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German Pages 774 [776] Year 1993
B U C H R E I H E DER ANGLIA ZEITSCHRIFT FÜR E N G L I S C H E P H I L O L O G I E Herausgegeben von Helmut Gneuss, Hans Käsmann, Erwin Wolff und Theodor Wolpers 32. Band
WERNER WOLF
Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen
MAX NIEMEYER VERLAG T Ü B I N G E N 1993
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wolf, Werner: Ästhetische Illusion und Illusionsdurchbrechung in der Erzählkunst: Theorie und Geschichte mit Schwerpunkt auf englischem illusionsstörenden Erzählen / Werner Wolf. - Tübingen : Niemeyer, 1993 (Buchreihe der Anglia, Zeitschrift für englische Philologie ; Bd. 32) Zugl.: München, Univ., Habil.-Schr., 1991 NE: Anglia / Buchreihe ISBN 3-484-42132-0
ISSN 0340-5435
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen
Inhalt
Vorwort
XI
0. Einleitung: zur Forschungslage und Problemstellung
i
Teil I: Theorie 1. Was ist ästhetische Illusion? Geschichte und Inhalt des Illusionsbegriffs
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1.1. Zur Begriffsgeschichte: gegenwärtiger Begriffsgebrauch im nichtästhetischen Bereich und die Herausbildung des ästhetischen Illusionsbegriffs 1.1.1. Illusion im außerästhetischen Bereich als aufzuklärende Täuschung 1.1.2. Die Entwicklung des ästhetischen Illusionsbegriffs . . . . 1.2. Grundsätzliches zum allgemeinen Konzept ästhetischer Illusion: ästhetische Illusion als Synthese aus dem Schein des Erlebens von Wirklichkeit und aus Distanz
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1.2.1. Das Konzept ästhetischer Illusion aus synchroner Sicht: ästhetische Einstellung, Illusion und Distanz 1.2.2. Das Konzept ästhetischer Illusion aus diachroner Sicht: die historische Herausbildung ästhetischer Illusion in der Kunst 1.2.3. Zum Verhältnis von Fiktionalität und ästhetischer Illusion . 1.2.4. Zum Verhältnis von Illusion und Distanz im Rezeptionsprozeß 1.3. Grundzüge lebensweltlicher Wahrnehmung und Vorstellung als Basis ästhetischer Illusion 1.3.1. Illusionstheoretisch relevante Merkmale lebensweltlicher Wahrnehmung und Erfahrung und ihre Korrelate in der Illusion 1.3.2. Die konzeptuellen Determinanten der Wahrnehmung . . 1.3.3. Wahrnehmung vs. Vorstellung 1.4. Zur phänomenologischen und erzähltheoretischen Bestimmung speziell narrativer Illusion 1.4.1. Der textuelle Auslöser narrativer Illusion als Basis ihrer Spezifika
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1.4.2. Die Zeitlichkeit narrativer Illusion 1.4.3. Der bevorzugte Gegenstandsbereich narrativer Illusion und die Typologie ihrer Formen 1.4.4. Die bevorzugte Erzählebene narrativer Illusion 1.4.5. Zur Bildhaftigkeit narrativer Illusion 1.4.6. Narrative Illusion und 'Identifikation' 1.5. Zusammenfassung
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2. Wie entsteht ästhetische Illusion? Faktoren narrativer Illusionsbildung als Folie illusionsstörender Verfahren
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2.1. Textexterne Bedingungen und Variablen der Illusionsbildung . . 2.1.1. Kontextuelle Faktoren: die Elemente werkexterner Wahrscheinlichkeit 2.1.2. Leserseitige Faktoren: das Ideal des 'mittleren Lesers' . . 2.2. Textinterne Prinzipien der Illusionsbildung als Leitlinien zur Erzielung werkseitiger Wahrscheinlichkeit, Attraktivität und Verhüllung von Künstlichkeit 2.2.1. Die Simulierung einer konkreten Außenwelt: das Prinzip anschaulicher Welthaftigkeit 2.2.2. Die sinnhafte Präsentation der Textwelt im weitgehenden Einklang mit den Anschauungsformen der Erfahrung: das Prinzip der Sinnzentriertheit 2.2.3. Das Prinzip der Perspektivität 2.2.4. Das Prinzip der Mediumsadäquatheit 2.2.J. Das Prinzip der Interessantheit der Geschichte 2.2.6. Das Celare-artem-Prinzip: die Transparenz des Mediums und die Verschleierung der Fiktionalität 2.3. Von den Prinzipien der Illusionsbildung zu den Charakteristika illusionistischer Narrativik: Heteroreferentialität, Zentralität der Geschichtsebene, Unauffälligkeit der Vermittlung und tendenzieller Ernst der Darstellung
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3. Wie entsteht Illusionsdurchbrechung? Charakteristika illusionsstörender Narrativik und Verfahren des Illusionsabbaus 3.1. Vorbemerkungen: zum Inhalt und Status der Charakteristika und Techniken illusionsstörender Narrativik 3.2. Die Bloßlegung der Künstlichkeit durch explizite Metafiktion . . 3.2.1. Zum Begriff der Metafiktion und zu den Grundzügen ihrer wirkungsästhetischen Typologie 3.2.2. Vermittlungsformen von Metafiktion und ihre Illusionswirkung: explizite vs. implizite Metafiktion, discours- vs. histoire-vermittelte explizite Metafiktion (am Beispiel der 'Fiktionsironie') VI
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3.2.3. Kontextuell bestimmte Typen expliziter Metafiktion und ihre Illusionswirkung: zentrale vs. marginale, verbundene vs. unverbundene, punktuelle vs. extensive, offene vs. verdeckte Metafiktion 3.2.4. Inhaltliche Formen expliziter Metafiktion und ihre Illusionswirkung: fictio- vs. fictum-thematisierende, totale vs. partielle Metafiktion, Eigen- vs. Allgemein- und Fremdmetafiktion, kritische vs. nichtkritische Metafiktion
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3.2.J. Exkurs: Metafiktion und 'Paratexte'
260
239
3.3. Die Entwertung der Geschichte I: unwahrscheinliche Sinn- und Ordnungsüberschüsse und die Fremddetermination der histoire . 3.3.1. Die Determination der Geschichte durch auffällige inhaltsoder themenbezogene Bedeutung und Ordnung . . . . 3.3.2. Formale Fremddetermination der Geschichte durch nichtsprachliche und sprachliche Sinn- und Ordnungssysteme (die Geschichte als Spiel, Fremdtexte und das Medium als Sinnstifter)
266 269
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3.3.3. Formale Fremddetermination der Geschichte durch die Wiederholung eigentextueller Strukturen und der Sonderfall der mise en abyme
292
3.4. Die Entwertung der Geschichte II: die wahrscheinlichkeitsneutrale Abkehr von einer 'interessanten' und kohärent lesbaren Fabel als Textzentrum 3.4.1. Die quantitative Entwertung der Fabel: ihre Verdrängung durch nichtdiegetische und nichtnarrative Elemente und die Hypertrophie des Erzählens 3.4.2. Die qualitative Entwertung der Fabel I: die Zerschlagung ihrer Kohärenz 3.4.3. Die qualitative Entwertung der Fabel II: Handlungsreduktion und Ereignislosigkeit
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307 320 325
3.5. Die Entwertung der Geschichte III: unwahrscheinliche Sinn- und Ordnungsdefizite 3.5.1. Der unwahrscheinliche Umgang mit inhaltlichen Konzepten 3.5.2. Die Nichterfüllung formaler Konzepte (Anschauungsformen der Erfahrung) 3.5.3. Die Nichterfüllung formaler Konzepte - Sonderfall I: die Kontamination außerliterarischer Realität und textueller Fiktion 3.5.4. Die Nichterfüllung formaler Konzepte - Sonderfall II: die Kontamination innerfiktionaler Ebenen (narrative Kurzschlüsse)
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3.6. Die Auffälligkeit der Vermittlung 3.6.1. Auffälligkeit des sprachlichen Mediums: ungewöhnliche Sprachverwendung und foregrounding der Textmaterialität .
372 379 VII
3-6.2. Auffälligkeit des narrativen Mediums I: Überschüsse an Sinnzentriertheit 3.6.3. Auffälligkeit des narrativen Mediums II: Defizite an Sinnzentriertheit 3.6.4. Auffälligkeit des narrativen Mediums III: illusionsstörende Perspektivik (Erzählsituation und point of view, Tempus-und Modusgestaltung) 3.6.5. Auffälligkeit des narrativen Mediums IV: illusionsstörende Verwendung nichtnarrativer Diskursformen 3.7. Komik 3.7.1. Zur Sonderstellung der Komik innerhalb der Charakteristika illusionsstörender Narrativik 3.7.2. Komik und Distanz: zum grundsätzlichen illusionsabbauenden Potential der Komik 3.7.3. Illusionsstörung und Formen narrativer Komik: ironisches, satirisches und parodistisches Erzählen, karnevaleske Komik 3.8. Zusammenfassung
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Teil II: Geschichte 4. Illusionismus und Antiillusionismus in der Geschichte der Erzählkunst: ein Überblick mit Schwerpunkt England 4.1. Vorbemerkungen: Aufgaben und Grenzen der Illusionsgeschichte und die Typologie historisch bedeutsamer Formen narrativer Wirkungsästhetik 4.2. Vorspiel in Spanien: die wirkungsästhetische Ambivalenz des Don Quijote und seine Schlüsselposition für die Traditionen illusionsbildenden und illusionsstörenden Erzählens 4.3. Das 18. Jahrhundert: die Etablierung der Großen Illusionistischen Tradition und das Entstehen illusionsstörenden Erzählens in England 4.3.1. Wirkungsästhetische Tendenzen in Theorie und Praxis im Uberblick 4.3.2. Exzentriker innerhalb und außerhalb der Großen Tradition illusionistischen Erzählens: die 'soft illusion' Fieldings (Joseph Andrews) und die 'hard anti-illusion' Sternes (Tristram Shandy) 4.4. Das 19. Jahrhundert: illusionsstörendes Erzählen im Zeichen der Dominanz der Großen Illusionistischen Tradition 4.4.1. Wirkungsästhetische Tendenzen in der englischen Erzähltheorie 4.4.2. Illusion und Illusionsstörung in 'romance' und romantischem Roman (Carlyle, Sartor Resartus) VIII
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4-4-3- Illusion und Illusionsstörung im realistischen Roman (Thackeray, Vanity Fair) 4.4.4. Der Aufschwung der Großen Illusionistischen Tradition: seine Triebkräfte, das dominant proillusionistische Profil der Romanpraxis im 19. Jahrhundert und die Stagnation in der Entwicklung illusionsstörender Techniken 4.5. Die Moderne bis zum Zweiten Weltkrieg: die Erschütterung der Großen Illusionistischen Tradition 4.5.1. Die Moderne als letzter Höhepunkt illusionistischen Erzählens 4.5.2. Die Moderne als Wende zum Antiillusionismus 4.5.3. Die Ambivalenz der Moderne 4.6. Von der Moderne zur Postmoderne: der Aufstieg des Antiillusionismus 4.6.1. Die Abkehr vom illusionsabbauenden Erzählen der Moderne in der Nachkriegszeit 4.6.2. Die Illusionszerstörung im radikalen Postmodernismus (Brooke-Rose, Thru) 4.6.3. Die ironische Illusion im gemäßigten Postmodernismus (Spark, The Comforters und Fowles, A Maggot) . . . . 4.7. Schluß: Ist die ästhetische Illusion tot?
581
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Bibliographie
739
Primärliteratur Sekundärliteratur
739 743
Stichwortverzeichnis
761
IX
Vorwort Ästhetische Illusion - das genußvolle Erleben eines von Kunstwerken hervorgerufenen Scheins als einer Quasi-Wirklichkeit bei gleichzeitig latentem Bewußtsein ihrer Scheinhaftigkeit - ist ein Hauptphänomen abendländischer Kunst und Literatur und war seit der aristotelischen Mimesislehre auch ein wichtiger Gegenstand ästhetischer Reflexion. Zugleich wirkt ästhetische Illusion für ein breites Publikum wohl immer noch als eine der stärksten Anziehungskräfte von Kunst und Literatur. Das gilt insbesondere mit Blick auf die seit zwei Jahrhunderten bedeutendste literarische 'Konsumform', den Roman. Trotzdem steckt eine Theorie narrativer Illusion noch weitgehend in den Anfängen. Und noch weniger ist bisher behandelt worden, was lange im Schatten der mächtigen Tradition illusionsbildender Kunst und Literatur lag, angesichts der Gegenwartsliteratur jedoch besondere Aktualität erlangen hätte müssen: die Illusionsstörung. Die vorliegende Untersuchung will hier in mehrfacher Weise Lücken schließen. Zum einen - und dies macht den Hauptteil der Arbeit aus - soll in ihr auf der Basis einer partiell neu zu erstellenden Theorie ästhetischer Illusion eine allgemeine Erschließung der Prinzipien, Erscheinungsformen und Wirkweisen des bisher besonders vernachlässigten Phänomens der Illusionsdurchbrechung versucht werden. Zum anderen soll dann in einem zweiten Teil die Theorie für eine historische Perspektive auf die Illusionsstörung, ihren jeweiligen Stellenwert im Verhältnis zur Tradition illusionistischer Kunst und die verschiedenen Funktionalisierungen illusionsabbauender Verfahren fruchtbar gemacht werden. Es versteht sich, daß ein so umfangreiches und in vielen Bereichen Neuland erschließendes Vorhaben sich Beschränkungen auferlegen muß. Diese beziehen sich einmal - im Einklang mit der Genese der Arbeit aus der Beschäftigung mit englischsprachiger metafiktionaler Erzählliteratur - auf die Auswahl der untersuchten Gegenstände. Hier wird unter weitgehender Ausklammerung des Dramas der Blick auf die Narrativik, und daselbst vor allem auf die englische Prosaerzählkunst konzentriert. Die heute vieldiskutierte, jedoch in wirkungsästhetischer Hinsicht noch unerschlossene Metafiktion XI
wird dabei eine wichtige, allerdings nicht alleinige Rolle spielen. Immerhin kann die vorliegende Untersuchung auch als Ergänzung der Forschung auf diesem Gebiet dienen. Darüber hinaus muß der historische Teil der Arbeit sich darauf beschränken, ausgehend von einigen, vorwiegend englischen Fallstudien, eine grobe Skizze der Entwicklung illusionsstörenden Erzählens in einer Nationalliteratur zu zeichnen. Sowohl in historischer als auch in theoretischer Hinsicht versteht sich die Arbeit somit als Beitrag zu einer Grundlagenforschung narrativer Wirkungsästhetik, die durch weitergehende Forschungen zu ergänzen wäre. Das vorliegende Werk ist die überarbeitete Fassung einer im Mai 1991 von der Philosophischen Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaft I der Universität München angenommenen Habilitationsschrift. Daß diese Schrift möglich wurde, dafür möchte ich allen Betroffenen meinen Dank aussprechen. Er gilt vor allem meinem verehrten Lehrer, Prof. Ulrich Broich. Er hat mir in zahlreichen anregenden und kritischen Gesprächen wertvolle Hilfestellungen geleistet und ließ mir als seinem Assistenten auch reichlich Zeit, diese Arbeit in den Jahren zwischen 1988 und 1990 zu formulieren. Mein Dank gilt daneben meiner Frau für ihre Unterstützung, und schließlich will ich auch meinen beiden Töchtern Sophia und Theresia danken, da sie, seit sie Türen selbst öffnen können, die Schwelle meines Arbeitszimmers mit solcher Konsequenz respektiert haben. Als kleiner Ausgleich für die vielen Einschränkungen, die sie zumal in der Entfaltung ihrer akustischen Vitalität während der Entstehung dieser Arbeit auf sich nehmen mußten, sei ihnen diese zugeeignet. München, im November 1991
XII
o. Einleitung: zur Forschungslage und Problemstellung
Die wichtigste wirkungsästhetische Tendenz innerhalb der bildenden Kunst des Abendlandes war, wie Ernst H. Gombrich in seinem bahnbrechenden Buch Art and Illusion gezeigt hat, "[the] progressf...] from rude beginnings to the perfection of illusion" [Gombrich 1960:4].' Diese Vervollkommnung einer Illusionskunst, die es auf immer überzeugendere Art versteht, im Rezipienten den Eindruck zu erwecken, in ihr eine zweite Wirklichkeit zu sehen, setzt sich, von einigen 'Rückschlägen' vor allem im Mittelalter abgesehen, bis zum Beginn unseres Jahrhunderts fort. Eine ähnliche Entwicklung läßt sich, grob gesehen, auch für den Roman seit seiner gemeinhin mit Cervantes' Don Quijote (1605-1615) angesetzten Entstehung feststellen. Obwohl die Tradition illusionistischer Narrativik nicht immer gleich stark war und beispielsweise im 18. Jahrhundert bedeutende Werke wie Laurence Sternes Tristram Shandy (1759-67) und Denis Diderots Jacques le fataliste (geschrieben 1771-1775) ihr nicht zugeordnet werden können, nimmt sie doch wie in der bildenden Kunst für lange Zeit eine überragende Stellung ein. In Anlehnung an eine auf den englischen Roman bezogene Prägung von F. R. Leavis - doch ohne dessen wertende Implikationen2 - kann daher von einer 'Großen Tradition illusionistischen Erzählens' gesprochen werden, die weit über die englische Literatur hinaus die Entwicklung der Narrativik bis in unser Jahrhundert dominiert. Noch 1957 bezeichnet Käte Hamburger in ihrer Logik der Dichtung die Illusion als "den Schein, den zu erzeugen das Wesen des fiktionalen Erzählens ist" [Hamburger 1957:61]. Ganz unbefangen schreibt sie damit einen Topos der Ästhetik des 18. und auch noch 19. Jahrhunderts fort, nämlich die 1
Bibliographische Quellenangaben zu Zitaten erscheinen in dieser Arbeit meist - wenn eine Kurzform möglich ist - im laufenden Text. Sie werden dann in eckigen Klammern in folgender Sequenz angegeben: 1. Nachname des Verfassers oder Herausgebers; 2. bei Sekundärliteratur bzw. nichtfiktionalen Texten aus Gründen der historischen Orientierung in der Regel Erscheinungsdatum der Erstausgabe - nicht der verwendeten Ausgabe (zu dieser wie zu den vollständigen bibliographischen Angaben siehe die Bibliographie im Anhang); 3. gegebenenfalls Band- und Seitenzahl der verwendeten Ausgabe.
2
Siehe vor allem das Einleitungskapitel "The Great Tradition" zu seinem gleichnamigen Werk [Leavis 1948:1-27]. I
Generalisierung der Illusion für die fiktionale Literatur, wie sie sich zum Beispiel bei Lessing,3 Diderot4 und Henry Home, Lord Kames,5 aber auch noch bei Thomas Hardy 6 findet. Doch eine solche Gleichsetzung 'fiktionalen Erzählens' mit illusionistischer Narrativik ist aus drei Gründen problematisch: Zum einen verdeckt sie eine Erkenntnis, die sich allerdings auch in neuerer Forschung erst ansatzweise zu verbreiten beginnt: Die 'Große Tradition' sich vervollkommnender illusionistischer Erzählkunst wird immer schon von einer anderen, für den Roman ebenfalls vom Don Quijote ausgehenden Tradition illusionsstörenden Erzählens kontrapunktisch begleitet.7 Es ist ein Erzählen, das auf der Basis der illusionistischen Narrativik als Spiel mit ihr, als deren Kritik oder gar Negation auftritt. Zum anderen unterschlägt diese Gleichsetzung, wohl aufgrund einer Einengung der Erzählkunst auf den Roman, daß es seit alters außerhalb des Romans ein nichtillusionistisches Erzählen gibt (wie es sich noch in den parabelhaften Keuner-Erzählungen Brechts manifestiert), das weder positiv noch negativ auf ästhetische Illusion bezogen ist. Und drittens läßt die Identifikation von Erzählkunst und Illusion unberücksichtigt, daß in neuerer Zeit die illusionistische Tradition ihre Vorherrschaft weithin verloren hat. Was die lange Zeit minoritäre, aber gleichwohl beachtenswerte illusionsstörende Literatur betrifft, um die es mir hier vorrangig geht, so ist sie im Drama wohl so alt wie die dramatische Illusion selbst und wird von vielen
3
In Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) bezeichnet er die Illusion, bzw. "das Täuschende" als dasjenige, "worauf die Poesie vornehmlich gehet" [in: Lessing, Werke-y 1,113]. 4 Dieser bestimmt im Discours sur la poésie dramatique (1758) "l'illusion" als "but commun" von "drame" und "roman" [in: Diderot, Œuvres esthétiques, S. 215]. ' Dieser lobt in seinen Elements of Criticism den illusionistischen Effekt einer "ideal presence", d. h. ein "insensibly transformfing] me into a spectator" [Home 1762:1,110], als Vergnügen und Moral des Rezipienten gleichermaßen förderndes Merkmal von Literatur und Malerei. 6 In seinem Notebook von 1881 schreibt er: "The real, if unavowed, purpose of fiction is to give pleasure by gratifying the love of the uncommon in human experience [...] This is done all the more perfectly in proportion as the reader is illuded to believe the personages true and real like himself." [in: Platz-Waury 1972:79] 7 "Vital features of an anti-Realist impulse and its strategies have existed side-by-side with the impulses and strategies of Realism since the dawn of literature in the West" - dies ist eine der Hauptthesen von Cristopher Nashs Buch World Games. The Tradition of antiRealist Revolt [Nash I987:viii], das allerdings dann doch wie die meisten ähnlichen Untersuchungen sein Hauptaugenmerk nicht auf die Tradition, sondern auf "fiction emerging in the second half of the twentieth century" [ebd.] wirft. Die ausführlichste Darstellung von "The other Great Tradition" illusionsstörender Narrativik ist immer noch Robert Alters Partial Magic [Alter 1975 :ix]. Ihm geht es allerdings weniger um eine historische und noch viel weniger um eine theoretische Wirkungsästhetik der Narrativik als um eine Geschichte von "The Novel as a Self-Conscious Genre", wie sein Untertitel ankündigt.
2
Forschern bereits für die Komödien des Aristophanes angesetzt.8 Aber auch im Roman tritt sie schon in dessen Anfängen auf, wobei Cervantes seinerseits frühere Formen des Spiels mit der narrativen Illusion in Erzählwerken der Renaissance und des Mittelalters fortsetzt und intensiviert.9 Im Modus narrativer Parodie reicht Illusionsstörung vielleicht gar bis zu der wahrscheinlich aus dem i. Jahrhundert v.Chr. stammenden Batrachomyomacbia des Pseudo-Homer zurück und allgemein mindestens bis zum Asinus aureus des Apuleius (ca. 170-175 n. Chr.). Seit dem Don Quijote ist vor allem in Frankreich und England die 'kleine' Tradition illusionsstörender Narrativik neben der Großen Tradition illusionistischer Literatur lebendig geblieben. Man denke nur an Antoine Furetières Le Roman bourgeois (1666), an Sternes Tristram Shandy, Diderots Jacques le fataliste, an den deutschen Roman der Romantik und den von ihm beeinflußten Sartor Resartus (1833/34) von Thomas Carlyle oder an William M. Thackerays Vanity Fair (1847/48). In der Moderne wuchs diese kleine Tradition dann etwa mit den avantgardistischen Erzählungen Gertrude Steins, mit André Gides Les Faux-monnayeurs (1925), Aldous Huxleys Point Counter Point (1928), Samuel Becketts Murphy (1938), Flann O'Briens At Swim-Two-Birds (1939) oder James Joyces Finnegans Wake (1939) zu einer Bedeutung heran, die der Großen Illusionistischen Tradition bereits ernsthaft Konkurrenz machte, ihren höchsten Gipfel allerdings erst in der Postmoderne erreichte. Daß Hamburger diese neueste Entwicklung mit ihrer These 'Erzählkunst bzw. Roman ist gleich Illusionskunst' nicht erfassen kann, ist vielleicht der heute auffälligste Schwachpunkt ihrer Fixierung auf die traditionelle Narrativik. Der Paradigmenwechsel von der alten Großen Tradition illusionistischen Erzählens zu einer neuen Großen Tradition des Antiillusionismus hatte sich durchaus schon um 1957 angekündigt, beispielsweise im entstehenden nouveau roman, bei Beckett oder beim späten Joyce. Parallel zur literarischen Praxis, die heute weithin - wenn auch nicht ausschließlich - im Zeichen prononcierter Hostilität gegen die Illusion steht, ist auch in der Literaturtheorie die Illusion in Mißkredit geraten. Federführend sind hier vor allem in Frankreich die Theoretiker und Autoren des nouveau roman wie Alain Robbe-Grillet oder Jean Ricardou. Robbe-Grillet hatte schon 1957 den Illusionsroman nicht nur als ästhetisch minderwertige 'Zerstreuung' gebrandmarkt, sondern auch als eine Literaturform, die im Zei8 Siehe hierzu Alter 1975 :xi, Schmeling 1978:87! und R. Breuer 1981:140. ' Frühe, vor-romaneske Formen illusionsstörenden Erzählens finden sich vereinzelt z. B. in Ariosts Orlando furioso (1516-1532) (siehe hierzu und auch zu weiteren Beispielen Hempfer 1982), in Chaucers The Canterbury Tales (ca. 1380 entstanden), in Wolfram von Eschenbachs Parzival (ca. 1210) oder in Gottfried von Straßburgs Tristan und Isolde (ca. 1200).
3
chen einer gefährlichen, bürgerlichen Interessen dienenden 'Beschwichtigung' stehe10 und eine ungerechtfertigte "confiance [...] dans une logique des choses juste et universelle" vermittele [Robbe-Grillet 1963:31]. Ähnlich kritisch verfährt Jean Ricardou mit der Illusion. Er bezeichnet sie als Verfahren eines "trompe-lecteur" [Ricardou 1971:263], dem bevorzugt ein "lecteur banal" anheimfalle [S. 77], oder denunziert sie gar als quasi pathologische "hallucination" [Ricardou 1978:31]. Auch in der amerikanischen Theorie ist vor allem von postmodernen Autoren illusionistische "verisimilitude" und "imitation" zugunsten einer antiillusionistischen "new tradition [in] fiction" [Sukenick 1975:36] verabschiedet worden. In der deutschen Theorie ist zumal innerhalb der Rezeptionsästhetik eine parallele Abwertung der Illusion zu beobachten. Allerdings besteht das Motiv der Kritik hier nicht wie in der französischen Theorie, in ideologischen Vorbehalten, sondern im Verdacht, Illusionierung schade einer ästhetischen Würdigung des Kunstwerks. Illusion gerät aus diesem Blickwinkel zum Zeichen einer "'naiven' Lektüre", die bei der Rezeption von künstlerischen Texten grundsätzlich zu überwinden sei [Stierle 1975:358], oder erscheint gar als "Verfehlung der ästhetischen Natur der Fiktion" [Stierle 1983:178]. Eine ähnliche Kritik findet sich auch außerhalb der Rezeptionsästhetik. Werner Strube z. B. unterstellt die ästhetische Illusion gar einem generellen Trivialitätsverdacht und argwöhnt: "Das Kunstwerk degeneriert in ästhetischer Illusion zum Konsumartikel", bei dem "das irrelevant [werde], was man die 'künstlerische Qualität' [...] nennt." [Strube 1971:55 und 54] Man sieht: Das Abrücken von der literarischen Illusion hat ganz offenbar sowohl in der künstlerischen wie literarischen Praxis unseres Jahrhunderts als auch in der literaturwissenschaftlichen Theorie der Gegenwart Hochkonjunktur. Eine solche Hochkonjunktur kann jedoch nicht für die theoretische und historische Erfassung des Phänomens literarischer Illusionsstörung und der korrelierenden Tradition eines die Illusion in Frage stellenden Erzählens behauptet werden. Obwohl das vorherrschende antiillusionistische Klima Gegenteiliges erwarten ließe, gibt es bis heute weder eine Theorie literarischer Illusionsstörung noch eine auf ihr fußende Geschichte jenes anderen Erzählens, das mit der Großen Illusionistischen Tradition seit jeher konkurriert. Dieses doppelte, theoretische und historische Defizit zeigt sich gerade auf jenem, heute vielbeachteten Forschungsgebiet, auf dem es wegen der Affinität von dessen Gegenstand mit dem Illusionsabbau eigentlich am wenigsten erwartbar ist: im Bereich der Metafiktionsforschung. 10
"Plus encore que de distraire, il s'agit ici de rassurer." [Robbe-Grillet 1963:30; dieser Sammelband enthält Essays, die zwischen 1955 und 1963 entstanden sind.]
4
Seit der Prägung des Begriffs 'Metafiktion', die traditionell Robert Scholes [Scholes 1970] und William H. Gass [Gass 1970:25] zugeschrieben wird, hat sich vor allem in den anglo-amerikanischen Ländern eine fast schon unübersehbare Flut von Untersuchungen mit dem Phänomen einer autoreflexiven Literatur beschäftigt, die sich selbst als Artefakt bloßlegt und ihre Produktions- oder Rezeptionsbedingungen, Vertextungsverfahren und Möglichkeiten der Realitätsmodellierung thematisiert. An größeren Untersuchungen seien hier nur erwähnt: Robert Alters Partial Magic (1975), Linda Hutcheons Narcissistic Narrative (1980), Patricia Waughs Metafiction (1984), Rüdiger Imhofs Contemporary Metafiction (1986) und Brian McHales Postmodernist Fiction (1987). Diese neueren Arbeiten haben immerhin für eine Theorie und Geschichte der Illusionsstörung wertvolle Vorarbeit geleistet. Dies zumal deshalb, da sie weit über den self-conscious narrator, der früher im Zentrum einschlägiger Untersuchungen gestanden war, hinausgegriffen und so durchaus wichtige Erkenntnisse namentlich zur Gegenwartsliteratur zutage gefördert haben. Verdienstvoll sind sie auch nicht zuletzt deshalb, weil sie eine Fülle von zum Teil unzugänglichem Textmaterial erschlossen und erstmals, wenn auch oft unsystematisch, gesichtet haben. Allerdings zeichnet sich die Metafiktionsforschung durch recht einseitige Interessenlagen und Schwerpunkte aus. Mit Ausnahme von Alters Buch" und einer partiellen Weiterführung von dessen historischer Analyse narrativer self-consciousness für das 19. Jahrhundert in George Levines The Realistic Imagination (1981)12 beschäftigen sich zum Beispiel fast alle Untersuchungen zur Metafiktion - und das gilt stellvertretend für nahezu die gesamte bisherige Forschung auch zu anderen Bereichen der Illusionsstörung - ausschließlich oder überwiegend mit der zeitgenössischen Literatur.1' Die geschichtliche Dimension erscheint hierbei nur ganz 11
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Weniger ergiebig sind dagegen, wenn sie auch zumindest in Ansätzen in dieselbe Richtung gehen: Booth 1952 und R. Breuer 1981. Z u erwähnen wäre auch Hans Rudolf Picards für einen Teilbereich der Metafiktion durchaus erhellende Untersuchung über "Dargestelltes Erzählen in literarischer Tradition", so der Untertitel zu seinem Buch Der Geist der Erzählung (1987). Allerdings fehlt bei ihm der Begriff der Metafiktion ebenso wie ein ausgeprägtes wirkungsästhetisches Interesse, das ergänzend zu der dominanten bewußtseinsgeschichtlichen und philosophischen Tendenz seiner Arbeit hinzuträte. Außerhalb der Metafiktionsforschung gibt es eine etwas umfangreichere Literatur, die sich mit der historischen Dimension der Bildung und Durchbrechung von Illusion beschäftigt, wenn auch nur in Studien zu einzelnen Epochen und Autoren. Hier - wie zumeist auch in der Metafiktionsforschung - fehlt freilich überdies durchweg eine theoretische Grundlage. Siehe zum 18. Jahrhundert etwa: Strube 1971 und Hobson 1982; zur Romantik und vor allem zur romantischen Ironie und ihren Vorläuferformen: Heimrich 1968, Muecke 1969, bes. Kap. "Proto-Romantic Irony", S. 1 6 4 - 1 7 7 ; Behler 1972, Kap. "Techniken der romantischen Ironie vor der Romantik", S. 4 0 - 6 4 ; zur Moderne: Heller 1977 und Smuda 1979.
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am Rande oder wird überhaupt ausgeblendet.14 Diese historische Abstinenz geht zurück auf Roland Barthes' mittlerweile zu Recht kritisierte'5 Negation der Existenz literarischer Autoreflexivität vor Mallarmé in seinem kurzen, für die Metafiktionsforschung bahnbrechenden Artikel "Littérature et métalangage": "Pendant des siècles [...] la littérature ne réfléchissait jamais sur elle-même [...]" [Barthes 1959:106] Inzwischen würde zwar niemand mehr einen solchen Satz unterschreiben, der Hinweis auf Cervantes, Sterne und Diderot als Ahnen nicht nur der Postmoderne allgemein, sondern auch insbesondere ihrer ausgeprägten autoreflexiven und metafiktionalen Tendenzen ist spätestens seit Ronald Sukenicks Untersuchung über die merkwürdigerweise allerdings als "ahistorical" apostrophierte internationale "New Tradition in Fiction" in seinem gleichnamigen Aufsatz zu einem Topos erstarrt [Sukenick 1975:37]. Vielleicht gerade deshalb aber setzt sich die weitgehende Nichtberücksichtigung des vermeintlich topisch Bekannten fort. Dieser Mangel an historischen Perspektiven auf die Metafiktion wird nun keineswegs überall durch eine besonders ausgearbeitete oder auch nur klare Theorie ausgeglichen. Die meisten Untersuchungen beschränken sich auf ein Vorstellen metafiktionaler Einzeltechniken, die nicht einmal immer nach einsichtigen Kriterien geordnet sind. Für eine rezeptionsästhetische Untersuchung wie die vorliegende sind sie daher meist nur als Fundgruben verwertbar, zumal sie die Wirkungsästhetik der Metafiktion überhaupt weitgehend unberücksichtigt lassen. Die Frage nach illusionsstörenden Effekten taucht allenfalls punktuell oder am Rande auf,IÄ häufig sogar ohne Nennung des Begriffs Illusion. Mitunter wird offenbar dem bloßen Aufzählen der verschiedenen Formen von "[s]elf-reflexiveness and the laying bare of fictional devices" [Imhof 1986:80] eine selbstevidente Kraft zugetraut, den hiermit in Zusammenhang zu bringenden "disbelief" des Lesers [Imhof 1986:16] zu erklären. Wie, unter welchen Bedingungen und wie stark Illusion im Einzelfall durch Metafiktion eine Störung erfährt, wird weder gefragt noch geklärt. 14
16
Siehe hierzu die berechtigte Kritik von Danuta Zadworna-Fjellestad, die noch 1986, einleitend zu einer Untersuchung von Lewis Carrolls Alice-Geschichten als Metafiktionen, monierte, "metafictional criticism has been [...] concerned with postmodern literary texts alone. (Alter's work is a valuable exception to the rule)" [Zadworna-Fjellestad 1986:11]. Z. B. bei Hempfer 1982:130. Dies gilt beispielsweise für Schmeling 1978 und auch Rose 1979, die Illusionsdurchbrechung überhaupt nur an zwei Stellen [S. 109 und 186] erwähnt, aber auch für die bislang umfangreichsten Metafiktionsforschungen von Waugh 1984, die immerhin mehrmals auf das "laying bare* einer "fictional illusion" [S.6] zu sprechen kommt [vgl. auch S. 14, 16, 18 und 31], und besonders für Imhof 1986, der über die Wirkungsästhetik von Metafiktion nur an einer einzigen Stelle etwas sagt [S. 16]. Auch in historisch orientierten Untersuchungen zur Metafiktion oder Teilbereichen von ihr wie Alter 1975 und Picard 1987 spielt Illusionsabbau, obwohl punktuell erwähnt, nur eine ganz untergeordnete Rolle.
6
Das Defizit an zusammenhängenden historischen und theoretischen Untersuchungen, das im Bereich der Metafiktion stellvertretend für die gesamte Forschung zur Illusionsstörung beobachtet werden kann, hat seine Gründe. Für die Abstinenz an historischen Arbeiten zu einem Erzählen, das sich gegen die Große Tradition des Illusionismus stellt, mögen sie paradoxerweise gerade in deren Dominanz liegen, die bis vor kurzem in der Höhenkammliteratur spürbar war und in der Trivialliteratur bis in die Gegenwart andauert: Die hieraus heute resultierende Frontstellung gegen das Alte, der Verdacht von Trivialität oder gar ideologischer Bedenklichkeit, in die illusionistisches Erzählen geraten ist, und die Kritik oder Apologie, zuweilen sogar kämpferische Wegbereitung des Neuen absorbieren immer noch zu viele Kräfte, als daß für eine ernsthafte und gründliche historische, aber auch theoretische Aufarbeitung der Illusionsstörung genügend Spielraum geblieben wäre. Dies läßt sich exemplarisch an einigen engagierten Theoretikern (und zugleich Praktikern) des nouveau roman zeigen. Obwohl zum Beispiel Ricardous Le Nouveau roman (1978) nicht nur eine Fundgrube für illusionsdurchbrechende Verfahren, sondern zugleich ihre bislang wohl für einige Teilbereiche (vor allem für die betont unglaubwürdige Gestaltung des Inhalts und für eine opake Vermittlung der erzählten Geschichte) scharfsinnigste theoretische Betrachtung darstellt, liegt das Hauptinteresse bei ihm wie in Robbe-Grillets Essaysammlung Pour un nouveau roman (1963) weder auf einer umfassenden wirkungsästhetischen Auseinandersetzung mit der Illusion noch auf einer systematischen Vorstellung der Techniken, mit denen sie gestört werden kann (ganz zu schweigen von einer Geschichte antiillusionistischen Erzählens), sondern auf der engagierten Präsentation und Rechtfertigung des nouveau roman. Folglich findet in diesen Werken eine ganze Reihe von Charakteristika illusionsabbauender Narrativik, die für den nouveau roman weniger relevant sind, nicht oder nur am Rande Beachtung (dies gilt insbesondere für die Komik, die explizite Metafiktion und bestimmte Arten auffälliger Vermittlung wie das foregrounding der Textmaterialität). Was sich hier am Beispiel der Apologeten des nouveau roman, aber auch in der Metafiktionsforschung zeigt, gilt bis heute für jene Forschung insgesamt, die zur Illusionsstörung aus theoretischer und historischer Perspektive beitragen könnte. Sie ist noch weitgehend mit der Bewältigung oder Vertiefung des jüngsten Bruchs in der Kontinuität der Großen Illusionistischen Tradition, mit Materialsammeln oder mit dem Bearbeiten von Einzelbereichen beschäftigt. Dies trifft beispielsweise auf die Sichtung zeitgenössischer experimenteller Romane zu (das bisherige Standardwerk zur englischen Literatur, Annegret Maacks Der experimentelle englische Roman der Gegenwart, widmet seiner Aufgabenstellung gemäß der historischen Dimension nur ein 7
Kapitel)17 und genauso auf die Erfassung innerliterarischer Spiegelungsverfahren ('mise en abyme'), an der neben Lucien Dällenbach Ricardou selbst maßgeblich beteiligt ist. Für das Theoriedefizit bei der Erfassung illusionsabbauenden Erzählens sind freilich andere Gründe wichtiger als die Tendenz zur einseitigen Konzentration auf die Gegenwartsliteratur oder einige ihrer Aspekte. Vielleicht der wesentliche Grund liegt in der immer noch zum Teil ungesicherten Basis, von der jede Theorie der Illusionsstörung ausgehen muß: im noch unbefriedigenden Zustand der Theorie ästhetischer Illusion allgemein. Immerhin gibt es hier - anders als auf dem Gebiet der Illusionsstörung - bereits eine Reihe von bahnbrechenden Untersuchungen, ohne die die vorliegende Arbeit nicht denkbar gewesen wäre. Der Anstoß für eine Beschäftigung mit dem Phänomen narrativer Illusion kam in unserem Jahrhundert aus drei Bereichen: erstens aus der Literaturwissenschaft, vor allem aus Roman Ingardens Das literarische Kunstwerk (Erstfassung 1931), dessen nachhaltige Rezeption erst mit der Ausgabe von i960 einsetzte und auch der deutschen Neubearbeitung des Folgebands Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks (1968, polnische Erstfassung 1937) breite Aufmerksamkeit zuteil werden ließ, zweitens aus der philosophischen Phänomenologie der Wahrnehmung (wichtig waren hier Jean-Paul Sartres L'Imaginaire von 1940 und Maurice Merleau-Pontys Phénoménologie de la perception von 1945) und drittens aus der Kunstwissenschaft. Hier war es vor allem ein Werk, dem ein Großteil der nachfolgenden Reflexion über die Illusion verpflichtet ist, die erwähnte Studie Gombrichs: Art and Illusion (i960).18 Dieser bislang unübertroffene Versuch, die abendländische Illusionskunst nicht nur historisch seit ihren Anfängen darzustellen, sondern auch auf ihre epistemologischen, kulturgeschichtlichen und technischen Voraussetzungen und Bedingungen transparent zu machen, hätte in der Literaturwissenschaft jedoch durchaus noch größere Beachtung verdient.1' Mehr oder weniger intensiv wurden alle diese Anstöße für die Literatur vor allem in der deutschen Rezeptionsästhetik der 70er Jahre aufgenommen. Sie ist mittlerweile in der literarischen Illusionsforschung führend geworden,20 obwohl sie keineswegs in ihr aufgeht und zumeist andere Probleme als 17
Ihr Kapitel "Tradition" [Maack 1 9 8 4 : 1 6 - 3 0 ] ist f ü r einen ersten historischen Uberblick über die Wurzeln gegenwärtigen experimentellen Erzählens hilfreich, geht aber wie die meisten ähnlichen Untersuchungen auf die Illusion und ihre Durchbrechung nicht näher ein.
18
Gombrich selbst legt diese Relevanz nahe, wenn er des öfteren '"the language of a r t " der Malerei an die Literatur annähert [Gombrich 1960:76].
19
Z u Gombrich siehe ausführlicher unten, vor allem Kap.
10
Die anglo-amerikanische Forschung hat sich dagegen bis in die jüngste Vergangenheit ent-
8
1.2.2.
die ästhetische Illusion in den Vordergrund rückt. Am einflußreichsten war hier zweifellos Wolfgang Iser ("Der Lesevorgang", 1972; Der Akt des Lesens, 1976), es bemühten sich aber auch andere um ein Fruchtbarmachen der genannten Arbeiten für die Literatur (Karlheinz Stierle, "Was heißt Rezeption?", 1975; Hans Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung, 1977). Bekannt wurde ein Großteil der bis dahin vorliegenden Ergebnisse in dem von Rainer Warning herausgegebenen Sammelband zur Rezeptionsästhetik (1975). Besonders wichtig ist die Rezeptionsästhetik, da im Anschluß an sie auch zwei gewichtige Versuche einer speziellen Theorie narrativer Illusionsbildung entstanden: Eckhard Lobsiens Theorie literarischer Illusionsbildung (1975) und Manfred Smudas auch die Malerei einbeziehendes Werk Der Gegenstand der bildenden Kunst und Literatur (1979). Beide stellen beachtliche Pionierleistungen auf ihrem Gebiet dar, und die vorliegende Untersuchung ist ihnen im illusionstheoretischen Teil kaum weniger verpflichtet als Gombrichs Art and Illusion, sie sind jedoch im einzelnen durchaus ergänzungs- und korrekturbedürftig. Lobsiens Verdienst ist es, als erster auf der Basis psychologischer Phänomenologie eine systematische Beschreibung textueller Bedingungen der Illusionsbildung im Roman versucht zu haben. Er vermeidet allerdings eine detaillierte Klärung dessen, was ästhetische Illusion etwa im Gegensatz zu nichtästhetischer Illusion ist. Leider bedient er sich überdies einer zum Teil mißverständlichen Terminologie und unzureichender Kategorien. So vermag er z.B. mit "Kontingenz", die er neben der "Perspektivität" als den wichtigsten "Grundbegriff[...] der Illusionstheorie" bezeichnet [Lobsien 1975:67], den Zusammenhang zwischen dem Schein der Natürlichkeit narrativer Sinnsetzungen und der Konstruiertheit illusionistischer Fiktion, die eben nicht völlig kontingent, da einem Autor-Willen unterworfen ist und mit einer bestimmten Regelmäßigkeit abläuft, nicht adäquat zu erfassen. Auch sein zweiter Zentralbegriff, die "Perspektivität", erscheint für eine Deskription illusionsbildender Textstrukturen ("Perspektivträger"), zu denen er "Handlung und Charakter", "Autor" und "Stil" zählt [S.78, 95 und 107], unzureichend. 'Perspektivität' bezeichnet zwar ein wichtiges weder — im Anschluß an Gombrich und in kritischer Auseinandersetzung mit ihm - auf die weitere Klärung der Illusion in der Malerei beschränkt (dies gilt z. B. für Wollheim 1963, "Art and Illusion"; Hochberg 1972, "The Representation of Things and People"; und Black 1972, "How Do Pictures Represent?") oder nur sehr allgemeine Anmerkungen zur literarischen Illusion gemacht, in denen sie weder phänomenologisch aufgearbeitet noch auf ihre textuellen Auslöser und Entstehungsbedingungen systematisch befragt wird (siehe z.B. Harding 1962, "Psychological Processes in the Reading of Fiction", und auch den Sammelband Krieger 1978, Poetic Presence and Illusion, in dem zur ästhetischen Illusion trotz des Titels wenig ausgesagt ist).
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Illusionsprinzip, vermag aber wesentliche andere illusionsfördernde Grundsätze wie die Imitation der Bedingungen sinnstiftender lebensweltlicher Wahrnehmung (zumal Kausalität) oder das Verhüllen von Künstlichkeit nur unzureichend abzudecken. Mit diesem Begriff und seiner Unterkategorie 'Stil' läßt sich auch der Zusammenhang zwischen einer Berücksichtigung der Grenzen des narrativen Mediums und der Illusionsbildung kaum in den Griff bekommen. Smudas nur im ersten Abschnitt der Illusionstheorie gewidmete Untersuchung [Smuda 1979:10-75] füllt dagegen eine Reihe von Leerstellen Lobsiens aus, wenn auch vielfach noch recht summarisch (hierzu gehören die in Teilbereichen schon bei Gombrich angesprochene Relation zwischen lebensweltlicher Wahrnehmung und den Strukturen illusionsbildender Werke in Literatur und Malerei, die Betonung der Historizität der Illusionsbildung und die Differenzierung verschiedener Arten ästhetischer Illusion je nach dem verwendeten Medium). Allerdings fehlt auch bei Smuda eine systematische Ableitung werkseitiger Illusionsprinzipien und -verfahren aus der Realitätswahrnehmung. Wie bei Lobsien vermißt man bei ihm ferner eine klare Unterscheidung zwischen ästhetischer und nichtästhetischer Illusion, die auf das, wie zu zeigen sein wird, wichtige Differenzkriterium der Distanz abheben würde. Außerhalb der Rezeptionsästhetik Konstanzscher Prägung hat der bereits erwähnte Werner Strube mit seiner 1971 eingereichten Dissertation über Ästhetische Illusion eine weitere verdienstvolle, wenn auch isolierte Pionierleistung in der deutschen Illusionsforschung vorgelegt. Strubes Studie enthält nicht nur einen gewichtigen "kritische[n] Beitrag zur Geschichte der Wirkungsästhetik des 18. Jahrhunderts", wie der Untertitel verspricht, sondern in ihrem "systematischefn] Teil" [Strube 1971:7-59] auch einen beachtenswerten "Beitrag zur Theorie der ästhetischen Illusion" [S. 5]. Isoliert ist Strubes Arbeit dabei in zweifacher Hinsicht: einmal, da sie - obwohl das erste neuere Werk von Bedeutung zur literarischen Illusionstheorie - von der nachfolgenden Forschung weitgehend ignoriert worden ist,21 zum zweiten, da sie selbst ein so wichtiges Buch wie Gombrichs Art and Illusion völlig und die Forschung Ingardens wenigstens in zentralen Bereichen außer acht läßt.22 Verdienstvoll für die Illusionstheorie ist Strubes Untersuchung dagegen vor allem deshalb, weil hier erstmals eine Abgrenzung der ästhetischen Illusion von nichtästhetischer 'Täuschung' bzw. "durchstrichener Trugwahr21
"
Weder Lobsien noch Smuda erwähnen Strube. Das gilt z. B. für den Begriff der 'Konkretisation', den Strube inhaltlich nur einer interpretatorischen Zuwendung dem Text gegenüber zuordnet und dabei übersieht, daß sie genausogut notwendige Vorstufe jeder Illusion ist [s. S. 24].
10
nehmung" [S. 14] wie auch von anderen "ästhetische[n] Zuständen" [S. j] versucht wird. Allerdings mißlingt Strubes phänomenologische Beschreibung ästhetischer Illusion bereits im Ansatz: Seine Abgrenzung illusionistischer von 'interpretatorischer' und 'begeisterter' Zuwendung auf das Werk überzeugt streckenweise nicht,23 vor allem aber fällt hier ins Gewicht, daß er sich von vornherein gegen die Illusion im Sinne einer "Als-ob-Modifikation der Wahrnehmung-von-etwas" wendet fS. 13].24 Damit kann Strube die zentrale Analogie zwischen lebensweltlicher Wahrnehmung und illusionsbildenden Verfahren der Literatur nicht mehr nachvollziehen. Dieser fehlende Ansatz, der z. B. Smudas Buch zu einem so interessanten Beitrag zur Illusionstheorie gemacht hat, führt denn auch bei Strube dazu, daß textuelle Bedingungen der Illusionsbildung systematisch überhaupt nicht in den Blick geraten, was den Wert seiner Untersuchung für eine Theorie literarischer Illusionsbildung (und -Störung) erheblich mindert. Erwähnenswert als eine weitere isolierte Untersuchung größeren Umfangs wenigstens zu einem Teilaspekt der Illusion ist ferner Gottfried Willems kürzlich erschienene germanistische Monographie Anschaulichkeit (1989). Wenn auch vor allem ihr Abschnitt "Untersuchungen zur Geschichte der Anschaulichkeit" interessante Parallelen zur Geschichte der Illusion in der englischen Narrativik erkennen läßt, ist die Arbeit für eine Illusionstheorie aber doch nur begrenzt verwendbar: Zum einen geht es Willems nicht zentral um die ästhetische Illusion selbst, und er theoretisiert sie denn auch nie zusammenhängend, zum anderen ist selbst seine für die Illusion bedeutende Kategorie der 'Anschaulichkeit* nur höchst eingeschränkt von Nutzen, da Willems sie als Merkmal jeder Literatur aller Gattungen und Zeiten überdehnt und nur im Sonderfall des "mimetisch-illusionistischen Darstellungsstils" [S. 14] mit Illusion in Korrelation bringt.
23
So fehlt beispielsweise die Opposition zwischen rationaler Interpretation (die Strube im Zeichen eines 'Nachfühlens' in den Kontext affektiver Zuwendung rückt, [s. S. 29]) und nichtrationaler Illusion; andererseits trennt er verwandte Phänomene allzu scharf und erkennt die 'Begeisterung' nicht als Steigerungsstufe der ästhetischen Illusion (obwohl seine eigenen Formulierungen gerade dies nahelegen; siehe z. B. die Feststellung, "lebhaftef...] Anteilnahme" sei für die Begeisterung [S. 30], "innerlichfe] Anteilnahme]" für die Illusion charakteristisch [S. 31]).
M
Z w a r ist ihm zuzustimmen, wenn er ästhetische Illusion von einem ' A l s - O b ' im Sinne eines "Zweifels" oder einer "durchstrichene[n] Trugwahrnehmung" unterscheidet (für ästhetische Illusion ist weder die Unsicherheit einer Schein-Wahrnehmung herausragendes Merkmal noch, daß sie sich nachträglich als falsch herausstellt). A b e r mit seiner dritten Opposition zur ästhetischen Illusion, dem "Attrappenbewußtsein", grenzt er voreilig aus einem einseitigen Blick auf die narrative Illusion einen wesentlichen Aspekt aus, der beispielsweise im Theater mit Bezug auf die Kulissen durchaus Teil ästhetischer Illusion sein kann und jedenfalls zur Erfassung ihres Wesens beizutragen vermag [Strube 1971:14].
II
Aufgrund der offengebliebenen Fragen in den bisherigen Arbeiten erschien noch 1989 das Phänomen ästhetischer Illusion so wenig erforscht, daß in diesem Jahr ein internationales Symposium zu diesem Thema an der University of California/Los Angeles abgehalten wurde, dessen Ziel die Vorbereitung eines Grundlagenbandes zur Aesthetic Illusion war. In seiner Form als Sammlung von "Theoretical and Historical Approaches", so sein Untertitel, kann jedoch auch dieser Band weder eine zusammenhängende Theorie noch eine Geschichte der Illusion und noch viel weniger ihrer Durchbrechung ersetzen.2' Eine letzte, nicht zu vernachlässigende Ursache für die gegenwärtig noch lückenhafte Forschung im Bereich der Illusionsstörung ist ebenfalls mit dem parallelen Untersuchungsgebiet der Illusion verbunden und liegt in gemeinsamen methodischen Problemen: Illusionsbildung und -Störung sind wie alle rezeptionsästhetischen Phänomene keine absoluten Größen. Sie hängen vielmehr von historisch wandelbaren Faktoren (Erwartungshaltungen, Normvorstellungen und Vorkenntnissen) ab, die jeweils im Rezeptionsakt eine Rolle spielen. Der Forscher sieht sich also hier in womöglich abschreckender Weise mit einem Gegenstand konfrontiert, der mit wachsendem zeitlichen Abstand und damit auch mit dem Abnehmen illusionstheoretisch verwertbarer Rezeptionszeugnisse zunehmend schlüpfrig zu werden droht. Aber selbst für die Gegenwart und unmittelbare Vergangenheit gibt es möglicherweise ebenfalls abschreckende - Schwierigkeiten. Jede Theorie der Illusionsbildung und -durchbrechung hat nämlich gegen ein weiteres grundsätzliches Problem aller Wirkungsästhetik zu kämpfen: gegen die schwierige Faßbarkeit des Lesers und seiner individuellen Vorstellungsreaktionen auf den Text. Es resultiert aus einer merkwürdigen, der Heisenbergschen Unschärfenrelation verwandten Erscheinung: Illusion ist als solche empirisch nicht zu beobachten. Solange die Illusion andauert, ist "der natürliche Ausdruck" für diesen Vorgang des Vorstellungsbewußtseins "das Schweigen" [Strube 1971:8]. Der Illudierte "überlfäßt] [s]ich den Gegenstandsbeziehungen, in denen eine illusionäre Welt [ihm] vorstellig wird" [Strube 1971:21], und reflektiert nicht über die Bedingungen ihrer Entstehung. Sobald er aber über die Illusion nachdenkt, spricht oder schreibt, ist sie als Gegenwart entschwunden, und ein rationaler Diskurs tritt an die Stelle ihres Erlebens. Für 2!
Siehe Burwick/Pape 1990. Sein hochgestecktes Ziel erreicht der vom Ansatz her verdienstvolle Band in der Tat nur bedingt und ist auch sonst für die vorliegende Untersuchung lediglich begrenzt brauchbar, da er sich weitgehend in einem punktuellen Anschneiden verschiedener Einzelgebiete erschöpft (wobei die Narrativik nur in drei Beiträgen näher behandelt wird) und er die Phänomenologie der Illusion und auch der Illusionsstörung ausklammert.
12
den Illudierten wie für den Illusionstheoretiker gilt daher, wie schon Gombrich gesagt hat: "[...] we cannot, strictly speaking, watch ourselves having an illusion." [Gombrich i960: j] 26 Aus dieser gegenwärtigen Forschungslage und aus den sie mitverursachenden Problemen ergeben sich für eine weitergehende einschlägige Untersuchung folgende Aufgaben: Es ist zunächst durchaus wünschenswert, - im Rahmen der Möglichkeiten eines historischen Kapitels - an Alters Pionierleistung anzuknüpfen in Richtung einer Geschichte illusionsstörenden Erzählens. Dabei sind freilich nicht nur die Metafiktion oder narrative selfconsciousness zu berücksichtigen, sondern auch andere Formen der Illusionsstörung zusammen mit ihren Wurzeln und Funktionen. Eine solche Geschichte kann indes erst dann sinnvoll in Angriff genommen werden, wenn vorher die Kriterien des historischen Vergleichs und Wandels transparent gemacht und Prinzipien und Techniken der Illusionsstörung bekannt sind. Das aber bedeutet, daß zunächst das zu leisten ist, was in der Forschung bisher unterblieb: die Erstellung einer Theorie der Illusionsstörung. Eine solche Theorie bedarf jedoch ihrerseits eines gesicherten Fundaments, denn Illusionsdurchbrechung ist ganz klar ein Sekundärphänomen. Es fußt meist innerhalb desselben Werkes auf einer vorher zumindest ansatzweise aufgebauten Illusion. Aber auch wo das nicht der Fall sein sollte oder es nie eigentlich zu einer Illusionsbildung kommt, durchbricht der betreffende Text doch herkömmliche Erwartungen - sofern er selbst als Negation noch auf die abendländische Große Tradition illusionistischer Kunst bezogen ist und auf sie antwortet. Auf jeden Fall hat somit einer Theorie der Illusionsstörung eine Theorie der Illusionsbildung voranzugehen. Da aber die bisherige Forschung hierzu trotz ihres - im Vergleich zur theoretischen Bearbeitung des Illusionsabbaus - relativ großen Umfangs immer noch Lücken aufweist und vor allem nicht aus der Perspektive einer Weiterführung in Richtung einer Theorie der Illusionsstörung entwickelt wurde,27 ist zunächst die Theorie der Illusionsbildung aus diesem Blickwinkel zu sichten und, wo nötig, neu zu formulieren. Daß dieser Abschnitt dabei in besonderem Maß auf bestehende Forschung aufbaut, versteht sich. Gleichwohl erfordert die 16
27
Vgl. auch Merleau-Ponty 1945:343, "l'illusion [...] n'est pas observable, c'est-à-dire que mon corps n'est pas en prise sur elle et que je ne peux pas la déployer devant moi par des mouvements d'exploration", und Strube 1971:8-10. Wegen der methodischen Schwierigkeiten hat Menachem Brinker in einem ansonsten durchaus wertvolle Beobachtungen zur "Aesthetic Illusion" enthaltenden Aufsatz sogar für ein "discontinuing the use of the term 'aesthetic illusion'" plädiert [Brinker 1977:195]. Das gilt selbst für Smuda 1979, der bisher - wenigstens aus historischer Perspektive - am ausführlichsten auf die Illusionsstörung eingegangen ist.
13
von uns anvisierte Verlängerbarkeit der Theorie ein besonderes Vorgehen. Ideal einer solchermaßen perspektivierten Theorie narrativer Illusionsbildung ist das Bereitstellen einer Reihe von 'Prinzipien', deren Nichteinhaltung dann die Begründung für den illusionsstörenden Effekt bestimmter narrativer Verfahren zu liefern vermag. Zu diesem Zweck sollen die Ergebnisse der bisherigen Forschung, erweitert um notwendige Korrekturen und Ergänzungen, zu einem Begriffskomplex systematisiert werden, mit dessen Hilfe die angedeutete historische und individuelle Schlüpfrigkeit des Phänomens 'Illusion' bis zu einem gewissen Grad analytisch reduzierbar und damit auch die Illusionsstörung theoretisch beschreibbar und erklärlich wird. Dabei ist allerdings von vornherein klar, daß solche 'Prinzipien der Illusionsbildung' wie auch ihre Negationen keineswegs präskriptiv im Sinne produktionsästhetischer Vorschriften zu denken sind, sondern vereinfachende Abstraktionen aus der Rezeption des vorliegenden Beispielmaterials darstellen, also weitgehend deskriptiv zu verstehen sind. Ein, wenn man so will, präskriptives Moment wird allerdings mit der erforderlichen Konzentration auf eine 'ideale Rezeption' und bei der Bestimmung des zugrundeliegenden Untersuchungsgegenstandes nicht zu umgehen sein - und auch dies dient einer versuchten Begrenzung der historischen und individuellen Schwankungsbreite des untersuchten Phänomens 'Illusion'. Gegenstand der vorliegenden Arbeit kann nämlich nicht jede Art von Illusion sein, auch nicht jede, die von einem Kunstwerk oder einem narrativen Text ausgehen kann, sondern nur ästhetische Illusion. Damit aber ist von einem bestimmten - wesentlich durch Distanz markierten - Begriff des Ästhetischen und somit auch der Illusion auszugehen, der notwendig ein ausgrenzendes Moment enthält. Die Grenzen eines beschreibenden Verfahrens zeigen sich also darin, daß im Rahmen einer überhistorischen, vom konkreten Einzelfall abstrahierenden Theorie der Illusionsbildung, und dasselbe gilt dann auch für die Theorie der Illusionsstörung, dem empirischen Phänomen gelingender oder gestörter Illusion bei der Lektüre nur bedingt gerecht zu werden ist. Die methodische Problematik jeder Wirkungstheorie kennzeichnet damit auch unsere Untersuchung: Eine Theoriebildung wirkungsästhetischer Erscheinungen ist nur möglich - das muß von vornherein gesagt werden - auf der Grundlage einer Setzung bestimmter, wenigstens in der vierhundertjährigen Geschichte des Romans seit Cervantes weitgehend konstant anzunehmender 'Response' der Rezipienten gegenüber fundamentalen illusionsrelevanten Textstrategien. Eine solche Prämisse ist trotz des Nachteils historischer Vereinfachung in mehrerer Hinsicht nötig und vorteilhaft: Erstens gestattet sie, über historische Einzelphänomene hinaus überhaupt zu einer Theorie zu gelangen, zweitens erlaubt sie Rückgriffe auf ebenfalls weitgehend ahistorisch formu14
lierte Teiltheorien aus dem Gebiet der Soziologie, der Epistemologie, der Psychologie und der Phänomenologie der Wahrnehmung, wodurch die Untersuchung zusätzlich absicherbar wird (ein wichtiger Teil der folgenden Illusionstheorie kann damit auf der einschlägigen Forschung von Erving Goffman, Jean-Paul Sartre und den erwähnten, auf Edmund Husserls Phänomenologie aufbauenden Arbeiten Ingardens fußen). Und drittens können erst, wenn man sich auf die Prämisse wenigstens in Kernbereichen konstanter Faktoren der Illusion einläßt, auch die ebenfalls ahistorischen Überlegungen Isers, Lobsiens und Smudas für die vorliegende Untersuchung fruchtbar gemacht werden. Auf dieser Grundlage einer Illusionstheorie ist dann die zentrale Theorie der Illusionsstörung zu erstellen. Sie wird, wie schon die Illusionstheorie, aufgrund der Unverfügbarkeit tatsächlicher Leserresponse - das ist mittlerweile deutlich geworden - den Charakter einer "Wirkungstheorie" im Sinne Isers haben, das heißt es wird sich um eine Theorie handeln müssen von "im Text verankertfen]" Wirkungen im Gegensatz zu einer "in den historischen Urteilen der Leser" beruhenden "Rezeptionstheorie" [Iser 1976:8]. Hier freilich befindet sich der Literaturwissenschaftler auf relativ gesichertem Gebiet: Dominanter Ausgangspunkt der Untersuchung ist damit nicht die empirische, tatsächliche Illusion bzw. ihr Abbau in der Vorstellung der jeweiligen historischen Leser, sondern der zentrale Auslöser von Illusion und ihrer Störung, der Text. Gleichwohl ist festzuhalten: Trotz aller Absicherungsmöglichkeiten bedeutet der Umstand, daß sich eine literaturwissenschaftliche Theorie der Illusion(sstörung) dominant auf ihre werkseitigen Bedingungen zu beschränken hat, letztlich folgendes: Die Theorie kann, wie auch Iser für seine gesamte Rezeptionsästhetik einräumen muß, als "Konstruktion" einer "experimentellen Geltungsprüfung" nicht offenstehen [Iser 1976:9]. Für den Gang der vorliegenden Untersuchung ergibt sich im einzelnen aus dem Gesagten folgendes: Ihr erster, theoretischer Teil orientiert sich, gegliedert in drei große Kapitel, an drei Leitfragen: 1. Was ist ästhetische Illusion? 2. Wie entsteht ästhetische Illusion? 3. Wie entsteht Illusionsdurchbrechung? Dies bedeutet näherhin: Im Kapitel 1 und 2 des Theorieteils ist eine Theorie narrativer Illusionsbildung zu skizzieren. Ausgehend von einer Bestimmung ästhetischer Illusion und einer kurzen Darstellung der Entstehung dieses Konzeptes im Gegensatz zu einem nichtästhetischen Illusionsbegriff (Kap. 1.1. und 1.2.), soll hierbei zunächst auf deren Hintergrund, die lebensweltliche Wahrnehmung und Vorstellung(sbildung), eingegangen werden (Kap. 1.3. und 1.4.). Im Anschluß sind dann vor allem die werkseitigen Be-
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dingungen der Entstehung von Illusion, die weitgehend eine Analogie zur lebensweltlichen Erfahrung herzustellen versuchen, zu erörtern (Kap. 2). Die hieraus gewonnenen 'Prinzipien der Illusionsbildung' dienen als Grundlage einer anschließenden Theorie narrativer Illusionsstörung (Kap. 3). Die einzelnen dort vorzustellenden Techniken sind jeweils als Nichterfüllung auf ein oder mehrere illusionsbildende Prinzipien zurückzuführen. Damit die überaus zahlreichen illusionsstörenden Verfahren überhaupt in einer sinnvolleren Weise erfaßt werden können, als dies nach dem Verfahren der Addition häufig, zumal in der Metafiktionsforschung, bisher geschehen ist, sollen sie nach 'Hauptformen' gruppiert werden, die schon an der Textoberfläche bei der Erstlektüre auffallen und einzeln oder zusammen immer wieder beobachtbare Charakteristika illusionsabbauender Narrativik darstellen. Abgesehen von der Metafiktion werden dabei drei weitere Hauptformen bzw. Charakteristika zu erläutern sein: die Entwertung der erzählten Geschichte, die Auffälligkeit einer verfremdeten Vermittlung und die Komik. Im historischen Teil (Kap. 4) werden dann die theoretischen Ergebnisse und Kategorien auf einige Fallstudien hauptsächlich der englischen (britischirischen) Literatur und ihre wirkungsästhetische Entwicklung vom 17./ 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart zu applizieren sein. Dabei wird insbesondere nach den wechselnden historischen Funktionen illusionsabbauenden Erzählens zu fragen sein. Ästhetische Illusion und ihre Störung sind nun bekanntlich keineswegs auf die Erzählkunst, ja nicht einmal auf die Literatur beschränkt. In der bildenden Kunst hat die Illusion nach der These Gombrichs ihren Ausgang im Abendland genommen, im Film ist ihr in diesem Jahrhundert gar ein ganz neues Gebiet zugewachsen, und innerhalb der Literatur drängt sich sofort beim Stichwort Illusion das Drama auf. In ihm vor allem wird Illusion und ihre Störung seit alters her praktiziert und ab Shakespeares Drama (z. B. A Midsummer Night's Dream [1595/96] und Pierre Corneilles L'Illusion comique (1636) immer wieder auch zum metadramatischen Thema. Seither hat die dramatische Illusion und ihre Störung Autoren und Kritiker vielleicht mehr noch als ihr Gegenstück in der Erzählkunst beschäftigt.2 Wenn die folgende Untersuchung sich dennoch ausschließlich auf die Narrativik und daselbst auf die Prosaerzählkunst (also vor allem auf den Roman und auch die Kurzgeschichte) bezieht, so hat das Gründe, die über das notwendige Eingrenzen des Textmaterials hinausgehen. Trotz gegenteiliger Ansichten vor allem aus dem 18. Jahrhundert, wie sie zum Beispiel bei 18
Im 18.Jahrhundert war z.B. der Großteil aller Reflexion zur literarischen Illusion in Deutschland, Frankreich und England auf das Drama bezogen.
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Lessing und Henry Home, Lord Kames zu lesen sind, 2 ' galt - wohl aufgrund gewandelter Aufführungskonventionen, d. h. der weitgehenden Abkehr von der illusionistischen Guckkastenbühne in unserer Zeit - bis vor kurzem und gilt zum Teil immer noch der Roman, und nicht das Drama, bei einigen Literaturwissenschaftlern nicht nur als ausnehmend illusionistische Gattung (so etwa bei Käte Hamburger), sondern auch als besonders 'realistische' Literaturform. Ian Watt sah bekanntlich in einem intensiv illusionsbildenden "formal realism" "the lowest common denominator of the novel genre as a whole" [Watt 1957:37]. David Lodge gar betrachtet den Roman als die illusionistischste Gattung überhaupt, da sie die ästhetische Distanz am meisten reduziere.30 Wie dem auch sei, angesichts der weithin etablierten Äquivalenzkette 'Roman - Realismus - Illusion'3' erscheint es besonders interessant, einmal die Gegenrechnung aufzumachen und diese Äquivalenz mit Blick auf den Roman und allgemein die Prosaerzählkunst auf ihre Gültigkeit zu überprüfen. Ohne der dramatischen Illusion, wie dies mitunter geschieht, einen der Narrativik vergleichbaren Intensitätsgrad absprechen zu wollen, ist ferner festzuhalten, daß sich dramatische Illusion qualitativ von narrativer grundlegend unterscheidet. Die Erzählkunst und vor allem der Roman vermögen einerseits dank ihrer Flexibilität weit mehr Bereiche in einer für die Illusion unproblematischen Weise zu erfassen (Szenen- und Perspektivenwechsel sowie die Darstellung der verschiedensten Gedanken, Reden, Figuren, Räume und Zeiten sind hier keine Probleme, da die Beschränkungen der Bühnensituation wegfallen), andererseits entbehrt narrative Illusion der sinnlichen Präsenz ihrer Auslöser, wie sie das aufgeführte Drama durch Kulissen, Requisiten, Figuren, Licht- und Geräuscheffekte besitzt. Dramatische Illusion steht damit durch den partiell ikonischen Charakter ihrer multimedialen Zeichensysteme lebensweltlicher Wahrnehmung näher und ist damit als Hybrid aus sprachlichen und nichtsprachlichen Zeichen, phänomenologisch gesehen, deutlich von der narrativen Illusion abgesetzt. Diese entsteht ja nur
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Vgl. Lessings Bemerkung aus der Hamburgischen Dramaturgie (1767-69), 35. Stück, "die Illusion des Drama [ist] weit stärker [...], als einer bloßen Erzählung" [in: Lessing, Wer&e:IV,395], und Homes Feststellung aus seinen Elements of Criticism, " O f all the means for making an impression of ideal presence [d.h. Illusion], theatrical representation is the most powerful" [Home 1762:1,116].
30
"Among the various literary forms, this distance is, notoriously, most forshortened in the novel. N o other literary form immerses us so completely in the life it presents; no other form takes such pains to disguise the fact that it is an artefact." [Lodge i977a:2o]
31
Zur Beziehung Realismus - Illusion siehe Lodge 1977b 124 f.: "There is always a suggestion of [...] illusion [...] in the word 'realistic' [...] realism is the art of creating an illusion of reality [...]"
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durch die Synthese aus den Anweisungen eines abstrakten, nichtikonischen Zeichensystems Text, eines puren "fait de langage" [Genette 1972:185], und dem Bewußtsein des Lesers, der virtuelle Sachverhalte, wie Ingarden lehrt, erst zu einer Vorstellungswelt 'konkretisieren' muß. Trotzdem hat auch die narrative Illusion Wahrnehmungs- bzw. Erlebnischarakter. Sie stellt also als rein textgelenkte und doch erlebnishafte Vorstellung eine abstraktere Form der Illusion dar, und darin liegt ein weiterer, besonderer Reiz einer Beschäftigung mit ihr. Und ein dritter, damit zusammenhängender Grund spricht für die Ausgrenzung des Dramas: Die Mittel der Bildung wie der Durchbrechung von Illusion sind in der Erzählkunst aufgrund ihrer rein textuellen Natur zum Teil ganz andere als im Drama, wo Schauspielstil, Kostüme, Bühnendekor und -effekte usw. sowie nicht zuletzt die gruppendynamische Wechselbeziehung zwischen Bühnengeschehen und einer Publikumsgemeinschaft im Gegensatz etwa zum isolierten Romanleser zu berücksichtigen wären. Allein deshalb schon ist eine Wirkungstheorie der Narrativik von derjenigen des Dramas zu trennen. Das heißt jedoch keineswegs, daß die an Erzähltexten gewonnenen Ergebnisse der folgenden Untersuchung nicht auch weitgehend auf das Hybrid Drama angewendet werden können, zumindest dort, wo es z. B. als Lesedrama oder in seinem sprachlichen Zeichensystem - der Narrativik verwandt ist.
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Teil I: Theorie
i. Was ist ästhetische Illusion? Geschichte und Inhalt des Illusionsbegriffs I.I. Zur Begriffsgeschichte: gegenwärtiger Begriffsgebrauch im nichtästhetischen Bereich und die Herausbildung des ästhetischen Illusionsbegriffs I.I.I. Illusion im außerästhetischen Bereich als aufzuklärende Täuschung Narrative Illusion ist, wie einleitend bemerkt, vor allem in der Gegenwart heftiger Kritik ausgesetzt worden. Ob nun eine illusionistische Lektüre aus rezeptionsästhetischer Perspektive als eine der Kunst unangemessene Selbstverblendung des Lesers oder aus produktionsästhetischer Sicht als Folge eines perfiden "trompe-lecteur" des Autors kritisiert wird, immer erscheint Illusion bei ihren Gegnern als eine Täuschung, die möglichst aufzuklären und abzulegen ist. Ganz offensichtlich spielen bei dieser Abwertung der ästhetischen Illusion entsprechende Konnotationen des gegenwärtigen Begriffsgebrauchs im nichtästhetischen Bereich eine Rolle - zu Unrecht, wie sich zeigen wird, denn ästhetische Illusion, die ihre Qualifikation als ästhetische zu Recht trägt, ist deutlich von nichtästhetischer zu scheiden. Zu diesem Zweck seien im folgenden die Konnotationen des außerästhetischen Illusionsbegriffs einleitend zu einer kurzen Begriffs- und Bedeutungsgeschichte der Illusion, an deren Ende die Herausbildung des ästhetischen Illusionsbegriffs steht, ins Gedächtnis gerufen. Umgangssprachlich bedeutet 'Illusion' "(Selbst-)Täuschung, Einbildung; falsche Vorstellung; Hoffnung" [Der Große Brockhaus i984:X,i5i]. Dieses Bedeutungsspektrum steht in enger Verbindung mit zwei Fachtermini: dem philosophischen und dem psychologischen Illusionsbegriff. Im Bereich der Philosophie bezeichnet 'Illusion' eine Vorstellung, die mit einer wie immer definierten 'Realität' nicht übereinstimmt. Der Terminus Illusion wird hier seit dem 18. Jahrhundert verwendet als Kampfbegriff "von Philosophen, die mit wissenschaftlichen und zumal psychologischen Mitteln metaphysische und religiöse Vorstellungen destruieren wollen" [Strube 1976: Spalte 211]. In der Tradition von Nietzsches Reduktion der Begriffe 'Wahrheit' und 'Realität' auf illusionäre Vorstellungen findet sich in jüngster Zeit 21
ein solcher kritischer Illusionsbegriff ausgeweitet auf alles, was die physischen Lebensgrundlagen des Menschen zumal im "Kapitalismus" als Form einer "illusionäre[n] Gesellschaft" übersteigt, in Joachim Kochs und Windi Winderlichs Abschied von der Realität. Das illusionistische Zeitalter [Koch/ Winderlich 1988:54; vgl. auch Tepe 1988 und Tepe 1989]. In der Psychologie versteht man unter 'Illusion' eine "Fehldeutung objektiv gegebener Sinneseindrücke, die subjektiv umgestaltet und in der Phantasie erweitert werden, im Unterschied zur Halluzination" [Brockhaus Enzyklopädie i966-i976:IX,io], Halluzinationen bzw. 'Delusionen' sind diskontinuierlich: Sind sie einmal zerstört, können sie nicht wieder gebildet werden. Psychologische und auch perzeptorische Illusionen dagegen besitzen eine relative Konstanz: Der Schein des Knicks eines ins Wasser getauchten Stockes wird sich immer wieder einstellen, selbst wenn der Betrachter um dessen gerade Form weiß. 1 Bei der philosophischen wie bei der psychologischen Illusion ist somit das auch umgangssprachlich dominante Element der (Selbst-)Täuschung, sei sie perzeptiver oder intellektueller Art, das herausragende semantische Merkmal. Der außerästhetische Illusionsbegriff ist dadurch auffällig negativ konnotiert. Hinzu kommt das Implikat der notwendigen kritischen oder therapeutischen Bloßlegung der Täuschung, und zwar mit Bezug auf das täuschende Objekt (z.B. die 'falsche' Philosophie) und den Autor der Täuschung, hauptsächlich aber auf das Opfer der Täuschung und die Motive, die es ihr erliegen lassen. All diese Implikate finden sich charakteristischerweise auch in Robbe-Grillets erwähnter Kritik des bürgerlichrealistischen Illusionsromans und seiner Konsumenten in Pour un nouveau roman auf ästhetischem Gebiet wieder [s. Robbe-Grillet 1963:30 f.]. Und: Bei ihm trifft man auch den Therapieanspruch des außerästhetischen Illusionskritikers wieder an. Für den ästhetischen Bereich steht hier allerdings weniger eine psychologische Heilung zur Debatte als eine philosophische Aufklärung. Der Kritiker ästhetischer Illusion Robbe-Grillet rückt hier deutlich in den Kontext jener historischen Aufklärung ein, die auch die Entstehungszeit des kritisch-philosophischen Illusionsbegriffs war. Basis dieses kritischen Terminus der Philosophie und auch der Psychologie ist meist eine normative Realitätsauffassung,2 in der Philosophie mitunter auch eine agnostische Sicht, in der feste Vorstellungen von der Wirklichkeit 1
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Vgl. zu dieser Differenz von Halluzination und Illusion Walsh 1983:53, die allerdings Illusion als Oberbegriff verwendet und eine Opposition von "delusive illusions" (d.h. "hallucinations") und "nondelusive illusionfs]" aufstellt. Das gilt vor allem für die Konnotation des Illusionsbegriffs in der marxistischen Ideologiekritik.
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aufgrund von deren prinzipiellen Unerkennbarkeit als Illusion denunziert oder allenfalls aus pragmatischen Gründen toleriert werden.3 Auch hier lassen sich Parallelen zur gegenwärtigen Kritik ästhetischer Illusion ziehen: Ein normativer Realitätsbegriff liegt zumindest latent der Illusionsschelte des frühen Robbe-Grillet zugrunde, die mit ihrer deutlich antibürgerlichen, materialistischen und naturwissenschaftsgläubigen4 Färbung Affinitäten zum Marxismus aufweist. Ein skeptischer Agnostizismus bezüglich der Erkennbarkeit von Realität schlechthin, geschweige denn ihrer illusionistischen Reduplikation in der Kunst bildet dagegen die Ausgangsbasis von Illusionskritikern wie Ricardou, die dem Dekonstruktivismus nahestehen. Die weitgehende Abwertung der Illusion im modernen außerästhetischen Bereich, aber zum Teil hiervon beeinflußt auch im innerästhetischen, steht im Einklang mit einem Hauptstrang der Etymologie und Begriffsgeschichte von Illusion. Ihr soll im folgenden nachgegangen werden. 1.1.2. Die Entwicklung des ästhetischen Illusionsbegriffs Auffällig an der Begriffsgeschichte der Illusion5 ist ein Zweifaches: Sie hat ihren Ursprung in einem nichtästhetischen Raum und verläuft, von ihm ausgehend, semantisch zweigeteilt. Einer Tradition negativ bewerteter Illusion steht eine andere, neutrale oder gar positiv valorisierte Entwicklungslinie gegenüber, aus der sich dann der ästhetische Illusionsbegriff herausschält, obwohl auch er im Verlauf seiner Geschichte immer wieder und, wie wir gesehen haben, in der Gegenwart besonders der Kritik ausgesetzt war. Die erste, negative Tradition reicht bis in die Ursprünge des - anfänglich allerdings ambivalent konnotierten - Terminus hinab. Das klassisch lateini3
Schon Kant geht, wie Odo Marquard dargelegt hat, "von 'notwendigen' Illusionen sogar der Vernunft selber - von 'transzendentalem Schein'" aus [Marquard 1983:46]. Dieser Tolerierung der Illusion als eines notwendigen Konstruktes der praktischen Vernunft ist etwa Nietzsches agnostisch-lebensphilosophische Duldung der Illusion gegenüberzustellen. Er kritisiert sie zwar als falsch, vermag sie aber durch keine richtigen Vorstellungen mehr zu korrigieren, so daß für ihn "die Zerstörung einer Illusion noch keine Wahrheit ergiebt, sondern nur ein Stück Unwissenheit mehr" ["Aus dem Nachlaß: Studien aus der Umwerthungszeit 1882-1888", in: Nietzsche, Gesammelte Werke:XVl,ij6\. Eine solche Zerstörung schwäche vielmehr die Lebenskraft: "Der Satz ist festzustellen: wir leben nur durch Illusionen [...]" ["Vorarbeiten zu einer Schrift über den Philosophen" 1872/73, 1875, in: Nietzsche, Gesammelte Werke:Vl,i%] So ergibt sich für Nietzsche die ambivalente Konsequenz: "Man muß [...] die Illusionen wollen[,] darin liegt das Tragische." [VI,12]
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Siehe hierzu Robbe-Grillet 1963:63 f.: "La science est le seul moyen honnête dont l'homme dispose pour tirer parti du monde qui l'entoure, mais c'est un parti matériel [...] Seule la science [...] peut prétendre connaître l'intérieur des choses." ' Siehe hierzu vor allem Strube 1977 und Hobson 1982:18-32, auf die ich im folgenden zurückgreife.
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sehe Nomen 'illusio', 'Verspottung, Täuschung', ist eine deverbale Bildung aus 'illudere', wobei in dem charakteristischen Doppelsinn des Stammverbs 'ludere', 'spielen', die Wurzeln für die weitere, gespaltene Entwicklung des Illusionsbegriffs zu suchen sind: Einmal bedeutet 'ludere' ein harmloses Spielen im Sinne von 'umspielen, spielend hinwerfen, mit spielerischer Leichtigkeit zu Papier bringen' (hiervon nimmt die positive Entwicklungslinie ihren Ausgang), zum anderen ein übles Spielen im Sinne von 'mit jemand sein Spiel treiben, verspotten, täuschen, jemand oder etwas mißhandeln'.6 Im Latein der Patristik und im mittelalterlichen Latein hat 'illusio' noch die in der Vulgata (im Psalm 78.4) belegte klassisch lateinische Bedeutung 'Verspottung, Spott'.7 Daneben ist allerdings eine im Mittelalter sogar dominante Schattierung zu vermerken. Illusio steht nun im Zeichen einer christlich motivierten Bedeutungsverengung und gleichzeitig einsinnigen Abwertung: Illusion als Täuschung des Teufels, der sich zu ihrer Vermittlung insbesondere der Träume - also einer besonderen Art der Fiktion - bedient. Das Altfranzösische übernimmt, erstmals in einer Psalmübersetzung nachweisbar, mit 'illosiun'9 die heute obsolete klassisch lateinische Bedeutung 'Verspottung'. Seit dem 13. Jahrhundert kommt dann die Bedeutung 'Sinnestäuschung' in einem inzwischen ebenfalls ungebräuchlichen aktivischen Sinn auf - bezeichnenderweise noch 1579 mit der wie im Kirchenlatein negativen Konnotation eines Teufelswerks.10 Daneben entsteht der bis heute 6 7
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Siehe hierzu George 1909:1330. "Facti sumus oppobrium vicinis nostris: subsannatio et illusio his, qui in circuito nostro sunt." Siehe z. B. die Institutiones des Mönches Johannes Cassianus (ca. 360-430) aus dem frühen 5. Jahrhundert, einem Lehrbuch für mönchisches Verhalten. Der Verfasser empfiehlt im "liber secundus" mit dem Titel "De canonico nocturnarum orationum et psalmorum modo" den Schlaf möglichst oft durch fromme Übungen zu unterbrechen. Zweck dieser Kasteiung sei es, sich von verführerischen sexuellen Traumbildern des auf die mönchische Reinheit stets neidischen teuflischen 'Feindes' nicht beschmutzen zu lassen: "[...] ne forte purificationem nostram nocturnis psalmis et orationibus adquistatam invidus inimicus livens puritati nostrae [...] quadam somni illusione contaminet." Wenn diese Illusionen, da der passiv illudierte Mönch für sie nicht verantwortlich gemacht werden könne, auch nicht als Schuld zu fürchten seien ("tametsi nulla talis veranda diaboli emergat inlusio"), so hätten sie immerhin den praktischen Nachteil, die Arbeitskraft für den folgenden Tag zu beeinträchtigen [Cassien, Institutions Cenobitiques: 82]. - Zur christlichen Abwertung von illusio siehe auch Hobson 1982:18-21. Hobson bringt sie mit der Theaterfeindlichkeit bei Augustinus in Zusammenhang (S.2of.).
' Erster Beleg 1120 im Oxforder Psalter-, siehe hierzu und im folgenden zur französischen Etymologie die Einträge unter "illusion" in: Dauzat/Dubois/Mitterand 1971:382; Robert i96o:VI,i4f. und Littre 1964:^,739 f. 10 So in der Ubersetzung des 1563 lateinisch erschienenen Buches von Johannes Wier, Histoires, disputes et discours des illusions et impostures des diables; siehe hierzu Hobson 1982:19 f.
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gültige passivische Sinn 'Trugwahrnehmung'. Mit dieser Bedeutung und der seit 1611 im Französischen nachgewiesenen Erweiterung 'falsche Idee' kommt der Begriff im 17. Jahrhundert ins Deutsche. Im Englischen," welches das Wort aus dem Französischen schon im 12. Jahrhundert übernimmt, vollzieht es eine dem Französischen genau parallele Entwicklung. Als erste Bedeutung taucht auch hier (ebenfalls bei der Übertragung des 78. Psalms aus dem Lateinischen) 'illusion' als 'Verspottung' - auf, sodann der aktivische (und mittlerweile wie der vorige obsolete) Sinn von 'Täuschung', wiederum mit der christlichen Aura eines Teufelswerks - so noch bei Chaucer und Shakespeare" - und schließlich der neben der Bedeutung 'falsche Idee' bis heute gebräuchliche, passivische Sinn von 'Sinnestäuschung'. Neben dieser bis in den heutigen Usus lebendigen - mittlerweile allerdings säkularisierten - Tradition einer Abwertung der Illusion verläuft die alternative und für den ästhetischen Illusionsbegriff besonders wichtige Tradition neutraler oder positiver Bewertung. In ihr scheint nun das auf, was im Stammverb 'ludere' immer schon angelegt war: Illusion nicht nur als übles, sondern auch als harmloses und amüsantes Spiel; Illusion nicht als böswillige oder gefährliche und daher kritikbedürftige Verschleierung einer Wahrheit, sondern als spielerisches Abweichen von ihr. In dieser Perspektive kann Illusion positiv beurteilt werden, da sie entweder einem guten Zweck dient oder - und das ist für einen richtig verstandenen Begriff ästhetischer Illusion besonders festzuhalten - weil der Schleier über der Wahrheit durchsichtig ist, dem Illudierten nicht notwendig übel mitgespielt wird, sondern er selbst, in Kenntnis der Verschleierung, dieses Spiel mit Vergnügen mitmacht. Diese andere Bewertungslinie reicht ebenfalls bis in die lateinische Antike zurück. 'Illusio' ist in der römischen Rhetorik eine Figur indirekten Sprechens und wird oft der Ironie zugeordnet. Wie schon in Ciceros De Oratore (55 v. Chr. entstanden)'3 tritt 'illusio' in diesem Sinn mehrmals in Quintilians Institutio Oratoria (ca. 95 v. Chr.) auf, so z. B. in VIII.6.54: "In eo vero genere, quo contraria ostenduntur, ironia est; illusionem vocant.'"4 Als Unterform des 11
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Siehe zu den folgenden Angaben zur englischen Etymologie The Oxford English Dictionary (i989):VII,66i. Siehe Chaucer, Troilus and Criseyde, (1385 vollendet) Teil V, Vers 365-368, S.463: "For prestes of the temple teilen this, /That dremes [...] ben infernáis illusiouns [...]"; Shakespeare, Henry VIII (1613), 1.2, V. 178 f., wo der Surveyor to the Duke of Buckingham anläßlich einer mönchischen Prophezeiung King Henry warnt: " [ . . . ] by th' devil's illusions/ The monk might be deceived f . . . ] " [S. 35]
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Der Thesaurus linguae latinae (Bd. 7.1, S. 393) gibt denn auch zu einem Cicero-Beleg von 'illusio' (aus De Oratore III/202) das Synonym "ironia" an.
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Quintiiianus, Institutio
Oratoria,
Bd. 3, S. 332.
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von Quintilian 'allegoria' genannten rhetorisch uneigentlichen Sprechens wird hier 'illusio' mit 'ironia' gleichgesetzt und dabei keineswegs abgewertet, vielmehr erscheint sie als durchaus legitimer rhetorischer Kunstgriff. Der Umgang mit der Wahrheit ist bereits hier in der Rhetorik von charakteristischer Ambivalenz: Mit der 'in-lusio* 'spielt' der Redner einerseits seine eigene Position in die des Gegners 'hinein' und nimmt eine ironische Scheinsolidarisierung vor, diese ist aber andererseits dem Zuhörer als Schein durchsichtig und gestattet ihm dadurch das 'Mitspielen'. Illusio wird also zu einem transparenten Spiel, das in der niemand täuschenden Divergenz von 'dicere' und 'significare', von Verbergen und gleichzeitigem Offenlegen des Gemeinten besteht. Hierin entspricht 'illusio' genau der Quintilianischen Definition einer anderen Form uneigentlicher Rede, der 'dissimulatio': " [ . . . ] illa, quae maxime quasi irrepit in hominum mentes, alia dicentis ac significantis dissimulatio [est], quae est periucunda [.. .]"15 Damit der Rezipient über die Wahrheit nicht im unklaren bleibt, gibt Quintilian selbst einen Katalog von Techniken an, die als Signale der Uneigentlichkeit (mit Ironiesignalen gleichzusetzen) das richtige Verständnis garantieren sollen: "Quae aut pronuntiatione intellegitur aut persona aut rei natura [.. .]'" 6 Die rhetorische illusio ist damit keine Delusion, die im Moment ihrer Aufklärung unwiederbringlich kollabiert, sondern eine Suggestion, die durch Einverständnis aufrechterhalten werden kann, selbst wenn die 'Wahrheit' bekannt ist. Besonders hervorzuheben ist das Ziel rhetorischer Illusion: Es ist dasselbe wie bei der dissimulatio, nämlich die Rede vergnüglich zu gestalten und sich der Sympathie der Hörer zu bemächtigen ("irrep[ere] in hominum mentis"). 17 Illusio steht damit in besonderer Weise im Dienst rhetorischer persuasio. Zustatten kommt ihr dabei, daß sie, so darf man annehmen, wie die dissimulatio "periucunda" ist. Beide Aspekte des rhetorisch neutral bzw. positiv verwendeten Illusionsbegriffs, die Gebundenheit an eine autorseitige persuasio-Strategie und der für den Rezipienten angenehme Charakter, werden sich an zentraler Stelle des ästhetischen Illusionsbegriffs wiederfinden. Und selbst noch in der gegenwärtigen Kritik ästhetischer Illusion, wie sie bei RobbeGrillet anzutreffen ist, spielen sowohl der lustvolle als auch der persuasioCharakter der Illusion - nun als Negativa - eine ausschlaggebende Rolle, denn gerade dadurch kann Illusion auch als etwas Gefährliches erscheinen. ' s Ebd., IX.1.29, Bd. 3, S. 364. Ebd., VIII.6.54, Bd. 3, S. 332. 17 Genau genommen wird das Wohlwollen verstärkt. Wie Lausberg zu Recht bemerkt, ist Voraussetzung für das Funktionieren ironischer illusio bereits das Vertrauen des Redners in die "Überzeugungskraft seiner eigenen Partei sowie [in die] [...] Sympathie des Publikums" [Lausberg 1960:302].
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Mit dem Prinzip des delectare ist schon in der frühen antiken Rhetorik ein Ansatz zur Asthetisierung rhetorischer Figuren und damit auch der illusio gegeben. Diese Tendenz ist akzentuiert in der Rhetorik Quintilians, die in einen Kontext des Niedergangs forensischer Redekunst in nachrepublikanischer und nachciceronischer Zeit eingeschrieben ist. Mit der nun einsetzenden Betonung der 'pulchritudo' nimmt die Rhetorik verstärkt einen "poetische[n] Charakter" an.1 Für die spätere Entwicklung des Illusionsbegriffs werden diese Ansätze zu einer Asthetisierung, die sich hier aus der Geschichte seines frühen rhetorischen Kontextes ergeben, allerdings lange Zeit aufgrund der Theologisierung und parallelen Abwertung des Wortes im Mittelalter unfruchtbar bleiben. Eine Abkehr von der hier einsetzenden dominant negativen Konnotierung ist, wie Marian Hobson gezeigt hat,1' erst in der Renaissance zu verzeichnen. Illusion wird nun subjektiviert, das Interesse richtet sich weg vom Teufel als Ursprung von Täuschung und hin zum Getäuschten und den Bedingungen, unter denen er ihr erliegen kann. Wichtiger noch ist die ebenfalls in der Renaissance einsetzende Verwissenschaftlichung des Begriffs: Illusion nicht mehr als "illusio diaboli", sondern als durch natürliche, vor allem optische und mechanische Effekte hervorgerufene Sinnestäuschung, der eine naturwissenschaftliche Neugierde gilt. Besonders dieses "replacement of the magical by the mechanical" [Hobson 1982:23], das wachsende Wissen um die künstliche Produzierbarkeit von Illusionen, aber auch um ihre subjektive Wirkung im 'Rezipienten' ermöglichen im 17. Jahrhundert den Ubergang des Begriffs in den Bereich des Ästhetischen. Ort dieses Übergangs sind jene Institutionen, in denen künstlerische Aufführungen bevorzugt mit optischen und mechanischen Effekten gekoppelt werden: Oper und Theater. In der Diskussion um die dramatische Illusion wird erstmals das voll eingelöst, was sich in der ästhetisierten Rhetorik der Kaiserzeit erst abzeichnete: 'In-lusio' als 'Hineinspielen' des Rezipienten in eine mit ästhetischen Mitteln erzeugte, genossene und transparente 'Täuschung', die damit eigentlich keine mehr ist. Ein Markstein dieser Entwicklung ist - bereits im literarischen Bereich Corneilles Metadrama L'Illusion comique von 1636. Daß sich in ihm Pridamant bei der Suche nach seinem Sohn Clindor an einen Zauberer wendet allerdings nicht mehr an einen Teufelsbeschwörer, sondern an einen weißen Magier, der ihm das Schicksal seines Sohnes in einer theaterähnlichen Grotte zauberisch vorführt - verweist noch auf den alten magisch-theologischen 18 Siehe hierzu Neumeister 1964:146-148, hier: S. 146. ' ' Siehe hierzu Hobson 1 9 8 2 : 2 1 - 2 3 .
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Illusionsbegriff. Handlung und Thematik der Komödie aber kreisen bereits wesentlich um eine andere, positiv beurteilte Magie: die ästhetische Illusion.20 Die illusionistische Vergegenwärtigung des Lebens Clindors in der Höhle des Zauberers ("Sous une illusion vous pourriez voir sa vie", so verspricht dieser Pridamant [I/2, S. 557]) ist eine erste mise en abyme der Theatersituation mit einer Bühne und Bühnenhandlung, einem Autor (dem Magier) und einem Publikum (Pridamant). Gegen Ende dieses Spiels im Spiel wird ihr eine zweite hinzugefügt: Der Magier zeigt Clindor nun als Schauspieler einer tragischen Theaterrolle, in deren Verlauf er getötet wird. Die Verwechslung dieser innerdramatischen Fiktion zweiten Grades mit der 'Realität' von Clindors durch Zauberei 're-präsentiertem' Leben und die endliche Aufklärung des entsetzten Vaters über die Irrealität der miterlebten Theaterillusion markieren das eigentliche Anliegen des Stückes: Es ist - neben dem Bemühen um eine allgemeine Nobilitierung des Theaters - eine spielerische ästhetische Erziehung zur richtigen Rezeption von "illusion comique" (im alten Sinn von 'illusion de théâtre').21 Gleichzeitig ist Corneilles Komödie eine der frühesten und eindruckvollsten Illustrationen der Besonderheit von ästhetischer Illusion - an Hand des Begriffes der Illusion selbst.22 Ästhetische Illusion zeichnet sich nicht nur durch ihren künstlerischen Gegenstand aus, sondern zuvorderst durch ihre besondere Qualität: Bereits bei Corneille erscheint sie als ambivalentes Phänomen. In ihm verbinden sich Täuschung und Transparenz, Illusion und eingeforderte Distanz23 zu einer (letztlich) vergnüglichen Mischung, die nicht 20
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Die Metapher einer positiv valorisierten 'Magie' für ästhetische Illusion wird in der Folge zu einem Topos, der sich beispielsweise in Edward Youngs Conjectures on Original Composition (1759) wiederfindet: "[...] on the strong wing of his [d. h. the original writer's] imagination, we are snatched from Britain to Italy, from climate to climate, from pleasure to pleasure [...] till the magician drops his pen [...]" [S. 8] Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Pape 1990:240. Selbstverständlich läßt sich vor allem die metadramatische Reflexion über den Gegenstand der ästhetischen Illusion, allerdings ohne ihn so zu nennen, weiter zurückverfolgen. Zu denken wäre hier z. B. an die vor allem bei Shakespeare wiederholt thematisierte Diskrepanz zwischen Bühnenrealität und Illusion. Aufgrund der nur wenig illusionsfördernden Konventionen und Aufführungsbedingungen des elisabethanischen Theaters liegt der Akzent von Shakespeares diesbezüglichen Reflexionen allerdings nur ausnahmsweise auf einer Bloßstellung der Verwechslung von Realität und Fiktion, wie sie bei Corneille zu finden ist (beispielsweise im Spiel der Handwerker in A Midsummer Night's Dream). Hauptsächlich geht es bei Shakespeare in den metadramatischen Passagen z. B. von Henry V und auch zum Teil in den Kommentaren zum Handwerkerspiel in A Midsummer Night's Dream um einen Appell an die Imagination der Zuschauer, also um den Versuch, die Kluft zwischen Bühne und Dargestelltem in Richtung einer illusionistischen Rezeption zu überbrücken, ästhetische Illusion also erst einmal zu etablieren. Vgl. Stackelberg 1968:71: "Das Theater nicht mit der Lebenswirklichkeit zu verwechseln, sich zwar von dem Bühnengeschehen vorübergehend einfangen zu lassen, dann aber das 28
(nur) der Findung einer Wahrheit dient, sondern neben dem Horazischen dùcere ("utilité") vor allem auf das piacere zielt und so aufgrund ihrer Attraktivität ("appas") zu einem wichtigen "divertissement" der höfischen Gesellschaft werden kann [V/j, S. 6i6f.]. Eine ähnlich deutliche Rechtfertigung als genußvolle, transparente 'Täuschung' erfährt die Illusion auf theoretischem Gebiet in der Pratique du théâtre (1657) des Abbé d'Aubignac. Sie avanciert bei ihm explizit zu etwas Angenehmem ("ces agréables illusions" [S. 319]), und zwar erneut unter Bezug auf die wie bei Corneille als 'Magie* metaphorisierte Theaterillusion und ihre technische Erzeugung: Il est certain que les ornemens de la Scéne font les plus sensibles charmes de cette ingenieuse Magie, qui [...] nous met en vuë [...] une infinité de merveilles que nous croions avoir présentes, dans le temps même que nous sommes bien assûrez qu'on nous trompe [...] [d'Aubignac 1657:319]
Im 18. Jahrhundert dann wird der Illusionsbegriff und die auf ihn bezogene Reflexion über das Theater und die Literatur hinaus ausgeweitet, so schon beim Abbé Dubos in seinen Réflexions critiques sur la -poésie et sur la peinture (1719). Mit dieser Bindung an einen Gegenstand der Kunst ist nun am Beginn des 18. Jahrhunderts eine endgültige Ästhetisierung des Illusionsbegriffs erreicht, wie sie einem der heutigen Verwendungen dieses Terminus entspricht. Von Frankreich ausgehend, überträgt sich noch im 18. Jahrhundert diese Ästhetisierung auch auf den englischen und deutschen Sprachgebrauch. Schon bald nach der Einführung des Begriffs in die Ästhetik in Frankreich setzt allerdings, wiederum dort zuerst, in Theorie und Praxis eine Kontroverse über den Wert der Illusion und den möglichen oder wünschenswerten Grad ihrer Vollständigkeit ein. Da ist auf der einen Seite das Eintreten für eine möglichst vollständige Illusion, die im übrigen unwillkürlich sei und eben nicht, wie Coleridge in seiner Biographia Literaria formulieren wird, von einer "willing suspension of disbelief for the moment" abhänge [Coleridge 1817:169]. Diese - z.B. von Diderot theoretisch vertretene - Auffassung der Illusion steht meist im Dienst empfindsam-pathetischer persuasio und verlangt vom Autor die weitgehende Ausschaltung illusionsstörender Elemente. Mit ihr kontrastiert eine distanzierte Haltung bei anderen Autoren. Jean-François Marmontel vermerkt z. B. in seinem Encyclopédie-Artikel zum Stichwort "Illusion", eine vollständige Illusion sei nicht nur unmöglich Theater mit der gefestigten Erkenntnis von den Unterschieden zwischen Kunst und Wirklichkeit zu verlassen, das ist die Empfehlung, die Corneille seinem Publikum mit auf den Weg gibt."
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und unnötig ("[...] l'illusion n'est pas compiette [...] elle ne peut pas l'être [...]), sondern regelrecht unerwünscht ("elle ne doit pas l'être"), und zwar mit Blick auf ein höheres, geistig-ästhetisches Vergnügen: 24 [...] quand par une ressemblance parfaite il seroit possible de faire une pleine illusion, l'art devroit l'éviter [...] le spectateur, croyant voir la nature, oublieroit l'art, et seroit privé par l'illusion même, de l'un des plaisirs du spectacle. [Marmontel i778:3J4] Mit dieser Opposition zweier innerästhetischer Auffassungen von Illusion im 18. Jahrhundert, einer möglichst perfekten "pleine illusion" vs. einer 'illusion non complète', die stärker ihren Scheincharakter erkennen läßt,25 treten wir bereits aus der Begriffsgeschichte im engeren Sinn hinein in die Diskussion des Konzeptes künstlerischer Illusion. Seiner geschichtlichen Entfaltung und praktischen Anwendung vor allem in der 'kleinen Tradition' illusionsstörenden Erzählens wird im historischen Teil dieser Arbeit weiter zu nachzugehen sein. Wegen der auch für eine heutige Illusionstheorie zum Teil höchst erhellenden Diskussion des 18. Jahrhunderts und auch als Indiz dafür, daß zentrale Momente der Illusionsbildung historisch relativ langlebig sind, wird indes schon in diesem Theorieteil immer wieder auf ältere Theoretiker, zumal des 18. Jahrhunderts, zurückgegriffen. Im folgenden sollen zunächst grundsätzliche Überlegungen zum Wesen ästhetischer Illusion im Zentrum des Interesses stehen. Die Debatte um die Illusion im 18. Jahrhundert wirft bereits eine Reihe von Fragen auf, die zum Kern des Konzeptes ästhetischer Illusion hinführen und auf die die nachstehenden Betrachtungen eine Antwort zu geben versuchen: Wie entsteht Illusion? Hängt sie ausschließlich vom Willen des Rezipienten oder dem Können des Künstlers ab? Welche werkseitigen und über das Werk hinausgehenden Faktoren determinieren ihre Bildung? Was ist überhaupt ästhetische Illusion, und wie unterscheidet sie sich von nichtästhetischer (abgesehen vom unterschiedlichen Objektbereich ihrer Auslöser)? Kann ästhetische Illusion vollständig sein? Gibt es vielleicht verschiedene Arten von Illusionen, die von Kunstwerken ausgelöst werden und deren Nichtberücksichtigung möglicherweise ein Grund für die Ablehnung ästhetischer Illusion sein könnte? Da ästhetische Illusion nicht auf die Literatur beschränkt ist, wird die allgemeine Erörterung des Phänomens in der Folge zunächst auch über sie hin24
Marmontel nimmt hier bereits wesentliche Elemente der erwähnten rezeptionsästhetisch motivierten Kritik der Illusion in der deutschen Debatte der Gegenwart vorweg. Dieckmann 1964:42 f. hat diese Opposition mit den Begriffen "Duplikations-" vs. "als-obIllusion" vorgestellt.
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ausgehen müssen und dabei die literarische Illusion als Teil einer übergreifenden ästhetischen Illusion erfassen. Erst danach wird die Besonderheit, das Wesen und die Bildung narrativer Illusion als Folie für ihre Störung zu behandeln sein.
1.2. Grundsätzliches zum allgemeinen Konzept ästhetischer Illusion: ästhetische Illusion als Synthese aus dem Schein des Erlebens von Wirklichkeit und aus Distanz
1.2.i. Das Konzept ästhetischer Illusion aus synchroner Sicht: ästhetische Einstellung, Illusion und Distanz Seit jeher sind illusionistische Kunstwerke und ihre Autoren wegen ihrer erstaunlichen Wirkung und Fähigkeiten gefeiert worden. Eines der ältesten und bekanntesten Zeugnisse hiervon ist die von Plinius d. Ä. überlieferte Anekdote von den Trauben des Zeuxis, die dieser so täuschend gemalt hatte, daß Vögel sich von ihnen irreleiten ließen, ein Effekt, den der Malerrivale Parrhasios übertrumpfte, indem er Zeuxis selbst durch den trompe-l'oeilEffekt eines gemalten Vorhangs täuschte.1* Wenn diese Anekdote auch in einer Hinsicht eine Verkürzung ästhetischer Illusion impliziert - hierauf wird sogleich zurückzukommen sein —, so illustriert sie doch andererseits etwas Wesentliches: Ästhetische Illusion wirkt - und das läßt sich als Vorbegriff dieses Konzeptes festhalten - immer als Schein des Erlebens von Wirklichkeit, als "illusion of lived experience" [Walsh 1983:55]. Bei Kunstwerken, die nicht nur ein Objekt vorstellen (wie dies Zeuxis und Parrhasios tun), sondern eine ganze kleine Welt entwerfen (wie dies in der Landschaftsmalerei, im Drama oder auch in der Erzählkunst möglich ist) - und auf diesen Fall konzentrieren sich daher unsere folgenden Überlegungen - , führt solches Erleben beim Rezipienten regelmäßig zum Gefühl des Hineinversetzt-Werdens in diese (Fiktions-)Welt.27 Moses Mendelssohn beschreibt dieses Gefühl so: "[...] wir [versetzen] uns vermittelst der Illusion, in ein ander Klima, in andre Umstände, und unter andre Menschen [.. .]"28 16
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Naturalis Historia (entstanden um 77 n. Chr.), XXXV,36; siehe hierzu Gombrich 1960:173 und 350. Dies gilt es im Gegensatz zu Strubes gegenteiliger Behauptung zu betonen. Strube versucht seine an sich schon problematische Unterscheidung zwischen Begeisterung und Illusion unter anderem wie folgt festzumachen: "Als Illudierter bin ich - anders als der Begeisterte - nicht in eine fremde Welt versetzt." [Strube 1971:26] Mendelssohn, Brief vom Dezember 1756 aus dem "Briefwechsel über das Trauerspiel", S.181.
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Diese vorläufige Bestimmung ästhetischer Illusion als des Scheins einer erlebten Wirklichkeit, in die sich der Rezipient hineinversetzt fühlen kann, ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Sie unterschlägt nämlich, was Strube - allerdings voreilig - gegen diese Charakterisierung ins Feld führt, nämlich daß sich der Illudierte "eingefügt [weiß] in eine [...] bekannte reale Umwelt" [Strube 1971:26]. W. D. Harding hat aus psychologischer Sicht diese Ambivalenz in der Einstellung eines "onlooker" von illusionistischen Gegenständen begrifflich differenziert als die spannungsvolle Haltung eines in die Fiktionswelt eintretenden "participant", der trotzdem noch (wenigstens als Minimum) die Distanz eines "spectator" beibehält [Harding 1962:136]. Ein solches distanziertes Zuschauer-Sein ist nun im Grunde keine neue Erkenntnis. Als Postulat taucht sie bereits im Don Quijote auf, und zwar besonders deutlich in jenem metafiktionalen Kapitel (II/26), in dem der Ritter von der traurigen Gestalt die reale Rezeptionssituation des Puppenspiels von Meister Pedro ganz vergißt und wütend auf dessen sich unritterlich verhaltende Figuren einschlägt. Als Fazit steht diese Differenzierung ästhetischer von nichtästhetischer Illusion auch hinter Comeilles L'Illusion comique. In derTat: Kein Mensch "en son bon sens", so ist auch bei Dubos zu lesen [Dubos 1719:120], verwechselt im Theater die Bühnenwirklichkeit mit der Lebenswelt, etwa dergestalt, daß ein Zuschauer einer mit dem Tode bedrohten Figur zu Hilfe käme. Noch viel absurder wäre eine solche in unmittelbaren Handlungen sich zeigende halluzinatorische Illusion bei der Romanlektüre. Für ästhetische Illusion gilt stets, so betont Max Black zutreffend: "[it is] an illusion, but not a delusion." [Black 1972:114]29 Wer sich etwa wie Zeuxis von einer trompe-l'oeil-Malerei täuschen läßt, der befindet sich gerade nicht im Zustand ästhetischer Illusion, sondern einer Illusion im nichtästhetischen (psychologischen) Sinn. Er sitzt einer Trugwahrnehmung auf.30 Dieser zentralen Unterscheidung stehen Formulierungen, wie sie bei Henry James, einem der bedeutendsten neueren Verfechter ästhetischer Illusion, zum Beispiel im Vorwort zu The Golden Bowl zu finden sind, nur scheinbar entgegen: "[...] one should, as an author, reduce one's reader [...] to [...] a state of hallucination by the images one has evoked [.. .]"31 Solches Eintreten für ästhetische Illusion als 'Halluzination' ist nicht nur deshalb zu relativieren, weil bei der Lektüre der Halluzinationsbegriff, streng genommen, aufgrund der Anwesenheit eines Auslösers nicht zu applizieren ist, son19
Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Dorothy Walsh von 1983, "The Non-Delusive Illusion of Literary Art". J ° Zu dieser - zutreffenden — Abgrenzung der ästhetischen Illusion von der Trugwahrnehmung siehe auch Strube 1971:13 f. 31 "Preface to the Golden Bowl", in: James, The Art of the Novel, S. 332.
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dern vor allem da es häufig im Kontext einer defensiven Rhetorik geschieht. Bei James beispielsweise ist diese gegen die von ihm wiederholt kritisierten, plumpen Illusionsbrüche in Anthony Trollopes Romanen gerichtet.32 James' eigene narrative Praxis zeigt demgegenüber, daß er keineswegs eine völlige, 'halluzinatorische' Illusion anstrebt, sondern daß er vielmehr - allerdings auf subtile Art - mit der Illusion ("the sympathies or the credulities of [the] reader") zu spielen versteht.33 Ästhetische Illusion ist in der Tat - und das gilt es als alte und, wie wir gesehen haben, schon bei Marmontel vorhandene Erkenntnis festzuhalten - nie vollständig. Worin aber liegt nun die Ursache dieses offensichtlichen Unterschieds ästhetischer Illusion von Trugwahrnehmung oder gar Delusion bzw. Halluzination? Sie beruht auf einem charakteristischen Moment der Distanz, das ästhetische Illusion immer auszeichnet, in der Trugwahrnehmung wie in der Halluzination jedoch fehlt. Wenn aber Distanz und der Schein des Erlebens gleichermaßen zur ästhetischen Illusion gehören, so ist diese ein offenbar ambivalentes Phänomen. Typisch für sie ist in der Tat nicht nur ein spezifisch 'ästhetischer' Auslöser (der allerdings nicht in einem wertenden Sinn etwa im Gegensatz zu trivialer Kunst zu verstehen ist), sondern die sie konstituierende Synthese aus Distanz und Illusion, ihre Doppelpoligkeit, wie sie sich schon aus Corneilles metadramatischer Lektion in L'Illusion comique ergab. 'Illusion', so muß angemerkt werden, ist hierbei im Gegensatz zum allgemeineren Begriff der 'ästhetischen Illusion' in einem engeren Sinn als jenes Element zu verstehen, das innerhalb des ambivalenten Konzeptes ästhetischer Illusion der Distanz entgegengesetzt ist. Diesem entscheidenden Differenzkriterium der Distanz, das in der bisherigen Forschung zwar erwähnt, aber nie eingehend gewürdigt worden ist,34 sollen die folgenden Überlegungen zunächst hauptsächlich gelten. Eine nähere Beleuchtung der Distanz ist nicht nur für die Illusionstheorie an sich wichtig, sondern auch deshalb von Bedeutung, da sich aus diesem Blickwinkel fundamentale Konsequenzen für Wirkung und Status von Illusionsdurchbrechungen ergeben: Da Distanz ästhetische Illusion immer schon relativiert, muß Illusionsstörung hier keinen so grundsätzlichen und endgültig destruktiven Effekt haben wie etwa die Auf-
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Vgl. auch James' Aufsätze "Anthony Trollope", in: James, The Future of the Novel, bes. S. 247-249, und "The Art of Fiction", in: James, The House of Fiction, bes. S. 26. Ein solches feinsinnig-ironisches "playfing] with a subject" vermißt er denn auch schmerzlich bei Trollope ["Anthony Trollope", in: James, The Future of the Novel, S. 238]. Strube 1971:17 und 32 geht nur ganz punktuell auf dieses zentrale Differenzkriterium ein. Burwick und Pape können in ihrer Einleitung "Aesthetic Illusion" zum gleichnamigen, von ihnen herausgegebenen Sammelband immerhin schon feststellen: "[...] all of our contributors presume a fundamental duality in aesthetic experience: illusion is somehow defined by the co-presence of its contrary." [Pape/Burwick 1990:14]
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klärung der Wahrheit für die Halluzination. Ästhetische Illusion ist vielmehr - und darin der nichthalluzinatorischen Illusion im psychologisch-perzeptorischen Bereich verwandt - restituierbar. Illusion und ihre Störung sind auf dem Gebiet der Ästhetik dank der Distanz auch noch in einer anderen Hinsicht einander relativ nahe: Wenn zum Beispiel René Magritte in seinem bekannten Gemälde von 1965, Le Blanc-Seign. Carte Blanche (siehe Schutzumschlag), eine durchaus realistisch gemalte Reiterin in einem weitgehend perspektivisch wiedergegebenen Wald im Widerspruch zur lebensweltlichen Wahrnehmung gleichzeitig vor und hinter einigen Bäumen erscheinen läßt, die gleichwohl in einer Reihe stehen, oder wenn John Fowles im berühmten dreizehnten Kapitel seines Romans The French Lieutenants Woman (1969) ebenfalls nach weitgehend illusionistischen, den Realismus des 19. Jahrhunderts imitierenden achtzig Seiten seinen Erzähler plötzlich verkünden läßt, "This story I am telling is all imagination" [S. 85], dann sprengen beide die ästhetische Illusion auf schockierende Weise. Doch obwohl in beiden Werken der Illusionsbruch gerade dadurch akzentuiert wird, daß in ihnen zugleich illusionistische Techniken emphatisch zitiert werden, so hat er doch eine ganz andere Qualität, als ihn ähnliche Auslöser - wenn es sie gäbe - etwa bei einem religiös verehrten Heiligenbildnis oder als Anmerkung eines Evangelisten verursachen würden. In diesen Fällen würden Illusionsstörungen einem religiösen Rezipienten als Sakrileg oder Blasphemie erscheinen. Sie würden einen radikalen Bruch bedeuten und völlig inakzeptabel sein, denn sie stellten eine Negation ihres - nichtästhetischen - Rezeptionskontextes dar. Heiliges würde aus dieser Perspektive zum Profanen, bloß Ästhetischen degradiert erscheinen. Die Illusionsstörung wäre damit zugleich ein Bruch des Systems, für den die Werke gedacht waren. Bei Magritte und Fowles dagegen wirkt der Illusionsbruch zwar auch als etwas Besonderes, aber gleichzeitig doch wie etwas, das mit ästhetisch verstandener Kunst doch nicht ganz unvereinbar ist, vielleicht gar aus einem solchen ästhetischen Verständnis erwachsen ist. Letztlich bleiben Illusionsdurchbrechungen in diesem Kontext innerhalb des Systems und weisen auf seine ästhetische Qualität hin. Die Illusionsdurchbrechung ist in der Tat bei Magritte und Fowles, systematisch gesehen, gar nichts so Sensationelles, denn sie aktualisiert nur jene Distanz in besonderer Weise, die im Kontext der ästhetischen Kunst - nicht jedoch in ausschließlich kultischer - immer schon wenigstens latent gegeben ist. Dieses offenbar für die ästhetische Illusion wie die Illusionsstörung höchst bedeutsame Moment der Distanz gilt es nun näher zu klären, und zwar nach Maßgabe folgender Leitfragen: 34
1. Was sind die Auslöser dieser Distanz? 2. Welcher Art ist die Distanz, und was ist ihr Gegenstand? 3. In welchem Verhältnis stehen Illusion und Distanz innerhalb der ästhetischen Illusion? Eine erste Klärung dieser Fragen kann schon in diesem Kapitel erfolgen, und zwar die Frage nach der grundsätzlichen Art der Distanzauslöser aus synchroner Sicht sowie diejenige nach der Art der Distanz selbst und ihrem Gewicht im Verhältnis zur Illusion im allgemeinen. Darauf aufbauend, können dann Sonderprobleme in den Blick rücken: zunächst die Frage, wie es historisch überhaupt zur Entstehung von ästhetischer Illusion kommen konnte, wie also die Distanzauslöser sich aus diachroner Perspektive darstellen (Kap. 1.2.2.), sodann die Frage, wie sich verschiedene Arten der Differenz des Kunstwerkes von der Realität auf Distanz und Illusion des Rezipienten auswirken (Kap. 1.2.3.), u n d schließlich die Frage, ob und wie die doch so gegensätzlich anmutenden Elemente von Illusion und Distanz im Rezeptionsprozeß überhaupt miteinander vereinbar sind (Kap. 1.2.4.). Die Frage nach den grundsätzlichen Auslösern der Distanz läßt sich aus synchroner Sicht scheinbar rasch mit dem Hinweis erledigen, daß der Unterschied zwischen Abbild und Urbild, zwischen Realität und Fiktion ja jedem aufgrund der Beschaffenheit des Werks und seines Kontextes sogleich ins Auge springe und damit dieser Unterschied allein schon für die Distanz verantwortlich sei. "[T]out s'y montre comme imitation", hatte schon Dubos als für die Theatersituation charakteristisch angemerkt [Dubos 1719:120]. Ähnlich argumentiert Marmontel: "[...] il est impossible de faire pleinement abstraction du lieu réel de la représentation théâtrale et de ses irrégularités." [Marmontel 1778:354] Tatsächlich ist die Distanzauslösung durch werkinterne und mit der Rezeptionssituation gegebene Fiktionsmarkierungen ein nicht zu vernachlässigender Steuerungsmechanismus ästhetischer Rezeption. Bei diesen Markierungen ist zu unterscheiden zwischen natürlichen, durch die Materialität der jeweiligen Medien bedingten und daher immer gegebenen Fiktionsindizien und künstlichen, ad libitum im Werk selbst angebrachten. Zu ersteren zählen die Zweidimensionalität im scheinbar dreidimensionalen Gemälde mit Zentralperspektive, die Unbelebtheit des Materials von Statuen, die Theatersituation und die sichtliche Künstlichkeit der Bühnenwelt im Drama sowie die Textualität der Narrativik. So illusionistisch eine erzählte Welt auch wirken mag, so offensichtlich ist doch in jedem Augenblick der Lektüre ihre bloß 'papierene' Qualität, ihr Eingefangensein zwischen Buchdeckeln. Mit den künstlichen, fakultativ gebrauchten Fiktionsmarkierungen hat sich unter anderem Erving Goffman in seiner soziologischen Wahrneh35
mungstheorie beschäftigt. Hauptanliegen seiner in mehrfacher Weise für die Illusionstheorie fruchtbaren Untersuchung Frame Analyst ist die Klärung der Frage, "Under what circumstances do we think things are real}" [Goffman 1974:2]. Eine wichtige Rolle spielen hierbei laut Goffman objektseitig gegebene "[c]ues" oder "brackets", wie er räumlich und zeitlich auftreten könnende Fiktionsmarkierungen nennt [S. 45], d. h. "boundary markers [...] of a conventionalized kind" [S.2ji], Zu den "spatial brackets" [S. 45] gehört der eigentliche Pate der Goffmanschen Zentralmetapher, "the wooden frame of a picture" [S. 252], ferner etwa auch der Sockel einer Statue. Zu den "brackets in time" [S. 45] würden etwa die am Anfang eines Romans zu lesende Gattungsangabe oder die Formel 'the end' am Schluß gehören. Diese künstlichen Fiktionsmarkierungen sind im Grunde keine Illusionsdurchbrechungen, da sie quasi außerhalb der Kunstwelt als rezeptionssteuernde 'Klammern' angebracht sind und sie zudem - wie die natürlichen Fiktionsmarkierungen - bei gelingender Illusionierung im Verlauf der Rezeption tendenziell und zumindest oberflächlich vergessen werden.36 Wenn nun aber die künstlichen Fiktionsmarkierungen weggelassen und die natürlichen - bis zu einem gewissen Grad wenigstens - aus dem Bewußtsein verdrängt werden können, dann können diese werkseitigen Elemente allein die Auslöser von Distanz nicht sein. Sie sind dann auch nicht für eine spezifisch ästhetische Rezeption allein verantwortlich zu machen, zumal eine von der Natur verschiedene Materialität auch kultische Werke auszeichnet und selbst bei ihnen künstliche 'Fiktionsmarkierungen' wie Rahmen und Sockel selten fehlen. Auch eine mehr oder weniger 'lebensechte' Oberfläche kann nicht allein als Distanzauslöser gelten, durch den sich ästhetische etwa von kultischer Kunst unterschiede. Wie beispielsweise der Vergleich der Wirkung eines illusionistischen Landschaftsgemäldes aus dem 19. Jahrhundert oder einer naturalistischen Tragödie mit derjenigen einer Ikone oder einer kultischen Handlung andeutet, kann unter bestimmten Umständen sogar ein merkwürdiger Chiasmus auftreten: Bei kultischen Werken kann mit der höchst stilisierten und keineswegs illusionistischen Oberfläche die intensive Präsenz des Heiligen einhergehen, während es im nichtkultischen, rein ästhe35
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Goffman selbst geht wiederholt auf ästhetische Phänomene ein und widmet z. B. ein ganzes Kapitel dem Theater (Kap. 5, "The Theatrical Frame" [S. 123-155]). E r ist daher zu Recht auch schon von Waugh 1984:28-34 unter dem Aspekt des 'frame-breaking' für die Metafiktionsforschung fruchtbar gemacht worden. Schon Lessing sah im Laokoon Aufgabe und Qualität eines illusionistischen 'Poeten' darin, daß er "die Ideen, die er in uns erwecktf...], so lebhaft mach[t], daß wir in der Geschwindigkeit die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfangen glauben, und in diesem Augenblicke der Täuschung, uns der Mittel, die er dazu anwendet, seiner Worte bewußt zu sein aufhören" [in: Lessing, Werke{W\,iio\.
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tischen Kunstwerk gerade umgekehrt sein mag: Eine ausgefeilt 'realistische' Präsentation vermag doch nicht das völlige Verschwinden einer gewissen Distanz zu bewirken. Wie Coleridges Formel von der "willing suspension of disbelief for the moment" eindringlich suggeriert, ist "poetic faith" [Coleridge 1817:169] bzw. "half-faith" [Coleridge 1804/05:178] im Unterschied zu religiösem Glauben sowohl durch seine auf die Rezeption des Werkes begrenzte Dauer als auch durch seine in gewissem Umfang gegebene 'Willkürlichkeit' und 'Unvollständigkeit' charakterisiert. Ausschlaggebend für eine bestimmte - hier z. B. religiöse oder ästhetische - Rezeption ist also nicht nur das Werk selbst, sondern auch der Kontext seiner Rezeption. Hierunter sind allerdings nicht bloß raumzeitliche Umstände zu verstehen, vielmehr auch die innere 'Einstellung' des Produzenten und vor allem des Rezipienten, die dann auch wieder auf den räumlichen und situativen Kontext der Rezeption zurückwirken kann. Um eine solche ästhetische Einstellung, um die es im Zusammenhang mit ästhetisch-distanzierter Illusion vorrangig geht, von nichtästhetischer (etwa einer religiös-verehrenden oder einer pragmatischen) unterscheidbar zu machen, ist nun aber zunächst zu klären, was unter 'Einstellung' zu verstehen ist.37 Rezipientenseitig ist Einstellung ganz allgemein eine bestimmte Ausrichtung des Interesses auf ein Wahrnehmungsobjekt. Durch sie wird eine bloße, vielleicht zunächst gar unbewußte Perzeption erst eigentlich zur bewußten Wahrnehmung. Ein solches Sich-Einstellen auf ein Objekt ist jedoch nur möglich, wenn an es bestimmte Erwartungen herangetragen werden und es damit im Grunde zugleich klassifiziert wird: als für bestimmte Erwartungen relevant, für andere dagegen unbedeutend. Wahrnehmung erweist sich hier und darauf wird zurückzukommen sein - als durchaus aktive Tätigkeit, wie von Erkenntniskritikern und Wahrnehmungsforschern immer wieder betont wird: "Mere perceiving, then, is a much more active penetration of the world than at first might be thought." [Goffman 1974:38] An oberster Stelle der verschiedenen möglichen Einstellungen gegenüber einem perzipierten Objekt rangiert die Entscheidung, ob es als reales oder nichtreales wahrgenommen werden soll. Dies impliziert die Frage nach den jede Wahrnehmung vorstrukturierenden 'Rahmenbedingungen' der Erkenntnis, nach den fundamentalen "Schemata of interpretation [...] [which] organizef...] meaning [and] [...] involvement", wie sie Goffman untersucht hat [Goffman 1974:21 und 345]. Er unterscheidet hier zwischen sogenannten 57
Ich folge hier weitgehend Goffman, da sich von seinen Überlegungen das für die ästhetische Illusion und ihre Distanz zentrale Fiktionsbewußtsein klar herleiten läßt; als allgemeine Einführung zu diesem Komplex - ohne Akzentuierung der Distanz - eignet sich auch Chvatik 1982: "Die ästhetische Einstellung".
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"primary" und "secondary frameworks". Erstere werden bei Handlungen oder Ereignissen in Anschlag gebracht, die als 'real' angesehen werden, letztere bei 'fiktiven'. Ästhetische Einstellung ist dabei als Sonderfall einer Wahrnehmung zu 'secondary-frame'-Bedingungen anzusehen. Der Begriff des zu 'primary-frame'-Bedingungen wahrgenommenen 'Realen' umfaßt einerseits für Goffman natürliche Objekte und "natural events" ohne persönliches Agens (Wolken, Gewitter) und andererseits "guided doingfs]" intelligenter Instanzen (Verkehrszeichen, Begrüßungsformeln) [S. 24], zu denen auch deren Produkte (Geräte, Werkzeuge) zu zählen wären. Damit wird das 'Reale', ohne daß dies Goffman so deutlich machen würde, mit drei verschiedenen Kriterien bestimmt, die einzeln oder zusammen zutreffen können und auf entsprechend unterschiedliche Wirklichkeiten applizierbar sind: a) ein ontologisch-kausales Kriterium, nach dem einfach Vorhandenes oder Geschehendes von menschlichen Produkten, Handlungen und Zeichenverwendungen unterschieden wird, auf die aber ebenfalls ein primary-frame anwendbar wird, wenn sie b) als unmittelbare und nichtspielerische Einwirkung auf die Lebenswelt einem pragmatisch-finalen Kriterium oder c) als direkte Bezugnahme auf die Lebenswelt einem referentiellen Kriterium genügen. Besonders wichtig für unseren Kontext sind die hieraus abzuleitenden, kulturell etablierten und konventionalisierten Kriterien, nach denen Kunstwerke allgemein in ästhetischer Einstellung als 'Fiktion' von der 'Realität' abgegrenzt erscheinen.38 Zugleich möchte ich in diesem Zusammenhang eine - bei Goffman nicht vorgenommene - Differenzierung des Fiktionsbegriffs einführen, die für die weitere Analyse der ästhetischen Illusion von großer Bedeutung ist. Nach dem ontologisch-kausalen Kriterium ist das Kunstwerk, wenn es als solches aufgefaßt wird, von natürlich Vorhandenem als künstlich gemachtes und zugleich nach dem pragmatischen Kriterium von anderen menschlichen Produkten und Zeichenverwendungen als etwas nicht primär Gebrauchszwecken dienendes ("something playful", S. 41) unterschieden. Fiktion als solches 'Gebilde' im Gegensatz zur vorhandenen Realität bezeichne ich als 'fictio'. Das Kunstwerk als Fiktion kann sich aber auch, muß allerdings nicht, nach dem dritten, referentiellen Kriterium auszeichnen: in der Frage nach der Herstellung einer Einzelreferenz. Unter 'Fiktion' kann bekanntlich etwas - im Gegensatz etwa zu realitätsbezogenen Diskur38
Dabei kommt es hier nicht auf die tatsächliche, beispielsweise im Dekonstruktivismus bestrittene Möglichkeit einer Trennung von Realität und Fiktion an. E i n e solche Diskussion würde auf spekulative A b w e g e und insbesondere w e g von dem hier zu beschreibenden, immer noch weithin gültigen Empfinden einer Differenz zwischen Kunst und Wirklichkeit in der Rezeption führen.
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sen (z. B. der Wahrheit entsprechenden Zeugenaussagen vor Gericht) - nicht unmittelbar 'Wahres' und ernsthaft auf Spezifika der Lebenswelt Bezogenes verstanden werden. Diese Irrealität steht dem allgemeinsprachlichen Fiktionsbegriff, der den fictio-Status von Kunst zwar impliziert, aber nicht akzentuiert, sogar am nächsten. Ich möchte nun diese potentielle Erfundenheit im Sinne einer fehlenden Einzelreferenz (die unabhängig ist von einer wohl immer gegebenen, da erst das Verständnis garantierenden Allgemeinreferenz der verwendeten Konzepte auf Generalia) im Unterschied zur fictio mit einer zweiten Ableitung aus lateinisch 'fingere' ('bilden', 'erfinden') den 'fictum'Aspekt der Kunst nennen. Für Goffman steht nun nicht ein abstraktes Differenzieren von Realität und Fiktion im Vordergrund, sondern die Möglichkeit ihrer Unterscheidung im gesellschaftlichen Bewußtsein. Das ausschlaggebende Merkmal des Nichtrealen, Unernst-Spielerischen und Fiktiven, das zu den Bedingungen eines "secondary framework" in der gesellschaftlichen Interaktion rezipiert wird, ist dabei aber nach Goffman nicht nur seine gewissermaßen äußerliche Markierung am Objekt durch "brackets", sondern auch eine korrelierende innere Markierung im Rezipientenbewußtsein durch "key[s]'\ Er definiert sie als "set[s] of Conventions by which a given activity, one already meaningful in terms of some primary framework, is transformed into something patterned on this activity but seen by the participants to be something quite eise" [S. 43 f.]. Werden Objekte dagegen im Rahmen primärer Sinngebungsschemata wahrgenommen, so fehlen "keys", da es sich dann um die natürliche Art menschlicher Weltzuwendung handele. Aus den vorangegangenen Überlegungen ergibt sich somit für die erste, oben aufgeworfene Frage nach den Auslösern der für die ästhetische Illusion charakteristischen Distanz folgendes: Diese Distanz entsteht im Rahmen einer Rezeption zu secondary-frame-Bedingungen, als deren Sonderfall ästhetische Rezeption gelten kann, und zwar als Funktion einer speziellen Markierung. Zu dieser gehören nicht nur die äußerlichen "brackets", die distanzierenden Fiktionsindizien eines Kunstwerks, sondern auch, wenn nicht zuvorderst, die "keys": eine aus dem Wahrnehmenden selbst kommende, innerlich distanzierende Einstellung. Diese besondere, eben ästhetische Einstellung hilft im konkreten Fall Fiktionsindizien erst richtig entschlüsseln, wird - ebenso wie die grundsätzliche Fähigkeit zum Dechiffrieren dieser Indizien - kulturell erworben und basiert auf bestimmten Konventionen, die wesentlich auch die Selektion des Wahrgenommenen nach dem Kriterium seiner 'Realität' bzw. seines Realitätsbezuges steuern.39 "
Wie bedeutend das Moment der Einstellung ist, zeigt sich auch darin, daß unter Umstän-
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Welcher Art aber ist nun diese Distanz, und auf welche Elemente eines Kunstwerks bezieht sie sich? Eine erste Antwort auf diese zweite der oben genannten Fragen ergibt sich bereits aus dem Umstand, daß ästhetische Einstellung, für die Distanz in besonderem Maß charakteristisch ist, wie jede Rezeption zu secondary frame-Bedingungen im Gegensatz zur Wahrnehmung im primären Rahmen Produkt einer aktiven Klassifizierung ist. Der Art nach ist sie eine Funktion des rationalen Urteilsvermögens und dem Inhalt nach, wie gezeigt, bezogen auf den Fiktionsstatus eines Kunstwerks. Hieraus läßt sich vermuten, daß auch ästhetische Distanz wesentlich rationaler Natur ist und zum Gegenstand die Fiktionalität hat. Weitere Hinweise auf die Natur der ästhetischen Distanz und ihren Gegenstandsbereich, die sich aus den übrigen Hauptmerkmalen der ästhetischen Einstellung ergeben, bestätigen dies. Zu diesen Charakteristika zählen: das wenigstens latente Wissen, daß ein Objekt Produkt einer intentionalen Schöpfung ist (zumindest wird es in ästhetischer Einstellung zu einem solchen stilisiert), die Annahme, daß ein Objekt als isolierter Kunstgegenstand eine Einheit bildet40 und die wichtigsten Informationen für seine Rezeption vollständig enthält, sowie die besondere Berücksichtigung der Form des Wahrgenommenen neben seinem Inhalt und die Bereitschaft zu einer Auseinandersetzung mit ihr, d. h. "daß ästhetische Strukturen der Wahrnehmung [und des Wahrgenommenen!] als solche Thema der nur auf sie konzentrierten Aufmerksamkeit werden" [Henrich 1975:544]. In ästhetischer Einstellung besteht die Möglichkeit, daß "das Medium [...] rein als solches erfahren und abgeschätzt" wird [ebd.]. Ferner gehört damit im Zusammenhang zur ästhetischen Einstellung, daß man ein Objekt unter weitgehender Absehung von pragmatischen Interessen41 und außerkünstlerischen Sinnbezügen dominant auf seine interne 'Schönheit', seine Konstruktion hin betrachtet, und schließlich auch die Genußerwartung an das Kunstwerk, die an seine Rezeption gekoppelt ist. Wenn auch eine affektive Beteiligung an einem Kunstwerk keineswegs in ästhetischer Einstellung ausgeschlossen ist, vielmehr, wie zu zeigen sein wird, wesentlich zum Gelingen ästhetischer Illusion beitragen kann, so ist doch auffällig, daß fast alle dieser Merkmale ästhetischer Einstellung und Wahrnehmung eine rationale Aktivität des Rezipienten implizieren.42 Selbst
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den sogar faktisch nichtästhetische Objekte, also solche, die weder fictio noch fictum sind und also auch keine inhärenten Fiktionsmarkierungen aufweisen können wie z. B. Landschaften, in ästhetischer Einstellung rezipiert werden können (siehe hierzu auch Smuda 1979:12 und Chvatik 1982:135). Siehe hierzu Smuda 1979:13. Vgl. hierzu Chvatik 1982:137. Chvatik 1982:137 betont daher zu Recht, daß ästhetische Einstellung "den ganzen Menschen in Anspruch [nimmt]", also seine "Rationalität" (diese ist für die Distanz wichtig)
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für den Genußcharakter, bei dem das vordergründig nicht ohne weiteres ersichtlich scheint, ist mit Blick auf den erheblichen Anteil, den die rationale Freude an der Kunstfertigkeit des Werkes, von der schon Aristoteles im vierten Kapitel der Poetik spricht, eine solche Vernunft-Qualität durchaus gegeben. Besonders deutlich aber tritt sie hervor bei der in ästhetischer Einstellung immer vorhandenen Möglichkeit, sich auf das Medium und die Wahrnehmung selbst zu konzentrieren. Hier zeigt sich auch besonders deutlich, daß ästhetische Einstellung eine Unterform der Rezeption zu secondary frame-Bedingungen ist. Denn diese lebt ja davon, daß im Wahrnehmenden das distanzierende Bewußtsein vom Wahrgenommenen als Spiel oder Schein wenigstens hintergründig vorhanden ist. Daher ist es schon hier, in diesem allgemeinen Rahmen unmöglich, im Gegensatz zur Wahrnehmung zu primary frame-Bedingungen, sich ganz auf das Objekt zu konzentrieren (noch viel mehr gilt das natürlich für die ästhetische Einstellung). Das Spielobjekt lebt ja nur von den Spielregeln, und die dürfen nie ganz aus dem Bewußtsein treten, soll das Spiel nicht in Ernst umschlagen. Die Qualität der Distanz, die auch und in besonderer Weise für ästhetische Einstellung typisch ist, kann damit, wie vermutet, als dominant rationale festgehalten werden.43 Inhaltlich aber ist die Distanz als Fiktionsbewußtsein, vor allem als Bewußtsein eines fictio-Status zu bestimmen. Sie bezieht sich stets auf nichtinhaltliche Aspekte eines Kunstwerks, d. h. auf seinen ontologischen und gegebenenfalls auch referentiellen Sonderstatus im Verhältnis zur Realität und darüber hinaus auf all das, was mit der Gemachtheit des Kunstwerks zusammenhängt: seine Produktions- und Rezeptionsbedingungen, Funktion, Struktur, Bedeutung usw. Scharf unterschieden ist ästhetische Distanz damit aber von inhaltlich determinierten Formen einer Distanzierung: Als Fiktionsbewußtsein schließt sie nicht auch schon eine moralische, politische oder sonstige Abstandnahme des Rezipienten zur dargestellen Welt und ihren Normen ein.44 Wenn nun aber zur ästhetischen Illusion nicht nur eine vorwiegend rationale Distanz, das Wissen um die Fiktionalität und damit zusammenhängen-
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und seine "Emotionalität" sowie "Imagination" (diese sind für die Illusion im engeren Sinn von Bedeutung). Zur ästhetischen Distanz gehört zwar auch das Gefühl der Harmlosigkeit des im Kunstwerk Wahrgenommenen, und zwar als Grundvoraussetzung dafür, beispielsweise an tragischen Gegenständen Vergnügen zu haben. Dennoch wäre es verkürzend, diese Distanz nur als kulinarische, "kontemplative Geborgenheit vorm Gelesenen" zu verstehen, wie Adorno mit Bezug auf Literatur meint [Adorno 1954:69]. Damit soll freilich nicht ausgeschlossen werden, daß eine zumal starke normative oder sonstige, nicht primär auf den Fiktionsstatus bezogene Distanz zu einer Aktualisierung ästhetischer Distanz bis hin zur Illusionsstörung führen kann.
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de 'formale* Momente gehören, sondern sie eben auch wesentlich eine der Distanz entgegengesetzte Illusion umfaßt, dann ergibt sich aus der vorgenommenen qualitativen Bestimmung der ästhetischen Distanz auch kontrastiv bereits eine wichtige Doppelperspektive auf die Qualität der Illusion selbst. Zum einen läßt sich nunmehr für den Gegenstandsbereich der Illusion eine erste Präzisierung vornehmen: Illusion bezieht sich im Gegensatz zur Distanz nie auf 'Formales', sondern immer auf 'Inhaltliches', d. h. daß ihr Objekt die im Kunstwerk vermittelte Welt, nicht aber die Vermittlung selbst ist. Zum anderen kommt der Illusion als Schein des Erlebens einer Wirklichkeit im Unterschied zur dominant rational motivierten Distanz eine vorwiegend nichtrationale, sinnliche Qualität zu. Als erste haben diese Gleichsetzung von "ästhetisch illudiren" und "vollkommen sinnlich reden" in Opposition zur Aktivierung der Ratio Moses Mendelssohn45 und Henry Home, Lord Kames betont. Dessen Elements of Criticism (1762) zufolge, die eine der bedeutendsten englischen Illusionstheorien des 18. Jahrhunderts enthalten, zeichnet sich die Vision einer 'realen', d. h. scheinbaren 'Gegenwart', zu der auch die Illusion gehört, durch folgendes aus: When ideal presence is complete, we perceive every object as in our sight; and the mind, totally occupied with an interesting event, finds no leisure for reflection of any sort [...] ideal perception is an act of intuition, into which reflection enters no more than into an act of sight. [Home 1762:1,114 und 109]
Wenn auch die grundsätzlich für die ästhetische Illusion zu postulierende rationale Restdistanz in dieser Passage allzu wenig berücksichtigt erscheint,46 so trifft doch die hier formulierte Tendenz für die Illusion im engeren Sinn durchaus zu. Über die allgemeine sinnliche Qualität der Illusion hinaus hat Marmontel auf eine zweite, oft vorhandene Komponente ihrer Arationalität verwiesen: auf ihren dominant emotionalen Charakter: "[...] 1'illusion augmente en proportion de la force du sentiment, et de la foiblesse de la raison [...]" [Marmontel i778:3J3]47 Die enge Verbindung zwischen Illusion und emotionalem 4!
"Der Dichter muß vollkommen sinnlich reden; daher müssen uns alle seine Reden ästhetisch illudiren." [Mendelssohn, "Von der Herrschaft über die Neigungen" (175$), in: M., Gesammelte Schriften, Bd. 4.1, S.44] Vgl. auch: "Die ästhetische Illusion ist wirklich im Stande, die obern Seelenkräfte [d.h. die Vernunft] auf eine Zeitlang zum Schweigen zu bringen [...]" [Mendelssohn, Brief an Lessing vom Januar 1757, in: M., "Briefwechsel über das Trauerspiel", S. 198] *6 Daß jedoch die Distanz im Konzept der Illusion auch bei Lord Kames nicht ganz ausgegrenzt ist, zeigt seine Unterscheidung verschiedener Intensitätsgrade bei ihr, wobei einer "original perception" der höhere Grad gegenüber bloßer idealer Wahrnehmung zukommt [Home 1762:1,111]. 47 Vgl. auch Adorno 1954, der über die Illusionsbildung im realistischen Roman sagt, "Ein
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Engagement des Illudierten an der Fiktionswelt ist jedoch nicht nur eine zeitbedingte Behauptung von Theoretikern aus der Epoche der Empfindsamkeit, sondern auch von verschiedenen modernen Autoren betont worden.48 In der Tat: Wenn auch etwa im Zustand ästhetisch-dramatischer Illusion niemand auf die Bühne eilen würde, um dort in die Handlung einzugreifen - von diesem Beispiel ging ja unsere Diskussion der Distanz aus - , so kann doch andererseits derselbe sich solchermaßen zurückhaltende Rezipient gleichwohl von aristotelischem 'Jammer' und 'Schaudern' oder auch zu Tränen bewegt werden, charakteristischen (wenn auch keineswegs immer gegebenen) emotionalen Indizien von Illusionierung. Insgesamt zeigt sich bereits hier: Im ambivalenten Zustand der ästhetischen Illusion gewinnt weder die Illusion noch die Distanz ganz zugunsten des jeweils andern Pols die Oberhand. Zu diesem besonderen Verhältnis der "obern Seelenkräfte", der Vernunft und ihrem Korrelat, der Distanz, zu den "untern Seelenkräfte[n]", an welche die Illusion appelliert,49 bemerkt bereits Moses Mendelssohn: "Soll eine Nachahmung schön seyn, so muß sie uns ästhetisch illudiren; die obern Seelenkräfte aber müssen überzeugt sein, daß es eine Nachahmung, und nicht die Natur selbst sei."'0 Damit nähern wir uns bereits der dritten der oben aufgeworfenen Fragen zur Distanz, derjenigen zu ihrem Verhältnis zur Illusion im engeren Sinn. Klar ist mittlerweile: Eine Distanz ohne Illusion streicht den Begriff der ästhetischen Illusion, umgekehrt verkürzt eine Illusion ohne Distanz die ästhetische Illusion um ihre ästhetische Komponente und macht sie zur bloßen Täuschung, zu einer fälschlichen Rezeption von Fiktion zu primary frame-Bedingungen. Da dies traditionell als die größere Gefahr angesehen wird -daher rührt auch ein Großteil der Skepsis gegenüber der ästhetischen Illusion - kommt dadurch selbst einer reduzierten Distanz noch eine vergleichsweise große Bedeutung zu. Sie ist jenes Element, durch das systematisch und, wenn man so will, präskriptiv ästhetische Illusion nicht nur über ihren Auslöser, das Kunstwerk, als 'Kunstillusion' von einer Illusion, die nicht von ästhetischen Gegenständen ausgeht, zu scheiden ist, sondern durch das auch die Kunstillusion selbst noch einmal untergliedert werden muß: Nicht jede von einem Kunstwerk verursachte Illusion ist bereits ästhetisch. Es gibt also eine ästhetische und eine nichtschweres Tabu liegt über der Reflexion", und allenfalls moralische "Parteinahme für oder gegen Romanfiguren" davon ausnimmt [S. 68]. 48 So von Harding 1962 und Brinker 1977. *9 Zu dieser Begrifflichkeit siehe Moses Mendelssohns Brief an Lessing vom Dezember 1756 [in: M., "Briefwechsel über das Trauerspiel", S. 181]. "Von der Herrschaft über die Neigungen" (1755), in: Mendelssohn, Gesammelte Schriften, Bd. 4.1., S.44.
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ästhetische Kunstillusion. Diese Differenz wird z. B. dort klar, wo ein trompel'oeil-Gemälde wie bei Zeuxis und Parrhasios in der ersten Phase ihres Wettbewerbs eine Täuschung bewirkt und nicht als Malerei, als ästhetisches Gebilde erkannt wird, wo also Illusion gerade jene Vollständigkeit hat, die schon Marmontel ausschließen wollte, da ihr Distanz fehlt. Der hohe systematische und theoretische Stellenwert der Distanz impliziert aber nun nicht, daß bei gelingender ästhetischer Illusion Distanz und Illusion gleichmäßig verteilt seien. Nur wenn der Rezipient - unterstützt durch entsprechende illusionsbildende Strategien des Werkes - seine Distanz weitgehend zurückzudrängen vermag, kann er illusionistisch als "participant" in dessen Welt eintreten. Es ist also an dieser Stelle schon festzuhalten: Einem zentralen Moment der Illusion steht bei gelingender ästhetischer Illusion eine nur untergeordnete - freilich unverzichtbare - Distanz gegenüber. Aus der bisherigen - synchronen Sicht auf das Phänomen der ästhetischen Illusion erscheint es nun so, als ob die für sie typische, vorwiegend rationale Distanz, die bei allem Ubergewicht des gegensätzlichen Pols der Illusion doch nie ganz aus dem Bewußtsein schwindet, als Resultat einer 'ästhetischen Einstellung' allein den Fiktionssignalen des Werks und vor allem einem überall und immer möglichen freien "Willensentschluß" des Rezipienten [Smuda 1979:12] entspränge: seiner Bereitschaft zur ästhetischen Einstellung. Ein solches unhistorisches Postulat der einfach gegebenen Wahl verschiedener Perspektiven verdeckt jedoch, daß die Möglichkeit ästhetischer Einstellung nicht immer schon vorhanden war. Einstellungen sind vielmehr kulturspezifische Variablen und als solche an das "belief system" und die '"cosmology"' einer Gesellschaft gebunden [Goffman 1974:27]. Das aber legt, ergänzend zur bisherigen synchronen Sicht, eine diachrone Perspektive auf die konzeptgeschichtlichen Wurzeln abendländischer ästhetischer Einstellung und der ästhetischen Illusion nahe. 1.2.2. Das Konzept ästhetischer Illusion aus diachroner Sicht: die historische Herausbildung ästhetischer Illusion in der Kunst Das Konzept ästhetischer Illusion ist trotz seines heute selbstverständlich anmutenden Zusammenhangs mit großen Teilen von Kunst und Literatur keineswegs schon mit der Kunst an sich gegeben. Es ist vielmehr im Verhältnis zur Gesamtheit der überlieferten Kunst- und auch Literaturgeschichte eine vergleichsweise späte und kulturspezifische Erscheinung, wenn es auch mehrere hundert Jahre älter ist als die Begriffsgeschichte der ästhetischen Illusion. Erstmals läßt sich ästhetische Illusion im Abendland in der bildenden Kunst des antiken Griechenlands nachweisen, und zwar im Kontext jener 44
von Gombrich so genannten 'Griechischen Revolution' [s. Gombrich 1960:99 ff.], in der auch ihre Voraussetzung, die ästhetische Einstellung, entsteht. Die Bezeichnung 'Revolution' ist in der Tat berechtigt, da es sich hierbei um einen für die abendländische Kulturgeschichte folgenschweren Übergang von einer 'magischen' [s. S. 107] bzw. 'archaisch-ritualistischen' Kunst [s. S. 121] zur 'ästhetischen Kunst' [s. S. 120] handelt. Zeitlich ist dieser jedoch kein genau umgrenztes Ereignis, sondern eine jahrhundertelange umwälzende Entwicklung in Kunst und Literatur. Ihre Anfänge setzt Gombrich schon bei Homer an [s. S. 113], obwohl Ilias und Odyssee wohl kaum insgesamt schon als illusionistische Erzählkunst anzusehen sind. Ihren Höhepunkt sieht er allerdings erst gegen Mitte des 4. Jahrhunderts v.Chr. erreicht [s. S. 108]. Es ist die Zeit der Diskussion um das neue, für die ästhetische Kunst und Illusion gleichermaßen wichtige Konzept der Mimesis bei Plato und Aristoteles und auch die Zeit einer der ersten theoretischen Auseinandersetzungen mit einem illusionistischen "Anschein der Lebendigkeit" und den Techniken seines Hervorrufens bei Xenophon aus Athen (ca. 430 - ca. 350 v. Chr.).5' In der Praxis der bildenden Kunst erreicht die ästhetische Illusion schon mit den klassischen Werken eines Pheidias und Polyklet einen ersten unbezweifelten Gipfel. Die Frühgeschichte der Illusion in der antiken Literatur, soweit dieses Problem bisher in der Forschung überhaupt beachtet wurde, ist jedoch umstritten.52 Man wird allerdings kaum fehlgehen, ein gewisses Maß an Illusionierung bereits in der aus dem kultischen Zusammenhang heraustretenden klassischen Tragödie eines Sophokles anzunehmen.53 Jedenfalls kann erst ab dem Auftreten einer nicht mehr dominant kultisch geprägten Einstellung zur Kunst eine ästhetische Illusion aufkommen, und erst ab diesem Zeitpunkt kann auch historisch korrekt von einer Illusionsdurchbrechung als einem Sekundärphänomen gesprochen werden, nicht jedoch schon im Kontext einer archaischen 'vorillusionistischen' Kunstauffassung. Da beide Einstellungen für das Verständnis von Illusion wichtig sind, seien sie und ihre kulturhistorischen Bedingungen im folgenden in Anlehnung an Gombrichs Art and Illusion kurz skizziert. Wesentlich für archaische Kunstrezeption vor dem Entstehen ästhetischer Illusion ist der Glaube an die Unerheblichkeit der fictio-Natur und die UnmögIn: Apomnemoneumata Sokratus (Memorabilia) 3.10.7., S. 217. Die Passage bezieht sich auf ein Gespräch des Sokrates mit dem Bildhauer Kleiton über die erstaunliche 'Lebendigkeit' von dessen Gestalten. Siehe hierzu Bruck 1982:191. ' ' So wurde beispielsweise für "Greek poetry" (im Sinn von Literatur) behauptet: " [ . . . ] [it] never attempted to produce illusion by actually imitating reality [...]" [Pape/Burwick 1990:4] " Auch Willems 1989 geht vom "Illusionscharakter der Mimesis" aus, wie er für "Dichtung und Bildende Kunst [...] [der] griechischefn] 'Aufklärung'" charakteristisch sei [S. 221].
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lichkeit eines fictum-Charakters von Kunst. Das magische Kunstwerk mag zwar von - göttlich inspirierten - Menschen geschaffen sein, mit seiner Vollendung verwischt sich jedoch die Differenz zwischen Artefakt und Wirklichkeit, und es nimmt denselben Realitätsstatus ein, wie ihn etwa eine Person der Lebenswelt besitzt: Es wird - unter Ausschluß der Möglichkeit einer fiktionalen Rezeption - zu primary frame-Bedingungen wahrgenommen.54 Ganz gleich, ob es sich um einen Gegenstand der bildenden Kunst oder eine textuelle 'Offenbarung' handelt, im magisch aufgefaßten Werk vermag sich das Dargestellte unmittelbar zu zeigen, ja es kann sogar als göttliche Gegenwart oder Gottes Wort selbst verstanden werden. Aufgrund der "uncanny transition from life to image" im magischen Werk kann seine Rezeption auch nicht beliebig (oft) erfolgen, sondern ist stets an einen 'Aktionszusammenhang' [s. S. 94] gebunden. Es ist kein Gegenstand eines wiederholbaren interesselosen Wohlgefallens, das wesentlich in der Würdigung kunstvoller Gestaltung des Mediums besteht, vielmehr ein pragmatisches Objekt, in dem Leben gegenwärtig wird und mit dem sich - etwa im Ritus -Macht über Menschen, Natur und Götter ausüben läßt. Auch das magische Kunstwerk kann somit 'Illusion' erzeugen: diejenige der Gegenwart des Numinosen. Aber diese Illusion ist keine ästhetische, da ihr das Moment der Distanz fehlt, sondern - nach 'aufgeklärter' Auffassung - eine philosophische bzw. religiöse. Die 'Re-Präsentation' von Lebendigem erfolgt in diesem archaischen Kontext wegen ihrer dominant magisch-pragmatischen Funktionalisierung auf viel unmittelbarerem Weg als im Kunstwerk nach der Griechischen Revolution. Auch das magische Werk ist zwar zunächst ein Zeichenkomplex, der von seinem Rezipienten gemäß den ihm bekannten Konventionen dechiffriert werden muß. Damit sich der Eindruck magischer Präsenz einstellt, bedarf es jedoch keiner elaborierten, täuschend lebensechten Gestaltung der Zeichen, sondern nur ihrer klaren Lesbarkeit. Den größeren Teil der 'Illusion' besorgt dann der Glaube des Rezipienten. Magische Werke sind daher oft von einer "tendency to abbreviation" [S. 94], zu schematisch-reduktionistischer Darstellung gezeichnet: "[...] the merest Schema will suffice, provided it retains the efficacious nature of the prototype." [S. 94] Was für die Darstellungstechnik eines magischen Idols gilt, kann auch dies leistet allerdings Gombrich nur in Ansätzen - auf Literatur übertragen werden, die in einem vor- oder außerästhetischen Kontext steht. Schon Lessing stellte in seinem Laokoon (1766) die 'nichtmalerische', d. h. reduktioni54
Vgl. R. Breuer 1984:106: "[...] Realität [...] und Kunst sind in dieser Sicht noch nicht unterschieden, viel weniger getrennt." Zum Komplex "Magisches Denken und der Ursprung der Kunst" siehe allgemein das gleichnamige Kapitel in R . Breuer 1984, bes. S. 100-108.
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stische und nichtillusionistische Narrationsweise der "Evangelisten, [die] das Factum mit aller möglichen trockenen Einfalt [erzählen] [...], ohne daß sie [...] den geringsten Funken von malerischem Genie dabei gezeigt haben", der Erzählweise Homers gegenüber [in: Lessing, Werke\VI,ioo].55 Auch bei Gombrich erscheint Homer, vor allem dank seiner Vermittlung von Teilen des erzählten Geschehens über 'Augenzeugen' (was im Kern schon eine illusionsfördernde Perspektivität andeutet) und wegen seiner Beschreibungen, als erste Ausprägung einer Literatur, "[that] open[ed] the way for the Greek revolution" [S. 113], und wird in einen Gegensatz zum Gilgamesch-Epos oder zum Alten Testament hineingestellt [s. S. 110]. Wenn auch gerade die Perspektivität Homers in der Forschung sehr unterschiedlich bewertet wird, 56 so kann man doch so viel sagen: Vergleicht man etwa die Beschreibung des Gartens Eden der Genesis mit einer Homerischen Schilderung57 oder gar mit einer Deskription in einem realistischen Roman, so erweist sich selbst bei oberflächlicher Lektüre der von Gombrich bemerkte unanschauliche Reduktionismus, die Beschränkung auf "the merest Schema" im Fall der Genesis als deutlich einer Literaturstufe angehörig, in der es nicht auf das Erwecken einer illusionistischen Vorstellung der textuell paratgehaltenen Gegenständlichkeiten im Leserbewußtsein ankommt, sondern auf das Vermitteln von 'Fakten' als Glaubens- oder Traditionsinhalte. Details haben hier, wo sie überhaupt auftreten, nur Beglaubigungsfunktion oder dienen einer bestimmten Semantisierung, nicht jedoch der Bildung ästhetischer Illusion. Mit dem Verlust der Uberzeugung von der Wirksamkeit magischer Kunstwerke, der Emanzipation der Kunst von den alten Aktionszusammenhängen, der Möglichkeit ihrer wiederholten, auf Genuß zielenden Rezeption sowie dem Entstehen der mimetischen Kunstauffassung bricht die Ära ästhetischer Kunst an, in deren Kontext ästhetische Illusion, aber auch das Spiel mit ihr möglich wird. Die Konzeptgeschichte der ästhetischen Illusion nimmt mit dieser Genese aus dem Abgehen von einer magischen Kunstauf "
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