Wochen später erschien das Stück, im »wurstigen Layout«, mit »handgezeichneter Überschrift, unregelmäßigen Zeilenabständen und eingefügten Zeichnungen«2 – also ganz im Stil der studentischen »Gegenöffentlichkeit« jener Jahre. Der Schreiber, welcher der Öffentlichkeit über viele Jahre in seiner Identität unbekannt blieb, war zumindest vom Alter her kein »pubertierender« Jung-Student, wie es später vielfach in aufgebrachten Zeitungskommentaren hieß. Hülbrock wurde 1947 geboren, hatte also 1977 das dreißigste Lebensjahr bereits vollendet, war im sauerländischen Lüdenscheid groß geworden, hatte sich nach der Schule als Zeitsoldat verdingt, war zwischenzeitlich auch der SPD beigetreten. Nach einigen Jahren eines moderaten Aussteigerlebens mit Hilfsjobs und Schnorrereien Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre immatrikulierte er sich 1973 an der Universität Göttingen.3 Dort dominierte in der Zeit noch in den studentischen Politikarenen der Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW), eine rigide maoistische Kadertruppe. Hülbrock, dem die eigenwillige Gestaltung des sprachlichen Ausdrucks damals und danach nicht gleichgültig war, konnte schon die starre, bürokratische und kalt apodiktische Form der K-Gruppen-Manifeste nicht ertragen. Das ging in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre zunehmend vielen Studierenden mit durchaus linker Grundorientierung so. Die disziplinierende Hermetik von Organisation und Appell der maoistischen Konventikel stießen zunehmend ab. Stattdessen artikulierten sich nun prononciert subjektiv gehaltene Bekenntnisse zu Sinnlichkeit, Emotionalität, zum Körpergefühl, zu den Liebesbedürfnissen und auch eigenen Ängsten.4 Hieraus entwickelte sich, als Alternative zu den autoritären K-Gruppen, eine locker gefügte Sponti-Bewegung, die in Göttingen 1977 als »Bewegung undogmatischer Frühling« auftrat und in der Klaus Hülbrock, genannt »Tiger«, ein aktiver Protagonist war, den man Tag für Tag am Büchertisch im Vorraum der Mensa diskutieren sehen konnte.5 Ein Vierteljahrhundert später begründete Hülbrock die Rolle der Göttinger Spontis aus ihrer damaligen intensiven Gegnerschaft zur Sprache und zum Gestus der »K-Gruppen, der Trittin-Fraktion und solchen Leuten. Deren Stakkato, diese schwere Grammatik der Revolution, die Ernsthaftigkeit, mit Die Mescalero-Affäre
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der sie auftraten, war freudlos, so selbstgewiss! Gegen diese exekutive Sprache der Distanzierung von allen, die nicht auf ihrer, also auf der ›richtigen‹ Linie lagen, entwickelten wir unser Auftreten.«6 Seine Gruppe, die »Bewegung undogmatischer Frühling« also, beteiligte sich 1977 am AStA, hatte damit Zugang zu den göttinger nachrichten, in der Hülbrock sein Räsonnement zum BubackMord veröffentlichte. Als Pseudonym wählte er dafür die Chiffre »Mescalero«, einen Stamm der Apachen, den Karl May für seine Fiktionsfigur Winnetou ausgesucht hatte, um ihn dort literarisch bekanntlich zum Häuptling zu machen. Eine Provinz- und Spontiposse, so hätte man meinen können, die außerhalb des universitären Mensa-Bereichs im »Blauen Turm« niemanden erreichen, schon gar nicht erschüttern musste. Verbal radikale Flugschriften bekamen die studentischen Massen in jenen Jahren schließlich dauernd, ob sie nun wollten oder nicht, in die Hände gedrückt, ohne dass man die markigen Kampfparolen in Richtung des geknechteten Proletariats zur machtvollen Abwehr bourgeoiser Ausbeutung und Unterdrückung sonderlich wichtig genommen hätte. Nun aber – präziser: vier Tage später – kam alles anders. Denn auch der christdemokratische Nachwuchs an der Göttinger Universität, im Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS) organisiert, hatte einen Blick in das Zeitschriftenorgan des in diesen Kreisen denkbar ungeliebten AStA geworfen. Und die RCDSler erkannten die Chance, die damalige universitäre Hegemonie der radikalen Linken zu delegitimieren und vielleicht sogar auf längere Sicht zu erschüttern. Der RCDS erstattete gegen den AStA aufgrund des Buback-Nachrufs eine Strafanzeige, forderte überdies in einem offenen Brief den Rektor der Göttinger Uni, den Botaniker Hans-Jürgen Beug, auf, ohne Verzug gegen den AStA vorzugehen; andernfalls hätte er mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde zu rechnen.7 Der RCDS präjudizierte dann die folgende Berichterstattung in den großen Zeitungen der Republik. Denn die christdemokratischen Studenten referierten im Wesentlichen die unzweifelhaft erschreckenden, abstoßenden Sätze zur Ouvertüre des Nachrufs, vor allem den hernach tausendfach rezitierten Satz: »Meine unmittelbare Reaktion, meine ›Betroffenheit‹ nach dem Abschuß von Buback ist schnell geschildert: Ich konnte und wollte (und will) eine klammheimliche Freude nicht verhehlen.« 218
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Drei Seiten umfasste der Buback-Nachruf in den göttinger nachrichten vom 25. April 1977. Die Titelseite der Ausgabe ließ von dem Text nichts erahnen. Dort prangte in großen schwarzen Buchstaben: »Wird der Göttinger AStA abgehört?«. Darunter war die Zeichnung eines Telefonhörers zu sehen, aus dessen Sprechmuschel ein mithörender Agent blickt – auf ihn ist eine Spraydose gerichtet.
Rülpser statt Rationalität Schon einen Tag darauf folgten die ersten überregionalen Zeitungen, welche die RCDS -Informationen übernahmen und sich gleichermaßen gegen die Niedertracht des »Mescalero« erzürnten.8 Auch die linksliberalen Blätter, von der Frankfurter Rundschau bis zur Zeit, reihten sich in die von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Welt formierte Front ein. Man schrieb in Bezug auf den Autor des »Nachrufs« von einem »mörderischen Denken«, einem »kranken« Hirn, einem furchtbaren Apologeten von Gewalt und Terrorismus in der Tradition des nationalsozialistischen Hetzblattes Stürmer.9 Der Göttinger Uni-AStA, vom Hochschulrektor in der Tat ganz im Sinne der RCDS -Anmahnung ultimativ unter Druck gesetzt, schickte das inkriminierte Stück in etDie Mescalero-Affäre
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lichen Exemplaren an die Redaktionen von Print- und Telemedien, um erkennbar zu machen, dass der Beitrag bei der Offenbarung »klammheimlicher Freude« nach Kenntnisnahme des KarlsruheAttentats nicht stehen geblieben war.10 Aber es nutzte nichts. So gut wie kein Presseorgan kümmerte sich darum. Eine derartig selektive Rezeption des Materials und kollektiv einförmige Interpretation hatte man im Pressewesen des demokratischen Teils Deutschlands seit 1949 noch nicht gesehen. Den einen oder anderen Grund für die seither auszumachende und bis heute keineswegs nachgelassene Presseschelte in Teilen der Bevölkerung lieferten die Medien mithin schon auch selbst. Gewiss, der Text war verstörend, für Journalisten zumindest der älteren Generation und zurückliegenden Bildungssozialisation auch schauderhaft. Nicht allein die eingestandene »klammheimliche Freude« über den Mord an Siegfried Buback klang gemein und abstoßend: »Ehrlich«, bekundete der Verfasser des Artikels zudem über Buback, »ich bedauere es ein wenig, daß wir dieses Gesicht nun nicht mehr in das kleine rot-schwarze Verbrecheralbum aufnehmen können, das wir nach der Revolution herausgeben werden, um der meistgesuchten und meistgehaßten Vertreter der alten Welt habhaft zu werden und sie zur öffentlichen Vernehmung vorzuführen. Ihn nun aber nicht mehr – enfant perdu.« Und ebenso widerwärtig wie im Grunde unreif wirkten weitere Auskünfte des Mescaleros über seine innere Stimme und Gefühle: »Ich habe auch über eine Zeit hinweg (wie viele von uns) die Aktionen der bewaffneten Kämpfe goutiert; ich, der ich als Zivilist noch nie eine Knarre in der Hand hatte, eine Bombe habe hochgehen lassen. Ich habe mich schon ein bißchen daran aufgegeilt, wenn mal wieder was hochging und die ganze kapitalistische Schickeria samt ihrer Schergen in Aufruhr versetzt war. Sachen, die ich im Tagtraum auch mal gern tun tät, aber wo ich mich nicht getraut habe sie zu tun.« Sicher lag ein großer Teil der heftig abwehrenden Irritationen über den Göttinger Mescalero darin, dass er, ein Angehöriger der Universität, die doch zur strengen Rationalität und zu intersubjektiv nachvollziehbaren Begründungen anhalten sollte, sich um Regeln der Wissenschaftlichkeit nicht scherte, ja allen Konventionen eingespielter Bildungsbürgerlichkeit mit Spott und provokativer Gleichgültigkeit begegnete. »Ausgewogenheit, stringente Argumentation, Dialektik und Widerspruch«, so leitete der Göttin220
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ger Sponti vom »Undogmatischen Frühling« seinen Text ein, »das ist mir alles piep-egal. Mir ist bei dieser Buback-Geschichte einiges aufgestoßen, diese Rülpser sollen zu Papier gebracht werden«.
Für’s eigene Milieu verfasst Nur: Der Mescalero schrieb nicht für den Feuilletonchef der Zeit. Er wandte sich nicht an seinen Professor für Linguistik. Er dachte bei der Niederschrift nicht an Bekannte und Verwandte aus seiner Lüdenscheider Heimat. Er war in einen Monolog mit sich selbst und in den Dialog mit seinen Freunden wie Gleichgesinnten aus dem linksalternativen Studentenmilieu getreten, in dem ganz ähnliche »klammheimliche Freuden« über Anschläge auf Repräsentanten des »Repressionsapparats« oder der »Ausbeuterklassen« kursierten, aber zugleich Unsicherheiten darüber aufgekommen waren, ob dergleichen Gewaltaktionen wirklich dem entsprachen, wofür man sich politisch primär engagierte.11 An dieses Umfeld war das Stück des Mescalero adressiert; ihm wollte er schildern, was ihn wohin bewegt hatte, warum er letztendlich die Gewalttaten der RAF und anderer Gruppierungen ähnlicher Fasson ablehnte: »Unser Weg zum Sozialismus (wegen mir: Anarchie) kann nicht mit Leichen gepflastert werden«, daher »dürfen Linke keine Killer sein«. Ein Aufruf zu weiteren terroristischen Gewaltattacken war der »Nachruf« nicht. Im Gegenteil, der Verfasser wollte sich und seine Mit-Kombattanten im politischen Kampf davon überzeugen, die Finger von den Schusswaffen zu lassen.12 Er schrieb das im Duktus seines Milieus, schnodderig, mitunter geradezu karnevalesk und verspielt, zugleich mit der heute seltsam anmutenden Beimischung rigider Revolutionsrhetorik. Es mochte sein, dass der »Mescalero« allein in einem solchen Format eine Brücke sah, um sich der alternativ-linken Studentenschaft des Jahres 1977 mit einer Absage an die Gewalt verständlich zu machen.13 Aber mindestens so wahrscheinlich ist, dass der Autor mit dem Nachruf sein authentisches Empfinden und Denken in der seinerzeit in seinem Umfeld üblichen extremistisch subjektiven und trotzig dem Anstandskanon der überlieferten Bürgerlichkeit sich verweigernden Sprache ausdrücken wollte. Studentische Linke und Spontis aller Die Mescalero-Affäre
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Art verstanden in jenen Wochen genau, was der Schreiber wollte, was in ihm vorgegangen war, wieso er sich so erklärte, wie er es in den göttinger nachrichten getan hatte. Außerhalb dieser Sphäre aber herrschte Befremden und zumindest gelindes Entsetzen. Und dass die trauernden Familienangehörigen von Siegfried Buback auf einige brutal-rotzige Sprachballone, den »lumpigen Jargon« (Enzensberger), nahezu fassungslos reagierten, war erst recht verständlich, zumal wenn im »Nachruf« von der »Killervisage« und dem »Abschuß« Bubacks die Rede war.14 Und zu den intellektuellen Lebenslügen dieses Milieus und dieses Aufrufs gehörte, gleichsam dem kalten Extremismus der Tat durch verbale Faschingskostüme den harten und bitteren Ernst nehmen zu wollen, der ihm gleichwohl innewohnte. Der Mescalero wandte sich nicht prinzipiell gegen Gewalt, aber sie sollte dann allerdings den »Segen der beteiligten Massen« besitzen und »fröhlich« sein. Dabei hatte man historisch genug spontane Gewaltexzesse von feixenden, berauschten und dadurch erst recht enthemmten wie brutalisierten Massen erlebt, um mit solchen schnell hingeschriebenen Maximen und Metaphern doch erheblich vorsichtiger umzugehen.15 Aber es blieb auch in den folgenden Jahren ein bemerkenswertes Charakteristikum dieser Alternativlinken der Bundesrepublik, die radikale Attitüde mit einer Art Party-Jux und einem nonchalanten Dadaismus zu mildern und zu versüßen. Nahmen einige wenige dann gleichwohl die kämpferische Pose allzu ernst und gar als handlungsleitend für die Praxis, dann zeigte sich der Rest darüber, sobald es Opfer gab, mit traurigem Gesicht »betroffen«, aber nicht wirklich angesprochen oder verantwortlich. Denn der Widerstand, den man postulierte, sollte doch stets nur »symbolisch«, »friedlich«, »im Geiste von Gandhi«, im Stile eines großen versöhnenden, kulturell übergreifenden Festes bleiben. Aber dergleichen euphemistisch verniedlichende Scheinradikalität reichte mehr schon in die 1980er Jahre. 1977 erschienen die Auseinandersetzungen noch unversöhnlicher, ernsthafter, antagonistisch. Professoren – »meist schnell avancierte Fellow Traveller in ihren Dreißigern«, so jedenfalls der damalige Wissenschaftssenator von Berlin, Peter Glotz, in seiner späteren Autobiografie16 –, die Dokumentationen des »Nachrufs« herausgaben, um so den gesamten Text öffentlich verfügbar zu machen, sahen sich Disziplinarverfahren, Strafanzeigen und Gerichtsprozessen ausgesetzt.17 Der 222
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Durchsuchte Wohnung eines Redakteurs der göttinger nachrichten.
Hannoveraner Professor für Psychologie Peter Brückner wurde vom Dienst suspendiert und durfte das Gelände wie die Räume der Hochschule (bis 1981) nicht mehr betreten.18 Am 27. Mai, also gut einen Monat nach der Herausgabe der göttinger nachrichten mit dem Nachruf auf Buback, standen martialisch ausgerüstete Hundertschaften in Göttingen vor den Türen von Wohngemeinschaften, des AStA, zweier Druckereien, eines roten Buchladens, dem Büro des Kommunistischen Bund Westdeutschlands, um des Mescaleros habhaft zu werden.19 Das alles mobilisierte Tausende von Studierenden der Göttinger Universität – aber ebenso auch von vielen anderen bundesdeutschen Hochschulen – zu Vollversammlungen, Demonstrationen, Boykottaktionen.20 Peter Glotz sprach in dieser Zeit besorgt von »zwei Kulturen«, die sich in der deutschen Gesellschaft bildeten und sie konfrontativ spalteten.21 Die zweite Kultur bestand demzufolge aus eben den studentisch-alternativen Milieus mit ihren Info-Schriften, ihrem besonderen Habitus, einer eigenwilligen Sprache, der abgrenzenden Kleidung, den unbürgerlichen Wohn- und Lebensformen, der schroffen Distinktion gegenüber dem »Juste Milieu« der ersten Kultur. Bald erschien noch die taz als eigenes täglich erscheinendes Kommunikationsorgan dieser Lebenswelt; und zum Ende des Jahrzehnts konstituierten sich Grüne und Alternative Listen Die Mescalero-Affäre
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als autonomes, neues Parteienprojekt. Und doch ging das sinistere Orakel von Glotz fehl. Am Ende hatte sich keine streng separierte Kultur und Lebensweise von aus der kapitalistischen Industriegesellschaft ausgestiegenen Kohorten formiert. Am Ende – nicht zuletzt gefördert gerade durch die neue Tageszeitung und die grüne Partei – stand vielmehr die Integration in die und die Versöhnung mit der zuvor so heftig verachteten »bürgerlichen Gesellschaft«. 1977 bedeutete die Abwendung von der Koketterie mit der RAF. Es läutete das Finale ebenfalls der Sehnsüchte nach der großen Alternative ein. Aber auch: Nach 1977 erlosch das eigenkulturelle und intensive Leben auf dem Campus. Auf dem Höhepunkt der Mescalero-Affäre waren die universitären Räume noch bis in die Abendstunden Orte der Diskussionen, der Arbeitskreise, Teach-ins, Polit-Feten, Lesezirkel und eben der Vollversammlung. Damit war es bald weitgehend vorbei. Die linksstudentische Alternativbewegung hatte 1977, so gesehen, noch einmal ein großes Spätsommerfest der alten, immer ja auch durch Extravaganzen und einen gesonderten Kommunikationsbereich mit eigenartigen Ritualen gekennzeichneten Universität gefeiert. Danach war auch die Lebensform der alten Universität jenseits von Technokratie und Effizienzoptimierung nicht mehr zu retten.
Verstellte Zukunft Und wie erging es dem Mescalero? Was wurde aus Klaus Hülbrock? Im Unterschied zu einigen anderen, die in ihrer linksradikalen Zeit nicht minder hämisch über den Tod von Siegfried Buback in den Organen der damaligen maoistischen K-Gruppen schrieben und dennoch auf dem Karriereweg weit nach oben im bundesdeutschen System gelangten22, verlief der Weg von Hülbrock offenkundig weniger glücklich. Erst Ende der 1990er Jahre outete er sich, wenn auch vorher schon seine »Identität in SzeneKreisen kein Geheimnis war.«23 Er war Deutschlehrer für Ausländer geworden, hatte zwischenzeitlich in China24 und Russland gelebt, war nach Deutschland, wo er sich seit 1977 »unbehaust« fühlte, zurückgekehrt, um in den neuen Bundesländern, in Wittenberg und in Weimar, zu unterrichten. Mit den Ereignissen des Frühjahrs 1977, die ihn, wenngleich anonym, berühmt gemacht 224
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hatten, war er »nicht fertig« geworden. Er lebte, so empfand er es, »heute extrem vereinzelt«25, »am Rande des Minimums«, hatte keine Kinder, keine »eigene Wohnung gehabt, kein eigenes Auto, keine eigenen Möbel«26, einzig seine Bücher. Im Mai 1999 schrieb er an Michael Buback, den Sohn des 1977 ermordeten Generalbundesanwaltes, einen Brief, in dem er sich zu erkennen gab und seine Haltung zum damaligen Aufruf zu erläutern versuchte. Er betonte, dass ihm die Worte von damals, die sich auf die Person des Vaters seines Adressaten bezogen, mittlerweile wehtun würden.27 Das bekräftigte er auch in späteren Auslassungen. Man habe seinerzeit »roh« und »schäbig« geredet, fasste er sein Urteil über die damalige Sponti-Bewegung zusammen.28 Die »Grässlichkeit«29 der Sprache, die er selbst 1977 gebraucht hatte, schmerzte ihn nun. Aber die »politische Performance«30, die eigentliche Absicht des damaligen Stücks verteidigte er vehement. Hier weigerte er sich, irgendetwas zurückzunehmen oder eine nachträgliche Distanz zu äußern. Vielmehr müssten sich diejenigen hinterfragen, so führte er im zweiten, nun offenen Schreiben an Michael Buback Anfang 2001 aus, »die damals den schmähenden Sachgehalt des Artikels gegen seinen Wahrheitsgehalt glaubten ausspielen zu sollen. Die müssen sich schämen, die den Text aus seinem Feld, aus dem Zusammenhang gerissen, verdreht, verstümmelt und für ihre schwachsinnige ›Sympathisantensumpf-Kampagne‹ benutzt haben.«31 Hülbrock – den die taz kurz darauf, nach einem Besuch, im konservierten Sponti-Jargon als »unscheinbar wie Otto Meier, der Kegelfreund von nebenan«32 beschrieb – unterzeichnete seinen Brief mit »Viva Mescalero!«33.
Anmerkungen 1 Mit Faksimile des Artikels siehe o. V., Dokumentation: Nachruf mit klammheimlicher Freude, in: FAZ.NET, 22.01.2001, online einsehbar unter http://www.faz.net/aktuell/politik/terrorismus-dokumentation-nachrufmit-klammheimlicher-freude-114635.html [eingesehen am 27.07.2015]. 2 Gunnar Hink, Wir waren wie Maschinen. Die bundesdeutsche Linke der siebziger Jahre, Berlin 2012, S. 330. 3 Vgl. ebd., S. 62 ff. 4 Siehe etwa Johann Bauer, Ein weltweiter Aufbruch! Gespräch über den gewaltfreien Anarchismus der Siebzigerjahre, Nettersheim 2009, S. 39 ff. Die Mescalero-Affäre
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5 Vgl. Reimar Paul, 68er Debatte: Streit der Häuptlinge, in: Der Tagesspiegel, 30.01.2001. 6 Klaus Hülbrock im Gespräch mit Annette Rogalla, »Ich bleibe ein Indianer«, in: die tageszeitung, 10.02.2001. 7 Vgl. Peter Brückner, Die Mescalero-Affäre. Ein Lehrstück für Aufklärung und politische Kultur, 3. Aufl., Hannover 1978, S. 10 f. 8 Vgl. Michael März, Linker Protest nach dem Deutschen Herbst. Eine Geschichte des linken Spektrums im Schatten des »starken Staates«, 1977–1979, Bielefeld 2012, S. 214. 9 Etwa Theo Sommer, Wie im »Stürmer«, in: Die Zeit, 13.05.1977. 10 Vgl. Stefan Spiller, Der Sympathisant als Staatsfeind. Die Mescalero-Affäre, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd. 2, Hamburg 2006, S. 1227–1259, hier S. 1236. 11 Siehe auch ebd., S. 1232–1235. 12 Vgl. Gerhard Bliersbach, »Schadenfreude ist die schönste Freude«. Die psychosoziale Kontroverse um den Göttinger »Mescalero«-Text »Buback – ein Nachruf« von 1977, in: Gruppendynamik. Zeitschrift für angewandte Sozialpsychologie, Jg. 10 (1979), S. 67–78, hier S. 69. 13 Vgl. Wilfried Gottschalch, Gutachterliche Äußerungen zum Beweis dafür, daß…, in: Dieter Hoffmann-Axthelm u. a. (Hg.), Zwei Kulturen? TUNIX, Mescalero und die Folgen, Berlin 1978, S. 212–223, hier S. 217. 14 Hierzu Günter Schreiner, Die Göttinger Mescalero-Affäre als Lehrstück für politische Kommunikation, in: Gruppendynamik. Zeitschrift für angewandte Sozialpsychologie, Jg. 10 (1979), S. 79–86, hier S. 84. 15 Siehe auch die berechtigte zeitgenössische Kritik, in: Gewaltfreie Aktion, Feldzüge für ein sauberes Deutschland. Politische Erklärung gewaltfreier Aktionsgruppen in der BRD zu Terrorismus und Repression am Beispiel der Mescalero-Affäre, Göttingen 1977, S. 16. 16 Peter Glotz, Von Heimat zu Heimat. Erinnerungen eines Grenzgängers, Berlin 2005, S. 153. 17 Vgl. etwa: Johannes Agnoli u. a., »… da ist nur freizusprechen!« Die Verteidigungsreden im Berliner Mescalero-Prozeß, Hamburg 1979; Thomas Blanke u. a., Der Oldenburger Buback-Prozeß, Berlin 1979. 18 Vgl. Jürgen Habermas, Der Fall Brückner ist ein Fall Albrecht, in: Alfred Krovoza u. a., Zum Beispiel Peter Brückner. Treue zum Staat und kritische Wissenschaft, Frankfurt am Main 1981, S. 13 f.; Barbara Sichtermann, Wie es wirklich war oder: Bericht aus dem Innern eines Falles, in: ebd., S. 52–74. 19 Vgl. Jürgen Gückel, Als der Mescalero-Nachruf Wohnungen unsicher machte, in: Göttinger Tageblatt, 08.05.2009. 20 Vgl. Andrea Gabler, Sturm im Elfenbeinturm. Positionen und Aktionsformen des Göttinger AStA zu Wissenschaftsbetrieb und politischem Mandat von 1967 bis 1987, Göttingen 1993, S. 110 f. 21 Siehe: o. V., Jeder fünfte denkt etwa so wie Mescalero. Berlins Wissenschaftssenator Peter Glotz über Sympathisanten und die Situation an den Hochschulen, in: Der Spiegel, 03.10.1977.
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22 Beispiele hierfür referiert und analysiert Hinck, S. 324–326 u. S. 335–337. 23 Philipp Felsch, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte. 1960–1990, München 2015, S. 148. 24 Vgl. Klaus Hülbrock, Noch bleibt der Sohn auf dem Hof der Mutter. Doch Chinas letztes Matriarchat zerfällt allmählich, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.04.1994. 25 Klaus Hülbrock im Gespräch mit Annette Rogalla. 26 Zit. nach Hinck, S. 372 f. 27 Vgl. Michael Buback, Der zweite Tod meines Vaters, erw. Ausg., München 2009, S. 40 f. 28 Klaus Hülbrock im Gespräch mit Annette Rogalla. 29 Zit. nach o. V., »Mescalero« will sich nicht distanzieren, in: Die Welt, 31.01.2001. 30 Klaus Hülbrock im Gespräch mit Annette Rogalla. 31 Das Schreiben ist online einsehbar unter http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/dokument-mescaleros-brief-an-buback-sohn-a-114789.html [eingesehen am 05.08.2015]. 32 Annette Rogalla, Eine Begegnung mit Klaus Hülbrock, in: die tageszeitung, 10.02.2001. 33 http://www.spiegel.de/politik/deutschland/dokument-mescaleros-briefan-buback-sohn-a-114789.html [eingesehen am 05.08.2015].
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Wisente und Atomraketen Der Streit um das Ratssaalportal von Jürgen Weber (1983) von Jöran Klatt
»Mir machte es Spaß. Ich liebe solche Situationen, das gebe ich zu.«1 Der Braunschweiger Künstler Prof. Jürgen Weber blickt u. a. auch mit dieser Haltung auf die Auseinandersetzung um das von ihm geschaffene, 1983 eingeweihte Ratssaalportal im Neuen Rathaus am Hiroshimaplatz zurück.2 Mit dem 2,50 m hohen und 2,45 m breiten Portal erzählt er in Text und Bild die Göttinger Geschichte, eingebettet in die große Geschichte Europas. Der Bildhauer Weber war in Göttingen wahrlich kein Unbekannter, hatte doch bereits sein Bronzerelief an der Stadthalle 1964 für Unmut in konservativen Kreisen gesorgt.3 »Wer Jürgen Weber einen Auftrag erteilt, der muß von vornherein wissen, daß er sich damit einen äußerst streitbaren Künstler engagiert hat.«4 1983 war es vor allem die CDU-Ratsherrin Ursula Ermisch, die sich an Webers Kunstwerk störte. Stein des Anstoßes war etwa die folgende, sich darauf befindende Textpassage: »Das 1949 erlassene Grundgesetz für die BRD sollte die geistige Freiheit des Einzelnen gegenüber Staat und Öffentlichkeit sichern. Ein Teil dieser Rechte wurde von Politikern und Verfassungsrichtern nach und nach wieder abgebaut. So wurde die BRD fast widerspruchslos atomare Basis der USA für einen möglichen Atomkrieg der Supermächte.« Für die Kritiker des Kunstwerks war eine solche Aussage eindeutig tendenziös. Weiter warfen sie Weber im Verlauf des Streits grobe Fehler in seiner Historiografie vor. »Göttingen, eine Stadt, deren Universität stolz darauf ist, in Dahlmann, Waitz, Gervinus, Schlözer u. a. die Mitbegründer der modernen kritischen Geschichtswissenschaft hervorgebracht zu haben«, so schrieb Ursula Ermisch im Göttinger Tageblatt, »kann sich m. E. eine solch falsche und primitive, agitierend [sic!] Geschichtsschreibung auf dem Portal des Ratssaales nicht leisten.«5 Um das Kunstwerk entbrannte ein vielschichtiger 228
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Nach der Auftragsvergabe durch den Rat der Stadt Göttingen im Jahr 1978 arbeitete Jürgen Weber fünf Jahre an dem Bronzeportal für den Ratssaal des Neuen Rathauses.
Streit, in welchem es um Kunst am Bau, Geschichtspolitik, subjektive Auffassungen, Wisente und Atomraketen ging. Webers Ratsportal ist eine in Bronze gegossene Skulptur mit etlichen Abbildungen und in lateinischer Kursivschrift darin eingelassenen Texten. Auf den zwei Türhälften geht Weber von unten nach oben durch die Zeit. Dabei reiht er Momentaufnahmen aneinander, kommentiert diese und verbindet – woran sich die Gemüter nicht minder erregten – die Geschichte mit der Gegenwart. Etwa wenn er schreibt: »Seit der Jungsteinzeit wurden im Leinetal Wisente gejagt. 5000 Jahre später starben sie endgültig aus. Heute werden pro Tag 3 Arten ausgerottet.« Dieser Satz steht ganz unten auf der linken Türhälfte. Durchbrochen wird die Chronologie von jeweils drei Vertiefungen, die Weber »Katastrophengräben« nennt. Diese sind der Pestausbruch im Jahr 1246 und das darauffolgende Pogrom an den Juden, der Dreißigjährige Krieg und zuletzt das Zeitalter des Nationalsozialismus. Sein Geschichtsbild legt klaren Fokus auf die Verfehlungen vermeintlichen Fortschritts und Der Streit um das Ratssaalportal von Jürgen Weber
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Unmenschlichkeiten. Sein Modus ist die Anklage, seine Geschichte kennt keine Helden, sondern nur Antagonisten: mal Politiker wie Ratsherren, Herzöge, Fürsten, den Kanzler Bismarck und natürlich Adolf Hitler, aber dann auch Institutionen wie die Kirche oder den Staat. Kern der Narration ist, dass sich dunkle Kontinuitäten durch die deutsche Geschichte zögen. Die Texte auf dem Ratsportal sind schwer zu entziffern, nur bei genauem Blick aus kurzer Distanz überhaupt zu lesen. Doch für Ursula Ermisch waren sie exponiert genug und mussten ihrer Ansicht nach Gegenstand einer öffentlichen Debatte werden. Fast zum Mythos wurde dabei folgendes Ereignis, über welches das Tageblatt humorvoll berichtete: »Auf allen Vieren kroch Ursula Ermisch im Dienste ihrer Partei und der höheren Wahrheit vor dem Eingang zum großen Sitzungssaal im Neuen Rathaus herum. Sorgfältig trug die CDU-Ratsherrin in ihr Notizbuch ein, was auf dem neuen Ratsportal geschrieben steht – Wort für Wort. Ihre Partei sollte bei der Mitgliederversammlung des Stadtverbandes am Mittwochabend wissen, worüber sie redete. […] Im Auge hatte die auch in gebückter Haltung immer aufrechte Staatsbürgerin dabei besonders das, was der Künstler über die Verhältnisse in der Bundesrepublik anno 1983 in Bronze formuliert hatte (das TAGEBLATT zitierte). Ursula Ermisch sollte nicht umsonst in die Knie gegangen sein: Ihre Parteifreunde und -freundinnen zeigten sich erwartungsgemäß entrüstet. Diskussionsbeiträge einiger Mitglieder [der CDU, Anm. d. V.] im O-Ton: ›Machwerk primitiver Propaganda‹, ›Vehikel grün-alternativer Primitiv-Ideologie‹, ›Verkürzung und Verfälschung historischer Ereignisse in handliche ideologische Keulen‹, ›Und so etwas hat den Titel eines deutschen Professors‹, ›Wie konnte sich der CDU-Oberbürgermeister dafür hergeben, die Tür einzuweihen?‹ Ursula Ermischs Gatte, Dr. Gerald Ermisch, schämte sich gar, Bürger dieser Stadt zu sein.«6 Wenn auch nicht das Kunstwerk, so forderte Ermisch, solle man doch zumindest die Schrift entfernen. Einige Angehörige der CDU-Ratsfraktion wären gerne auch weiter gegangen, bis hin zum Vorschlag, das Portal abzumontieren oder zumindest ein »Gegenkunstwerk« aufzustellen.7 Der damalige Fraktionsvorsitzende Achim Block erkannte, dass der entstehende Konflikt – schnell ist von einem möglichen »Skandal« die Rede8 – nicht alleine in der politischen Arena zu gewinnen sei. Infolgedessen gab 230
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er ein unabhängiges Gutachten in Auftrag, zu dessen Erstellung sich der Vorsitzende des Göttinger Geschichtsvereins und Direktor am Max-Planck-Institut für Geschichte, der Historiker Prof. Rudolf Vierhaus, bereit erklärte. Gemeinsam mit dem Landeshistoriker Prof. Karl-Heinz Manegold und dem Professor für Öffentliches Recht Christian Starck bildete er eine Gutachterkommission. Auftrag war es, der CDU-Fraktion folgende Fragen zu beantworten: »Was ist falsch an der textlichen Aussage? Was ist grob vereinfacht? Was ist ideologisch tendenziös?«9 Doch bevor die Gutachter erste Ergebnisse veröffentlichen konnten, preschten andere vor: zuerst der damalige Leiter des Instituts für Historische Landesforschung, Prof. Hans Patze. Er verfasste eine eigene Broschüre mit »Bemerkungen zu Jürgen Webers Texten auf seinen Türen für den Göttinger Ratssaal«, ließ sie in großer Stückzahl fotokopieren und innerhalb Göttingens verteilen. Dabei beginnt er mit einer Abschrift der Texte, sortiert nach linker und rechter Türhälfte, »originalgetreu, einschließlich der Fehler«.10 Fehler, die, wie sich herausstellen sollte, z. T. nicht wirklich auf dem Portal standen, sondern wohl Ursula Ermisch bei der Abschrift unterlaufen waren und die nun ihren Weg in Gutachten, Kommentare und auch das Göttinger Tageblatt fanden. Patze fand in so ziemlich jedem Satz Verfehlungen Webers: nicht korrekte Jahreszahlen oder falsch verwendete Begriffe, nicht belegbare Äußerungen, nicht zutreffende Kausalitäten sowie seiner Ansicht nach unzutreffende Interpretationen. Er spricht von einer »Hilflosigkeit des Verfassers gegenüber historischen Tatsachen«11 – das Kunstwerk sei ein »Negativkatalog«12, der die deutsche Geschichte nicht in angemessener Weise darstellen würde. Auch »Einseitigkeiten« störten Patze. Begriffe wie »›Großmachtspolitik‹«, mit denen Weber etwa die Politik Bismarcks und des Kaiserreichs kommentierte, stellten »nichts als eine sehr einseitige und wissenschaftlich nicht haltbare Meinungsäußerung dar.«13 Es könne »nicht hingenommen werden, daß diese tendenziell verzerrten Formulierungen und durch ihre Anordnung verschrobenen Darstellungen der Öffentlichkeit präsentiert werden, so als seien die Texte wissenschaftlich vertretbar.«14 Ähnlich äußerte sich der Studiendirektor a. D. Werner Flock: »Das sogenannte Kunstwerk nimmt aus der langen Geschichte Göttingens nur wenig positive Ereignisse auf. […] Von diesem Gesichtspunkt aus gesehen ist das mit den Der Streit um das Ratssaalportal von Jürgen Weber
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Steuergeldern der Bürger bezahlte Portal ein Skandal. Es ist zu fordern, dass mindestens alle Texte verschwinden.«15 Nach Patze wurde Walter Nissen, ebenfalls Landeshistoriker und Mitglied des Göttinger Geschichtsvereins, tätig. Seine »Bemerkungen zum Ratsportal« sandte er direkt an Rudolf Vierhaus. Auch Nissen listete zahlreiche Fehler auf, darunter etwa, dass Göttingen nicht, wie auf dem Portal stünde, im 15., sondern bereits im 14. Jahrhundert Mitglied der Hanse geworden sei, ein Dreißig-Jahres-Rhythmus der Pest nicht belegbar sei, Weber den Ortsnamen Göttingens falsch herleite (Göttingen bedeute »Ort am Wasserlauf« und nicht »Gottes- oder Richtplatz«), es ein »Königreich England-Hannover« so nicht gegeben habe und dass Weber in Bezug auf die Frankfurter Paulskirche 1848 von einem Bundestag spricht und nicht von einer Nationalversammlung.16 Nissen fragte im Tageblatt: »Warum hat eigentlich niemand der naheliegenden Arbeit des ›Korrekturlesens‹ an dem Manuskript des erläuternden Textes sich unterzogen, bevor das Kunstwerk abgeliefert und aufgestellt wurde?«17 Nach dem Wortlaut habe ihn, sagte Jürgen Weber hierzu der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, »nie jemand gefragt«.18 Indes, während er und seine spätere Frau Renate auf Ibiza weilten, soll, so schreibt er rückblickend, ein CDU-Abgeordneter Zugang zu seinem Atelier bekommen und sich die beiden unteren Teile angesehen haben. Nach dem Urlaub habe Herbert Wiltenstein, der ehemalige Stadtbaurat, ihn wegen »angeblich ›skandalöser Texte‹ über das Grundgesetz« auf der Tür angerufen. »Mit einiger Mühe gelang es mir, ihn zu beruhigen, zumal dem Ratsherrn sein Spionieren wohl peinlich war und er wieder abmilderte. Aber – der spätere Skandal hatte sich schon angekündigt.«19 Ebenfalls an Vierhaus wandte sich der Historiker Prof. Hermann Heimpel: »Das Schlimme am Ganzen scheinen mir nicht irgendwelche ›subjektiven‹ Anschauungen zu sein, sondern die, wenn ich recht berichtet bin, zynische Verachtung schlichter Daten. […] Einem Künstler will ich gerne ›subjektive Auffassungen‹ zugestehen, aber eine bei Herannahen des Zuges geöffnete Schranke oder ein falsch gestelltes Signal bei der Eisenbahn ist nicht subjektiv, sondern falsch.«20 Weber selbst, der die Eskalation aus der Braunschweiger Ferne verfolgte, bemühte sich um Öffentlichkeit, die ihm seiner Ansicht 232
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Am 30. November 1983, mehrere Monate nach der offiziellen Übergabe seiner Ratssaaltür an die Stadt Göttingen, erläuterte Jürgen Weber sein Werk bei einer von der DGB-Bildungsvereinigung »Arbeit und Leben« organisierten Veranstaltung.
nach verwehrt wurde. In seiner Biografie beklagt er sich über die CDU und die Gutachter, die niemals Kontakt mit ihm aufgenommen hätten, und über Oberbürgermeister Gerd Rinck (CDU), der ihm versagte, vor dem Rat zu sprechen. Lediglich die DKP, die Grünen (darunter das damalige Mitglied der Grünen-Ratsfraktion Jürgen Trittin) und Dr. Rainer Kallmann, der damalige Fraktionsvorsitzende der SPD, blieben mit ihm in direktem Kontakt.21 Doch in Göttingen bildete sich auch ohne den Künstler selbst eine Front von Verteidigern des Portals. Kallmann warf den Gutachtern »historische Beckmesserei« vor, er wolle »die Ratstür ausDer Streit um das Ratssaalportal von Jürgen Weber
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schließlich als Kunstwerk behandelt wissen, dessen Betrachter die ›historische Richtigkeit‹ der Texte darin ›ganz und gar gleichgültig‹ sein dürfte«, und zweifelte die Unabhängigkeit der Gutachter an.22 Und Leggewie, Stengel und Lenz wollten ihr Buch über das Portal als »Plädoyer für künstlerische Freiheit und kritischen Umgang mit Vergangenheit und Gegenwart der Bundesrepublik« verstanden wissen.23 Das Tageblatt druckte im Wechsel Leserbriefe für und gegen das Portal ab. Die aufgeladene Stimmung zwischen der CDU und ihren Gegnern verdeutlicht etwa folgender Kommentar: »Beim Göttinger Schützenfest kulminierte meines Erachtens die Auseinandersetzung in der Mutmaßung von OB Rinck, daß Prof. Weber ›vor hundert Jahren nicht mal das Abitur bestanden hätte‹ (GT vom 19.7.83). Welch eine anmaßende Behauptung und welche Maßstäbe dahinter verborgen sind! (Herrschaft entlarvt meistens sich selbst, man muß nur genau hinhören.) Mir scheint, wir sind auf dem Weg zurück in den spießbürgerlichen Obrigkeitsstaat, wo ›Fremde und Gesindel‹, Andersdenkende, Außenseiter und Opponenten wie annodazumal ›nicht in die Stadt eindringen dürfen‹. […] Es ist beschämend, wenn mit Bezug auf das Heute wieder von der ›Sache mit den Fremden und dem Gesindel‹ gesprochen wird. (Angesichts ›wild campierender‹ Roma, ein neues Skandälchen?)«24 Häufig wurde, wie in diesem Beitrag, von dem eigentlichen Konflikt heraus auf andere verwiesen. In der Tat gab es noch mehrere, darunter auch geschichtspolitische Fronten, an denen die ideologischen Seiten aneinandergerieten. Neben dem angesprochenen Roma-Camp, das zur gleichen Zeit vor dem Göttinger Universitätsklinikum für Unmut sorgte, stritten CDU, SPD, FDP und AGIL (die damaligen Grünen) noch um das »alte gekrönte gotische ›G‹«, das die CDU »als offizielles Stadt-Signet wiederhaben« wollte und welches der SPD zu monarchisch und zu wenig wissenschaftlich war.25 Streit löste außerdem die Enthüllung einer Gedenktafel mit einem Zitat aus der Präambel des Grundgesetzes am 17. Juni aus. Die von Ursula Ermisch beantragte Tafel mit dem Text: »Das gesamte Deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden« bekam so ein – wenn auch schwächeres – zumindest ähnlich gelagertes Konfliktpotenzial wie das Ratsportal (Weber hatte sich nicht von ungefähr entschieden, es am 6. Mai 1983, also kurz vor dem 234
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50. Jahrestag der Bücherverbrennung, einzuweihen).26 Hinzu kam außerdem, dass die Sozialdemokraten doch gerne symbolträchtig ihren 110. Geburtstag im traditionellen Alten Rathaus feiern wollten, was ihnen Oberbürgermeister Gerd Rinck verweigerte.27 Das Jahr 1983 war auch in Göttingen ein Zeitraum geschichtspolitischer Kontroversenverdichtung. Im Oktober 1983 schickten Starck, Manegold und Vierhaus der CDU ihr Gutachten. Als erstes stellten sie klar, dass es in diesem lediglich um die ihnen von der CDU zugesandten Texte gehe. Vierhaus hatte sich zuvor in einem persönlichen Brief an Rainer Kallmann gewandt, ihm geschrieben, dass er ideologisch der CDU »nicht einmal politisch nahe« stehe und er der »Bitte der CDURatsfraktion nur auf Grund der Tatsache nachgekommen« sei, dass er »Vorsitzender des Göttinger Geschichtsvereins« sei und der »Rat der Stadt – oder auch Teile desselben« ein Recht hätten, »vom Vorstand des Geschichtsvereins in Fragen Stadtgeschichte Rat zu erfahren.«28 Dem Rechtsexperten Christian Starck oblag es, im Gutachten Grundsätzliches zur Kunstfreiheit zu schreiben und die schwierige Aufgabe zu meistern, der CDU-Anfrage nach einer Kommentierung ideologischer Tendenzen im Kunstwerk nachzugehen.29 Zunächst stellt er fest: »Die grundsätzlich garantierte Freiheit der Kunst schützt selbstverständlich nicht vor Kritik, zumal wenn das Kunstwerk selbst kritischen Anspruch erhebt.«30 Die »Behauptung, ein Teil der im Grundgesetz gewährleisteten Freiheitsrechte sei ›von Politikern und Verfassungsrichtern nach und nach wieder abgebaut worden‹ steht im Widerspruch zur wirklichen Lage des Grundrechtsschutzes in der Bundesrepublik.« Im Gegenteil habe das Bundesverfassungsgericht viele Gesetze wegen ihres Verstoßes gegen Grundrechte »für nichtig erklärt, bzw. aufgehoben.«31 Und was die atomare Basis angehe, kommentiert Starck: »Die bisherige Verteidigungspolitik der Bundesrepublik verletzt nicht die Grundrechte, sondern schützt diese, indem sie den freiheitlichen demokratischen Staat vor Angriffen und Erpressungen durch ein totalitäres Zwangsregime schützt.«32 Die Gutachter kamen zu dem »Schluß, daß Webers Texte Vereinfachungen, Verkürzungen und unzulässige Verallgemeinerungen enthielten, die vor allem dann anstößig seien, wenn der Aussagende sie mit mehr Bemühung hätte vermeiden können oder Der Streit um das Ratssaalportal von Jürgen Weber
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wenn sie mit der Absicht der Provokation oder der Indoktrination formuliert seien.«33 Ein gemeinsames Treffen der drei Gutachter vor der Bronzetür fand indes nicht statt34, was vor allem Weber später äußerst empörte. Es sei, so der Künstler, »kaum zu fassen, vier Professoren, Historiker, Staatsrechtler, Max-Planck-Direktoren, sozusagen die Elite der deutschen Wissenschaft, geben ein Gutachten über die Bildunterschriften einer Tür ab, und sehen sich diese Tür nicht einmal an.«35 In der Tat machten beide Seiten Fehler, auch die Gutachter, indem sie sich auf die Ermisch-Abschrift verließen. So kritisierten sie auch den kryptischen Satz, dass sich Göttingen nicht »durch 5 Jahrhunderte« auf der Höhe seiner Macht befunden habe. Tatsächlich stand und steht auf dem Kunstwerk: »Im 15. Jahrhundert, auf der Höhe seiner Macht, trat Göttingen der Hanse bei.« Wie von Walter Nissen festgestellt, bleibt die Datierung auch dann falsch, wenn man den korrekten Text heranzieht. Nichtsdestotrotz deckten die Gutachter ebenso zahlreiche Fehler auf (wenn auch zum großen Teil jene, die auch Walter Nissen und Hans Patze bereits bemerkt hatten). Im Dezember 1983 sandte die spätere CDU-Ratsherrin Edith Scheithauer im Auftrag der Fraktion eine korrigierte Version der Textgrundlage an Rudolf Vierhaus.36 Aber für die Kritiker der Kritiker waren die von den Gutachtern übernommenen Fehler wiederum eine willkommene Grundlage, die Argumente gegen die Portals-Texte zurückzuweisen. Ende 1983 trafen sich zahlreiche der Kontrahenten im DGB Haus in Göttingen, darunter Vierhaus, Ermisch und Weber, der einen Vortrag über sein Portal hielt. Es wurde eine flammende Verteidigungsrede und er genoss es, wie das Eingangszitat, das sich vor allem auf diesen Abend bezieht, aufzeigt, sehr, nun selbst eingreifen zu können. Dass Ursula Ermisch »Fehler unterlaufen sein könnten, wies sie empört von sich: ›Das stand da so falsch. Das haben Sie inzwischen wieder heimlich geändert‹, rief sie dem Bildhauer zu.«37 Später schrieb Weber, der Streit sei »ein kunstpolitisches Lehrstück« gewesen. »Wenn ich es nicht längst gewußt hätte«, so der Künstler, »hätte ich spätestens jetzt begriffen, warum die Bonner Staatskunst abstrakt ist: Sie besagt nichts und tut niemandem weh.«38 Ein Teil des Konfliktes mag aber auch auf Sprache zurückzuführen sein. Weber verwendet in seinem Werk etwa die bereits damals umstrittene Abkürzung »BRD «. Wenn er über eine »atomare 236
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Auf großes Interesse stieß die Veranstaltung am 30. November 1983 im Göttinger DGB-Haus, bei der Jürgen Weber sein Werk erläuterte – und vor allem gegen die Kritiker verteidigte. »Die mehr als hundert Zuhörer verfolgten teils mit beifälliger Häme, teils mit lauter Empörung die zunächst fast zweistündigen Ausführungen des Künstlers«, heißt es in einem am 2. Dezember 1983 in der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen veröffentlichten Artikel.
Basis« spricht, so gebraucht er aufgeladenes Vokabular in einer durch den NATO -Doppelbeschluss konfliktbeladenen Zeit. Und auch »kleinbürgerlich-romantische, wie anmaßende Großmachtspolitik« mag zwar als Vorwurf in Richtung Bismarck gerichtet sein, aber in einer derartig angespannten gesellschaftlichen Mechanik wurde aus Öl im Getriebe schnell solches im Feuer. Weber spricht auf dem Portal von einer »unheiligen Allianz zwischen Staat und Kirche«, die stets zu Krieg führe. Während des Konflikts erschien im Tageblatt ein Artikel über Ronald Reagens Politik in der Nicaragua-Krise. Darin spricht der Autor über »die unheilige Allianz zwischen der demokratischen Führungsmacht des Westens und der Willkürherrschaft rechter Diktaturen.«39 Ursula Ermisch warf Jürgen Weber im NDR vor, Kommunist zu sein. Kontexte, die aufzeigen: Hinter dem Streit um das Ratsportal wirkte eine tiefergehende soziale Tektonik. Die emotive Lage des Konservatismus prallte z. T. gar auf »Schadenfreude« bei den Alternativen.40 Der Streit um das Ratssaalportal von Jürgen Weber
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Auch Leggewie, Stengel und Lenz setzten die Debatte daher in einen größeren Kontext und deuten die Reaktionen der CDU aus dem Kontext von Befindlichkeiten. So sei die »Göttinger Lokalfehde […] einzuordnen in eine breitere Auseinandersetzung um die (deutsche) Geschichte oder, anspruchsvoller gesagt: um die ›ideologische Hegemonie‹ in diesem Lande.«41 Nach der 1945 herrschenden historischen Restaurationszeit, deren Ende und Ablösung durch eine »kritische Geschichtswissenschaft« auch den »Niedergang der christlich-liberalen Vorherrschaft« mit eingeleitet hatte, versuchten die Konservativen nun, diese auf dem geschichtspolitischen Feld wiederzuerlangen.42 Vor diesem Hintergrund kritisieren die Autoren das Gutachten von Patze und seine Kritik an dem »Negativkatalog«: »Hier sind zwei Leitmotive angesprochen: die Geschichte als Quelle des nationalen Selbstverständnisses und der Kampf gegen die angebliche Ideologisierung der Geschichts- und Sozialwissenschaft durch die SPD und deren ›Spätmarxismus‹. Nicht Kritikfähigkeit ist gefragt, sondern ein Geschichtsbild, mit dem sich die Deutschen aller Lager und Parteien – besonders die Jugend – identifizieren können. Für Christdemokraten heißt das konsequenterweise: Entdramatisierung der jüngsten deutschen Vergangenheit.«43 Auch Weber sah dies ähnlich: Bei der Auseinandersetzung ginge »es nicht um Geschichte, sondern um die Gegenwart.«44 Indes: Jürgen Weber, der sich nicht nur ästhetisch als Vertreter des Realismus sah und dem historische Richtigkeit nicht gleichgültig war, räumte durchaus Fehler ein. Er und seine spätere Frau Renate hätten die Texte lediglich innerhalb von zwei Tagen formuliert.45 Eine falsche Jahreszahl änderte er nachträglich, für die falsche Verwendung des Begriffs Bundestag schämte er sich gar ein wenig und die Kritik an den Deutschen als »lediglich an der Konsumfreiheit« interessiert, würde er nach den Erfahrungen der zahlreichen und friedlichen Proteste gegen den NATO -Doppelbeschluss nun so nicht mehr sehen.46 Dennoch sah sich Weber als Sieger des Konflikts.47 Als dieser abflaute, entschloss er sich daher, Ursula Ermisch zu danken. Immerhin war sie es, die mit ihrer Erregung über das Skandalträchtige kritische Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit brachte, welche sich Weber nicht nur für seine Kunst, sondern für diese im Allgemeinen wünschte. So schickte er der Ratsherrin einen Strauß Blumen – rote Nelken. 238
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Anmerkungen 1 Jürgen Weber, Das Narrenschiff. Kunst ohne Kompass, München 1994, S. 262. 2 Das Ratsportal war 1978 von der Stadt Göttingen in Auftrag gegeben worden. Im Jahr zuvor hatte Jürgen Weber bereits den Auftrag für einen Vorentwurf erhalten. 3 Siehe hierzu Marika Przybillas Beitrag in diesem Band. 4 Claus Leggewie/Eckhard Stengel/Ulrike Lenz, Von Türen und Toren oder: Wie kritisch darf Kunst am Bau sein? Der Streit ums Göttinger Ratsportal, Göttingen 1984, S. 29. 5 Ursula Ermisch, »Historische Beckmesserei«… Betr.: SPD gegen Gutachterauftrag, in: Göttinger Tageblatt, 27.07.1983. 6 Amber Sayah, Wiltenstein: »Ich bin über dieses Portal beglückt«. Kunst im Rathaus brachte nicht die rechte Erleuchtung, in: Göttinger Tageblatt, 02.06.1983. 7 Eckhard Stengel, Krach im Rathaus um Kommentare des Bildhauers, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 23.07.1983. 8 Amber Sayah, Skandal oder nicht? Das ist hier die Frage, in: Göttinger Tageblatt, 01.06.1983. 9 StAG, Dep. 18, Nr. 185. Achim Block, Brief an Rudolf Vierhaus, Fragen der CDU-Fraktion zu den Texten am Göttinger Ratsportal. 10 StAG, Dep. 18, Nr. 185. Hans Patze, Bemerkungen zu Jürgen Webers Texten auf seinen Türen für den Göttinger Ratssaal, S. i–iv, Zitat S. 1. 11 Ebd., S. 4. 12 Ebd., S. 8. 13 Ebd., S. 6. 14 Ebd., S. 8. 15 StAG, Dep. 18, Nr. 185. Werner Flock, betr.: Das neue Bronzeportal im Göttinger Rathaus, Brief an den Göttinger Geschichtsverein. Kopie an Rudolf Vierhaus, S. 2. 16 StAG, Dep. 18, Nr. 185. Walter Nissen, Die erläuternden Texte am neuen Ratsportal, Bemerkungen zum Ratsportal von Walter Nissen – gesendet an Rudolf Vierhaus, S. 3. 17 Walter Nissen, Keine Korrektur gelesen? Betr.: Diskussion um Ratsportal (Leserbrief), in: Göttinger Tageblatt, 09.06.1983. 18 Zit. nach Stengel. 19 Weber, S. 251. 20 StAG, Dep. 18, Nr. 185. Hermann Heimpel, Brief an Rudolf Vierhaus. 21 Vgl. Weber, S. 259 f. 22 O. V. (Kürzel: wi), SPD: Gutachterauftrag der CDU geht ins Leere, in: Göttinger Tageblatt, 11.07.1983. 23 Leggewie/Stengel/Lenz, S. 9. 24 Lutz Braunroth, Welch eine anmassende Behauptung… Betr.: Göttinger Schützenfest und Ratsportal (Leserbrief), in: Göttinger Tageblatt, 27.07.1983. Der Streit um das Ratssaalportal von Jürgen Weber
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25 Amber Sayah, Chutes »Che« for Göttingen: Chekrönt oder chanz schlicht?, in: Göttinger Tageblatt, 10.05.1983. 26 Vgl. o. V. (Kürzel: luk), Politisch umstritten: 17. Juni und Gedenktafel, in: Göttinger Tageblatt, 16.06.1983. 27 Vgl. o. V. (Kürzel: kri), Rinck: Empfang zum SPD-Geburtstag, in: Göttinger Tageblatt, 26.05.1983. 28 StAG, Dep. 18, Nr. 185. Rudolf Vierhaus, Brief an Dr. Rainer Kallmann, S. 1. 29 Christian Starck, Persönliches Interview, geführt vom Verfasser, Göttingen 2015. 30 StAG, Dep. 18, Nr. 185. Rudolf Vierhaus/Christian Starck/Karl-Heinz Manegold, Stellungnahme zu den Texten der Göttinger Rathaussaal-Tür, S. 1. 31 Ebd., S. 10. 32 Ebd., S. 10 f. 33 Eckhard Stengel, »Das haben Sie heimlich wieder geändert«, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 02.12.1983. 34 Starck, Persönliches Interview. 35 Weber, S. 262. 36 StAG, Dep. 18, Nr. 185. Edith Scheithauer, CDU-Ratsfraktion, an Rudolf Vierhaus, korrigierte Fassung der Textvorlage zur Ratssaaltür. 37 Stengel, »Das haben Sie heimlich wieder geändert«. 38 Weber, S. 270. 39 Bernd Nellessen, Die unheilige Allianz, in: Göttinger Tageblatt, 04.06. 1983. 40 Stengel, Krach im Rathaus. 41 Leggewie/Stengel/Lenz, S. 58. 42 Ebd. 43 Ebd., S. 62. 44 Weber, S. 264. 45 Vgl. ebd. 46 Vgl. ebd., S. 265 ff. 47 Vgl. ebd., S. 269.
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Der letzte Oberschlesier Der Nationalist und Revanchist Christian Stoll (1985) von Florian Finkbeiner
In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland spielten die Vertriebenenverbände eine wichtige Rolle. Sie waren ihrem Selbstverständnis nach als Organisationen der deutschen Vertreibungsopfer eine politische Kraft, die gerade in der Nachkriegszeit erheblichen Einfluss ausüben konnte. Sie versuchten parteipolitisch zuerst in Form des »Blocks der Heimatvertriebenen und Entrechteten« (BHE), ab den 1960er Jahren vor allem innerhalb der CDU/ CSU, den (west)deutschen Opfer- und den Oder-Neiße-Diskurs in ihrem Sinne zu beeinflussen. Ab den 1970er Jahren verloren die Vertriebenenverbände gesamtgesellschaftlich zunehmend an Bedeutung. Das politische Klima wandelte sich langsam, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze fand immer mehr Befürworter – oder rief zumindest immer weniger offenen Widerspruch hervor. Doch freilich bedeutete diese Entwicklung nicht, dass nationalistische und revanchistische Positionen in der Gesellschaft nicht weiterhin erheblich verbreitet gewesen wären. Gerade die 1980er Jahre stehen für das Jahrzehnt, in dem sich das Selbstverständnis der Bundesrepublik im Hinblick auf ihre Geschichte und Gegenwart im Wandel befand. Die Republik war auf der Suche nach ihrer nationalen Identität.1 Zu den Vertriebenenfunktionären gehörte Mitte der 1980er Jahre Christian Stoll. Er wurde 1933 in Böhmerswalde im Kreis Gleiwitz in Oberschlesien geboren und studierte von 1956 bis 1959 Rechtswissenschaft an der Universität Posen. Da er »wegen deutscher Haltung verfolgt und relegiert«2 worden sei, ging er 1959 nach Hamburg, wo er sein Jurastudium fortsetzte. Nach eigener Aussage habe seine eigene Lebensgeschichte dazu geführt, dass er sich mit Fragen des Völkerrechts und insbesondere der deutschen Minderheiten im europäischen Ausland nach 1945 befasst habe. Stoll schloss sein Studium mit einer Dissertation über »Die Rechtsstellung der Der Nationalist und Revanchist Christian Stoll
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deutschen Staatsangehörigen in den polnisch verwalteten Gebieten«3 ab. Danach war er kurzzeitig wissenschaftlicher Referent im Gesamtdeutschen Ausschuss in Bonn und ab 1969 Richter, u. a. in Hildesheim. Darüber hinaus war Stoll Mitarbeiter in mehreren schlesischen Stiftungen, Vorstandsmitglied des Landesverbandes Niedersachsen des Bundes der Vertriebenen und seit 1984 Vorsitzender der Landsmannschaft der Oberschlesier in Niedersachsen. 1979 erhielt er den Förderpreis des Oberschlesischen Kulturpreises, der durch das Land Nordrhein-Westfalen verliehen wird.4 Am 23. März 1985 hielt Stoll in Göttingen eine Rede auf einer Veranstaltung der Schlesischen und Oberschlesischen Landsmannschaften. Darin ging es unter dem Titel »Schlesien bleibt unser!« im Kern um zwei Punkte: Zum einen stellte Stoll die Lebensumstände und die »Passion des oberschlesischen Volkes« dar, welches seiner Heimat und Kultur beraubt würde, wie der biblische Ausdruck der »Passion« als Leidensweg schon nahelegt. Zum anderen kritisierte er die fehlende Sensibilität in Westdeutschland für die Belange der in Polen lebenden Deutschen. Mehr noch: Stoll prangerte den damit verbundenen fehlenden Nationalstolz an, denn »[i]n bestimmten Kreisen« herrsche »hierzulande ein hochgradiger Masochismus« und finde »jede Niedrigkeit Beifall, wenn sie nur gegen die Interessen unseres Volkes gerichtet ist.« Noch nie habe »sich auf deutschem Boden in deutscher Zunge ein derartiger Deutschenhaß austoben können wie heutzutage, und das angeblich im Namen der Stärkung eines kritischen Staats- und Demokratieverständnisses«5. Darüber hinaus kritisierte Stoll die internationale Gemeinschaft, die Deutschland das »Selbstbestimmungsrecht verweigert, es geteilt hält und amputieren will«, während von innen her Kräfte walten, die »sich als Gralshüter der Demokratie aufwerfen, in Wirklichkeit aber im Geiste einer Knechtsseligkeit als Berufsbesiegte ihren Nutzen ziehen«. Er beklagte, dass in Deutschland ein Missverhältnis herrsche: Man setze sich »mit Leidenschaft für das Selbstbestimmungsrecht eines Negerstammes [sic!] ein und verdammt die gleichen Forderungen für das deutsche Volk«. Die »Enge unseres Raumes zwingt uns, unser Land mehr und mehr zu einer Asphalt-, Beton- und Produktionswüste zu machen, in deren Hast und Gedrängtheit ein Volk nicht auf weite Sicht körperlich und geistig gesund bleiben kann«. Die Deutschen seien ein »Volk ohne Raum«. 242
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Deutschlandtreffen der Schlesier am 14., 15. und 16. Juni 1985 in Hannover. Bei der Schlusskundgebung am 16. Juni 1985 mit Bundeskanzler Helmut Kohl hält ein Kundgebungsteilnehmer das Schild »SCHLESIEN ist DEUTSCH!« hoch.
Doch den »nötigen Lebensraum« gebe es im »menschenarmen deutschen Osten«. Diese Gebiete brauche seiner Ansicht nach das deutsche Volk, »allein um schon die steigende Flut der Asylanten und zu uns überlaufenden Polen unterbringen zu können«6. Für Stoll könne das »deutsche Volk« also nur überleben, wenn es zu seinem Nationalstolz zurückfinde und die Ostgebiete – in den Grenzen von 1937 – zu Deutschland zurückkommen würden. Wer dafür nicht eintrete, der begehe »Verrat am eigenen Volk«7. Er beendete seine Rede mit dem Ausruf »Wir wollen Schlesien wiederhaben!«, denn »Schlesien und die anderen ostdeutschen Gebiete sind nach deutschem Verfassungsrecht und Völkerrecht nach wie vor integrale Bestandteile des nicht untergegangenen Deutschen Reiches [sic!]«. Und er fuhr fort: »Wir werden aber auf Ostdeutschland, unsere Heimat und Volksboden nicht verzichten. Wir verzichten gerne auf Brandt, Vogel und auch auf Kohl, nicht aber auf Schlesien!«8 Doch wer nun nach dieser nationalistischen und revanchistischen Rede eine allgemeine Empörung vermutet, überschätzt die Der Nationalist und Revanchist Christian Stoll
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demokratische und kritische Öffentlichkeit jener Zeit. Stoll hatte sich schon zuvor in ähnlicher Weise geäußert, so z. B. 1982 in Dorsten, als er die »hemmungslose Verketzerung aller nationalen Werte und Tugenden« kritisierte und die schlesischen Zuhörer warnte: »Uns Deutschen droht auch im Biologischen der Verlust der nationalen Identität. Der Geburtenrückgang in der Bundesrepublik ist am stärksten in der ganzen Welt geworden, d. h. wir Deutschen sterben langsam aus. Während jährlich Hunderttausende deutscher Kinder durch Abtreibung auf Krankenschein getötet werden, will man immer mehr ausländische Kinder nachkommen und weitere Ausländer einströmen lassen.«9 Die Rede selbst scheint in Göttingen keine – oder vorsichtiger: kaum – Entrüstung ausgelöst zu haben. Es findet sich in den Zeitungen nach dem Vortrag nur ein kleiner Artikel dazu. Darin heißt es unkommentiert, dass Stoll gesagt habe: »Wer Ostverträge als Anerkennung bestehender Grenzen hinstellt, begeht Verrat«.10 Auch in den Tagen danach finden sich keine Artikel, Meldungen oder Leserbriefe, die sich dazu äußern. Von daher kann schwerlich davon gesprochen werden, dass diese Rede Empörung auslöste. Stolls Rede blieb sonst weitgehend unbekannt und ohne Aufregung. Doch die CDU-nahe Schüler-Union (SU) Göttingen machte die Rede vom März 1985 mit seiner Einwilligung im August des Jahres öffentlich – sie druckte sie in ihrer Zeitung ab. Im Vorwort der Ausgabe dankte die Redaktion Stoll, dass er »seinen hervorragenden Redetext zur Verfügung stellte«. Was darauf folgte, war ein politisches Drama in mehreren zähen und mühseligen Akten darüber, welches Maß an nationalistischen Äußerungen wie weit vertretbar – und gesellschaftlich anschlussfähig – war. Nach der Veröffentlichung in der SU-Zeitung hieß es im Göttinger Tageblatt nur kurz, dass der damalige rechtspolitische Sprecher der Grünen-Fraktion im Niedersächsischen Landtag, Jürgen Trittin, wegen der »umstrittenen Rede«, die seiner Ansicht nach »reinste Nazi-Propaganda« sei, eine Anfrage an die Landesregierung richten werde.11 Als erste Reaktion darauf schloss der Landesvorstand der SU den Göttinger Kreisvorsitzenden wegen »rechtsextremer Tendenzen« aus dem Verband aus. Auch die CDU distanzierte sich von dem Vorgang. Dies verwundert umso mehr, als Stoll selbst CDU-Mitglied war, die Göttinger CDU-Kreisvorsitzende selbst bei der Rede anwesend ge244
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wesen sei und »lebhaft Beifall« geklatscht habe, wie Stoll später berichtete.12 Allerdings hatte die Affäre für Stoll selbst keine direkten Konsequenzen. Der Präsident des Landgerichts Hildesheim, Hans-Georg Salge (CDU), sah sich gezwungen, als Stolls Vorgesetzter dessen Rede zu prüfen. Doch er habe »keinen Anlaß zu Maßnahmen der Dienstaufsicht« erkennen können. Er habe lediglich einen »Vorhalt« geäußert, dass Richter Stoll sich mit Äußerungen in der Öffentlichkeit künftig etwas mehr zurückhalten solle.13 Ende September 1985 fragte Jürgen Trittin die Landesregierung, ob sie seine Ansicht teile, dass die Äußerungen des Richters »revanchistische Züge« trügen.14 Und sein Abgeordnetenkollege Werner Holtfort (SPD) fragte nach möglichen Disziplinarmaßnahmen.15 Justizminister Walter Remmers (CDU) antwortete auf beide Anfragen, dass ihn die Äußerungen des Richters zwar auch an »nationalsozialistische Propaganda« erinnern würden, er die Äußerungen aber für vereinbar halte mit der Mäßigungspflicht von Richtern bei politischer Betätigung. Daher müssten die Äußerungen Stolls erst noch einmal geprüft werden.16 Besagte Prüfung wurde im August 1986 ohne Ergebnis eingestellt, oder besser gesagt: ohne Konsequenzen. Es folgten keine Disziplinarmaßnahmen, und Stoll konnte weiterhin seinen Tätigkeiten nachgehen. Bereits am 27. September 1986 trat er in Burgdorf beim »Tag der Heimat« vom Bund der Vertriebenen auf. Dort kritisierte er öffentlich Bundespräsident Richard von Weizsäcker und dessen Rede am 8. Mai 1985, in der dieser von einem »Tag der Befreiung« gesprochen hatte. Stoll sprach in diesem Zusammenhang von »Deutschen, die geistig ins Feindlager übergelaufen sind und von verschiedenen Positionen im Inland her gegen das eigene Volk agieren«.17 Es waren auch hier wieder Trittin und Holtfort, die die Äußerungen aufgriffen und politisch behandelt wissen wollten.18 Daraufhin folgte erneut eine Prüfung, die lediglich zu einem Verweis führte.19 Doch dieser wurde kurze Zeit später vom Präsidenten des Oberlandesgerichts Celle, Hans-Harald Franzki, aufgehoben. Als Begründung hieß es, Stoll habe inzwischen eine »befriedigende Erklärung« abgegeben, dass er sich möglicherweise »mißverständlich ausgedrückt« habe.20 Es folgten erneut Anfragen von Trittin und Holtfort, die dieses Prozedere kritisierten. Aber Remmers sah den Fall Stoll als rechtsbeständig abgeschlossen an.21 Durch den Der Nationalist und Revanchist Christian Stoll
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langsam wachsenden öffentlichen Druck sorgte Remmers kurze Zeit später dafür, dass die Entscheidung des OLG -Präsidenten korrigiert wurde und Stoll nun doch einen Verweis erhielt.22 Gleichwohl hielt Stoll am 14. August 1988 in Hildesheim erneut eine Rede. Darin sprach er sich für die »Rückgewinnung urdeutscher Gebiete, die unsere angestammte Heimat sind«, aus und beendete seinen Vortrag mit: »Noch ist Deutschland nicht verloren«.23 Auf erneute Anfrage von Trittin bezüglich »nationalsozialistischer Propaganda« erwiderte Remmers, dass Stoll sich lediglich für eine »Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937« ausspreche. Dagegen seien »Begriffe, die an nationalsozialistische Propaganda erinnern«, nicht verwendet worden. Auf die Frage, ob die Landesregierung eine »offenbar ge wordene Kontinuität in den Aussagen des Richters« erkenne, hieß es, dass man diese Ansicht nicht teilen könne. Daher sehe er keinen Verstoß gegen das Mäßigungsgebot für Richter, so Remmers.24 Es könnten an dieser Stelle weitere Beispiele angeführt werden. Doch hervorzuheben sind vor allem zwei Dinge: Erstens verschärfte sich die Rhetorik von Stoll gegen Ende der 1980er Jahre zusehends. Vor dem Hintergrund der damals immer wahrscheinlicher werdenden Wiedervereinigung, was eine endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze bedeutete, wählte Stoll immer radikalere Worte, um seinen Positionen Gehör zu verschaffen. Ende der 1980er Jahre sprach er von »Volksverhetzung«25, vom »Haß gegenüber allem Deutschen«26, dass »[d]er ›Makel‹ des Deutschtums […] fortwährend Ursache von Drangsalierung und Demütigung«27 sei und vor allem prangerte er die vermeintliche Geschichtsverdrehung an. Denn die »Deutschen haben nicht das Vorrecht, die Verbrecher der Menschheit zu sein«28. Die Ereignisse um Stoll verdeutlichen zweitens vor allem das politische Klima der 1980er Jahre und die Auslegung der Mäßigungspflicht von Richtern. Denn bei den vielen Anfragen, die fast schon regelmäßig von Trittin und Holtfort bezüglich Stoll gestellt wurden, sah die Regierung nie einen Verstoß in dessen Aussagen und auch keine »Relativierung nationalsozialistischer Verbrechen«.29 Nach der Wiedervereinigung 1990 änderten sich die Rahmenbe dingungen. Die Kohl-Regierung erkannte die Oder-Neiße-Grenze an, die immerwährenden Hoffnungen der Vertriebenenverbände auf eine Wiederangliederung der schlesischen Gebiete waren Ge246
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schichte. In Niedersachsen, wo es im Juni 1990 zum rot-grünen Regierungswechsel gekommen war, rollte vor allem die neue Justizministerin Heidrun Alm-Merk (SPD) den Fall Stoll neu auf, da dieser weiterhin auf Vorträgen Schlesien zurückforderte. Doch nun wurde ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet, was 1993 zu einem erneuten Verweis führte.30 Nach diesem Verweis und weiteren »rechtsradikalen Äußerungen«31 wurde von der CDU ein Parteiausschlussverfahren gegen den »Berufsschlesier« eingeleitet. Diesem entging er, indem er kurze Zeit vorher aus der Partei austrat. Danach wurde es still um Stoll. Das Fernsehmagazin Panorama berichtete 1998 über Veranstaltungen des Bundes der Vertriebenen und deren Verbindungen zum rechtsradikalen Milieu. Dabei ging es auch um eine Veranstaltung im Jahr 1996, die hauptsächlich von »Rechtsextremen« besucht gewesen sei. Referent war Christian Stoll, der seine geistige Heimat seitdem offensichtlich endgültig im Milieu der extremen Rechten gefunden hat.32 War dieses Intermezzo völkisch-nationalistischer Attitüde nun ein Skandal, oder was ist daran im eigentlichen Wortsinne skandalös? Laut Thomas Ramge ist ein politischer Skandal ein »demokratisches Ritual der Selbstreinigung«. Mit der »Bestrafung der Schuldigen versichert sich die Demokratie, dass sie funktioniert, getreu dem Motto: Bei uns fliegen Schweinereien auf und werden geahndet«.33 Ein politischer Skandal ist ein soziales Ereignis, bei dem man sich mit einem sozial signifikanten, kontextual gebundenen und öffentlich-politischen »Ärgernis« auseinandersetzt. Dabei geht es vor allem um den Geltungsanspruch von Normen, die durch den Skandal als »verletzt« definiert werden.34 Wenn also einem Ereignis oder einer gewissen Affäre kein Skandal folgt, wird demensprechend nichts als empörenswert empfunden. Folglich wurden die Spielregeln und Normen nicht verletzt. Das Ausbleiben eines – retrospektiv betrachtet – skandalwürdigen Vorfalls erzählt also einiges über die Normen und die politische Kultur des jeweiligen Zeitraums. Skandale, bzw. eben das Ausbleiben eines solchen, sind in gewisser Weise Seismografen des politischen Klimas. Insofern steht die Nicht-Affäre Stoll symptomatisch für die geistig-politische Situation der Bundesrepublik (nicht nur) der 1980er Jahre – zwischen Aufarbeitung der Vergangenheit und der Suche nach »deutscher Identität«.35 Der Nationalist und Revanchist Christian Stoll
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Anmerkungen 1 Vgl. Etta Grotrian, Identität und Orientierung. Geschichtsdebatten in den 1980er Jahren, in: INDES. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 3 (2014), H. 1, S. 27–34; Anna Jakubowska, Der Bund der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland und Polen (1957–2004). Selbst- und Fremddarstellung eines Vertriebenenverbandes, Marburg 2012. 2 Christian Th. Stoll, Die Deutschen im polnischen Herrschaftsbereich nach 1945, Wien 1986, S. 142 f. 3 Christian Th. Stoll, Die Rechtsstellung der deutschen Staatsangehörigen in den polnisch verwalteten Gebieten. Zur Integration der sogenannten Autochthonen in die polnische Nation, Frankfurt am Main/Berlin 1968. 4 Vgl. Klaus Hildebrandt, Geburtstagsglückwunsche, in: Schlesischer Kulturspiegel, Jg. 48 (2013), H. 1, S. 8, online einsehbar unter http://www.kulturwerk-schlesien.de/m_4164 [eingesehen am 21.04.2015]; Eckhard Stengel, Der Urdeutsche. Die nationale Biologie des Richters Christian Stoll, in: Jürgen Hogrefe/Eckard Spoo (Hg.), Niedersächsische Skandalchronik: von Albrecht bis Vajen, Göttingen 1990, S. 182–185, hier S. 182. 5 Christian Stoll, Schlesien bleibt unser! Hintergründe und Gegenwartsbezug, in: SU-Feder. Zeitung der Schüler-Union Göttingen, Jg. 2 (1985), H. 2, S. 7–13, hier S. 9. 6 Ebd., S. 10. 7 Ebd., S. 12. 8 Ebd., S. 13. 9 Zit. nach Stengel, S. 182; Ulrich Vultejus, Ein Ober-Schlesier: Richter Dr. Stoll, in: Vorgänge, Nr. 78 (1985), H. 6, S. 11–13, hier S. 11. 10 Zit. nach o. V., Schlesier: »Wer Ostverträge als Anerkennung bestehender Grenzen hinstellt, begeht Verrat«, in: Göttinger Tageblatt, 27.03.1985. 11 O. V., Rede des Hildesheimer Amtsrichters Stoll: Grüne richten Kleine Anfrage an das Land, in: Göttinger Tageblatt, 20.08.1985. 12 Zit. nach Stengel, S. 183. 13 Zit. nach ebd., S. 184. Vgl. auch Mdl. Anfr. Dr. Holtfort (SPD) vom 25.09.1985, Drs. 10/4854/13. 14 Mdl. Anfr. Trittin (Grüne) vom 25.09.1985, Drs. 10/4854/9. 15 Vgl. Mdl. Anfr. Dr. Holtfort (SPD) vom 25.09.1985, Drs. 10/4854/13. 16 Antw. vom 04.10.1985, PIPr. 10/91 S. 8696 u. S. 8699. 17 Zit. nach Mdl. Anfr. Trittin vom 05.11.1986, Drs. 11/266 S. 9. 18 Vgl. Mdl. Anfr. Trittin vom 05.11.1986, Drs. 11/266 S. 9; Mdl. Anfr. Dr. Holtfort (SPD) vom 14.10.1986, Drs. 11/239. 19 Vgl. Antw. vom 13.11.1986, PIPr. 11/8 S. 695; Antw. vom 04.12.1986, Drs. 11/413. 20 Zit. nach Stengel, S. 185. 21 Vgl. Mdl. Anfr. Holtfort (SPD) vom 11.02.1988, Drs. 11/2137; Antw. vom 20.04.1988, Drs. 11/2461. 22 Vgl. Stengel, S. 185.
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Zit. nach Mdl. Anfr. Trittin (Grüne) vom 16.08.1988, Drs. 11/2848. Ebd.; Antw. vom 12.10.1988, Drs. 11/3108. Zit. nach Mdl. Anfr. Trittin (Grüne), 07.05.1990, Drs. 11/5243. Christian Th. Stoll, Wenn die Heimat zur Fremde wird, in: Das Ost preußenblatt, Jg. 40 (1989), F. 14, S. 20. Ebd. Zit. nach Mdl. Anfr. Trittin (Grüne), 07.05.1990, Drs. 11/5243. Antw. vom 12.06.1990, Drs. 11/5298. Vgl. o. V., Druck auf kritischen Amtsrichter, in: Das Ostpreußenblatt, Jg. 44 (1993), F. 4, S. 4. Panorama, Ahnungslose Beamte – Steuergelder für Rechtsradikale, 05.02.1998, online einsehbar unter https://daserste.ndr.de/panorama/ archiv/1998/erste7080.html [eingesehen am 15.04.2015]. Ebd. Zu einem ähnlichen Urteil kamen auch Stengel, S. 185, und Vultejus, S. 11. Thomas Ramge, Vorwort, in: ders., Die großen Polit-Skandale. Eine andere Geschichte der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 2003, S. 7–10, hier S. 7 f. Vgl. auch Rolf Ebbighausen/Sighard Neckel, Einleitung, in: dies. (Hg.), Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 1989, S. 7–14, hier S. 10. Dirk Käsler u. a., Der politische Skandal. Zur symbolischen und dramaturgischen Qualität von Politik, Opladen 1991, S. 13. Vgl. Reinhard Kühnl (Hg.), Vergangenheit, die nicht vergeht. Die »Historiker-Debatte«. Dokumentation, Darstellung und Kritik, Köln 1987.
Der Nationalist und Revanchist Christian Stoll
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»Göttingen, Bullenstadt, wir haben dich zum Kotzen satt.« Die JuZI-Razzia vom Dezember 1986 und ihre Folgen von Christoph Hoeft und Jonas Rugenstein
In den Räumen des Jugendzentrums Innenstadt (JuZI) war die Stimmung am Abend des 1. Dezember 1986 aufgeheizt. Über vierhundert junge Leute drängten sich hier zusammen, um über die Räumung dreier besetzter Häuser am Vormittag zu diskutieren, als gegen 20:30 Uhr Blaulicht durch die Fenster flackerte. Innerhalb weniger Minuten war das Gebäude von PolizistInnen umstellt. Was dann folgte, sollte als »Göttinger Kessel« in die Annalen der Stadtgeschichte eingehen und warf etliche Fragen auf. Zeigte sich hier der von vielen Linken befürchtete repressive Polizeistaat, oder handelte es sich um den lange überfälligen legitimen Versuch, endlich wieder Ruhe und Ordnung in der kleinen Universitätsstadt herzustellen? Diese Fragen beschäftigten BürgerInnen, linke AktivistInnen, Politik, Polizei und Gerichte noch Jahre später. Doch der Reihe nach.1
Die Vorgeschichte: Häuserkampf in Göttingen Göttingen hatte sich bereits Ende der 1970er Jahre zu einem Zentrum der linken Hausbesetzerszene entwickelt.2 Hier, wo die Wohnungsnot im Angesicht von beinahe 30.000 Studierenden besonders spürbar war, kam es auch in den Folgejahren immer wieder zu Besetzungen, die auch regelmäßig kleinere und größere Erfolge verbuchen konnten. Die BesetzerInnen kritisierten dabei insbesondere den oftmals bewusst herbeigeführten Leerstand, durch den sich die HausbesitzerInnen größere Renditen erhofften. Daneben spielte aber auch der Wunsch nach einem selbstbestimmteren Leben, nach alternativen Formen des Zusammenlebens und 250
Christoph Hoeft und Jonas Rugenstein
nach Freiräumen für Politik, Kultur und Kollektivität eine wichtige Rolle. »Die Lebensbedingungen in solchen Silos [gemeint sind reine Wohnviertel an den Rändern der Stadt, Anm. d. V.] dienen der sozialen Kontrolle und sollen die Menschen dort in isolierter, entfremdeter Umgebung mit einem auf Arbeit-Konsum-Freizeit reduzierten Leben befrieden. Härter arbeiten – bunter kaufen – schöner wohnen – schneller ficken. So wollen sie uns haben. Nicht mit uns! Diese Massenmenschenhaltung machen wir nicht mit.«3 Nach und nach war Göttingen u. a. durch die Hausbesetzungen zu einer Hochburg der linken Szene in Niedersachsen geworden, in der auch das damals relativ neue Phänomen der Autonomen eine wichtige Rolle spielte. Der Spiegel stellte dazu fest: »Wann und wo immer in der Republik protestiert wird, ob in Brokdorf oder Gorleben, in Wackersdorf oder der Hamburger Hafenstraße – in Göttingen gibt es ein schrilles Echo.«4 Dabei waren es vor allem die militanten Auftritte des Schwarzen Blocks, die für Entrüstungen sorgten. Sogenannte Scherbendemos, bei denen reihenweise Schaufenster in der Innenstadt eingeschlagen wurden, machten die Stadt bundesweit bekannt. Mitte der 1980er Jahre nahmen die Konflikte in Göttingen wieder zu.5 1986 kam es innerhalb weniger Monate gleich mehrfach zu vielbeachteten Eskalationen: Anlässlich des Besuchs von Bundeskanzler Helmut Kohl am 20. November demonstrierten Tausende z. T. gewalttätig in der Innenstadt, am 22. November gab es nach Auseinandersetzungen in der Hamburger Hafenstraße wieder eine der berüchtigten Scherbendemos, ohne dass die Polizei die Ausschreitungen verhindern konnte. Die Bild-Zeitung titelte am 24. November 1986: »Göttingen: Chaoten verwüsten Innenstadt – Polizei war nicht da.« In der Folge wurde von Göttinger Polizeivertretern nicht nur über einen möglichen Schusswaffengebrauch auf zukünftigen Demonstrationen spekuliert, sondern es wuchs der Druck auf die linke Szene, sich deutlicher von den militanten Teilen zu distanzieren. Immer wieder wurde angemerkt, dass die TäterInnen ungehindert auf Unipartys oder im JuZI untertauchen könnten, um so im Schutze der Masse zu verschwinden. Im November kam es außerdem zu gleich mehreren Besetzungen: Im Schiefer Weg 29 war ein städtisches Haus, das ursprünglich abgerissen werden sollte, »instandbesetzt« worden, auch in der Burgstraße 7 und am Theaterplatz 7 wurden leerstehende Häuser Die JuZI-Razzia und ihre Folgen
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wieder bewohnbar gemacht. Von vornherein war es den BesetzerInnen ein Anliegen, die Häuser offen für möglichst viele Gruppen zu halten; regelmäßige Vollversammlungen und die Einrichtung eines Cafés sollten sie zu neuen Treffpunkten umfunktionieren. Am Morgen des 1. Dezember war es damit vorbei: Alle drei Häuser wurden von der Polizei geräumt, die angetroffenen BesetzerInnen verhaftet und die Wohnungen z. T. durch das Herausreißen von Treppen, sanitären Einrichtungen und Kabeln unbrauchbar gemacht. Die rasch mobilisierten Personen, die die BesetzerInnen unterstützen wollten, wurden immer wieder durch den Einsatz von Schlagstöcken und Reizgas zurückgedrängt und formierten sich schließlich zu einer spontanen Demonstration, die aus der Stadt auf den Campus zog, wo einer der Hausbesitzer eine Arztpraxis betrieb. In der Folge kam es auch in der Mensa wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, die abermals Reizgas einsetzte. Die Demonstrierenden zogen sich daher in einen Hörsaal zurück und verabredeten, sich abends im Ju ZI zu versammeln, um das weitere Vorgehen und mögliche Reaktionen auf die Räumungen zu diskutieren.
Das Ereignis: Die Razzia im JuZI Diesem Aufruf, der auch über Wandzeitungen in der Stadt verbreitet wurde, folgten am Abend des 1. Dezember über vierhundert Menschen. Aufgrund des enormen Andrangs musste die Versammlung auf zwei Etagen aufgeteilt werden. Gegen 20:45 Uhr verschafften sich PolizistInnen, die aus ganz Niedersachsen und Berlin zusammengezogen worden waren, Zutritt zum JuZI und stürmten die Versammlungen. Augenzeugen berichteten von teilweise brutalem Vorgehen und panikartigen Reaktionen der VersammlungsteilnehmerInnen. Alle Anwesenden wurden im Gebäude festgesetzt, um einzeln und nacheinander einer erkennungsdienstlichen Behandlung unterzogen zu werden. Insgesamt 414 Personen wurden dabei namentlich erfasst, durchsucht und fotografiert. Viele der TeilnehmerInnen beschwerten sich anschließend über das brutale Vorgehen der Polizei, die etwaigen Widerstand gegen die Maßnahmen mit Tritten und Schlägen beantwortet habe. Erst nach der polizeilichen Erfassung durften die 252
Christoph Hoeft und Jonas Rugenstein
Die Stürmung des JuZI am 1. Dezember 1986.
VersammlungsteilnehmerInnen einzeln das JuZI verlassen, was sich bis tief in die Nacht hinzog. Seelsorger und Anwälte wurden erst nach längeren Diskussionen in das JuZI gelassen, eine protestierende Menschenmenge vor dem Gebäude wurde immer wieder zerstreut. Das Vorgehen der Polizei war am Nachmittag durch zwei richterliche Beschlüsse vorbereitet worden: Demnach wurde zum einen eine Durchsuchung des Gebäudes angeordnet, weil die Polizei den Betrieb eines illegalen Störsenders, mit dem der Funkverkehr der Streifenwagen behindert werde, im Jugendzentrum vermutete; zum anderen sollte eine Razzia durchgeführt werden. Dies geschah auf Grundlage des Paragrafen 12 des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung, wonach die Polizei die Personalien von denjenigen Personen feststellen darf, die sich an einem Ort aufhalten, »von dem aufgrund tatsächlicher Anhaltspunkte erfahrungsgemäß anzunehmen ist, daß dort Personen Straftaten verabreden, vorbereiten oder verüben.« Mit Blick auf die Scherbendemo vom 22. November argumentierte die Polizei, dass davon auszugehen sei, dass Tatverdächtige von dieser Demonstration auch an dem Treffen am 1. Dezember teilgenommen hätten. Überdies wies der Göttinger Polizeichef Lothar Will Die JuZI-Razzia und ihre Folgen
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darauf hin, dass es Gerüchte gegeben hätte, nach denen die Szene angekündigt habe, »die Polizei bis Weihnachten in Atem zu halten.« Auf einem Flugblatt des Linken Bündnisses wurde zu dieser Begründung der eigentlich erforderlichen »tatsächlichen Anhaltspunkte« nur festgestellt: »Schließlich läßt sich natürlich jederzeit und überall irgendjemand herbeizitieren, der die Polizei sogar bis Ostern in Atem halten will.«6 Allerdings war man sich auch sicher, dass das Gesetz ohnehin absichtlich so formuliert sei, »daß die Polizei eben auch mit völlig fadenscheinigen und aus der Luft gegriffenen Begründungen jederzeit […] zuschlagen kann.«7 Daher stand für die Szene schnell und unstrittig fest, dass es nur darum gegangen sei, einen Einblick in Zusammensetzung und Struktur der AktivistInnen zu bekommen. Zudem sei es der Polizei darum gegangen, unmissverständlich zu zeigen, wer in der Stadt das Gewaltmonopol besitze. »Das Versammlungsund Demonstrationsrecht soll so weit beschnitten und verstümmelt werden, daß es vielen Menschen als Wagnis erscheint, sich für ihre Interessen einzusetzen. Der Polizeistaat soll übermächtig erscheinen.«8 Auf diese Weise solle die Hemmschwelle, sich an politischen Aktionen zu beteiligen, möglichst hoch gesetzt werden: »Ziel all dieser Repressalien ist, überall dort, wo Menschen sich zur Wehr setzen, einzuschüchtern, zu kriminalisieren und die Protestierenden von der Masse der Bevölkerung zu isolieren.«9 Dabei, so die Argumentation der Szene weiter, gehe es der Polizei darum, nicht mehr nur die Teilnahme an Demonstrationen und Aktionen zu kriminalisieren, sondern bereits die Absprachen, die Diskussionen und den Gedankenaustausch davor soweit es geht zu verhindern: »Also wird angegriffen, bevor überhaupt eine Aktion stattgefunden hat, wird im Vorfeld behindert, schikaniert, verhaftet und verprügelt, damit sich niemand oder nur wenige trauen, ihrem Protest Ausdruck zu verleihen. Den Gedanken bekämpfen, bevor er sich Bahn brechen kann – das ist die neue Polizeitaktik.«10 Auch wenn die linke Szene das Vorgehen skandalisierte, wirkliche Überraschung über das repressive Vorgehen wollte sich nicht einstellen: »Verwunderung und Erstaunen kann dies allerdings nur bei all jenen hervorrufen, die bis jetzt noch immer an die Grundsätze von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geglaubt haben.«11 Und so wurde die Demonstration der Staatsmacht schnell in einen eigentlichen Erfolg umgedeutet: »Wenn sie, wie in dieser 254
Christoph Hoeft und Jonas Rugenstein
Nacht, in SA-Manier auf und ab patrouillieren und mit ihren Hundeschutzstaffeln versuchen, Stärke zu demonstrieren, dann zeigt das nur, wie sehr ihnen jetzt schon der Arsch auf Grundeis geht.«12
Die Reaktionen: Aufruhr in der City Die Nachricht über die Razzia verbreitete sich in Windeseile in der ganzen Stadt und provozierte heftige Reaktionen. Schon am Folgetag, keine 24 Stunden nach dem Polizeieinsatz, zogen rund 4.000 Personen durch die Göttinger Innenstadt und skandierten lauthals »Göttingen, Bullenstadt, wir haben dich zum Kotzen satt«.13 Die von der Grün-Alternativen Liste (GAL) angemeldete Demonstration14 war zu diesem Zeitpunkt eine der größten Demonstrationen, die Göttingen seit langem erlebt hatte, und machte deutlich, dass die JuZI-BesucherInnen mit ihrer Kritik am Vorgehen der Polizei in Göttingen nicht alleine waren. In den Tagen nach der Razzia entwickelte sich in der Göttinger Öffentlichkeit, getragen von Parteien, Organisationen, Vereinen, aber auch einzelnen BürgerInnen, eine teils hitzig geführte Debatte darüber, wie die Ereignisse des 1. Dezember zu bewerten seien. Bereits unmittelbar nach der Razzia hatte Polizeichef Lothar Will den Einsatz mit den Worten »Wir wollten die Masse, die potentiell solche Straftaten begeht, mal aus der Anonymität herausreißen«15 unter Bezugnahme auf die gewalttätigen Demonstrationen zu legitimieren versucht. Rückendeckung erhielt er für sein Vorgehen neben der Kreisgruppe der Gewerkschaft der Polizei, der Göttinger CDU und einzelnen Landtagsabgeordneten auch vom Niedersächsischen Innenministerium, allen voran vom CDUInnenminister Wilfried Hasselmann persönlich, der angab, man habe mit dieser Aktion »die Strippenzieher in ihren Löchern aufspüren«16 wollen. Er war es auch, der das JuZI als die »Befehlszentrale der Gewaltakte«17 der Scherbendemonstrationen bezeichnete. Dem gegenüber standen zahlreiche Verbände, Parteien und auch Einzelpersonen, die das Vorgehen der Polizei als unverhältnismäßig bewerteten und sich auf die Seite der BesucherInnen der Veranstaltung im JuZI stellten. So kritisierte der sozialdemokratische Göttinger Oberbürgermeister Artur Levi das Vorgehen der Polizei unmittelbar nach den Ereignissen mit den Worten Die JuZI-Razzia und ihre Folgen
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»Polizeiaktionen haben noch nie Probleme gelöst, sondern immer nur neue geschaffen«18. Der SPD -Landtagsabgeordnete Werner Holtfort warnte gar vor der Entwicklung von einer »Gefahrenabwehrpolizei zu einer Vorbeugepolizei«19. Trotz einer grundsätzlichen Kritik an der Verhältnismäßigkeit der beim Einsatz angewendeten Mittel forderte die Göttinger SPD vom JuZI ein Bekenntnis zum Gewaltverzicht. Uneingeschränkt hinter dem JuZI standen dagegen die GAL in Göttingen und die niedersächsische Landtagsfraktion der Grünen. Angesichts der engen Beziehungen der Partei zu der Hausbesetzerszene verwundert es nicht, dass das Vorgehen der Polizei kritisiert und als eine »Kriegserklärung«20 bezeichnet wurde. Bemerkenswert ist dagegen, dass auch eine Reihe von Organisationen der Göttinger Zivilgesellschaft den Polizeieinsatz verurteilte. Dazu gehörten der Jugendring, die Lehrerinitiative für Frieden und Abrüstung21, die Regionalgruppe des republikani schen Anwaltsvereins, die Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen22, der DGB -Kreisverband23 und einige Göttinger Autoren im Verband deutscher Schriftsteller24. Allesamt also Organisationen, die der Hausbesetzerszene und dem JuZI vor der Razzia zwar nicht feindselig, aber wohl auch nicht immer uneingeschränkt positiv gegenübergestanden hatten. In den Leserbriefen, die in der Woche nach der Razzia beim Göttinger Tageblatt eingingen, wird deutlich, dass das Vorgehen der Polizei auch innerhalb der Göttinger Bürgerschaft nicht auf ungeteiltes Verständnis stieß, im Gegenteil. So schrieb die Redaktion der Lokalzeitung: »Der ganz überwiegende Teil der eingegangenen Leserbriefe zu Hausbesetzung und JuZI setzt sich kritisch mit dem Vorgehen der Polizei auseinander.«25 Die Sympathien der LeserbriefschreiberInnen lagen dabei eindeutig bei den VersammlungsteilnehmerInnen, wie der Ausschnitt aus einem Brief exemplarisch zeigt: »Wenn junge Leute in der Grabesstille der heutigen Studentenlandschaft den Mut haben, sich dagegen zu wehren, was allgemein gutgeheißen werden kann, so sollte uns das zum Nachdenken bringen und nicht zur Gewalt«26. Ausdruck fand die in der Stadtöffentlichkeit geführte Debatte vier Tage nach der Razzia im Göttinger Stadtrat. Begleitet von einem lebhaften Publikum, das zu einem großen Teil aus jungen Leuten bestand, stritten die Parteien über die Ereignisse vom 256
Christoph Hoeft und Jonas Rugenstein
1. Dezember. Am Ende der dreistündigen Sitzung wurde mit der Mehrheit der SPD und GAL eine Stellungnahme des Rats verabschiedet, in der sowohl der Polizeieinsatz im JuZI als auch die vorangegangene Räumung der drei besetzten Häuser kritisiert wird.27 Dem gegenüber stellten sich CDU und FDP, die den Polizeieinsatz als Vorgehen für Recht und Ordnung bewerteten und scharfe Kritik an der Stellungnahme der SPD und GAL übten. Die CDU-Ratsfraktion hatte der Polizei schon zuvor ihre »uneingeschränkte Zustimmung« ausgesprochen.28 Entscheidend für die Entstehung des Skandals war die Meinung in der Stadtöffentlichkeit, die in den Tagen nach dem 1. Dezember innerhalb Göttingens mehr und mehr gegen das Vorgehen der Polizei und zugunsten der von der Polizeiaktion betroffenen Jugendlichen ausschlug. Parteien, Verbände, aber auch die lokalen Medien spielten in dieser Anfangsphase eine wichtige Rolle, indem sie den Diskurs mit ihrer Einschätzung prägten. Für die Weiterentwicklung zu einem wirklich aufsehenerregenden Eklat war aber entscheidend, dass auch außerhalb der relativ begrenzten Göttinger Stadtöffentlichkeit mehr und mehr Stimmen laut wurden, die das Vorgehen der Polizei skandalisierten. Diese Entwicklung vollzog sich vorwiegend auf zwei Bühnen: dem Niedersäch sischen Landtag und den überregionalen Medien. Rund neun Tage nach der Razzia befasste sich auch der Niedersächsische Landtag mit den Geschehnissen in Göttingen. Im Anschluss an eine von der Grünen-Landtagsfraktion initiierte Anfrage an den Innenminister wurde das Thema auf Initiative der CDU zusätzlich in einer Aktuellen Stunde im Plenum debattiert. Die Diskussion über die Ereignisse des 1. Dezember in Göttingen entwickelte sich dann auch in erster Linie zu einem Schlagabtausch zwischen den Grünen und der CDU. So warf Ministerpräsident Ernst Albrecht den Grünen vor, mit den »Gewalttätern« zu paktieren, und attestierte der Partei, deswegen »anti-rechtsstaatlich« zu sein. Auf der anderen Seite bezeichnete der angegriffene Jürgen Trittin die Polizeiaktion als »Akt des politischen Vandalismus«.29 Entscheidend für die Entwicklung des Skandals war aber auch, dass die Ereignisse des Dezemberabends in Göttingen eine mediale Resonanz erzeugten, die weit über die beschauliche Unistadt hinausging. So berichteten in den Tagen unmittelbar nach der Die JuZI-Razzia und ihre Folgen
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Razzia auch nahezu alle überregionalen Tageszeitungen von den Geschehnissen. Und auch in den großen Nachrichtenmagazinen Spiegel und Stern erschienen lange Artikel, die sich mit der Razzia und den Folgen auseinandersetzten. Der Tenor der Berichterstattung war eindeutig: Mit Ausnahme der Welt, die die Polizeiaktion verteidigte, verurteilten die Medien das Vorgehen der Polizei. In der Süddeutschen Zeitung wird der Polizeieinsatz beispielsweise als »politischer Husarenritt des niedersächsischen Innenministers Wilfried Hasselmann«30 bezeichnet. Je mehr Details über die Hintergründe der Razzia bekannt wurden, desto deutlicher fiel das Urteil der Medien aus. So wird der Polizeieinsatz vom Stern als »Verstoß gegen das Grundgesetz« gewertet und der Polizei attestiert, dass sie »das Recht verletzt, das sie eigentlich verteidigen soll«.31 Und selbst der Rheinische Merkur kam zwölf Tage nach der Razzia zu dem Schluss, dass der Einsatz im JuZI »zum Reinfall – in jeder Beziehung«32 geworden sei, weil die rechtliche Grundlage zweifelhaft und das Ergebnis mangelhaft gewesen seien. So bildete sich in den Tagen nach der Razzia im JuZI sowohl in der Öffentlichkeit als auch im medialen Diskurs Stück für Stück das Urteil heraus, dass der Einsatz der Polizei unverhältnismäßig gewesen sei. Durch die Presse wurde darüber hinaus das Bild von Göttingen als einer Stadt in Aufruhr, die sich unter einem polizeilichen Belagerungszustand befindet, gezeichnet. Dies hatte zur Folge, dass sich die Polizeiführung und das Niedersächsische Innenministerium mehr und mehr für ihr Vorgehen rechtfertigen mussten. Ende des Jahres 1986 schien das Urteil der Öffentlichkeit in der Sache Polizei gegen JuZI also festzustehen. Der Fall war damit jedoch noch nicht erledigt. Weitere vier Jahre zog sich das juristische Nachspiel hin, das von Betroffenen des Polizeieinsatzes angestoßen worden war. Am 14. April 1989 wurde dann das endgültige juristische Urteil gesprochen. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg kam zu dem Schluss, dass mit der Razzia das Grundrecht der JuZI-BesucherInnen auf Versammlungsfreiheit verletzt und gegen das Versammlungsrecht verstoßen worden sei. Nach Ansicht des Gerichts hätte die Polizei die Teilnehmer der Veranstaltung im JuZI weder festhalten noch durchsuchen noch fotografieren dürfen.33 Auch wenn das Niedersächsische Innenministerium Anfang 1990 aufgrund einer erfolgreichen Musterklage die 258
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Betroffenen des Polizeieinsatzes mit einem Schmerzensgeld entschädigte, zeigte es sich doch insgesamt uneinsichtig und unternahm keinen darüber hinausgehenden Versuch der Rehabilitierung der JuZI-BesucherInnen.34
Das Nachspiel: Was folgte aus dem Skandal? Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Razzia ihr unmittelbares Ziel verfehlte. Denn zumindest kurzfristig kam es zu einer Welle der Solidarisierung, während der die linke Szene im Allgemeinen und das Themenfeld »Hausbesetzungen« im Speziellen in einem verständnisvolleren Licht betrachtet wurden – und das selbst von Akteuren, die normalerweise eher kritisch mit linken AktivistInnen umgingen. Daneben entwickelte der Skandal auch eine mobilisierende Wirkung nach innen, was sich u. a. in der breiten Teilnahme an den darauf folgenden Protestaktionen zeigt. Der Göttinger Kessel wurde zu einem Symbol und Bezugspunkt der radikalen linken Kritik in Deutschland und trug dazu bei, den Charakter Göttingens als Hochburg der linken Szene in Niedersachsen festzuschreiben. Mit einigem Abstand lässt sich konstatieren, dass das Vorgehen der Polizei erstaunlich wenig langfristige Konsequenzen hatte. Und dass, obwohl in der Nachbetrachtung ein eindeutiger Eingriff in die grundgesetzlich geschützte Versammlungsfreiheit festgestellt wurde. Der Göttinger Kessel war kein Einzelfall; sowohl davor als auch danach griff die Polizei immer wieder auf ähnliche Mittel zurück, ohne sich von späteren Verurteilungen nennenswert beeindrucken zu lassen. Und so wurden auch die Auseinandersetzungen zwischen Autonomen und der Polizei im Nachklang des Skandals um die Razzia im JuZI nicht weniger. Im Gegenteil nahmen die Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen beiden Gruppen zu und sollten Göttingen auch noch die folgenden dreißig Jahre immer wieder in Atem halten.35
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Anmerkungen 1 Bei der Recherche für den Artikel konnten wir Material aus dem Göttinger Stadtarchiv und dem Archiv des Infoladens im JuZI nutzen. Für die freundliche und unkomplizierte Unterstützung in beiden Archiven bedanken wir uns sehr. 2 Vgl. Freia Anders, Wohnraum, Freiraum, Widerstand. Die Formierung der Autonomen in den Konflikten um Hausbesetzungen Anfang der achtziger Jahre, in: Sven Reichardt/Detlef Siegfried (Hg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983. Göttingen 2010, S. 473–498. 3 Flugblatt »Spekulanten-Hochburg Burgstrasse besetzt« vom 28.11.1986, in: StAG (ohne Signatur). 4 O. V., Krawalle. Haß, Haß, Haß. In der alten Universitätsstadt Göttingen eskaliert die Gewalt – 1986 ist dort wie 1968, in: Der Spiegel, 08.12.1986. 5 Vgl. zu der Entwicklung der Hausbesetzungen in Göttingen insbesondere: Lukasz Nieradzik, Göttinger Autonome und ihre Gegner, Göttingen 2008. 6 Linkes Bündnis/AK Demokratie & Recht/KB: Flugblatt »Göttinger Kessel«, o. D, in: StAG FS 11 B 403–97. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Liste Wehrt Euch: Flugblatt »Belagerungszustand im Dienste der Spekulanten«, o. D, in: StAG FS 11 B 403–102. 10 Linkes Bündnis/AK Demokratie & Recht/KB: Flugblatt »Göttinger Kessel«. 11 Linkes Bündnis: Flugblatt »Staatsterrorismus in Göttingen« vom 02.12. 1986, in: Infoladen im JuZi Göttingen. 12 Flugblatt »Göttinger Kessel: Die Staatsrepression schlägt zu!!!«, o. D., in: Infoladen im JuZi Göttingen. 13 Vgl. Jürgen Voges, Solidarität mit Hausbesetzern, in: die tageszeitung (Berlin), 08.12.1986. 14 Vgl. o. V., Straßenblockade nach Demo, in: Göttinger Tageblatt, 03.12.1986. 15 Zit. nach o. V., Demo gegen »Polizei-Stadt«, in: Hessische/Niedersäch sische Allgemeine, 03.12.1986. 16 Zit. nach o. V., »Die Strippenzieher in ihren Löchern aufspüren«, in Göttinger Tageblatt, 05.12.1986. 17 Zit. nach o. V., Zentrum und Befehlszentrale, in: Göttinger Tageblatt, 15.12.1986. 18 Zit. nach Eckhard Stengel, Polizei hielt 408 Besucher in Göttinger Jugendzentrum fest, in: Frankfurter Rundschau, 03.12.1986. 19 Zit. nach o. V., Erregung über Polizeieinsatz in Göttingen, in: Hamburger Abendblatt, 03.12.1986. 20 Zit. nach o. V., Politische Positionen zum Polizeieinsatz in der Bürgerstraße, in: Göttinger Tageblatt, 03.12.1986.
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Christoph Hoeft und Jonas Rugenstein
21 Vgl. o. V., Jugendring zum Polizeieinsatz, in: Göttinger Tageblatt, 06.12. 1986. 22 Vgl. o. V., Kritik: Autoren und Juristen, in: Göttinger Tageblatt, 10.12.1986. 23 Vgl. o. V., Demo gegen »Polizei-Stadt«. 24 Vgl. o. V., Kritik: Autoren und Juristen. 25 O. V., »Gewalt hat noch nie Probleme gelöst«, in: Göttinger Tageblatt, 12.12.1986. 26 Leserbrief von Dr. Klaus Winter im Göttinger Tageblatt vom 12.12.1986. 27 Vgl. o. V., Polizeieinsatz im Rat gerügt, in: Göttinger Tageblatt, 06.12.1986. 28 Vgl. o. V., Uneingeschränkte Zustimmung der CDU, in: Göttinger Tageblatt, 05.12.1986. 29 Zit. nach o. V., Ministerpräsident: »Grüne paktieren mit Gewalttätern«, in: Göttinger Tageblatt, 11.12.1986. 30 Volker Skierka, Politischer Husarenritt, in: Süddeutsche Zeitung, 04.12. 1986. 31 Thomas Osterkorn, »Die Masse mal aus der Anonymität reißen«, in: Stern, 11.12.1986. 32 Peter Sattler, Die heimliche Hauptstadt der Anarchie, in: Rheinischer Merkur, 12.12.1986. 33 Vgl. Eckhard Stengel, Polizei verletzte mit Razzia im JUZI Grundrechte, in: Frankfurter Rundschau, 15.04.1989. 34 Vgl. Klemens Roß, Rechtsprechung – Die verwaltungs- und zivilrechtliche Behandlung der Göttinger JUZI-Razzia von ›89, in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP, H. 1/1990, S. 79–81. 35 Vgl. dazu in diesem Band auch den Beitrag »›Conny heute von den Bullen ermordet‹ – Der Tod von Kornelia ›Conny‹ Wessmann am 17. November 1989«.
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»Conny heute von den Bullen ermordet« Der Tod von Kornelia »Conny« Wessmann am 17. November 19891 von Teresa Nentwig
So hatten sich Tausende Besucher aus der DDR ihren samstäglichen Göttingen-Ausflug wohl nicht vorgestellt: Alle Zufahrtsstraßen zur Innenstadt waren an diesem 25. November 1989 bereits am Vormittag abgesperrt worden. Erst nach Kontrollen durften die Autos weiterfahren. Doch im Stadtzentrum standen die DDRBürger bald vor verschlossenen Geschäften: Trotz der Möglichkeit, ihre Läden länger geöffnet zu halten, ließen die Geschäftsleute um 13 Uhr die Rollgitter herunter.2 Wenig später begann in der Göttinger Innenstadt eine fast fünfstündige Demonstration, an der rund 20.000 Menschen teilnahmen, darunter Politiker, Kirchenvertreter und Gewerkschafter, aber auch 2.500 bis 3.000 schwarz gekleidete und vermummte Autonome, die aus dem gesamten Bundesgebiet angereist waren. Nach Auflösung des Demonstrationszuges kam es zu schweren Verwüstungen, verübt von den sogenannten Chaoten: Zahlreiche Fenster von Banken, Restaurants und Geschäften gingen zu Bruch. In einem Supermarkt kam es zu Plünderungen. Außerdem wurden Polizisten mit Pflastersteinen, Flaschen, Stahlkugeln, Leuchtraketen und Molotowcocktails beschossen. Am Ende wies die Bilanz 97 Polizisten, aber auch mehrere Demonstranten auf, die verletzt worden waren.3 Die Demonstration und die anschließende Eskalation haben eine lange Vorgeschichte. Seit 1987 kam es in Göttingen verstärkt zu Auseinandersetzungen zwischen Neonazis und Linksautonomen. Denn zum einen gab es in der südniedersächsischen Stadt und ihrer Umgebung ein starkes rechtsradikales Milieu – der niedersächsische Landesvorsitzende der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei (FAP) Karl Polacek scharte in Mackenrode gewaltbereite Skinheads um sich, darunter den jungen Thorsten Heise, der bald eine 262
Teresa Nentwig
Ein Teil des »Schwarzen Blockes« bei der Demonstration am 25. November 1989. Auf dem langen Transparent ist zu lesen: »CONNY IST TOT NIE WIEDER BULLENTERROR«.
der Führungsfiguren der rechtsextremen Szene in Niedersachsen wurde.4 Zum anderen existierte in Göttingen eine starke linksradikale Szene. Ende der 1980er Jahre verübten die Skinheads immer wieder Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, Passanten mit Migrationshintergrund, links-alternative Studentenwohnheime und das 1982 gegründete »Jugendzentrum Innenstadt« (JuZI), das als Zentrum des autonomen Antifaschismus in Göttingen galt.5 Dagegen setzten sich die Angehörigen der autonomen Szene zur Wehr. Immer wieder kam es deshalb zu Konfrontationen der beiden Lager, wobei das Ziel der Autonomen darin bestand, »möglichst viele Leute schnell zusammenzubringen«6 und auf diese Weise die Neonazis in die Flucht zu jagen. Vor allem am Wochenende befand man sich damals in »Alarmbereitschaft«7: Man traf sich abends zum Reden und Kochen, und sobald das Telefon klingelte und man erfuhr, dass es irgendwo eine Auseinandersetzung mit Rechtsextremen gebe, machte man sich gemeinsam auf.8 So war es auch am Abend des 17. November 1989. Mitten in der Göttinger Innenstadt, vor der Kneipe »Apex«, kam es zu einer Schlägerei zwischen Neonazis und Autonomen, bei der es mehrere Verletzte gab. Als eine davon in Kenntnis gesetzte Gruppe von ca. 25 bis dreißig Autonomen, darunter die 24-jährige Studentin der Geschichte und Sozialwissenschaften Kornelia »Conny« Der Tod von Conny Wessmann
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Wessmann, den Ort des Geschehens erreichte, waren jedoch nur noch Beamte des »Zivilen Streifenkommandos« (ZSK) da. Die Autonomen gingen deshalb wieder weg, bemerkten aber bald, dass sie vom ZSK verfolgt wurden. Mit dem Ziel, sich auf dem nahe gelegenen Gelände der Universität zu verstreuen, verließen die Autonomen die Innenstadt. Kurze Zeit später stießen sie auf z. T. mit Schlagstöcken bewaffnete Polizisten, die ihre Personalien feststellen wollten. Die nicht vermummte und unbewaffnete Wessmann lief davon – sie wollte die vierspurige Weender Landstraße überqueren, um den gegenüberliegenden weitläufigen Uni-Parkplatz zu erreichen. Da die viel befahrene Straße nicht abgesperrt und das Blaulicht der Streifenwagen nicht eingeschaltet war, konnten heranfahrende Autos die Lage nicht eindeutig erkennen – gegen 21.20 Uhr wurde Wessmann von einem Personenwagen erfasst und dabei tödlich verletzt. Über eine Telefonkette informiert, versammelten sich schon wenig später viele ihrer Bekannten an der Unglücksstelle, zündeten dort Kerzen an und legten Blumen nieder.9 Noch in der gleichen Nacht hängten sie an der Fußgängerbrücke, die damals am Unfallort die Weender Landstraße überquerte, ein Transparent mit der Aufschrift »Conny heute von den Bullen ermordet« auf.10 Unmittelbar nach dem Unfall war nämlich der folgende Mitschnitt aus dem Polizeifunk bekannt geworden: »Ich würde sagen, wenn wir genug Leute sind, sollten wir die ruhig mal platt machen, hier.«11 Wessmanns Freunde aus der autonomen Szene sahen in ihrem Tod deshalb einen Mord – verübt von knüppelschwingenden, Tränengas sprühenden Beamten des ZSK und dabei unterstützt von einem Staat, der gegen Linke einen anderen Maßstab anlege als gegen Rechtsextreme.12 Der Tod der jungen Studentin führte daher u. a. auch in Hamburg und Berlin zu Spontandemonstrationen. Allein am Kurfürstendamm gingen achthundert bis tausend Menschen gegen »Polizeigewalt« auf die Straße. Während es hier friedlich blieb, kam es in Kreuzberg zu Ausschreitungen: Rund zweihundert Vermummte schlugen Fensterscheiben ein und zerstörten Neuwagen in einem Autohaus.13 Ganz anders als die Autonomen sah die Polizei Wessmanns Tod: Für sie handelte es sich um einen bedauerlichen Unfall. Mit »Plattmachen« sei lediglich die Personalienfeststellung gemeint gewesen, so der Göttinger Polizeidirektor Lothar Will, der zudem 264
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von einem »flapsigen Spruch« des betreffenden Beamten sprach.14 Kurz darauf gestand Will aber ein, dass »Plattmachen« im Polizeijargon eine umfassendere Bedeutung habe: »[…] das heißt den Täter oder Verdächtigen, der festgenommen werden soll, auf die Erde zu drücken, ihn dann blitzschnell zu durchsuchen, um möglicherweise gefährliche Gegenstände oder andere Gegenstände, die er möglicherweise auch wegwerfen kann, also Beweisgegenstände, sicherzustellen«15. Diese »bestimmte Form des Zugriffs«16 sollte jedoch praktiziert werden, obwohl kein konkreter Verdacht gegen die Gruppe bestand, an der Schlägerei vor dem »Apex« beteiligt gewesen zu sein, wie Will ebenfalls später einräumte17. Aufgrund der unterschiedlichen Interpretationen wurde Wessmanns Tod zu einem Politikum – allein im Niedersächsischen Landtag war er zwischen Mitte Dezember 1989 und Anfang März 1990 dreimal Thema.18 Hier standen die Grünen allein auf weiter Flur: Der damalige Fraktionsvorsitzende der Grünen Jürgen Trittin beklagte, eine »große Koalition« – bestehend aus den Regierungsparteien CDU und FDP sowie der Oppositionspartei SPD – wolle »die Wahrheit über die Polizeipraxis in Göttingen abwürgen – eine Polizeipraxis, die immerhin zum Tod eines Menschen geführt«19 habe und in der »ein tiefsitzendes Feindbild gegen Linke und Autonome«20 zum Ausdruck komme. Die Ermittlungen der Göttinger Staatsanwaltschaft blieben dennoch folgenlos: Die drei Angeklagten – neben zwei an dem Geschehen beteiligten Polizisten der Fahrer des Unfallautos – wurden im Mai 1990 vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen.21 Abseits des parteipolitischen Streits, der damals nicht nur im Landtag, sondern auch im Kreistag und in den Göttinger Medien ausgetragen wurde22, kam es zu Bündnissen zwischen den Linksautonomen und bürgerlichen Kreisen. So gründete sich unmittelbar nach Wessmanns Tod die Initiative »Göttinger BürgerInnen gegen Rechtsextremismus und Gewalt«, deren Mitglieder – u. a. Pädagogen und Pastoren – in den folgenden Jahren aktiv an Demonstrationen gegen Rechtsradikale mitwirkten.23 Zu den weiteren Nachwirkungen ist festzuhalten, dass Göttingen lange Zeit eine Hochburg der linksautonomen Szene in Deutschland blieb – zu ihrer Ikone wurde Conny Wessmann. Dies zeigte sich vor allem darin, dass das noch am Abend des 17. November 1989 eingesetzte Gedenken an die junge Frau danach fortDer Tod von Conny Wessmann
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bestand – mehr als ein Jahr lang fanden zunächst täglich, dann am 17. jeden Monats Mahnwachen am Unfallort statt, wofür die Weender Landstraße sogar halbseitig von der Polizei gesperrt wurde.24 Das Gedenken verlief jedoch nicht immer friedlich und brachte die Stadt Göttingen teilweise sogar an den Rand des Ausnahmezustands, wie an dem eingangs beschriebenen 25. November 1989. Auch im November 1990, zum Jahrestag von Wessmanns Tod, liefen 6.000 bis 7.000 Personen durch die Göttinger Innenstadt.25 Da Ausschreitungen erwartet worden waren, befanden sich an diesem 17. November 1990 mehr als 3.000 Polizisten in der Stadt; der Schulunterricht fiel aus; Geschäfte blieben geschlossen und waren zu einem großen Teil verbarrikadiert; die Innenstadt wurde für den Autoverkehr gesperrt.26 Bis Ende der 1990er Jahre kam es dann regelmäßig zu Gedenkveranstaltungen, die z. T. unfriedlich verliefen und bei denen nach und nach nicht mehr das Erinnern an Wessmanns Tod im Vordergrund stand – es ging vielen Teilnehmern hauptsächlich darum, ihren Hass auf »das System« zum Ausdruck zu bringen.27 Erst im November 2009, aus Anlass von Wessmanns 20. Todes tag, fand wieder eine Gedenkdemonstration statt, die unter das Motto »Kein Vergeben, kein Vergessen! Kein Frieden mit dem Polizei- und Überwachungsstaat«28 gestellt war. Rund 1.200 Personen nahmen daran teil, darunter »etwa 850 Gewaltbereite aus Göttingen und dem gesamten Bundesgebiet«, so der damalige niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann.29 Vereinzelt schossen sie Leuchtraketen und Signalmunition in die Luft. Später zündeten sie Müllcontainer an und beschädigten u. a. das Gebäude einer Burschenschaft.30 Fünf Jahre später, als sich Wessmanns Tod zum 25. Mal jährte, blieb hingegen alles friedlich. Es kam lediglich zu einem stillen Gedenken: Den schlichten Stein mit der Aufschrift »17.11.89. Conny stirbt durch einen Polizeieinsatz bei einer Antifaaktion. Du warst dabei aufzustehen«, der sich an der Weender Landstraße auf der Höhe der Diskothek »Alpenmax« befindet, schmückten an diesem 17. November 2014 Chrysanthemen; die danebenstehende Metallskulptur »Trauer – Wut – Widerstand« war von zahlreichen Kerzen und Blumen umgeben. Sechs Tage später wurde zudem im Café des JuZI ein »Rückblick auf Connys Tod und die Zeit davor 266
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Gedenken an Conny Wessmann 25 Jahre nach ihrem Tod.
und danach«31 unternommen, und am 12. Dezember 2014 fand ein »antifaschistischer Stadtrundgang« unter dem Titel »Streifzug durch die Geschichte des autonomen Antifaschismus« statt, bei dem ein »Zeitzeuge anhand von Bildern und Berichten die gesellschaftlichen Umstände des Mordes an Conny, wie auch das konkrete Geschehen, dargestellt [hat]«32. Angekündigt wurde der Rundgang auch im Göttinger Tageblatt33, dem damals, Ende 1989, im »Fall Conny« »unhinterfragte und kritiklose« Berichterstattung vorgeworfen war und das deshalb den Namen Göttinger Tragikblatt erhalten hatte34.
Anmerkungen 1 Bei diesem Text handelt es sich um die erweiterte Fassung meines Blog artikels »›Conny heute von den Bullen ermordet‹«, erschienen am 17.11.2014 im Blog des Göttinger Instituts für Demokratieforschung. 2 Vgl. o. V., Schwere Zusammenstöße nach Demonstration, in: Süddeutsche Zeitung, 27.11.1989. 3 Vgl. dazu u. a. ebd.; Jörg Bremer, Schlacht zwischen »Zecken« und »NaziSkins«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.11.1989; Sonja Girod, ProDer Tod von Conny Wessmann
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test und Revolte – Drei Jahrhunderte studentisches Aufbegehren in der Universitätsstadt Göttingen (1737 bis 2000), Göttingen 2012, S. 270 f., online einsehbar unter http://ediss.uni-goettingen.de/bitstream/handle/ 11858/00-1735-0000-000D-EF34-B/girod.pdf [eingesehen am 16.05.2015]; Angela Brünjes, Nach dem Schweigemarsch doch Szenen der Gewalt, in: Göttinger Tageblatt, 27.11.1989; Stenografischer Bericht über die 101. Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 15.12.1989, S. 9369 u. S. 9371, online einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/doku mentenarchiv/Dokument/LLP11-101.pdf [eingesehen am 16.05.2015]; Stenografischer Bericht über die 107. Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 08.03.1990, S. 9990, online einsehbar unter http://www.land tag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/LLP11-107.pdf [eingesehen am 16.05.2015]. Das Handeln der Polizei stand anschließend in der Kritik. Vgl. dazu u. a. Eckart Spoo, Göttingens Polizei räumt Fehler beim Gedenkmarsch ein, in: Frankfurter Rundschau, 28.11.1989. Vgl. Girod, S. 264 f.; Eckhard Stengel, Der Schoß ist fruchtbar noch. Rechtsextremismus in Südniedersachsen – ein Überblick, in: Kornelia Duwe/Carola Gottschalk/Marianne Koerner (Hg.), Göttingen ohne Gänseliesel. Texte und Bilder zur Stadtgeschichte, Gudensberg-Gleichen 1988, S. 247–249; Heinrich Thies, Aus für Polacek, in: Die Zeit, 18.10.1991; Stenografischer Bericht über die 107. Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 08.03.1990, S. 9988 u. S. 9990. Vgl. auch die Antwort der Landesregierung auf eine Große Anfrage der Grünen vom 29.01.1990, online einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/ Dokument/LLD11–5124.pdf [eingesehen am 16.05.2015]. Vgl. Stefan Dietrich, In Göttingen bläst die »Autonome Antifa« zum Angriff auf den verhaßten Staat, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.08.1994; Klaus Pokatzky, Immer wieder bricht Gewalt aus, in: Die Zeit, 26.01.1990; Meral Rüsing, Göttinger Intifada – oder: Jagdszenen aus Südniedersachsen, in: Claus Leggewie, Die Republikaner. Ein Phantom nimmt Gestalt an. Mit neuen Reportagen aus Bayern, Berlin und Köln von Ulrich Chaussy, Volker Hartel und Meral Rüsing, sowie Expertisen von Bernd Gäbler und Horst Meier, Neuausgabe, Berlin 1990, S. 164–170, hier S. 165 u. S. 167 f. So Sabine, eine Freundin von Conny Wessmann, in einem Interview aus dem Jahr 2002. Es ist unter der Überschrift »Plötzlich waren wir die Gejagten« in dem Antifaschistischen Infoblatt vom 13.10.2002 erschienen und online einsehbar unter https://www.antifainfoblatt.de/artikel/ pl%C3 %B6tzlich-waren-wir-die-gejagten [eingesehen am 16.05.2015]. Ebd. Vgl. ebd.; Pokatzky. Vgl. dazu ein Dokument der »Antifaschistischen Aktion« zu den »Geschehnissen nach dem Mord am 17./18.11.89«, abgedruckt in: Fachschaftsräteversammlung der Uni Göttingen (Hg.), Dokumentation Antifaschistischer Widerstand in Südniedersachsen 1989. Erklärungen, Dokumente, Berichte, Plakate, Presse, Fotos, Göttingen 1990, S. 137.
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10 Vgl. ein Foto vom Ort des Geschehens, abgedruckt in: ebd., S. 202. Vgl. auch den Stenografischen Bericht über die 107. Sitzung des Niedersäch sischen Landtages am 08.03.1990, S. 9991. 11 Zit. nach Girod, S. 267. Vgl. dazu auch Reimar Paul, »Polizeiführung verarscht Öffentlichkeit«, in: die tageszeitung, o. D. Dieser Artikel ist ab gedruckt in: Fachschaftsräteversammlung, S. 218. 12 Zu den Ereignissen vom 17.11.1989 und den Reaktionen auf Wessmanns Tod vgl. vor allem die »Dokumentation Antifaschistischer Widerstand in Südniedersachsen 1989«, im Jahr 1990 herausgegeben von der Fachschaftsräteversammlung der Universität Göttingen. Darin befinden sich zahlreiche Artikel aus regionalen wie überregionalen Zeitungen, diverse Erklärungen, Protokolle, Fotos und Ähnliches. Für einen Überblick vgl. auch Christian Jakob, Kein Heldentod, in: die tageszeitung, 14.11.2009. 13 Vgl. Peter Müller, Demonstrationen mit und ohne Bruch, in: die tageszeitung, 20.11.1989. 14 Zit. nach Anne-Kathrin Stöber/Rüdiger Reyhn, Trauer und Bestürzung über den Tod der Studentin, in: Göttinger Tageblatt, 20.11.1989. 15 So Lothar Will im Magazin »SPIEGEL TV« vom 28.11.1989. Der Beitrag ist online einsehbar unter https://www.youtube.com/watch?v=Btpr ECSGoFQ&index=5&list=PLyoZ3Q2RNgUEJ0OG7meh-SiirvpUeVoqg [eingesehen am 17.05.2015]. Zu den Äußerungen Wills vgl. auch den Stenografischen Bericht über die 101. Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 15.12.1989, S. 9362, und Girod, S. 267. 16 So Lothar Will im Magazin »SPIEGEL TV« vom 28.11.1989. 17 Vgl. den Stenografischen Bericht über die 101. Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 15.12.1989, S. 9361, und Andreas Stephainski, Kerzen für Cornelia, in: Die 7. am Sonntag, 19.11.1989. 18 Vgl. den Stenografischen Bericht über die 101. Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 15.12.1989, S. 9361–9372, den Stenografischen Bericht über die 105. Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 08.02.1990, S. 9697–9701, online einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/ WWW/dokumentenarchiv/Dokument/LLP11-105.pdf [eingesehen am 16.05.2015], und den Stenografischen Bericht über die 107. Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 08.03.1990, S. 9988–9998. 19 Stenografischer Bericht über die 105. Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 08.02.1990, S. 9698. 20 Zit. nach Rüdiger Reyhn, Polizei: Tränengas weder vor noch nach dem Unfall, in: Göttinger Tageblatt, 21.11.1989; o. V., Nach Tod einer Göttinger Studentin Kritik am Polizeifunk, in: Der Tagesspiegel, 21.11.1989. 21 Vgl. Girod, S. 269; Pokatzky. Wessmanns Freunde, die am Abend des 17.11.1989 dabei gewesen waren, sagten nicht aus – »aus Angst vor Repressalien, zu tief sitzen Misstrauen und Hass gegen den Staat und seine Institutionen« (O-Ton des Beitrags »Göttingen am 17. November 1990« im N3-Magazin »Hallo Niedersachsen« vom 17.11.1990, online ein sehbar unter https://www.youtube.com/watch?v=ukb3z4toMDM&list= PLyoZ3Q2RNgUEJ0OG7meh-SiirvpUeVoqg&index=7 [eingesehen am Der Tod von Conny Wessmann
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18.05.2015]). Auch Anzeige gegen die beteiligten Beamten wollten die Autonomen damals nicht erstatten. Vgl. o. V., Conny Wessmann, in: Antifaschistisches Infoblatt, 03.12.2009, online einsehbar unter https://www. antifainfoblatt.de/artikel/conny-wessmann [eingesehen am 18.05.2015]. Vgl. dazu diverse Dokumente in: Fachschaftsräteversammlung. Vgl. u. a. Dietrich; Girod, S. 269; o. V., Plötzlich waren wir die Gejagten; Göttinger Bürger und Bürgerinnen gegen Rechtsextremismus und Gewalt, Kritische Fragen zu drei höchst brisanten Situationen, in: Göttinger Woche, 08.12.1989; o. V., Bürgerinnen und Bürger stellen Fragen an Polizei und Politiker, in: Freizeit-Magazin, 14.01.1990. Die beiden zuletzt genannten Artikel sind abgedruckt in: Fachschaftsräteversammlung, S. 377 u. S. 454. Vgl. Dietrich; Pokatzky. Vgl. außerdem den gemeinsamen Aufruf zur täglichen Mahnwache des Autonomen Frauen-/Lesbenreferats, des Autonomen Schwulenreferats und der SB AntiFa, abgedruckt in: Fachschaftsräteversammlung, S. 191. Vgl. Claus-Martin Wolfschlag, Das »antifaschistische Milieu«. Vom »schwarzen Block« zur »Lichterkette« – Die politische Repression gegen »Rechtsextremismus« in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2001, S. 84. Vgl. Stadtarchiv Göttingen: Chronik für das Jahr 1990 – 17. November 1990, online einsehbar unter http://www.stadtarchiv.goettingen.de/chronik/1990_11.htm [eingesehen am 16.05.2015]. Vgl. u. a. den Stenografischen Bericht über die 52. Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 25.11.2009, S. 6540, online einsehbar unter http://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/ LLP16–52.pdf [eingesehen am 16.05.2015]; Felix Lee, Gedenken à la Antifa, in: die tageszeitung, 31.10.2009. Vgl. den Aufruf auf http://conny2009.blogsport.de/aufruf/ [eingesehen am 16.05.2015]. Stenografischer Bericht über die 52. Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 25.11.2009, S. 6541. Vgl. ebd., S. 6540 f.; Benjamin Laufer, 20 Jahre später knallt es erneut, in: die tageszeitung, 16.11.2009. Ankündigung in der Göttinger Drucksache. Monatliches Stadtinfo, Nr. 740 vom 07.11.2014. Antifaschistische Linke International A. L. I., Vor 25 Jahren: Neonazi terror, Polizeigewalt und eine ermordete Antifaschistin, online ein sehbar unter http://www.inventati.org/ali/index.php?option=com_content &view=article&id=1983:geschichte-des-autonomen-antifaschismus [eingesehen am 19.05.2015]. Vgl. o. V. (Kürzel: pg), Antifaschistischer Stadtrundgang, in: Göttinger Tageblatt, 10.12.2014. Statt von einem »Mord«, wie die Antifaschistische Linke International A. L. I. in ihrer Ankündigung, sprach das Göttinger Tageblatt vom »Tod« Wessmanns. Versprengte Freunde des Pest-Clubs, Göttingen: Bullenstadt – wir haben dich zum Kotzen satt, in: Bullenpest Extra, Dezember 1989, abgedruckt in: Fachschaftsräteversammlung, S. 291–298, hier S. 291.
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Gefährliches Spiel mit dem Leben Der Skandal um HIV-verunreinigte Blutkonserven (1993) von Carolin Schwarz
»Das ist kein Skandal wie viele andere. Es geht auch nicht vorwiegend um Politik und Karrieren. […] Denn es geht um Leib und Leben. Um das Schicksal Zehntausender, die Blutkonserven bekamen und nun fürchten, den Aids-Erreger im Blut zu haben.«1 Der HI-Virus wurde erst Mitte der 1980er Jahre entdeckt. In den darauffolgenden Jahren war über seine Auswirkungen und auch Feststellung noch wenig bekannt. Aids, HIV und die Probleme der Betroffenen wurden gesellschaftlich tabuisiert. Umso größer war Anfang der 1990er Jahre die Beunruhigung in der Gesellschaft, als Fälle bekannt wurden, bei denen HIV-verunreinigte Blutkonserven in Umlauf geraten waren und Menschen sich nachweislich mit dem Virus infiziert hatten. Dabei zeigte sich im Herbst 1993 das ganze Ausmaß des Skandals, als grobe Versäumnisse der Aufsichtsbehörden und fahrlässige oder gänzlich unterbliebene HIV-Überprüfungen durch Testlabors öffentlich wurden. Plötzlich ging in der Bundesrepublik die Angst um. Der Spiegel schrieb im Oktober 1993, dass Hausärzte, Krankenkassen und Krankenhäuser nach Bekanntwerden der Verdachtsfälle von besorgten Bürgerinnen und Bürgern überrannt und Sorgentelefone eingerichtet worden seien. Diese Ängste verdeutlichte auch eine dazu in der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen (HNA)2 veröffentlichte Karikatur unter dem Titel »Alptraum« (vgl. Abbildung). Im Jahr 1993 war in der Bevölkerung die Sorge um das persönliche Wohl besonders hoch: »Jetzt ist es nicht mehr nur die Krankheit der anderen, der Fixer, Schwulen und Prostituierten. Der biedere Bürger, der sich bis dahin sicher gefühlt hat, sieht sich direkt bedroht.«3 Der Skandal um HIV-verunreinigte Blutkonserven
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In der Kritik standen dabei aber nicht nur die staatlichen Aufsichtsinstanzen, sondern auch die Pharmaindustrie, darunter ein Plasmaunternehmen aus Südniedersachsen, die Haemoplas GmbH aus Osterode. Vor dem Hintergrund der bundesweiten Verdachtsfälle wurden auch Unstimmigkeiten bei der Firma im Harz entdeckt. Die Staatsanwaltschaft Göttingen nahm Ermittlungen auf und erhob schließlich 1995 Anklage wegen Mordes und versuchten Mordes gegen den Leiter des Unternehmens und einen Arzt, der das beauftragte Testlabor leitete. Von 1995 bis 1997 verhandelte das Landgericht Göttingen damit den »größten Medizinskandal in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg«4. Hatte tatsächlich ein Mediziner die Beeinträchtigung, ja den Verlust des Lebens von Menschen leichtfertig in Kauf genommen? Und welche Rolle spielten die staatlichen Kontrollinstanzen im Fall der Haemoplas GmbH? Nachdem Mitte der 1980er Jahre das Thema Aids und HIV aufgekommen war, entschied sich das Bundesgesundheitsamt, zum 1. Oktober 1985 eine neue Vorschrift zu erlassen, die für Blutspenden Antikörpertests vorschrieb. Jedoch war nur wenig über die Krankheit und die Verfahren zu HIV-Tests bekannt. Die Forschung stand hier noch am Anfang.5 Dass diese fehlende Erfahrung gravierende Auswirkungen haben könnte, wurde am 6. Oktober 1993 deutlich. Im Bundesgesundheitsamt tauchte eine angeblich verschollene Liste mit 373 Verdachtsfällen von HIV-verunreinigten Blutkonserven auf, die seit Mitte der 1980er Jahre an das Amt gemeldet worden waren. Erst im Herbst 1993 wurde der zuständige Gesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) von diesen Daten in Kenntnis gesetzt. In der Folge musste der Chef des Amtes, Dieter Großklaus, seinen Posten räumen und nur eine Woche später erklärte der Gesundheitsminister die Auflösung der Behörde.6 Mit der Enthüllung von Verdachtsfällen begannen auch Ermittlungen in deutschen Plasmaunternehmen. Als erste Firma rückte UB Plasma in Koblenz in den Fokus.7 Sie hatte aus Kostengründen nicht alle Blutkonserven auf HIV überprüft, sondern vielmehr mehrere Proben gemischt (»gepoolt«) und damit zusammen untersucht. Die Ermittlungen zeigten, dass durch die Vermengung mehrerer Proben die Anzahl vorhandener Viren nicht ausreichend war, um in den HIV-Tests erkannt zu werden. Die Konserven von UB Plasma wurden 2.360 Patienten verabreicht und in drei Fällen 272
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Karikatur von Karl-Heinz Schoenfeld aus dem Oktober 1993.
war eine Infektion durch diese Blutspenden nachzuweisen. Das Gericht verurteilte den Geschäftsführer 1995 zu vier Jahren Gefängnis und drei weitere Angestellte zu Haftstrafen zwischen zwei und vier Jahren.8 Kurz darauf wurde auch gegen ein Unternehmen in Südniedersachsen mit dem Verdacht auf verunreinigte Blutkonserven ermittelt.9 Dabei hatte das Unternehmen schon einmal im Herbst 1989 wegen »Merkwürdigkeiten in den Haemoplas-Labors«10 unter Beobachtung der Braunschweiger Bezirksregierung gestanden. Erstaunlich ist aber, dass die behördliche Aufsicht den Angaben des Unternehmens gefolgt war, dass die unter Verdacht geratenen Konserven alle getestet worden wären.11 Für die Überprüfung der Blutkonserven der Haemoplas war der Leiter des Testlabors in Wülfrath in Nordrhein-Westfalen, Dr. Günter Kurt Eckert, verDer Skandal um HIV-verunreinigte Blutkonserven
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antwortlich. Der Mediziner begann seine Laufbahn an der Blutbank der Medizinischen Hochschule Hannover und erarbeitete sich in seiner Zeit dort hohes Ansehen und einen guten Ruf als Arzt. Zwischen Januar 1980 und Oktober 1983 begann er nebenberuflich für den Diplomingenieur Frank Gisbert zu arbeiten, der im Harz die Firma Haemoplas gegründet hatte und Eckert für die »Kontrolle der Arbeitsabläufe zur Herstellung von Blutplasma«12 anwarb. Nachdem der Niedersächsische Landesrechnungshof beanstandet hatte, dass diese Zweitbeschäftigung mit den Beamten pflichten des Arztes kollidierte, ermittelte die Staatsanwaltschaft Hannover gegen den Mediziner wegen Betrugs und Unterschlagung. Gegen eine Geldbuße von 5.000 Mark wurde das Verfahren jedoch eingestellt. Im Jahr 1983 beendete Eckert seine Tätigkeit am Krankenhaus und kaufte ein privates Testlabor in Wülfrath. Im selben Jahr erhielt er von Haemoplas für sein neues Labor den Auftrag, als offizielle Kontrollstelle für die Blutkonserven des Harzer Unternehmens tätig zu werden.13 Es stellte sich bei den Ermittlungen ab 1993 heraus, dass die entdeckten verunreinigten Blutspenden von einem Mann namens Wilfried Uhlemann stammten. Der Braunschweiger Uhlemann war 1983 arbeitslos geworden und hatte sich aus Geldnot zur Spende von Blut bei der Braunschweiger Zweigstelle von Haemo plas entschieden. Die verunreinigten Blutspenden gab er zwischen 1986 und 1987 ab. Wenngleich Uhlemann Drogen zu sich nahm, wurden seine Proben vom Testlabor nicht beanstandet. Am 10. Juni 1987 nahm er sich mit einer Überdosierung Schlafmittel das Leben.14 Es gilt als bestätigt, dass die Blutkonserven von Uhlemann für die Infektion eines Duisburger Polizisten im Jahr 1987 verantwortlich waren. Der Beamte verstarb 1991. Zuvor hatte er versucht, die Firma Haemoplas zu verklagen. Das Gericht entschied jedoch, dass kein schuldhaftes Verhalten des Herstellers nachzuweisen sei. Im November 1993 kam dann durch einen reinen Zufall der große Skandal um Haemoplas ans Licht. Zunächst hatte die Staatsanwaltschaft Göttingen Ermittlungen wegen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz gegen die Firma eingeleitet. In diesem Rahmen wurden alle Geschäftstätigkeiten der Firma überprüft. Diese Kontrolle zeigte, dass von über 85.000 an das Labor von Eckert verschickten Blutkonserven nur rund 10.000 Proben auf HIV getestet 274
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worden waren – das entspricht 13 Prozent. Das Landeskriminalamt (LKA) Niedersachsen berechnete daraufhin, dass durch diese Praxis rund 440.000 Mark an Kosten gespart werden konnten.15 Während der Ermittlungen machte die Osteroder Firma mit einem Verschleierungsversuch auf sich aufmerksam. Nachdem noch im Dezember 1993 ein Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums erklärt hatte, die Firma Haemoplas habe angegeben, keine Rückstellungsproben einzubehalten, »die einen Vergleich der Testergebnisse ermöglichen würden«16, gab der Chef von Haemoplas fast ein Jahr später schließlich doch vorhandene einbehaltene Proben frei. Insgesamt konnte das LKA Niedersachsen anschließend 14 Spen denempfänger rückverfolgen; darunter waren bis 1997 13 Todesfälle zu beklagen.17 Der Vorwurf an Eckert und sein Labor lautete, dass die Blutkonserven nicht getestet worden seien. Eine Expertin konstatierte, dass Uhlemanns Blut »eindeutig feststellbar HIV-verseucht war«18. Zwei Jahre nach Bekanntwerden des Skandals erhob die Staatsanwaltschaft Göttingen im August 1995 Anklage gegen Eckert.19 Sie warf dem Mediziner vor, »aus Habgier«20 für mehrfachen Mord verantwortlich zu sein. Zudem war der Arzt wegen tausendfachen Mordversuchs, Betrugs, Falschaussage und Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz angeklagt.21 Auch gegen den Chef der Firma Haemoplas, Frank Gisbert, führte die Behörde zunächst Ermittlungen, stellte diese jedoch später ein, sodass gegen ihn kein Prozess eröffnet wurde.22 Zeigt sich im Fall verunreinigter Blutkonserven im Testlabor der Haemoplas ein rationales Gewinnkalkül? Dieser Frage sollte der Prozess nachgehen, der am 29. November 1995 in Göttingen begann.23 Der Spiegel formulierte dabei die Erwartung, dass die Verhandlung »Einblicke in ein Metier geben [könne], das trotz Affären vielen immer noch als barmherzig und septisch gilt: in den Handel mit Blut«.24 Die Verhandlung stellte sich als eine »Sisyphus-Arbeit«25 mit einer Unmenge an zu sichtenden Akten dar. So ist nicht verwunderlich, dass bis zum Urteilsspruch nicht nur die geplanten sechzig, sondern 96 Sitzungstermine in zwei Jahren verstrichen. Während des Prozesses beteuerte Eckert immer wieder seine Unschuld. Er gab an, die verunreinigten Proben untersucht zu haben und dass die Testverfahren fehlerhaft gewesen sein müssten.26 Jedoch konnte Eckert für seine Aussage keine Der Skandal um HIV-verunreinigte Blutkonserven
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Beweise vorlegen, da er »die HIV-Tests nach Feierabend in einem Keller seines Wohnhauses gemacht habe.«27 Anfang Juni 1997 plädierte die Staatsanwaltschaft nach 18 Monaten Verhandlung für eine lebenslange Haftstrafe; am 24. Juni fiel das Urteil: Eckert wurde wegen Körperverletzung mit Todesfolge, uneidlicher Falschaussage und 128-fachen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt.28 Dabei folgten die Richter nicht der Begründung der Staatsanwaltschaft, die Eckert wegen Mordes und versuchten Mordes angeklagt hatte. Das Gericht, welches mit diesem Urteil »juristisches Neuland«29 betrat, sah es zwar auch als erwiesen an, dass Eckert mögliche Infektionen bewusst in Kauf genommen habe; jedoch sei die Hemmschwelle für einen »Gefährdungs- oder Verletzungsvorsatz« geringer als für einen Tötungsvorsatz, der in der Verhandlung nicht nachgewiesen werden konnte.30 Letztlich konnte der Prozess auch die Frage des Motivs nicht abschließend klären. Wenngleich der Vorwurf von »Habgier« bei tatsächlich eingesparten Kosten naheliegend erscheint, so sind diese zusätzlichen Einnahmen von etwa vierhunderttausend Mark im Verhältnis zum Gewinn des Unternehmens mit bis zu vier Millionen Mark im Jahr sehr gering. Hat der Mediziner diese verhältnismäßig geringe Gewinnsumme bewusst ausge schöpft trotz der Gefahr, ungeprüftes und damit möglicherweise verun reinigtes Blut auf den Markt zu geben? Diese Frage blieb auch nach 96 Verhandlungstagen ungeklärt, denn Eckert machte zu seinen Beweggründen während des gesamten Gerichtsprozesses keine Angaben.31 Mit den Fällen der Firmen UB Plasma und Haemoplas werden zwei Probleme deutlich: Die Kontrolle hatte in doppelter Hinsicht versagt, als Selbstkontrolle der Plasmafirmen und als übergeordnete staatliche Aufsicht.32 Der Spiegel schrieb 1993, dass die Kontrolleure der Aufsichtsstellen sowohl bei UB Plasma als auch bei Haemoplas »sträflich nachlässig«33 gearbeitet hätten. »Denn mit hoher Wahrscheinlichkeit hätten die Behörden die dubiosen Testpraktiken schon viel früher stoppen können.«34 So handelte beispielsweise die Bezirksregierung Braunschweig in der Kontrolle bei Haemoplas fahrlässig. Die Einschätzung der Behörde, dass ein »schuldhaftes Verhalten des Herstellers […] nicht nachweisbar«35 sei, stützte sich bei den ersten Verdachtspunkten 1989 276
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auf die Selbstauskunft des Unternehmens, die Proben seien auf HIV getestet worden. Offenbar, so beurteilt es der Spiegel 1993, kam in der Aufsichtsbehörde niemand »auf die Idee, in den Testlabors von Haemoplas könne gemauschelt werden.«36 Auch vor Gericht zeigte sich eine bereitwillige Einschätzung der Sachlage zugunsten des Unternehmens. In München wurde der Fall einer Frau verhandelt, die nach einer gynäkologischen Operation HIVverunreinigte Blutkonserven erhalten hatte. Das Gericht urteilte jedoch, dass kein Rechtsverstoß nachzuweisen sei. Dabei stützten sich die Richter vor allem auf die Aussage von Eckert, der angab, »von jeder Spende eine Probe« für eine Überprüfung erhalten und »auf HIV-Reaktion« getestet zu haben.37 Auf der anderen Seite offenbarte sich eine zweifelhafte Vorgehensweise des Plasmaunternehmens, bei dem Informationen lange verschwiegen oder »verschlampt wurden«38. Die Skandale der Firmen UB Plasma und Haemoplas bedeuteten vor allem einen erheblichen Vertrauensverlust in die Sicherheit von Blutspenden und Blutkonserven.39 Der Spiegel schrieb 1993, dass »das Ausmaß an Gewissenlosigkeit« lange undenkbar gewesen sei.40 Um die Sicherheit der so wichtigen Institution der Blutspende zu erhöhen und Vertrauen zurückzugewinnen, erließ der Bundestag infolge der Skandale von 1993 im Jahr 1998 ein neues Transfusionsgesetz, das strengere Richtlinien schaffen sollte. Ziel war es, durch »Vorschriften zur Gewinnung von Blut und Blutbestandteilen von Menschen und zur Anwendung von Blutprodukten für eine sichere Gewinnung von Blut und Blutbestandteilen […] zu sorgen«41. Die Sicherheitsproblematik bestand allerdings weiter. Noch im Jahr der Gesetzesverkündung gab es an der Universitätsklinik Göttingen erneut Fälle verunreinigter Blutkonserven, und acht Patienten infizierten sich mit Hepatitis C. Die Blutproben stammten von der Kasseler Firma Mediplasma. Dort wurde zwar ein offiziell zugelassener Test an den Spenden durchgeführt, jedoch versagte das Präparat. Dies zeigt, dass auch die Prüfmittel selbst fehlerhaft sein können und die Gefahr der Übertragung nicht gänzlich auszuschließen ist.42 Auch mehr als zwanzig Jahre nach dem großen Skandal um Haemoplas und UB Plasma bleibt die Frage von Sicherheit und Risiko bei der Blutspende und Bluttransfusion relevant. Es zeigt sich dabei ein Widerspruch zwischen dem Aufruf an die BevölkeDer Skandal um HIV-verunreinigte Blutkonserven
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rung, Gutes zu tun, auf der einen Seite und den Gewinninteressen von Unternehmen, die mit Blutkonserven handeln, auf der anderen Seite. Dabei ist die Aufsichtsfunktion der staatlichen Instanzen ein wichtiger Faktor für die Glaubwürdigkeit einer effektiven Kontrolle. Die Ängste der Bevölkerung bei Fragen ihrer persönlichen Gesundheit sind dabei ein nicht zu unterschätzender Faktor für das Funktionieren des Blutspendesystems. Da Blut nicht künstlich hergestellt werden kann, wären Engpässe der Konserven höchst problematisch. Es zeigt sich, dass Richtlinien und Kontrollen dabei bis heute nicht immer effektiv wirken und zu langfristigen Vertrauensverlusten führen können, so z. B. im 2012 entdeckten Göttinger Organspendeskandal.43
Anmerkungen 1 2 3 4 5
6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16
17 18
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Alfred Brugger, Der Skandal. Kommentar, in: HNA, 08.10.1993. Ausgabe vom 30.10.1993. O. V., Ängste im Blutsumpf, in: Der Spiegel, 08.11.1993. O. V., Aidsverseuchtes Blut. Arzt wegen Mordes angeklagt, in: HNA, 29.11.1995. Vgl. o. V., Eindeutig positiv, in: Der Spiegel, 27.11.1995. Vgl. auch Robert Deitenbeck, Die Entwicklung der autologen Hämotherapie in Deutschland von 1980 bis heute – Eine Standortbestimmung, in: Hämotherapie, H. 18/2012, S. 4–14, hier S. 5. Vgl. o. V., Der Skandal um das Blut, in: HNA, 28.11.1993. Vgl. Deitenbeck, Die Entwicklung, S. 7. Vgl. Philip Grassmann, Geiz im Labor hatte tödliche Folgen, in: Die Welt, 24.06.1997. Vgl. o. V., Unauffällige Daten, in: Der Spiegel, 15.11.1993. Ebd. Vgl. ebd. O. V., Eindeutig positiv. Vgl. ebd. und o. V., Aids-Blut-Prozess. Laborarzt zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt, in: HNA, 24.06.1997. Vgl. o. V., Eindeutig positiv. Vgl. ebd. So ein Sprecher des Gesundheitsministeriums, zit. nach: Volker Kretschmer, Der »AIDS-Skandal« aus Sicht eines Transfusionsmediziners. Eine absolute Sicherheit gibt es nicht, in: Deutsches Ärzteblatt, Jg. 90 (1993), H. 48, S. 31–33, hier S. 32. Vgl. o. V., Eindeutig positiv. Zit. nach ebd.
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19 Vgl. o. V., Aids-Skandal löst Mordanklage aus, in: Göttinger Tageblatt, 10.08.1995, und o. V., Anklage wegen dreifachen Mordes, in: HNA, 10.08.1995. 20 O. V., Anklage wegen dreifachen Mordes. 21 Vgl. ebd. und o. V., Eindeutig positiv. 22 Auch über das Verfahren gegen Gisbert berichtete die HNA am 29.11.1995: Im Falle des Leiters der Firma Haemoplas bestand der Verdacht, er habe »gemeinsame Sache mit Eckert gemacht, um den Gewinn seiner Firma zu erhöhen«. Nachdem jedoch Gisbert ausgesagt hatte, er sei selbst »Opfer der Machenschaften« (zit. nach o. V., Arzt wegen Mordes angeklagt, in: HNA, 29.11.1995) geworden, wurde die Mordanklage gegen ihn fallen gelassen. Vielmehr stellte Gisbert im Anschluss Schadenersatzansprüche in Millionenhöhe gegenüber der Generalstaatsa nwaltschaft Celle. Gisbert kritisierte, die Staatsanwaltschaft Göttingen habe »folgenschwere Amtspflichtverletzungen« (zit. nach ebd.) begangen und »dem Ansehen der Haemoplas und ihres Geschäftsführers […] immensen Schaden zugefügt« (zit. nach ebd.). 23 Vgl. o. V., Arzt wegen Mordes angeklagt. 24 O. V., Eindeutig positiv. 25 Heidi Niemann, Göttinger Aids-Prozess. Wahrheitsweg über Aktenberge, in: HNA, 01.12.1996. 26 Vgl. o. V., Staatsanwaltschaft fordert wegen Mordes »Lebenslänglich für Laborarzt«, in: Göttinger Tageblatt, 03.06.1997, und o. V., Wahrheitsweg über Aktenberge. 27 O. V., Wahrheitsweg über Aktenberge. 28 Über einen eventuellen Strafnachlass oder eine Wiederaufnahme des Verfahrens bei Berufung ist nichts bekannt. 29 Jürgen Gückel, Klug und mutig. Kommentar, in: Göttinger Tageblatt, 24.06.1997. 30 O. V., Niedrige Hemmschwelle – deshalb kein Mord, in: Göttinger Tageblatt, 24.06.1997. Vgl. ergänzend auch Grassmann, Geiz im Labor hatte tödliche Folgen, und o. V., Laborarzt zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt, in: HNA, 24.06.1997. 31 Vgl. o. V., »Lebenslänglich für Laborarzt«, und o. V., Laborarzt zu sechseinhalb Jahren Haft verurteilt. 32 Vgl. Brugger, Der Skandal. 33 O. V., Unauffällige Daten. 34 Ebd. 35 Zit. nach ebd. 36 Ebd. 37 Zit. nach o. V., Eindeutig positiv. 38 Vgl. Silvia Kusidlo/Julie Möller-Buchner, Saftiger Skandal, in: HNA, 08.10.1993. 39 Vgl. Grassmann, Geiz im Labor hatte tödliche Folgen. 40 O. V., Unauffällige Daten. 41 Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Gesetz zur Der Skandal um HIV-verunreinigte Blutkonserven
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Regelung des Transfusionswesens (Transfusionsgesetz – TFG), online einsehbar unter http://www.gesetze-im-internet.de/tfg/_1.html [eingesehen am 15.05.2015]. 42 Vgl. Deitenbeck, Hämotherapie, S. 7. 43 Vgl. hierzu den Beitrag von Leona Koch in diesem Sammelband.
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Schneeballschlacht am Gänseliesel Die Skandalinsolvenz der Göttinger Gruppe 2007 von Christopher Schmitz
»Es gilt der Satz – zum Mitschreiben –: Die Rente ist sicher.«1 Jene Sentenz, geäußert vom damaligen Minister für Arbeit und Sozialordnung, Norbert Blüm, in der Aussprache zur Rentenreform im Jahr 1997 im Bonner Bundestag, ist längst zum geflügelten Wort avanciert. 1997 war es auch, als Giovane Élber, Krassimir Balakov und Fredi Bobic letztmals als das sogenannte Magische Dreieck in der 1. Fußball-Bundesliga für Furore sorgten: Sie allein erzielten in jener Saison 49 von 78 Toren für den Traditionsverein VfB Stuttgart; Élber traf im Pokalfinale desselben Jahres zwei Mal zum 2 : 0-Endstand. Und als Kapitän Frank Verlaat an jenem Abend schließlich bei der Siegerehrung den »Pott« in den Berliner Abendhimmel streckte, prangte auf seiner Brust ein zweites, ein weiteres, vielleicht auch magisches Dreieck: Es war das Logo des damaligen Hauptsponsors der Schwaben. Dieser residierte an der Leine, in der Stadt des Gänseliesels. Es handelte sich um die »Göttinger Gruppe«. Dieses andere Dreieck ist es auch, das die Verbindung herstellt zum Blüm’schen Rentensatz: 1986 von Erwin Zacharias – der die Firma dann im Jahr 2001 verließ – unter dem Namen »Langenbahn AG « gegründet, firmierten unter dem Label der Göttinger Gruppe (GG) vor allem zwei Kapitalanlagegesellschaften zunächst mit dem namensgebenden Sitz in der Universitätsstadt Göttingen, später auch in Berlin: die »Göttinger Gruppe Vermögensund Finanzholding GmbH & Co. KGaA« und die »Securenta Göttinger Immobilienanlagen und Vermögensmanagement AG «. Beide Gesellschaften waren zeitweise die größten Gesellschaften am sogenannten Grauen Kapitalmarkt in Deutschland. Bei diesem handelt es sich »in der Regel um Kreditbeziehungen zwischen Unternehmen und Privathaushalten ohne Beteiligung von Geldinstituten. Da es für den Grauen Kapitalmarkt weitgehend keine Die Skandalinsolvenz der Göttinger Gruppe
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staatliche Regulierung gibt, gehen die Geschäftspraktiken der Anbieter manchmal über das bekannte kundenorientierte Maß der institutionellen Finanzdienstleister hinaus. Dennoch darf am Grauen Kapitalmarkt nicht von vornherein der Begriff ›grau‹ mit betrügerisch gleichgesetzt werden.«2 An diesem Markt war die GG , ergänzt um zahlreiche weitere Ableger und Tochterfirmen, aktiv.3 Das Herzstück des Geschäfts trug einen wohlklingenden Namen: SecuRente – eine sichere Rente, das war es, was Tausenden Anlegerinnen und Anlegern der Göttinger Gruppe und ihrer Tochtergesellschaften im Rahmen einer privaten Altersvorsorge versprochen wurde. Herzstück dieser Rente war ein Programm namens PSP – 1986 stand dies noch stellvertretend für einen »Pensions-Spar-Plan«, später bedeutete es dann »Persönliches Spar-Programm«, bevor es mit der Etablierung der Securenta AG schließlich den »Persönlichen Sachwert-Plan« in ein Akronym fasste. Dieses Buchstabenkürzel über fast zwanzig Jahre und verschiedenste Umbenennungen und Umstrukturierungen hinweg beizubehalten, war gewiss genau der Geniestreich der MarketingAbteilungen, als den ihn der FAZ -Journalist Hanno Mussler in seinem Stück über die Göttinger Gruppe bezeichnet hat.4 Überhaupt: Marketing und Selbstdarstellung waren die womöglich erfolgreichsten Geschäftsfelder, auf denen die Göttinger tätig waren. Mehrmals sponserte der Konzern zu Zeiten Helmut Kohls das Kinderfest im Kanzleramt.5 Dass es sich bei dem damaligen Präsidenten des Stuttgarter VfB, Gerhard Meyer-Vorfelder, auch um den amtierenden Finanzminister Baden-Württembergs handelte, schadete dem Ansehen und Leumund sicher ebenso wenig wie beispielsweise jene Broschüren, auf denen die führenden Köpfe der Göttinger Gruppe mit Politikern wie Kanzler Kohl, Außenminister Genscher oder vor allem dem ehema ligen Bundesvorsitzenden der FDP, Otto Graf Lambsdorff, zu sehen sind.6 So befand das WDR-Magazin MONITOR im Jahr 2007: »In ihren Prospekten konnte sich die Göttinger Gruppe immer wieder mit hochkarätigen Spitzenpolitikern schmücken. Gut fürs Geschäft mit der privaten Rente. Und das boomte.«7 Berühmte, respektierte Gesichter und eine hohe mediale Präsenz: Die Rechnung ging auf, wie sich ein Anleger gegenüber der Tageszeitung Die Welt erinnert: »Man hat die Leute von der Göttinger Gruppe doch ständig beim VfB Stuttgart gesehen und das Logo auf dem 282
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Trikot […]. Da dachte ich, die Firma muss ja weiß Gott wie viel Geld verdienen.«8 Bloß, das Versprechen von der sicheren Rente erwies sich letztlich als Schall und Rauch: Als das Göttinger Amtsgericht am 7. Juni 2007 die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gegen die GG bekannt gab, blieben, als sich der Staub zu legen begann, letztlich meist nur Trümmer vom großen Versprechen der sicheren Rente. Die Träume vom gesicherten Lebensabend verpufften in der Kernschmelze der Insolvenz. Tausende, wenn nicht Hunderttausende Privatanlegerinnen und -anleger sahen sich um ihre Spareinlagen gebracht, in der Ruhestandssicherung und bisweilen gar dem aktuellen Lebensstandard bedroht. Die genauen Zahlen divergieren, doch sind sie in jedem Fall beeindruckend: Zwischen 100.000 und 250.000 Sparerinnen und Sparer sollen betroffen sein. Es geht um Einlagen im Wert von knapp einer Milliarde Euro, die den Vermögensbilanzen der Holding und ihrer Tochtergesellschaften zugeflossen sind. Übrig geblieben sind davon am Ende, so eine Schätzung des Insolvenzverwalters, knapp eine Million Euro.9 Und der Rest? Einfach verdampft. Etwa 990 Millionen Euro – versickert in einem komplexen Geflecht von Firmen und Firmenbeteiligungen. Allein das schiere Ausmaß der verlorenen Geldwerte für die Anleger – der faktische Totalverlust – rechtfertigt vermutlich die Aufnahme der Göttinger Gruppe in die Serie »Finanzskandale« der FAZ . So ist auch nicht überraschend, dass die Göttinger Justiz seitdem unter der größten Prozessflut und den höchsten Aktenbergen ächzt, die der rote Ziegelbau zwischen Maschmühlenweg und Berliner Straße vermutlich bis dato gesehen hat – und vermutlich auch so schnell nicht wieder sehen wird. Insgesamt waren am Göttinger Amtsgericht bis zu 9.000 Klagen auf Schadensersatz anhängig. Und zwischenzeitlich waren auf die Namen der beiden nunmehr hauptverantwortlichen Vorstände, Marina Götz und Jürgen Rinnewitz, bis zu dreihundert Haftbefehle ausgestellt.10 Doch genügt es auch, um nicht nur von einem der größten Anlageskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte, sondern auch von einem Justizskandal zu sprechen?11 Dieser Vorwurf kommt hauptsächlich aus den Reihen des Verbraucherschutzes und bezieht sich maßgeblich auf die Geschäftspraktiken der GG . Diese basierten darauf, dass der VerkaufsDie Skandalinsolvenz der Göttinger Gruppe
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schlager der GG , die SecuRente, vor allem auf dem Erwerb von sogenannten atypischen stillen Beteiligungen fußte: Sparer und Anlegerinnen investieren ihre Ersparnisse dabei in Unternehmensanteile und hoffen über Dividenden und Gewinnbeteiligungen auf eine Rendite, die ihre Einlagen übersteigen. Dass aus diesem zunächst unspektakulär anmutenden Geschäftsmodell ein Skandal erwachsen konnte, hat im Falle der GG verschiedene, spezifische Gründe. Diese liegen zum einen in der Natur der atypischen stillen Beteiligung selbst: Bei dieser Anlageform werden Sparerinnen und Anleger nicht nur an den Gewinnen und Verlusten der Unternehmen beteiligt, sie haften auch für das Vermögen der Gesellschaft. Riskant wird diese Beteiligungsform in dem Moment, wenn es im betreffenden Unternehmen zu Zahlungsschwierigkeiten kommt – in diesem Fall können die »Stillen«, wie die Anlegerinnen und Anleger in diesem Fall auch genannt werden, auch über ihre Einlagen hinaus haftbar gemacht werden.12 So geschehen bei der Insolvenz der GG . Nicht nur, dass sich Anlegerinnen und Anleger als Gläubiger betrachteten, die ihre Einlagen zurückforderten und retten wollten; Insolvenzverwaltung und Finanzämter sahen sie z. T. auch als Schuldner, an die im Rahmen der Insolvenzabwicklung Rück- und Nachzahlungsforderungen gerichtet wurden. Neben dem häufigen Totalverlust der Einlagen mussten einige Sparerinnen und Sparer am Ende sogar noch draufzahlen. Angesichts dieser Risiken monierten Anlage- und Verbraucherschützer schon früh eine Irreführung, da es sich bei der SecuRente eben nicht um ein sicheres, sondern vielmehr um ein hochriskantes Anlagemodell gehandelt habe. Derlei wird in einer weiteren MONITOR-Sendung, dieses Mal aus dem Jahr 1997, deutlich. Doch die kritisierenden Stimmen aus den Reihen des Verbraucherschutzes geben an gleicher Stelle ebenfalls zu: Das Risiko des Totalverlusts sei in den Prospekten der Göttinger Gruppe durchaus thematisiert worden.13 In einem zweiten Schritt basierte das System darauf, dass die angelegten Sparguthaben zunächst in Unternehmen investiert wurden, die geplant – meist über einen Zeitraum von drei Jahren – Verluste machen sollten: In dieser Zeit wurden die gezahlten Einlagen als Verlust ausgewiesen, die gegenüber dem Finanzamt steuerlich geltend gemacht werden konnten. Erst später sollten jene Unternehmen in eine Phase des Gewinns übergehen und 284
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Renditen an die Stillen ausschütten. Gleichzeitig konnten Anteile in eine neue Gesellschaft transferiert werden. Theoretisch springen die Stillen also von einem verlustreichen Unternehmen zum anderen und machen diese Verluste steuerlich geltend, bis sie mit dem Eintritt ins Rentenalter schließlich aus dem System der Kettensprünge aussteigen und die Renditen aus erfolgreichen Unternehmungen abschöpfen können. Renditen, die wiederum aufgrund des nun erreichten Rentenstatus deutlich günstiger versteuert werden. Nur, dazu ist es im Fall der GG nur höchst selten gekommen. Und gerade darin liegt das hohe Verlustrisiko, das sich auch durchaus in den Vertragsbedingungen wiederfindet – ohne dass sich daraus für Laien eine Nachvollziehbarkeit der Risiken ergeben muss: In einer gemeinsamen wissenschaftlichen Monografie präsentieren Erwin Zacharias, Michael Hebig und Jürgen Rinnewitz, die allesamt zu verschiedenen Zeitpunkten Vorstandsämter bei der GG innehatten, einen Mustervertrag für atypische stille Gesellschaften, der vermutlich jenen Verträgen ähnelt, die die Göttinger Gruppe angeboten hat.14 Aufmerksamkeit erregt in der Rückschau vor allem jener Passus, der es Anlegerinnen und Anlegern erlaubt, die geleisteten Anlagen zu entnehmen (und im Anschluss womöglich in einer weiteren Unternehmung zu reinvestieren), weil diese Entnahme als Schuld in den Büchern der Gesellschaft vermerkt wird, die im Falle der Auflösung der Gesellschaft beglichen werden muss und als Bringschuld der Stillen behandelt wird.15 Dies ist insofern problematisch, als das Geschäftsmodell maßgeblich auf genau solchen Entnahmen und einer Weiterverschiebung der Anteile basierte, um die Steuersparvorteile möglichst effektiv und lange ausschöpfen zu können – und die Eröffnung eines Insolvenzerfahrens die Auflösung der stillen Gesellschaft bedeutet.16 So gesehen hatte dieses Anlagemodell wenig mit Sicherheit zu tun, sondern war vielmehr hoch riskant. Wichtig zu erwähnen ist aber auch: Das Geschäftsmodell der GG war auf dem Papier auch eine konsequente Ausreizung einer politisch gewollten Situation.17 Darüber, ob in diesem Falle lediglich unternehmerisches Pech oder aber von Anfang an keine Gewinnerzielungsabsicht vorlag, sondern es sich vielmehr um ein Schneeballsystem handelte, bei dem eingeworbene Gelder zu mitunter großen Anteilen gar nicht erst investiert wurden, wie 1998 vermutet wurde18 – darüber wurde Die Skandalinsolvenz der Göttinger Gruppe
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schon früher, schon zu Beginn der 1990er Jahre, vor Gerichten gestritten. Bereits 1993, resümiert die Finanztest, sprach der DFIGerlach-Report, eine Publikation des Verbraucherschutzes, von einem »modifizierten Schneeballsystem«: »Die Bezeichnung als derartiges System unterstellt, dass die Ausschüttungen an Altanleger teilweise oder ganz mit den Einzahlungen neuer Sparer finanziert werden. Der Schneeball schmilzt, wenn keine neuen Anleger mehr gefunden werden.«19 Mit anderen Worten: Die Anlegerinnen und Anleger der ersten Generation erhielten ihre Renditen aus den Spareinlagen der zweiten Generation, jene dann aus der dritten und so weiter und so fort. Frank Wiebe bezeichnete dies im Handelsblatt als eine typische Vorgehensweise von Anlagebetrug, der »lediglich durch einen Wust von Tochtergesellschaften verschleiert« worden sei.20 Erst im März 2001 befand das Oberlandesgericht (OLG) Köln die Bezeichnung »modifiziertes Schneeballsystem« für rechtmäßig21 – und es dauerte weitere drei Jahre, bis das Bundesverfassungsgericht einen Revisionsantrag aus Göttingen gegen dieses Urteil endgültig zurückwies. Die Bezeichnung der Geschäfte der GG als »modifiziertes Schneeballsystem« war damit erst ein ganzes Jahrzehnt später endgültig rechtskräftig.22 Zu spät für Hunderttausende Stille. Zu diesem Zeitpunkt war der Konzern bereits im Niedergang: Der Vertrieb der SecuRente war eingestellt worden, immer wieder kam es zu Klagen und Insolvenzanträgen, weil Anlegerinnen und Anleger die verschleppte und verzögerte Auszahlung ihrer Einlagen erzwingen wollten oder aufgrund großer Verluste Schadensersatzansprüche geltend machten. Dennoch gelang es der GG bis Juni 2007 immer wieder, ernsthafte Konsequenzen durch außergerichtliche Einigungen, Vergleiche oder Auszahlungen im letzten Moment abzuwenden. Auch wurde seit 1999 bis zuletzt an einem neuen Verwaltungssitz, dem »Synergiezentrum«, mit Büros für bis zu vierhundert Angestellte an der Göttinger Siekhöhe gebaut23, während intern angeblich schon die Securenta AG abgewickelt wurde.24 Am Ende bleibt der Eindruck einer unendlichen Geschichte. Wieder und wieder warnten Verbraucherschutzorganisationen vor den Risiken des Geschäftsmodells. Und immer hielt die Göttinger Gruppe vor Gericht dagegen. Es erging Urteil um Urteil, mal erhielt die eine Seite Recht zugesprochen, mal die andere – auch wenn die Urteile gegen die GG überwiegen. Und immer und 286
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Der geplante Hauptsitz der Göttinger Gruppe, das »Synergiezentrum«, im Juni 2015.
immer wieder warnten und agierten Aufsichtsbehörden, ermittelten Justizbehörden – in Stuttgart, in Berlin, in Braunschweig. Ohne, dass sich über Jahre etwas geändert hätte. Dass die Prozesse gegen die Vorstände der Göttinger Gruppe – abgesehen von einer Geldstrafe wegen Formfehler in einem Prospekt – mit Freisprüchen endeten, mag das Gerechtigkeitsempfinden angesichts der drastischen Verluste, die viele Anlegerinnen und Anleger erlitten haben, arg strapazieren. Aber von Rechts wegen war den Vorständen kein Vorsatz nachzuweisen.25 Juristisch sind die Verluste daher wohl unter unternehmerischem Risiko zu verbuchen, auch wenn die Gerichte den Klagen der Stillen ob der mangelhaften Informationspolitik immer wieder recht gegeben haben. Auch wenn das Handelsblatt von einer »deutschen Justiz, die über weite Strecken mit dem Thema einfach überfordert war«26, spricht, wobei sich die Gerichte zu sehr in Detailfragen verloren und zu wenig mit dem Gesamtkonzept beschäftigt hätten27 – urteilen können diese nur im Rahmen bestehender Gesetze. Für einen Justizskandal reicht es deswegen wohl nicht. Am Ende sind es die Anlegerinnen und Anleger, die auf jeden Fall »gefoppt« sind.28 Die Skandalinsolvenz der Göttinger Gruppe
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Und so bleibt am Ende die Frage, ob der eigentliche Skandal nicht in einer mitunter jahrelangen Ignoranz und Untätigkeit der Politik zu suchen ist: also in der politisch gewollten Förderung privater Altersvorsorge inklusive steuerlicher Abschreibemöglichkeiten, auch über den kaum regulierten Grauen Kapitalmarkt mit all seinen Risiken, und weniger in der konsequenten und am Ende spektakulär gescheiterten Ausreizung dieser staatlich geförderten Verlustrechnungen durch ein Göttinger Finanzunternehmen. 2007, direkt nach der Pleite, auf einen etwaigen Handlungsbedarf der Politik angesprochen, wird der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück von der MONITOR-Redaktion mit folgenden Worten wiedergegeben: »Welche Geldanlage für den Einzelnen zur privaten Altersvorsorge geeignet ist, müsse jeder Bürger in eigener Verantwortung entscheiden.«29 Es brauchte bis zum April 2015, bis das sogenannte Kleinanlegerschutzgesetz schließlich den Bundestag passierte. Damit sollen Verbraucherinnen und Verbraucher besser vor den Risiken der Kapitalanlage am sogenannten und bisher kaum regulierten Grauen Kapitalmarkt geschützt werden. Auslöser war jedoch die viel jüngere Pleite und anschließende Insolvenz des Windenergieunternehmens PROKON30 – und nicht die Insolvenz der Göttinger Gruppe als einer der größten Finanzskandale in der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Anmerkungen 1 Deutscher Bundestag, Stenographischer Bericht, 198. Sitzung. Bonn, Freitag, den 10. Oktober 1997, Plenarprotokoll 13/198, S. 17872, online einsehbar unter http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/13/13198.pdf [eingesehen am 08.04.2015]. 2 Thomas Werner/Ralf Burghardt, Der Graue Kapitalmarkt. Chancen und Risiken, Wiesbaden 2006, S. 46. 3 So listet das Unternehmensmagazin der Göttinger Gruppe, intern, für das Jahr 1998 alleine zwanzig Unternehmungen auf, die ganz oder teilweise im Besitz der Göttinger Gruppe Holding waren. Vgl. Göttinger Gruppe, Intern. Das Magazin der Göttinger Gruppe. Fakten ›98, Göttingen 1998, S. 8–11. 4 Vgl. Hanno Mussler, Das Steiger-Modell. Serie Finanzskandale (17): Göttinger Gruppe, in: FAZ.NET, 21.05.2009, online einsehbar unter http:// www.faz.net/aktuell/finanzen/finanzskandale/serie-finanzskandale-17-
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goettinger-gruppe-das-steiger-modell-1760098-p2.html?printPaged Article=true [eingesehen am 09.02.2015]. Vgl. Thomas Öchsner, Katastrophe für mehr als 100.000 Sparer, in: Süddeutsche.de, 21.05.2010, online einsehbar unter http://www.sued deutsche.de/geld/goettinger-gruppe-katastrophe-fuer-mehr-als-sparer1.879616 [eingesehen am 04.06.2015]. Vgl. o. V., Abzocken mit Hilfe des Staats, in: Finanztest, H. 8/2007, S. 36 f. Markus Zeidler/Georg Wellmann/Ingo Blank, Megapleite: Wie die Justiz bei den dubiosen Finanzgeschäften der »Göttinger Gruppe« weggeguckt hat. Sendungsmanuskript, in: MONITOR vom 21.06.2007, ARD, S. 3. Zit. nach Sebastian Jost, Mit Sicherheit in den Totalverlust, in: Welt Online, 22.08.2007, online einsehbar unter http://www.welt.de/welt_print/ article1124400/Mit-Sicherheit-in-den-Totalverlust.html [eingesehen am 04.06.2015]. Vgl. Mussler. Vgl. Jürgen Gückel, Fast 9000 Schadensersatzklagen gegen Göttinger Gruppe, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung Online, 04.03.2013, online einsehbar unter http://www.haz.de/Nachrichten/Wirtschaft/ Deutschland-Welt/Fast-9000-Schadensersatzklagen-gegen-GoettingerGruppe [eingesehen am 08.04.2015]. Vgl. Öchsner, Katastrophe für mehr als 100.000 Sparer. Vgl. Mussler. Vgl. Philip Siegel, VfB Stuttgart. Sendungsmanuskript, in: MONITOR vom 20.03.1997, ARD, S. 4–8. Erwin Zacharias/Michael Hebig/Jürgen Rinnewitz, Die atypisch stille Gesellschaft. Recht, Steuer, Betriebswirtschaft, Bielefeld 1996, S. 239. Wörtlich heißt es an dieser Stelle: »Der Vertrag zur Begründung atypisch stiller Gesellschaften basiert auf einem tatsächlichen Vertragsangebot einer Finanzdienstleistungsgruppe.« Es kann also zumindest gemutmaßt werden, dass mit der erwähnten Finanzdienstleistungsgruppe die Göttinger Gruppe gemeint ist. Vgl. ebd., S. 253. Vgl. Uwe Blaurock, Handbuch Stille Gesellschaft. Gesellschaftsrecht – Steuerrecht, Köln 2010, S. 375. Grundlage hierfür waren vor allem das 1983 bzw. 1987 verabschiedete vierte und fünfte Vermögensbildungsgesetz. Beide sollten die »Vermögensbildung in Arbeiterhand« weiter vorantreiben. Dazu wurden die Anlagemöglichkeiten auf nicht-börsennotierte Unternehmen ausgeweitet, auch stille Beteiligungen ermöglicht und Steuervergünstigungen geschaffen. Vgl. hierzu auch Rainer Erbe, Vermögensbildungspolitik in der Bundesrepublik: eine Bilanz, in: Wirtschaftsdienst, H. VII/1999, S. 421–428, hier S. 422 f. Vgl. Zeidler/Wellmann/Blank, S. 3. Zit. nach o. V., Göttinger im Abseits, in: Finanztest, H. 5/2001, S. 68 f., hier S. 68. Die Skandalinsolvenz der Göttinger Gruppe
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20 Frank Wiebe, Pleite mit Ansage, in: handelsblatt.com, 11.06.2007, online einsehbar unter http://www.handelsblatt.com/unternehmen/management/ goettinger-gruppe-insolvent-pleite-mit-ansage/2819188-all.html [eingesehen am 09.02.2015]. 21 Vgl. OLG Köln, Urteil vom 06.03.2001, Az. 15 U 58/94, online einsehbar unter https://openjur.de/u/87100.print [eingesehen am 15.06.2015]. 22 Vgl. Bundesverfassungsgericht, Verfahren über Verfassungsbeschwerde, Beschluss vom 28.07.2004, Az. 1 BvR 2566/95, online einsehbar unter https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/ DE/2004/07/rk20040728_1bvr256695.html [eingesehen am 15.06.2015]. 23 Vgl. Göttinger Gruppe, S. 7. 24 Vgl. Marianne Storck, Drohen Göttinger Gruppe Zahlungen in Milliardenhöhe?, in: Versicherungsmagazin Online, 22.09.2004, online ein sehbar unter http://www.versicherungsmagazin.de/Aktuell/Nachrichten/ 195/2749/Drohen-Goettinger-Gruppe-Zahlungen-in-Milliardenhoehe-. html [eingesehen am 15.06.2015]. 25 Vgl. Jürgen Gückel, Geldstrafe statt Gefängnis für Vorstände, in: Göttinger Tageblatt Online, 21.09.2012, online einsehbar unter http://www. goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Goettingen/Uebersicht/Geldstrafestatt-Gefaengnis-fuer-Vorstaende [eingesehen am 04.06.2015]; o. V., Freisprüche für Ex-Vorstände der Göttinger Gruppe, in: handelsblatt.com, 11.12.2013, online einsehbar unter http://www.handelsblatt.com/unter nehmen/banken-versicherungen/bgh-bestaetigt-freisprueche-fuer-exvorstaende-der-goettinger-gruppe/9203574.html [eingesehen am 09.06. 2015]. 26 Wiebe. 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. Jürgen Gückel, Göttinger Gruppe: Finanzamt fordert Millionen, in: Göttinger Tageblatt Online, 07.09.2012, online einsehbar unter http://www. goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Goettingen/Uebersicht/GoettingerGruppe-Finanzamt-fordert-Millionen/%28display%29/allpages [eingesehen am 15.06.2015]. 29 Zit. nach Zeidler/Wellmann/Blank, S. 5. 30 Vgl. o. V., Strengere Regeln am Grauen Kapitalmarkt, in: FAZ.NET, 12.11.2014, online einsehbar unter http://www.faz.net/aktuell/finanzen/ meine-finanzen/versichern-und-schuetzen/nachrichten/strengere-regelnam-grauen-kapitalmarkt-13261988.html [eingesehen am 04.06.2015].
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Christopher Schmitz
Am Abgrund Der Veruntreuungsskandal am Jungen Theater Göttingen (2010) von Sebastian Kohlmann
Ein ungewöhnlicher Mittwoch Der 7. Juli 2010 sollte das Aus für Deutschland bedeuten. Mit 0 : 1 verpasste die deutsche Nationalelf den Einzug ins WM-Finale in Südafrika. So war dieser Mittwoch von vornherein schon kein gewöhnlicher. 31 Millionen1 verfolgten das Spiel im Fernsehen, auch in Göttingen beim Public Viewing in einer der vielen Innenstadtkneipen oder zu Hause. Die rund 35 Mitarbeiter2 des hiesigen Jungen Theaters (JT) dürften das Spiel nur noch am Rande, zumindest aber mit Sorgenfalten ganz anderer Art geschaut haben. Denn für sie sollte es an diesem Mittwoch um mehr gehen als nur um ein Fußballspiel – es ging um ihre Existenz, um die Existenz des Jungen Theaters Göttingen. Die Polizei stellte just an jenem Tag »Buchungsunterlagen und Computer des Theaters«3 sicher. Nur zwei Tage später war klar: Dem Jungen Theater, neben dem Deutschen Theater das kleinere der zwei größeren Theater in Göttingen, drohte der Konkurs. Bis zu 300.000 Euro waren verschwunden, mutmaßlich veruntreut.4 Andreas Döring, Intendant und Geschäftsführer des JT, brach seinen Urlaub ab und beantragte beim »Amtsgericht Göttingen die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens«5. Er teilte mit: »Wir müssen die Ansprüche des Hauses sichern. Das finanzielle Desaster ist nicht überschaubar«.6 Was war geschehen? Über mehrere Jahre hinweg soll eine Mitarbeiterin des Theaters Gelder unterschlagen haben. »Dem Aufsichtsrat seien offenbar für die Jahre 2007, 2008 und 2009 gefälschte Jahresabschlüsse vorgelegt worden, teilte der Vorsitzende des Aufsichtsrates, Frank-Peter Arndt, in einer Presseerklärung mit.«7 Aufgeflogen waren die Unregelmäßigkeiten dadurch, dass Der Veruntreuungsskandal am Jungen Theater Göttingen
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die zuständige Bank das Konto gesperrt hatte und die »Gehälter nicht mehr ausgezahlt werden konnten«8.
Turbulent seit »Urfaust« Nun also drohte erneut der Verlust dieser Göttinger Theaterstätte, nur sechs Jahre nachdem das Theater bereits einmal ein Insolvenzverfahren hatte einleiten müssen. Damals wurde die Junges Theater GmbH aufgelöst, das Theater selbst hingegen war in einer neuen gemeinnützigen Gesellschaft aufgegangen.9 Bereits seit Ende der 1950er Jahre existierte das Theater unter verschiedenen Rechtsformen – am 4. September 1957 begann die wechselvolle Geschichte mit der Premiere des »Urfaust«.10 Das Junge Theater sollte sich bald neben dem Deutschen Theater etablieren und durchaus wichtige Persönlichkeiten der Theaterszene hervorbringen. So hat die Theaterkarriere etwa von Michael Börgerding, dem heutigen Intendanten des Theater Bremen, ihren Ursprung am JT, wo er nach seinem Studium mehrere Jahre als Dramaturg und Regisseur tätig war.11 In der Form seit 2004 erhielt das Theater nun »pro Jahr 710 000 Euro [Zuschüsse, Anm. d. V.] von der Stadt und 27 800 Euro vom Landkreis Göttingen.«12 Die monatlichen Zahlungen der Stadt Göttingen wurden mit Bekanntwerden der neuesten Vorwürfe zunächst ausgesetzt.13 Intendant Döring sprach von einer »extreme[n] Betroffenheit« und einem »Schock« unter den Mitarbeitern.14
Großer Aufschrei Die drohende Gefahr einer Schließung beschäftigte jedoch nicht nur Theater-Insider, sondern die Bürger der Stadt Göttingen insgesamt. Der Aufschrei war groß, was allein an den vielen Kommentaren auf der Homepage des Göttinger Tageblatts, das zeitweise beinahe täglich über den Skandal berichtete, zu sehen war. Wie üblich in Foren, wuchsen sogleich verschiedene Verschwörungstheorien aus dem Boden. Und auch wenn sie forentypisch zugespitzt und nicht repräsentativ sind, spiegeln sie doch ein Bild der Empörung wider. So schrieb »war mal im JT« unter der Überschrift 292
Sebastian Kohlmann
Das Junge Theater Göttingen im Sommer 2015.
»Reine Abzockmasche«15: »Ich trau dem Insolvenzverwalter und dem Insolvenzgericht nicht. Die haben zuviel Dreck am Stecken. […] Man müsste dort eine unabhängige Kanzlei oder sowas beauftragen, die mal hinter die Kulissen (nicht auf der Bühne) sieht.«16 Der Verfasser schloss mit den Worten: »Irgendwas ist da nicht koscher«. Ein anderer, sein Name »Unverantwortliche«, sprach von »Kasperletheater vom Feinsten« und schimpfte über die Geschäftsführung und den Aufsichtsrat, die nicht genug Einsatz gezeigt hätten. »Da wurden nur die neuen guten Zahlen abgefeiert und kein Mensch ist mal auf die Idee gekommen zu […] [schauen,] ob die Buchführung der Bank auf die gleichen Ergebnisse kommt.«17 Unter der Überschrift »Verwalter und Richter lachen sich bestimmt kaputt« schrieb »S. P.«: »[I]ch glaub[,] das schert die einen Scheiss [sic!], was wir Bürger denken oder schreiben. Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.«18 Unter dem Pseudonym »Insolvenzmafiageschädigter« hatte ein Kommentator bereits einen Tag vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens und nur einen Tag, nachdem die Vorwürfe laut geworden waren, sein Urteil abschließend gebildet. In Göttingen würde man so etwas »Insolvenzmafia« nennen, schrieb er, und mutmaßte: Der Veruntreuungsskandal am Jungen Theater Göttingen
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»300.000 € ist wirklich völlig unbedeutend zu den Summen, die ansonsten unter dem Tisch durchgereicht werden. Es weiss [sic!] Jedermann aus der Branche, man schweigt und kassiert mit. Der Kreis der Begünstigten ist relativ groß und schließt auch Mitarbeiter aus Justizkreisen ein, die eigentlich für Rechtmäßigkeit einzutreten« hätten.19 Ein anderer schimpfte unter dem Namen »Michael Ballack«: »Wird dann die Bude wenigstens auch dicht gemacht!? Junges Theater ist doch mal sooo langeweilig [sic!] und inhaltslos. Es geht doch nur noch darum sich Wasser über die Köpfe zu […] [gießen] und nackt schreiend das Publikum zu erschrecken! Das nennt sich dann Kultur! Kein Wunder, dass denen die Kohle fehlt. Wer will sowas sehen?«20 Es gibt genug Untersuchungen über die Diskussionskultur in den Kommentarspalten der Onlineausgaben von Zeitungen. An dieser Stelle soll dieser Auszug aus den insgesamt 33 Kommentaren zunächst exemplarisch für die Stimmung in Göttingen genügen – ohne auf die Art der Kommunikation einzugehen.
Breiter Schulterschluss Während nicht nur in diesem Forum vollkommen unterschiedliche, teils auch sehr plakative Positionen sichtbar wurden, formierte sich schnell ein breiter Schulterschluss aus Göttinger Politik, Kultur und Medien, der ein gemeinsames Ziel hatte: die Rettung des Theaters. So sprach Dagmar Schlapeit-Beck, Kulturdezernentin der Stadt Göttingen und Mitglied des Aufsichtsrats des Jungen Theaters, gegenüber dem Göttinger Tageblatt von einer »persönliche[n] Tragödie« für jeden Mitarbeiter des Theaters. Die Sozialdemokratin äußerte die Hoffnung, dass es »in Abstimmung mit dem Insolvenzverwalter gelingt, eine Zukunftslösung zu finden«. Für eine solche gebe es aus »allen politischen Richtungen« »großen Rückhalt«21, wenngleich die Ideen zur Rettung zumindest in Nuancen noch voneinander abwichen. Interessant war in diesem Zusammenhang ein Lösungsvorschlag, der immer wieder in die Debatte eingebracht worden ist. Gabriele Andretta, damals stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD im Niedersächsischen Landtag mit Wahlkreis in Göttingen, regte »eine Kooperation mit dem Deutschen Theater […] 294
Sebastian Kohlmann
an.« Ihre Begründung: »Wenn die Verwaltung in den erfahrenen Händen des DT liegt, kann sich das Junge Theater unter der Leitung von Andreas Döring auf die künstlerische Arbeit konzentrieren«22. Auch wenn zu den Einzelheiten noch Verhandlungsbedarf bestand, war die Richtung der SPD doch klar. Man werde »alles daran setzen, dass die Göttinger Theaterlandschaft keinen Schaden nimmt«, betonte z. B. der Stadtverbandsvorsitzende Gregor Motzer.23 Auch die »CDU-Kreistagsfraktion in Person des Vorsitzenden Harald Noack«24 kündigte Unterstützung an. Früh machte er sich für eine Anschubfinanzierung stark.25 Noack zeigte sich jedoch skeptisch, ob »es möglich sein wird, mit dem vorläufigen Insolvenzverwalter eine Fortsetzung der Spieltätigkeit des JT […] zu erreichen«26. Konstruktiv empfahl er die Neugründung einer GmbH. Auch die Göttinger Piratenpartei, deren Bundespartei gerade auf einer Welle des Erfolgs schwamm, meldete sich mit eigenen Ideen zu Wort, nämlich mit einer »Leere-Sitze-Patenschaft«: »Wer sich verpflichtet, 15 Euro monatlich oder wöchentlich zu zahlen, gleicht damit irgendwann im Monat oder in der Woche einen der nicht verkauften Zuschauerplätze aus«. Ziel sei es, damit »ein Stück Göttinger Kultur am Leben zu erhalten«.27 Selbst die FDP, im Bund lange Zeit eine Anhängerin von Planinsolvenzen und dergleichen, sprach sich für eine Fortführung des Theaters aus, wenngleich sie die Kritik auch auf die Geschäftsführung und den Aufsichtsrat ausweitete, die »versagt« hätten. »Wir wollen das Theater erhalten, aber mit neuer Führung«.28 Tatsächlich war zu diesem Zeitpunkt schon die Arbeit an einem Zukunftskonzept des JT in vollem Gange. Schlapeit-Beck nahm hier als Kulturdezernentin und Aufsichtsratsmitglied eine wichtige Rolle ein. Sie zeigte sich optimistisch, eine »neue Gesellschaftsform« zu finden und »mit der Stadt Göttingen einen neuen Zuwendungsvertrag abzuschließen«. Die Schauspieler »seien motiviert«, verkündete sie: »Sie wollen wieder auf die Bühne und Einnahmen einspielen.«29 Die Reaktionen in der Zeit nach dem Bekanntwerden der Veruntreuungen am JT sind ein Beispiel für die kommunale Politik, die sich im Schulterschluss für ihre Kulturträger engagiert. Jedenfalls zitierte das Göttinger Tageblatt bereits knapp einen Monat nach dem Insolvenzantrag Aufsichtsratschef Arndt mit den Worten, dass das JT nur weiterexistieren könne, wenn die Stadt Der Veruntreuungsskandal am Jungen Theater Göttingen
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die Zahlungen von 50.000 Euro wieder aufnehme. Man werde daher »den kommunalen Trägern, neben der Stadt ist das der Landkreis Göttingen, empfehlen, dem vorläufigen Insolvenzverwalter […] ›die Geldbeträge für das restliche Jahr zur Verfügung zu stellen‹«30. Das war ein interessantes Ansinnen, konnte doch nach wie vor nicht abschließend beziffert werden, wie hoch der finanzielle Schaden tatsächlich ausfiel.
Schockstarre überwunden In dieser heißen Phase erwachten nun auch die Mitarbeiter des JT aus ihrer Schockstarre – und plädierten an die Stadt. In einer Pressemitteilung, die u. a. das Theaterkritikportal nachtkritik.de veröffentlichte und damit für eine weitere überregionale Aufmerksamkeit sorgte, äußerten sie sich umfangreich zu den Vorwürfen. Unter der Überschrift »Geschockt, doch nicht gelähmt«31 hieß es: »In den ersten Tagen war es uns allen unmöglich zu begreifen, dass das Junge Theater, das wir gerade […] erneut zu einer Rekordspielzeit geführt hatten und welches wir mit unserem neuen Spielplan 2010/2011 wiederum auf Erfolgsspur sahen, plötzlich existenziell bedroht sein sollte.« Offen appellierten die Verfasser an die Politik: »Dieser Veruntreuungsskandal muss strukturelle Korrekturen im Betrieb zur Folge haben. Und wir gehen davon aus, dass die entsprechenden Entscheidungsträger aus Politik und Verwaltung unsere Struktur nachhaltig ausbessern und auch Geschäftsführung und Intendanz trennen, die unter dem Druck des Neubeginns 2004 aus Kostengründen zusammengelegt wurden.« Schließlich gaben die Mitarbeiter des JT der Stadt eine Begründung für die Fortführung der Zuschüsse mit: »Unsere Aufgabe ist es, gutes, engagiertes, kritisches und unterhaltsames Theater für Göttingen und die Region zu machen. Der Erfolg der letzten Jahre dokumentiert, dass die vergleichsweise geringen Zuschüsse von Stadt und Landkreis effektiv eingesetzt wurden. Denn das Junge Theater Göttingen erlebt aktuell eine seiner größten Blütezeiten.« Die Stellungnahme stellte auch eine Rückendeckung für den bisherigen Intendanten Andreas Döring dar, der zeitweise selbst in die Kritik geraten war: »Uns ist an dieser Stelle wichtig festzustellen, dass unser Intendant Andreas Döring die entscheidend prägende 296
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Figur dieses Theaters und seiner Erfolgsgeschichte ist. An seiner Integrität und fachlichen Kompetenz gibt es für uns nicht den geringsten Zweifel. Mit ihm konnte sich das JT künstlerisch so gefestigt und vielschichtig aufstellen, wie selten zuvor.« Zweckoptimismus wurde schließlich im Abschlusssatz verbreitet: »Das ganze Theater arbeitet wie geplant für eine spannende Spielzeit 2010/2011.«
Fortführung und Konsequenzen Auch die Medien, insbesondere die Hessische/Niedersächsische Allgemeine und das Göttinger Tageblatt, plädierten für eine Fortführung des Theaters. Und tatsächlich: Schon Mitte August desselben Jahres konnte der Kulturausschuss der Stadt grünes Licht geben, »bis zum Jahresende den monatlichen Gesamtzuschuss von 60.000 Euro weiterhin an das Theater zu zahlen«32. Einstimmig hatte der Kulturausschuss des Rates entschieden.33 Wäre dies nicht geschehen, hätte es vorerst keine weitere Spielzeit gegeben. So aber war die mittelbare Zukunft gesichert – und das Theater konnte mit der schon lange geplanten, nun aber noch passenderen Premiere »Die Räuber« von Friedrich Schiller34 in die nächste Spielzeit starten. Natürlich beeinflussten die Geschehnisse die Proben für das Stück, das – entsprechend eines längeren Vorlaufs – schon vor dem Finanzskandal fest als Spielzeiteröffnung eingeplant war. Intendant und Regisseur Döring sagte dazu, dass es »bei den Proben ganz merkwürdig« gewesen sei, da sich »die Situation des Theaters in dieser Inszenierung automatisch spiegelt«35. Für ihn sei das jedoch nichts ganz Neues, betonte er mit Blick auf die Schließungspläne im Jahr 2004: »Als ich 2003 als Regisseur hierher kam und ›Rio Reiser – Der Kampf ums Paradies‹ inszenierte, ging es darum, die JT-Schließung zu verhindern. Das war damals eine ähnliche Situation wie heute.«36 Der Schulterschluss hatte nunmehr erneut funktioniert und zog weitere Kreise. Ende des Jahres 2010 schien ein Weiterbetrieb auch für 2011 möglich. Um diesen jedoch nachhaltig zu sichern – auch hier zeigen sich wieder die lokalen Möglichkeiten der Partizipation –, wurde etwa ein Benefizkonzert in der Göttinger Lokalität Nörgelbuff durchgeführt. Es sollte den Auftakt mehrerer Der Veruntreuungsskandal am Jungen Theater Göttingen
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Veranstaltungen des Vereins »Freunde des Jungen Theaters in Göttingen« darstellen. Und was blieb vom Skandal? Es folgte eine juristische Aufarbeitung, die verdächtigte Person stritt zwar eine persönliche Bereiche rung bis zuletzt ab, wurde aber »vom Amtsgericht [Göttingen, Anm. d. V.] mit einem Strafbefehl zu 210 Tagessätzen zu je 30 Euro verurteilt«. Eine Klage gegen den damaligen Aufsichtsrat wurde hingegen in mehreren Instanzen abgewiesen, sodass alle »Aufsichtsratsmitglieder […] entlastet worden«39 sind. Gegen die angedachte Eingliederung in das Deutsche Theater wiederum liefen die Mitarbeiter des Jungen Theaters massiv Sturm. Und setzten sich letztendlich durch.40 Ansonsten aber ist mittlerweile wieder jeder Mittwoch ein ganz gewöhnlicher Mittwoch. Eines allerdings hat sich dennoch verändert: Das Junge Theater hat eine ganz neue Konkurrenz bekommen: Das Deutsche Theater betreibt unter der Intendanz von Erich Siedler eine Verjüngung seines, größeren Theaters, die nicht nur dank der neu eingeführten, im gesamten Komplex des Deutschen Theaters stattfindenden DT-X-Party sichtbar wird.41 Das aber fördert den Wettbewerb – nicht den krimineller Natur, sondern den im künstlerischen Bereich.
Anmerkungen 1 Vgl. o. V., WM-Finale bringt ARD Rekordquote, in: Berliner Zeitung Online, 14.07.2014, online einsehbar unter http://www.berliner-zeitung. de/medien/86--marktanteil-wm-finale-bringt-ard-rekordquote,10809188, 27815718.html [eingesehen am 06.08.2015]. 2 Vgl. o. V., Junges Theater Göttingen in Not, in: die tageszeitung, 10.07.2010. 3 Ebd. 4 Vgl. ebd. 5 O. V., Buchhalterin soll 300.000 Euro veruntreut haben, in: Hessische/ Niedersächsische Allgemeine Online, 09.07.2010, online einsehbar unter http://www.hna.de/lokales/goettingen/drama-goettingen-junges-theatermuss-wegen-betrugsskandal-insolvenz-bentragen-834929.html [eingese hen am 02.08.2015]. 6 Zit. nach o. V., Untreue-Verdacht: JT fehlen bis zu 300.000 Euro, in: Göttinger Tageblatt, 09.07.2010. 7 O. V., Junges Theater Göttingen. 8 O. V., Bis zu 300.000 Euro abgezweigt, in: nachtkritik.de, 09.07.2010, online einsehbar unter http://nachtkritik.de/index.php?option=com_con tent&view=article&id=4532&catid=126 [eingesehen am 14.07.2015].
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9 Vgl. o. V., Untreue-Verdacht. 10 Vgl. ebd. 11 Vgl. die Biografie von Michael Börgerding auf der Homepage des Theater Bremen, online einsehbar unter http://www.theaterbremen.de/de_DE/ haus/michael-boergerding.73409 [eingesehen am 14.07.2015]. 12 Andreas Fuhrmann, Insolvenz angemeldet – jetzt startet die Spurensuche, in: Göttinger Tageblatt, 10.07.2010. 13 Vgl. o. V., Untreue-Verdacht. 14 Zit. nach Fuhrmann. 15 Siehe die Kommentarspalte zu folgendem Artikel: Andreas Fuhrmann, Insolvenz angemeldet – jetzt startet die Spurensuche, Göttinger Tageblatt Online, 08.07.2010, online einsehbar unter http://www.goettinger-tage blatt.de/Nachrichten/Goettingen/Uebersicht/Insolvenz-angemeldet-jetztstartet-die-Spurensuche [eingesehen am 14.07.2015]. 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 Zit. nach Fuhrmann. 22 Zit. nach Andreas Fuhrmann, Andretta für JT-Rettung, in: Göttinger Tageblatt, 03.08.2010. 23 Zit. nach ebd. 24 Andreas Fuhrmann, Junges Theater: Erst die Rettung, dann »Die Räuber«?, in: Göttinger Tageblatt, 31.07.2010. 25 Vgl. Andreas Fuhrmann, Zukunft des JT: »Einziger Ausweg Neugründung«, in: Göttinger Tageblatt, 29.07.2010. 26 Zit. nach ebd. 27 Zit. nach Michael Brakemeier, Junges Theater: Landkreis gibt Zuschuss für 2010 frei, in: Göttinger Tageblatt Online, 29.08.2010, online einsehbar unter http://www.goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Goettingen/ Uebersicht/Junges-Theater-Landkreis-gibt-Zuschuss-fuer-2010-frei [eingesehen am 31.07.2015]. 28 Zit. nach Michael Brakemeier, Zahlungen an das Junge Theater gehen weiter, in: Göttinger Tageblatt, 14.08.2010. 29 Zit. nach Fuhrmann, Erst die Rettung. 30 Andreas Fuhrmann, JT-Rettung möglich: Stadt müsste Zahlungen wieder aufnehmen, in: Göttinger Tageblatt, 04.08.2010. 31 Presseerklärung der Mitarbeiter des Jungen Theaters Göttingen: Schockiert, doch nicht gelähmt, in: nachtkritik.de, 06.08.2010, online einsehbar unter http://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view= article&id=4576:presseerklaerung-der-mitarbeiter-des-jungen-theatersgoettingen&catid=126:meldungen [eingesehen am 14.07.2015]. 32 Fuhrmann, Erst die Rettung. 33 Vgl. ebd. 34 Vgl. Mark-Christian von Busse, Der Mensch watet im Morast, in: Hessische/ Der Veruntreuungsskandal am Jungen Theater Göttingen
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Niedersächsische Allgemeine Online, 03.09.2010, online einsehbar unter http://www.hna.de/kultur/mensch-watet-morast-904902.html [eingesehen am 31.07.2015]. Andreas Döring im Gespräch mit dem Göttinger Tageblatt, zit. nach Angela Brünjes, »Es passt«: Neustart mit »Die Räuber«, in: Göttinger Tage blatt, 28.08.2010. Ebd. Vgl. Indra Hesse, Benefiz für das Junge Theater im Göttinger Nörgelbuff, in: Göttinger Tageblatt Online, 21.12.2010, online einsehbar unter http:// www.goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Kultur/Kultur-vor-Ort/Benefizfuer-das-Junge-Theater-im-Goettinger-Noergelbuff [eingesehen am 31.07. 2015]. Jürgen Gückel, JT-Buchhalterin erhält Strafbefehl, in: Göttinger Tageblatt, 26.11.2011. O. V., Junges Theater: Insolvenzverwalter verliert Berufung, in: Hessische/Niedersächsische Allgemeine Online, 24.02.2014, online einsehbar unter http://www.hna.de/lokales/goettingen/goettingen-ort28741/gerichtspricht-aufsichtsrat-frei-3382190.html [eingesehen am 31.07.2015]. Zur Debatte empfiehlt sich folgender Artikel: Leonie Krutzinna, Aktenzeichen EHP 054 ungelöst, in: nachtkritik.de, 27.03.2013, online einsehbar unter http://nachtkritik.de/index.php?view=article&id=7883:die-goettingertheaterlandschaft-und-die-fusionsplaene-um-deutsches-theater-undjunges-theater&option=com_content&Itemid=84 [eingesehen am 02.08. 2015]; außerdem: Johanna Karch, Das neue Theater für alle, in: litlog.de, 12.09.2014, online einsehbar unter http://www.litlog.de/das-neue-theaterfuer-alle/ [eingesehen am 02.08.2015]. Auch wenn die Fusionspläne aktuell kein Thema mehr sind, gibt es mittlerweile doch einige Kooperationsprojekte zwischen den beiden Häusern, z. B. mit den Stücken »Mut« und »Verrücktes Blut«, vgl. hierzu http://www.junges-theater.de/content/ index.php?id=356 und http://www.junges-theater.de/content/index.php? id=360 [eingesehen jeweils am 02.08.2015]. So stellte z. B. Jan Fischer auf nachtkritik.de 2014 eine Verjüngung des Deutschen Theaters fest; vgl. Jan Fischer, Fegefeuer der Euphemismen, in: nachtkritik.de, 03.10.2014, online einsehbar unter http://www.nacht kritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=10071: homo-empathicus-mit-seiner-urauffuehrung-von-rebekka-kricheldorfsstueck-beginnt-erich-sidler-in-goettingen-programmatisch&catid=332& Itemid=100190 [eingesehen am 13.07.2015].
Sebastian Kohlmann
Zwischen politischem Theater und unpolitischer Posse Der AStA-Finanzskandal von 2010/11 und seine Folgen von Hannes Keune1
Ohne die wilden Studienzeiten vergangener Jahrzehnte verklären zu wollen, ist es sicherlich nicht falsch, die Hochschule der 1960er oder 1970er Jahre für einen wesentlich politischeren Raum zu halten als die »neoliberal« verfasste Universität von heute. Diese Entwicklung betrifft wohl Lehrkörper wie Studierende gleichermaßen. Nun versteht sich, dass sich auch das beschauliche Göttingen jener gesellschaftlichen Tendenz, die man mit den Begriffen der Entpolitisierung und Entideologisierung zu verstehen versucht, nicht entziehen kann. Dies trifft natürlich auch die studentische Alltagswelt, ist doch das Studium im Vergleich zu beispielsweise den 1960er Jahren zunehmend rationalisiert und den auf Flexibilität setzenden Arbeitsmärkten angepasst worden: Politisch sein bindet Kräfte, die man im Hauen und Stechen der Kommilitonen um gute Zukunftsaussichten besser gebrauchen kann, und setzt eine gewisse »lebensweltliche« Freiheit voraus, die heute mehr Ausnahme denn Regel ist.2 Die von den unzähligen Bildungsprotesten der vergangenen Jahre diesbezüglich als Hauptschuldige identifizierte Bologna-Reform wirkt sicher verstärkend, ist aber nicht der Ausgangspunkt dieser Entwicklungen. An der Geschichte des nahezu unpolitischen, aber bei den Studierenden von heute beliebten Campus-Magazins Unicum kann der Entpolitisierungsprozess nachvollzogen werden.3 Gleiches gilt für die an vielen deutschen Universitäten in dezidierter Abgrenzung von den ideologischen Auseinandersetzungen entstandenen, der Selbstbeschreibung nach »unpolitischen« und »serviceorientierten« Gruppierungen. Wo sie – wie beispielsweise die Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Fachschaftsmitglieder (ADF) in Göttingen seit den Nullerjahren – die Hochschulpolitik dominieren, Der AStA-Finanzskandal und seine Folgen
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ist diese auf bloße Verwaltung, die Bereitstellung von Altklausuren, regelmäßige Veranstaltungsreihen zu den Zukunftsaussichten wahlweise der BWL -Studierenden, der Soziologen oder der Juristen sowie von der studentischen Linken immer verzweifelter und oftmals dilettantisch geführte turnusmäßige Studierendenparlamentssitzungen beschränkt.4 Als Ausnahmen von diesem hochschulpolitischen Normalvollzug können für die Göttinger Alma Mater lediglich die mitunter sehr orientierungslosen und unter dem Strich recht erfolglosen Bildungsstreik-Rituale angeführt werden – wäre da nicht ein »WM-Debakel« der ganz besonderen Art dazwischengekommen, wie sogar der Spiegel zu berichten wusste.5
18.000 Euro »für Koks und Nutten«?! Doch was war passiert? Zur Fußball-Weltmeisterschaft der Männer 2010 in Südafrika hatte der Allgemeine Studierendenausschuss (AStA), bestehend aus der ADF und dem CDU-nahen Ring Christlich-Demokratischer Studenten (RCDS), die seit einigen Jahren unvermeidlichen Public Viewings zu den Spielen der deutschen Nationalmannschaft organisiert. Mit Vuvuzelas, DeutschlandFähnchen und schwarz-rot-goldener Gesichtsbemalung ausgestattet, jubelten viele Göttinger Studierende der sich furios bis ins Halbfinale spielenden jungen DFB -Auswahl zu. An der massenhaften Enthemmung im über die Fernsehgeräte virtuell verbundenen nationalen Kollektiv und der partypatriotischen deutschen Selbstbeweihräucherung nahmen in Göttingen bis zu 12.000 Menschen teil. Bis hierhin eine recht uninteressante Angelegenheit, an der sich wohl bloß einige »dauernörgelnde linke Spaßbremsen« stießen. Im AStA war man zufrieden – das Public Viewing war ein Erfolg: Sommerliche Wochen voller Fußball, Grillgut und nationalem Freudentaumel entsprachen dem eigenen Anspruch, einige wenige unpolitische »Events« zu organisieren und sich ansonsten jedweden über die Parole der »Serviceorientierung« hinausgehenden studentischen Engagements zu enthalten. Kein Skandal in Sicht, wäre der internen Revision an der Georg-August-Universität nicht aufgefallen, dass den Organisatoren des weltmeisterlichen Public Viewings 18.000 Euro verlustig gegangen waren. 302
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Für die oppositionellen linken Hochschulgruppen war dies natürlich ein gefundenes Fressen, kochte der »AStA-Finanzskandal« doch im November 2010 und damit keine zwei Monate vor den Hochschulwahlen hoch, die die regierende ADF in den vorausgegangenen zehn Jahren souverän für sich hatte entscheiden können. Das Basisdemokratische Bündnis, eine über Basisgruppen an vielen Fakultäten organisierte linksradikale Gruppierung, warf dem konservativen AStA »systematische Unterschlagung«6 vor. Die damals im bundesweiten Vergleich als relativ links einzuschätzenden Hochschulgruppen der Jusos und der Grünen stießen ins gleiche Horn. Man sprach von »Versagen auf ganzer Linie«7, schien es doch unzweifelhaft so, dass Personen aus dem unmittelbaren Umfeld der Studierendenvertretung an der Entwendung des Geldes beteiligt gewesen waren.8 Die linke Spaßtruppe von schwarz-rot-kollabs brachte an der Fassade der Staatsund Universitätsbibliothek ein Transparent an, auf dem sie die Göttinger Studierendenvertretung sich bei ihren Wählern bedanken ließ: »18.000 Euro für Koks und Nutten. Vielen Dank, euer AStA«.9 Im nun mit äußerst harten Bandagen geführten Wahlkampf vermengte sich die Kritik der linken Opposition an der offenkundigen Inkompetenz des amtierenden AStA mit einer Auseinandersetzung über die unpolitische Ausrichtung von ADF und Konsorten, die endlich wieder prominent und pointiert thematisiert werden konnte. In der Folge wurde gar bekannt, dass im Laufe des Kalenderjahres 2010 weitere 7.000 bis 12.000 Euro bei Veranstaltungen im studentischen Partykeller »Vertigo« und einer Orientierungsphasen-Party der Mathematiker, insgesamt also bis zu 30.000 Euro, abhandengekommen waren.10 Dies wog umso schwerer, da der studentische Finanzrevisor der Jusos bereits im Juli 2010 im Zwiegespräch mit dem Finanzreferenten Eric Möhle (RCDS) auf »gravierende buchhalterische Versäumnisse«11 hingewiesen hatte.12 Prinzipiell hätten so zumindest die Ungereimtheiten bei der Orientierungsphasen-Party und im »Vertigo« verhindert werden können. Möhle trat folgerichtig im Dezember zurück, wenn auch ohne öffentliche Erklärung. Susanne Peter, AStA-Vorsitzende von der ADF, wagte sich Mitte Dezember als einzige der politisch Verantwortlichen aus der Defensive und gestand in einer Sitzung des StuDer AStA-Finanzskandal und seine Folgen
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dierendenparlaments (Stupa) eine gewisse Mitschuld ein. Spätestens hier zeichnete sich ab, dass der ADF/RCDS -AStA nicht mehr zu halten war und sich in seine Einzelteile zerlegte. Das Ausscheren der AStA-Vorsitzenden konterkarierte die Versuche der ADF Altkader, den sich abzeichnenden Skandal, so gut wie nur irgend möglich, einzuhegen. So wurde nach außen immer noch eine gewisse Koalitionstreue zur Schau getragen, de facto versagten ADF und RCDS aber dem jeweils anderen die Stimmen zur Wahl der studentischen Vertreter im Vorstand des Göttinger Studentenwerks, Susanne Peter war eigenmächtig an die Öffentlichkeit getreten und gab dem linken Göttinger Stadtmagazin Monsters of Göttingen ein »Enthüllungsinterview«. Kein Zufall also, dass der Stupa-Präsident, ein ADF -Mitglied, die letzte Sitzung vor den Weihnachtsferien vorzeitig abbrach, um die Koalition zumindest in eine Atempause zu retten.
Ein hochschulpolitisches »Erdbeben«? Retten konnte das die amtierende AStA-Koalition gleichwohl nicht mehr, dazu war die studentische Empörung ob des verschlampten Mammons zu groß. Zum ersten Mal seit zehn Jahren konnten linke Gruppen bei den im Januar 2011 abgehaltenen UniWahlen die Mehrheit der Stimmen erringen – die Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Fachschaftsmitglieder, die durch eine »serviceorientierte« Verwaltung des hochschulpolitischen Status quo den allgemeinen Trend einer Entpolitisierung der Studierendenschaft zugleich ausdrückte und ihn sich geschickt zunutze machte, war abgewählt worden. Relativ schnell konstituierte sich ein linker AStA aus Jusos, Grüner Hochschulgruppe, Basisdemokratischem Bündnis und der anarcho-satirischen Gruppe schwarz-rot-kollabs. Die neue Studierendenvertretung trat als dezidiert politische auf, wie es ja auch durch das Niedersächsische Hochschulgesetz gestützt ist. Dies untermauerte sie durch die Neugründung dreier Referate im AStA: Neben dem den Jusos zugeschlagenen Ressort für politische Bildung stellten die Grünen ein Ökologie- und die Basisgruppen ein Gender-Referat. Zudem krempelte der neue AStA die Kulturarbeit komplett um: Anstatt einiger weniger größerer »Mainstream«-Events im »Vertigo« organisierte das um 304
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schwarz-rot-kollabs gruppierte »Kulturkollektiv« eine Vielzahl von Konzerten, Vernissagen und Partys mit den verschiedensten Hintergründen – auch hier mit dem Anspruch, politisch zu wirken. Für die politisch Verantwortlichen im Göttinger »AStA-Finanzskandal« sollte dieser allerdings keine nachhaltigen juristischen Folgen haben, auch wenn bis heute nicht bekannt ist, was aus dem »verschwundenen« Geld geworden war: Zwar hatte Susanne Peter nach Abschluss interner Ermittlungen Strafanzeige gegen vier Tatverdächtige, von denen eine Person aus dem unmittelbaren Umfeld der Studierendenvertretung stammen soll, gestellt.13 Im Oktober desselben Jahres wurden die Ermittlungen von der Staatsanwaltschaft Göttingen allerdings eingestellt. Das empörte nicht nur die ehemalige AStA-Vorsitzende Peter, sondern auch die neue Studierendenvertretung. Und tatsächlich bleibt ein übler Nachgeschmack, wurden nach damaliger Kenntnis des AStA doch weder seine Vorsitzende und die Geschäftsführerin noch die Verantwortlichen in Finanzreferat und Public-Viewing-Projektstelle von der ermittelnden Staatsanwaltschaft befragt.14 Blickt man knapp viereinhalb Jahre nach diesen Ereignissen zurück, lässt sich folgendes Resümee ziehen: Zunächst einmal hatte die Fahrlässigkeit des 2010 amtierenden AStA aus ADF und RCDS der verfassten Studierendenschaft einige formale Konse quenzen. Als direkte Reaktion auf das »verschwundene« Geld setzte die Universitätsleitung der studentischen Selbstverwaltung engere Grenzen und nimmt seitdem das Aufsichtsrecht ihr gegenüber wesentlich schärfer wahr. So wurde eine neue Finanzordnung verabschiedet, die eine ganze Reihe von Kontrollmechanismen implementierte, an die sich die Göttinger Studierendenausschüsse auch in Zukunft zu halten haben. Dies schließt z. B. eine Veranstaltungsprüfkommission ein. Was die hochschulpolitische Landschaft angeht, kann im Jahre 2015 von einer Normalisierung der Verhältnisse gesprochen werden. Für die Legislaturperiode 2011/12 konnte sich der linke AStA aus Jusos, Grünen und linksradikalem Anhang nur unter Tolerierung der ansonsten unscheinbaren Piraten-Hochschulgruppe an der Macht halten. Im Folgejahr kam es zu einer vieldiskutierten Koalition aus ADF und rot-grünen Hochschulgruppen. Seit 2014 regiert wieder die ADF, zunächst mit Unterstützung der Unabhängigen Mediziner, seit 2015 in Zusammenarbeit mit dem RCDS , der Der AStA-Finanzskandal und seine Folgen
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Briefkästen am AStA-Gebäude in der Goßlerstraße 16a. Wohin die »verschwundenen« Gelder flossen, ist bis heute nicht bekannt.
Liberalen Hochschulgruppe und – wohl ein Einzelfall in der Bundesrepublik – der dem Titanic-Magazin vorgeblich nahestehenden Göttinger Die PARTEI-Hochschulgruppe. An der Hegemonie der unpolitischen Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Fachschaftsmitglieder dürfte sich auch in Zukunft wenig ändern. Zum einen liegt dies daran, dass die Göttinger Studierendenschaft außerhalb der Philosophischen und Sozialwissenschaftlichen Fakultät eher konservativ bis unpolitisch eingestellt ist, zum anderen daran, dass die hochschulpolitische Linke mit wenigen Ausnahmen kaum außerhalb der eigenen Klientel in Erscheinung tritt und de facto nur noch identity politics betreibt. Schlussendlich und vor allem hat der »AStA-Finanzskandal« nur eine äußerst kurzfristige Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse herbeigeführt. Im Vergleich zu »politischeren« Jahrzehnten mögen die heutigen Studierenden im Durchschnitt sogar liberaler und weltoffener im Sinne des von Gerhard Schröder beschworenen »Aufstands der Anständigen« in der Berliner Republik geworden sein. Sicher: Man wählt überproportional »grün« und ist häufig ehrenamtlich engagiert, wie eine Umfrage des Instituts für Demo306
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kratieforschung unter Göttinger Studierenden ergab.15 Die studentische Lebenswelt ist aber, wie oben bereits angesprochen, zunehmend unpolitischer geworden, sie wirkt in ganz anderem Maße auf die Individuen ein als ehedem. Darüber täuscht auch ein gewisses politisches Grundinteresse bei vielen Studierenden nicht hinweg, weshalb sich die These der Entpolitisierung auch nur vordergründig mit den Ergebnissen besagter Studie beißen dürfte. Dieser Umstand wird auch in Zukunft der Hauptgrund dafür sein, dass eine Hochschulgruppe wie die Arbeitsgemeinschaft Demokratischer Fachschaftsmitglieder die Göttinger Hochschulpolitik nach Belieben dominieren kann. Das kurze Gedächtnis der Göttinger Studenten in Sachen »Finanzskandal« hat dies deutlich gemacht: Kaum eine Bachelorkohorte später sitzt die ADF so fest im Sattel wie vor Bekanntwerden der finanziellen Ungereimtheiten. Selbst die turnusmäßigen Bildungsstreik-Aktionen, die schon ihres rituellen Charakters wegen skeptisch zu betrachten wären, haben daran in der Vergangenheit nichts geändert. Auch im Falle eines erneuten »Skandals« zulasten des amtierenden Göttinger AStA dürfte gelten: Die ADF ist tot, es lebe die ADF!
Anmerkungen 1 Der Autor war im Wintersemester 2010/11 selbst aktiv in der Göttinger Hochschulpolitik, hatte also nicht nur Einblick in, sondern auch teil an den im Folgenden beschriebenen Auseinandersetzungen um die Finanzen des Allgemeinen Studierendenausschusses (AStA). 2 Vgl. Gerhard Stapelfeldt, Der Aufbruch des konformistischen Geistes. Thesen zur Kritik der neoliberalen Universität, Hamburg 2007. 3 Vgl. Magnus Klaue, Campus-Magazine: Der Siegeszug der Pausenfüller, in: FAZ.NET, 31.08.2014, online einsehbar unter http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/forschung-und-lehre/erfolgreich-und-verwechselbarcampus-magazine-13116898.html [eingesehen am 11.06.2015]. 4 Das soll nicht heißen, dass in den wilden Zeiten des studentischen Aufbruchs ab Ende der 1960er Jahre die Universitäten ein öffentlicher Raum gewesen wären, in dem das republikanische Ideal eines um das bessere Argument bemühten demokratischen Diskurses tatsächlich realisiert worden wäre. 5 Vgl. Christoph Titz, WM-Debakel für den Asta: 18.000 Euro futsch, in: Spiegel Online, 08.12.2010, online einsehbar unter http://www.spiegel.de/ unispiegel/studium/wm-debakel-fuer-den-asta-18-000-euro-futsch-a733611.html [eingesehen am 27.05.2015]. Der AStA-Finanzskandal und seine Folgen
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6 Zit. nach ebd. 7 Grüne Hochschulgruppe Göttingen, 18.000 € der Studierendenschaft verschwunden, Pressemitteilung vom 13.12.2010, online einsehbar unter http://ghg.blogsport.de/2010/12/ [eingesehen am 28.07.2015]. 8 Vgl. Johann Osel, Skandal an der Uni Göttingen. Der AStA kassiert, das Geld ist futsch, in: Süddeutsche Zeitung Online, 03.01.2011, online einsehbar unter http://www.sueddeutsche.de/karriere/skandal-an-der-unigoettingen-der-asta-kassiert-das-geld-ist-futsch-1.1042038 [eingesehen am 28.05.2015]. 9 Ein Foto des Transparents ist online einsehbar unter http://monstersof goe.de/2010/12/14/fehleranfaellige-buchfuehrung/ [eingesehen am 28.05. 2015]. 10 Vgl. Monsters of Göttingen, AStA-Finanzaffäre: Langfinger kommen davon, in: Monsters of Göttingen, 24.11.2011, online einsehbar unter http://monstersofgoe.de/2011/10/17/langfinger-kommen-davon/ [eingesehen am 27.05.2015]; Benjamin Laufer, Asta verballert zehntausende Euro, in: die tageszeitung, 27.12.2010. 11 Zit. nach Monsters of Göttingen, Jusos greifen AStA an: Fehleranfällige Buchführung, in: Monsters of Göttingen, 14.12.2010, online einsehbar unter http://monstersofgoe.de/2010/12/14/fehleranfaellige-buchfuehrung/ [eingesehen am 28.05.2015]. 12 Vgl. ebd. 13 Vgl. Monsters of Göttingen, AStA-Finanzaffäre. 14 Vgl. o. V. (Kürzel: gör), Finanzskandal: Asta protestiert gegen eingestellte Ermittlungen, in: Hessische/Niedersächsische Allgemeine Online, 23.10.2011, online einsehbar unter http://www.hna.de/lokales/goettingen/ finanzskandal-asta-protestiert-gegen-eingestellte-ermittlungen-1458205. html [eingesehen am 28.05.2015]. 15 Vgl. Lars Geiges/Verena Hambauer/Daniela Kallinich, Links oder rechts? Steinbrück oder Merkel?, in: Institut für Demokratieforschung, 18.09. 2013, online einsehbar unter http://www.demokratie-goettingen.de/blog/ links-oder-rechts-steinbruck-oder-merkel [eingesehen am 25.06.2015].
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Umverteilte Lebenschancen Der Organspendeskandal (2012) von Leona Koch
Derzeit warten rund 10.500 Menschen in Deutschland auf ein für sie überlebenswichtiges Spenderorgan.1 Sie alle stehen auf der zentralen Warteliste der Service-Organisation Eurotransplant, welche für die Allokation (Zuteilung der Organe) in acht europäischen Ländern nach ethischen und medizinischen Gesichtspunkten verantwortlich zeichnet. Diese Warteliste regelt den Zugang zu einem unveräußerlichen, das Leben bedingenden und knappen Gut, bei dem die Nachfrage etwa dreimal so groß ist wie das Angebot. Wäre alles vorschriftsgemäß verlaufen, wäre Herrn P. 2011 viel früher die für ihn überlebenswichtige Leber transplantiert worden. Denn ausgehend von seinem ursprünglichen vorderen Wartelistenplatz, hätte ihm zeitnah ein Spenderorgan zur Verfügung gestellt werden können, was aufgrund manipulierter Wartelisten jedoch nicht erfolgte. Im Gegenteil: Er rutschte durch die Manipulationen auf der Liste weiter nach unten und musste länger als ursprünglich geplant warten. Wäre hingegen alles vorschriftsmäßig verlaufen, dann wäre Frau S. bis heute keine für sie überlebenswichtige Leber transplantiert worden. Denn als bis dato nicht trockene Alkoholikerin hätte sie überhaupt keinen Zugang zur Warteliste gehabt, was jedoch aufgrund der manipulierten Warteliste umgangen wurde, sodass ihr zeitnah ein Spenderorgan zugeteilt und schließlich transplantiert wurde. Ob sich diese beiden Situationen tatsächlich so und verbunden durch einen Kausalzusammenhang zugetragen haben, ist bis heute ungewiss. Jedoch spiegeln sie ein Szenario wider, welches als Verdacht und Narrativ im Zusammenhang mit dem Göttinger Organspendeskandal immer wieder auftaucht – als Resultat subjektiver Eingriffe in ein scheinbar objektives System. Der Organspendeskandal
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Alles begann mit einem anonymen Anruf im Juli 2011 bei der Deutschen Stiftung Organtransplantation (DSO). Der Anrufer verwies auf »kriminelle Machenschaften«2 der Transplantationschirurgie der Uniklinik Göttingen und setzte mit diesem Hinweis einen Mechanismus in Gang, der in der medialen Rezeption vor Superlativen strotzt – von »eine[m] der größten Medizinskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte«3 ist die Rede, vom »größten Organspende-Skandal der Bundesrepublik«4 oder vom »schlimmste[n] Vorfall in der deutschen Transplantations medizin«5. Der sich nach einer ersten Meldung auf der Titelseite und im Lokalteil des Göttinger Tageblattes am 12. Juni 20126 schnell über die Stadt hinaus verbreitende Vorwurf konkretisierte sich im Laufe der Wochen seit Bekanntwerden: Ein Göttinger Transplantationsmediziner soll in den Jahren 2010 und 2011 bewusst Untersuchungswerte seiner Patienten gefälscht haben, um ihnen schneller die Aussicht auf eine Spenderleber zu ermöglichen, als es ihnen von ihrer eigentlichen Position auf der Warteliste her möglich gewesen wäre. Im Zuge dessen meldete er möglicherweise falsche Blutgerinnungswerte, Nierenfunktionswerte oder Dialysewerte von Patienten, die tatsächlich nicht dialysepflichtig waren, an Eurotransplant. In der Konsequenz veränderte er so die Zuteilungsreihenfolge, da den betreffenden Patienten durch die gefälschten Untersuchungswerte eine höhere Dringlichkeit zur Spende bescheinigt wurde, indem sie auf dem Papier kränker gemacht wurden, als sie es waren. Durch diese Begünstigung in Form einer privilegierteren Position auf der Warteliste konnte den Patienten vermutlich zeitnah ein Spenderorgan transplantiert werden, weswegen wiederum andere auf der Warteliste stehende Patienten geschädigt oder gar verstorben sein sollen, die durch die Manipulation an der Warteliste benachteiligt wurden und folglich kein Organ erhielten oder später als es ihnen zugestanden hätte. Hinzu kam die Anschuldigung, dass unter den vom Arzt Begünstigten auch alkoholabhängige Patienten gewesen sein sollen, die nicht die vorgeschriebene Alkoholkarenzzeit (Zeit der Abstinenz) von sechs Monaten eingehalten hätten und so nach Vorgabe der Bundesärztekammer (BÄK) weder Anrecht auf einen Wartelistenplatz noch auf ein Organ gehabt hätten. Des Weiteren stand der Transplantationsmediziner im Verdacht, drei Patienten trotz 310
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dagegensprechender medizinischer Befunde und nicht erforderlicher Krankheitsstadien Lebern transplantiert zu haben. Diese Patienten starben nach den Operationen.7 Ausgehend von diesen Verdächtigungen erhob die Staatsanwaltschaft Braunschweig am 19. Juni 2013 Anklage gegen den Mediziner wegen versuchten Totschlags in elf Fällen sowie wegen Körperverletzung mit Todesfolge in drei Fällen.8 Doch was bewegte den Arzt zu seinem Handeln? Zu Beginn der Berichterstattung wurde als Motiv in regionalen und überregionalen Medien der Verdacht der Manipulation gegen Geld und somit der Bestechlichkeit geäußert. Jedoch ließ sich eine »Wende in der [medialen] Argumentation«9 beobachten, nachdem dieser Verdacht von der Staatsanwaltschaft nicht bestätigt worden war.10 Vielmehr wurde nun auf die Unklarheit des Handlungsmotives verwiesen, teilweise jedoch weitere Motive wie ein »medizinischer Ehrgeiz«11, »Geltungssucht oder Eitelkeit«12, ein »überzogenes Helfermotiv«13 oder leistungsabhängige Bonuszahlungen14 in den Diskurs eingebracht, um das Handeln zu erklären. Auffällig ist, dass sich direkt zu Beginn der Medienbericht erstattung in der Öffentlichkeit ein Konzept der »Individualschuld« etablierte, indem immer wieder über den Göttinger Mediziner und die ihm gemachten Vorwürfe berichtet wurde. Von seiner Profession ausgehend, wurde ihm in der Rolle eines aktiv Handelnden ein »individuelles ärztliches Fehlverhalten«15 zugeschrieben, welches als moralisch höchst verwerflich bewertet wurde. Im Zuge dessen ließ sich jedoch nicht nur die Thematisierung seines vermeintlichen Fehlverhaltens als Mediziner registrieren, sondern auch die Thematisierung solcher Aspekte, die ihn als Privatperson betrafen und die mit den skandalösen Vorfällen verknüpft wurden – so wurde vermehrt sein Werdegang skizziert, seine familiären Verhältnisse rekonstruiert und auf besondere Charakterzüge hingewiesen, nach denen er als »kompetent[er]«16 und »charismatischer Arzt«17 galt, der jedoch nicht minder »geschäftstüchtig«18 war. Diese Vermischung der privaten und professionellen Ebene ließ den Mediziner noch stärker als Einzelperson in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken und machte ihn zudem für Göttinger Bekannte identifizierbar. Seit Beginn des Prozesses erschienen neben Berichten und Kommentaren auch Bilder des Arztes. Zwar stets mit einem zur Unkenntlichkeit verpixelten Der Organspendeskandal
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Das Logo des Transplantationszentrums in der Universitätsmedizin Göttingen im Juli 2012.
Gesicht, jedoch ließen diese Bilder einen ersten visuellen Eindruck von dem grauhaarigen Mann mit Brille zu. Die Darstellung des individuellen ärztlichen Fehlverhaltens wurde unweigerlich durch den Umstand verstärkt, dass er als alleiniger Angeklagter in dem Prozess vor Gericht stand. Allerdings wurde vor und während des Prozesses vermehrt darauf hingewiesen, dass noch weitere Personen beteiligt gewesen sein könnten und es »höchst unwahrscheinlich«19 sei, dass falsche Werte nur durch eine Person an Eurotransplant gemeldet wurden. Es gilt bis heute als unklar, welche Personen genau an den Manipulationen beteiligt gewesen waren; klar ist, dass der angeklagte Transplantationsmediziner durch die fokussierte mediale Berichterstattung und das gegen ihn eröffnete Verfahren als Hauptakteur des Skandals bezeichnet werden kann. Die lokale Eingrenzung des Skandals fällt an dieser Stelle genauso schwer wie die genaue Umfassung aller Beteiligten. So wurde im Zusammenhang mit dem Organspendeskandal primär über Manipulationen in Göttingen berichtet, jedoch auch auf weitere Unregelmäßigkeiten in Kliniken in Regensburg oder Jordanien verwiesen, in die der Mediziner vor seiner Tätigkeit in Göttingen verwickelt gewesen sein soll.20 Dennoch ist es die Stadt Göttingen, die als Ort des Geschehens in enger Verbundenheit mit 312
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dem Skandal in das Kollektivgedächtnis eingegangen ist, wohingegen die Unregelmäßigkeiten an Münchner, Leipziger und Münsteraner Kliniken eine minder große Wirkung auf die jeweilige Stadt besitzen. Dies ist nicht zuletzt damit zu erklären, dass bisher alleinig und erstmals in der bundesdeutschen Geschichte in Göttingen ein Prozess gegen einen Mediziner eröffnet wurde, der manipulierte Wartelisten für Organe in den Mittelpunkt stellte. Indes: Die zuvor erwähnte These von der »Individualschuld« des Göttinger Arztes bleibt in der Diskussion über den Organspendeskandal nicht vorherrschend. Vielmehr ließ sich einige Zeit nach Bekanntwerden der Manipulationen eine Übertragung der »Täterperspektive« von dem Arzt auf das System der Organtransplantation beobachten. Fortan war einerseits der Transplantationsmediziner für die moralisch verwerflichen Vorfälle verantwortlich, andererseits das System, welches diese erst ermöglicht habe. Genuine Defizite des Systems bestünden vorrangig in fehlenden Kontrollen und Aufsichten sowie einer geringen Transparenz, was durch mangelhafte Regelungen seitens des Gesetzgebers bedingt werde.21 So habe erst ein anonymer Anrufer auf die Manipulationen verwiesen, nicht etwa eine mit der Kontrolle beauftragte Instanz. Eine weitere Dimension des Skandals eröffnete die Urteilsverkündung. Mit dem Urteil vom 6. Mai 2015 wurde der Transplantationsmediziner von allen Anklagepunkten freigesprochen und gleichzeitig eine unterschiedliche Ahndung moralischen und rechtlichen Fehlverhaltens deutlich. Der Richter begründete den Freispruch mit einem nicht herzustellenden Kausalzusammenhang zwischen der Bevorzugung durch gefälschte Werte und dem Tod von Patienten auf hinteren Wartelistenplätzen, da die Organvergabe von vielen weiteren unabwägbaren Faktoren beeinflusst werde. Zudem habe man nicht zweifelsfrei nachweisen können, dass der Mediziner drei Patienten ohne medizinische Notwendigkeit eine Leber transplantiert habe. Bestehen bleibt letztlich der Vorwurf der Wartelisten-Manipulation, doch begründete der Richter das Urteil damit, dass die Fälschungen zum Zeitpunkt der Tat laut Transplantationsgesetz und den Richtlinien der BÄK nicht strafbar gewesen seien und somit – unter der Betonung der moralischen Verwerflichkeit – rein rechtlich keinen Tatbestand darstellten. Der Organspendeskandal
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Doch was bleibt trotz oder auch gerade wegen des Freispruchs? Es sind die Folgen auf der individuellen, gesellschaftlichen, juristischen und politischen Ebene, welche eng miteinander verwoben sind. Für den Transplantationsmediziner, dessen Beschäftigungsverhältnis mit der Uniklinik bereits kurz nach Bekanntwerden der Manipulationsvorwürfe aufgelöst wurde, bedeutet das Urteil eine Bestätigung seiner rechtlichen Unschuld. Folglich wird er zunächst keine Haft- oder Geldstrafe ableisten müssen, und da im Zusammenhang mit dem Freispruch auch kein Berufsverbot verhängt wurde, darf er weiterhin als Arzt tätig sein. Moralisch gesehen liegen die Dinge anders, und so wird der durch den Skandal bewirkte Reputationsverlust schwerlich wiederherzustellen sein – zu erdrückend die Vorwürfe, zu groß die mediale Aufmerksamkeit, zu groß die moralischen Verfehlungen, die trotz Freispruch bestehen bleiben. Vermutlich hängt der weitere Berufsweg des Arztes auch davon ab, inwiefern die von der Staatsanwaltschaft eingelegte Revision am Bundesgerichtshof aufgenommen und verhandelt wird. Göttingen jedoch, so ist anzunehmen, wird wohl nicht der Ort seiner professionellen Rehabilitation sein, nicht nur weil seit Beginn des Jahres 2015 – in Konsequenz des Skandals – die Lebertransplantationen an der Uniklinik Göttingen eingestellt wurden. Neben der Verunsicherung in der Medizin ist es die Verun sicherung in der Öffentlichkeit, die durch den Skandal hervorgerufen wurde. Diese Verunsicherung manifestiert sich in einem Rückgang der Spenderzahlen in den Jahren 2012/13 kurz nach Bekanntwerden der Vorkommnisse. Besonders besorgniserregend ist die Anzahl von 63 Organspendern im Oktober 2012 – bei einer derzeitigen Anzahl von rund 12.000 schwerkranken Patienten in Deutschland auf der Warteliste ein folgenreicher Tiefstand.22 Dass dieser Rückgang der Spenderzahlen, der sich seit 2014 wieder auf einem niedrigen Niveau stabilisiert hat23, aus dem geschwächten Vertrauen der Bevölkerung infolge der öffentlich gewordenen Manipulationen (gemeint ist nicht ausschließlich der Göttinger Fall) resultiert, ist für die DSO unumstritten.24 Der Rückgang der Spenderzahlen ist als Abstrafung des Organspendesystems zu verstehen, welches nach den Vorkommnissen in Göttingen manipulierbar und intransparent erscheint. Diese Abstrafung des Systems geht jedoch unwillkürlich mit einer Abstrafung aller Pa314
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tienten auf den Wartelisten einher, die dringend ein Spenderorgan benötigen. Die Politik reagierte auf die Manipulationsvorwürfe mit einer Änderung des Transplantationsgesetzes, die ähnliche Fälle in Zukunft verhindern – oder zumindest strafbar machen – soll. Die falsche Dokumentation und Erhebung von Patientendaten sowie die Übermittlung eines nicht der Wahrheit entsprechenden Gesundheitszustandes werden nun seit Ende 2013 mit einer Freiheitsbzw. Geldstrafe geahndet.25 Des Weiteren überwachen sogenannte Transplantationsbeauftragte die Abläufe, und eine »Transplantationskonferenz«, bestehend aus vier Medizinern des jeweiligen Transplantationszentrums, entscheidet über die Meldung der Patientenwerte und die damit verbundene Aufnahme in die Warteliste für Spenderlebern26, sodass die Verantwortung aus der Hand Einzelner genommen wird. Eine weitere Folge für Politik und Justiz ergab sich aus der Begründung des Urteils, wonach der Richter die Vorschriften der Bundesärztekammer für verfassungswidrig erklärte. Der Organspendeskandal brachte den Verstoß der BÄK-Richtlinien gegen das Grundgesetz zutage, nach dem jeder ein Recht auf Leben hat. Dieses würde jedoch durch die Vorschrift der sechsmonatigen Alkoholkarenzzeit untergraben, die Alkoholabhängigen den Zugang zur Warteliste verwehre und somit indirekt dieses Recht abspreche. Die Politik steht nun vor der Aufgabe, das Transplantationsgesetz und damit einhergehend alle Richtlinien so zu transformieren, dass ein Verstoß gegen die Verfassung nicht mehr gebilligt wird. Bislang sind die von der BÄK angekündigten Ausnahmefälle der Sechs-Monats-Regel jedoch nicht in die Richtlinien aufgenommen worden.27 Dieses durch den Skandal und vor allem die Rechtsprechung offenbar gewordene Problem eröffnet eine weitere Bedeutungsdimension: Wer ist nunmehr verantwortlich für den Tod der Patienten, die aufgrund der Sechs-Monats-Regelung kein Spenderorgan erhielten und infolgedessen verstarben?28 Des Weiteren hat der Skandal zur Entstehung eines Diskurses beigetragen, in dessen Zentrum die »Frage der Angemessenheit der etablierten transplantationsmedizinischen Entscheidungsprozesse«29 steht. Ausgelöst durch das Bekanntwerden der manipulierten Wartelisten und damit zutage getretener Handlungsfreiheiten, ist eine öffentliche Debatte über das gesamte System der Der Organspendeskandal
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Organspende entbrannt. Denn nicht nur der Zugang zur Warteliste und die Verantwortung der daran Beteiligten werden immer noch öffentlich diskutiert; auch generelle Debatten über die bestehenden Kriterien der Vergabe von Spenderorganen wurden angestoßen, da die Diskussion über Manipulation und Zugang immer wieder die Frage nach der Allokation berührt, etwa ob Organe wie bisher nach Erfolg und Dringlichkeit vergeben werden sollten und wie diesbezüglich »Erfolg« definiert wird – langfristig abzielend auf ein langes Leben nach der Transplantation oder kurzfristig auf eine geringe Abstoßungswahrscheinlichkeit? Die Fragen, die schon seit jeher diskutiert werden, wurden wieder aufgeworfen, besonders: Wer darf überhaupt festlegen, wer ein überlebenswichtiges Organ bekommt und wer nicht? Die so entstandene Debatte ist positiv zu werten, denn: »Die Frage, wie wir sozusagen Leben und Tod unter den Bürgern verteilen, das ist eine Frage, die uns als Gesellschaft definiert.«30 Jedoch regelt die Politik die Allokation nicht und schiebt die Entscheidung den Ärzten als medizinische Frage durch einen Gesetzesartikel im Transplantationsgesetz zu. Hier liegt das grundlegende Problem: Die folgenreiche Beantwortung dieser Frage kann nicht allein medizinisch erfolgen, denn aus rein medizinischer Perspektive müsste jedem Patienten, der ein Spenderorgan benötigt, ein solches zur Verfügung gestellt werden, da es für Mediziner keinen Grund gibt, nicht alles Erdenkliche für die Herstellung des Gesundheitszustandes oder die Rettung des Lebens der Patienten zu tun. Wir als Gesellschaft sollten deshalb weiter darüber diskutieren und dann beschließen, wie wir diese Entscheidung demokratisch legitimiert getroffen wissen wollen. Der Göttinger Transplantationsarzt hat sich indes vorab jeglicher gesellschaftlicher Konsensbildung und demokratischer Legitimation entschieden, wem er eine Chance auf Leben zu geben vermochte – rechtlich nicht verwerflich, moralisch schon.
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Anmerkungen 1 Stand vom 01.01.2015, vgl. dazu Eurotransplant, Kennzahlen, online einsehbar unter https://www.eurotransplant.org/cms/index.php?page=pat_ germany [eingesehen am 28.05.2015]. 2 Zit. nach Friederike Haupt, Der Teppichhändler, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.08.2012. 3 Robert von Lucius, Organspende-Skandal. Auffälligkeiten schon im Jahr 1995, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.07.2012. 4 O. V., Organspende-Skandal. Alles über die Fehltritte in der Transplantationsmedizin, in: Süddeutsche Zeitung Online, o. D., online einsehbar unter http://www.sueddeutsche.de/thema/Organspende-Skandal [eingesehen am 06.06.2015]. 5 Christina Berndt, Leber im Angebot, in: Süddeutsche Zeitung, 27.07.2012. 6 Vgl. Jürgen Gückel, Lebertransplantation: Ermittlungen gegen Arzt, in: Göttinger Tageblatt, 12.06.2012. 7 Vgl. Presseinformation der Staatsanwaltschaft Braunschweig, Anklage gegen Göttinger Transplantationsmediziner, 19.06.2013, online einsehbar unter http://www.staatsanwaltschaft-braunschweig.niedersachsen.de/ portal/live.php?navigation_id=22912&article_id=116171&_psmand=165 [eingesehen am 04.06.2015]. 8 Vgl. ebd. 9 Andrea Hoisl u. a., Wertungen des »Transplantationsskandals« durch die Medien. Diskursanalytische Studie an ausgesuchten deutschen Zeitungen, in: Der Anaesthesist, H. 1/2015, S. 15–25, hier S. 19. 10 Vgl. Presseinformation der Staatsanwaltschaft Braunschweig, Haftbefehl gegen Göttinger Transplantationsmediziner, 11.01.2013, online einsehbar unter http://www.staatsanwaltschaften.niedersachsen.de/portal/live.php? navigation_id=22912&article_id=112351&_psmand=165 [eingesehen am 04.06.2015]. 11 Christina Berndt/Verena Meyer, Manipulation bei Organspende bestätigt, in: Süddeutsche Zeitung, 30.09.2014. 12 O. V., Staatsanwalt erhebt Anklage im Organspende-Skandal, in: Die Zeit, 19.06.2013. 13 O. V., Organ-Skandal: Diskussion über Konsequenzen, in: NDR.de, 23.07. 2012, online einsehbar unter https://www.ndr.de/nachrichten/niedersach sen/braunschweig_harz_goettingen/Organ-Skandal-Diskussion-ueberKonsequenzen,transplantation151.html [eingesehen am 04.06.2015]. 14 Vgl. Erika Feyerabend/Martina Keller, Die Tricks der Transplanteure, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 05.08.2012. 15 Hoisl u. a., S. 19. 16 Haupt. 17 Christina Berndt/Annette Ramelsberger, Herr O. und der Tod, in: Süddeutsche Zeitung, 14.05.2015. 18 Ebd. Der Organspendeskandal
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19 Anna-Lena Roth/Simone Utler, Organspendeskandal in Göttingen: »Dafür ist kriminelle Energie nötig«, in: Spiegel Online, 20.07.2012, online einsehbar unter http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/organ spende-skandal-an-uniklinik-goettingen-arzt-soll-akten-gefaelscht-habena-845496.html [eingesehen am 07.06.2015]. 20 Vgl. Christina Berndt, Eine Leber für Jordanien, in: Süddeutsche Zeitung, 27.07.2012. 21 Vgl. Jaspar Barenberg, »Leben und Tod unter den Bürgern verteilen«. Interview mit Thomas Gutmann, in: Deutschlandradio, 13.08.2012, online einsehbar unter http://www.deutschlandfunk.de/leben-und-todunter-den-buergern-verteilen.694.de.html?dram:article_id=218443 [eingesehen am 03.06.2015]. 22 Vgl. DSO, Entwicklung der postmortalen Organspende in Deutschland, 24.04.2013, online einsehbar unter http://www.dso.de/dso-pressemitteilun gen/einzelansicht/article/entwicklung-der-postmortalen-organspendein-deutschland.html [eingesehen am 02.06.2015]. 23 Vgl. DSO, Zahl der Organspender stabilisiert sich auf niedrigem Niveau, 20.02.2015, online einsehbar unter http://www.dso.de/dso-pressemitteilun gen/einzelansicht/article/zahl-der-organspender-stabilisiert-sich-aufniedrigem-niveau.html [eingesehen am 03.06.2015]. 24 Vgl. DSO, Entwicklung der postmortalen Organspende in Deutschland. 25 Vgl. Transplantationsgesetz – TPG, Abschnitt 7, § 19 (2a), online einsehbar unter http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/tpg/gesamt. pdf [eingesehen am 01.06.2015]. 26 Vgl. Bundesärztekammer, Richtlinien für die Wartelistenführung und Organvermittlung zur Lebertransplantation, Abschnitt I. 5., online einsehbar unter http://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/ downloads/Leber_09122013.pdf [eingesehen am 01.06.2015]. 27 Vgl. ebd., Abschnitt III. 2.1. 28 Auf diese Problematik verwies auch der Verteidiger des angeklagten Mediziners nach der Urteilsverkündung, vgl. dazu Andreas Nefzger, Moralisch missbilligt – rechtlich nicht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.05.2015. 29 Konrad Hilpert, Die neue Debatte über die Transplantationsmedizin, in: ders./Jochen Sautermeister (Hg.), Organspende – Herausforderung für den Lebensschutz, Freiburg 2015, S. 13–28, hier S. 18. 30 So der Medizinrechtler Thomas Gutmann, zit. nach Barenberg.
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Erregte Tierwesen Der Skandal um Doppelkentaur und Kragenbär (1985–1987 und 2014/15) von Julia Kiegeland
Mitte der 1980er Jahre »Abstoßender Kadaver«, »blechernes Machwerk«, »absurdes Monstrum«, »Schandfleck«, »fragwürdige Kunst«, »verkrüppeltes stelzernes Pferd«, »Koloß aus zusammengenieteten Blechstücken«, »elefantöses Hinterteil und Riesenpenis«, »obszön und unschön«, »Stadtbildsünde«, »Chaotendenkmal«, »orgiastisch-pompöser Verfall«, »schwarzes Monster«, »Ungetüm mit Prothesen«, »Scherzartikel monumental«, »Blechwulst«, »häßliches Gebilde«, »übles Machwerk«, »Störfall«…1 Achthundert Kilogramm sorgen dafür, dass Göttingens Bürger 1985 bis 1987 auffallend kreativ in ihren Wortschöpfungen werden. In über zwei Dutzend abgedruckten Leserbriefen lassen sich heute noch der wortgewaltige Unmut und die andauernde Diskussion über den Ankauf einer Kunstskulptur nachvollziehen, welche für die Stadt zum Debakel um Finanzierung und Kunstverständnis der eigenen Bürger wird. Zu hässlich, zu abstoßend, zu teuer und verstörend übertrieben bestückt – der Doppelkentaur erregt zahlreiche Göttinger Gemüter. Insbesondere da die eigene Universität, folgt man einem empörten Leserbriefschreiber, eine Sammlung geeigneter antiker Gipsskulpturen vorzuweisen hat, die den Betrachter ewige künstlerische Schönheit doch besser lehren könnten.2 Der Doppelkentaur indes – offenkundig keine Schönheit, sondern ein Kriegsmahnmal des Künstlers Uwe Appold – wird zum Ziel all der eingangs zusammengetragenen Verunglimpfungen. Der umstrittene Erwerb dieses »Rostigen Reiters« – wie der Doppelkentaur beinahe liebevoll von seinen Befürwortern betitelt wird – ist gesäumt von Debatten über öffentliche Kunst und die Verantwortung der Aufsteller. Die Hauptakteure seinerzeit sind Der Skandal um Doppelkentaur und Kragenbär
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Kulturdezernent Joachim Kummer, der damalige Stadtrat, die Galerie APEX , der Bildhauer Uwe Appold sowie die Göttinger Bürger. Sie alle ringen um Verständnis und Finanzierung des metallenen Kriegsveteranen. Einer der größten Göttinger Kunstskandale beginnt. Wie es dazu kommt, sei kurz erzählt: Vom November 1985 bis zum Januar 1986 organisieren das APEX und das städtische Kulturamt eine Ausstellung von Appold mit verschiedenen seiner Großplastiken aus der Serie mobile Gestalten.3 Die Werke sind in diesem Zeitraum innerhalb der Göttinger Innenstadt, an öffentlich zugänglichen Orten ausgestellt. Raum für solch große Skulpturen bietet Göttingen damals viel. Seit dem Ankauf der letzten Plastik, der »Geknebelte«4, ist bereits ein ganzes Jahrzehnt vergangen. Göttingens Nachholbedarf als Stadt der Kultur, gerade im Bereich öffentlicher Plastiken, ist daher kaum zu übersehen. Die Bemühungen um Appolds Ausstellung folgen somit einem augenfälligen Manko und werden von vielen kunstaffinen Bürgern sehr begrüßt. Jener Doppelkentaur ist Teil der künstlerischen Gastwerke der Appold’schen Ausstellungsserie. Gut sichtbar, am Rande des Vorplatzes des Neuen Rathauses, findet der Doppelkentaur seinen Göttinger Standort. Im Neuschnee zeugen alsbald zahlreiche Fußabdrücke vom Interesse am Objekt.5 Zur Ausstellungseröffnung deutet noch wenig auf den folgenden Skandal hin. Kaum zwei Monate später sieht das etwas anders aus. Der engagierte Kunstdezernent Joachim Kummer empfiehlt im Kulturausschuss am 21. Januar 1986 den Verbleib des Doppelkentaurs in Göttingen. Der Stadtrat äußert sich überwiegend positiv über den Vorschlag, das Mahnmal zu erwerben. Die Stadt und der verkaufswillige Künstler nähern sich optimistisch an, die genaue Finanzierung ist jedoch noch keinesfalls eindeutig geklärt. Lediglich steht fest, dass das Haushaltsbudget von 20.000 DM für die Anschaffung eines solchen Werkes zu gering ist. Dennoch breitet sich Vorfreude im Stadtrat aus: »[I]ch find’ das Ding toll, das sollten wir unbedingt behalten«, verkündet beispielsweise ein SPD Ratsherr.6 Appold begegnet dem interessierten Stadtrat mehr als flexibel, er zeigt sich zu Beginn sogar mit einem – für die Stadt angenehmen und flexiblen – Leihvertrag einverstanden.7 Doch als die Nachricht über diese Überlegungen, flankiert von ersten Angaben über den imposanten Anschaffungspreis von 320
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100.000 DM , in die Öffentlichkeit gerät, gibt manch Göttinger seinem Unmut schriftlich Ausdruck. Im Februar 1986 thematisiert ein erster kritischer Leserbrief das Unwohlsein über den Erwerb eines solchen Werkes und führt gleich einen der häufigsten Kritikpunkte ins Feld. Die Anklage lautet: »Nur seine dargestellte ausgeprägte Männlichkeit ist vom Künstler liebevoll gestaltet«.8 Der Rest sei abschreckend monströs, kein Vergleich zum lieblichen Gänseliesel. Dieser Vorwurf hält sich über zwei Jahre. Die Hälfte aller ablehnenden Leserbriefe in der Zeit von 1985 bis 1988 beklagt immer wieder die Hässlichkeit des »Nicht-Kunstwerkes«. Derweil ist der Stadtrat dem Ankauf noch immer zugetan und sinniert, ob eventuelle Mäzene aus den Reihen der Bürger zur Finanzierung beitragen könnten. Fast einen Monat später wird erstmals, ebenfalls in einem Leserbrief, die Partizipation der Bürger an der gewichtigen Kaufentscheidung gefordert: Der Göttinger Verschönerungsverein (GVV) fordert ein Hearing zum Ankauf des Doppelkentaurs.9 Der Stadtrat solle, aufgrund der hohen Anschaffungskosten, die Meinungen der Bürger endlich berücksichtigen. Vorerst jedoch mahlen die Mühlen der Bürokratie langsam. Ein schriftlicher Kaufvertrag wird bis in den Spätsommer 1986 nicht unterzeichnet. Illegal gezeichnet hingegen wird der Doppelkentaur selbst: Sein »bestes« Stück schillert in den Signalfarben rot und grün.10 Im Frühjahr 1986, als die restlichen Plastiken Appolds schon aus Göttingen verschwunden sind, weilt der Doppelkentaur immer noch auf dem Rathausvorplatz. Der Künstler Appold mahnt zu dieser Zeit, den ihm mündlich zugesagten Ankauf auch finanziell abzuschließen. Ein Artikel im Göttinger Tageblatt berichtet über die offenen Zahlungen.11 Empörte Leserbriefe folgen in den Tagen danach. Wieder heißt es: zu hässlich, zu teuer und keine Kunst.12 Nun gerät der Doppelkentaur in die Dauerberichterstattung und es werden erstmalig auch Leserbriefe abgedruckt, die den Ankauf deutlich befürworten. Die Argumentation bezieht sich dabei erstens auf die fehlende skulpturale und künstlerische Vielfalt in Göttingen sowie zweitens auf das »Kompetenzdefizit« der ansässigen Bürger, die aufgrund des ersten Punktes solcherlei Auseinandersetzung nicht gewohnt seien.13 Bis ins neue Jahr 1987 zieht sich das Hin und Her um den Doppelkentaur. Sogar der Haushaltsposten »Ankauf von Kunstwerken« Der Skandal um Doppelkentaur und Kragenbär
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soll drastisch erhöht werden, um den Gegenentwurf eines klassischen Reiterstandbildes bezahlen zu können. Mit großer Mehrheit jedoch wird diese Idee im kurz darauf tagenden Finanzausschuss abgelehnt – aus finanzpolitischen Abwägungen, so die offizielle Begründung. Der Kentaur verharrt derweil weiter. Appold mahnt erneut und erinnert an Zahlungen, die aus seiner Sicht vom Kulturdezernenten Kummer schon zugesagt worden waren. Die politische Diskussion verlagert sich zu Beginn des Jahres 1987 alsbald in eine juristische. Dennoch kann sich der Stadtrat nicht für einen Ankauf entscheiden, eine rechtskräftige Zusage habe es ebenfalls nicht gegeben. Als im März 1987 endlich klare Worte an die Öffentlichkeit dringen, sprechen sie gegen das Mahnmal: Laut Ratsbeschluss soll die Skulptur aus der Stadt fortgeschafft werden.14 Doch nun, als die Repräsentanten ihre Meinung ändern und sich der künstlerischen Herausforderung versagen, formt sich der bürgerliche Zuspruch kreativer aus. Die Pro-Kentaur eingestellten Göttinger organisieren sich. Spenden werden gesammelt und die frisch gegründete »Bürgerinitiative für den Doppel-Kentaur« sowie einige Geschäftsleute aus Göttingen initiieren die Aktion »Rettet den Reiter«. Mittels illustrierter Anteilsscheine zu je 80 DM sollen 1.250 Bürger eine Summe von 100.000 DM zusammentragen.15 Die Unterstützung wächst über den Sommer über immer weiter an, trotz bleibender kritischer Stimmen. Der Kunstverein Göttingen veranstaltet im September 1987 die schon früh geforderte Podiumsdiskussion16; Pro- und Contra-Argumente wechseln sich dort ab. Aber die Unterstützung bleibt: Die Galerie APEX verzichtet auf 20.000 DM Vermittlungsgebühr17, ein Bauunternehmer gießt gratis einen Sockel18. Für den Verbleib wird gedichtet, es werden Unterschriften gesammelt und andere Kunstwerke gegen Spenden verkauft.19 Doch auch eine bürgerorganisierte Contra-Initiative gründet sich – und agiert nicht minder einfallsreich: Die »Gesellschaft zur Förderung Göttinger Kultur« will mittels Geldspenden ausreichend Eisensägen und Schweißbrenner kaufen, um den Kentaur in seine Einzelteile zu zerlegen. Sie fordert Anteilsscheinbesitzer auf, ihren erworbenen Teil des Werkes abzubauen und privat weiterzuverwenden – bis zum völligen Abbau des »Übels«. Dies alles ist keine Satire, sondern purer Ernst.20 Der Kentaur verweilt derweil an Ort und Stelle, verliert in dieser Phase indes Lanze und Schild. Ob dies durch die gegnerische 322
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Bürgerinitiative geschieht, ist nicht belegt. Beides wird mehr oder minder sachgemäß in der Tiefgarage des Rathauses eingelagert.21 Das Debakel um den Ankauf gelangt sogar in die bundesdeutsche Öffentlichkeit. Die ZEIT berichtet über die Erregung der Göttinger angesichts des Kentaur-Phallus22 und ein ZDF -Team filmt sehr kritisch für den »Länderspiegel«23. Im Zuge des drohenden Imageverlustes der Stadt und auch weil bereits eine beeindruckende Geldsumme seitens der Bürgerinitiative und zwei weiteren privaten Spenderkreisen organisiert worden ist, werden die Stimmen im Rat für einen Ankauf wieder lauter. Die Leserbriefe wiederum bringen überwiegend die Ablehnung des Doppelkentaurs zum Ausdruck. Bis es schließlich am 9. November 1987 so weit ist – die Hannoversche Allgemeine Zeitung verkündet: »Umstrittenes Reiterstandbild darf in Göttingen bleiben«24, in der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen heißt es: »›Rostiger Reiter‹ gerettet«25, und das Göttinger Tageblatt meldet: »›Doppelkentaur‹Ankauf ohne Diskussion vom Rat beschlossen«.26 Nach knapp über zwei Jahren hatte der Stadtrat mit nur einer FDP-Gegenstimme den Ankauf für 80.000 Mark beschlossen, wobei die Stadt aus dem Haushalt für zwei Jahre 42.000 DM übernehmen sollte. Weitere 38.000 DM kamen aus Spenden von Göttinger Bürgern hinzu. Daraufhin nimmt die Anzahl der abgedruckten gegnerischen Leserbriefe noch einmal an Fahrt auf. Immer wieder thematisiert werden der zu hohe, ungerechtfertigte Anschaffungspreis, die Hässlichkeit der Plastik und der Verfall der Sittlichkeit, den der Stadtrat offensichtlich nicht erkenne. Auch das Ignorieren der vielen Gegenstimmen wird dem Rat vorgeworfen, die Anschaffung sei keinesfalls demokratisch beschlossen. Dennoch, die letzten beiden Leserbriefe, wohlgemerkt im Februar 1988 erschienen, plädieren für den Doppelkentaur und thematisieren die »geistige Enge«27 der kritischen Beiträge und die Funktion eines Mahnmales, welches nicht zwingend schön sein müsse. Schließlich verfolge es einen anderen Zweck als ästhetisches Gefallen: »Das eiserne Machwerk mahnt vor Krieg, Verstrahlung, Genmanipulationen und anderen, unsere Lebensgemeinschaft destruierenden Möglichkeiten.«28 Das umstrittene Denkmal verlässt lediglich einmal seinen Standort, als dringend notwendige Korrosionsschutzmaßnahmen unumgänglich geworden sind. Rückwirkend ist es ein wenig als Der Skandal um Doppelkentaur und Kragenbär
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Ironie des Schicksals zu sehen, dass Appolds Arbeiten immer wieder »mobile Gestalten« aus beweglichen Gegenständen in etwas Statisches wandeln.29 Denn das Wesen eines Kentaurs, eines Pferdewesens mit menschlichen Anteilen, auch das Wesen des Reiters, vermittelt genuin etwas sehr Mobiles, was erst durch den künstlerischen Akt Appolds zwangsweise in Form des verstümmelten Doppelkentaurs erstarrt. Gleichsam diesem künstlerischen Prozess eroberte der Kentaur seinen bis heute aktuellen Standplatz am Neuen Rathaus. Und trotz aller Widrigkeiten – mobil ward er nimmermehr. Aus Göttingen war er nicht mehr fortzubewegen. *** Skandale bieten die Möglichkeit, Normen und Werte einer Gesellschaft genauer zu analysieren.30 Dies gilt nicht nur für Affären um einzelne Politiker – Skandale um öffentliche Kunst wirken ebenfalls in dieser Weise. Aber was ist die Quelle des Protests gegen öffentlich aufgestellte Kunstwerke, wie den Doppelkentaur? Liegen die Gründe nur in der konkreten Anwesenheit der Kunst selbst? Dies mag zu bezweifeln sein. Ein Großteil der Bürger dürfte, so die Vermutung, öffentlichen Kunstwerken indifferent gegenübertreten, solange sie nicht das subjektive Empfinden belästigen. Dennoch gilt: Sobald Kunst öffentlich ausgestellt wird, erfährt sie potenziell Resonanz. »Wo ein Kunstwerk ohne Protest geduldet oder akzeptiert wird, dort bewegt es sich innerhalb des zugestandenen Spielraums für Abweichungen.«31 Es präsentiert das Offizielle, das Kollektive, was für die Bürger insgesamt gelten soll. Wenn sie diese Geltungsgrenzen aber überschreitet, erfährt öffentliche Kunst, also Kunst, die nicht im erklärenden Kontext eines Museums wirkt, möglicherweise eben nicht nur fachkundigen, sondern auch öffentlichen Protest; es wird laut, emotional und reißerisch. Fast wiederum künstlerisch, wenn man es so betrachten möchte. Der Protest beruht auf der Verteidigung eben jener Werte und Vorstellungen, die für öffentlich Präsentiertes gelten. Was sagt uns das über Göttingens Bürger? Im Falle des Doppelkentaurs entzündet sich der Unmut an der Hässlichkeit, dem hohen Anschaffungspreis, der unterlassenen Bürgerbeteiligung seitens der Politiker und nicht zuletzt am übergroßen Phallus, der nach Meinung der Kritiker keinesfalls in der Öffentlichkeit zu tolerieren ist. Immer wieder wird die Anstößig324
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keit angeprangert. Kinder sollen diesem Anblick nicht ausgesetzt sein, der Verfall der Sitten und des Göttinger Stadtbildes wird prognostiziert. Insbesondere das Genital mache dieses Ungetüm zu keiner Kunst. Wenn Kunst nicht als solche anerkannt wird, ist die Gefahr groß, den Rezipienten die Urteilskompetenz abzusprechen, ihren Protest abzuwerten – es schwingt in dieser Debatte also beiderseitig viel von unterschwelligen Ansprüchen auf gültige Maßstäbe und »richtiges« Urteilen mit. Der Doppelkentaur, der an prominenter Stelle steht und von den eigenen Repräsentanten dort platziert wurde, wird von den Kritikern zudem als Sittenverfall einer ganzen Stadt aufgefasst. Sie nehmen ihn als mehr als unüblich, fremd und hässlich zugleich wahr, als nicht zum lieblichen Gänseliesel und dem restlichen Stadtbild von Göttingen passend. »Lokale Identität ist bis in die Gegenwart ein hoher Wert; sie bietet Sicherheit und Orientierung. Über eine Veränderung dieses Gefüges sollen nicht andere entscheiden dürfen. Manche Kunstwerke künden von solchen Veränderungen.«32 Der Doppelkentaur fordert zwischen 1985 und 1987 diese Gewohnheit heraus, zwingt zur Neuorientierung – und erwies sich somit als Künder eines gewandelten Kunstverständnisses und Stadtbildes.
Sommer 2015 Die Menschen genießen das warme Wetter unter freiem Himmel. Der Vorplatz des Neuen Rathauses ist gut besucht, in der Brunnen anlage planschen Kleinkinder. Jugendliche skaten direkt daneben. Spaziergänger und Amtsbesucher füllen sitzend, eilend und schlendernd den Ort. Wenige Meter entfernt, am Rand zur Straße, ruht derweil, im Schatten einer nun groß gewachsenen und dicht belaubten Roteiche, die Skandalskulptur Doppelkentaur. Wirklich gut sichtbar ist er nicht mehr. Äste ragen weit über ihn, verdecken seinen Anblick aus der Ferne. Erst bei einer persönlichen Stippvisite lässt er sich, vis-à-vis, genau betrachten. Eindruck macht er immer noch. Aber ruhig ist es um ihn geworden, beinahe idyllisch integriert er sich in die Umgebung. In Leserbriefen protestieren heute keine Göttinger mehr gegen ihn. Bezahlt ist er auch. Die vielen kritischen Stimmen sind über die Zeit verstummt. Der Skandal um Doppelkentaur und Kragenbär
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Der Doppelkentaur auf dem Vorplatz des Neuen Rathauses im Juli 2015.
Fast alle. Denn auch 28 Jahre später schillert wieder Signalfarbe an unschöner Stelle: Heute ist es der Darmausgang des Reiters, der zielsicher mit rotem Graffiti betont wurde.
Ebenfalls im Jahr 2015 Seit 2014 zieht es eine weitere tierische Skulptur in Göttingens Innenstadt, die offenkundig mit potenziell skandalbehafteten Geschlechtsteilen ausgestattet ist. Wie einst bei dem Doppelkentaur erfährt nun eines Kragenbären bestes Stück unweigerlich Aufmerksamkeit. Zwar präsentiert dieses Tierwesen es nicht so vorstoßend, lässt aber dennoch auffallend neckisch seine Tatze im Schritt agieren. Begleitet von dem wenig subtilen Spruch: »Der 326
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Kragenbär, der holt sich munter einen nach dem anderen runter«. Das sieht doch nicht aus, das ist doch anstößig. Wiederholt sich etwa das, was damals dem »Rostigen Reiter« blühte? Die Geschichte des Kragenbären ist jedoch nur auf den ersten Blick ähnlich. Denn statt um ein Mahnmal, welches direkt durch die Künstlerauswahl begleitet wurde, handelt es sich bei dem Kragenbären um ein Denkmal. Ein Denkmal für den verstorbenen Dichter, Denker und Satiriker Robert Gernhardt, Träger des Satirepreises Göttinger ELCH .33 Die Entscheidung, ihm ein Denkmal in eben jener Form zu setzen, erfolgt unabhängig vom Künstler und seiner Absicht. Gernhardts breites Lebenswerk böte durchaus alternative Ideen, aber der Vorschlag der Elchpreis-Jury im Sommer 2013 zielt von Anfang an auf Kragenbär und Begleitspruch. Eine passende Wahl, wie die Jury findet, denn das Werk kritisiere die Egozentriertheit unserer Zeit. Aber wieder folgt zuerst eine Absage aus dem nicht-öffentlichen Kulturausschuss des Stadtrates. Der Kragenbär sei zu anstößig, die Botschaft, die sich nur auf den sexuellen Tabubruch beziehe, sei zu einfach, das Bildnis dem Künstlergedenken nicht angemessen.34 Ein Jahr später, im Sommer(loch) 2014, gelangt dieser abgelehnte Vorschlag jedoch in die bundesdeutsche Öffentlichkeit und deutschlandweit finden sich Fürsprecher. Auch digitale Unterstützung formiert sich gegen die nicht-öffentliche Ablehnung. Eine Facebook-Gruppe mit der Selbstbeschreibung »Für die Kragenbär-Skulptur auf dem Robert-Gernhardt-Platz. Gegen Humorlosigkeit, Lustfeindlichkeit und Spießertum in Göttingen«35 gründet sich und gewinnt schnell an Mitgliedern. Im September 2014 dann endlich – die Bedenken im Stadtrat sind, bis auf eine Gegenstimme, hinfort – die Entscheidung36: Der Bär darf kommen. Auch wenn der Kragenbär sich momentan noch in Herstellung befindet und infolgedessen bislang nicht aufgestellt wurde – im Schatten des Doppelkentaur-Skandals ist die Debatte um den Bären geradezu harmlos. Göttingens Bürger gehen nun weit entspannter mit der animalisch-lüsternen Präsenz um, wohl auch, da der damalige Doppelkentaur tatsächlich das diskutierte Kunstverständnis erweitert hat. Großer Widerstand ist gegen den Kragenbären nicht zu spüren. Keine vulgär reißerischen Leserbriefe werden veröffentlicht. Die Diskussion um die Aussage des Denkmals wirkt künstlich aufgeplustert. Statt wortgewaltigem Protest gibt es ein Probesitzen Der Skandal um Doppelkentaur und Kragenbär
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Kurzes Probesitzen für den Kragenbären am 11. August 2014. Dieses kleine Modell soll durch einen rund achtzig Zentimeter großen Kragenbären aus Bronze abgelöst werden.
für Fans und deren Kuscheltiere, der bereits zementierte Sockel lädt ja förmlich dazu ein.37 All dies wird werbewirksam in Zeitungen und online verbreitet. Ein ernsthaftes Gegen-den-Kragenbären organisiert sich bis dato nicht. Wirklich zu erwarten scheint dies aber auch niemand. Denn wer kann schon etwas gegen einen putzigen Kragenbären haben, insbesondere wo seine Tatze doch alles Anzügliche verdeckt? Hübsch ist er zum Glück ja, geradezu niedlich. Begleitspruch hin oder her, ein Göttinger Kunstskandal braucht dann wohl doch eher ein elefantöses Hinterteil und einen Riesenpenis38.
Anmerkungen 1 Die zusammengetragenen Wortkreationen stammen aus über 25 Leserbriefen, die im Göttinger Tageblatt im Zeitraum vom 08.02.1986 bis zum 27.02.1988 abgedruckt wurden. 2 Leserbrief von Walter List, in: Göttinger Tageblatt, 12.12.1986. 3 Vgl. o. V., Ausstellungen. Plastiken, Collagen und Bilder von Uwe Appold, in: Hiero Itzo, H. 12/1985; o. V., Großplastiken von Uwe Appold, in: Hessische/Niedersächsische Allgemeine, 23.11.1985. 4 Vgl. Amber Sayah, »Es muss wieder mehr Geld für Kunst da sein«. Kummer: Hungerjahre sind vorbei, in: Göttinger Tageblatt, 28.06.1985.
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5 Vgl. Peter Krüger-Lenz, Schwere Krieger in der Innenstadt. Plastiken, Collagen und Bilder von Uwe Appold in Göttingen, in: Göttinger Tage blatt, 30.11.1985. 6 Zit. nach Amber Sayah, Kein Abschied vom eisernen Reitersmann. Stadt möchte Appold-Skulptur behalten, in Göttinger Tageblatt, 23.01.1986. 7 Vgl. ebd. 8 Leserbrief von Anne Sievers, Nur die ausgeprägte Männlichkeit ist liebevoll gestaltet, in: Göttinger Tageblatt, 08.02.1986. 9 Vgl. Leserbrief von Dr. Ilse Oppermann, Kaufen?, in: Göttinger Tageblatt, 01./02.03.1986. 10 Vgl. den entsprechenden Infokasten im Göttinger Tageblatt vom 11.10.1986. 11 Vgl. Andreas Wrede, »Er würde uns fehlen«. Doppel-Kentaur: Ungewisse Zukunft des Kunstwerkes, in: Göttinger Tageblatt, 09.12.1986. 12 Vgl. die Leserbriefe zum Doppelkentaur im Göttinger Tageblatt von Walter List, Peter Punt und Dr. Dr. med. W. Freytag, 12.12.1986. 13 Vgl. die Leserbriefe zum Doppelkentaur im Göttinger Tageblatt von Reinhard Irmscher und Matthias Schmidt, 22.12.1986. 14 Vgl. Andreas Wrede, Doppel-Kentaur im Rat gekippt, in: Göttinger Tage blatt, 28.03.1987; ders., Im Fall Kentaur droht der Prozeß, in: Göttinger Tageblatt, 31.03.1987. 15 Vgl. Andreas Wrede, »Rettet den Reiter«: Bürgerinitiative für DoppelKentaur, in: Göttinger Tageblatt, 25.03.1987. 16 Vgl. Hans-Christian Winters, Doppel-Centaur als »Störfall«. Viele Denkanstöße bei einer Diskussion im Kunstverein, in: Göttinger Tageblatt, 08.09.1987. 17 Vgl. Andreas Wrede, »Fahrplan« für den Kentaur. 35.000 Mark Privatspenden, in: Göttinger Tageblatt, 30.09.1987. 18 Vgl. Ilse Stein, »Doppelkentaur«-Ankauf ohne Diskussion vom Rat beschlossen, in: Göttinger Tageblatt, 10.11.1987. 19 Zu den Unterschriften: Andreas Wrede, Mehr Kunst im öffentlichen Raum: Bürger sagen »Rettet den Reiter«, in: Göttinger Tageblatt, 05.06. 1987; zu dem Gedicht des damaligen Oberstudienrats im Ruhestand: Johannes Trompke, Endzweck, in: Göttinger Tageblatt, 02.04.1987; zu den anderen Kunstwerken: o. V., Rettung der Kunst mit der Kunst: Tuschezeichnungen für den »Doppelkentaur«!, in: Freizeit-Magazin, 03.07.1987. 20 Vgl. o. V., Streit um Kentaur geht weiter. Initiative: Spendenaktion gegen »fragwürdige Kunst«, in: Hessische/Niedersächsische Allgemeine, 07.05.1987. 21 Vgl. Michael Grabicki, SPD und CDU einig: Den Centaur kaufen, in: Göttinger Tageblatt, 30.10.1987; Andreas Wrede, Mehr Kunst im öffentlichen Raum: Bürger sagen »Rettet den Reiter«, in: Göttinger Tageblatt, 05.06.1987. 22 Vgl. Cathrin Kahlweit, Streit ums Gemächt, in: Die Zeit, 22.01.1988. 23 Andreas Wrede, Es geht weiter in Sachen »rostiger Reiter«. In Kürze Spendenaufruf an Geschäftswelt – ZDF-Team macht Kunstwerk telegen, in: Göttinger Tageblatt, 23.04.1987. Der Skandal um Doppelkentaur und Kragenbär
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24 Landesdienst Niedersachsen, Jahrelanger Streit um »Kentaur« beendet: Umstrittenes Reiterstandbild darf in Göttingen bleiben, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 09.11.1987. 25 Landesdienst Niedersachsen, »Rostiger Reiter« gerettet, in: Hessische/ Niedersächsische Allgemeine, 10.11.1987. 26 Ilse Stein, »Doppelkentaur«-Ankauf ohne Diskussion vom Rat beschlossen, in: Göttinger Tageblatt, 10.11.1987. 27 Leserbrief von Lieselotte Gersing, »Beachtliche geistige Enge«, in: Göttinger Tageblatt, 27.02.1988. 28 Leserbrief von Jürgen Schlömann, Kleine Analyse der Phalluskritik, in: Göttinger Tageblatt, 27.02.1988. 29 Vgl. o. V., Plastiken, Collagen und Bilder; o. V., Grossplastiken. 30 Vgl. Frank Bösch, Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880–1914, München 2009, S. 3 ff. 31 Uwe Degreif, Skulpturen und Skandale. Kunstkonflikte in Baden-Württemberg, Tübingen 1997, S. 269. 32 Ebd., S. 271. 33 Vgl. Der GÖTTINGER ELCH , Urkunde zur Verleihung des Göttinger ELCH 1999, online einsehbar unter http://www.goettinger-elch.de/ robert_gernhardt/urkunde.php [eingesehen am 18.06.2015]. 34 Vgl. Gesa Mayr, Onanierender Kragenbär: Einen hoch auf Robert Gernhardt, in: Spiegel Online, 12.08.2014, online einsehbar unter http:// www.spiegel.de/panorama/leute/robert-gernhardt-satiriker-bekommtonanierenden-kragenbaer-als-denkmal-a-985774.html [eingesehen am 20.06.2015]. 35 Siehe die Facebook-Gruppe »Freunde für den Kragenbären«, online einsehbar unter https://www.facebook.com/groups/kragenbaer/?fref=ts [eingesehen am 22.06.2015]. 36 Vgl. jbe/dpa, Onanierender Kragenbär für Robert Gernhardt: Bald steht er, in: Spiegel Online, 18.09.2014, online einsehbar unter http://www. spiegel.de/panorama/gesellschaft/onanierender-kragenbaer-goettingenfuer-robert-gernhardt-stadtrat-dafuer-a-992472.html [eingesehen am 06.07.2015] 37 Vgl. Michael Brakemeier, Probesitzen für den Kragenbären auf RobertGernhardt-Platz, in: Göttinger Tageblatt Online, 05.09.2014, online einsehbar unter http://www.goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Goettingen/ Themen/Kragenbaer-Denkmal/Probesitzen-fuer-den-Kragenbaeren-aufRobert-Gernhardt-Platz [eingesehen am 28.06.2015]. 38 Vgl. Leserbrief von Herbert Müller, Keine noble Gesinnung, in: Göttinger Tageblatt, 07.07.1987.
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Julia Kiegeland
Abkürzungen Anm. Anm. d. V. Antw. Aufl. Bd. Bl. D. ders. dies. Drs. ebd. erw. Ausg. f. ff. F. H. hg. Hg. Jg. Mdl. Anfr. o. D. o. J. o. S. o. T. o. V. PlPr. St AG vgl. zit.
Anmerkung Anmerkung der Verfasserin, des Verfassers, der Verfasser Antwort Aufl. Band Blatt Doktor der evangelischen Theologie derselbe dieselbe, dieselben Drucksache ebenda erweiterte Ausgabe folgende [Seite] folgende [Seiten] Folge Heft herausgegeben Herausgeberin, Herausgeberinnen, Herausgeber Jahrgang Mündliche Anfrage ohne Datum ohne Jahr ohne Seite ohne Titel ohne Verfasser Plenarprotokoll Stadtarchiv Göttingen vergleiche zitiert
Abkürzungen
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Bildnachweis Seite 36, 43, 73, 85, 93, 119, 130, 131, 169 und 187: Städtisches Museum Göttingen Seite 49: Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf Seite 59: Wikimedia Commons, gemeinfrei Seite 106 und 159: ullstein bild, Berlin Seite 148: © Deutsches Theater Göttingen/Städtisches Museum Göttingen Seite 173, 195, 211, 229, 267, 287 und 306: Dr. Teresa Nentwig, Göttingen Seite 219 und 223: Eckhard Stengel, Bremen Seite 233, 237, 253 und 263: Karlheinz Otto, Göttingen Seite 243: J. H. Darchinger/Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn Seite 273: © Karl-Heinz Schoenfeld, Potsdam Seite 293: Sebastian Kohlmann, Göttingen Seite 312: picture alliance/dpa, Frankfurt am Main, Foto: Julian Stratenschulte Seite 326: Julia Kiegeland, Göttingen Seite 328: Hinzmann/Göttinger Tageblatt
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