Ästhetik und Poetik der Ruinen: Rekonstruktion – Imagination – Gedächtnis 9783110757811, 9783110757712

In ruins, the absence of the past achieves a maximum level of presence. At different points in time, fundamental reflect

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German Pages 371 [372] Year 2022

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Inhaltsverzeichnis
Metamorphosen der Ruine: Zur Einleitung
Ruinen und Reliquien bei Francesco Petrarca
Zur Poetik des Ruinösen in Alonso de Ercillas La Araucana
„… la poétique des ruines est encore à faire“ Diderots Ruinenästhetik zwischen Enzyklopädie und Kunstkritik
Bauformen der Geschichte: Ruinenlektüren im Umfeld der Französischen Revolution (Gibbon, Volney, Chateaubriand)
Verschiebungen einer Ruine. Le tepidarium zwischen Rekonstruktion und Imagination, zwischen Malerei und Dichtung (Théodore Chassériau, José-Maria de Heredia)
Die Schläfer im Tal: die Zertrümmerung eines Topos bei Rimbaud und Zola
Die verwesende Schlossruine von Lourps in En rade: Huysmans’ Radikalisierung der Schauerromantik
Ruine und Revolution. Zur Zeitlichkeit des gesellschaftlichen Umbruchs in utopischen anarchistischen Schriften zwischen 1881 und 1936
„España es una vasta ruina tendida de mar a mar“: Zum Motiv der Ruinen von Imperium, Nation und Geschichte im Spanien der Jahrhundertwende (Ganivet, Machado, Maeztu)
L’écriture éclatée. Ruines, destructions et reconstructions poétiques chez Filippo Tommaso Marinetti et Guillaume Apollinaire
Ruinenpoetik im Kontext kolonialer Mittelmeerpolitik in französischen Reiseberichten der 1930er Jahre
Paris en ruines. Deux regards à un siècled’intervalle
Die Leerstelle der Ruine – die Ruine als Leerstelle. Claude Simon und Alain Robbe-Grillet
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Ästhetik und Poetik der Ruinen: Rekonstruktion – Imagination – Gedächtnis
 9783110757811, 9783110757712

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Ästhetik und Poetik der Ruinen

Ästhetik und Poetik der Ruinen Rekonstruktion – Imagination – Gedächtnis Herausgegeben von Giulia Lombardi, Simona Oberto und Paul Strohmaier

Die Publikation dieses Bandes wurde finanziell unterstützt durch den Karrierefonds der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie die Dr. Jürgen und Irmgard Ulderup Stiftung.

ISBN 978-3-11-075771-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-075781-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-075786-6 Library of Congress Control Number: 2021948832 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverabbildung: RobertoGennaro/iStock/Getty Images Plus Datenkonvertierung/Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Giulia Lombardi, Simona Oberto und Paul Strohmaier Metamorphosen der Ruine: Zur Einleitung 1 Angela Oster Ruinen und Reliquien bei Francesco Petrarca

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Stephanie Béreiziat-Lang Zur Poetik des Ruinösen in Alonso de Ercillas La Araucana

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Constanze Baum „… la poétique des ruines est encore à faire“ Diderots Ruinenästhetik zwischen Enzyklopädie und Kunstkritik 93 Paul Strohmaier Bauformen der Geschichte: Ruinenlektüren im Umfeld der Französischen Revolution (Gibbon, Volney, Chateaubriand) 117 Şirin Dadaş Verschiebungen einer Ruine. Le tepidarium zwischen Rekonstruktion und Imagination, zwischen Malerei und Dichtung (Théodore Chassériau, José-Maria de Heredia) 141 Lars Schneider Die Schläfer im Tal: die Zertrümmerung eines Topos bei Rimbaud und Zola 169 Simona Oberto Die verwesende Schlossruine von Lourps in En rade: Huysmans’ Radikalisierung der Schauerromantik 185 Teresa Hiergeist Ruine und Revolution. Zur Zeitlichkeit des gesellschaftlichen Umbruchs in utopischen anarchistischen Schriften zwischen 1881 und 1936 225 Benjamin Loy „España es una vasta ruina tendida de mar a mar“: Zum Motiv der Ruinen von Imperium, Nation und Geschichte im Spanien der Jahrhundertwende (Ganivet, Machado, Maeztu) 241

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Inhaltsverzeichnis

Giulia Lombardi L’écriture éclatée. Ruines, destructions et reconstructions poétiques chez Filippo Tommaso Marinetti et Guillaume Apollinaire 271 Sara Izzo Ruinenpoetik im Kontext kolonialer Mittelmeerpolitik in französischen Reiseberichten der 1930er Jahre 293 Angelica Rieger Paris en ruines. Deux regards à un siècled’intervalle

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Hannah Steurer Die Leerstelle der Ruine – die Ruine als Leerstelle. Claude Simon und Alain Robbe-Grillet 335

Kurzinformation zu den Autor*innen Autorenindex

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Giulia Lombardi, Simona Oberto und Paul Strohmaier

Metamorphosen der Ruine: Zur Einleitung 1 Ruinen: Ein Abriss Ruinen bilden das Paradox einer sich bis zur Berührbarkeit verdichtenden Abwesenheit. In ihnen gewinnt eine Absenz ihr Maximum an Gegenwart. Es mag ebendieses unablässige Wechselspiel von Gegebenheit und Entzug sein, welches die Faszinationsgeschichte der Ruinen ausgelöst und bis in die Gegenwart hinein am Leben erhalten hat. Eng verbunden ist damit der in der Ruine stets mitgeführte Hinweis auf die Fragilität menschlicher Kulturen im Allgemeinen und des individuellen Daseins ihrer Betrachter im Besonderen. Gerade diese Verknüpfung der Ruine mit dem Tod als Grenzbedingung menschlicher Existenz und die scheinbare Selbstverständlichkeit dieser Verbindung verleitet gelegentlich zu einer Anthropologisierung dieses Interesses an Ruinen als eines „Reiz des Fragmentarischen“1, die seiner Historisierung nicht immer förderlich ist. Denn auch wenn Ruinen existieren, seitdem Menschen sesshaft sind und sich zum Bau ihrer Behausungen und Städte Materialien bedienen, die den Zersetzungsprozessen langer Zeiträume widerstehen können, beginnt die ästhetische, poetologische, aber auch geschichtsphilosophische Aufladung dieser materiellen Überreste aus der Vergangenheit vergleichsweise spät. Selbst die griechisch-römische Antike, der die Mehrzahl der für den europäischen Kulturraum bedeutsamen Ruinen entstammen, hat diesen kein mit der Neuzeit und Moderne vergleichbares Interesse gewidmet. Zwar werden auch in den Literaturen des Altertums Ruinen gelegentlich thematisiert, sei es in Form von Gedankenspielen oder als Sichtungen konkreter Überreste,2 doch bleiben die-

1 So jüngst Burdorf 2020, 8. 2 Im ersten Buch von Der Peloponnesische Krieg etwa reflektiert Thukydides anlässlich des Konflikts zwischen Sparta und Athen über die differierenden Erinnerungschancen der beiden Mächte, die sich aus ihrer abweichenden materiellen Kultur und Baupolitik ergäben. Das militärisch überlegene Sparta werde, so Thukydides, wegen seiner eher dörflichen Siedlungsstruktur der Nachwelt keine vergleichbaren materiellen Zeugnisse hinterlassen wie das urban konzentrierte Athen: „Würde nämlich die Stadt der Lakedaimonier entvölkert und übrig gelassen nur die Heiligtümer und die Grundmauern der Bebauung, so würden, meine ich, nach dem Verstreichen von viel Zeit die Nachgeborenen angesichts dessen, was sie hören, nie und nimmer glauben, dass Sparta so mächtig war […]; wenn hingegen Athen eben dasselbe zustieße, würde man wohl dessen Macht von dem sich bietenden Anblick ausgehend als doppelt so groß veranschlagen, wie sie tatsächlich ist.“ Thukydides 2017, 133 (= I, 10,2). Thukydides verweist damit in Form eines Gedankenhttps://doi.org/10.1515/9783110757811-001

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se Bezugnahmen sporadisch und führen nicht zur Herausbildung einer Ästhetik oder gar Poetik der Ruinen. Vielmehr bieten sie Anlass zur Artikulation metaphysischer Topoi mit generalisierter Geltung, wie es der klassische Archäologe Alain Schnapp formuliert: „Die Ruinen sind in der griechisch-römischen Welt kein Gegenstand der Ästhetik, sie sind keine gefühlsmäßige Erfahrung, auch wenn sie eine historische Grundlage für metaphysische Betrachtungen über die Zerbrechlichkeit der menschlichen Schicksale und Handlungen bilden.“ (Schnapp 2014, 95) Auch das Mittelalter, das solche Befunde über die Hinfälligkeit menschlicher Geschicke unschwer in eine christliche Gedankenwelt integrieren kann, hat die Ruinen nicht zum eigenständigen Objekt theoretischer und ästhetischer Aufmerksamkeit werden lassen. Prägnant zeigt sich dies besonders in Italien, wo oft genug römische Hinterlassenschaften neu besiedelt bzw. ,umgebaut‘ wurden, zuweilen so stark, dass die antike Baumasse hinter ihren spätantiken und mittelalterlichen Umwandlungen fast vollständig unkenntlich wurde, wie beispielsweise im Falle der Arena von Verona.3 Dieser aneignende Umgang mit der Antike ist dabei neben materiellen Gründen (Ruinen als Quellen von Baumaterial) auch darauf zurückzuführen, dass sich das ,Mittelalter‘ selbst nicht als kategorial verschiedenes Zeitalter gegenüber einer ,Antike‘ begriffen hat. Im spätmittelalterlichen Rom etwa dominiert vielmehr eine Wahrnehmung antiker Hinterlassenschaften im Sinne der mirabilia,4 für die (Heiligen‑)Legenden und ,Magie‘ entscheidend sind, nicht jedoch die Konzeptualisierung einer grundlegenden historischen Zäsur.5 Tatsächlich scheint der frühneuzeitlichen ,Entdeckung‘ der Ruine in einem auch materiellen, archäologischen Sinne ein Stadium philologisch-literarischer Vorbereitung vorauszugehen, für das die allzu vertraute Gegenwart antiker Bauten und Baureste insbesondere in Rom womöglich sogar hinderlich gewesen sein mag.6 Hierfür spricht jedenfalls der Befund, dass die rinascimentale Aufwertung der antiken Ruinen von Francesco Petrarca, über Poggio Bracciolini (De varietate

spiels auf den problematischen Status der Ruine als historisches Zeugnis, da sie vor allem solche Kulturen mit einem Überlieferungsvorteil prämiert, die auf architektonische Prachtentfaltung setzen. Thukydides’ hier nur imaginierten Ruinen stehen jedoch auch reale Ruinensichtungen gegenüber, etwa in Pausanias’ Reisen durch Griechenland (Ἑλλάδος Περιήγησις) oder in Ciceros Erinnerung an einen Athen-Aufenthalt mit Freunden (De finibus bonorum et malorum, V, 1–2). Zu letzterem vgl. Assmann 1999, 312–313. 3 Vgl. hierzu Esch 1987. 4 Vgl. Mirabilia urbis Romae 2014. 5 Vgl. Esch 2016, 29–32 und de Caprio 1987. 6 Vgl. Esch 2016, 34: „Die vor Ort verfügbare Antike allein tut es nicht, man muß sie sich erst aneignen. Denn wäre Verfügbarkeit von Antike schon ein hinreichender Impuls, dann hätte die Renaissance am ehesten in Rom beginnen müssen. Sie begann aber gerade dort, wo wenig Antike

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fortunae, 1448) und Leon Battista Alberti (Descriptio urbis Romae, ca. 1450) zunächst maßgeblich von florentinischen Gelehrten und Literaten betrieben wird, deren neu geartete Annäherung an die Antike eine textuell vermittelte ist, oder, um es mit Arnold Esch zu pointieren: „Die literarische Wiederaneignung der Antike ging der archäologischen entschieden voraus.“ (Esch 2015, 33) Vor diesem Hintergrund erscheint es kaum zufällig, dass der Begriff ,Fragment‘ im heute geläufigen philologischen Sinne eines nur bruchstückhaft tradierten Textes sich etwa in demselben Zeitraum etabliert, in dem auch die baulichen Hinterlassenschaften der Antike als ,Fragmente‘ eine stetig wachsende Aufmerksamkeit erfahren.7 Die frühneuzeitliche Aufwertung der Ruine geht folglich einher mit der diskursiven Konstruktion eines bereits von Petrarca entworfenen und in dessen Nachgang systematisch so benannten ,Mittelalters‘,8 eines medium aevum, das als alterisierte aetas obscura die kulturelle Kontinuität zu einer als vorbildhaft entworfenen griechisch-römischen Antike entscheidend gestört habe. Nach einer klassischen Studie Erwin Panofskys ist diese durch die Bezeichnung ,Mittelalter‘ formulierbar gewordene Zäsur zur Welt der Alten eine zentrale Voraussetzung für das rinascimentale Projekt einer ,Wiederbelebung‘ oder ,Wiedergeburt‘ der Antike,9 die auch von einem umfassenden translatio-Geschehen begleitet sein konnte. Insbesondere die römischen Ruinen erfüllen in Literatur und bildender Kunst

zur Hand war, in Florenz. Nein: Antike muß man nicht nur haben, man muß sie auch wollen!“ (Kursivierung im Original). 7 Der Altphilologe Glenn W. Most betont, dass die textbezogene Bedeutung von ,Fragment‘ in der Antike ungebräuchlich war: „All of the Greek and Latin words for ,fragment‘ are applied in antiquity only to physical objects, never to portions of discourse: the Latin term fragmentum and the corresponding Greek words apospasmata, spasmata, klasmata, and apoklasmata refer to bits and pieces of things like food or textiles and are never used for texts […].“ Most 2009, 10–11. Vgl. zur Rolle der römischen Ruinen im Rom des 15. Jahrhunderts ferner Fiore 2005. Eine interessante Perspektive auf das „Prinzip ,Ruinieren‘“ (Brock 1984, 129) sowie auf die „Ruine“ als „optimale“ (Brock 1984, 133) Vermittlungsinstanz von „Fragment“ und „Totalität“, findet sich in Brock 1984. Für eine allgemeine Unterscheidung zwischen ,Ruine‘ und ,Fragment‘ siehe auch den Beitrag von Giulia Lombardi in diesem Band. 8 Vgl. Mommsen 1942. 9 Vgl. Panofsky 1990, 116: „Die Renaissance erst wurde gewahr, daß Pan tot ist – daß die Welt des alten Griechenland und Rom […] verloren war wie Miltons Paradies und nur im Geiste wiedergefunden werden konnte. Die antike Vergangenheit wurde zum erstenmal als eine von der Gegenwart abgeschnittene Totalität und deshalb als ein ersehntes Ideal angesehen statt als eine sowohl benutzte wie gefürchtete Wirklichkeit. Das Mittelalter hatte die Antike unbeerdigt gelassen und ihren Leichnam abwechselnd galvanisiert und exorziert. Die Renaissance stand weinend an ihrem Grab und versuchte, ihre Seele auferstehen zu lassen. Und in einem schicksalhaft günstigen Augenblick gelang ihr das.“ Vgl. hierzu ferner die jüngere Studie von Forero-Mendoza 2002.

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der Renaissance somit eine Doppelfunktion, in dem sie einerseits eine Differenzerfahrung codieren, im Zuge derer die Gegenwart als Schwundstufe einstiger Größe thematisierbar wird. Der Anschluss an eben diese verlorengegangene Größe soll dabei andererseits – im Projekt einer übergreifenden renovatio – vermittels der Verfahren der imitatio wiedererlangt und durch das der aemulatio idealerweise noch übertroffen werden.10 So betont etwa Papst Pius II. 1462 in der Bulle Cum almam nostram urbem, in welcher unter Androhung der Exkommunikation die Zerstörung der römischen Ruinen (etwa zu Zwecken der o.g. Materialgewinnung) untersagt wird, die ethische Wirkung derselben, seien sie doch Zeugnis der Tugenden und Fähigkeiten der antiken Römer, deren Vorbild die Nachwelt leiten und damit zur Nachahmung anspornen solle.11 Die vormals dem antiken Rom und seinen Ruinen zuerkannte Exemplarität kann jedoch auch zur Disposition gestellt werden, wie es in Baldassare Castigliones Superbi colli, e voi sacre ruine (1503/1547) oder auch in Joachim Du Bellays Les Antiquitez de Rome (1558) der Fall ist, der wie hier im dritten Sonett der Sammlung auf Castigliones Text Bezug nimmt: Nouveau venu qui cherches Rome en Rome Et rien de Rome en Rome n’apperçois, Ces vieux palais, ces vieux arcs que tu vois, Et ces vieux murs, c’est ce que Rome on nomme. Voy quel orgueil, quelle ruine : et comme Celle qui mist le monde sous ses loix, Pour donter tout, se donta quelquefois, Et devint proye au temps, qui tout consomme. (Du Bellay 1994, 28)

In beiden Gedichten wird eine Reflexion über die Eitelkeit weltlicher Dinge und die Dekadenz von Weltreichen zum Anlass, den Verlust der Größe und der (im Sinne von Hybris moralisch negativ konnotierten) Macht Roms zu beklagen, von

10 Gegenläufig hierzu können Ruinen jedoch auch als Symptom einer nahenden Endzeit betrachtet werden, die mit dem Fall von Konstantinopel über die christliche Welt hereinbreche. Vgl. Lupi 2014. Die frühneuzeitliche Bedeutungspluralität der Ruine zeigt sich auch in der christlichen Ikonographie der Renaissance, für die Ulrich Stadler eine „[sinnbildliche] Bedeutung“ (Stadler 2002, 172) der Ruinen verzeichnet, indem diese z. B. die „endgültige Niederlage des Heidentums“ (Stadler 2002, 173) symbolisieren. Eine ruinöse Landschaft kann ebenso der Schauplatz von Christi Geburt sein, wie etwa in Albrecht Altdorfers Geburt Christi (1512). Somit ist die Ruine „mehr als bloß Hintergrund: Sie ist der Grund für das einzigartige Ereignis [...] Verheißung eines neuen unzerstörbaren Baus, der das kommende Reich Gottes konkretisieren wird.“ (Stadler 2002, 173). 11 S. diesbezüglich Rubinstein 1988 und Karmon 2011, hier insbes. Kap. 2 „Inventing a Preservation Program in Fifteenth-Century Rome“.  

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der nichts als Ruinen übriggeblieben seien – Rom also als ein Bruchstück, wie es Du Bellays Werk selbst bleiben sollte.12 Der Gedanke an die Eitelkeit weltlicher Dinge prägt bekanntlich unter dem Schlagwort der vanitas (mundi) maßgeblich die Epoche des Barock. Ein zentrales Element von dessen Umgang mit der Ruine ist die Aufmerksamkeit, die auf das „visuelle Moment“ (Hennigfeld 2008, 198) der Erfahrung gelegt wird. Das Moment der Visualisierung erhält dabei eine bedeutende Polyvalenz, bei der die Ruine zunächst als Inszenierung einer Zeitschwelle aufgefasst wird, die dem Betrachter den „[sichtbaren] Kontrast zwischen Vergangenheit und Gegenwart“ (Hennigfeld 2008, 179) vor Augen führt. Zugleich vermittelt die inszenierte Ruine, „como tumba y cadaver“ (Lara Garrido 1980, 390), eindrucksvoll die Idee der vanitas und wird somit zum Sinnbild und permanenten memento mori für ihren Betrachter.13 Darüber hinaus verrät ein Blick nach Spanien, dass neben der Thematisierung der Überreste Roms wie Trojas im Verlauf des Siglo de Oro eine ‚Nationalisierung‘ der Ruinen vonstattengeht,14 sodass nunmehr etwa diejenigen von Itálica und Sagunto zum Gegenstand der Literatur werden.15 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts erfährt die bis dato weitgehend in die Praxis humanistischer Memoria eingebundene Kontemplation der Ruinen eine wachsende Individualisierung.16 Diese geht einher mit einer Aufwertung der Ruine als Sujet der Malerei im Werk so bedeutender Künstler wie Giovanni Battista Piranesi, Giovanni Paolo Pannini und Hubert Robert, deren letzterer Denis Diderot in dessen Salon von 1767 zur Formulierung einer wirkungsreichen poétique des ruines

12 Siehe zum fragmentarischen Charakter der Antiquitez Corbineau-Hoffmann 2011 sowie zum Rom-Diskurs bei Du Bellay auch Vinken 2001. 13 Vgl. Hennigfeld 2008, 251. Am Besipiel des Sonetts Buscas en Roma a Roma, ¡oh peregrino! von Francisco de Quevedo, angelehnt an Joachim Du Bellays Nouveau venu, qui cherches Rome en Rome, schreibt Wardropper 1969, 302: „[...] Quevedo couches his sonnet in the formalism of an epitaph, with its lesson of mortality waiting for the passer-by to read.“ 14 Vgl. Lara Garrido 1980, 386, der von einer „nacionalización del paradigma“ der Ruine spricht. Der Autor widerlegt in seinem Aufsatz vehement die allgemein akzeptierte Idee, die spanischen Ruinenlyrik stünde im Zeichen einer bloßen imitatio von Baldassare Castigliones Sonett Superbi colli, e voi sacre ruine. Vgl. ebenso Lara Garrido 1983, insbes. 233–237. 15 In ihrer Lektüre von Lara Garrido postuliert Hennigfeld (2008, 189), die Nationalisierung der Ruine sei sogar „[die entscheidende Veränderung] von spanischer Renaissance- zu Barocklyrik.“ So wird die prominente andalusische Ruinenstadt Itálica in manchen Gedichtzyklen und Sonetten angedeutet (Fernando de Herrera, Esta rota i cansada pesadumbre) oder unmittelbar erwähnt (Francisco de Medrano, A las ruinas de Itálica, que ahora llaman Sevilla la Vieja, junto de las cuales está su heredamiento Mirar-Bueno; Rodrigo Caro, Canción a las ruinas de Itálica). Ähnliches gilt für die Ruinen von Sagunto, Mérida, Numancia, Cartagena, Zaragoza und andere. Vgl. Wardropper 1969 und Lara Garrido 1980, 394. 16 Vgl. hierzu Raulet 1996, 184–186.

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anregt.17 Hier werden das subjektive Empfinden der Ruine und die Kontemplation der eigenen Sterblichkeit als ästhetische Effekte verhandelt, die nicht länger auf historisch belegbare Ruinen angewiesen sind, sondern auch von frei imaginierten Ruinen ausgehen können.18 Die Entkoppelung der ,Ruine‘ als ästhetischem Artefakt von einem archäologisch identifizierbaren Substrat geht einher mit der Karriere der „falschen Ruinen“ in der europäischen Gartenbaukunst,19 die als stimmungsvolle Elemente weitläufiger Parkanlagen in ganz Europa zu Orten einer „douce mélancholie“ (Bernardin de Saint-Pierre 1820, 206) avancieren, ohne dabei auf reale Vergangenheiten zu verweisen. Die hier zunächst in Malerei und Architektur sich abzeichnende Loslösung des ,Ruinösen‘ als eines ästhetischen Effekts, der sich vom Rekurs auf real existierende Ruinen entkoppeln lässt, zeigt sich auch auf Ebene der je verhandelten Zeitdimensionen: Zu der in humanistischer Tradition stehenden Memoria einer ehrwürdigen Vergangenheit treten nunmehr imaginative Ausgriffe in die Zukunft. Ob Hubert Robert in einem seiner berühmtesten Gemälde die Galérie du Louvre als künftige Ruine entwirft oder Louis-Sébastien Mercier in seinem Roman L’An 2440 (1771) wiederum den Louvre aus einer zeitlichen Distanz von annähernd 700 Jahren ebenfalls als Ruine beschreibt – in beiden Fällen zeigt sich die Ruine als neu entdecktes Medium zur Reflexion der eigenen Gegenwart und deren Zukunft. Diese kann dabei optimistische Pfade einschlagen, wie im Falle Merciers, oder dystopische, wie etwa in Jean-Baptiste Cousin de Grainvilles Roman Le dernier homme (1805), der als Prototyp jener heute geradezu inflationär auftretenden postapokalyptischen Endzeitfiktionen gelten kann. Ein solchermaßen geänderter Umgang mit der Zeitlichkeit der Ruine ereignet sich dabei kaum zufällig im 18. Jahrhundert, vielmehr ist er eine Konsequenz der Auflösung eines zyklischen Geschichtsdenkens, die auch eine Autonomisierung des Konzepts der ‚Dekadenz‘ bewirkt. Von ihrer Funktion als Element der Strukturierung von Geschichte wandelt sie sich hin zu einem ästhetischen Begriff, dessen antiklassizistische Voraussetzungen den „Bruch mit dem Naturschönen und mit der Vernunft zugunsten einer überfeinerten Künstlichkeit“ herbeiführen (vgl. Klein 2001, 7–9). Als Symbol individuellen wie historischen Verfalls, aus dem selbst – oder gerade – in Gestalt eines rein imaginativen Erzeugnisses ein besonderer ästhetischer Lustgewinn gezogen werden kann, steht die Ruine insofern stets auch im Zeichen der Dekadenz.

17 Zu Diderot vgl. den Beitrag von Constanze Baum in diesem Band. 18 Diese subjektive Funktionalisierung der Ruine zeigt sich prägnant auch in einem Brief Diderots an Sophie Volland vom 5. August 1759: „Deux choses nous annoncent notre sort à venir et nous font rêver, les ruines anciennes, et la courte durée de ceux qui ont commencé de vivre en même temps que nous.“ Diderot 1984, 62. 19 Siehe hierzu Zimmermann 1989.

Metamorphosen der Ruine: Zur Einleitung

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In der europäischen Romantik wiederum erfährt die Ruine eine Neuakzentuierung, die nicht zuletzt das Repertoire relevanter Ruinen erweitert. Der RuinenKanon der Antike wird ergänzt, auch diesmal durch die Thematisierung nationaler Ruinen und Monumente, die meist auf das nun gegenüber der klassizistischen Tradition aufgewertete Mittelalter zurückgehen. Gerade im nachrevolutionären Frankreich, das aufgrund der oft gewaltsamen Säkularisierung zahlreiche ,neue‘ Ruinen aufweist, verbindet sich diese Fokussierung des Mittelalters mit einer Reaktivierung der christlichen Verweisungskraft der Ruine, die insbesondere Chateaubriand in den Vordergrund rückt.20 Im gleichen Zuge erlangt sie eine wesentliche Funktion im Kontext der Geschichtserfahrung der postrevolutionären Generation, wie dies etwa der erste Teil von Alfred de Mussets La Confession d’un enfant du siècle (1836) zur Sprache bringt: Trois éléments partageaient donc la vie qui s’offrait alors aux jeunes gens : derrière eux un passé à jamais détruit, s’agitant encore sur ses ruines, avec tous les fossiles des siècles de l’absolutisme ; devant eux l’aurore d’un immense horizon, les premières clartés de l’avenir ; et entre ces deux mondes… quelque chose de semblable à l’Océan […] le siècle présent, en un mot, qui sépare le passé de l’avenir, qui n’est ni l’un ni l’autre et qui ressemble à tous deux à la fois, et où l’on ne sait, à chaque pas qu’on fait, si l’on marche sur une semence ou sur un débris. (Musset 1960, 69)

Nicht minder prominent ist in dieser Hinsicht der Beitrag Victor Hugos, etwa in seinem programmatischen Gedicht Fonction du poète (1839) aus der Sammlung Les Rayons et les ombres. Der in den Ruinen der zeitgenössischen Gesellschaft wandelnde Dichter („Marche, courbé dans vos ruines“; Hugo 1964, 1031) ist der Einzige, der unter Beihilfe des christlichen Gottes die Menschheit aus ihrem Zustand des Verfalls erlösen kann. Neben diesen national- und/oder heilsgeschichtlichen Funktionalisierungen der Ruine als Ort oftmals melancholisch gefärbter Kontemplation entdeckt die Romantik – in mancherlei Kontinuität zur pittoresken Tradition des 18. Jahrhunderts21 – die Ruine somit als privilegierten Ort zur Verhandlung der Grenze von Kultur und Natur, als Schwellenfigur zwischen Ordnung und Kontingenz. Letzteres betrifft schließlich eine weitere bedeutende Spielart der Ruine in der europäischen und auch nordamerikanischen Literatur der frühen Moderne, genauer in der (schauer‑)romantischen gothic fiction. Die Strömung verwandelt die allgegenwärtige Ruine zum Projektionsraum morbider psychischer Vorgänge, Phobien sowie erotischer Phantasien, wodurch sie sich im

20 Zu Chateaubriand vgl. den Beitrag von Paul Strohmaier in diesem Band. 21 Vgl. Junod 2014.

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Bereich des Irrationalen, des Imaginären und des Traums bewegt.22 Zudem operiert sie mit einer weiteren Ausprägung des Dekadenz-Begriffs (die sich bis hin zum Fin de siècle manifestieren wird), indem sie das verfallene Bauwerk zu einem Zeichen physisch-pathologischer, zugleich moralischer Verdorbenheit macht und in welchem Schönheit sich mit Bosheit verbindet (Klein 2001, 9–10). Das wirkungsästhetische Ziel der Schauerromantik, die Erweckung eines angenehmen Grauens, soll zudem den Wegfall metaphysischer oder religiöser Ängste im Zuge des Zeitalters der Aufklärung kompensieren.23 Nach der Hochphase der Romantik scheinen – so zumindest eine lang gepflegte communis opinio – weder Realismus noch Naturalismus sich in besonderer Weise für das Phänomen Ruine zu interessieren. Die Ruine erscheint vielmehr als Kristallisationspunkt einer sentimentalen Vergangenheitsverklärung, als Klischee. In Gustave Flauberts Dictionnaire des idées reçues heißt es unter dem Lemma ,Ruines‘ lapidar: „Font rêver et donnent de la poésie à un paysage“ (Flaubert 2017, 127).24 Noch vernichtender allerdings ist der implizite Befund in Madame Bovary. Im sechsten Kapitel des ersten Teils befindet sich Emma noch in dem von Ordensschwestern geleiteten Internat. Doch ist sie bereits zum ersten Mal mit romantischer Literatur in Berührung gekommen und verbringt ihre Nächte damit, die Illustrationen ihres Poesiealbums zu betrachten. Besonders angetan hat es ihr die folgende: Et vous y étiez aussi, sultans à longues pipes, pâmés sous des tonnelles, aux bras des bayardères, djiaours, sabres turcs, bonnets grecs, et vous surtout, paysages blafards des contrées dithyrambiques, qui souvent nous montrez à la fois des palmiers, des sapins, des tigres à droite, un lion à gauche, des minarets tartares à l’horizon, au premier plan des ruines romaines, puis des chameaux accroupis ; – le tout encadré d’une forêt vierge bien nettoyée, et avec un grand rayon de soleil perpendiculaire tremblotant dans l’eau, où se détachent en écorchures blanches, sur un fond d’acier gris, de loin en loin, des cygnes qui nagent. (Flaubert 1999b, 102)25

22 Vgl. Lhermitte 2012. Zur Adaption der schauerromantischen Ruinenästhetik in der Dekadenz siehe den Beitrag von Simona Oberto zu Huysmans in diesem Band. 23 Vgl. Poppe 2010, 663, die diesbezüglich auf Richard Alewyn verweist. 24 Einen Charakter der Beliebigkeit gewinnt die Ruine auch im Eintrag zu „Palmyre“: „Reine d’Égypte ? ou ruines ? on ne sait pas“ (Flaubert 2017, 117) –, in welchem die Evokation der seit der Mitte des 18. Jahrhunderts berühmten syrischen Ruinenstätte in Kombination mit dem Diskurs des Orientalismus zum Gegenstand ironischer Betrachtung wird. 25 Eine ähnlich gelagerte Ridikülisierung romantischer Ruinen findet sich im zweiten Kapitel von Bouvard et Pécuchet, wo die beiden Protagonisten beim Anlegen ihres Gartens auch das im Ratgeber L’Architecte des jardins angeführte „genre mélancolique et romantique“ in Erwägung ziehen, „qui se signale par des immortelles, des ruines, des tombeaux, et, un ex-voto à la Vierge, indiquant la place où un seigneur est tombé sous le fer d’un assassin‘“. Allerdings entscheiden sie

Metamorphosen der Ruine: Zur Einleitung

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In diesem bricolage oriental aber bildet die Ruine nicht mehr als ein Versatzstück zur Möblierung einer spätromantischen Imagination aus zweiter Hand, die im Romanverlauf an einer prosaischen Wirklichkeit scheitert. Auch der ,Vater‘ des französischen Naturalismus, Émile Zola, zeigt sich skeptisch in Sachen Ruine: „En avançant, l’humanité ne laisse derrière elle que des ruines ; pourquoi toujours se retourner et pleurer la terre que l’on quitte, épuisée et semée de débris ?“ (Zola 2006a, 197). Einem Zeitalter des Fortschritts sei die ehrfürchtige oder gar melancholische Kontemplation von Ruinen nicht mehr angemessen, ihr Fortdauern lediglich Symptom von „notre maladie romantique“ (Zola 2006b, 74): ein Fall für den Arzt. Diese scheinbare Entwertung der Ruinen im Zeichen eines aggressiv formulierten Fortschritts hat auch in der literaturwissenschaftlichen Forschung die postromantische Kontinuität der Ruinenästhetik oftmals verdeckt.26 So befindet etwa Mortier, dessen Poétique des ruines en France immer noch als Standardwerk für den Zeitraum von der Renaissance bis zur Romantik gelten kann, dass mit jenem vormodernen „monde de la lenteur“ (Mortier 1974, 227, im Original kursiv), dem er die Romantik noch zuordnet, auch jene ,langsamere‘ Konzeption historischer Zeit verschwunden sei, ohne die eine Poetik und Ästhetik der Ruine nicht länger möglich wären. Ein zentrales Anliegen des vorliegenden Bandes ist es damit, diese ausgesprochen dezisionistische Einschränkung zu revidieren und vielmehr die anhaltende ästhetische und poetologische Bedeutung der Ruine über die Romantik hinaus bis weit in das 20. Jahrhundert hinein in ihren jeweils spezifischen Wandlungen nachzuverfolgen. So sind es nicht zuletzt zwei Weltkriege, die der Menschheit im 20. Jahrhundert nicht nur etliche Millionen Tote und Verwundete beschert, sondern sie durch die Zerstörungskraft moderner Kriegstechnik auch in vormals undenkbarem Ausmaß mit Ruinen überzogen haben. Dabei ist vielfach zu beobachten, dass die ,klassischen‘ Ruinen der Tradition als Elemente des kulturellen Gedächtnisses abgelöst werden von der Kontemplation ,moderner‘ Ruinen, die ihre besondere Virulenz dadurch entfalten, dass sowohl ihr unbe-

sich schließlich gegen die romantisch-melancholische Gartenvarianate samt Ruinen, denn „[l’] ex-voto à la madone n’aurait pas de signification, vu le manque d’assassins“. Flaubert 1999a, 79–80. 26 In dieser Hinsicht wird Flauberts Folgeroman Salammbô (1862), der im alten Karthago angesiedelt ist, von Théophile Gautier als meisterhafte Wiedererweckung karthagischer Ruinen gefeiert: „Quel plaisir, moitié avec la science, moitié avec l’intuition, de relever ces ruines enterrés sous les écrasements des catastrophes, de les colorer, de les peupler, d’y faire jouer le soleil et la vie, et de se donner ce spectacle magnifique d’une résurrection complète !“ (Gautier 2013, 439). Zur faktischen Relevanz der Ruine an der Schnittstelle von naturalistischer Schreibweise und dekadenter Ästhetik vgl. den Beitrag von Simona Oberto in diesem Band.

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schadeter als auch ihr versehrter Zustand gleichermaßen im kollektiven Gedächtnis gespeichert sind. Die Ruine kann jedoch, etwa im Umkreis der Avantgarden, wenn nicht eine positive Besetzung, so doch eine funktionale Rolle übernehmen als Zeichen einer kathartischen Zerstörung etwa, die beispielsweise in Marinettis futuristischen Manifesten einer lähmenden Tradition des passatismo den Garaus macht, in der Lyrik Apollinaires zu neuen Form- und Sinnexperimenten anregt27 oder in der philosophisch-literarischen Tradition des Anarchismus den Abschied von einer überkommenen Gesellschaftsform chiffriert.28 Zu den Besonderheiten dieser Periode gehört indessen auch die Wiederaufnahme der Vorstellung zukünftiger Ruinen, und zwar in Gestalt des sog. ‚Ruinenwerts‘, einem von Albert Speer formulierten Prinzip nationalsozialistischer Architektur. Diesem zufolge sollten materielle und statische Entscheidungen die Konzeption einer Baute derart leiten, dass sie selbst im Zustand des Verfalls ästhetisch vollendet, bewunderungswürdig erscheine – analog zu den Ruinen Roms –, um „den politischnarrativen Zeugnischarakter“ (Welzbacher 2006, 69) der sie hervorbringenden Gesellschaft über alle Zeiten hinweg zu bewahren.29 Selbst in der Postmoderne, die den Reiz der Ruinen zuweilen für tot erklärt und von einer Zeit der „Ruinenlosigkeit“ (Böhringer 1982, 373) spricht, bleibt sie zumindest auf der Ebene einer Metaphorik des ,Ruinösen‘30 vital und dient etwa noch einem 1996 erschienenen Sammelband als Meistertrope zur Charakterisie-

27 Vgl. hierzu den Beitrag von Giulia Lombardi in diesem Band. 28 Vgl. hierzu den Beitrag von Teresa Hiergeist in diesem Band. 29 Die Vorstellung vom ‚Ruinenwert‘ hat im jüngeren Autorenkino, genauer in Lars von Triers The House That Jack Built (2018), im Rahmen kunstästhetischer Betrachtungen neuere Aufmerksamkeit erfahren. In einer umfassenden Reaktivierung von Diskursen der Dekadenz, die etwa prominent im Prinzip des Lebens als Kunstwerk, den übermenschlichen Ansprüchen und der nihilistischen Moral des Protagonisten aufscheinen, wird im Film der Prozess des Verfalls zur Voraussetzung künstlerischen Schaffens erhoben und in seinen ästhetischen Implikationen – mit durchaus provokativer Absicht – anhand von Beispielen aus dem Weinanbau sowie aus der Architektur des Dritten Reiches veranschaulicht (1:42:31–1:47:00). 30 Besondere Prominenz eignet der Metaphorik des Ruinösen für die romanistische Literaturwissenschaft im Zuge von Hugo Friedrichs berühmter Formel vom „ruinösen Christentum“ Charles Baudelaires. Mit dieser beschreibt Friedrich die eigentümliche und bewusst ungelöste Spannung zwischen „Satanismus und Idealität“, die die Fleurs du Mal des französischen Dichters durchzieht und sich in Form einer „leere[n] Idealität“ manifestiert. Gemeint ist der destruierende Umgang mit Versatzstücken des Christentums, das nicht durch den Glauben an die finale Erlösung des Subjekts salviert wird: „Seine ,hyperbolische‘ Spannung wäre nur dann christlich, wenn sich der Glaube an das Mysterium der Erlösung über sie wölbte. […] Doch was davon übrig blieb, ist ein ruinöses Christentum“. Die „leere Idealität“ wird dabei zugleich zu einem Strukturmerkmal moderner Lyrik: Um das metaphysisch ausgehölte Zentrum der Lyrik könne deren „Sprachmagie“ umso stärker ranken. Siehe Friedrich 1956, 33–39.

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rung der zeitgenössischen philosophischen Conditio (vgl. Bolz und van Reijen 1996). Als Erinnerungszeichen und als Anreiz zur Erprobung fragmentarisierter Schreibweisen bleiben Ruinen noch im Spätwerk mehrerer Vertreter des nouveau roman poetologisch bedeutsam.31 Über postmoderne Erklärungen vom Ende der Geschichte und ihre Trivialisierung durch den Massentourismus hinweg erweisen sich Ruinen als widerständig und das gilt nicht nur für die Literatur, sondern ebenso für die Kultur und Geopolitik der Gegenwart. Gerade die mnemonische Funktion der Ruinen als residuales Zeugnis vergangener Wirklichkeit hat sie in jüngerer Zeit verstärkt zum Zielpunkt kultureller Kriegsführung werden lassen, wie im Falle der gesprengten Buddha-Statuen von Bamiyan (2001), oder der 2015 durch Kämpfer des sog. Islamischen Staats zerstörten Überreste der antiken Oasenstadt Palmyra.32 Es sind gerade solche Fälle eines orchestrierten „Mnemozids“33, aus denen der besondere Wert aber auch die besondere Vulnerabilität von Ruinen erhellt, die gerade, weil ihr Überdauert-Haben unwahrscheinlich ist, Singularitäten bilden, die nicht ersetzt werden können.

2 Rekonstruktion, Imagination, Gedächtnis: Bausteine einer Ästhetik und Poetik der Ruinen Aus dem knappen historischen Abriss einer Ästhetik und Poetik der Ruinen lässt sich eine Basisstruktur bestimmen, die sich in all ihren Metamorphosen wiederfindet. Die Begriffe ,Rekonstruktion‘, ,Imagination‘ und ,Gedächtnis‘ bilden in diesem Sinne ein heuristisches Instrumentarium zur Beschreibung jener Ästhetik(en) und Poetik(en) der Ruinen, eine Art Minimalbestand, der diachron und transkulturell verschiedene Ausprägungen, Gewichtungen und Akzentverschiebungen erfahren kann. Die Beziehung dieser drei begrifflich konturierten Dimensionen des ästhetischen Phänomens ‚Ruine‘ ist keine hierarchische, sondern geht aus ihrer Konstellation hervor: Je nach konkreter Ausprägung kann im Einzelfall Imagination, Rekonstruktion oder Gedächtnis dominant gesetzt werden, während die anderen beiden Aspekte in den Hintergrund rücken. In systematischer Absicht sollen diese drei Basisdimensionen daher kurz umrissen werden. Dabei gilt es zu betonen, dass die hier geltend gemachte Begriffstrias durch wechselseitige Implikationsverhältnisse bestimmt ist, ihre Bestandteile sich also im je-

31 Vgl. hierzu den Beitrag von Hannah Steurer in diesem Band. 32 Zu Palmyra siehe Veyne 2015. 33 Assmann 1999, 336.

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weiligen Fall nicht als klar abgegrenzte Ebenen begreifen lassen, sondern einen reflexiven Verweisungszusammenhang bilden, der sich historisch in je besonderer Weise aktualisiert. Dabei zielt die hier angebotene Systematisierung nicht darauf ab, eine Theorie und Ästhetik der Ruine mit generalisierbarer Geltung zu entwerfen, wie sie gelegentlich etwa im Rekurs auf Georg Simmel oder Walter Benjamin noch unternommen wird.34 Die hier namhaft gemachten Momente sind zu verstehen als Elemente einer Kombinatorik, die die (Re‑)Konstruktion historischer Varianten und Umformungen erlaubt, denn eine Ästhetik und Poetik der Ruinen lässt sich nicht überzeitlich formulieren, selbst wenn illustre Namen wie Diderot, Hegel, Simmel und Benjamin sich daran versucht haben, sondern nur als Abfolge von Abweichungen und Umbesetzungen nachzeichnen.35 Der Prozess der Rekonstruktion beschränkt sich nicht auf den ästhetischen Umgang mit Ruinen. Auch die Archäologie bemüht sich um die plastische Ergänzung architektonischer Fragmente und Siedlungskomplexe, die vielfach nur mehr als ergrabene Grundmauern vorliegen. Die wissenschaftliche Befassung mit Ruinen zielt immer auch auf die erkenntnisfördernde Konstruktion von Modellen, die jene Überreste als Versionen möglicher Vergangenheit in einen pristinen, intakten Zustand vor den Verheerungen historischer Zeitläufte überführen und eine nur mehr als Schwundstufe verfügbare Vergangenheit mit neuer Plastizität und Anschaulichkeit versehen. Dabei entgehen diese rekonstruktiven Verfahren nicht dem Zwang zur Interpretation, beruhen auf Konjekturen, Analogien zu anderweitig überlieferten Bruchstücken, auf Ergänzungen, die rein wissenschaftlich nicht

34 Die viel zitierte Ruinen-Theorie Georg Simmels etwa generalisiert ein (spät)romantisches Paradigma, wonach die Ruine den Antagonismus von menschlicher Kultur und Entropie der Natur anschaulich werden lässt und zugleich aufhebt: „es entsteht eine neue Form, die vom Standpunkt der Natur aus durchaus sinnvoll, begreiflich, differenziert ist. Die Natur hat das Kunstwerk zum Material ihrer Formung gemacht, wie vorher die Kunst sich der Natur als ihres Stoffes bedient hatte.“ (Simmel 2008, 36–37) Dies erfasst jedoch weder die rinascimentale noch die moderne RuinenÄsthetik, deren zweite etwa das von Simmel mehrfach betonte Moment der Harmonisierung von Natur und Kultur in der Ruine vehement unterläuft. Zu dieser Kritik an Simmel vgl. auch Raulet 1996, 181–182. Walter Benjamins vielbeachtete Überlegungen zur Ruine wiederum bilden keine kohärente Theorie im eigentlichen Sinne, sondern vollziehen eine suggestive Engführung von Ruinen-Form und Allegorie, wenn es etwa im Trauerspiel-Buch heißt: „Allegorien sind im Reiche der Gedanken was Ruinen im Reiche der Dinge.“ (Benjamin 1991b, 354) Benjamins Ruinen sind damit primär evidenzierende Momente eines allegorisch fragmentierten Sinns. Zu Benjamins Ruinen-Reflexion vgl. neben Raulet 1996 auch Schneider 1996. 35 Für einen stärker kulturwissenschaftlich und architekturtheoretisch akzentuierten Bestimmungsversuch einer Ästhetik der Ruinen vgl. auch die differenzierte Studie von Robert Ginsberg, der die Ruine als „linked to anachronism, anomaly, ambiguity, irony and uncanniness“ (Ginsberg 2004, 51) betrachtet und das ,vitale‘ Moment der Ruine betont, das nicht zuletzt in der Generierung einer ,neuen‘ Form zum Ausdruck komme.

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restlos garantiert werden können. Analog zur archäologischen Wiederauferstehung der Ruine als Modell, sei es als plastisches Modell in reduziertem Maßstab oder als immersiv angelegtes Projektionsmodell,36 erweist sich der Prozess einer Rekonstruktion als gleichermaßen relevant für eine Ästhetik und Poetik der Ruinen. Während archäologische Modelle jedoch eine möglichst lückenlose, detailscharfe Rekonstruktion vorlegen, die den Holismus einer untergegangenen Wirklichkeit zumindest simuliert, verlagert sich der ästhetische Prozess der Rekonstruktion in den Raum der Rezeption, in den Akt der Betrachtung und/oder der Lektüre. Auch hier erfahren Ruinen in variierenden Graden eine Verlebendigung, indem ihre ursprüngliche Ganzheit und Belebtheit zumindest als implizierte Kontrastfolie zu ihrer Gegenwart als Fragment fungiert. Hartmut Böhme hat die in diesem Zusammenhang hilfreiche Unterscheidung von „Realkörper“ und „Idealkörper“ der Ruinen namhaft gemacht, deren letzterer stets nur das Korrelat einer kontrafaktischen ,Wiederherstellung‘ in der Vorstellungskraft bildet (Böhme 1989, 293). Diese Rekonstruktion kann dabei extensiv unternommen oder nur angedeutet werden.37 Sie kann auch scheitern, wenn die Nicht-Rekonstruierbarkeit des Vergangenen konstatiert wird und die vermutete Fülle einer vergangenen Wirklichkeit noch als reanimiertes Phantom unzugänglich bleibt. Anders als das Modell, das die Ruine als Ruine rekonstruierend aufhebt, verharrt der ästhetische Prozess in der Spannung zwischen der fragmentierten Gegenwart der Ruine und ihrer möglichen Supplementierung durch die Ausmalung eines prä-ruinösen Zustands, sei es gestützt auf die Archive des kulturellen Gedächtnisses oder die ungebundene Einbildungskraft. Wo das notwendig materiell-konkrete Modell als Rekonstruktion der Ruine einem Zwang zur Eindeutigkeit unterliegt, eröffnet die ästhetische Rekonstruktion der Ruine einen Möglichkeitsraum, einen Bereich hypothetischer Vergangenheiten, der Unschärfen und Mehrdeutigkeiten ausdrücklich zulässt.

36 Vgl. hierzu etwa die Ausstellung „Von Mossul nach Palmyra. Eine virtuelle Reise durch das Weltkulturerbe“ in der Kunsthalle Bonn (30.8.–3.11.2019): „Mit Hilfe modernster virtueller Rekonstruktionen erweckt die Ausstellung diese legendären und heute zerstörten Stätten zu neuem Leben.“ https://www.bundeskunsthalle.de/ausstellungen/archivierte-ausstellungen/ virtuelle-reise.html (29. April 2021). 37 Ein Beispiel für eine solche ,holistische‘ Rekonstruktion ist Théophile Gautiers fantastische Erzählung Arria Marcella (1852), in welcher die Ruinen Pompejis zu neuem Leben erwachen. Gautiers Text konturiert dabei allerdings weniger eine eigenständige Poetik der Ruinen, sondern verweist vielmehr auf das im 19. Jahrhundert überaus populäre Immersionsmedium des Panoramas. Zu der fiktionalen Belebung der Ruinen von Pompeji in Literatur und bildender Kunst siehe den Beitrag von Şirin Dadaş in diesem Band.

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Impliziert von, doch nicht synonym mit dem Prozess der Rekonstruktion ist die Dimension der Imagination. Ihre Rolle beschränkt sich dabei jedoch nicht auf die Findung jener Supplemente, die den ,Realkörper‘ der Ruine zu einem ,Idealkörper‘ restituieren. Die Restitution vergangener Fülle im Sinne einer imaginativ vergegenwärtigten Lebendigkeit kann schließlich auch scheitern oder die Züge der Trauer annehmen.38 Gleichwohl bleibt die Rolle der Imagination nicht beschränkt auf die Zeitform der Vergangenheit, sondern vermag ebenso in die Zukunft auszugreifen, kann das betrachtende Selbst als Ruine setzen oder gar das Gesamt der eigenen Kultur oder auch eine Zukunft imaginieren, die die Ruine endgültig überwunden hat.39 In ästhetischer Betrachtung bilden Ruinen somit immer ‚Kompositwesen‘, in welchen sich die Materialität der Überreste und deren imaginative Ergänzungen, Ausdeutungen, Vereinnahmungen untrennbar miteinander verbinden. Der enge Nexus von Imagination und Ruine zeigt sich schließlich darin, dass die Materialität realer Ruinen sukzessive disponibel und ein dereferentialisierter Umgang mit Ruinen möglich wird. Die imaginative Pathosformel der Ruine funktioniert auch im Falle künstlicher oder gänzlich erfundener Ruinen. Das singuläre Aktivierungspotential der Ruine für die Imagination dürfte dennoch zurückzuführen bleiben auf die starke appellative Kraft des Untergegangenen: Für ein kurzes Interim leiht die Einbildungskraft einer vergangenen Wirklichkeit neues Leben und lindert so, wo dies gelingt, momenthaft die Drastik ihres irreversiblen Verlusts. Die enge Beziehung von Ruine und Gedächtnis kann nicht überraschen, eignen letzterem doch, wie die jüngere kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung herausgestellt hat, die Merkmale eines spezifischen Zeitbezugs wie auch der Konstruktivität, die es an den ersten der von uns vorgeschlagenen Analysebegriffe binden.40 So bilden Ruinen, anders etwa als Monumente, nicht-intentionale Gedächtniszeichen, metonymische Bruchstücke einer Vergangenheit, die nur in ihnen als Residuum fortdauert. Die Rolle des Gedächtnisses ist dabei

38 Vgl. in diesem Sinne etwa Hegel: „Der allgemeine Gedanke, die Kategorie, die sich bei diesem ruhelosen Wechsel der Individuen und Völker, die eine Zeitlang sind und dann verschwinden, zunächst darbietet, ist die Veränderung überhaupt. Diese Veränderung von ihrer negativen Seite aufzufassen, dazu führt näher der Anblick von den Ruinen einer vormaligen Herrlichkeit. Welcher Reisende ist nicht unter den Ruinen von Karthago, Palmyra, Persepolis, Rom zu Betrachtungen über die Vergänglichkeit der Reiche und Menschen, zur Trauer über ein ehemaliges, kraftvolles und reiches Leben veranlaßt worden? – eine Trauer, die nicht bei persönlichen Verlusten und der Vergänglichkeit der eigenen Zwecke verweilt, sondern uninteressierte Trauer über den Untergang glänzenden und gebildeten Menschenlebens ist.“ (Hegel 1986, 97–98). 39 So etwa in Volneys Les Ruines. Zu Volney vgl. den Beitrag von Paul Strohmaier in diesem Band. 40 Vgl. Erll 2012.

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jedoch komplex. Zum einen gilt seit der durch den Renaissance-Humanismus inaugurierten Aufwertung der griechisch-römischen Ruinen, dass diese ideale Anlagerungspunkte des kulturellen Gedächtnisses bilden; zumal ihre Betrachter üblicherweise durch ausgiebige Lektüren präpariert sind, um die Begegnung mit einer ehrwürdigen Vergangenheit gebührend zu zelebrieren. So erweist sich Petrarcas berühmter Spaziergang mit Giovanni Colonna über das Forum Romanum als Gedächtnis-Parcours, im Zuge dessen die baulichen Überreste durch Zitate klassischer Autoren und Reminiszenzen aus der römischen Historiographie ,ergänzt‘ werden und die Vergangenheit Roms als materiell-textueller Hybrid eine Verlebendigung erfährt (Fam. VI,2).41 Dieser Nexus von Ruine und kulturellem Gedächtnis gilt auch für die spätere Grand Tour, die in ihren einzelnen Etappen in weiten Teilen ein Ruinen-Programm etabliert.42 Doch nicht alle Ruinen genießen diese durch das kulturelle Gedächtnis gestiftete Vorvertrautheit. Insbesondere in der Moderne gewinnen auch jene Ruinen an Virulenz, deren intakter Zustand noch Teil des kollektiven Gedächtnisses ist und die erst in jüngerer oder jüngster Vergangenheit zu Ruinen wurden, sei es durch Krieg, (Natur‑)Katastrophen oder den Zusammenbruch politischer Systeme.43 Gerade in einer Epoche wachsender Beschleunigung können Ruinen auch zu Indizes „vergangener Zukunft“44 werden, zu Überbleibseln ausgemusterter Utopien, wie etwa die Ruinen des Industriezeitalters oder zahlreiche urbane Großbauten der klassischen Moderne. Ferner können Ruinen auch ‚stumm‘ bleiben, sich einer ‚Reanimation‘ durch die beiden genannten Gedächtnisformen grundsätzlich verweigern und damit auf Brüche in der kulturellen Überlieferung, auf opak gewordene Sinnzusammenhänge verweisen.45 Dabei ist entscheidend, dass in der Ruinen-Kontemplation mehrere Formen des Gedächtnisses konvergieren oder auch konfligieren: Während das kulturelle und das kollektive Gedächtnis überindividuelle Bedeutungsrahmen enthalten, vollzieht sich die ästhetische Thematisierung der Ruine(n) stets individualisiert im Auge des Betrachters bzw. in der spezi-

41 Zu Petrarca vgl. den Beitrag von Angela Oster in diesem Band. 42 Vgl. Buzard 2002. 43 Ein Beispiel für den letztgenannten Fall sind die zahllosen Produktionsruinen in den ehemaligen Sowjetrepubliken. Wurden zu Zeiten der UdSSR die einzelnen Komponenten z. B. für Traktoren zu Integrationszwecken bewusst über die verschiedenen Sowjetrepubliken verteilt gefertigt, so wurde diese Produktionsweise mit der Auflösung der UdSSR hinfällig und hinterließ von einem Tag auf den anderen zahllose Fabriken, die nunmehr eben wegen ihrer Spezialisierung nutzlos waren. Ein jüngst erschienener Band zum portugiesischen Theater nach dem durch die Nelkenrevolution vom 25. April 1974 bezeichneten Systemumbruch bezieht sich ebenfalls explizit auf die Denkfigur der Ruine. Vgl. Thorau 2021. 44 Vgl. (allerdings ohne Ruinen-Bezug) Koselleck 1988. 45 In diesem Fall verwandeln sich Ruinen in „Monumente des Vergessens“ (Assmann 1999, 315).  

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fischen Struktur des jeweiligen Textes oder Bildes. Dies eröffnet Spielräume für die Solidarisierung oder De-Solidarisierung mit tradierten Sinnzuweisungen: Die in den Ruinen qua Gedächtnis sedimentierten Bedeutungsdimensionen können emphatisch aufgegriffen werden (wie etwa in der Nachfolge Petrarcas) oder als unzugänglich, obsolet, verfälscht, ideologisch zurückgewiesen werden. Gerade in (post‑)kolonialen Kontexten können sich Ruinen auch zu Orten transformieren, in denen sich ein Gegen-Gedächtnis installiert, das etwa im mediterranen Raum gegen eine homogenisierende Lesart der Antike opponiert und die faktische Multiethnizität der griechisch-römischen Welt reklamiert.46 Durch diese Revisionen, Korrekturen und Umschreibungen des Gedächtnisses, die sie freisetzen, können Ruinen auch zu autorisierenden Instanzen neuer Anfänge werden. In dem umfangreichen Gedicht Las alturas de Machu Picchu aus der Sammlung Canto general (1950) empfängt Pablo Neruda, gleichsam als chilenischer Volney, beim Besuch der Überreste der ehemaligen, über 2400m hoch in den Anden erbauten Inka-Stadt den ,Auftrag‘, sich in die Gedächtnisstimme all jener Entrechteten zu verwandeln, die kein Geschichtsbuch verzeichnet: Yo vengo a hablar por vuestra boca muerta. A través de la tierra juntad todos los silenciosos labios derramados y desde el fondo habladme toda esta larga noche como si yo estuviera con vosotros anclado, contadme todo, cadena a cadena, eslabón a eslabón, y paso a paso, afilad los cuchillos que guardasteis, ponedlos en mi pecho y en mi mano, como un río de rayos amarillos, como un río de tigres enterrados, y dejadme llorar, horas, días, años, edades ciegas, siglos estelares. (Neruda 2008, 141, vv. 406–418)

Nerudas Gedicht, das sich des „viejo corazón del olvidado“ (Neruda 2008, 139, v. 357) annimmt und weit über Lateinamerika hinaus wiederum Teil des kulturellen Gedächtnisses geworden ist, macht deutlich, dass Ruinen nicht darauf festgelegt sind, Stätten offiziösen Gedenkens zu sein, sondern sich ebenso als Orte einer kritischen Memoria erweisen können, die unterdrückte Gedächtnisschichten freilegt. Auch Ruinen kann damit „eine schwache messianische Kraft“ zukommen, die es erlaubt, „die Geschichte gegen den Strich zu bürsten“ oder gar „das

46 Vgl. hierzu den Beitrag von Sara Izzo in diesem Band.

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Kontinuum der Geschichte aufzusprengen“ (Benjamin 1991a, 694–702; Kursivierung im Original).

3 Die Beiträge Der eröffnende Beitrag von Angela Oster untersucht die programmatische Überblendung des Ruinen- und Reliquiendiskurses im Spannungsfeld von translatio und restauratio in der Romideologie des italienischen Dichters Francesco Petrarca. Im Zentrum steht dessen Ablehnung des translatio-Gedankens auf politischer, kultureller und religiöser Ebene, betrachtet er doch die Machtansprüche eines Kaisers deutscher Nation sowie Frankreichs als Kulturnation und als Sitz des Heiligen Stuhls als illegitim. Dem stellt Petrarca die Vorstellung einer umfassenden restauratio Romae entgegen, welche in der greifbaren Materialität und Fragmentarität der Ruinen des ehemaligen Weltreiches eine Form der Totalität postuliert und den verfallenen Gemäuern den Status einer Reliquie zuschreibt, eines sakralen Körpers, den es tatkräftig und ruhmreich zu salvieren gilt. In diesem Sinne sind etwa Petrarcas Appelle an den Papst zu verstehen, seine vernachlässigte Ehefrau, Mutter oder zärtliche Geliebte zu retten und nach Rom zurückzukehren. Der Ruinendiskurs eröffnet somit den Blick für geschichtsphilosophische sowie politisch-religiöse Entwürfe einerseits und Techniken der frühneuzeitlichen Selbststilisierung von Literaten im Spannungsfeld ‚internationaler Affären‘ andererseits. Ebenfalls in der Frühen Neuzeit angesiedelt, zeigt der Beitrag von Stephanie Béreiziat-Lang, dass im Kontext kolonialer Machtverhältnisse die Konzepte materialer ,Ruinen‘ und eines weiter gefassten ,Ruins‘ eng verwoben sind. Er untersucht Alonso de Ercillas Chile-Epos La Araucana (1569–1589) und verortet es zwischen zwei zeitgenössischen, aber ideologisch konträren Texten: José de Anchietas De Gestis Mendi de Saa (1563) und Bartolomé de las Casas’ Brevísima relación de la destruición de las Indias (1552). Ercillas Epos kombiniert Strategien beider Texte und überlagert eine Topik des ,Ruins‘ mit der Inszenierung konkreter ‚Ruinen‘, den Trümmern außerhalb Chiles gelegener imperialer Kriegsschauplätze. Diese literarische Modellierung der kolonialen Figuration ist ihrerseits ein ruinöses Unterfangen: Eine erweiterte Perspektive auf kolonialen ‚Ruin‘ und Lévi-Strauss’ Überlegungen zur Ethnographie beleuchtet das Schreiben über den Anderen als ein grundsätzlich ‚ruinöses‘ Dilemma, das einer kraftvollen textuellen Kompensation bedarf. Constanze Baum verfolgt die Ästhetik der Ruinen in der Aufklärungsepoche anhand von Denis Diderot. Diderots Etablierung einer Ästhetik der Ruine reicht von seiner Arbeit an Artikeln der Encyclopédie bis zu den Kunstkritiken in seinem Salon de 1767 und kann als eine der prägendsten theoretischen Äußerungen des

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18. Jahrhunderts in Bezug auf das Phänomen der Ruine gesehen werden. Der Beitrag zeichnet dabei die Facetten und Widersprüche nach, die dieser Ästhetik eingeschrieben sind. Diderots ‚Poetik der Ruinen‘, abgeleitet aus der Kritik an der Ruinenmalerei Hubert Roberts, ist kein in sich geschlossenes ästhetisches Programm, sondern offenbart sich selbst nur als im Text verschüttete Bruchstücke. Zugleich bindet das Bild der Ruine auch visionäre politische Implikationen: Es kann als Gegenstand der künstlerischen Wahrnehmung von einem Symbol des Verfalls und der Zerstörung bis hin zu einem Sujet avancieren, das als offene Form trotz des Rekurses auf die Antike eine positive Bedingung für etwas Neues darstellt. Im Übergang vom Aufklärungszeitalter über die Revolution hin zur Romantik untersucht der Beitrag von Paul Strohmaier anhand von Edward Gibbon (The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, 1776–1788), Volney (Les Ruines, 1791) und Chateaubriand (Génie du Christianisme, 1802; Itinéraire de Paris à Jérusalem, 1811), wie sich um das Schwellendatum 1789 herum eine Pluralisierung der zuvor durch die klassisch-humanistische Tradition dominierten Ruinenkontemplation vollzieht. Die fragmentarischen Hinterlassenschaften der Vergangenheit bieten hierin Anlass zur Überwindung einer zyklischen Konzeption historischer Zeit und zur Bekundung historischen Selbstbewusstseins (Gibbon, Volney). Nach dem Scheitern der Revolution wiederum werden die Ruinen im Zuge einer Reaktivierung physikotheologischer Vorstellungen zu Indizien für die christlich grundierte Fragilität historischer Gestaltungsmacht (Chateaubriand). Die Ruinen erweisen sich somit als privilegierte Medien makrohistorischer Imagination; zugleich zeichnen sich in den konfligierenden Deutungen, die sie freisetzen, erste Konturen einer ‚Politik der Ruinen‘ ab. Şirin Dadaş befasst sich mit einer piktorialen Aneignung des großen Tepidariums der Forumsthermen in Pompeji: 13 Jahre nach seinem Besuch von Pompeji stellt Théodore Chassériau beim Salon von 1853 ein Gemälde mit dem Titel Tepidarium, salle où les femmes de Pompéi venaient se reposer et se sécher en sortant du bain aus. In der Analyse der Rekonstruktionsmodalitäten, die zwischen Dokumentation und Imagination oszillieren, und im Vergleich der spezifischen Antiken-Referenzen anderer klassizistischer Gemälde (von David, Ingres und Gérôme) zeichnet ihr Beitrag nicht nur die Verwandlung der antiken Ruine nach, deren fiktionale Belebung, sondern geht auch der Reflexion über die Voraussetzungen klassizistischer Kunst und ihrer partiellen Reformierung durch das Gemälde nach. Dieses reflexive Potential ist auch José-Maria de Heredias Le tepidarium (1875) inhärent, welches beides ist: eine poetische Transposition von Chassériaus Gemälde und eine Referenz auf das Bad von Pompeji. Indem das Sonett die Verweise auf ein Minimum reduziert, übersetzt es die wesentliche Eigenschaft des Ruinösen in der Sprache: Das graduelle Verstummen.

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Der Beitrag von Lars Schneider geht von der Beobachtung aus, dass die französische Literatur des 19. Jahrhunderts sich durch einen ausgeprägten Willen zur Modernität auszeichnet. Gleichwohl sind die ‚Modernisierer‘ mit den Werkzeugen der Alten noch immer vertraut und geneigt, sie weiterhin zu handhaben. Der Beitrag zeigt das Fortleben des Alten im Neuen am Beispiel des Topos des locus amoenus. Er argumentiert ausgehend von Rimbauds Le dormeur du val (1870) und Zolas L’attaque du moulin (1877) und formuliert vier Thesen: Erstens stehe der liebliche Ort jeweils im Zeichen von (Des‑)Illusion; zweitens bewirke die moderne Episteme die Historisierung/Pathologisierung seiner Motive; drittens verhandelten beide Texte die (Schock‑)Erfahrung des Deutsch-Französischen Kriegs, indem sie eine topische Ideal- in eine ‚realistische‘ Ruinenlandschaft verwandeln und, viertens, würden bei der Zerstörung des Topos die Grenzen von symbolistischer Lyrik und naturalistischer Prosa verschwimmen. Der Beitrag von Simona Oberto behandelt Joris-Karl Huysmans’ 1886 erschienenen Roman En Rade, in dessen Mittelpunkt sich die Schlossruine von Lourps befindet, wo sich bereits Teile von À rebours abgespielt hatten. Ebendiese situiert sich in einem komplexen Netz an Zuschreibungen, die das Motiv der Ruine an der Schnittstelle ästhetischer und poetologischer Diskurse verorten (Romantik, Naturalismus, Dekadenz). So wird im Artikel zunächst Huysmans’ Auseinandersetzung mit Verfahren der Romantik bzw. der Schauerromantik fokussiert, ausgehend von welchen er einen Nexus zwischen dem Bauwerk und psycho-physischer Pathologie herstellt, der sich intertextuell auf Poes maison Usher sowie Gautiers Capitaine Fracasse stützt. In einem zweiten Schritt wird die Radikalisierung jener Verfahren hin zu einer Ästhetik des Hässlichen und des Ekelhaften aufgezeigt. Die Konsequenzen dieser Verhandlungen gewinnen in der graduellen Auflösung jeglicher geschichtsphilosophischen oder teleologischen Dimension der Ruine an zusätzlicher Evidenz. Gleichzeitig wird dieselbe Ruine in der ersten Traumepisode des Romans ästhetizistisch verklärt, um zum Schauplatz der profanierenden Interpretation des Buches Esther aus der Bibel zu werden, in welcher der Autor das romantische Verhältnis von Auktorialität und Epigonalität reflektiert und erotisiert. Mit einem Wechsel auf die iberische Halbinsel untersucht Teresa Hiergeist die textuellen und ikonographischen Erzeugnisse spanischer Anarchisten in der Frühphase der Bewegung an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und wie diese – vermeintlich paradoxerweise – wiederholt auf das Bild der Ruinen rekurrieren; mal um auf die Dekadenz des bestehenden Systems zu verweisen, mal um auf eine revolutionäre Zerstörung anzuspielen, die der Schaffung einer freien, gleichen und gerechten Gesellschaft vorausgehe. Der Beitrag rekonstruiert, wie die Ruinen ihrer romantischen Konnotationen entledigt werden und wie sie durch die über sie modellierte spezifische Zeitlichkeit zu Beschleunigern des Umsturzes und Kündern einer neuen utopischen Sozialität avancieren.

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Ebenfalls im Kontext des modernen Spaniens analysiert Benjamin Loy Formen und Funktionen der Ruine im Werk dreier prominenter spanischer Autoren der Jahrhundertwende: der beiden reaktionär-traditionalistischen Autoren Ángel Ganivet und Ramiro de Maeztu sowie des linken Dichters Antonio Machado. Im Kontext der historischen Krise von 1898 mit dem Verlust der letzten kolonialen Besitzungen in Amerika und Asien kommt dem Motiv der ruinierten Nation eine doppelte Funktion zu: einmal als kritische Form zur Beschreibung des langen historischen Niedergangs des spanischen Imperiums; und zum andern als Figur, die in der Idee der Restaurationsmöglichkeit der ruinierten Nation die Hoffnung einer Auferstehung Spaniens impliziert. Diese ambivalente Dimension des Ruinen-Diskurses und ihre diversen politischen wie ästhetischen Ausprägungen werden vor dem Hintergrund der Tradition imperialer (Krisen‑)Diskurse in Spanien diskutiert. Der Beitrag von Giulia Lombardi widmet sich der Funktionalisierung der Ruinen in den europäischen Avantgarden: In den Augen des italienischen Futuristen Filippo Tommaso Marinetti werden Ruinen als Synekdoche einer starren und überholten Vergangenheit betrachtet. Im Hinblick auf eine radikale ästhetische und poetologische Erneuerung, die vehement auf die Zerstörung von bisher gültigen Paradigmen zielt, werden gleichwohl Ruinen auf der Ebene der Syntax und der Semantik produziert. Der futuristische paroliberismo wiederum beeinflusst den französischen Dichter Guillaume Apollinaire, dessen Werk, durch die synthèse von Wort und Wort (oder Wort und Bild), ebenfalls linguistische (und ikonographische) Ruinen im Text offenlegt. Anhand einer Analyse ausgewählter theoretischer Manifeste Marinettis und zweier literarischer Texte Apollinaires (La femme assise und Saillant) lässt sich eine Form von ruinösem Schreiben in den avantgardistischen Attitüden von ‚Zerstörung‘ und ‚Synthese‘ erkennen; das Moment der Lektüre avantgardistischer Texte entspricht einer syntaktischen und semantischen Rekonstruktion der Ruinen im Text. Sara Izzo untersucht die Ruinenpoetik in französischen Reiseberichten der 1930er Jahre in Auseinandersetzung mit Frankreichs bzw. Europas geopolitischen Aspirationen im Mittelmeerraum. Im Gegensatz zu den von der französischen Regierung gesteuerten archäologischen Ausgrabungen in Nordafrika, deren Ziel es war, eine kulturelle Legitimierung der kolonialen Expansion durch den Bezug auf ein vermeintlich römisches Erbe zu begründen, zersetzen diese Reiseberichte den kolonialen Legitimationsdiskurs. Die Ruinen geraten dabei ins Blickfeld einer diskursiven Gegenoffensive, die sich durch drei zentrale Strategien beschreiben lässt: die plurikulturelle Resemantisierung der Ruinen, die Konstruktion eines antirömischen Gedächtnisortes in Karthago und die Revision einer Natur-Kultur-Dichotomie. Der Beitrag von Angelica Rieger befasst sich mit zwei Texten, die im Abstand von etwa einem Jahrhundert Paris als Ruine imaginieren und somit die Denkfigur

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der antizipierten Ruine ausbuchstabieren. Die Rolle der Ruinen für das kulturelle Gedächtnis unterscheidet sich dabei grundlegend, je nach dem Blick, der auf sie geworfen wird; der eines Archäologen im letzten Drittel des 19. oder der eines Dichters und Flaneurs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dieser Wandel wird anhand von Albert Franklins Les Ruines de Paris en 4875 (1875) und Jacques Rédas Les Ruines de Paris (1977) nachverfolgt. Dabei treten Gemeinsamkeiten und Unterschiede hervor, ebenso wie das metaphorische Potential der imaginären Zerstörung einer der großen Kapitalen Europas. Hanna Steuer schließlich geht der komplexen Rolle der Ruinen im Spätwerk zweier nouveaux romanciers nach. Dabei bezeichnet der Begriff der Ruine Gebäude mit Leerstellen. Diese machen zum einen Prozesse von Zerfall und Zerstörung sichtbar und verkörpern zum anderen wie eine leere weiße Seite ein kreatives Potenzial. Insbesondere im ‚ruinösen Schreiben‘ des nouveau roman wird diese Möglichkeit der Kreation aus der Destruktion zur Anschauung gebracht. So gewinnt in Claude Simons Le Jardin des plantes (1997) und Alain Robbe-Grillets La Reprise (2001) das Spiel mit der Leerstelle der Ruine im Endhorizont des nouveau roman eine neue Gestalt, nachdem es in einer Ästhetik des Fragmentarischen das Werk beider Autoren von Beginn an prägt. Zugleich schreiben sich ihre späten Romane in einen französischen Berlin-Diskurs ein, innerhalb dessen der Ruine und ihrer Leerstelle eine Zentralfunktion für die Erinnerungsarbeit der Stadt zufällt. Die Drucklegung dieses Bandes wäre ohne die großzügige finanzielle Förderung durch den Karrierefonds der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie durch die Dr. Jürgen und Irmgard Ulderup Stiftung nicht möglich gewesen – ihnen wollen wir an dieser Stelle großen Dank aussprechen.

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Angela Oster

Ruinen und Reliquien bei Francesco Petrarca 0 Vorspann. Was vom Autor übrigblieb, oder: „Dente“ statt „Dante“ Pilgerfahrten zu religiös oder anderweitig auratisch aufgeladenen Orten haben im 21. Jahrhundert weiterhin Konjunktur. Eine nicht nur für Romanisten philologisch bedeutsame Ortschaft ist Arezzo: Dort wurde 1304 Petrarca geboren, und auf den Ruinen beziehungsweise Grundrissen des Geburtshauses ist in der Via dell’Orto ein Museum (Casa del Petrarca) errichtet. Dieses versammelt in Vitrinen Devotionalien des Autors. In einem der Schaukästen befindet sich in der hintersten Reihe ein Bildnis Petrarcas und neben diesem – ausgerechnet – ein Bildnis Dantes. Petrarca selbst hätte diese Dioskuren-Anordnung kaum gefallen, war doch sein Verhältnis zum älteren, im Zeichen der Gloria als Konkurrent empfundenen Dichterkollegen, notorisch konfliktbehaftet.1 Unterhalb der beiden Bildnisse Dantes und Petrarcas – die immerhin keine Pendant-Porträts vorstellen, da sie in verschiedene Richtungen blicken und sich somit gleichsam ignorieren – sind in gerahmten und mit Glas abgedeckten Schalen Objekte ausgestellt, die mittels erläuternder Schilder ausgewiesen werden als: „Dente e frammenti ossei provenienti dal sarcofago di Petrarca“. „Dente“ statt „Dante“ also. Der Besucher des Geburtshauses befindet sich eher in einem durch katholischen Reliquienkult infiltrierten Mausoleum, denn in einem mundanen Museum – ein Eindruck, der durch ein Stück Stoff, das von Petrarcas Mantel stammen soll,2 weiter verstärkt wird.

1 Petrarca hat die Bedeutung Dantes für sein Werk konsequent heruntergespielt. Vgl. das Kapitel Dante, il maestro negato in Santagata 1991, 23–91. Vgl. zu Petrarcas Idiosynkrasie in Kurzform Oster 2016, 86–88. Dante ist in Petrarcas Schreiben der ‚Innominato‘, so in einem Brief an Boccaccio (Familiares, 21, 15) und in Seniles 5, 2. Dante ist in den Augen Petrarcas der Dichter des ungebildeten Volkes, vgl. dazu Cachey Jr. 2009. Wie sich die Dante-Aversion in den volkssprachlichen Werken niederschlägt, dazu vgl. Küpper 2010 sowie Penzenstadler 2003. Vgl. außerdem Trovato 1979. 2 Vgl. zu Stoffreliquien Petrarcas Brambilla 2001. Der Aufsatz geht über sachkundliche Dokumentationen zu Reliquien bei Petrarca allerdings nicht hinaus. Wie wichtig Petrarca selbst seine Ehrenkleider waren, darüber geben die Epistulae Metricae Auskunft, genauerhin 2, 1 (vv. 60–70), wo es dem Autor wichtig ist, explizit auf den Mantel („Vestis honesta“, v. 61) hinzuweisen, den König Robert D’Anjou von seinen eigenen Schultern gezogen habe, um ihn huldvoll Petrarca umzulegen (Petrarca 2004, 114). [In anderen Ausgaben lautet der Titel Epistolae metricae, vgl. Wilkins 1956]. Vgl. dazu Steinicke 2005, 437: „Aus diesem Grund scheint Petrarca auch großen Wert darauf zu legen, bei seiner Dichterkrönung als sichtbares Zeichen seiner Investitur ein Gewand https://doi.org/10.1515/9783110757811-002

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Abb. 1: Vitrine Museum Arezzo: http://valdarno365.de/2016/09/petrarca-geburtshaus-inarezzo/

Weitgehend frei von sterblichen Überresten geriert sich dagegen der Musée Bibliothèque François Pétrarque in Fontaine-de-Vaucluse in Frankreich. In Italien wiederum ist der Petrarca-Pilger in der Casa Petrarca in Arquà (Via Valleselle) mit einem Relikt der speziellen Art konfrontiert. Als letzte Residenz und als Ort des Ablebens des Dichters sind bereits die Mauern des Hauses (die Petrarca selbst in den Epistolae Seniles XV, 5 schildert) als solche auratisch-metaphysisch aufgeladen, haben sie doch den letzten Atem des Dichters umfangen, dessen Gebeine – „Vatis Petrarchae sancta quod ossa foves“ – gegenüber der Pfarrkirche Santa Maria Assunta in einem Sarkophag eine immer wieder durch Exhumierungen gestörte Ruhestätte gefunden haben.3 Fragmente des petrarkischen Skeletts wurden bei diesen Gelegenheiten entwendet, unter anderem erhoffte ein Priester, mittels der Knochen des rechten Arms des Dichterfürsten dessen ‚vis poetica‘ teilhaftig zu werden.4 Im Petrarca-

des Königs von Neapel zu tragen, denn auch die Triumphatoren waren in eine toga purpurea oder tunica palmata gekleidet.“ 3 Das lateinische Zitat dichtete Janus Pannonius, zit. nach Aurnhammer 2005, 10. 4 Vgl. dazu Moschetti 1899.

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Abb. 2: aus: Carlo Leoni: La vita di Petrarca, Padova, 1843, o. S.

Museum wiederum findet sich eine unfragmentierte, ‚ganze‘ Reliquie: eine mumifizierte Katze. Das angebliche Lieblingstier Petrarcas (für den eher eine Zuneigung für Hunde verbürgt ist),5 welches vor allem ein petrarkistisches (nicht: petrarkisches) Zeugnis über die späteren Besitzer des Hauses in der Frühen Neuzeit ab-

5 Vgl. den diesbezüglich aussagekräftigen Brief 3, 5 der Epistolae Metricae, sowie Stierle 2004.

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legt, ist in einem Wandgrab untergebracht, unter dem ein Epitaph beziehungsweise zwei Epigramme beredte Auskunft zur „kätzischen“ Reliquie geben.6 Dass der Umgang mit (vor allem: menschlichen) Leichnamen in vormodernen Zeiten späteren Jahrhunderten pietätlos erscheinen kann, ist nachvollziehbar. Historisch betrachtet ist an diesem Umgang allerdings nichts verwerflich, da der Diskurs des Todes generell in älteren Epochen einen anderen Stellenwert einnahm. Niemand Geringerer als Thomas von Aquin stand dem Reliquienkult skeptisch gegenüber. Dies hinderte seine Mitbrüder nicht daran, dass das, was körperlich vom gelehrten Autor übrigblieb, nach dessen Ableben folgendermaßen traktiert wurde: Aus Angst davor, von den kostbaren Überresten des Mannes, der ebenfalls bereits zu seinen Lebzeiten im Geruch eines Heiligen gestanden hatte, auch nur einen Teil zu verlieren, haben die Mönche von Fossanuova den Leichnam des großen Gelehrten regelrecht eingemacht, nachdem er 1274 in ihrem Kloster verschieden war. Sie trennten den Kopf vom Leib, lösten die Knochen heraus und präparierten das Fleisch. Was die Mönche dem scholastischen Theologen antaten, erschien umso tragischer, als Thomas entgegen der damals geläufigen Meinung bestritt, daß den sterblichen Überresten der Heiligen eine besondere Kraft innewohne. (Kohl 2003, 63)

Auch Friedrich Barbarossas Leichnam sollte mit ähnlich wohlmeinenden Absichten im Kreuzzug, fern von der Heimat, vor dem Verfall bewahrt werden. Nachdem der Kaiser im Saleph im südlichen Anatolien bei der Stadt Seleukia ertrunken war, wurde sein Leichnam ausgenommen, zersägt, mit Salz behandelt (vulgo: gepökelt) und in Essigwasser gekocht, um Fleisch von Knochen zu trennen.7 Das alles konnte nicht verhindern, dass in der Folge die Gebeine verschollen blieben, was den Sagen rund um den Kyffhäuser Vorschub leistete.8 Was wiederum Petrarca angeht, so stellen die körperlichen beziehungsweise körperaffinen ‚frammenti‘ des Autors ein materiales Pendant zur Anlage seiner berühmten Gedichtsammlung dar, die bekanntlich vom Autor selbst nicht Canzoniere, sondern Rerum vulgarium fragmenta (RVF) genannt wurde. Volkstümliche Fragmente finden sich somit sowohl im Text als auch im nachträglichen Reliquienkult um seine Person. Dass dies keinesfalls nur anekdotischen Charakter mit metaphorisierenden Komponenten aufweist, sondern ausgehend von Ruinen zu poetologischen Quintessenzen des Autors führt, soll im Folgenden genauer dargelegt werden. Relikte – Reliquien und Ruinen – führen ‚ad fontes, ad fundamentum‘ und tragen zum Verständnis von Francesco Petrarcas Rom-restauratio bei,

6 Vgl. dazu Aurnhammer 2005. 7 Vgl. dazu Bargmann 2010 und Görich 2011, 65–67. 8 Vgl. Koch 1886.

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Abb. 3: Katze, Reliquie, Casa Petrarca in Arquà; privates Foto

die sich ausgehend von seiner Reserve gegenüber sowohl einer partiellen als auch einer monumentalen, zeitübergreifenden Übertragung (translatio) entfaltet hat.9

1 Petrarca: restauratio contra translatio Bekanntermaßen baut die Kultur der Frühen Neuzeit auf der Vorstellung einer translatio des römischen Erbes auf.10 Dieser Prozess beginnt bereits im Mittelalter und ist symptomatisch für eine gesamteuropäische Entwicklung, die Petrarca wesentlich forciert hat. Die translatio-Tradition ist dabei von Anbeginn komplexer

9 Mit Ursprüngen und Fundamenten, allerdings mit anderen Zielsetzungen, hat sich auch Barbara Vinken beschäftigt in Vinken 2002. 10 Die folgenden Zeilen des Unterkapitels knüpfen an folgenden Aufsatz an: Oster 2008 (vgl. dort Genaueres zu den Konzepten von translatio und restauratio) und setzen dessen Überlegungen im Zeichen von Ruinen und Reliquien fort.

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und heterogener konfiguriert, als es vereinheitlichende Semantiken suggerieren. Denn innerhalb der proliferierenden Romideologie – ihrer Attraktion und Aneignung – artikulieren sich relativ früh quer zu ihr kontra-römische Texte in Form von Widerständen und Verwerfungen, deren historische Relevanz sich maßgeblich in Ruinendiskursen dokumentiert. Petrarcas restaurative Romideologie kollidiert bereits zeitgenössisch mit der – vor allem französischen – von Ruinen inspirierten translatio-Idee, die auch im 16. Jahrhundert (und darüber hinaus) von ungebrochener Aktualität bleiben wird.11 Rom und Avignon beziehungsweise Paris: Dies ist die Formel einer andauernden italienisch-französischen Polemik im Trecento. Petrarca ist ein kompromissloser Gegner des translatio-Gedankens. Illegitim ist für ihn die Übertragung des Römischen Reiches – die translatio imperii – auf die Kaiser deutscher Nation; illegitim die translatio studii von Rom nach Paris, und illegitim nicht zuletzt die translatio ecclesiae von Rom nach Avignon. Stellvertretend sei auf die von Petrarca pompös geschilderte römische Dichterkrönung zum poeta laureatus hingewiesen, die Petrarca (so seine eigene stilisierte Aussage in Familiares 4, 4; der Adressat ist Giovanni Colonna) zu Ungunsten einer angeblich gleichzeitig an ihn herangetragenen Offerte aus Paris angenommen habe.12 Am Ostertag 1341, dem 8. April, wurde Petrarca auf dem Kapitol in Rom – genauer: im Senatssaal auf dem Kapitol, dessen Rückseite bezeichnenderweise auf die Ruinenlandschaft des Forums blickte – zum Dichter gekrönt.13 Genau dies ist wichtig: der Ort. Rom. Das Kapitol. Die Wiederbelebung der Alten zieht sich wie ein roter Faden durch das Schreiben Petrarcas.14 Ob Petrarca sich mit seiner fundamentalistischen Rom-Em-

11 Die in diesem Band versammelten Aufsätze geben dazu vielfältig Auskunft. Vgl. außerdem Oster 2019. 12 Wahrscheinlich hat Petrarca seine Dichterkrönung selbst massiv in die Wege geleitet und drängte sich als Kandidat auf, was nicht nur ein Fall für „Petrarcas große Gesten“ ist (so Überschrift und Inhalt von Kap. V, 3 in Stierle 2003, 430–474), sondern von seiner immer wieder auch suggestiven Kulturpolitik zeugt. Dass Petrarca gewillt ist, Kommunikation zu manipulieren, indem er bspw. bereit ist, Missverständnisse vorzutäuschen, gibt er selbst freimütig zu, so in Bezug auf Robert d’Anjou in seinem Brief an Dionigi da Borgo San Sepolcro, Familiares 4, 2: „alioquin fingam nescio quid audiisse, vel epystole sue sensum, quam ipse michi summa hominis incogniti et familiarissima dignatione transmisit, quasi dubitans, in eam potissimum partem traham, ut vocatus videar“ (Petrarca 2008a, 164). 13 Vgl. Suerbaum 1972. Vgl. außerdem zu den einschlägigen Dokumenten Petrarcas (und zur grundlegenden Forschung) Mertens 1988. Auf die Dichterkrönung Petrarcas wird im Verlauf des Aufsatzes weiter eingegangen werden. 14 Dass keinesfalls Petrarca nach über tausend Jahren der Erste ist, dem wieder der Lorbeer zuteilwird, verschweigt er selbst geflissentlich. Bereits 1315 wurde Albertino Mussato für sein Werk Ecerinis zum poeta laureatus gekrönt – allerdings in Paris, was für Petrarca bereits Grund genug gewesen sein dürfte, diesen Vorgang zu ignorieren.

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phase allerdings tatsächlich lediglich in einer fiktiven Ordnung bewegt, wird im Folgenden genauer zu hinterfragen sein. Denn die Ästhetisierung Roms als einer fernen Geliebten weist zwar sicherlich nicht von der Hand zu weisende Parallelen zum idealisierenden Laura/Lorbeer-Kult des Canzoniere auf. Die ‚Idee Rom‘ scheint gleichwohl nur als Rückkehr zu ihren realen Wurzeln, zu ihren konkreten Texten, Objekten und Orten denkbar zu sein.15 Mit der Entscheidung für Rom und gegen Paris stellt sich Petrarca ostentativ auf die Seite des restauratio-Konzeptes und gegen die Idee der translatio. Rom bleibt für Petrarca, entgegen aller bereits seinerzeit evidenten materiellen Dekadenz der Ruinen, eine unverzichtbare Einheit, die es zu restaurieren gilt. Petrarca war ein akribischer Archivar und Sammler von Zeugnissen der antiken, wenn auch ruinösen Pracht Roms, das für ihn in alle Ewigkeit zur Weltherrschaft bestimmt war: „Si imperium romanum Rome non est, ubi, queso, est?“16 Auch wenn er den Untergang Roms, für den die Ruinen der Stadt bürgen, als historische Realität akzeptiert, wird dies vor allem dafür ausschlaggebend, dass er das Konzept der mittelalterlichen translatio konsequent ablehnt. Zwischen der vergangenen Pracht Roms und der eigenen ruinösen Gegenwart gibt es keine Kontinuität im Sinne einer geschichtlichen Legitimität, wie sie vor Petrarca noch Dante vertreten hat. Beide Welten sind radikal voneinander geschieden. Rom ist für Petrarca eine abgeschlossene, vergangene und von der eigenen Zeit klar unterschiedene Epoche. Insofern ist der berühmte Brief an Giovanni Colonna (Familiares 6, 2) mit dem Incipit „Deambulabamus Rome soli“ keinesfalls als präromantische Ruinenverklärung der Stadt Rom zu lesen, sondern fungiert zunächst als Zeugnis einer nüchternen Bilanz der Vergangenheit (Petrarca 2008b, 55). Geschichte ist für Petrarca nicht mehr, wie im Mittelalter üblich, typologisch lesbar, sondern sie ist nurmehr im Modus der Wiederbelebung zugänglich. Auf den ersten Blick besehen, ist Rom ein zerfallenes, ruiniertes, ja „gebrochenes“ („fracte“) Rom: „Et euntibus per menia fracte urbis et illic sedentibus, ruinarum fragmenta sub oculis erant“ (Petrarca 2008b, 58). Seinem Ingenium, so schreibt Petrarca, sei der Zerfall der zurückgelassenen Relikte abträglich: „ingenio meo relictarum a tergo rerum fragor officit“ (Petrarca 2008b, 59).17 Im Spiegel der Ruinen Roms, ihrer Rekonstruktion, Imagination und Gedächtnisstiftung werden die mythisierenden Komponenten der textuellen restauratio Romae reflektierbar, was wiederum verdeutlicht, warum Petrarca entgegen

15 Ob sie auch im Sinne einer rinascimentalen aemulatio überbietbar ist, lässt Petrarca hingegen offen. Vgl. zu Petrarcas Wegbereitung der Renaissance Regn 2006. 16 So Francesco Petrarca im Brief an das römische Volk, anlässlich der Auslieferung Colas an Karl IV. nach Avignon (Petrarca 2003, 565). Vgl. zur Omnipräsenz Roms im Schreiben Petrarcas Disselkamp 2013 sowie Huss und Regn 2009. 17 Auf den Brief wird im Folgenden noch genauer eingegangen.

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dem translatio-Konzept bei der Reanimation Roms auf der Rückkehr zum Ursprung selbst insistieren muss. Denn jegliche irdische Geschichte ist in die anfängliche Schöpfung eingelassen, und nur durch diese ‚Kontamination‘ ist ihr das Heil verheißen, jedoch nicht aus einer natürlich fundierten Gegenwart heraus, die ihren Sinn in sich selbst sucht. In diesem Zusammenhang fällt in Francesco Petrarcas in lateinischer Sprache geschriebenen Texten auf, dass er zwar Vokabeln des Fragments und der Ruine verwendet, teilweise in unmittelbarem Zusammenhang, so beispielsweise in Familiares, 6, 2: „fracte urbis et illic sedentibus, ruinarum fragmenta sub oculis erant“ (Petrarca 2008b, 55). Daneben verwendet er aber auch das, was wir als ‚Reliquie‘ kennen, so in Familiares, 2, 14: „Vere maior fuit Roma, maioresque sunt reliquie quam rebar“ (Petrarca 2008a, 103). Ausgehend von dieser scheinbaren Marginalität erhebt sich eine nicht unerhebliche Frage, nämlich, inwiefern dieser Reliquienbezug Petrarcas translatioReserven eventuell mit zusätzlichem Interpretationsspielraum auflädt. Wenn Petrarca die translatio – vor allem die Verlagerung des Papstsitzes von Rom nach Avignon – ablehnt, dann beinhaltet das zwar eine Absage an Frankreich, aber womöglich vor allem eine Fürsprache für etwas, was nicht einfach als Kulturimperialismus oder Vorform des Nationalismus verbucht werden kann. Und wenn Petrarca statt der Translation eine Rückkehr zu den Ursprüngen verlangt und selbst mit bestem Beispiel vorangehen will, indem er in Familiares 6, 2 in den Ruinen wandelt, dann handelt es sich buchstäblich um eine Energiearbeit ‚ad fundamentum‘, ‚ad fontes‘. Das alte Rom ist zwar bereits im Mittelalter unwiederbringlich verloren, aber ihm eignet weiterhin – selbst als Fragment, als Ruine und Relikt – die Kraft und Macht dessen, was im 14. Jahrhundert Reliquien auszeichnete, die in stetig zunehmendem Ausmaß florierten. Die üblichen Charakterisierungen Petrarcas als Vorreiter der Renaissance im Sinne der Wiedergeburt Roms scheinen diesen Aspekt bislang kaum zu berühren. Die ‚Fundamente‘ der translatio stellen in der Position Petrarcas eine Matrix imaginärer Gedächtnisprodukte bereit, deren facettenreiche Rasterung sich in Varianten von Ruinen/Reliquien-Überblendungen in seinem Werk wiederholt, das die Bruchstücke und Fragmente Roms aufsammelt und wieder zusammenfügt. Beide Wortfelder und Diskurse – Ruinen und Reliquien – sind in Petrarcas Schreiben auf das Engste miteinander verwoben.

2 Petrarca: Ruinen und restauratio Ruinen sind materielle Überreste sesshafter Kulturen beziehungsweise ihrer Bauwerke, die im Zeichen des Verfalls stehen. Es war Walter Benjamin, der bezüglich der Ruine von einem „hochbedeutende[n] Fragment“ gesprochen und in seinem

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Buch Ursprung des deutschen Trauerspiels zur Ruine angemerkt hat: „Allegorien sind im Reiche der Gedanken was Ruinen im Reiche der Dinge. […] Was da in Trümmern abgeschlagen liegt, das hochbedeutende Fragment, das Bruchstück: es ist die edelste Materie der barocken Schöpfung“ (Benjamin 1978, 155–157). Benjamin hat auf beeindruckende Weise demonstriert, dass „Realien“ zwar allegorisch für zerfallende Vergangenheit einstehen, doch sie sind auch kontinuitätsstiftende Geschichtszeichen im Sinne einer‚vergangenen Zukunft‘.18 Benjamin sieht in dem Bild der Ruine eine Verräumlichung des Zeitlichen im Modus des Vergangenen. Ruinen, das sind zeitliche Raum-Zeichen, deren Dimensionen Spektren des Verfallenen, des Bruchstückhaften, des Grabhaften umfassen. Auf die Fragmentarizität im Werk Petrarcas wurde bereits verwiesen. Allerdings ist das spätmittelalterliche Fragment, durchaus auch entgegen der Beteuerungen von Petrarca selbst (die man getrost als Bescheidenheitstopoi verbuchen darf), nicht mit einer Mangelerscheinung, mit einer Defizienz im modernen Sinne zu verwechseln.19 Petrarca funktioniert vielmehr das überlieferungsbedingte Fragment der realen Ruinen in ein Schreiben als produktionsbedingtes Fragment um.20 Ungeachtet der Verfallenheit Roms sieht sich Petrarca in diesem Sinne als Verwalter des nach wie vor sichtbaren Genius loci. Denn dass in dem offensichtlichen Schutt der Ruinen, in seiner gleichwohl noch greifbaren Materialität hartnäckig eine Form der Totalität, eine singuläre Fülle lebendig bleibt, davon ist Petrarca fest überzeugt. Dass deren Kontinuität (nur scheinbar) paradoxerweise in der Folge eine Diskontinuität benötigt, um ihre Virulenz zu bewahren, war für Petrarca ebenfalls evident.21 So schreibt er in der vielfach kommentierten „Spirto gentil“-Canzone 53 der RVF (vv. 29–36): L’antiche mura ch’anchor teme ed ama, E trema ‘l mondo, quando si rimembra Del tempo andato, e ‘ndietro si rivolve; E i sassi dove fur chiuse le membra Di tai che non saranno senza fama Se l’universo pria non si dissolve;

18 Vgl. außerdem Koselleck 1988. 19 Vgl. zur diesbzgl. Abschwächung des Volkssprachlichen in ostentativer Abhebung zu Dante Küpper 2010, 116. Vgl. exemplarisch außerdem Malcher, Müller, Philipowski und Sablotny 2013, 11: „Fragmentarität bezeichnet immer die Bezogenheit eines Gegenstandes auf eine abwesende Ganzheit und zielt damit auf eine Kategorie der Form, deren Signum Defizienz ist: Als Fragment wird eine unvollständige und darin eben bezogene Form bezeichnet.“ 20 Vgl. dazu Disselkamp 2013, 1. 21 Damit sind keine Schwellenfiguren oder Orte des Übergangs gemeint, so die Mutmaßung von Hennigfeld 2008. Vgl. dazu die pointierte Kritik von Regn 2014/2015, 131, Anm. 12.

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E tutto quel ch’una ruina involve, Per te spera saldar ogni suo vizio. (Petrarca 1989, 272–273)

Das Gedenken („rimembra“) der antiken Gemäuer („antiche mura“) und Ruinen („ruina“) ruft ostentativ den Ruinendiskurs auf. Unter der Oberfläche von Staub und Schutt sind Körperteile eingeschlossen („fur chiuse le membra“), die auch die Erinnerung des „ri-membra“ mittels eines einfachen Endreims aus einer entfernten, lediglich mentalen Erinnerung in eine körperbetonte Präsenz katapultieren. Die Tilgung der Vorsilbe (‚ri‘-) lenkt den Blick der Lesenden auf den toten Körper, der pietätvoll mit „sassi dove fur chiuse le membra“ indiziert ist. Es handelt sich zwar um keine „rime sparse“ (RVF, 1, v. 1) (Petrarca 1989, 5), vereinzelter „membra“, aber auch um keinen einheitlich evozierten Leichnam, da im Plural von „le membra“ die Rede ist. Dass eine synekdochische Lesart nicht ausgeschlossen ist (vgl. RVF, 126, v. 2: „le belle membra“) unterstreicht die bewusst in der Schwebe gehaltene Zuordnung von Teil(en) und Ganzem (Petrarca 1989, 588).22 Weitere klassische Referenzen, wenn es um Petrarca und die Ruinen geht, sind seine Rombesuche in den Jahren 1337 und 1341, die er in den bereits zitierten Familiarum rerum libri 2, 14 und 6, 2 schildert. Diese Briefe sind bestens erforscht.23 Dem sei hier lediglich eine kleine Beobachtung, auf der Folie der soeben getätigten Rekapitulation von RVF 53, hinzugefügt. In Familiares 2, 14 möchte Petrarca Giovanni Colonnas Bedenken zerstreuen, der ihm vom Besuch Roms abgeraten hatte, da ihn die dortigen Ruinen („ruinose urbis“) nur enttäuschen könnten (Petrarca 2008a, 103). Ganz das Gegenteil sei aber der Fall gewesen, so korrigiert Petrarca Colonnas Befürchtung. Er sei vielmehr geradezu sensationiert gewesen, ja seine Erwartungen seien sogar noch übertroffen worden. Petrarca wechselt an dieser Stelle auffälligerweise das Wortfeld wenn er schreibt, die Trümmer seien an Größe kaum zu überbieten gewesen: „maioresque sunt reliquie“ (Petrarca 2008a, 103). Reliquien statt Ruinen also. Dass Petrarcas Überblendung von Ruinen und Reliquien keinesfalls vereinzelt dasteht und von ihm mit Methode vorgenommen wird, sei im Folgenden an weiteren Beispielen demonstriert.

22 Bezeichnend ist des Weiteren, dass es für ‚Reliquia‘ keinen geläufigen Singular im Lateinischen gibt, im Mittelalter ist in der Regel von Reliquiae sanctorum oder Sanctae reliquiae die Rede. 23 Nach wie vor grundlegend Wilkins 1960. Vgl. außerdem stellvertretend Antognini 2008, Berra 2003 und Billanovich 1995.

Ruinen und Reliquien bei Francesco Petrarca

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3 Petrarca: Reliquien und restauratio Die Krönung seiner Karriere erfuhr Petrarca durch die Verleihung des Dichterlorbeers in Rom (1341). Nicht nur in diesem Zusammenhang erweist sich, dass für Petrarca lange Zeit Neapel in der Rangfolge der Städte gleich nach Rom folgte. Er hielt sich zur Vorbereitung seiner Dichterkrönung in Neapel auf, das ihm quasi als Sprungbrett nach Rom diente: „videnda Parthenope; inde erit Romam“ (Petrarca 2008a, 171).24 Petrarca wurde in Neapel von König Robert d’Anjou auf seine Tauglichkeit als Dichterfürst geprüft. In der Folge kultivierte der Dichter einen „RobertMythos“ und rechnete sich Chancen auf eine illustre Anstellung am neapolitanischen Hofe aus, was (so zumindest die Wahrnehmung Petrarcas) durch den Tod Roberts unterbunden wurde.25 Mehr als Mythen interessieren im vorliegenden Zusammenhang die Materialien, mit denen Neapelreisende während ihrer Aufenthalte in Berührung gekommen sind. Denn Neapel war bereits im Duecento und Trecento eines der europäischen Zentren des Reliquienkults.26 Dies hat seinen Ursprung in der Kultur der Katakomben, die ähnlich wie die Ruinen Roms auf antike Wurzeln zurückverweisen.27 Petrarca dürfte davon nicht unbeeindruckt geblieben sein,28 zumindest evozieren diesen Eindruck seine Texte. Zum Teil gelangt dies in

24 Seine Examinierung in Neapel durch König Robert schildert Francesco Petrarca superlativisch („Sacrarum scriptuarum peritissimus, philosophie clarissimus alumpnos“) in Petrarca 1955, 41 (=1, 37). 25 Vgl. zum „Robert-Mythos“ Stierle 2003, 386–391. Vgl. ähnlich Pryds 2000, 43–44. 26 Vgl. dazu Romano 2001, 206. 27 Vgl. zur neapolitanischen „Präsenz der Toten“ Richter 2005, 9–18. In Rom wurden die Katakomben dagegen weitgehend erst im 16. Jahrhundert erschlossen, vgl. Koudounaris 2014, 23 und 32–36. 28 In den Epistolae Metricae, in 2, 15 (Ad Rainaldum de Libero Pago Veronensem) (Petrarca 2004, 202–209), schildert Petrarca eine spätere Neapelreise, in der er ausdrücklich (und enttäuscht vom neuen Machthaber) „die Bücher mied und die Feder zurückweis“ (vgl. v. 26) und stattdessen ‚Kulturkunde‘ betreibt, indem er sich anschickt „die Orte ringsum zu besuchen“ (vgl. v. 27f.) und ihre „ruine / Sparsa [sic!]“ (v. 33f.) in Augenschein zu nehmen. Er besichtigt außerdem, und dies anscheinend nicht zum ersten Mal, unterirdische Höhlen und Grotten, die er mit dem Tartarus vergleicht (v. 54). Styx, Orcus, Charon und weitere Bestandteile der Unterwelt zeigen an, dass Petrarca Katakomben besucht hat und sich mit seiner Schilderung auf den Spuren des Themas der Katabasis befindet (wiederum unter ostentativer Aussparung der Jenseitsreise Dantes, aber mit Anleihen bei Vergils Aeneis, Buch 6). Die neapolitanischen Katakombenkulte unterlagen im 14. Jahrhundert volkstümlichen, der offiziellen Kirche nicht immer genehmen Praktiken des ‚Hokuspokus‘ (die Formulierung resultiert aus der Verballhornung des ‚Hoc est enim corpus‘ in der Wandlung der Heiligen Messe). Aus diesem Grund dürfte Petrarca an dieser Stelle nicht explizit auf die Reliquien Neapels eingehen, mit denen er bei seinem Gang in die neapolitanische Unterwelt aber zwangsläufig in Berührung gekommen ist.

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beiläufigen Wendungen zum Ausdruck, so bereits bald nach den Neapel/RomReisen, wenn Petrarca in Familiares 4, 7 an König Robert von Sizilien/Neapel schreibt: „De reliquo aute, novissimi verbi tui ut ad te quamprimum redeam sine intermissione meminero“ (Petrarca 2008a, 174). Das etymologisch auf ‚Übrige(n) s‘ im Sinne von ‚Reste‘ zielende „reliquo“ hätte Petrarca durchaus mit mundaneren Wendungen aus dem Wortkreis des ‚ceterum‘ ausdrücken können. Der Reliquienbezug setzt sich fort, beispielsweise in Familiares 4, 10, wenn er im Brief an Pellegrino von Messina den Tod des Freundes Tommaso Caloiro betrauert. Zu Beginn ist es die „Seele“ des Dichters, die trauert („animi mei“), doch richtet sich ihre Trauer dezidiert auf den „amici corpus“, dem er ein Epigramm widmet (Petrarca 2008a, 176). In Familiares 4, 11 (an Giacomo von Messina) präzisiert Petrarca zudem die Zielrichtung seiner Trauer, die ihn wünschen lässt, dem Freund im Tod nachzufolgen. Fiebrig glaubt er sich dem Ziel nahe. Er will die Pforte des Todes durchschreiten („trasire vellem“), als er just in diesem Moment bezeichnenderweise kein Dantisches „Lasciate ogni speranza, voi ch’entrate“ (Inferno, 3, 9) liest (Alighieri 2001, 79), sondern „in foribus scriptum erat: ‚Noli adhuc, nondum venit hora tua.‘“ Keine profane translatio, sondern ein kategorialer und damit willkommener Übertritt („trasire“) stand Petrarca in Aussicht, der seinen profanen Körper („carne commercium“) dem erlösten „amici corpus“ aus Familiares 4, 10 zugesellt hätte (Petrarca 2008a, 4, 11 und 179).29 In den metrischen Briefen, so im Versbrief Ad Paulum Hanibalensem Romanum („An Paolo Annibaldi in Rom“; Epistolae Metricae 2, 12), erinnert Petrarca die Tränen, unter denen der Adressat ihm die zerstörten Mauern des bedauernswerten Roms („miserabile, Rome“, v. 26), die Zeichen der fragmentierten Heimat („patrie fragmenta“, v. 29) gezeigt hätte. Diese seien vom Einsturz bedroht und müssten von ihm (Paolo) beschützt werden: „nec sospite Paulo, / funditus ista ruent manibus convulsa nefandis“ (v. 30f.). Was nun Petrarca im Folgenden schildert, ist bemerkenswert. Er hält (gemeinsam mit Paolo) rhetorisch die schützende Hand über den drohenden (weiteren Ver)Fall („cadentis“, v. 35) des „greisen Roms“ („Roma senex“, v. 35), um dieses zu stützen und aufzurichten: „Sustentare manu fessam, relevare iacentem“ (v. 39; der Anklang an die österliche ‚resurrectio‘ ist deutlich) (Petrarca 2004, 180). Das persistente Ruhmesverlangen Petrarcas dient in der Folge als Scharnierstelle zur hier interessierenden Kernstelle des Briefs: „Nec te parva manet servatis fama ruinis; / Et quanta integre fuit olim gloria Rome, / Reliquie testantur adhunc“ (vv. 42–44). Wiederum verschiebt sich das Wortfeld von der Ruine hin zur Reliquie. Als Reliquie sind die Gemäuer des verfallenen Roms weiterhin lebendig, und nur durch tatkräftige Hände sind die Ruinen

29 Auch der folgende Brief Familiares 4, 12 bleibt der Thanatologie treu.

Ruinen und Reliquien bei Francesco Petrarca

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Roms ruhmreich zu salvieren. Das zeitgenössische Volk Roms sei allerdings für diese greifbare Lösung blind, ja trage frevelhafterweise zum Abbruch der heiligen Mauern bei: „quas longior etas / Frangere non valuit, non vi saut ira cruenti / Hostis, ab egregiis franguntur civibus. Heu, heu! / Que rabies!“ (vv. 44–46). Petrarcas Urteil über die spätmittelalterlichen Römer steht fest: „hostile opus est“ (v. 55); der daraus resultierende Ruhm der Tilgung der ‚reliquiae‘ sei infam: „infamia laudi“ (v. 63) (Petrarca 2004, 182). Ganz besonders schweres Reliquiengeschütz im Horizont römischer Ruinen fährt Petrarca im langen Brief an Papst Clemens VI. auf, dessen Papstsitz in Avignon (anstatt in Rom) dem Dichter ein Dorn im Auge ist.30 Zu Beginn des Briefes inszeniert sich Petrarca als Anwalt des verwaisten Roms, dessen Tränen und flehende Briefe in Gestalt der vernachlässigten Ehefrau bislang den als „cara [sic!] marito“ (v. 7) apostrophierten Papst nicht zur Heimkehr bewegen konnten. „[R] elicte [!] / Coniugis“ sei Rom und mit ihm Petrarca, und selbst deren Grabesnähe bewege den Ungetreuen nicht dazu, endlich die Heimat aufzusuchen: „expectans senui sposumque morantem / Increpitans revocansque domum. […] / saltem solatia mortis […].“ (vv. 2–3; v. 9). Die Reliquien-Isotopie, die etymologisch bereits mit dem „relicte“ einsetzt, wird fortgeführt. Nicht theoretisch solle sich der „pater o sanctissime patrum“ mit der Frage des entseelten Körpers beschäftigen: „questio lenta retardat, / Quid videant anime felices, corpora postquam / Exuerint“ (vv. 12–14). Sondern praktische Rettung sei gefragt, da der bislang regierende Papst (gemeint ist Benedikt XII.) nunmehr das Zeitliche gesegnet habe, was der Witwe aber nur kurzfristige Trauer abnötigt. Schließlich ist der neue, strahlende Gemahl bereits in Sicht: eben Clemens VI., den die petrarkisch unterfütterte Romstimme zunächst geziemend verhalten (der ‚Gatte‘ Benedikt ist schließlich erst kürzlich verschieden), dann jedoch alle künstliche Trauer von sich werfend emphatisch begrüßt. In einer bemerkenswerten, geradezu freudianischen Volte avant la lettre, deren ödipale Deutlichkeit nichts zu wünschen übriglässt – „Letior haud caro genetrix fuit obvia nato“ (v. 36) – tritt Rom und mit ihm Petrarca dem neuen Pontifex strahlend als Mutterfigur entgegen, um sich anschließend wieder in der angestammten Genderrolle dem neuen Machthaber superlativisch und honigsüßlich zu Füßen zu werfen: „Ante pedes ventura tuos, dulcissime coniunx“ (v. 40). Lockungen werden fortgesetzt, denn in Rom erwartet den Langersehnten eine unersetzbare Tradition, ein strahlendes Reich, von dessen Spuren Ruinen und Reliquien zeugen. Um den womöglich angesichts solcher abgelebten Attribute einer verfallenen Geliebten zögernden Pontifex nicht abzuschrecken, werden die ‚Überreste‘ zunächst nicht im expliziten Register der Mortifikation zur Sprache ge-

30 Weiterhin Petrarca 2004, 134–147 (2,5: Ad Clementem VI. Romanum pontificem).

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bracht. Sondern die Literatur übernimmt gleichsam die Funktion des mit Edelsteinen blitzenden Reliquienschreins, dessen Oberfläche behutsam zu den kruden – aber eben heiligen, weil „reinen“ – ‚Partikularitäten‘ beziehungsweise Fragmenten des Leibes überleitet: „Puraque ex carne recisam / Particulam infanti“ (vv. 68–69); „fragmina vestis“ (v. 69). Auf den Spuren Roms wandeln, dies bedeutet, an die steinernen und sonstigen materiellen Spuren seiner Vergangenheit anzuknüpfen, so an die Fußspuren im Stein: „Nonne pedis iuvat in solido vestigia saxo“ (v. 59). Und als besondere Verlockung wird als Köder nichts Geringeres als die Umschreibung des Schweißtuchs der Veronika (Sudarium Christi) ausgeworfen: „Fixa salutiferi faciemque agnoscere Christi, / Vel que femineo servatur condita panno“ (vv. 60–61), sowie im Folgenden weitere Reliquien, die behutsam den Weg ebnen, um dann endlich eines der kruden – gleichwohl: heiligen – Leichenteile beim Namen zu nennen. Allerdings setzt sich die Abschwächung insofern fort, als Petrarca gleichsam ‚nur‘ eine Reliquie der ‚abgeleiteten Klasse‘ anführt:31 Nämlich den (abgetrennten) Finger der Heiligen Agnes, den Petrarca als rhetorische Frage einführt: „Quid digitum Agnetis?“ (v. 71). Ausgerechnet einem Leichenteil werden kupplerische Funktionen überantwortet. Zum römischen Ehebund vermag der karge, knöcherne Finger den in Frankreich abtrünnigen, zögernden Papst zwar wohl kaum zu bewegen. Doch spekuliert Petrarca in der Darbietung des kleinen Fingers gleichwohl zuversichtlich auf die gesamte Papsthand, indem er die erwartbare Abwehr mit einer schillernden und aus dem Canzoniere sattsam bekannten Isotopie von Glut, Flamme und funkelndem (Ehe)Ring auf dem fragmentierten Agnesfinger wenn nicht zu blenden, so doch zumindest zu beschwichtigen versucht: „Ut nunc quoque fulgidus ornet / Annulua, imposuit cupida quem mente minister / Prorsus inardescens, sacroque assenserit illa / Coniugo ac tali palacrit federe flammas?“ (vv. 72–74). Gleichsam ein Hänsel – allerdings à rebours, ohne Gretel und ohne apotropäische Funktion – avant la lettre, streckt Petrarca als sagenhafter ‚Herr der Ringe‘ dem liebeshungrigen Pontifex statt eines gemästeten Fingers nur einen kleinen Knochen entgegen. Die dekadenten Sprachbilder und rhetorischen Fragen des ruinösen Zerfalls, so brüchige Ziegel und ähnliches mehr, setzen sich fort, und Petrarca benennt weiterhin behutsam, aber zunehmend ungeschminkt die ‚nackte‘ Wahrheit von Knochen, Gebeinen, Körperfragmenten, Blut und Grabge-

31 In Bezug auf die Christusreliquien ist zu unterscheiden zwischen Reliquien erster Klasse (Milchzähne, Vorhaut, Blut, Haare, Nabelschnur) und solchen zweiter Klasse: Leidenswerkzeuge (Arma Christi) der Kreuzigung Christi, Fußabdrücke, Palmsonntagszweige und Kleidungsstücke (bis hin zur im Aachener Dom aufbewahrten Windel). Reliquien dritter Klasse sind die mittelbaren Berührungsreliquien, die mit Reliquien erster Klasse in Berührung standen. Vgl. dazu im Detail die Studie von Hesemann 2000.

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Abb. 4: Finger des Hl. Valentin, Katakombenheiliger in Bad Schussenried. Aus: Koudounaris 2014, 47.

wölbe: „Quis cun[c]ta Calisti/ Funera dinumeret cumulis surgentia miris? / Osseus est paries illic, ubi terra cruentis / Imbribus et sacra distillant tabe caverne. / Quis ve Vaticano latitantia corpora claustro / Expediat“ (vv. 97–101). Immer ungehemmter lässt Petrarca schließlich auch Mengen an geheiligtem Blut fließen und schildert dramatische Szenen des Alten und Neuen Bundes, wobei parallel – und beglaubigt durch die Reliquien – die Ruinen Roms zu neuem Leben erwachen: „marmore bella / Ista nichil motura animum et vulgata relinquo“ (vv. 127–128). Dem folgen weitere bühnenreife Szenen, so ein temperamentvoller Dialog zwischen einer (weiteren) Witwe und einem „römischen Herrscher“ (Petrarca spielt mit „Romani […] Principis“, vv. 150–151, auf eine Legende im Umkreis des Kaisers Traian an, der einer flehenden Witwe Gehör geschenkt haben

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soll).32 Sämtliche Argumente und Bilder haben ein einziges Ziel: den neuen Papst zur ‚Reparation‘, das heißt zur Restauration der Ruinen Roms zu bewegen: „Templa situ lassique tremunt iam menibus arces / Pretenduntque gravem, nullo reparante, ruinam“ (vv. 181–182). Da dieser jedoch immer noch schwerhörig zu sein scheint, greift Petrarca nun zum letzten Mittel und lässt das Wunder der Reliquie in vollem Glanz auferstehen: Bei einem Brand rettet ein Priester das Haupt des Pancratius, und wiederum wird die Reliquie in eine Szenerie des Glänzenden, Flammenden eingetaucht. Die Reliquie erfährt eine denkwürdige Verlebendigung („monstrum memorabile semper!“, v. 211). Schweiß und Tränen entspringen dem mumifizierten Kopf, und das Volk ist Zeuge: „Testis adest populus“ (v. 213). Wiederum wird der Blick von den offensichtlichen Ruinen auf die verborgenen Reliquien gelenkt, deren Macht „immens“ (und immanent) erhalten bleibt: „Crebris confusa ruinis / Menia reliquias immense et flebilis urbis / Ostentant lacrimasque movent spectantibus“ (vv. 235–237). Bereits diese Auswahl an Beispielen macht deutlich: Petrarcas Ruinen knüpfen ostentativ an den bereits im Mittelalter virulenten und später so genannten Diskurs der ‚Reliquiae antiquae urbis Romae‘ an,33 dessen Substanz konzeptuell der Translation Roms einen Riegel vorschiebt. Das Register der Reliquien wird von Petrarca mit Bedacht und jeweils gezielt im Kontext von Ruinen im (aus der Sicht Petrarcas: vermeintlichen) Zwiespalt von translatio und restauratio verwendet. Dies erweist zusätzlich der Vergleich mit anderen, divers intendierten und konstruierten Szenen von Gebeinen und Grabmälern. Petrarca verwendet nämlich an anderen, prinzipiell vergleichbaren Stellen seines Schreibens durchaus ein Reliquien-freies Vokabular: „Terribilem, si vera ferunt, in limine mortem / Vidisti intrepidus, nobis tunc ossa referri / Iussisse ac patrio pallentia membra sepulcro / Diceris et clautro Vaticani corpus humandum“ (Petrarca 2004, 44, vv. 176–178).34 Dies lässt sich besonders pointiert in Petrarcas Reisebuch zum Heiligen Grab (Itinerarium ad sepulcrum Domini nostri Iesu Christi) nachverfolgen. Dieser Text wäre dem Inhalt nach für eine Reliquien-Narration geradezu prädestiniert gewesen. Und tatsächlich finden sich entsprechende, wenn auch nur vereinzelte Wortfelder neben denjenigen der zahlenmäßig sehr viel intensiver vertretenen Ruinen. Doch ganz anders als in den zuvor präsentierten Beispielen unterbleibt eine programmatische Überblendung von Ruinen- und Reliquiendiskurs. Der Grund ist offensichtlich. Das Heilige Land ist anders als Rom für Petrarca kein aktueller Zankapfel zwischen translatio und restauratio. Jerusalem ist für 32 Vgl. den Kommentar bei Schönberger (Petrarca 2004, 351). 33 Overbeke 1708. 34 Vgl. exemplarisch des Weiteren Petrarca 2004, 104, 130 („sparsus cinis iste sepulcro“, v. 19), 154 („ossa Roberti“, v. 24) und 186.

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Petrarcas peregrinatio schlichtweg kein Politikum, sondern lediglich der – wenn auch geschätzte – Ort der christlichen Andacht. Nicht auf die Rückeroberung des Heiligen Landes richtet sich das ‚Kreuzfahrerethos‘ Petrarcas, sondern auf die Rückverlagerung des Papstsitzes von Avignon nach Rom. Und auch beziehungsweise gerade weil Petrarca im Reisebuch zum Heiligen Grab den italienischen Etappen auf dem Weg ins Heilige Land nahezu ebenso viel Raum zugesteht, wie dem Ziel selbst, ist die lediglich beiläufige Nennung Roms umso auffälliger. Den Grund dafür nennt Petrarca explizit. Gerade weil Rom exzeptionell ist, kann es entweder nur als Total- oder als Randfigur zur Sprache kommen: „Illic sane cum fueris, scito te a regina urbium Roma non nisi duodecim passuum milibus abesse, de qua si tam parvo in spatio loqui velim, intolerandae nimis audaciae sim, cuius gestis ac gloriae totus orbis angustus est, cuius nomini libri linguaeque omnes non sufficiunt.“35 Dessen ungeachtet bleibt Petrarca in seinem Reisebuch zum Heiligen Grab dem materiell fundierten Heilsgeschehen im Horizont des Totenkults treu.36 Was die Überreste illustrer Herrscher nach ihrem Ableben angeht, ist Petrarcas Reaktion zweigeteilt. Er unterscheidet zwischen zerstückelten Leichen, mit vom Rumpf abgetrenntem Kopf (so bei Pompeius): „lacerum cadaver abscisumque trunco caput“ (Petrarca 1999, 68). Dies ist der profane, der sterbliche Körper des Herrschers. Daneben gibt es aber noch einen anderen Körper. So habe Augustus Caesar, auf die Frage hin, ob er nach dem „Alexandri corpus“ auch denjenigen des Ptolemaios sehen wollen, formvollendet geantwortet: „elegantissime regem ait se videre velle, non mortuos“ (Petrarca 1999, 68). Dies erinnert frappant an Ernst Kantorowicz’ ‚Lehre der Zwei Körper des Königs‘, in welcher im Austausch zwischen Mortifikation und Animation eine kollektive Totensorge sichtbar wird.37 In dieser ist es beispielsweise nicht deplorabel, wenn ein Sarg gar nicht oder nur zum Teil besetzt werden kann (beispielsweise aufgrund von Verstümmelungen oder verschollenen Leichnamen). Der Kenotaph fungiert dessen ungeachtet als hochgradig aufgeladenes Zeichen, da er die Abwesenheit gleichwohl ja re-

35 Petrarca 1999, 24 und 26. Dass Rom nicht beiläufig beschrieben werden kann, darauf pocht Petrarca auch in Familiares 2, 9: „Neque nunc ego romanas prosequor laudes: maior res est quam ut possit a transcurrente tractari“ (Petrarca 2008a, 96). 36 Vgl. dazu Frömmer 2018, 68–92. Frömmer bietet einen instruktiven Überblick über Petrarcas Itinerarium und sieht den Totenkult Petrarcas in Schemata der Dekadenz verwurzelt (vgl. exemplarisch 77–78). Sie interpretiert Petrarcas Romdiskurs als „literarischen Topos“ (85), was die „physische Reise“ (86) folgerichtig in den Hintergrund treten lasse. Nun sind physische Beglaubigungen bei Petrarca stets notorisch unscharf, was aber sein Insistieren auf realpräsentische Versicherungen buchstäblich nicht tangiert. Dass Petrarca die „Materialität der Körper und Bilder transzendiert“ (88), wäre ausgehend von Ruinen und/als Reliquien eventuell neu zu überdenken. 37 Vgl. Kantorowicz 1957.

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präsentiert und symbolischen Raum für die unsterblichen Relikte des Königs bietet. Die Wirkmächtigkeit ist mit einem zeit-, aber nicht unbedingt raumenthobenen Potential aufgeladen. Tote Körper(teile) sind nicht an jedem beliebigen Ort wirksam (dazu im folgenden Abschnitt mehr). Genau dieser Punkt trifft in den Kern der petrarkischen restauratio und Anti-translatio und trägt zur Beantwortung der Frage bei, warum Petrarca im Rahmen seiner Rom-Ideologie allein mit Ruinen nicht stichhaltig genug argumentieren kann, sondern konsequenterweise Reliquien bemühen muss. Reliquien stellen, was den sterblichen und unsterblichen Anteil von Herrschaftsdiskursen angeht, eine exzeptionelle Schnittstelle dar. Sie verleihen der Realpräsenz der Ruinen Roms eine Autorität, die Petrarca in Hinblick auf seine Degradierung Avignons als Papstsitz vorzüglich instrumentalisieren kann. Petrarca wird in der gegenseitigen Durchlässigkeit von Ruinen und Reliquien zum Translator einer Rom-Rekonstruktion mit ungeheurer legitimatorischer Kraft, denn in den Relikten manifestiert sich realpräsentisch die flüchtige Transzendenz des göttlichen Heils als funktional-ontologisches – und keineswegs nur ästhetisch-fiktionales – Äquivalent. Leib und Blut Christi werden in der Eucharistie wahrhaft gegenwärtig, und der Akt der Wandlung hat die ontologische Funktion, eine Verbindung zwischen Mensch und Göttlichem durch Nähe oder gar Berührung zu schaffen. Inwiefern die christliche Realpräsenz, die in Petrarcas ästhetischer Instrumentalisierung von Reliquien und Ruinen aufscheint, eben auch diese funktionalen Relevanzen mit sich führt, wird im Folgenden noch genauer zu erörtern sein.

4 Ruinen und Reliquien als Relikte der restauratio Zu Beginn dieses Aufsatzes wurde bereits auf Petrarcas Reliquien im Sinne eines genitivus objectivus verwiesen. Im Vergleich zum Diskurs der Ruinen wurde demjenigen der Reliquien im Sinne eines genitivus subjectivus bei Petrarca in der Forschung bislang keine Beachtung geschenkt. Tatsächlich nehmen Reliquien in Petrarcas Denken einen wichtigen Raum ein, der nicht ohne Folge für seine Überlegungen zum Agon zwischen Restauration und Translation geblieben ist. Es geht um legitimationsstiftende Ruinen, die analog zu den wirkmächtigen Reliquien eine römische Stabilität in Aussicht stellen, die das moderne Avignon in politischen und religiösen Krisenzeiten (so die Sicht Petrarcas) nicht garantieren kann, selbst wenn Trümmer und Reliquien auf dem Weg der translatio nach Frankreich überführt würden. Denn Folgendes ist diskursanalytisch betrachtet der Fall:

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Heilige Knochen wirken nun aber nicht aus sich oder sind von jedem beliebigen Verwahrort aus aktivierbar. Erst die tatsächliche Verfügungsgewalt über die Knochen vermag in Ordnungsprozessen Vorteile zu verschaffen, denn durch die Vorstellung einer Realpräsenz der Heiligen in ihren Knochen schreibt man jenen das Vermögen zu, Legitimation zu sichern, Heilung zu spenden und Wunder zu bewirken. (Rader 2006, 25)

Außerhalb des Katholizismus, aber durchaus auch innerhalb desselben, lösen Reliquien und ihre Kultivierung – wie bereits zu Beginn dieser Ausführungen kurz angerissen – nachvollziehbare Reserven oder gar Irritationen aus. Wenn Reliquien vorschnell als nekrophile Praktik eingeordnet werden, dann wird allerdings womöglich Petrarcas Diktum zum ‚finsteren Mittelalter‘ unzulässig Vorschub geleistet.38 Von daher seien einige klärende Worte zum Reliquienkult vorgebracht. Denn bei aller etwaigen Befremdung darf nicht vergessen werden, dass die Reliquienrituale im Kern eine Respektsbezeugung vor den Toten darstellen. In christlichen, aber auch nicht-christlichen Überzeugungen (besonders bekannt sind die ägyptischen Mumien) übernimmt die Konservierung von Toten in noblen Sargstätten die Funktion, diese vor einer ewigen, ruhelosen Wanderung zwischen den Welten der Lebenden und Toten zu bewahren.39 Wunder, Heil, Macht und anderes mehr gehen von mittelalterlichen Reliquien aus, die deshalb auch selten ihre Grabesruhe fanden, sondern immer wieder und durchaus auch legitimiert durch die Katholische Kirche ‚transferiert‘ wurden. Dass Petrarca diesen Aspekt geflissentlich in seinen Texten ausspart, ist seiner interessengeleiteten anti-translatio geschuldet. Reliquien sind zwar per definitionem nicht unbeweglich, aber diese Funktion übernehmen sie in Petrarcas ‚sesshaftem‘ Rom-Modell konsequenterweise nicht. Ihm geht es auch nicht um magische Materialien, sondern um die Manifestation geheiligter Relikte im Sinne

38 Zu Petrarca als Urheber des Diktums vom ‚finsteren Mittelalter‘ ist nach wie vor grundlegend: Mommsen 1942. Nur am Rande sei des Weiteren angemerkt, dass sich im Vergleich angesichts zeitgenössischer Ausstellungen von „Körperwelten“ und Plastinationsverfahren der Konservierung, die besonders publikumswirksam der Anatom Gunther von Hagen inszeniert, die Reliquien der Katholischen Kirche geradezu harmlos ausnehmen. Vgl. Hagen 2018. 39 Vgl. zu vorchristlichen Reliquien Hartmann 2010. Die „reliquiae“ sind nicht mit den „gemmae“ zu verwechseln. Dies ist der Irrtum von Heckscher und seiner darauf fußenden, nicht haltbaren These zu Reliquien, auch bei Petrarca. Bereits Heckscher missversteht des Weiteren ‚fragmenta‘, ‚ruinae‘, ‚reliquiae‘ als „‚Zwischenreiche‘“ oder „Hilfskonstruktionen“ und als „Sammelbegriff“ (Heckscher 1936, 27 und 28) – eine Fehlinterpretation, die sich tendentiell bis in jüngere Forschungen fortgesetzt hat (vgl. Anm. 21). Für Heckscher ist es evident, dass der Reliquie nur ansatzweise Bedeutung bei Petrarca zukommt, ja sich die „‚reliquiae‘ nicht durchzusetzen vermochte“ (Heckscher 1936, 29) – was ebenfalls eine Fehldeutung darstellt. Dessen ungeachtet kommt Heckscher das Verdienst zu, das Wortfeld von Reliquien, Gemmen u. ä. m. bei Petrarca in seiner Studie zumindest wahrgenommen zu haben.

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von reliquiae sanctorum oder sanctae reliquiae.40 Den Reliquien eignet substantiell eine mediale Funktion. Sie vermitteln aufgrund ihrer göttlichen Vollmacht zwischen Diesseits und Jenseits. Während in den Anfängen der Reliquiengeschichte des Christentums noch weitgehend der unversehrte Körper intendiert war, der als totum pro parte die Allmächtigkeit der Religion indizierte, ging man in der Folge dazu über, auch dem pars pro toto heilsgeschichtliche Kraft zuzusprechen. Es wurden nun einzelne Teile von Körpern sowie Gegenstände, die in enger Berührung mit dem verstorbenen Körper standen, ebenfalls heilsmächtig. Ein Stück Stoff, das ein Heiliger einst am Körper trug, Splitter vom Kreuz Jesu oder ein Becher – einen solchen besaß sogar Luther – wirkten mit metonymischer Kraft im Kontext sozialer Praktiken, auch dann wenn sie lediglich als Fragmente, dann aber gleichwohl synekdochisch als pars pro toto fungierend, vorhanden waren.41 Ruinen wären so besehen, und zwar gerade dann, wenn Petrarca sie auffällig häufig mit Reliquien in Verbindung setzt, keinesfalls nur handfeste Trümmer. Sie gehen aber auch nicht in der Funktion des Auratischen Walter Benjamins auf.42 Die Wirkkraft der Ruine qua Reliquie ist vergleichsweise handfester konstruiert, denn sie steht mit der Vergangenheit in direkter – und nicht lediglich auratischer und auch nicht allegorischer – Berührung und indiziert eine unübertroffene Größe, deren Ursprung nicht verloren gegangen ist.43 Es besteht eine kontagiös be-

40 Vgl. Angenendt 1994, 157. Eine gesonderte, in diesem Aufsatz nur am Rande (mit Bezug auf Petrarcas Reise zum Heiligen Grab) interessierende Sakralmobilität sind die Wallfahrten zu Stätten des Heiligen (vgl. dazu ebenfalls Angenendt 1994, 133). 41 Demnach wären die Tunika Petrarcas bzw. das Stück Stoff, das von ihm stammen soll und im Museum Arquà ausgestellt ist, ästhetische Teilreliquien (vgl. den Vorspann des Aufsatzes). Luther war – ungeachtet seines Diktums, dass „alle [Reliquien] tod ding“ seien – im Besitz eines sogenannten Hedwigsbechers, dessen Name auf die Hl. Hedwig (1174–1243), Herzogin von Schlesien, zurückgeht. Einer dieser Becher soll Wasser zu Wein verwandelt haben. Vgl. Laube 2007, 435 und 433 (dort auch das Luther-Zitat). 42 Eine Reliquie ist exklusiv, nicht ubiquitär. Vgl. hingegen Benjamins ‚Aura‘: „Erstens erscheint die echte Aura an allen Dingen. Nicht nur an bestimmten, wie die Leute sich einbilden. Zweitens ändert sich die Aura durchaus und von Grund auf mit jeder Bewegung, die das Ding macht, dessen Aura sie ist. Drittens kann die echte Aura auf keine Weise als der geleckte spiritualistische Strahlenzauber gedacht werden, als den die vulgären mythischen Bücher sie abbilden und beschreiben“ (Benjamin 1985, 588). 43 Die Allegorie (so die Interpretation bei Vinken 2002, 58) ist als eine „translatio continuata“ (Horn 1978, 277) auf Petrarcas Ruinenpoetik – im Licht der Reliquien betrachtet – schwer anwendbar. Während Allegorien, wie bereits der Begriff indiziert, ‚Anderes‘ aussagen, basiert die Ruine qua Reliquie auf Tautologie. Ihre Rhetorik entspricht ihrer Ontologie: Eine Reliquie ‚ist‘ qua Realpräsenz das, was sie ‚ist‘ (vgl. dazu auch Dinzelbacher 1990, 140–142). Diese realpräsentische Formel knüpft an das biblische, unaussprechliche Tetragramm ‚JHWH‘ an, das nur scheinbar eine Leerstelle indiziert, tatsächlich aber – und dies sehr aussagekräftig – auf die Nicht-Substituierbar-

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dingte Kontinuität zwischen altem und neuem Rom, die in der restauratio das Alte mit fortträgt – weshalb die allzu dynamische Translation Frankreichs in Petrarcas Augen ein völlig verfehltes Unterfangen darstellt. In Avignon kann ‚Rom‘ lediglich als analogische Metapher wirksam werden, fernab von kraftvollen metonymischen Realisierungen. Das Römische vermag nur in Rom selbst seine Kraft zu entfalten, weil es materielle Träger benötigt, die kompromisslos zwar in verfallenen, dessen ungeachtet greifbaren Bezügen zur Vergangenheit stehen. Die zeitgenössischen Insignien des Papsttums entbehren in Frankreich ihre ursprüngliche Fülle qua Präsenz und verliert damit ihre Wirksamkeit.44 Beide, Ruinen und Reliquien, entfalten damit eine besondere Wirkmächtigkeit, Sie sind göttlich legitimierte Energieträger und Kraftquellen, die trotz ihrer Verfallenheit oder im Fall von Reliquien manchmal sogar in ihrer wundersamen Unversehrtheit nicht ‚korrumpiert‘ sind. „[T]oto corpore, quasi adhuc viveret, integro“, „corpusculum incorruptum“ sind gängige Wendungen zur zeitgenössischen Beschreibung von Reliquien.45 Diese nehmen ihren Ausgang in biblischen Verweisen, so in Psalm 33, 21: „custodit omnia ossa eius / unum ex eis non confringetur“ und Psalm 15, 10: „non dabis sanctum tuum videre corruptionem“.46 Das ‚Nicht-Zerbrochene‘ („non confringetur“) oder auch ‚Nicht-Zerstörbare‘ steht dem „Korrumpierten“ („corruptionem“) – das ist das ‚Verderbte‘, und hier: der (verwesende) Leichnam – entgegen. Nachdem im frühen Christentum zunächst nur der ‚nicht zerlegte‘ Körper als Reliquie taugte (es sei denn, dieser hatte vor-

keit der göttlichen Gegenwart verweist (dazu im Folgenden mehr). Auf der Folie der hier erörterten Thesen greift die Definition von „Geschichte“ in der anregenden Argumentation von Vinken zu kurz: „Geschichte hängt von Rhetorik ab“ (Vinken 2002, 51). „Vergegenwärtigung“, so ist festzuhalten, ist bei Petrarca gerade eben nicht nur „ein Effekt einer Ökonomie von Zeichen“ (Vinken 2002, 46). Kablitz hat auf die Fallstricke postmoderner Lektüren hingewiesen, die „gewissermaßen von einer Ontologie der Leere zur Leerstelle der Ontologie“ wechseln (Kablitz 2016, 28). 44 Dass Petrarca durchaus selbst metaphorische Anleihen macht, wenn er Ruinen und Reliquien miteinander in Verbindung setzt, kann er gelassen in Kauf nehmen, da letztlich klar eine Beziehung der Kontiguität zwischen beiden Bereichen gestiftet wird, die in real-sachlichen Zugehörigkeiten fundiert ist. 45 Vgl. zu den genannten Begriffen und Konzepten grundlegend den Aufsatz von Angenendt 1991, 322–323. Angenendt macht darauf aufmerksam, dass die diesbzgl. euphorischen Berichte zu unversehrten Grabeskörpern wahrscheinlich „entsprechend ‚gestreckt‘ sind“ (328): „Für die Vorstellung des ‚corpus integrum‘ scheint es im Minimum genügt zu haben, daß die Gebeine beieinander waren“ (ebd.). 46 Hier und im Folgenden zitiert nach: Biblia sacra 2007. Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Auch bei Dante wird der Vergleich ‚korrupt‘/‚inkorrupt‘ in dem oben geschilderten Sinne aufgefasst, so schreibt er in seiner Monarchia (III, 15): „Nam homo, si consideretur secundum utranque partem essentialem, scilicet animam et corpus, corruptibilis est; si consideretur tantum secundum unam, scilicet animam, incorruptibilis est“ (Dante 1989, 242).

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mals als Märtyrer die Integrität seines ‚ganzen‘ Körpers verloren),47 änderte sich dies in der Folge.48 Es geht mithin, zumindest ist dies im vorliegenden Kontext bei Petrarca der Fall, nicht mehr um Realitäten ‚ganzer Körper‘, sondern um die Funktion, die mit dieser Idee einhergeht.49 Der Reliquien-Diskurs dient Petrarca dazu, die Autorität Roms als christlich-antike Hybride zu veranschaulichen. Sowohl (heidnische) Antike als auch (christliche) Gegenwart sind als Realpräsenz – dies ist Petrarcas entscheidendes Argument – nur in Rom erfahrbar und wirksam. Nur in Rom selbst können die Wurzeln der Ruinen und Reliquien, ontologisch gedacht, eine restauratio erfahren: eine ‚wirkliche‘ (reale) Gegenwart (Präsenz). Dabei kommt es Petrarca gelegen, dass die Realpräsenz von Reliquien, anders als die Eucharistie, weitgehend ein Theologumenon darstellt.50 Indem er den antiken, kontaminierten Ruinendiskurs Roms auf dem Umweg des Reliquienkultes in den liturgischen christlichen Horizont einrückt, wertet er ihn eschatologisch auf. Gerade weil die Reliquien nicht auf derselben unantastbaren Stufe stehen wie die Sakramente der Wandlung, gleichwohl aber höchste Diginität für sich beanspruchen dürfen, sind sie für poetische Texte oder gar Invektiven vergleichsweise geeigneter. Reliquien sind Sakramentalien, die dem ‚ex opere operato‘ des neutestamentarischen Dogmenvollzugs der Sakramente nicht Genüge leisten

47 Im Codex Theodosianus aus dem Jahr 438 war Zerteilung von Toten, Umbettung von Leichen und Handel mit Körper(teile)n ausdrücklich verboten: „Humatum corpus nemo ad alterum locum transferat; nemo martyrem distrahat, nemo mercetur. Habeant vero in potestate, si quolibet in loco sanctorum est aliquis conditus, pro eius veneratione quod martyrium vocandum sit, addant quod voluerint fabricarum“ (IX 17, 7, zit. nach Swinarski 2000, 61, Anm. 20). Dass Reliquienteilungen erst ab dem 9. Jh. gebräuchlich wurden, darauf weist Angenendt nachdrücklich hin. Vgl. Angenendt 1991, 335. 48 Vgl. Angenendt 1991, 330–331. Die Unantastbarkeit von Reliquien wurde zunächst vorwiegend im gallikanischen Liturgiebereich aufgehoben, während Rom weiterhin darauf pochte, dass das Grab intangibel sei. Dass das Sakrileg der Öffnung von Gräbern ausgerechnet von den ‚Galliern‘ ausging, dürfte für den Gallien-kritischen Petrarca ungeachtet seiner Reliquien-Anleihen ein weiterer Ausweis für ihre prinzipielle Barbarei gewesen sein. 49 Dieser korporale, auf Reliquien basierende Diskurs ist in der Petrarca-Forschung bislang nicht beachtet worden. Dies dürfte u. a. dazu geführt haben, dass Petrarcas „corporism“ als „materially immanent“ zu fraglichen Interpretationen der Immanenz geführt hat (Mazzotta 1993, 20 und 121– 122). 50 Siehe dazu Ewerszumrode 2012, 205–256. Die Eucharistie ist Teil der christlichen memoria. Sie vergegenwärtigt etwas Vergangenes, jenseits des historischen Mundanen. Denn Tod, Auferstehung und Heil Christi verdichten sich in einer unentwegten Gegenwart, die allerdings weniger unentwegt erinnert, als stetig erneuert werden muss. Es ist Jesus selbst, der im Heiligen Mahl als Realpräsenz gegenwärtig ist: ‚vere, realiter et substantialiter‘. Die Eucharistie ist eine Feier, und zwar eine des Lebens, nicht des Todes. Der Tod des Herrn wird in der Eucharistie gefeiert, weil er kein Ende, sondern das Durchgangstor zum ewigen Leben darstellt.  

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müssen, sondern ‚ex opere operantis‘ auf Glaubenspraxis aufruhen. Wichtig ist im Mittelalter und damit auch für das Schreibens Petrarcas, dass eine gnadenhafte Heilkraft, ungeachtet aller zeichenhaften Vermittlung für den begrenzten Geist des Menschen, der Aktivität Gottes entspringt, die in ihrer Wirkung unmittelbar ist, weil sie ursprünglich ist. Lokale Gegenwart und universale Omnipräsenz schließen einander in dieser ‚Lehre‘ der Unbegreiflichkeit nicht aus. Bei diesem Präsenzdenken schlägt weniger zu Buche, dass in Zeiten der Krise die Aussicht auf Stabilität verheißen wird.51 Diese Funktion könnten andere Diskurse gegebenenfalls ähnlich übernehmen. Wichtiger ist, dass die Kraft der Reliquie sich als Anwesenheit eines Abwesenden vollzieht, die im Ansatz immer schon in den Überresten vorhanden ist. Wenn wie gezeigt in Petrarcas Modell die Wirkkraft von Ruinen analog zu derjenigen von Reliquien funktioniert, dann resultiert daraus folgerichtig, dass aufgrund der Unverzichtbarkeit des Kontagierens, des materiellen Kontakts mit Rom ‚als Ganzem‘, die Ruinenlandschaft Roms der einzige Ort ist, an dem sowohl religiöse als auch politische Größe Roms ‚wiedererstehen‘ können. Petrarca instrumentalisiert in seiner Argumentation die christliche Leibtheologie mit ihren realpräsentischen Implikationen. So wie Leib und Blut Christi in der Eucharistie wahrhaft gegenwärtig sind, ist die päpstliche Wahrheit strikt an die Ruinen Roms gebunden. Von daher stellt die Translation der Papstkurie für Petrarca eine einzige Anmaßung dar. Lediglich als Restauration kann das Heil Christi und mit ihm die Kraft Roms wiederhergestellt werden. Und dazu braucht es die ‚Berührung‘ ad fundamentum, ad fontes.52 Ausgehend von den römischen Ruinen entfaltet sich Reliquien-gleich die Strahlkraft einer restauratio ecclesiae, einer restauratio imperii und einer restauratio studii. Eben dies soll der abtrünnige Papst in Avignon, der, wie bereits gesehen, in Epistolae Metricae 2, 5 als untreuer Ehemann gezeichnet wird, endlich einsehen. Die Geliebte Avignon ist eine unzüchtige Buhlschaft („famosa dicam an infamis meretrix fornicata cum regibus terre!“) (Petrarca 2001, 318), deren Verbindung aller Sakramente und Legitimation entbehrt, während die Ehefrau Roma geduldig und im Kern ihrer Ehre durch die Irrfahrten des Ehemannes unberührt, die Rückkehr der abtrünnigen Ehehälfte erwartet. Die physischen Überreste von Ruinen und Reliquien zeugen von etwas Einmaligem in Rom, das zum Vorbild wird: Reliquiae antiquae urbis Romae.53 Im Mittelalter war eine handfeste „Wiederverwendung von Antike“ gerade auch in ihren

51 Vgl. zur damaligen Dialektik von Krise überkommener Ordo-Konzepte und Suche nach neuen Stabilitäten Buckl 1995. 52 Vgl. Angenendt 1991, 333. 53 Vgl. Anm. 33.

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Abb. 5: Titelbild von Simone Martini im Codex Ambrosianus, Mailand, Biblioteca Ambrosiana, Ms. 79 inf., fol. 1v. Wikimedia Commons.

‚unchristlichen‘ Anteilen durchaus legitim und sogar geläufig,54 allerdings eher als versteckte, getarnte Praxis, nicht als offen ausgestelltes Programm – an dem Petrarca ja wesentlich gelegen war. Dies dokumentiert sich auch in Petrarcas berühmtem, dem privaten Nutzen vorbehaltenen Codex Ambrosianus, der vermutlich zwischen 1320 und 1325 in Avignon entstanden ist und dessen von Simone Martini angefertigtes, materiell hochwertig ausgestattetes Titelblatt den im Schatten lagernden antiken Dichter Vergil zeigt.55

54 So wurden Sarkophage als Grablege wiederverwendet oder als Reliquienbehälter. Vgl. Esch 2005, 48. 55 Vgl. zu Medialität und Buchdruck bei Petrarca den Band von Mehltretter 2009.

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Bei Ruinen und Reliquien handelt es sich um traditionsstiftende, religiöse Relikte, wobei es Petrarca in seinem gesamten Werk stets schwergefallen ist, die mundanen Komponenten seiner Schriften zu beschönigen.56 Die irdische Liebe zu einer Laura konnte kein Heilsträger sein. Auch heidnischen Ruinen sind diesbezüglich von vornherein Schranken gesetzt, die Petrarca aber geschickt umgeht, indem er den antiken Ruinen eine quasi-johanneische Funktion zuweist: So wie Johannes dem eigentlichen Messias in der Bibel den Weg bereitet hat, so sind die Ruinen massive und als solche unentbehrliche Vorboten der sich später fundierenden Heilskirche und ihrer heiligen Mauern. Sie haben teil am letztlich Numinosen der zeitlos-transzendenten Heiligkeit, die sich aber seit dem Neuen Testament ‚manifestieren‘ muss, um wirksam zu sein. Reliquien- und Ruinenkulte erlangen in dieser typologischen Auslegung erst über ihre materiellen Rahmenbedingungen Relevanz.

5 Gloria und Lorbeer: Ruinierung und Restauration durch Reliquien Petrarca setzt dem Stellenwert von Reliquien durchaus auch Grenzen. Aus den entsprechenden Belegstellen ragen Petrarcas Zeugnisse „nördlich der Alpen“ hervor.57 In Köln nimmt Petrarca ausgehend von den Märtyrer-Jungfrauen einen noch weitgehend edlen und intakten Reliquienkult wahr, der vom Umgang mit „Kadavern“ ausdrücklich abgehoben wird: „Vidi tot simul trunca milia sacrarum virginum et terram generosis dicatam reliquiis ac degenerum, ut aiunt, cadavarum expultricem“ (Petrarca 2008a, 29).58 Petrarcas Verehrung kulminiert in der Betrachtung der Heiligen Drei Könige im Kölner Dom, die er interessanterweise als „Magier“, genauer als„Magorum ibi regum corpora“ bezeichnet (Petrarca 2008a, 30). Das ist zwar durchaus konform zur biblischen Betitelung im griechischen Ausgangstext, wo die drei Weisen ebenfalls als ‚Magoi‘ zur Sprache kommen. Gleichwohl wird die sakrosankte Triade von Petrarca in ein schiefes Licht gerückt, da im ausgehenden Mittelalter die Bezeichnung „Magier“ zwi-

56 Vgl. dazu Kablitz 1998. 57 Der unlängst erschienene Band von Della Schiava 2018 greift diesen Aspekt nicht auf. 58 Im Lateinischen kann sich der Ausdruck ‚cadaver‘ (anders als im modernen – despektierlichen – Ausdruck ‚Kadaver‘) zunächst weitgehend wertfrei sowohl auf menschliche als auch tierische Leichname beziehen. Darüber hinaus ist eine weitere mögliche Bedeutung der ‚Trümmer‘, was im vorliegenden Kontext insofern dann doch wertend zum Tragen kommt, als Petrarca ‚cadaver‘ und Reliquien ausdrücklich voneinander abhebt.

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schenzeitlich nurmehr im Kontext des volkstümlichen ‚Hokuspokus‘ mit seinen magischen Praktiken zum Tragen kam.59 Dagegen wurden die biblischen ‚Magoi‘ im Mittelalter generell und in Köln ganz speziell – das auf seine heiligen Reliquien besonders stolz war – praktisch nie schmucklos ohne Heiligentitel apostrophiert.60 Das Delikate ist allerdings, dass es eine Kanonisation und damit eine offizielle Heiligsprechung der sogenannten „Heiligen Drei Könige“ nie gegeben hat. Im Martyrologium Romanum der römisch-katholischen Kirche, das sämtliche Märtyrer und Heiligen enthält, sind die drei ‚Magoi‘ bis auf den heutigen Tag nicht aufgeführt.61 Diese mangelnde Beglaubigung war Petrarca selbstredend bekannt, und er weigert sich ganz offensichtlich, nur der schieren Höflichkeit zuliebe den drei Königen sakrosankte Weihen zuzusprechen. Er verweltlicht sie vielmehr ostentativ und sogar in gesteigertem Maße, indem er sie ‚nur‘ mit „königlichen“ („regum“) Attributen ausstattet, deren säkulare Verankerung durch die schmucklose Beschreibung als „corpora“ (und größer könnte der Unterschied zwischen weltlichem Körper und heiliger Reliquie kaum zum Ausdruck kommen) noch gesteigert wird. Petrarca führt seine Beweggründe für die offensichtliche Degradierung der drei Könige nicht explizit aus. Im Kontext des Reliquienkults dürfte es sich aber so verhalten, dass die übermäßige Translation der Kölner Reliquien für Petrarca dafür ausschlaggebend ist, dass diese ihrer Würde – ungeachtet aller Verehrung des Dichters („venerabundus aspexi“) – partiell verlustig gegangen sind. Nicht nur von Osten nach Westen, sondern zusätzlich strapaziert durch das Durchlaufen von gleich drei Stationen, hat die ursprüngliche Strahlkraft der königlichen Reliquien in ihrem touristischen Marathon nachgelassen.62 Petrarcas Reserven kommen auch in seinem Hinweis zum Ausdruck, dass der Kölner Dom zwar herrlich, aber unvollendet sei. Er möge zwar der „höchste“ Dom sein, doch

59 Siehe Anm. 28. 60 Nur rund dreißig Jahre nach Petrarcas Kölnaufenthalt fasst die Historia trium regum des Iohannes Hildesheimensis die Hagiographie der drei Weisen und ihre kultische Verehrung im Mittelalter emphatisch ins Wort, vgl. Hofmann 1975. Johannes beginnt seinen Text mit folgenden, die Heiligkeit der Könige betonenden Worten: „Liber de gestis et translacionibus trium regum. Incipiunt gesta et facta. In I capitulo huius libri qui est collectus de gestis et translacionibus sanctorum trium Regum […] ornatus est eorum reliquiis venerandias.“ Oldoni 2009, 2. 61 Vgl. Martyrologium Romanum 2004. 62 Neben der Quantität der Überführungen lehnte Petrarca ein weiteres Mal die Translation als solche ab. Als Gast in Köln hat er die Regeln des Anstandes zwar augenscheinlich gewahrt, gleichwohl war er sicher ebenfalls der Ansicht, dass „die Verbringung der Dreikönigsreliquien nach Köln […] schon deshalb ein Sonderfall (war), da sie zumindest nicht nur Translation war. Sie stellte unbestreitbar auch einen Reliquienraub dar“ (Finger 2015, 70). Des Weiteren darf nicht vergessen werden, dass es maßgeblich Kaiser Friedrich Barbarossa zu verdanken war, dass die Reliquien der Drei Heiligen Könige nach Köln transferiert wurden (vgl. dazu Floß 1864, 30–31).

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mit der vollendeten Pracht Roms kann das rheinische Pendant, so ist zwischen den Zeilen zu lesen, gleichwohl nicht mithalten: Vidi templum urbe media pulcerrimum quamvis inexpletum, quod haud immerito summum vocant. Magorum ibi regum corpora, ab ortu ad occasum tribus saltibus transvecta, quos ethereum quondam Regem, ad presepia vagientem cum muneribus veneratos legimus, venerabundus aspexi. Parumper hic, pater optime, et pudoris mei metas excessisse videor et plura collegisse quam necesse erat. (Petrarca 2008a, 30)

Der dann folgende Satz, der sich als Bescheidenheitsfloskel tarnt, enthält unter dieser Maske einen weiteren Seitenhieb gegen Köln. Er habe, so merkt Petrarca geflissentlich an, wahrscheinlich viel zu viel zum Thema „gesammelt“, als notwendig (und mit anderen Worten: Köln angemessen) gewesen wäre. Daran sei der Befehl des Adressaten schuld. Petrarca selbst hätte ansonsten aus freien Stücken, so wird an dieser Stelle unverblümt zum Ausdruck gebracht, der rheinischen Metropole weniger Aufmerksamkeit geschenkt: „Utrunque fateor; sed michi nil tam necesse est, quam ut imperio tuo paream“ (Petrarca 2008a, 30). Von lateinischer Ebenbürtigkeit ist Köln jedenfalls weit entfernt, was auch der Terminus „collegisse“ evoziert. Das ‚recolligere‘ ist ein Signalwort der Rerum vulgarium fragmenta, das die „rime sparse“ aufsammelt – aber eben in der weniger wertvollen Volkssprache, und nicht in Latein.63 Wenn man zu diesen kritischen, gleichwohl höflich formulierten Reserven Petrarcas kurze, aber pointierte Köln-Invektive aus den Epistulae Metricae hinzunimmt, dann steht das Urteil zur linksrheinischen Stadt fest. Umgelegt auf den rechtsrheinischen Dialekt war Petrarca eindeutig der Meinung, dass Köln zur ‚Schäl Sitt‘ (vulgo kölscher Dialekt: ‚Schäl Sick‘), also zur ‚falschen Seite‘ zählt: „Quid inepta Colonia tantis / Una nocet titulis, fulvi cui gratia nummi, / Ventris amor, studiumque gule somusque quiesque / Esse solet potior sacre quam cura poesis?“64

63 Es handelt sich um ein rekurrentes Schema bei Petrarca. Vgl. exemplarisch Familiares 13, 6: „fragmenta recolligo“. Petrarca 2008c, 70. Vgl. zum ‚sparsa anime fragmenta recolligere‘ (zu dem sich Petrarca selbstkritisch auch im Secretum äußert) Martinelli 1977, 223–226 sowie Leuker 2005. Vgl. außerdem Regn 2011. 64 Hier nicht nach der Ausgabe Schönberger zitiert, die an dieser Stelle einer korrupten Version aufliegen dürfte. Es ist nicht irgendein „Nest“ („colonia“, so die Ausgabe Schönberger, Petrarca 2004, 164) gemeint – obwohl Petrarca eventuell der Meinung war, dass Köln eines ist und somit die Doppelbedeutung womöglich intendierte –, sondern „Colonia“. Vgl. die Schreibweise mit Majuskel Petrarca 1831, 220. Es ist zu mutmaßen, dass Petrarcas Köln-Kritik auch an dieser Stelle von einer Relativierung der Autorität Thomas’ von Aquin motiviert ist. Der Aquinate weilte bekanntlich in Köln und konnte dem Charme der damaligen Provinz Positives abgewinnen. Thomas folgte seinem Lehrer Albertus Magnus nach Köln. Dass beide ausgerechnet die akademische Hochburg Paris zu Gunsten Kölns quittierten, hatte seinen Grund in der größeren Aufgeschlossenheit „Colo-

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Noch heftiger als Köln trifft es im Zeichen eines verstärkten Reliquienkultes in der Folge Aachen. Petrarca schildert in Familiares 1, 4 die Legende um Karl den Großen, der in maßloser Liebe zu einer zwielichtigen Dame („muliercula“) entbrannte und seine Regierungsgeschäfte vernachlässigte. Nach dem Tod der Angebeteten gerät Karl in eine ebenso maßlose Trauer, indem er nahezu irrsinnig Praktiken einer nekrophilen translatio verfällt und den unappetitlichen Kadaver anbetet: „cuius nec morte lenitus furor, sed in ipsum obscenum cadaver et exangue translatus est“ (Petrarca 2008a, 26). Es ist auf der Basis des bislang Erläuterten nicht verwunderlich, dass Petrarca in diesem Fall das Vokabular der Reliquien vermeidet, denn es hat eine verwerfliche Translation stattgefunden. Wenn hingegen Petrarca die Ruinen Roms mit Reliquien überblendet, dann suggeriert er damit, wie gezeigt, dass Rom eine quasi-sakramentale Autorität eignet, die unersetzbar und nicht transferierbar ist. In den Ruinen und Reliquien ist Gottes Vorsehung am Werk, die alle diejenigen blasphemieren, die es wagen, Römisches einer translatio zu übereignen. „Crebris confusa ruinis / Menia reliquias immense et flebilis urbis / Ostentant, lacrimasque movent spectantibus“ (vv. 235–237) (Petrarca 2004, 144). Eine moderate Mobilität ist allein innerhalb Roms, inmitten seiner Ruinen und Reliquien, praktizierbar. Im bereits behandelten Brief Familiares 6, 2 ist es Petrarca von daher mit gutem Grund wichtig, die Ruinenbesichtigung unter anderem, aber programmatisch zu Beginn, als Spaziergang zu schildern. Er hätte die Ruinen beispielsweise auch durchweg von einem komfortablen Aussichtspunkt aus beschreiben können. Die Aufzählung der vielen Bauwerke und Stätten zeitigt vielerlei Effekte, die in einer nahezu unüberschaubaren Forschung aufgezählt worden sind.65 Sicherlich inszeniert sich Petrarca als Zeitzeuge und bestens informierter Rom-Spezialist. Vor allem ermöglicht ihm die Nähe zu Trümmern jedoch eines: nämlich den quasi direkten Kontakt zur reliquienhaften Wirkkraft der Ruinen, die sich auf denjenigen, der ihrer würdig ist, als Realpräsenz überträgt. Dies wird ebenfalls bereits zu Beginn des Briefes indiziert, wenn Petrarca das gemeinsame Wandeln als peripatetische Maßnahme kennzeichnet („obambulandi perypeteticum morem“, Petrarca 2008b, 55). Die peripatetische Schule ist diejenige des Aristoteles, und damit im vorliegenden Zusammenhang diejenige Denkrichtung, die dem konkreten Kontakt mit jenen Dingen einen großen Stellenwert einräumte, auf die Petrarca in seiner nahezu atemlosen Aufzählung deiktisch (Amplificatio des „hic“) hinweist.66 Von der Schilderung in der Vergangenheitsform („Vagabamur“) wechselt

nias“ für die Schriften Aristoteles’ (vgl. Leppin 2009, 10–12). Vgl. außerdem Kablitz 2002. Der Wahrnehmung Mommsens, nämlich eines „hervorragenden Bildes, das [Petrarca in seinen Briefen] von der Stadt Köln zeichnete“ (Mommsen 1969, 159–160), ist mithin kaum zuzustimmen. 65 Vgl. dazu den pointierten Kommentar von Wilkins 1963.

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Petrarca unmerklich ins präsentische Register, um auf dieser Basis emphatisch die ‚Realpräsenz‘ römischer Strahlkraft ausrufen zu können: „Hec autem Sacra Via est“. Dass dies mit der Nennung der ‚Heiligen Straße‘ zusammenfällt, ist dramaturgisch wohldurchdacht; ebenso wie die Kulmination zum Schluss in Darstellungen christlicher Heiliger. Gerade in der Pflege ihrer sakrosankten Materien („in re“) seien die Römer selbst leider säumig (Petrarca 2008b, 58). Petrarca hingegen geht auf ‚Tuchfühlung‘ mit den Ruinen, er sitzt inmitten der zerfallenen Mauern und hat die bröckelnden Ruinen deutlich vor Augen. Und in dieser unmittelbaren Nähe zu den Ruinen, so inszeniert es Petrarca zumindest, erwacht die Macht Roms zur vollgültigen Autorität und Gloria. Wie verhält sich nun das bis hierher Erörterte zu Petrarcas individueller Gloria? Diesbezüglich sei ein weiteres Mal Petrarcas Collatio Laureationis frequentiert, seine Rede zur bereits erörterten Dichterkrönung (die Petrarca altersweise in Seniles 17, 2 gegenüber Boccaccio sowie in der Epistola Posteritati in ihrer Bedeutung relativiert hat).67 Die Ausgangslage ist bescheiden, denn kaum ein Text Petrarcas dürfte aufgrund der Lorbeer/Laura-Symbolik und ihrer metaphorischen Grundierung weiter vom metonymischen Präsenzkult der Reliquien und Ruinen entfernt sein als die Collatio Laureationis. Dass die Auszeichnung räumlich inmitten der römische Ruinen und zeitlich zur Feier der Auferstehung des Herrn anberaumt wird, markiert dessen ungeachtet die staatstragende Funktion der Prozedur.68 Es handelt sich um eine Wiederbelebung eines temporär suspendierten Kultes der Antike, zu der aus der Sicht Petrarcas parallel eine Restauration Roms wünschenswert wäre. Angesichts der österlichen resurrectio wird die Dichtkunst als literale Variante des Heilgeschehens gefeiert (im Sinne der litterae, nicht des Literalsinns), das zusätzlich die Autorität des Historikers für sich einfordern darf. Petrarca wird ausdrücklich als ‚poeta et historicus‘ ausgezeichnet.69

66 Es fügt sich in das Bild, dass Petrarca sich beeilt, sogleich zu betonen, dass über diese physische Gewohnheit hinaus die peripatetische Schule ihm ansonsten nur bedingt zusage: „nature moribusque meis aptissimus est; ex opinionibus quedam placent, alie autem minime“ (Petrarca 2008b, 55). Vgl. zu Petrarcas Kritik an den Aristotelikern auch De ignorantia (Petrarca 1993, 100–135). 67 Vgl. dazu Busjan 2011. 68 Dass Petrarcas Reliquiendiskurs auch auf dem Hintergrund der mittelalterlichen Staatsverfassungen zu sehen ist, die ihrerseits einer „fragmentierten, polyarchischen und vielfach vernetzten“ Matrix geschuldet waren, kann hier nur angerissen werden, vgl. Scharpf 1992, 93. Augustinus’ Unterscheidung von Civitas Dei und Civitas Terrena und ihre Koexistenz de facto in einer Civitas permixta (so die Grundidee in Augustinus 1997) bleibt auch für Petrarca virulent. Vgl. dazu Oort 1991. Der locus classicus für Petrarcas Augustinismus ist bekanntlich der sogenannte Mont Ventoux-Brief (Familiares 4, 1); dazu einschlägig weiterhin Mariani 1946 sowie Petrarca 2012, 60. 69 Zum Historiker Petrarca nach wie vor grundlegend: Keßler 2004.

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Was nun die Collatio Laureationis angeht, so beinhaltet die Rede viele ihrem Genre geschuldete Dankes- und Ruhmesfloskeln, die Petrarca perfekt in Szene setzt. Der Totenkult wird erwähnt, jedoch zunächst eher beiläufig, wenn beispielsweise mit Bezug auf Cicero von „sepulcra contemplor“ die Rede ist (Petrarca 2012, 38). Auch das Wortfeld der expliziten Reliquie kommt zwar von Beginn an im Text, jedoch weitgehend im Sinne von ‚übrig‘ vor, was gleichwohl erstmals aufmerken lässt, da Petrarca auch hier sprachlich Wahlmöglichkeiten (‚ceterum‘ u. ä. m.) zur Verfügung hatte.70 Diese Fragmentarität in Form von Adverbien berechtigte kaum zu weitreichenden Interpretationen, wenn nicht gegen Ende der Rede hin mit einem Mal folgender rhetorischer Paukenschlag die Indizien in ein typologisches Licht rücken würde:  



Aiunt arboris huius frondem, sicut in›corrupt‹ibilis est in se ipsa, sic libros et res alias, quibus adiuncta est, a corruptione preservare; quod singulariter poetis convenit quorum opera et propriam et aliorum famam a corruptione defendi non ambigitur. Est insuper arbor sacra, metuenda et venerabilis. (Petrarca 2012, 60)

Petrarca geht an dieser Stelle auf den in seinem Werk nahezu omnipräsenten Lorbeerkult ein, der in engsten Verbindungen zu seinen Laura-Paronomasien (Laura/L’aura/L’auro) und den diesbezüglich in diskursiver Regelmäßigkeit in Anschlag gebrachten Ordnungsfunktionen des „mundus imago Laurae“ steht.71 Was nun in der soeben zitierten Stelle vor allem deutlich wird, ist, dass Lorbeer und Laura für Petrarca keineswegs lediglich in symbolischen Funktionen aufgehen. Auch die in der Forschung viel beschworene ‚Wortliebe‘ Petrarcas im Umkreis seiner Laura/Lorbeer-Paronomasien wäre so betrachtet kritisch zu hinterfragen.72 Denn vor der Folie des Reliquiendiskurses wird deutlich, dass Petrarcas omnipräsentes „in se ipsa“ letztlich keine subjektzentrierte Intention im Zeichen semiotischer Selbstreflexivität inkludiert.73 Was Petrarca vielmehr unternimmt, ist eine handfeste Infiltrierung des Reliquiendiskurses durch den Lorbeer. Es ist von den Blättern („frondem“) des Baumes („arboris“) die Rede. Der Lorbeer ist dafür bekannt, dass er immergrün ist und damit der Vergänglichkeit tendenziell wider-

70 Vgl. Petrarca 2012, 18 („reliqua quam“), 22 („reliquarum artium“) oder 44 („reliquum est“). 71 Vgl. Kablitz 1989 sowie Küpper 1992 und Regn 2000. 72 Vor allem die Inanspruchnahme des petrarkischen Schreibens für eine (vor)moderne Selbstbezüglichkeit ist heikel. Der diesbzgl. Konsens ist zwischenzeitlich derart verbreitet, dass die Nennung lediglich vereinzelter Quellen wenig Sinn macht. 73 So die These von Freccero 1975. Dass der Lorbeer „für den Modus des autoreflexiven Gebrauchs von Sprache steht“, ist ähnlich die These von Vinken 2001, 49.

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Abb. 6: Holzschnitt. Petrarca mit Dichterlorbeer. Paolo Giovio: Elogia Virorum literis illustrium, quotquot vel nostra vel avorum memoria vixere. Basilea 1577, 24 (Ex. BSB München, Sign. BSB-ID: 13148057).

steht.74 Petrarca verstärkt diese Tendenz, indem er ostentativ das im Reliquiendiskurs seiner Zeit ubiquitäre und im historischen Originalkontext äußerst aussagekräftige Vokabular von „in›corrupt‹ibilis“ versus „corruptione“ auf den Lorbeer überträgt (dieses geht in seinem Bedeutungsspielraum weit über die modernen Verkürzungen des ‚Korrupten‘ im Sinne des ‚Bestechlichen‘ hinaus). Mittels Kontamination („adiuncta est“) werden Bücher und Anderes (im Sinne von: weiteren Dingen) vor der ‚Korruption‘ bewahrt, nämlich dadurch, dass ein Lorbeerblatt zu ihnen gelegt wird, das „kraft seiner selbst“ („in se ipsa“) wirksam wird. Damit ist keine Selbstbezüglichkeit gemeint, sondern der Ruhe- (aber auch: Ausgangs‑)

74 Petrarca greift dieses Kennzeichen explizit in Canzoniere, Nr. 181 auf: „Amor fra l’erbe una leggiadra rete / d’oro et di perle tese sott’un ramo / dell’arbor sempre verde“. Petrarca 1989, 804.

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punkt einer gottgewirkten ‚Inkorruptheit‘ (‚incorruptibilitas‘), im Sinne einer Integrität und Unverweslichkeit. Die Glaubwürdigkeit des Vorgangs unterliegt keinem Zweifel („non ambigitur“), und sie manifestiert sich in der einzigartigen („singulariter“) Bewahrung des Werks, das mit dem Lorbeer in Kontakt steht.75 Gemeint ist selbstredend Petrarcas Werk im Horizont der „Arbor victoriosa, triumphale“.76 Dieses ist einzigartig und ihm gebührt sub specie aeternitatis die Heiligkeit der Verehrung, komplementär zu den ebenfalls durch ihre Reliquiennähe nobilitierten Ruinen. „Triumphierend“ und „siegreich“ sind Ruinen und das Schreiben Petrarcas durch ihre Nähe zum Lorbeer, dessen Berührung analog zum Reliquienkult realpräsentische Legitimation ins Leben (zurück)ruft. Dabei handelt es sich ungeachtet aller materiellen Unhintergehbarkeit keineswegs um eine pagane oder mundane und letztlich auch um keine säkularisierte Überformung christlicher Heilsmacht. An Ruinen und Reliquien sind für Petrarca nicht zuletzt moralphilosophische Fragen gebunden, die notwendig Selbstreferenzen sprengen: „vidisset morum veterum ruinam, que multo gravior ac funestior est quam murorum“ (Petrarca 2005, 28). Der Lorbeer indiziert (nicht: symbolisiert) zweifelsohne das bekannte Gloriastreben Petrarcas. Das wäre für sich besehen lediglich ein Indiz notorischer Geltungssucht. Der Reliquieneinbezug besagt jedoch noch weitaus mehr. Die ‚Inkorruptibilität‘ weist den Weg zum Sieg („victoriosa“) über die Sterblichkeit, was im Sinne rezenter memoria-Konzepte zweifelsohne von Belang ist. Aber auch dies trägt letztlich nicht zur Exemplarität Petrarcas bei, die im Mittelalter generell nie frei von überindividuellen Meriten zu denken ist: „o catholica plebs fidelis Cristo!“ (Petrarca 2005, 50), oder noch pointierter und mit Bezug auf die Dichotomie von Fragment und Ganzheit, von Reliquien und Ruinen for-

75 Vgl. auch das Folgende: „per quod videtur poetis singulariter deberi“. Petrarca 2012, 62. 76 Petrarca 1989, 1046 (RVF, 263). In diesem Sonett, das bereits deshalb zu den wichtigsten der Sammlung zählt, weil es den ersten Teil des Canzoniere ‚in vita‘ beschließt und gleichsam als Übergang zum zweiten Teil ‚in morte‘ fungiert und somit an prominenter Stelle steht, wird auf der Folie der Reliquien-Isotopie bei Petrarca deutlich, dass „honor“ und „onor“ (v. 2 und v. 6) keinesfalls als Selbstzweck dienen, auch wenn weder Dame noch lyrisches Ich bemüht sind, die Exklusivität ihrer ‚Ehren‘ zu verschleiern. Sie stehen vielmehr im Dienste der „Vera Donna“, deren Integrität über die „vita mortale“ (v. 4) hinausreicht: Dies ist der, wiederum buchstäbliche, Stellenwert, auf den die gegen „‘ngano“ immunen Lorbeer und Gloria zum Abschluss des ersten Teils des Canzoniere hinweisen und dessen Probe auf das Exempel allererst dem zweiten Teil überantwortet wird. Wenn dieser sich nicht bewährte, würden die materiell konstituierten Ehrenbezeugungen qua Lorbeer hinfällig und als „quasi vil soma“ (v. 11) enttarnt. Der Zusatz „quasi“ ist allerdings kein Füllwort, sondern indiziert die prekäre Gefährdung, den der materielle Zauber trotz aller überirdischen Intention weiterhin ausübt. Insofern Materie und Gloria hingegen kein Selbstzweck sind, sondern im Dienste der „castità“ (v. 14) stehen, ist die ‚Berührung‘ mit ihnen „quasi“ legitim, ja sogar wünschenswert, weil sie der Erfüllung des „bel thesoro“ (v. 13) dient.

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muliert: ‚Pars pro toto – Totum pro parte‘! Und die Pointe in der Darstellung Petrarcas ist, dass die Resistenz des winterfesten Lorbeers die poetische Gloria an eine christliche Kardinaltugend anbindet: Die Beständigkeit (constantia) im Sinne von Dauerhaftigkeit.77 Die Instrumentalisierung des Reliquiendiskurses intendiert somit Ambitioniertes, nämlich dass sich Petrarca eines gerechten Gottes sicher sein kann, welcher der Singularität seines getreuen Dichters in einem Modell der Nachfolge gerecht wird, indem er Petrarca(s Schriften) ‚inkorrupt‘ und damit unvergänglich macht.78 In Petrarcas ‚Textcorpus‘ bewirkt die Einspeisung des Lorbeerblattes eine einzigartige restauratio, deren erhabene ‚Realität‘ als Proprium derart offenbar ist, dass sie keinerlei translatio und noch nicht einmal der Zeugenschaft bedarf: „Utitur in re certa testimoniis non necessariis“ („Ogni testimonianza è superflua di fronte all’evidenzia dei fatti“), wie Petrarca huldvoll Cicero zitiert (Petrarca 2012, 62–63). Der Zusammenfall von Ereignis und Deutung suspendiert figurale Reden angesichts der Eigentlichkeit historischer Evidenz.79 In diesem Zusammenhang operieren Ruine und Reliquie als quasi pneumatische Materien. Sie korrespondieren als irdische Analoga dem Hauch Gottes bzw. des Heiligen Geistes und

77 Der Katechismus gab und gibt diesbezüglich klare Auskunft. Tugend beinhaltet „beständige, feste Neigung“. „Tugenden sind feste Haltungen, verläßliche Neigungen, beständige Vollkommenheiten“ (Katechismus der Katholischen Kirche 2015, 476 [=Dritter Teil, erster Abschnitt, erstes Kapitel, Artikel 7, I]). 78 Vgl. Ratzinger 2013, 49–50: „Die Kreuzigung Christi, der Tod am Kreuz und in etwas anderer Art der Akt der Auferstehung aus dem Grab, der dem Verweslichen Unverweslichkeit gibt, sind einmalige historische Ereignisse, die als solche der Vergangenheit angehören. Für sie gilt im strengen Sinn das ‚Semel‘ (ephapax) – das ‚Einmal‘ […]. Das Ephapax (einmal) ist mit dem Aionios (immerwährend) verbunden. Das ‚Heute‘ umfasst die ganze Zeit der Kirche.“ Vgl. ebenso Ratzinger 2007, 87–88: „Endlich wird hier, gerade hier, im Bedenken des Persönlichsten, des Todes, sichtbar, daß die christliche Eschatologie kein Ausweichen vor den gemeinsamen Aufgaben dieser Welt ins Jenseitige und daß sie nicht der Rückzug in die private Seelenrettung ist. Der Konstruktionspunkt dieser Eschatologie ist ja gerade die Zuwendung zum gemeinsamen Recht, wie es uns verbürgt ist […].“ Was der inzwischen emeritierte Papst hier formuliert, stellt keine moderne Kirchenlehre dar, sondern führt Dogmen weiter, die auch bereits zu Lebzeiten Petrarcas im Mittelalter im Kern gültig waren. 79 Dies bedeutet wiederum nicht, dass Petrarca das Schema einer Dichtung der irdischen Welt fortsetzen würde (Auerbach 2001). Petrarca schreibt vielmehr im Kontext eines Christentums, das seine ontologischen Beharrungen der Bewährung der Sakramentalien aussetzt (vgl. dazu das bereits vorher Ausgeführte zum Thema). Diese vollziehen sich in kultischen Praktiken, so u. a. im Reliquienkult, der zwischen göttlicher Allmacht und menschlicher Fehlbarkeit vermitteln. Auch dem Muster einer Legitimität der Neuzeit (Blumenberg 1966) ist Petrarca als Wegbereiter nur bedingt zuzurechnen. Petrarcas Stilisierungen von Ruinen als Reliquien sind mithin keine „Kompensation des Geltungsverlustes christlicher Welterklärung“, zur Kritik an Blumenberg vgl. unlängst Kablitz 2018, 26, Anm. 10.  

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sind von daher für eine resurrectio prädestiniert. ‚Auferstanden aus Ruinen und Reliquien‘ operiert als literarisches Diktum analog zum Auferstehungsleib Christi.80 Auf dieser Folie avanciert Petrarca zur unantastbaren Literaturreliquie, zur literaturgeschichtlichen Zäsur, vor und nach der nichts mehr so ist oder sein wird, wie es war. Die Belastungen, die Petrarca derart seinen Lesern hinterlässt, sind einerseits kapital.81 Sie fordern auf der anderen Seite immer wieder aufs Neue dazu heraus, die deiktische Faktizität und funktionale Legitimität zu hinterfragen, mit denen Petrarca einem Phönix aus der Asche gleich ‚inkorrupt‘ den Ruinen Roms entsteigt, um Fragmente von Reliquien zu Meisterwerken der Literatur zusammenzufügen.

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80 Auf die umfangreichen theologischen Voraussetzungen, auf denen die Literatur im ausgehenden Mittelalter aufruht, konnte im vorliegenden Aufsatz nur rudimentär verwiesen werden. Auch der Einbezug von Petrarcas De otio religioso hätte den Rahmen des zur Verfügung stehenden Raums gesprengt. In Hinblick auf Petrarcas Augustinus-Rezeption sei stellvertretend verwiesen auf Kablitz 1994. 81 Aufbegehrt haben gegen Petrarcas Exklusivität zuvörderst die Anti-Petrarkisten, welche für den Bereich der Renaissance das DFG-Netzwerk Antiklassizismen im Cinquecento (Susanne Friede, Marc Föcking, Florian Mehltretter und Angela Oster) in ausgesuchten Teilbereichen untersucht (https://www.antiklassizis-men.italianistik.uni-muenchen.de/index.html; abgerufen am 27.06.2020).

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Stephanie Béreiziat-Lang

Zur Poetik des Ruinösen in Alonso de Ercillas La Araucana 1 Vorspiel – Lévi-Strauss’ Ethnographiereflexion und die Ruinen indigener Präsenz Das Schreiben über die Begegnung mit anderen Gesellschaften stellte die ersten ‚Entdecker‘ und Kolonisatoren des amerikanischen Kontinents vor eine ähnliche Problematik wie die moderne Ethnographie des 20. Jahrhunderts – nämlich konfrontiert es unweigerlich mit der Frage, ob das Schreiben über den ‚Anderen‘ als Modus der Erfassung von Wirklichkeit dienen kann und – drastischer – in welchem Verhältnis das Schreiben als konstruktiver Akt zu den destruktiven Momenten historischer Wirklichkeit in der kolonialen Begegnung letztlich steht. Symptomatisch für diese allgemeine Problematik ethnographischen Schreibens ist der 1955 erschienene Text Tristes Tropiques des französischen Ethnologen Claude LéviStrauss, der mir – trotz der historischen Distanz – auch für ein Herangehen an Texte frühneuzeitlichen Kolonialkontakts aufschlussreich erscheint. Der autobiographische Text, in dem Lévi-Strauss seine 20 Jahre früher während einer Brasilienexpedition skizzenhaft gesammelten Eindrücke und Beobachtungen zu einem romanhaften Buch zusammenfügt, problematisiert ganz grundlegend das Verhältnis zwischen schreibendem Subjekt und dem Anderen sowie die Konstruktivität des Beschreibens als Modus kultureller Übereignung.1 Aus der zeitlichen Distanz zwischen dem Moment der tatsächlichen Brasilienreise (den 1930er Jahren) und der Niederschrift des Romans heraus erweist sich das Schreiben zunehmend als ein ruinöses Unterfangen, das letztlich auf den Trümmern einer zerstörten Wirklichkeit aufbaut. Dabei zeigt Lévi-Strauss Ansätze einer dekolonialen Kritik, die den Zusammenhang zwischen europäischer Kolonialgeschichte und Ethnographie aufdecken: „[L]’aventure au cœur du Nouveau Monde signifie d’abord qu’il ne fut pas le nôtre et que nous portions le crime de sa destruction“ (Lévi-Strauss 1955, 471). Die Intaktheit der ‚anderen‘ Wirklichkeit erlischt im Moment des Niederschreibens, und gleichzeitig öffnet sich aus der nachträglichen Verschriftlichung der Beobachtungen eine unwiederbringliche Distanz zwischen der Präsenz des Anderen und seiner unbefriedigenden Rekonstruktion auf dem Papier. Nicht zufäl-

1 Vgl. dazu Béreiziat-Lang 2020. https://doi.org/10.1515/9783110757811-003

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lig bemüht Lévi-Strauss für diese Diskrepanz zwischen einer verlorenen, vergangenen Präsenz und ihrer (erinnernden) Repräsentation die Metaphorik der Ruine: En roulant mes souvenirs dans son flux, l’oubli a fait plus que les user et les ensevelir. Le profond édifice qu’il a construit de ces fragments propose à mes pas un équilibre plus stable […]. Entre ces deux falaises maintenant à distance mon regard et son objet, les années qui les ruinent ont commencé à entasser les débris. Les arêtes s’amenuisent, les pans entiers s’effondrent […]. (Lévi-Strauss 1955, 43–44)

Gerade erst aus den Ruinen der Erinnerung und den fragmentarischen Skizzen entsteht ein neues (poetisch-literarisches) Gebäude; und das Projekt des Schreibens gelingt erst aus den Trümmern der Wirklichkeit, in Abwesenheit des Anderen. So holt Lévi-Strauss, angesichts der Desillusionierung über die Rolle des ethnographischen Schreibens, schon während der Brasilienexpedition das Verlangen ein, sein Schreiben in andere Bahnen zu lenken. Das Verfassen einer klassisch inspirierten Tragödie mit dem Titel L’Apothéose d’Auguste scheint ihm – aus dem Dschungel und der indigenen Wirklichkeit heraus – eine Rückbindung an die europäische Tradition und eine rein ‚literarische‘ Dimension zu erlauben. Das eigenwillige Theaterstück durchbricht die ethnographische Beschreibung indigener Siedlungen und verlegt die Opposition zwischen Natur und Kultur, die Lévi-Strauss auch angesichts der brasilianischen ‚Wilden‘ beschäftigt, ins antike Rom.2 Zwischen Augustus, dem kalkulierenden Staatsmann, und seinem Gegenspieler Cinna, einem wilden Reisenden („une tête brûlée qui se plaît seulement chez les sauvages“, Lévi-Strauss 1955, 454) wird die Opposition Natur-Zivilisation ausgekämpft, während Cinna, wie Lévi-Strauss selbst, letztlich die Desillusion hinsichtlich der „duperie“ des Exotismus (Lévi-Strauss 1955, 455) beschieden ist.3 Gleichzeitig kommt die Szenerie nicht ohne eine apokalyptische Vision des augusteischen Roms als Ruinenfeld aus, das von der wuchernden Vegetation verschlungen wird: Le troisième acte commence dans un climat de crise ; à la veille de la cérémonie [de l’Apothéose d’Auguste], Rome est inondée de divinité : le palais impérial se lézarde, les plantes et les animaux l’envahissent. Comme si la ville avait été détruite par un cataclysme, elle revient à l’état naturel. (Lévi-Strauss 1955, 456)

2 Siehe die interessante Analyse des Kapitels bei Piguet 2004. 3 Vgl. „un échec de plus“ (Lévi-Strauss 1955, 457), bzw.: „Cinna n’a rien trouvé: ‹ j’ai tout perdu, dit-il ; même le plus humain m’est devenu inhumain. Pour combler le vide des journées interminables, je me récitais des vers d’Eschyle et de Sophocle [...] ›“ (Lévi-Strauss 1955, 456). Bezeichnenderweise flieht auch der desillusionierte Cinna – wie Lévi-Strauss selbst – in die Welt der heimischen Diskurstradition und der (künstlichen) Repräsentation.

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Genauso wie die in der Figur Cinnas angelegte Möglichkeit einer Allianz der Gesellschaft mit der Natur4 scheitert die Tragödie jedoch auch als Text und bleibt fragmentarisch.5 In Lévi-Strauss’ Text erlaubt die Flucht in europäische Diskursmuster eine textuelle Kompensation für den Verlust der indigenen Wirklichkeit und ihrer Sinnhaftigkeit im Zuge des ethnographischen Schreibens: „[…] les hommes et les paysages à la conquête desquels j’étais parti, perdaient, à les posséder, la signification que j’en espérais“ (Lévi-Strauss 1955, 451). Denn bezeichnenderweise setzt das Schreiben der Tragödie gerade dann ein, wenn die Beobachtung aufhört und die Indigenen sich dem Blick entziehen: Un après-midi, alors que tout dormait sous l’écrasante chaleur […] il me sembla que les problèmes qui me tourmentaient fournissaient la matière d’une pièce de théâtre. Je la concevais aussi précise que si elle eût été déjà écrite. Les Indiens avaient disparu : pendant six jours, j’écrivis du matin au soir, au verso de feuilles couvertes de vocabulaires, de croquis et de généalogies. Après quoi, l’inspiration me quitta en plein travail et elle n’est jamais revenue. En relisant mes griffonnages, je ne crois pas devoir le regretter. (Lévi-Strauss 1955, 453)

Erst auf der weißen Rückseite der ethnographischen Notizen, auf dem ‚Rücken‘ („au verso“) und in Abwesenheit der Indigenen, kann der poetische Schreibakt entstehen.6 Nicht zufällig wird ja als ‚Rückseite‘ der indigenen Wirklichkeit gerade die Gattung der Tragödie ins Feld geführt, die als (ironisch gebrochene) Chiffre für die kulturelle Hegemonie Frankreichs im siècle classique und die Dominanz eurozentrischer Kulturkonzeption generell gelten kann. Angesichts der bitteren Einsicht in die zerstörerische Wirkung der europäischen Entdeckungsreisen – inklusive der Ethnographie als Neuauflage des frühmodernen Kolonialismus7 – geht das Scheitern dieser literarischen Flucht in die Tragödie und damit in die wohlige Wucht der französischen Kulturtradition mit einer noch grundlegenderen

4 Piguet schreibt: „En somme, la société détruit son pacte d’alliance avec la nature, la sécurité du status quo l’emportant sur une harmonisation du rapport au monde de l’être humain“. Piguet 2004, 97. Ebenso zeigt sich an Cinna die Unmöglichkeit einer adäquaten Verbalisierung des erlebten ‚Anderen‘, bzw. „la dénonciation de la croyance erronée en une possible adéquation entre l’expérience vécue et sa traduction verbale“, denn „l’encodage qui a lieu après coup [...] n’est que simulacre“. Piguet 2004, 98–99. 5 „Je ne sais plus au juste de quelle façon cela se terminait, les dernières scènes étant inachevées“. Lévi-Strauss 1955, 457. 6 „Les Indiens refusent jusqu’à leur spectacle; sans prévenir, ils disparaissent pendant des jours […]“. Lévi-Strauss 1955, 450. Piguet kommentiert: „la disparition des sujets d’étude déclenche explicitement l’acte d’écriture“. Piguet 2014, 94. 7 Im Vorwort zur Fotosammlung Saudades do Brasil macht Lévi-Strauss den verlorenen „équilibre écologique“ und die „seconde dépossession […] cette fois définitive“ durch die Ethnographie explizit (Lévi-Strauss 2008, 16). Vgl. auch Keck 2013.

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Einsicht einher. Der fundamentale Mangel, der aus der Unverfügbarkeit der ‚anderen‘ Wirklichkeit und, in einem zweiten Schritt, aus der Zerstörung der indigenen Gesellschaften und ihres Lebensraums resultiert, kann auch durch die Verschriftlichung ihrer Vokabeln und Genealogien nicht aufgewogen werden. Die fragmentarischen „griffonnages“ auf beiden Seiten von Lévi-Strauss’ Papier bezeugen eine „impression d’un vide, d’un manque“ (Lévi-Strauss 2008, 9), und sind so selbst nur textuelle Ruinen einer ‚ruinierten‘ Wirklichkeit.

2 Koloniales Schreiben und Topik des Ruins – zur Ambivalenz von Ercillas Araucana Auch wenn Lévi-Strauss rund 400 Jahre später schreibt als der Spanier Alonso de Ercilla, so teilen doch beide bei ihrem Schreiben in der Neuen Welt und über sie einige Problemkreise. Als Ercilla in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts an den Arauco-Kriegen in Chile selbst kämpfend und beobachtend teilnimmt, präsentiert sich auch ihm die Niederschrift der indigenen Wirklichkeit als zunehmend problematisch. Wie Lévi-Strauss steht er bei der nachträglichen Überführung der direkten Beobachtung in einen literarischen Text vor einem Konflikt zwischen literarischem Anspruch und einer beobachteten ‚Wirklichkeit‘, die sich als ungenügend erweist – insbesondere vor dem Hintergrund der gewählten epischen Gattung, die mit einem besonderen Erwartungshorizont einhergeht. Im Prolog des monumentalen Epos La Araucana (das in drei Teilen zwischen 1569 und 1589, und dann in erweiterter Fassung posthum 1597 gedruckt wurde) gibt Ercilla an, seine Verse direkt während des Kriegsgeschehens auf Schnipseln und Lederstücken notiert zu haben: Este libro […] porque fuese más cierto y verdadero, se hizo en la misma guerra y en los mismos pasos y sitios, escribiendo muchas veces en cuero por falta de papel, y en pedazos de cartas, algunos tan pequeños que apenas cabían seis versos, que no me costó después poco trabajo juntarlos. (Ercilla 2009, 71)

Obwohl diese Behauptung natürlich topisch die Unmittelbarkeit der Zeugenschaft unterstreichen soll und gleichzeitig eine Annäherung an Petrarcas rime sparse nahelegt, lenkt sie doch auf ein im weiteren Textverlauf in zahlreichen autoreferentiellen Passagen8 auftretendes generelles Problem hin: Die grundlegende Schwierigkeit der apologetischen Dichtung im kolonialen Kontext. Denn die prekären

8 Vgl. dazu insbes. Friedlein 2014.

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Umstände des Schreibens betreffen nicht nur das Material, die „pedazos de cartas“, sondern auch die ‚Materie‘ selbst. Und ‚Stückwerk‘ sind nicht nur Ercillas Lederschnipsel, sondern auch die poetologische und die ideologische Ausrichtung der über 20.000 Verse des Araucaner-Epos. Dem kastilischen König Philipp II. gewidmet, soll das Epos eigentlich die Informationen erster Hand, die Ercilla als Zeuge vor Ort zusammengetragen hat, in ein poetisches Werk mit literarischem und panegyrischem Wert überführen, und so Ercillas Dienst am glorreichen spanischen Imperium mit Waffen und der Feder gleichzeitig bezeugen.9 Allerdings erweist sich die Kriegsthematik immer mehr als poetischer Holzweg, da die spanischen Eroberungszüge weder in moralischer noch in militärischer Hinsicht die ‚Glorie‘ bereithalten, die sie zu einem geeigneten Epenstoff machen würden. Wie Lévi-Strauss flüchtet daher auch der schreibende Dichter Ercilla angesichts der problematischen Wirklichkeit der Kolonialkriege immer wieder in die gewohnten Bahnen europäischer Diskurstraditionen. Gerade petrarkistische oder bukolische Muster, nach dem Vorbild des Orlando Furioso, böten dem Schreibenden angesichts der zunehmenden Desillusion über die koloniale Wirklichkeit zumindest literarische Genugtuung: ¿Quién me metió entre abrojos y por cuestas tras las roncas trompetas y atambores, pudiendo ir por jardines y florestas cogiendo varias y olorosas flores, mezclando en las empresas y requestas cuentos, ficciones, fábulas y amores, donde correr sin límite pudiera y dando gusto, yo lo recibiera? ¿Todo ha de ser batallas y asperezas, discordia, fuego, sangre, enemistades, odios, rencores, sañas y bravezas, desatino, furor, temeridades, rabias, iras, venganzas y fierezas, muertes, destrozos, rizas, crueldades que al mismo Marte ya pondrán hastío, agotando un caudal mayor que el mío? (Ercilla 2009, 564)

Die „muertes y destrozos“, eine zerstörerische und wenig ‚erbauliche‘ Materie, sind wohl eine notwendige Ingredienz der gewählten Textgattung des Helden-

9 Vgl. zur panegyrischen Pragmatik der frühneuzeitlichen spanischen Epik und ihrer Leserschaft José Vega 2010.

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epos. Trotzdem wird auch diese Thematik denkbar brüchig, wenn heroische Züge im Kriegsgeschehen zwischen den beiden Kampfseiten – indigenen Araucanern und erobernden Spaniern – wiederholt die Richtung wechseln10 und sich so das Bild der Zerstörung ambivalent gestaltet, zwischen einerseits den Parametern eines imperialistischen Diskurses, der die Unterwerfung der barbarischen ‚Wilden‘ feiert, und andererseits einer humanistisch geprägten Sichtweise, die Zerstörung und ‚Ruin‘ auf Seiten der indigenen Welt verortet und dort – vorausweisend auf dekoloniale Kritik – verurteilt.11 Im Hinblick auf die Semantik der ‚Ruine‘, die dieser Band untersucht, lässt es das Bedeutungsspektrum des spanischen „ruina“ als allgemeine „acción de caer o destruirse algo“ (Real Academia Española)12 zu, das ‚ruinöse‘ Element in der komplexen Gemengelage der spanischen Kolonialzeit weiter zu fassen, und von steinernen Gebäuden und Siedlungen auf den gesamten Naturraum der Neuen Welt auszudehnen. Ebenso hat etwa Ann Laura Stoler in einer aktuellen Studie zum Weiterbestehen imperialer Formationen in postkolonialen Räumen der Gegenwart den Terminus der „imperial debris“ als Konzept eines umfassenden ‚Ruins‘ gefasst, der Bauruinen ebenso einschließt wie „ruined landscapes and […] the social ruination of people’s lives“ (Stoler 2008, 194). Dabei streicht sie die aktive, prozesshafte Komponente der Trümmer („debris“) heraus, die die Auswirkungen imperialer Dominanz und Gewalt über den tatsächlichen kolonialen Zeitraum hinaus verlängern: ‚Ruin‘ is both the claim about the state of a thing and a process affecting it. […] To turn to its verbal, active sense is to begin from a location that the noun ruin too easily freezes into stasis, into inert object, passive form. Imperial projects are themselves processes of ongoing

10 Die teils heroische Darstellung des Araucaner-Widerstands und die Kritik an den spanischen Heerführern lenken die Sympathie zuweilen auf die Seite der Araucaner. Ercilla argumentiert daher in seinem Vorwort: „Y si a alguno le pareciere que me muestro algo inclinado a la parte de los Araucanos, tratando sus cosas y valentías más estendidamente de lo que para bárbaros se requiere, si queremos mirar su crianza, costumbres, modos de guerra y ejercicio della, veremos que muchos no les han hecho ventaja, y que son pocos los que con tan gran constancia y firmeza han defendido su tierra contra tan fieros enemigos como son los españoles“. Ercilla 2009, 71–72. 11 Auch die Kritik ist gespalten hinsichtlich der ideologischen Verortung des Epos. Ricardo Monsalve etwa sieht La Araucana als klare imperiale Propaganda (Monsalve 2015). Im Gegenzug zeichnet Karina Galperin das Epos als harsche Imperialismuskritik (Galperin 2009), und Beatriz Pastor deutet es gar als erstes Zeugnis eines genuin lateinamerikanischen Bewusstseins (Pastor 1988, 349–452). Ich möchte hingegen gerade die irreduzible Ambivalenz des Araucaner-Epos unterstreichen. 12 Vgl. hier auch die weiteren Bedeutungsdimensionen: „3. Destrozo, perdición, decadencia y caimiento de una persona, familia, comunidad o Estado. […] 5. pl. Restos de uno o más edificios arruinados.“ Real Academia Española.

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ruination, processes that ‚bring ruin upon‘, exerting material and social force in the present. (Stoler 2008, 195)

Aus dieser kulturkritischen Perspektive mag auf die koloniale Anfangszeit der spanischen Amerikazüge zumindest die erweiterte Perspektive auf die ‚Ruine‘ als ein lebendiges, dynamisches Konzept übertragbar sein. Denn auch in der frühneuzeitlichen Epik und in Ercillas Araucana lässt sich die Inszenierung der kolonialen Konfiguration an Bildern und Topoi von ‚Ruinen‘ festmachen, die flexibel resemantisiert und kombiniert werden können und deren Tragweite über die rein materiale Zerstörung auf die naturhafte und menschliche Ebene hinausreicht. Sind im imperialistischen Diskurs die steinernen ‚Ruinen‘ der Zivilisation – nach dem Vorbild Trojas und Roms – das poetisch wirkungsvollste Horrorszenario (das, wie gezeigt werden wird, auch Ercilla immer wieder aufruft), so lässt sich der ‚Ruin‘ auf Seiten der Indigenen im Rahmen einer umfangreichen Zerstörung fassen, die Natur und menschliche Körper umfasst, und Zerstückelung und Fragmentierung nicht nur an den marmornen Mauern der Städte, sondern vielmehr direkt am eigenen Leib der Menschen inszeniert. Die Lederfetzen und Papierschnipsel der unmittelbaren Niederschrift des Epos (s. o.) entsprechen so in Ercillas ideologisch fragmentiertem Epos mal den zerstörten Bauwerken einer Zivilisation, die sich trotz ihrer imperialen Dominanz als verletzlich erweist, und mal den ‚ruinierten‘ menschlichen Körpern, auf denen der poetische und politische Konflikt letztlich ausgetragen wird. Wie auf Lévi-Strauss’ leerer Papierrückseite – der Kehrseite der Ethnographie – wird hier der ‚Ruin‘ kolonialer Textualität als Tod und Zerstörung menschlicher Körper lesbar, auf deren Rücken sich die ‚Literatur‘ ihren Platz erobern will. Das Oszillieren des Epos zwischen imperialer Propaganda und einer Kritik derselben, die eine gewisse Idealisierung der Indigenen mit sich bringt, lässt sich bekanntlich mit David Quint auf eine diskursive Aushandlung zwischen zwei rivalisierenden Modellen antiker Epik, Vergils imperialer Aeneis und Lucans republikanischer Pharsalia, zurückführen.13 Gleichzeitig kann Ercillas Text aber auch zwischen zeitgenössischen Texten als ein schillernder Scharniertext verstanden werden, der rivalisierende Modelle textueller Gestaltung der kolonialen Begegnung flexibel kombiniert. Als zwei konträre Beispiele lassen sich das neulateinische Epos De Gestis Mendi de Saa des brasilianischen Jesuiten José de Anchieta (von 1563) und die Brevísima relación de la destruición de las Indias von Bartolomé de Las Casas (von 1552) anführen. Während Anchieta in seinem in an Vergil ange 

13 Als „Epics of the defeated“ ordnet Quint La Araucana der zweiten Kategorie zu. Vgl. Quint 1993, 131–209.

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lehntem Latein gehaltenen Epos die Taten des portugiesischen Gouverneurs Mem de Sá lobpreist, kritisiert Las Casas bekanntlich aufs Schärfste die Grausamkeiten der spanischen Kolonialherren (obwohl auch er nicht Kolonialismus und Mission an sich in Frage stellt). Trotz der gegensätzlichen Perspektive beider Texte14 lässt sich eine interessante Überkreuzung paralleler Motive und Topoi beobachten, wobei mit den Rollen von Opfern und Tätern bzw. Zerstörern und Ruinierten auch die Kategorien von Zivilisation und Barbarei – oder von Natur und Kultur – vertauscht werden. Bei Anchieta gleicht die Konfrontation der Portugiesen mit den brasilianischen Indigenen einer apokalyptischen Schlacht zwischen Gut und Böse.15 Dabei erscheint Mem de Sá als Held und kosmischer Sieger gegen die ‚Wilden‘, die in der Tradition mittelalterlicher Feindestopik (etwa des Mio Cid) nur als ungezählte und entindividualisierte Horden gezeichnet („innumero crudeles agmine gentes“, Anchieta 1958, 61) und dabei konsequent animalisiert und entmenschlicht („inhumanas gentes“, Anchieta 1958, 50) werden.16 Besonders schwer wiegt dabei der Vorwurf der Antropophagie: Obtenebrata diu barathri caligine caeci, Gens fuit australis, saevi subiecta tyranni Colla iugo, cassum divini luminis aevum Traducens, multisque malis immersa; superba, Effrenis, crudelis atrox, fusoque cruenta Sanguine: docta necem rapidis inferre sagittis; Immanesque tigres feritate luposque voraces, Et rabidos superare canes saevosque leones, Humanis avidam pascebat carnibus alvum. (Anchieta 1958, 54).

Obwohl der eigentliche kannibalistische Akt in Anchietas Text eine erzählerische Leerstelle bleibt,17 setzt der Jesuit die Antropophagie als wirkungsvollen Topos seiner ideologischen Leitlinie ein, um die koloniale Aktion der Portugiesen als

14 Vgl. etwa die unterschiedlichen Konzeptionen des bellum iustum in beiden Texten. Las Casas weist die indigene Reaktion auf die koloniale Gewalt als gerechte Gegenwehr aus: „Y porque algunas veces, raras y pocas, mataban los indios algunos cristianos con justa razón y santa justicia, hicieron ley entre sí que por un cristiano que los indios matasen habían los cristianos de matar cien indios.“ Las Casas 1999, 81. Dagegen erscheint bei Anchieta die koloniale Gewalt bereits als gerechter Rachefeldzug gegen ein natürliches Unrecht der grausamen Indigenen: „crudeli properemus funera genti / quae meruit.“ Anchieta 1958, 65. 15 Jobst Welge spricht hier von „psychomachia“. Vgl. Welge 2020, 30. 16 Siehe allgemein Dietrich Briesemeister 2002, zur Topik des Diabolischen und Anchietas Text im Rahmen einer „Iberian Satanic Epic“, auch Cañizares-Esguerra 2006, 39–50.

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heilbringende Geste zu markieren. Die unersättliche Gier der Indigenen nach Fleisch und Blut führt zu einer grausamen Zerstückelung der christlichen Leiber („Truces infirma cruentis / Corpora vulneribus rumpunt“, Anchieta 1958, 141), die sich mit dem Opfertod Christi in der Eucharistie engführen lässt. Im weiteren Kontext der europäischen Reform- und Gegenreformbewegungen werden die Indigenen so zu einem Tertium kultureller Aushandlung, zu einem Pfeiler der „guerra ‚santa‘ en dos fronteras“ (Welge 2020, 31) des Katholizismus gegenüber protestantischen Häretikern und paganen Indigenen.18 Erscheinen die portugiesischen Eroberer bei Anchieta in dieser Konstellation als christusgleiche Opferlämmer (vgl. Anchieta 1958, 85)19, werden bei Las Casas diese Attribute direkt invertiert – die „ovejas mansas“ (Las Casas 1999, 75) sind nun die Indigenen, die nicht mehr Menschen verspeisen, sondern selbst Opfer einer kannibalistisch konnotierten Kolonialherrschaft werden. Carlos A. Jáuregui bemerkt: „[Las Casas] llama la atención sobre el indio no como un Otro devorador sino como la materialidad sufriente que se hace objeto consumido“ (Jáuregui 2008, 177). Parallel zur detaillierten (wenn auch in hypothetischen Zahlen gefassten) Aufzählung der Opfer auf indigener Seite präsentiert nun Las Casas – im Gegensatz zu Anchieta – die spanischen Kolonisatoren als undefinierte Horde, die ihrerseits konsequent animalisiert und entmenschlicht wird.20 Dabei dekonstruiert er wirkungsvoll die gängigen Gemeinplätze der ‚Wilden‘, ihre Monstrosität und den Vorwurf des Kannibalismus, und entlarvt sie als diskursive Konstrukte. Denn erst durch grausame Behandlung und Sklaverei, so argumentiert Las Casas, werden die Indigenen zu denen, die die Europäer in ihnen sehen wollen: „Conviértense los cabellos, siendo ellos de su natura negros, quemados como pelo de

17 Die angebliche Verspeisung des Bischofs Sardinha wird erzählerisch nicht ausgekostet (vgl. Anchieta 1958, 136–137), und ein zweiter kannibalischer Akt wird gerade noch verhindert (vgl. Anchieta 1958, 126–127). 18 Einen Höhepunkt erreicht diese Engführung bei der Zerstörung des französischen Fort Villegaignon, als nach einem Autodafé an den häretischen Schriften Calvins und Luthers mitten in den Ruinen ein Altar errichtet und eine Eucharistiefeier abgehalten wird (vgl. Anchieta 1958, 167). Zur Gegendarstellung dieser Konstellation vgl. Léry 1975. Dazu insbes. Lestringant 2016. Zum Kannibalismustopos im europäischen Kontext, siehe auch Kiening 2006, 111–162; zur „Kannibalisierung der Katholiken“ durch die französischen Reformatoren auch Mahlke 2005, 60. 19 Welge weist jedoch anhand der Figur des Löwen einschränkend darauf hin, dass die Animalisierung zwischen Portugiesen und kannibalischen Indigenen oszilliere (vgl. Welge 2020, 28), was dem Epos eine gewisse Ambivalenz einbringe, wie sie auch Ercillas Araucana charakterisiert: „contra el discurso oficial del poema, emerge (en cierta medida) una similitud inquietante entre los campos opuestos“. Welge 2020, 32. 20 Vgl. die wiederholte Charakterisierung der Spanier als „más irracional y furiosamente que crudelísimos tigres y que rabiosos lobos y leones“. Las Casas 1999, 145.

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hombres marinos, y sáleles por las espaldas salitre, que no parecen sino monstruos en naturaleza de hombres, o de otra especie.“ (Las Casas 1999, 143) So erweisen sich auch die Monster, die man seit mittelalterlichen Landkarten an den Rändern der Welt vermutete, als von Hunger und Gewaltherrschaft erst nachträglich gezeichnete Menschen. Aus dieser Perspektive ist auch der Kannibalismus selbst bei den ‚Wilden‘ weder eine essentialistische noch eine kulturelle Gegebenheit, sondern – wie auf spanischer Seite – einzig eine lebenserhaltende Notreaktion.21 Vielmehr erscheint der Spanier selbst als der eigentliche Kannibale, der sich die Indigenen ‚einverleibt‘: „comiéndoles sus haciendas, y los indios sirviéndoles como si las vidas y salvación les hobieran de dar […], y que come más un tragón de un español en un día que bastaría para un mes en una casa donde haya diez personas de indios.“ (Las Casas 1999, 147) Der Text spielt mit Isotopien des Verschlingens, vermeidet allerdings geschickt eine explizite Zuschreibung kannibalischer Praktiken an die Spanier, sondern lässt höchstens die Hunde als Stellvertreter ihrer Herren agieren, um die Indigenen zum Futter zu degradieren: „[Los españoles] para mantener los dichos perros traen muchos indios en cadenas por los caminos que andan, como si fuesen manadas de puercos, y matan dellos y tienen carnecería pública de carne humana“ (Las Casas 1999, 171).22 Diese „carnecería“ mit Menschenfleisch stellt den (phantasmagorischen) Paroxysmus eines Bilds von Zerstörung dar, bei dem sich die direkte zwischenmenschliche Gewalt auch auf den Natur- und Kulturraum ausdehnt. In den Ruinen der Siedlungen und fruchtbaren Äcker findet der körperliche Ruin eine materiale Entsprechung. Die „materialidad sufriente que se hace objeto consumido“ (Jáuregui 2008, 177, Kursivierung im Original) der indigenen Körper spiegelt sich in der Materialität anderer ruinierter Objekte, was umgekehrt gleichzeitig die Reifizierung des indigenen Körpers im kolonialen Machtgefälle verdeutlichen mag.23 Die Isotopien der Zerstörung verweben so in beiden Texten körperlichen und materialen Ruin. Bei Anchieta etwa lenkt der Kannibalismusvorwurf den

21 Der Kannibalismus zwischen unterworfenen und noch nicht unterworfenen Indigenen wird so von den Spaniern selbst herbeigeführt: „[C]uando iba a hacer guerra a algunos pueblos o provincias, llevaba de los ya sojuzgados indios cuantos podía que hiciesen guerra a los otros; y como no les daba de comer a diez y a veinte mil hombres que llevaba, consentíales que comiesen a los indios que tomasen. Y así había en su real solenísima carnecería de carne humana, donde en su presencia se mataban los niños y se asaban, y mataban el hombre por solas las manos y pies, que tenían por los mejores bocados.“ Las Casas 1999, 117–118. 22 Vgl. auch: „Todos los demás mataban a lanzadas y a cuchilladas, echábanlos a perros bravos que los despedazaban e comían; y cuando algún señor topaban, por honra quemábanlo en vivas llamas. Estuvieron en estas carnicerías tan inhumanas cerca de siete años […]“ (Las Casas 1999, 116). 23 Vgl. meine Überlegungen in Béreiziat-Lang 2020b.

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Blick immer wieder auf die Zerstörung von Siedlungen und fruchtbaren Äckern durch die Indigenen: Terra procul paucis colitur fecunda colonis, […] Spiritus hanc sacro designat nomine Sanctus, Lysiadum cultam populis; quos horrida contra Bella movens Tamuya ferox, (id nomen avorum Hostis habet saevus), damna infert plurima passim, Devastans agros fecundaque fructibus arva; Abducensque homines, it praeda victor abacta, Captivoque avidos impinguat sanguine ventres. Iamque omnes variis concurrere partibus hostes, Et saevam glomerare manum, populentur ut omnem Christiadum populum; furit imis ira medullis Et belli vesanus amor carnisque cupido Humanae; gliscunt insano corda furore […]. (Anchieta 1958, 58)

Sind in Anchietas Text hier der wilde „furor“24 und die „cupido“ für den allgemeinen Ruin an Bauten, Äckern und Leibern verantwortlich, so stellt Las Casas der Gier der Kannibalen die „codicia“ der Kolonisatoren gegenüber25, die ihrerseits diabolische Züge annimmt. Wie bei Lévi-Strauss charakterisiert sich die ruinierte Kulturlandschaft dabei durch den Kontrast von Gegenwart und einer paradiesischen Vergangenheit, die hinter der Zerstörung durchscheint: Han asolado, destruido y despoblado estos demonios encarnados más de cuatrocientas leguas de tierras felicísimas, y en ellas grandes y admirables provincias, valles de cuarenta leguas, regiones amenísimas, poblaciones muy grandes riquísimas de gentes y oro. Han muerto y despedazado totalmente grandes y diversas naciones […]. (Las Casas 1999, 146)

Die Isotopie der Zerstörung („asolar“, „despoblar“, „destruir“, „quemar“) durchzieht refrainartig den ganzen Text und gipfelt in der Zerstückelung der indigenen Körper, an der die Gewalt der spanischen Kolonialpraxis insgesamt manifest wird:

24 Zur Semantik des ‚furor‘ bei Anchieta im Kontext der antiken Epentradition siehe Welge 2020. 25 Vgl. etwa: „La causa por que han muerto y destruido tantas y tales y tan infinito número de ánimas los cristianos, ha sido solamente por tener por su fin último el oro y henchirse de riquezas en muy breves días, y subir a estados muy altos y sin proporción de sus personas, conviene a saber, por la insaciable codicia y ambición que han tenido […]“ (Las Casas 1999, 77).

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A mucho número de indios […] hizo cortar el tirano mayor desde las narices con los labios hasta la barba todas las caras, dejándolas rasas. (Las Casas 1999, 153) Otra vez, este mesmo tirano fue a cierto pueblo que se llamaba Cota, y tomó muchos indios e hizo despedazar a los perros quince o veinte señores y principales, y cortó mucha cantidad de manos de mujeres y hombres, y las ató en unas cuerdas, las puso colgadas de un palo a la luenga, porque viesen los otros indios lo que habían hecho a aquéllos, en que habría setenta pares de manos; y cortó muchas narices a mujeres y a niños (Las Casas 1999, 168).

Die abgeschnittenen Gliedmaßen der fragmentierten Körper bilden ein Trümmerfeld, das dem der zerstörten Siedlungen entspricht, es aber an Drastik überbietet. Als lebendige Ruinen ‚rehumanisieren‘ die ihrer plastischen Silhouette beraubten Gesichter so das Bild der allgemeinen tabula rasa (vgl. „dejándolas rasas) und damit den ‚Gesichtsverlust‘ der indigenen Kultur insgesamt.26 Interessanterweise setzen beide Texte trotz der unterschiedlichen Blickrichtung ihren Ruinenfeldern doch eine recht ähnliche Vision von ‚Neubau‘ entgegen, die sich jeweils auf die Praxis der Evangelisierung stützt. In Anchietas Zivilisierungsphantasie lässt sich die Überwindung der barbarischen Sitten durch den Bau von Häusern und Kirchen zementieren,27 während Las Casas’ Missionsprojekt mit seiner regen Bautätigkeit einen effektiven Gegenpol zur Zerstörungswut der spanischen Kolonisatoren darstellt: „y les hicieron iglesias y templos y casas“ (Las Casas 1999, 127).

3 Ruinen-Körper und brennendes Rom Im Gegensatz zu diesen Rekonstruktionsprojekten bietet sich für Ercilla – ebenso wie eingangs bei Lévi-Strauss beobachtet wurde – kein Auskommen aus den Ruinen, das nicht im Textuellen fundiert wäre. Gerade der Verlust klarer ideologischer Fronten führt hier zu einer Verlagerung der Problematik in die diskursive Aushandlung selbst und verortet Zerstörung und Wiederaufbau auch auf einer metatextuellen Ebene. Ercillas Epos La Araucana kombiniert so in Bezug auf die

26 Vgl. auch den Augenzeugenbericht eines Fraile, der die Zerstörung von Bauten und Körpern engführt: „,yo afirmo que yo mesmo vi ante mis ojos a los españoles cortar manos, narices y orejas a indios e indias, sin propósito […]. Y yo vi que los españoles les echaban perros a los indios para que los hiciesen pedazos, y los vi así aperrear a muy muchos. Así mesmo vi yo quemar tantas casas e pueblos, que no sabría decir el número, según eran muchos.‘“ (Las Casas 1999, 160). 27 Dem Kannibalismus stehen Sesshaftigkeit und Christianisierung gegenüber: „Iam nova consurgunt habitacula; barbarus Indus / Tecta parat, mansura diu; templisque dicatis, / Nomen ubi Iesu digno celebretus honore“ (Anchieta 1958, 93).

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Darstellung von Zerstörung die Muster ideologischer Modellierung von Las Casas und Anchieta auf flexible Weise, wobei gerade die Problematik des Schreibens als poetischem Selbstzweck einen möglichen humanistischen Impetus im Stil von Las Casas immer wieder überblendet und den Ruin der kolonialen Materie angesichts eines ambitionierten Schreibprojekts billigend in Kauf nimmt. Dazu soll in Ercillas Epos zunächst die Zerstörung der 1550 von General Valdivia gegründeten Stadt Concepción durch die Auracaner näher beleuchtet werden. Die Episode (canto VII, Ercilla 2009, 235–255) fügt sich im narrativen Verlauf in mehrere Gesänge ein, in denen wiederholte blutige Kämpfe zwischen Araucanern und Spaniern auf beiden Seiten unzählige Opfer fordern. In einer allumfassenden Orgie aus Tod und körperlichem Ruin überschlägt sich die Darstellung zerstückelter Leiber, von „[…] muertes estrañas, golpes y heridas / de poderosos y gallardos brazos; / cabezas hasta el cuello y más hendidas, / y cuerpos divididos en pedazos“ (Ercilla 2009, 521). Die Glorifizierung der Gewalt mag durchaus als Tribut an die primäre Leserschaft spanischer Kriegsveteranen verstanden werden.28 Trotzdem bekommt die grausame Zerstückelung der Körper gerade auf Seiten der Araucaner eine eigene Dynamik, die in ihrer Radikalität die Legitimität der spanischen Eroberungszüge in Frage stellt und sich so in die Nähe von Las Casas’ Pamphlet begibt. Die bei Anchieta beschworenen Verfehlungen der Indigenen, ihr diabolischer Unglaube und die Anthropophagie, werden dabei erneut signifikant umgewertet. Mit der Umkehrung der Opfer-Täter-Rollen im Vergleich zu Anchieta stellt Ercilla auch die Verortung des Christlichen in Frage. Werden die Spanier zwar einerseits als Opfer der indigenen „verdugos de los mártires cristianos“ (Ercilla 2009, 687) beklagt, so erweisen sich aus der Perspektive der Araucaner die christlichen Tugenden als Fassade, hinter der die Spanier ihre wahren – materiellen – Interessen verschleiern.29 Stattdessen halten die rebellischen Araucaner den Christen den Spiegel vor, indem sie deren vermeintliche Werte neu inkarnieren.30 Galbarino, ein tapferer Rebell gegen die spanische Kolonialherrschaft, in dessen direkter Rede die Kolonialkritik gebündelt wird, macht mit seinem zerstückelten Körper die koloniale Gewalt evident und stilisiert sich dabei als alternative Chris-

28 Vgl. José Vega 2010. 29 […] es apariencia vana / querer mostrar que el principal intento / fue el estender la religión cristiana, /siendo el puro interés su fundamento; /su pretensión de la codicia mana, /que todo lo demás es fingimiento“ (Ercilla 2009, 631). 30 Dies wäre eine weitere Facette einer Auslagerung europäischer Ideale ins ‚amerikanische Exil‘, vgl. Rössner 1998. Zum neoplatonischen Ideal des perfektiblen Menschen und das Ideal einer auf consensus setzenden Staatsform, auch Gerli 1986.

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tusfigur.31 Als die spanischen Heerführer an dem Rebellen ein Exempel statuieren und ihm eine Hand abhacken, hält er, frei nach der Bergpredigt, die andere auch noch hin32, und stilisiert sich mit seinen abgehackten Händen als Ecce Homo, der seinen ruinierten Körper zum Opfer preisgibt: „Mirad mi cuerpo aquí despedazado“ (Ercilla 2009, 629). Dabei ruft der Text nicht zufällig eucharistische Konnotationen auf. Der gebrochene Leib des Indigenen und das Vergießen seines Bluts inszenieren einen eucharistischen Karneval, in dem sich, wie bei Anchieta, christliche Symbolik und Kannibalismus überlagern, denn der eucharistische Blutkelch als heilendes Sühneopfer wird vielmehr zum abscheulichen Leichenschmaus einer wild gewordenen Meute unersättlicher spanischer Kehlen: ¡Oh gentes fementidas, detestables, indignas de la gloria de este día! Hartad vuestras gargantas insaciables en esta aborrecida sangre mía. (Ercilla 2009, 727)

Ästhetisch wirksamer als Las Casas dreht Ercilla in der Inszenierung des pervertierten Kolonialkriegs den Kannibalismus-Vorwurf gegenüber den Indigenen um, wenn die Spanier mit ihren „gargantas insaciables“ ihre Gier nach Bodenschätzen auch auf den indigenen Körper ausdehnen. Trotz dieser christlichen Überblendung der Araucaner-Stilisierung zeichnet die Zerstörung der Stadt Concepción durch die Indigenen im siebten Gesang (Vgl. „en este canto se contiene el saco, incendio y ruina de la ciudad de la Concepción“, Ercilla 2009, 235) ein anderes Bild, das sich wiederum an den Gemeinplätzen der Diabolisierung der ‚Wilden‘ orientiert, wie sie Anchieta vertritt. Diese Episode verdeckt die körperliche Dimension der Gewalt an den Araucanern und liefert eine ideologische Fundierung für eine auf legitime Rache gestützte Exterminierungspolitik der spanischen Eroberer nach. Die Araucaner legen die spanische Kolonialsiedlung Concepción in Schutt und Asche, wobei der „inclemente bárbaro inhumano“ (Ercilla 2009, 223) nur als wilde Horde („turba“ Ercilla 2009, 218) auftritt, während die individualisierten spanischen Generäle – entgegen der eucharistischen Wendung in der Szene um Galbarinos fragmentierten Körper – hier

31 Vgl. zur Figur des christlichen Opfertods meinen Artikel Béreiziat-Lang 2020b, 70. Wie bei Las Casas unterstreicht die Stilisierung der Indigenen (Galbarino wie auch der konvertierte und gepfählte Caupolicán) als Christusfiguren ihre Fähigkeit zum wahren Christentum, vgl. dazu Arias 2002. 32 „Donde sobre una rama destroncada / puso la diestra mano, yo presente, / la cual de un golpe con rigor cortada, / sacó luego la izquierda alegremente, / que del tronco también salió apartada, / sin torcer ceja ni arrugar la frente“ (Ercilla 2009, 623–624).

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umgekehrt als tragische Opferlämmer eines „sangriento sacrificio“ (Ercilla 2009, 217) erscheinen: „[Los Araucanos] estaban como lobos carniceros / sobre la mansa oveja desmandada“ (Ercilla 2009, 218).33 Die Indigenen hinterlassen die florierende Stadt Concepción in Ruinen, plündern ihre Reichtümer und zünden sie schließlich an. Aus Angst vor der Barbareninvasion haben die Spanier allerdings vorher die Stadt verlassen (vgl. Ercilla 2009, 239), so dass sich das Schauspiel der Zerstörung ganz ohne Gegenspieler abspielt. Die Gewalt wird so als eine willkürliche Aktion markiert, die jede Wechselseitigkeit ausblendet und die angebliche Grausamkeit der ‚Wilden‘ nackt zutage treten lässt. Wie die Wölfe fallen die Araucaner über die verlassenen Häuser her, getrieben von einer wilden „codicia del robo“ (Ercilla 2009, 248), die jede Solidarität unter ihresgleichen (und damit die ihnen an anderer Stelle zugeschrieben gemeinschaftlichen Werte) zunichtemacht.34 Im Vergleich zu Las Casas’ Darstellung entspricht diese Charakterisierung der Araucaner einem invertierten Bild der Kolonialpraxis. In einem „ironic reversal of roles“ (Johnson 2002, 246) plündern die gierigen Araucaner die freiwillig hinterlassenen Reichtümer35, was die realen Besitz- und Machtverhältnisse der kolonialen Begegnung einerseits ironisch aufruft (die vermeintliche Freiwilligkeit der Besitzübertragung), und andererseits verkehrt und verschleiert (durch die Absenz der spanischen Protagonisten). Überhaupt verweist die Stilisierung der Kolonialsiedlung Concepción als ideale spanische Metropole auf das utopische Konstrukt einer gelungenen Kolonialpraxis, die ihre Schattenseiten hinter einer goldenen Fassade36 verschleiert und so die Harmonie einer unbeschwerten, natürlichen Idylle vorgaukelt. Der indigene Raum, in den die spanische Stadt – oder gar die Miniatur des spanischen Staats37 – hineinversetzt ist, verliert dabei seine amerikanische Spezifik und wird mit einer pastoralen Topik überformt. Das Fehlen

33 Es sei nochmals an die analoge Formulierung bei Las Casas erinnert, der mit den „ovejas mansas“ wiederum die Indigenen bezeichnet (Las Casas 1999, 3). 34 Vgl. Anm. 29. „También se roba entre ellos lo robado, / que poca cuenta y amistad había, / si no se pone en salvo a buen recado, / que allí el mayor ladrón más adquiría; / cuál lo saca arrastrando, cuál cargado / va, que del propio hermano no se fía“ (Ercilla 2009, 251). 35 Es fällt dabei die Akkumulation wertvoller Objekte ins Auge: „desampara la turba temerosa / sus casas, posesión y heredamiento, / sedas, tapices, camas, recamados, / tejos de oro y de plata atesorados.“ (Ercilla 2009, 240). Auch die Natur stellt dafür ‚freiwillig‘ das Rohmaterial zur Verfügung, vgl. „[la ciudad] en torno la cercaban ricas venas / fáciles de labrar y de oro llenas“ (Ercilla 2009, 253). 36 Maria Gabriela Huidobro Salazar bemerkt mit Verweis auf Gerónimo de Vivars Crónica y relación copiosa y verdadera de los reinos de Chile, dass die Kleinstadt vier Jahre nach ihrer Gründung keineswegs die Opulenz und monumentale Architektur aufweisen dürfte, die Ercilla inszeniert. Vgl. Huidobro Salazar 2014, 21. 37 Vgl. Johnson 2002, 240.

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der spanischen Protagonisten in der Szene der Zerstörung von Concepción spiegelt somit seinerseits das Fehlen der indigenen Menschen in der Fiktion einer gelungenen spanischen Kolonialpraxis wider.38 Vor dem Hintergrund dieses Spiels von Absenz und Präsenz und der Fiktionalisierung der kolonialen Machtverhältnisse ist es auch kein Zufall, dass der Text von vornherein die Diabolisierung und die Stilisierung der Zerstörungsgewalt der Araucaner als phantasmagorisches Konstrukt von Seiten der furchtsamen Spanier entlarvt39, und so die Textstrategie in der Episode um die Zerstörung Concepcións insgesamt aufdeckt – als rhetorische Stilisierung einer beliebigen Konstellation vorbei an den realen Voraussetzungen. Die diskursive Überschreibung der kolonialen Realität gipfelt in der Überblendung der zerstörten Kolonialsiedlung mit den europäischen Zentren Troja – in Anlehnung an Vergils Aeneis40 – und Rom, was die chilenischen Begebenheiten in die Reihe einer translatio imperii stellt41 und ihr so – als Übertragung und Überbietung einer klassischen imperialen Konfiguration – gleichzeitig historische und literarische Bedeutsamkeit garantiert:42 No con tanto rigor el pueblo griego entró por el troyano alojamiento, sembrando frigia sangre y vivo fuego, talando hasta en el último cimiento cuanto de ira, venganza y furor ciego, el bárbaro, del robo no contento, arruina, destruye, desperdicia y aun no puede cumplir con su malicia. (Ercilla 2009, 250)

38 Rolena Adorno spricht von einer ‚dissolution of the Amerindian humanity into fiction‘. Vgl. Adorno 1986, 18. Die indigenen Menschen spielen auch bei der Darstellung der Besitzverhältnisse keine Rolle, vgl. dazu die Rede der Doña Mencía, die (ohne Erfolg) die flüchtigen spanischen Landsleute zum Bleiben auffordert, da die Kulturlandschaft natürlicherweise der spanischen Präsenz bedürfe: „Volved a vuestro pueblo ojos piadosos, / por vos de sus cimientos levantado; / mirad los campos fértiles viciosos / que os tienen su tributo aparejado; / las ricas minas y los caudalosos / ríos de arena de oro y el ganado / que ya de cerro en cerro anda perdido, / buscando a su pastor desconocido“ (Ercilla 2009, 242). 39 Vgl.: „ya cada español casi temblando, / ando fuerza a la Fama, levantaba / al más flaco araucano hasta el cielo, / derramando en los ánimos un yelo.“ (Ercilla 2009, 238). 40 Vgl. dazu Huidobro Salazar 2014 und Kallendorf 2003, 399. 41 Zur Idee der translatio imperii und zur Bedeutung Roms im Rahmen einer ‚kartographischen‘ Stilisierung imperialer Projektion, vgl. auch Dünne 2011, 101–111 und 338–368. 42 Laut Edmundo O’Gorman, „America could acquire historical significance only by becoming another Europe“. O’Gorman 1963, 139.

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Der letzte Baustein („último cimiento“) der trojanischen Zivilisation entspricht in der Parallelführung den Ruinen der spanischen Siedlung, die sich somit, obgleich gar nicht erwähnt, selbst implizit als letzte Ruine der antiken Kultur ausgibt. Indem die zerstörerische Gewalt durch die indigenen ‚Barbaren‘ (und gerade nicht durch die zivilisierten Griechen) noch überboten wird, werden gleichzeitig die geschichtsträchtigen Ereignisse in die koloniale Szenerie hineinverlängert, und die Konstellationen zwischen Zivilisation und Barbarei neu aufgestellt und in eine neue imperiale Machtkonfiguration überführt. Für diese imperiale Dimensionierung ist auch gerade die Engführung der Ruinen von Concepción mit dem grandiosen Brand Roms unter Nero aufschlussreich. Die Raserei der Araucaner übertrifft noch den Wahn des grausamen Kaisers, der emblematisch die Dekadenz einer Zivilisation verkörpert. Interessanterweise bemüht auch Las Casas in der Brevísima relación das Bild von Neros Gesang vor den brennenden Ruinen, allerdings unter umgekehrten Vorzeichen, denn gerade ein spanischer Heerführer wird mit Nero enggeführt und als Zerstörer einer respektablen Zivilisation dargestellt. Als die Kolonialherren einen aztekischen Tempel in Flammen aufgehen und alle dort versammelten Indigenen bei lebendigem Leib verbrennen lassen, soll der Spanier mit grausamer Ironie lauthals aus dem traditionellen Romance zitiert haben: „Mira Nero de Tarpeya, a Roma cómo se ardía; gritos dan niños y viejos, y él de nada se dolía“ (Las Casas 1999, 107). Anders Ercilla: Wie Anchieta dreht er mit den Araucanern als Kollektiv wahnsinniger Zerstörer nicht nur die Opfer-Täter-Rollen um, sondern erhebt auch das Spektakel der zerfallenden Gemäuer als naturhaftes Ereignis in eine kosmische Dimension: [A]l caer de las casas sonoroso un terrible alarido resonaba, que junto con el humo y las centellas, subiendo amenazaba las estrellas. […] Nunca fue de Nerón el gozo tanto de ver en la gran Roma poderosa prendido el fuego ya por cada canto, vista sola a tal hombre deleitosa; ni aquello tan gran gusto le dio, cuanto gusta la gente bárbara dañosa de ver cómo la llama se extendía y la triste ciudad se consumía. […] no hay cosa reservada al fuego horrible, todo en sí lo convierte, resumiendo los ricos edificios levantados, en antiguos corrales derribados. (Ercilla 2009, 253–255)

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Die Ruinen der monumentalen Bauwerke Roms scheinen als „antiguos corrales derribados“ auch bereits auf die spätantike Ruinenstadt nach dem Einfall der Barbaren vorauszuweisen. Es ist nur konsequent, dass dieses Phantasma eines Barbareneinfalls die europäische Zivilisation nicht nur in der amerikanischen Projektion, sondern auch direkt vor ihren eigenen Toren einzuholen droht. So formuliert der indigene Heerführer Caupolicán vor seinen araucanischen Truppen das Ansinnen, seinerseits in Spanien einzufallen und die robusten Mauern der imperialen Herrschaft in Ruin zu versetzen: ,[…] entrar la España pienso fácilmente y al gran Emperador, invicto Carlo, al dominio araucano sujetarlo. […] De vuestro intento asegurarme quiero pues estoy del valor tan satisfecho, que gruesos muros de templado acero allanaréis, poniéndoles el pecho; con esta confianza, el delantero seguiré vuestro bando y el derecho que tenéis de ganar la fuerte España y conquistar del mundo la campaña.‘ (Ercilla 2009, 262)

Bei dieser karnevalistischen Inversion des Imperialismus werden die Araucaner endgültig zum warnenden Zerrspiegel der spanischen Kolonialpolitik. Die Ruinen von Concepción handeln somit innerhalb des kolonialen Raums eine globale Dimension im Kampf zwischen Zivilisation und Barbarei, und zwischen Herrschaftsanspruch und legitimer Notwehr aus. Und zugleich verweisen die Ruinen auf die stillschweigende Inversion und die Verschleierung der kolonialen Zustände, die ihrerseits den Ruin von Körpern und Landschaften bedeuten.

4 Textuelle Gier und ruinöses Schreiben Findet in der Stilisierung von Concepción als Ruinenfeld europäischer Zivilisation schlechthin bereits eine globale Überblendung43 statt, müssen die Ruinen des chilenischen Pseudo-Roms noch einmal textuell überboten und sinnhaft kompensiert werden. Inmitten der grausamen Araucanerkriege, und zwar genau, als das eucharistische Opfer Galbarinos seinen Höhepunkt erreicht, verdichtet sich das

43 Johnson spricht von „global projection“ (Johnson 2002, 238).

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„web of epic prophecy“44 der imperialen Erfüllung Spaniens unter Felipe II. In Form von zwei ‚Kosmovisionen‘45 präsentiert das Epos bedeutende Schauplätze zeitgenössischer europäischer Auseinandersetzungen. Zunächst lässt eine Traumvision, in der die intradiegetische Erzählerfigur Ercilla von der Kriegsgöttin Bellona geführt wird, die Zerstörung von Saint Quentin (1557) mit dem glorreichen Sieg der Spanier gegen die Franzosen mitverfolgen (Ercilla 2009, 515–516); und einmal bekommt Ercilla in der verwunschenen Höhle des indigenen Magiers Fitón die Seeschlacht von Lepanto (1571) mit dem Sieg gegen das Osmanische Reich in einer Glaskugel zu sehen (Ercilla 2009, 636–637). Die Tatsache, dass es sich bei beiden Vermittlerfiguren dieser Visionen um heidnische Charaktere handelt, sollte auch den Gehalt ihrer Prophezeiungen in Mitleidenschaft ziehen.46 Trotzdem ermöglicht die textuelle Verknüpfung beider militärischer Siege untereinander und mit dem weiteren Handlungsverlauf des Epos eine Kompensation der tragischen Niederlagen der Spanier in Chile, und das auf der großen Weltbühne, „donde se mostrará bien manifiesto / el supremo valor de nuestra España“ (Ercilla 2009, 654).47 Analog zu Anchietas hymnischer Feier der Siege von Mem de Sá in Brasilien erscheint der Triumph der Spanier hier in einer globalen Dimension als gottgewollte Unterwerfung der Ungläubigen.48 Die Rolle der indigenen ‚Barbaren‘ wird nun durch die Muslime als Inkarnation des „sangriento bárbaro inhumano“ (Ercilla 2009, 533) überblendet,49 eine Figur, die auch Las Casas in seiner Apología bedient, mit dem Ziel, den Vorwurf der wahren Barbarei von den amerikanischen Indigenen auf die Türken umzulenken.50 So spricht in Ercillas Text Juan de Austria vor der Schlacht von Lepanto:

44 Vgl. das Kapitel zu Ercillas Araucana in Nicolopulos 2000, 65–119. 45 Vgl. die exhaustive Analyse in Friedlein 2014. Zur kosmographischen Dimension im Imaginarium der frühen Neuzeit vgl. auch Dünne 2011. 46 Barbara Fuchs macht Fitón als Indigenen für eine Zerrfigur der imperialen Prophezeiung verantwortlich. Vgl. Fuchs 2001, 39. Während Fuchs 2001 und Galperin 2009 in diesen Szenen einen skeptischen Blick auf die kolonialpolitische Ausrichtung Spaniens ausmachen, sehen andere Kritiker in Ercillas Text eine deutliche imperiale und dynastische Propaganda (vgl. Prieto 2004) bzw. eine Warnung an die spanische Krone, die Kolonien nicht repressiv genug unter Kontrolle zu halten (vgl. Monsalve 2015). 47 Vgl. zur politisch-dynastischen Semantik durch eine textuelle „continuidad que liga ambas revelaciones“ Prieto 2004, 93. 48 Im Gegensatz zum illegitimen Barbareneinfall in Concepción wird hier die „justísima causa“ (Ercilla 2009, 666) der Eroberung betont. Vgl. dazu auch Las Casas’ und Anchietas konträre Definitionen des bellum iustum (Anm. 14). 49 Zur Parallelisierung der Muslime mit den amerikanischen Indigenen, vgl. Monsalve 2015 und Galperin 2009. 50 Vgl. Galperin 2009, 64.

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,Mirad por este mar alegremente cuánta gloria os está ya aparejada, que Dios aquí ha juntado tanta gente para que a nuestros pies sea derrocada, y someta hoy aquí todo el Oriente a nuestro yugo la cerviz domada […]. Hoy con su perdición establecemos en todo el mundo el crédito cristiano, que quiere nuestro Dios que quebrantemos el orgullo y furor mahometano.‘ (Ercilla 2009, 665)

Wie die rasende Zerstörungswut der Indigenen in Anchietas Epos, ist der „furor mohametano“ der Türken diabolisch besetzt. Der „furor“ ist auch hier jedoch, wie Jobst Welge untersucht hat,51 eine changierende Figur. Zunächst trägt er auf spanischer Seite noch heroische Züge, wie etwa, als der Imperator das häretische Saint Quentin in Ruinen legt: ,Aquella es Sanquintín que vees delante que en vano contraviene a su ruina, presidio principal, plaza importante, y del furor del gran Felipe dina.‘ (Ercilla 2009, 516)

Bald wird jedoch der „furor“ der spanischen Truppen zum Äquivalent des „furor mohametano“ und bekommt, durch die lautliche Ähnlichkeit zwischen „fiera“ und „furor“, auch eine animalische Dimension: „[…] la fiera rabia y gran tesón no cesa, / hieren, matan, derriban; y así andaban / los unos y los otros muy revueltos / en fuego, sangre y en furor envueltos“ (Ercilla 2009, 522). Besonders schwer wiegt bei dieser negativen Wendung des „furor“, dass er in Analogie zum Terminus der „codicia“ tritt, die bei Las Casas die Ursünde der spanischen Kolonialpraxis ausmacht (s. o., Anm. 25). In Vergleich zur Episode um Concepción sind nun die Spanier nicht die Opfer von Plünderung und Zerstörung, sondern Täter eines analogen Szenarios:  

[…] sin hacer más golpe, arremetieron, vuelto en codicia aquel furor sangriento, al esperado saco de la tierra, premio de la común gente de guerra. […]

51 Vgl. Welge 2020.

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[A]sí la fiera gente vitoriosa, con prestas manos y con pies ligeros, de la golosa presa codiciosa, abre puertas, ventanas y agujeros, sacando diligente y presurosa cofres, tapices, camas y rimeros […]. (Ercilla 2009, 525)

Der Unterschied zur Zerstörung Concepcións durch die Araucaner liegt aber bezeichnenderweise darin, dass die Autorität der imperialen Machtinstanz einer völligen blinden Zerstörung in Saint Quentin gerade Schranken auferlegt: „Mas del piadoso Rey la gran clemencia / había las fieras armas embotado, / que con remedio presto y diligencia / todo el furor y fuego fue apagado“ (Ercilla 2009, 528). Die gottgewollte Suprematie geht auch mit moralischer Überlegenheit einher. Diese Propaganda imperialer Umsicht und Milde wird jedoch nicht nur durch die direkt vorangestellte Charakterisierung der spanischen Truppen immer wieder konterkariert52, sondern auch in der nachfolgenden Schlacht von Lepanto ausgehebelt: Hier bekommt die wilde Zerstörung eine ästhetische Dimension, die gerade das Ambiente eines apokalyptischen „fin del mundo y total ruína“ (Ercilla 2009, 678) erzählerisch auskostet. Nicht zufällig kommt bei dem ruinösen Spektakel auch wieder die episch-literarische Tradition des Trojanischen Kriegs ins Spiel: No la ciudad de Príamo asolada por tantas partes sin cesar ardía ni el crudo efeto de la griega espada con tal rigor y estrépito se oía, como la turca y la cristiana armada que, envuelta en humo y fuego, parecía no sólo arder el mar, hundirse el suelo, pero venirse abajo el alto cielo. (Ercilla 2009, 674)

Es scheint mir überhaupt, als würde die Ausweitung der Kampfzone auf die kriegerischen Schauplätze in Europa weniger auf eine wie auch immer gewendete ideologische Aussage zur Legitimität imperialistischer Politik zielen, sondern vielmehr auf eine textuelle Dimension. Der metapoetische Aspekt ist gerade bei den beiden europäischen Schlachten besonders stark.53 Die Offenbarungen der beiden siegreichen Schlachten bieten dem schreibenden Beobachter Ercilla eine

52 Zu dieser Gegenüberstellung, vgl. Pastor 1988. Zur Untererfüllung der imperialen Propaganda auch Lagos 1981. 53 Vgl. Friedlein 2014.

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Ausweitung seiner poetischen Möglichkeiten und der dichterischen Materie, die sich in den chilenischen Kolonialkriegen allein als unbefriedigend darstellt. Als Bellona dem Erzähler die Sicht auf die Zerstörung von Saint Quentin gewährt, belohnt sie seine dichterischen Mühen und verspricht eine „materia llena“ ohne Limit, eine grenzenlose varietas, wie sie die traditionelle Epenpoetik ja auch fordert:54 […] tu trabajo tan fiel considerado, sólo movida de mi mismo oficio, te quiero yo llevar en una parte donde podrás sin límite ensancharte. Es campo fértil, lleno de mil flores, en el cual hallarás materia llena de guerras más famosas y mayores, donde podrá alimentar la vena. (Ercilla 2009, 511)

Gerade der panoptische Blick auf das Weltgeschehen (vgl. „tú desde aquí podrás mirar atento“, Ercilla 2009, 517) verspricht dem Dichter Erfüllung – wenn auch vielleicht nicht unbedingt den politischen Durchblick, so doch die ‚totale‘ Sicht auf das Kriegsgeschehen und damit auf die poetisch wertvollen Ruinen diverser Zivilisationen: Allí se verán hechos señalados, difíciles empresas peligrosas, ánimos temerarios arrojados, cuando las esperanzas más dudosas; postas, muros y fosos arrasados, crudas heridas, muertes lastimosas, casos grandes, sucesos infinitos dignos de ser para en eterno escritos. (Ercilla 2009, 532–533)

Der Ruin von Städten und Körpern wird so gerade zum Kapital der Schrift, um die der Ependichter ringt. Bezeichnend ist dabei, dass der Terminus der „codicia“ sich nun nicht mehr allein auf die Akteure der diversen Kriegsschauplätze bezieht, sondern auf das epische Schreiben selbst und die unersättliche Anhäufung

54 Zum Topos der varietas vgl. Prieto 2004, 85. Neben der dort erörterten politisch-dynastischen Tragweite der Lepanto-Episode wird in der intradiegetischen Logik des Texts besonders auf die dichterischen Konventionen der Gattung Epos verwiesen: „sólo te falta una naval batalla / con que será tu historia autorizada, / y escribirás las cosas de la guerra / así de mar también como de tierra.“ (Ercilla 2009, 651).

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von beschreibbaren Ereignissen („sucesos infinitos“, s. o.).55 Insbesondere die magische Glaskugel im reich geschmückten Palast des Magiers Fitón, die den Blick auf Lepanto freigibt, verdinglicht diese ‚Gier‘ nach immer mehr epischer Materie und kondensiert den fetischhaften Charakter des Schreibens:56  

Después de haber un rato satisfecho la codiciosa vista en las pinturas mirando de los muros, suelo y techo la gran riqueza y varias esculturas, el mago me llevó al globo […]. (Ercilla 2009, 650)

Die opulente Ausstattung der Prophezeiung spiegelt schon das epische Potential der europäischen Schlachten wider, im Gegensatz zur unergiebigen Materie der Kolonialkriege selbst: [L]a seca materia desgustada tan desierta y estéril que he tomado me promete hasta el fin trabajo sumo y es malo de sacar de un terrón zumo. (Ercilla 2009, 564)

Die Kombination von biologischen („seco“, „desierto“, „estéril“, „terrón“) und ökonomischen („materia“, „trabajo“, „sacar“) Lexemen im amerikanischen Setting läuft interessanterweise gerade den topischen Paradies-Stilisierungen entgegen, die einen kostenfreien Reichtum an Bodenschätzen inszenieren – sei es, um die „codicia“ der spanischen Krone nach Bodenschätzen anzustacheln (wie bei Colón), oder um ihren Missbrauch anzukreiden (wie bei Las Casas). Das „campo fértil […] en el cual hallarás materia llena“ (Ercilla 2009, 511) für ein fruchtbares Schreiben ist paradoxerweise erst die globale Vision einer „total ruína“ (Ercilla 2009, 678), die von der kolonialen Gewalt gleichzeitig ablenkt und sie potenziert. Das epische Schreibprojekt gründet gerade auf dem Ruin seiner eigenen Materie, das Niederschreiben benötigt den Ruin von Körpern und Imperien, um seine eigene poetische Gigantomanie zu nähren. Die Gier nach einer totalen Vertextung akkumuliert alle verfügbaren Ressourcen, und der indigene Körper, aber auch jede beliebige Siedlung – stilisiert als brennendes Rom –, fallen dabei dem Schreiben zum Opfer. 55 Vgl. „codiciosos ojos“, „gran codicia de informarme“ (Ercilla 2009, 542), bzw. „yo, codicioso de saber“ (Ercilla 2009, 662). 56 Zum Fetischcharakter und der Materialität der Schrift bei Ercilla vgl. meine Überlegungen in Béreiziat-Lang 2020b.

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5 Schluss – Text als imperiale Ruine Die erzählten Trümmer von Bauwerken und fragmentierten Körpern türmen sich im Epos zu einem apokalyptischen „fin del mundo y total ruína“ (Ercilla 2009, 678). Wie der Vergleich mit Lévi-Strauss’ ethnographischem Bericht aus den Tristes Tropiques zeigt, ist diese Verbindung zwischen poetischer Sprachgewalt und einer – durch die Mäander des Textuellen überdeckten – physischen Gewalt am Körper und am Lebensraum des Anderen kein Zufall. Das koloniale Epos ebenso wie die moderne europäische Ethnographie lassen sich als Teile einer „imperial formation“ sehen, die, Ann Laura Stoler zufolge, immer einer „relation of force“ gleichkommt.57 Die Texte selbst fügen sich demnach als Reste imperialer Konfigurationen, als „imperial debris“ (Stoler 2008, 193), in dieses Trümmerfeld ein, das sie selbst heraufbeschwören. In Anlehnung an Walter Benjamins Sicht der Ruine als ‚versteinertes Leben‘ ließe sich so der Text selbst umgekehrt als ‚ruiniertes Leben‘ bzw. als ‚versteinerter‘ (weil dauerhaft festgehaltener) Ruin zeichnen – und die Ruine selbst würde zur Figuration eines poetisch überformten Schreibens über den ‚Anderen‘. Die Fragmentiertheit der Texte – Ercillas Araucana wie LéviStrauss’ Tristes Tropiques – entspricht dabei ihrer ruinösen Grundkonfiguration, die auf einem grundlegenden Dilemma basiert: dass das (literarisch) fruchtbare Schreiben über den ‚Anderen‘ sich über diesen hinwegsetzen muss bzw. in aller Radikalität erst über dessen Leiche funktioniert. Wie in Lévi-Strauss’ Tristes Tropiques der schreibende Wissenschaftler von der ethnographischen Niederschrift weg in die Sphären der antiken Tragödie flieht, und dort das kontinuierliche Verschwinden der indigenen Bevölkerungen textuell zu kompensieren sucht, so gerät auch Ercillas schreibendes Alter Ego in einen Konflikt zwischen seinem Projekt eines im weiteren Sinne ‚anthropologischen‘ Zeugenberichts der chilenischen Realität (wie im Vorwort beschworen) und der literarischen Vertextung dessen in Form eines klassischen Epos.58 Gegenüber den schnipselhaften Mitschriften aus der kolonialen Unmittelbarkeit (vgl. „escribiendo muchas veces en cuero por falta de papel, y en pedazos de cartas, algunos tan pequeños que apenas cabían seis versos“ Ercilla 2009, 71, s. o.) bietet die Gattung Epos einen poetischen Rahmen, der ein nicht unerhebliches literarhistorisches Prestige transportiert und in dem das Ruinöse sich als eine fruchtbare Ästhetik legitimieren kann. Hinter den poetischen Forderungen dieses epischen Schreibprojekts treten dann auch ideologi 

57 Vgl. Stoler 2008, 193: „Imperial formations are relations of force. They harbor political forms that endure beyond the formal exclusions that legislate against equal opportunity, commensurate dignities, and equal rights.“ 58 Zum Konflikt des anthropologischen Zeugenberichts zur epischen Gattung und der imperialen Loyalität, vgl. Fuchs 2001.

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sche Gesichtspunkte, wie eine gezielte imperiale Propaganda (wie bei Anchieta), oder eine eventuelle humanistische Kritik an der Kolonialpraxis (wie bei Las Casas) in den Hintergrund, was auch die changierende, opportunistische Kombination beider Modelle innerhalb des Araucaner-Epos selbst erklären mag. Der Aspekt einer Flucht59 in europäische Diskursmuster, wie sie auch Lévi-Strauss beim Verfassen der antikisierenden Tragödie im brasilianischen Forschungscamp beschreibt, gilt stattdessen als ein Mechanismus der kompensierenden Überblendung für den Verlust und die Zerstörung der indigenen Wirklichkeit. Bei der literarischen Überformung des Beobachteten muss, wie bei Lévi-Strauss, das Andere erst verschwinden und die Trümmer seiner Präsenz müssen mit ‚diskursivem Ruin‘, wie der Inszenierung der Ruinen antiker Machtzentren, überblendet werden. Die Ruinen der Städte und der körperliche Ruin an den Araucanern sind so gleichzeitig Grundlage und Kollateralschäden eines ehrgeizigen Schreibprojekts bzw. einer literarischen Gattungspräferenz. Michel de Certeau hat in L’écriture de l’histoire bei seinen Überlegungen zur Historiographie auch die „Ethno-graphie“60 als einen analogen Mechanismus beschrieben, der ebenfalls mit der Unverfügbarkeit des Anderen (nun nicht auf einer zeitlichen, sondern auf einer geographisch-kulturellen Achse) zu kämpfen hat. Beiden Diskursen ist ihre untrennbare Verbindung zum Tod gemeinsam – denn wo die Geschichtsschreibung eine verlorene Vergangenheit neu organisiert, entspricht der Diskurs der Ethnographie einer „parole instituée en lieu de l’autre“61, die auf dem Verstummen und dem Über-Schreiben der Präsenz des Anderen beruht: „Il faut mourir au corps pour que naisse l’écriture.“62 In diesem Sinn inszenieren sowohl das koloniale Epos – als ‚historisierendes‘ und literarisierendes Über-Schreiben einer ‚ethnographischen‘ Begegnung – als auch Lévi-Strauss romanesker Ethnologenbericht die kompensierende Überblendung des Ruins, den sie selbst heraufbeschwört – in der Hoffnung „à combler les lacunes par où se trahirait l’irréparable perte de la présence“ (Certeau 1975, 386). So schreibt Certeau (im Zusammenhang mit Freuds Moses-Essais) über Tod und Zerstörung als notwendige Grundlage ‚epischer‘ Erzählungen: L’Épos, de la saga au poème, ne se produit pas sans la chute de ce qu’il chante. […] [U]ne blessure mortelle ouvre la place où paraît le poème homérique ou biblique, rêve écrit. La ‚fic-

59 Auch bei Ercilla erscheint die Notion von Flucht wiederholt: „el entendimiento y la pluma mía / […] huye del gran estrago que este día / hubo en los defensores de su tierra“ (Ercilla 2009, 721). 60 So der Titel des fünften Kapitels zu Jean de Léry, siehe Certeau 1975, 245–283. 61 Certeau 1975, 247. 62 Certeau 1975, 384.

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tion‘ se bâtit sur le ‚rien‘ de l’existence qui a passé et dont ‚rien ne substiste‘ […]. Les grandes ruines font les grands poèmes. (Certeau 1975, 387)

Auf den „grandes ruines“ der kolonialen Begegnung lässt sich der „rêve écrit“ einer literarischen Glorie errichten. Nicht zufällig erscheint das Schreiben sowohl bei Lévi-Strauss (im nachmittäglichen Wachtraum als ‚Geburt der Tragödie‘) als auch bei Ercilla (in den Traumvisionen der europäischen Schlachten) als ein träumerisches Delirium, als ein phantasmagorisches, täuschendes Unterfangen bei der Inszenierung einer ungenügenden Wirklichkeit. Als einvernehmende, enteignende Vertextung des Anderen ist das Schreiben selbst ein zerstörerischer Mechanismus. Lévi-Strauss’ ethnographische Skepsis und Ercillas programmatisch-ideologische Ambivalenz gleichermaßen weisen, an zwei unterschiedlichen Momenten der europäischen Neuzeit, diesen Mechanismus der „entreprise scripturaire“ und ihrer kolonialistischen Dimension63 als ruinöses Unterfangen aus. Das Stückwerk des Textuellen beim Beschreiben des kolonialen Anderen ist letztlich nichts als eine – wiederum ruinöse – Überblendung des Ruins.

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63 Zur einvernehmenden und ent-eignenden Dimension der Schrift als moderne Kulturtechnik schreibt Certeau: „Aussi bien l’entreprise scripturaire transforme ou conserve au-dedans ce qu’elle reçoit de son dehors et crée à l’intérieur les instruments d’une appropriation de l’espace extérieur. […] Combinant le pouvoir d’accumuler le passé et celui de conformer à ses modèles l’altérité de l’univers, elle est capitaliste et conquérante.“ Certeau 1990, 200–201, Kursivierung im Original.

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Constanze Baum

„… la poétique des ruines est encore à faire“ Diderots Ruinenästhetik zwischen Enzyklopädie und Kunstkritik Das 18. Jahrhundert hat sich vielstimmig mit Ruinen und ihrer Rezeption auseinandergesetzt. Die Entkopplung von alten Mustern, die die Ruine als Paradigma einer Vergänglichkeitsform im Sinne von geläufigen vanitas-Vorstellungen festschrieb, setzte neue Positionen frei, durch welche die Ruine als Ausgangspunkt neuer Überlegungen zu einer wichtigen architektonischen Form avancieren konnte, die sich von einem Symbol des Verfalls und der Zerstörung zu einem Möglichkeitsraum für vielschichtige Bedeutungsanlagerungen wandelte. Dies ging einher mit der Erprobung neuer Wahrnehmungskonzepte und der Etablierung einer Autonomieästhetik, wie sie sich in vielen Werken der Kunst und Literatur nachvollziehen lassen. Denis Diderot (1713–1784) gehört zu den Protagonisten einer solchen neuen Ästhetik der Ruine, die er über den Weg der Kunstbeschreibung und Kunstkritik in seinen Salons in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorstellt. Es ist eine Zeit der Ruinenkonjunktur. Mit dem Wiederaufflammen der Antikenverehrung, den ersten spektakulären Ausgrabungen der verschütteten Vesuvstädte und gelehrten Reisen zu den antiken Stätten fand auch das Schreiben über und das Zeichnen und Malen von Ruinen neue Absatzmärkte im internationalen Kulturbetrieb seiner Zeit. Wie das Zerstörte in ästhetischer Hinsicht verfügbar gemacht und Verfall zu einem Sujet des Schönen und Erhabenen werden konnte, sollen die folgenden Ausführungen am Beispiel Diderots zeigen.1 Zugleich gilt es mittels dieses prominenten Beispiels darzulegen, welche Parameter den Ruinendiskurs des 18. Jahrhunderts bestimmen und welche Implikationen die Ruine als ‚offene Form‘ bis hin zu einer politischen Lesart für Diderot im Besonderen bereithält.

1 Diesem Beitrag sind überarbeitete Teile meiner Dissertation Ruinenlandschaften. Spielräume der Einbildungskraft in Reiseliteratur und bildkünstlerischen Werken über Italien im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Heidelberg: Winter, 2013, zugrunde gelegt. Ich danke den Herausgebern dieses Bandes für die Gelegenheit, meine Überlegungen hier noch einmal ausführlicher darlegen zu können. https://doi.org/10.1515/9783110757811-004

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1 Das Wissen der Ruine – Ästhetische Fundierung in der Encyclopédie Im 14. Band der von Diderot und d’Alembert ab 1752 herausgegebenen Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers finden sich drei kürzere Lemmata zur Ruine: ein grammatisches, ein architektonisches und ein auf die Malerei bezogenes. Der Band erschien 1765 und stellt damit – auch wenn die Autorschaft Diderots nicht gesichert ist und zumindest der Architektureintrag auf Louis de Jaucourt (1704–1779) zurückgeführt werden kann – einen ersten wichtigen Orientierungspunkt in der Frage dar, wie die Ruine im Wissensfeld des 18. Jahrhundert neu aufgestellt wird. Entgegen anderer definitorischer Festschreibungen der Zeit, die vor allem die negative Konnotation von Zerstörung und Verfall betonen,2 wird hier ein neuer Ton angeschlagen. Schon die grammatische Erfassung überrascht mit einer Zuordnung, die auslegungsbedürftig erscheint: „RUINE, s. f. (Gram.) décadence, chûte, destruction; les ruines sont belles à peindre […]“.3 Mit „décadence“ und „chûte, destruction“ wird die Kategorisierung zweier grundlegender Phänotypen der Ruine nahegelegt, die ich andernorts als Ruinen der Dauer und Ruinen des Augenblicks zu klassifizieren versucht habe (Baum 2013, 12–14) und die den Aspekt der Zeitlichkeit in Bezug auf die Form betonen. Mit dem sich direkt anschließenden Verweis „les ruines sont belles à peindre“ wird zudem eine weitere wichtige Markierung gesetzt, die im dritten Lemma erneut stark gemacht wird: Die Verknüpfung der ruinösen Architekturform mit ihrer künstlerischen Erfassung drängt sich vor anderen Aspekten in den Vordergrund. Sind es hier noch die Ruinen, die als malerisches Sujet gut taugen, verschiebt sich diese Semantik im dritten Lemma zu „belles ruines“, schönen Ruinen. Es ist dies ein feiner, aber bedeutender Unterschied, der eine entscheidende Wendung für die Etablierung einer Ruinenästhetik in sich birgt:4 R UINE , se dit en Peinture de la représentation d’édifices presque entierement ruinés. De belles ruines. On donne le nom de ruine au tableau même qui représente ces ruines. Ruine ne se

2 Vgl. beispielsweise den Eintrag zur Ruine in Zedler 1735. 3 Diderot und d’Alembert (1765, 433) [Kursivierung im Original]. 4 Beachtenswert ist, dass sich ein ganz ähnliches Phänomen der semantischen Verschiebung in den Titeln zweier unterschiedlicher, aber viel rezipierter Stichwerke der Zeit, die in Paris erschienen, ablesen lässt: Philippe Le Bas’ Recueil des Plus Belles Ruines de Lisbonne (1757) und JulienDavid Le Roys Ruines des Plus beaux Monuments de la Grèce (1758), dessen Kupferstiche ebenfalls von Le Bas ausgearbeitet worden sind. Der Huldigung der einst schönen Monumente der Antike, die jetzt Ruinen darstellen, stehen die malerisch schönen Ruinen des durch das Erdbeben 1755 zerstörten Lissabons gegenüber, vgl. hierzu ausführlich Baum (2013, 8–24).

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dit que des palais, des tombeaux somptueux ou des monumens publics. On ne diroit point ruine en parlant d’une maison particuliere de paysans ou bourgeois ; on diroit alors bâtimens ruinés. (Diderot und d’Alembert 1765, 433)5

Die Ruine wird damit in den Rahmen eines ästhetisch-künstlerisch orientierten Definitionsansatzes überführt und zu einem Objekt des Schönen erklärt. Nicht wunder nimmt dies, beachtet man, dass Diderot bereits im zweiten Band der Encyclopédie unter dem Lemma „Beau“ eine vielbeachtete Theorie des Schönen vorgestellt hatte (der Artikel geht auf eine Fassung zurück, die bereits 1750 separat erschienen war). Somit mutet es umso wahrscheinlicher an, dass die Verbindung von Malerei und Ruine hier auf Überlegungen Diderots rekurriert.6 Im Rahmen des kollaborativen Projekts der Enzyklopädisten ist es vielleicht aber auch gar nicht erheblich, wem die Autorschaft dieses kleinen Beitrags zur Ruine zugeschrieben wird. Diderot selbst beschäftigte sich jedenfalls ab der Jahrhundertmitte zunehmend und nach Abschluss der Arbeiten an der Encyclopédie vermehrt mit dem Pariser Kunstausstellungswesen und übte sich als homme de lettres in der Auseinandersetzung mit der Nachbardisziplin der Schönen Künste, die ihm mehr und mehr zum vertrauten Gegenstand wurde. Das könnte erklären, warum die Ruine in diesem späten Band der Lexikonredaktion stets in einem interdisziplinären Verbund mit der Malerei betrachtet wird. Gleichzeitig spielt diese Tatsache aber auch der Ruinenmode der Zeit nach 1750 in die Hände. Künstler wie Le Roy, Le Bas, Giovanni Paolo Pannini, Giovanni Battista Piranesi und schließlich auch deren Schülergeneration, zu der auch Hubert Robert, der den Zunamen „Robert des Ruines“ erhielt, gehörte, feierten mit ihren Gemälden und Stichwerken Siegeszüge auf dem europäischen Kunstmarkt, die bis nach Sankt Petersburg an den Hof Katharinas II. ausstrahlten. Zu deren Kunstagent wurde Diderot übrigens in den 1760er Jahren. Dabei beruhte seine Kompetenz im Feld nicht nur auf einer präzisen und mitunter erstaunlich stilsicheren vergleichenden Analyse der Sujets, vielmehr empfahl er die Meisterschaft des einen und verwarf die Komposition des anderen Künstlers oder Gemäldes auf der Grundlage eines empfindsamen, stets dem momenthaften Eindruck folgenden Urteils. Es wird darauf noch zurückzukommen sein. Die lexikalische Darstellung der Ruine im Encyclopédie-Artikel selbst entbehrt im Kontext des dort zu etablierenden Wissensdiskurses eines solchen sub5 Ein Autorenkürzel findet sich unter diesem Eintrag nicht. Lediglich die vorangegangene, architektonische Definition ist mit der Autorenkennung „D.J.“ von Louis de Jaucourt versehen. 6 Auch Roland Mortier vertritt die These, dass dieser Kurzeintrag von Diderot stammt (Mortier 1974, 99).

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jektiven Urteils freilich ebenso wie das Netzwerk von Künsten und Künstlern um den Ruinenkult unerwähnt bleibt. Semantisch wie syntaktisch freischwebend steht stattdessen lediglich die Bezeichnung „de belles ruines“ im Artikel. Wieder mit Rückgriff auf die Malerei und unter Aufruf des gleichnamigen Subgenres, der so genannten Ruinenmalerei als einer Untergattung der Genre- und Landschaftsmalerei, gewinnt die Ruine hier durch die Kontextenthobenheit eine gewisse Form der Autonomie, von der in Bezug auf die von Diderot im selben zeitlichen Umkreis verfassten Salons noch zu sprechen sein wird. Auffällig an diesem Eintrag ist auch, dass die Ruine sich gewissermaßen selbst erklärt. Es tauchen keine Synonyme oder andere Begriffsbeziehungen wie im grammatischen Eintrag auf. Neben dem Verweis auf Ruinenbilder etabliert der Text stattdessen eine selbstreferentielle Unterscheidung zwischen „édifices ruinés“ und „bâtimens ruinés“, wobei letzteren die Zuschreibung als Ruine aberkannt wird. Die Bedeutung und die Funktion des vormals intakten Gebäudes, nicht das Stadium des Verfalls oder die Situation, die zum Ruinösen geführt haben, dienen hier zur Distinktion, wonach es zwar verfallene bäuerliche Hütten und Bürgerhäuser geben kann, die Gebäudegruppe von Palästen, prächtigen Grabmälern und öffentlichen Gebäuden aber allein in den Rang von Ruinen erhoben und mithin auch als schöne Ruinen transformiert erscheinen können (Mortier 1974, 9–10). Dies steht ganz im Verständnis zeitgenössischer künstlerischer Würdigung von antiken Ruinen sowie in einer klassisch-rhetorischen Tradition. Die Ruine wird dem Verfasser des Artikels zum hochrangigen Sujet und damit dem genus sublime im Sinne der rhetorischen Lehre von den drei Stillagen zugeordnet. Damit einhergehend vollzieht sich auch eine partielle Aufwertung der malerischen Gattung der Ruinenmalerei, die dadurch in die Nähe der Historienmalerei gerückt wird, der dieser hohe Stil traditionell vorbehalten war. Nicht von ungefähr leitet sich folgerichtig der ‚Ruinenwert‘ in dieser Definition von der vormaligen historia des Gebäudes ab.7 Roms sprechende Ruinen, wie sie von Künstlern wie Pannini, Piranesi, Vasi und schließlich auch Robert in ihren Bildwerken festgehalten haben, zeigen mit Darstellungen antiker, bedeutender Gebäude den Weg zu dieser Aufwertung der Ruinenmalerei auf. Joseph Vernets Kabinettstücke verfallener Katen bedienen dagegen weiterhin das Sujet der Genre- und Landschaftsmalerei. Im Verständnis einer solchen rhetorisch gebundenen Lesart wäre die Darstellung der zerfallenen Hütte dem der Bukolik nahestehenden genus humile zuzuordnen. Auch wenn diese Festlegung im Gesamt der vielen tausenden von Einträgen in der Encyclopédie verschwindend klein erscheint, kann sie meines Erachtens

7 Eine Tatsache, die noch vom Nationalsozialismus im Dritten Reich instrumentalisiert wurde, vgl. Schönberger (1987, 97–107).

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durchaus interpretatorisch strapaziert werden. Diderot gehört zu den Autoritäten der Aufklärung, die sich stets vorbehielten, jeder allzu idealisierenden Lesart eine antagonistische oder desavouierende Lesart beiseite zu stellen, und so scheute er sich auch nicht davor, ganze Denksysteme oder Kategorisierungen zum Einsturz zu bringen. Eine Enthierarchisierung der Gattungen der Kunst entsprach im Kern zudem den Säkularisierungsbestrebungen des 18. Jahrhunderts. Das Landschaftsbild als reines, gefälliges Kabinettstück emanzipierte sich im Licht von Künstlern wie Claude Lorrain und Nicolas Poussin in dem Maß zu einem tragenden Genre, wie die religiöse Malerei ins kulturpolitische Hintertreffen geriet. Neben die Historienmalerei, die staatstragend für Herrscher und glorifizierende Taten taugte, erlangten die Vedute, die die Physiognomie einer Landschaft vorstellte, und das Genrebild, das der sozialen Wirklichkeit ein Gesicht verlieh, im Laufe des 18. Jahrhunderts einen neuen aussagekräftigen Status, die mit den Verbürgerlichungstendenzen der Gesellschaft produktiv zusammentraf. Insofern greift die Vereinnahmung der Ruinen (der Antike) durch die Malerei, die gattungsgeschichtlich der archäologischen Bestandsaufnahme letztlich vorangeht, einen Sachverhalt auf, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts neue Künstler und auch Kunstformen auf dem Markt etablierte. Aber zurück zu dem konkreten Textbefund des Encyclopédie-Eintrags und der Neuzuschreibung der Verfallsarchitektur als „belles ruines“: Diderot legte um 1750 auch wichtige Überlegungen zur Sprachentwicklung vor, die sensualistischer Natur waren und sich unter anderem am Gebrauch von Adjektiven orientierten. Der durch die Verwendung von Adjektiven gegebene, natürliche Sprachgebrauch hat demzufolge das Potential, sich zu einem artifiziellen Ausdruck in Form von Substantiven zu wandeln, und so zu einer Sprache der Ideen avancieren, wie er in einem von Lessing bewunderten Essay über die Taubstummen verhandelt.8 Übertragen auf den hier diskutierten Gegenstand entsteht mit der Bindung des Adjektivs „belles“ an die Ruine die Voraussetzung für eine das Objekt einbeziehende Ästhetik, einer Lehre vom Schönen. Ein anderer Faktor mag hier auch geltend gemacht werden: Die Einträge der Encyclopédie entstanden unter dem Druck der Zensur und arbeiteten teils mit verdeckten Hinweisen, um kritisches Potential in unauffällig wirkenden Lemmata unterzubringen. Diderot war schon 1749 wegen der Verbreitung blasphemischer Gedanken inhaftiert worden, er wollte dies im Zusammenhang mit dem Encyclopédie-Projekt sicher nicht wiederholt riskieren. Die Art des verdeckten Schreibens klingt an dieser Stelle vielleicht noch nicht an, eine andere Fundstelle, die in en-

8 Vgl. Diderot, Denis. Lettre sur les sourds et muets à l’usage de ceux qui entendent et qui parlent, o.O. 1751.

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gem Verbund mit der Ruine steht und auf die gleich zu sprechen kommen wird, intendiert dies jedoch stärker. Zunächst sei aber noch kurz auf den von Louis de Jaucourt verfassten Eintrag zur architektonischen Bedeutung eingegangen, der die Ruine ergänzend zu dieser ästhetischen Verortung als sukzessiv fortschreitenden Verfall interpretiert und damit den Faktor Zeit noch einmal betont: „R UINES , s. f. pl. (Archit.) ce sont des matériaux confus de bâtimens considérables dépéris par succession de tems.“ (Diderot und d’Alembert 1765, 433). Die anschließend aufgeführten Beispiele gehen auf frühe archäologische Bestandsaufnahmen verschiedener Reisewerke zurück, die antike Altertümer im persisch-osmanischen Raum erschließen. Jaucourt wertete diese als Quellen aus, er nennt u. a. Pietro della Valle9 und Robert Wood,10 und ruft damit Zeugnisse einer an griechischen, nicht römischen Altertümern orientierten Erforschung der Antike auf. Er verweist damit interessanterweise auf einen topographischen Raum der Antikenrezeption, der durch die osmanische Herrschaft nur für sehr wenige erreichbar war und demzufolge nur durch deren Berichte, Bilder und Texte vermittelt werden konnte. Die Spurensuche in der Encyclopédie verhilft aber noch zu weitreichenderen Beobachtungen. Schlägt man den Verweis der grammatischen Zuschreibung nach, so stellt man fest, dass der von d’Alembert bereits 1754 im vierten Band verfasste Eintrag „Décadence“ unerwarteterweise um das Schlagwort „Ruine“ erweitert ist:  

DECADENCE, RUINE, (Syn. Gramm.) Ces deux mots different en ce que le premier prépare le second, qui en est ordinairement l’effet. Exemple. La décadence de l’empire romain depuis Théodose, annonçoit sa ruine totale. On dit aussi des Arts qu’ils tombent en décadence, & d’une maison qu’elle tombe en ruine. (O) (Diderot und d’Alembert 1754b, 659 [Kursivierung im Original]).

D’Alembert zufolge existiert eine kausale Verknüpfung von Dekadenz, im Sinne von Niedergang, – hier in Anlehnung an das Römische Reich gelesen und damit mit einem klaren Referenzpunkt auf Antikenrezeption versehen – und der Ruine, die als dessen Folge anzusehen sei. Diese Kausalität, die als Distinktion vorgeführt wird, legt eine Lesart nahe, die an geschichtsphilosophische Diskurse anknüpft bzw. diesen vorgreift. Schon Boileau hatte das Begriffs- und Bedeutungsfeld der Dekadenz in Zusammenhang mit ästhetischen und ethischen Normen in die Querelle des Anciens et des Modernes eingebracht, und Montesquieu seine

9 Hier mit Bezug auf dessen Reiseschrift Viaggi in Turchia, Persia et India descritti da lui medesimo in 54 lettere famigliari, 2 Bde., Rom: Vit. Mascardi, 1650–1658. 10 Wood, Robert. The Ruins of Palmyra, otherwise Tedmor, in the desart. London: o.V., 1753.

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Bedeutung für die Auslegung des Untergangs des antiken Roms gebraucht. Die Begriffsfindung um die Ruine geht demnach einher mit den das Jahrhundert bestimmenden Diskursen, die um Zivilisationskritik und Geschmacksvorstellungen ringen bzw. diese neu aufstellen.11 Da der lexikalischen Präsentation weit mehr Normativität im Wissensdiskurs zugesprochen werden muss als einer Position beziehenden Einzelstimme, ist es wichtig, diese impliziten Zusammenhänge und Querverweise an dieser Stelle mitzudenken. Sie verleihen den wenigen Worten, die dem Gegenstand der Ruine im Eintrag gewidmet sind, jene tieferliegenden Dimensionen, die erst erklären können, warum sich so vielfältige Bedeutungen hieran anzulagern vermögen. Versteht man die Ruine über ihre architektonische Form und malerische Anverwandlung hinaus als politisches Denkbild, finden sich in dieser Deutungslinie Ansätze zu einem Verständnis, wie sie wenig später von Edward Gibbon in The History of Decline and Fall of Roman Empire (1766) prominent aufgegriffen werden.12 Noch einmal wird die Ruine als mitgelieferter Verweis heranzitiert: Nur eine Seite zuvor nennt d’Alembert sie in der Aufzählung von Synonymen im Eintrag „Debris, Decombres, Ruines“: DEBRIS, DECOMBRES, RUINES, (Gramm. Syn.) ces trois mots signifient en général les restes dispersés d’une chose détruite, avec cette différence que les deux derniers ne s’appliquent qu’aux édifices, & que le troisieme suppose même que l’édifice ou les édifices détruits soient considérables. (Diderot und d’Alembert 1754a, 658 [Kursivierung im Original])

Auch wenn in dieser Aufzählung keine neuen Aspekte zu Tage treten, reiht sich dies doch in die Beobachtungen ein, die der zerstörten Form in Abgrenzung, Vergleichung und Gradation einen Platz zuzuweisen suchen. Zu diesen Versatzstücken gehört schließlich auch der Eintrag „Fragment“, der in aller Kürze den architektonischen Begriff als „quelques morceaux détachés d’un tout, […], qu’on a trouvé parmi des ruines“ (Diderot und d’Alembert 1757, 273–274) deutet und damit den altertumsorientierten Verbund von Ruine und Fragment erneut betont. Von der geschichtsphilosophischen Idee der romantischen Fragment-Theorie im Sinne Schlegels ist dies freilich noch weit entfernt. Die enzyklopädischen Spuren, die die Ruine in dem umfassenden LexikonProjekt hinterlässt und die ein Wissen der Ruine etablieren, welches sich der emblematischen Zuschreibung als Symbol von Vergänglichkeit entzieht, reichen von 1754 bis 1765. Es sind dies kleine Fundstücke, die sicherlich gegenüber anderen Artikeln von ihrem Umfang her marginal erscheinen. Dennoch lassen sich, wie

11 Vgl. auch die in die gleiche Richtung zielenden Überlegungen von Seth (2016, 215–238). 12 Zu Gibbon vgl. den Beitrag von Paul Strohmaier in diesem Beiheft.

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gezeigt werden konnte, wichtige Parameter ausmachen, die die besondere Bestimmung und letztlich die relevante Aufstellung der Ruine mit einer deutlichen Ausrichtung auf malerische Sujets und politischen Implikationen vorzeichnen, wie sie Diderot im Salon de 1767, in Beschreibungen auch von „Petite, très petite ruine“ (Diderot 1995, 342 [Kursivierung im Original]) – wie er eine der Bildbeschreibungen betitelt –, weiter ausbaut.

2 Ruinen im Salon – Kunstkritik als offene Form Das Bild der Ruine, durch Malerei nobilitiert, wird für Diderot zum Ausgangspunkt für einen Entwurf zu einer in der Forschung vielbeschworenen ‚Poetik der Ruinen‘, wie er sie entlang der Bildbeschreibungen zu Gemälden Joseph Vernets und vor allem Hubert Roberts in seinen Kunstbesprechungen im Salon de 1767 ausruft.13 Vernet war Diderot ein alter Vertrauter, seine hymnische Verehrung durchzog bereits vorangegangene Salons. Roberts Gemälde wurden dagegen 1767 erstmals in der Akademie ausgestellt. Seine in Italien an Piranesi geschulte Ruinenmalerei war dem kleinen Kabinettstück mit Leinwänden, die über einen Meter maßen, entwachsen. Dass gerade die Ruine als offene Form geeignet ist, normative Setzungen aufzuheben, lässt sich entlang der in den Salon de 1767 versprengt auftauchenden Partien aufzeigen. Die Forschung hat sich diesen Fragen von unterschiedlicher Seite bereits genähert und in den letzten Jahren hat die Beschäftigung gerade aus romanistischer Sicht diese Texte, die einen interdisziplinären Zugang erfordern, vermehrt in den Blick genommen.14 Schon Karlheinz Stierle (1990) und Hubertus Kohle (1989) haben in Beiträgen und Studien den Wert der Kunstkritik Diderots und vor allem die besondere Form des Schreibens vor dem Hintergrund der Salonbesprechungen15 herausgestellt. Die Form der Kunstkritik, in der sich Diderot in

13 Die Erstveröffentlichung im Druck erfolgte erst 1798, fertiggestellt wurde das Manuskript vermutlich schon 1768. Es handelt sich um den umfangreichsten Salon Diderots, der in einer ExtraSendung der Correspondance littéraire ausgeliefert wurde. Zum Aspekt der Kunstkritik vgl. z. B. Dresdner (2001, 326–333). 14 Vgl. die grundlegenden Studien von Roland Mortier (1974) und Hubert Burda (1967), sowie Michel Makarius opulent ausgestatteten Prachtband Ruines. Représentations dans l’art de la Renaissance à nos jours. Paris: Flammarion, 2004, des Weiteren auch Gérard Raulets substantiellen Beitrag „Die Ruinen im ästhetischen Diskurs der Moderne“, in dem auch an weiteren Beiträgen zur Ruinenrezeption instruktiven Band von Norbert Bolz und Willem van Reijen (1996). 15 Als „Parcours des Discours“ deutet Peter Bexte (2005, 307) die mehrfache Verwendung des Begriffs Salon selbst, der topographisch den Ort der Ausstellung am Ende der Grande Galerie des Louvre bezeichnet, sozialhistorisch den Titel des Ausstellungsformats – das Genre einer öffent 

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den Salons übt, entzieht sich jener Normativität, wie sie das Encyclopédie-Projekt qua Gattung vorschrieb. Hier regieren vielmehr der Wille und die Lust zum Aufschreiben und zum kontingenten Erschreiben neuer Horizonte:16 Diderot erklärt – selbst nur Besucher einer Ausstellung, die ihm bloß erinnert vor Augen steht – der Welt des Hochadels die aktuell von der Akademie ausgestellten Werke zeitgenössischer Kunst. Bevor man überhaupt einen Blick auf die Auseinandersetzung mit Ruinen und Ruinenmalerei werfen kann, die Diderot im Salon de 1767, dem umfangreichsten der von ihm vorgelegten Salons, emphatisch bespricht, muss das Konstrukt dieser Vermittlung erläutert werden: Diderot verfasste die Salons nicht für eine breite Öffentlichkeit, sondern lieferte sie seinem Freund Friedrich Melchior Grimm (1723–1807) als Beilage für dessen Correspondance littéraire, philosophique et critique (1753–1790). Hierbei handelte es sich um eine Art von Depeschen-Literatur, deren Exklusivität darin bestand, in handschriftlicher Form an wenige ausgewählte europäische Höfe versandt zu werden. Regelmäßig wurde in diesem aristokratischen Newsletter über Neuigkeiten aus der französischen Metropole berichtet. Dass die Druckform vermieden wurde, hatte handfeste Gründe, denn eine Zensur konnte damit umgangen werden. Zugleich versicherte sich der Herausgeber durch diese Art der Vermittlung eines Lesepublikums, das unter dem Deckmantel der Privatkorrespondenz ohne Etikette angesprochen werden konnte. Diderot richtet denn auch seine Salonbesprechungen nicht an das adressierte Publikum, sondern formuliert eine freie Ansprache an den Freund, abwechslungsreich mal im intimen Plauderton, mal gar als dramatische Szene mit Sprecherrollen eingebracht. Der Ton ist empfindsam, emphatisch, persönlich-privat, mitunter eindringlich fordernd.17 Zugleich bot diese freie Form der Gestaltung Diderot offenbar die Gelegenheit, ästhetische wie politische Positionen in versprengter Weise in seine Besprechungen zu infiltrieren und als beiläufig arrangiertes, ja wie zufällig-assoziativ wirkendes Gedankengut zu tarnen. Der adressierte Rezipientenkreis hatte auf der anderen Seite zugleich die Möglichkeit, die Korrespondenz jenseits eines politischen Protokolls zur Kenntnis nehmen zu können oder sich von dem kritischen Impetus neugierig anrühren zu lassen, ohne die eigene gesellschaftlich-politische Position gefährdet zu sehen. Reizvoll ist die

lichen Kunstausstellung zeitgenössischer Werke – aufruft und drittens auch die Gattungsbezeichnung der kunstkritischen Literatur selbst darstellt. 16 Vgl. Proust (1987, 35): „[…] le Salon avait été pour lui, l’occasion […] de mettre à l’épreuve des thèmes nouveaux, de nouvelles façons d’écrire, de nouveaux modes de pensée.“ 17 Proust (1987, 35) beschreibt diesen Stil als changierend zwischen rhapsodischem und imaginativem Schreiben, spricht sogar in diesem Zusammenhang von einer partiellen „écriture rompue“, auch wenn er dies nicht zu den Äußerungen zur Ruinenmalerei Hubert Roberts in Bezug setzt.

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Auseinandersetzung Diderots mit der Ruinenmalerei seiner Zeit durch die Widersprüche, die dadurch im Text entstehen und die eben keine geschlossene Programmatik vorlegen, sondern dezidiert nur Entwurf und Skizze, loser Zusammenhang sein wollen. „Ich habe schon oft wiederholt,“, so resümiert Karl Rosenkranz bereits 1866 in einer biographischen Würdigung des Franzosen, „dass man Diderot als den Philosophen ansehen muss, in welchem die Widersprüche der Zeit miteinander kämpften. Er versuchte es, sie bald von dieser, bald von jener Seite zu lösen“.18 Die in den Abschnitten zu Hubert Robert proklamierte ‚Poetik der Ruinen‘ kann dabei pars pro toto als ein Axiom für eine Denkform angesehen werden, die die Widersprüchlichkeit des Denkens mit einem für Diderot adäquaten Sujet verbindet. In einem gleichnamigen Aufsatz hat Herbert Dieckmann (1957) auf „das Problem der Ausdrucksform des Denkens bei Diderot“ aufmerksam gemacht und verweist damit auf die Tatsache, dass jedes Ringen um eine These und Aussage bei Diderot mit einem Suchen nach der richtigen, nach der adäquaten Form verbunden ist. Wenn die ‚Poetik der Ruinen‘ selbst nur quasi als im Text verschüttete Bruchstücke offenbar wird – worauf im Folgenden noch zurückzukommen sein wird – so ließe sich das demzufolge als gezieltes Kalkül auf der Ebene der sprachlichen Fassung dieser offenen Form auslegen.19 Die Fragen nach einer gerade noch zusammengehaltenen Materie, die in der Ruine in Auflösung begriffen ist, wird bei Diderot damit in mehrdimensionaler Weise greifbar. Die Formulierung einer Ästhetik der Ruine ist gleichsam als Ausdrucksform der Sache selbst adäquat. Die Bewegung des Denkens und die ehemals geschlossene, intakte architektonische Form, die als Ruine in ihrer Substanz aufgelöst, aufgebrochen, gesprengt oder überwuchert neue Ein- und Querblicke ermöglicht, über die nachgedacht werden kann bzw. durch die das Denken – um im Bild zu bleiben – zu einer veränderten Sichtweise einlädt, werden so in Einklang gebracht. Schon an anderer Stelle hatte Diderot diese Form des Er-Schreibens akzentuiert und betont: „Je laisserai les pensées se succéder sous ma plume, dans l’ordre même selon lequel les objets se sont offerts à ma réflexion, parcequ’elles n’en représenteront que mieux

18 Karl Rosenkranz. Denis Diderot. Leben und Werke, 2 Bde., Leipzig 1866, hier zit. nach Schlobach (1992, 27). 19 Dem widerspricht Hans Ulrich Gumbrecht in seiner jüngst vorgelegten Abhandlung „Prosa der Welt“. Denis Diderot und die Peripherie der Aufklärung. Berlin: Suhrkamp, 2020. Gumbrecht (2020, 270) meint in Bezug auf das diskursive Wechselspiel im Kunstschreiben Diderots den allgemeineren Eindruck vermittelt zu sehen, „dass es nicht zu den Stärken des Autors gehörte, einem Text Konturen und einen Abschluss zu geben“. Gumbrecht (2020, 331–332) sieht in dieser zentrifugalen Dynamik eine Tendenz, sich im Singulären zu verlieren, die bei Diderot schließlich in eine Frustration münde.

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les mouvements & la marche de mon esprit.“ (Diderot 1754, 3–4). Die Ruine eignet sich für diesen Ansatz in besonderer Weise. Daneben lässt sich Diderots Ruinenästhetik aber auch als politisches Manifest lesen. Christine Abbt und Peter Schnyder (2019, 8) machen im Vorwort ihres Sammelbandes Formen des Politischen deutlich, dass es Diderots Grundverständnis ist, „sich neugierig und unvoreingenommen mit allen Belangen der Menschen und allen Bereichen der Gesellschaft auseinanderzusetzen, ohne Berührungsängste, mit Selbstbewusstsein und mit dem Anspruch auf gesellschaftspolitische Relevanz.“ Wenn demnach alles Denken und Schreiben Diderots unter diesem Signum als politisch zu verstehen ist, muss folgerichtig auch der Ruinenästhetik, wie sie Diderot entwirft, ein politischer Impetus innewohnen. Gegen Formen normativer oder idealisierender Setzung im Licht einer vernunftgeleiteten Aufklärung akzentuieren Abbt und Schnyder (2019, 10) eine Lesart, in der Stimmen wie die von Diderot geradezu provozierend herausfordern, Verhältnisse von Macht und Repräsentation kritisch zu hinterfragen oder ihnen unter Einbezug des Uneindeutigen einen neuen, unsicheren Resonanzraum zuzuweisen. Entsprechend kann auch Urs Marti-Brander (2019, 154) in seinem Beitrag Diderot, Marx und der Aufbruch in das bürgerliche Zeitalter in dem besagten Sammelband mit seinen Überlegungen an eine politische Lesart der Ruinenfaszination Diderots anschließen, wenn er in zusammenfassender Paraphrase der Salonbesprechungen betont: „Ruinen beweisen, dass Herrschaftsformen nicht ewig und andere Ordnungen möglich sind.“ Die Virtuosität dieses Schreibens mit revolutionärem Charakter mündet am prägnantesten in der Aussage Diderots, „[Il] faut ruiner un palais pour en faire un objet d’intérêt“ (Diderot 1995, 348).20 Warum erscheint es Diderot in der Logik seiner Argumentation sinnvoll, Interesse als einen Vorgang des schöpferischen Staunens an das Bild der Zerstörung zu koppeln? Zunächst lässt sich die Bedingungslosigkeit dieser Formulierung bemerken: Diderot verwendet die Konstruktion „il faut“. Wo der Text sonst gern die subjektive Sichtweise des erzählenden Ichs durch den extensiven Gebrauch des „moi“ reklamiert, gerät dieser Einschub sprachlich auffällig allgemeingültig und damit zu einer unumstößlichen Bedingung des formulierten Anspruchs, der damit den Stellenwert eines Axioms gewinnt. „Il y a plus des poésie, plus d’accidents, je ne dis pas dans une chaumière, mais dans un seul arbre qui a souffert des années et des saisons, que dans toute la façade d’un palais“ (Diderot 1995, 348), heißt es unmittelbar zuvor in der Beschreibung eines der ausgestellten Bilder von Robert mit dem Titel Port de Rome, orné de différents monuments d’architecture antique et moderne. Das architekto-

20 Teil der Bildbeschreibung von Port de Rome, orné de différents monuments d’architecture antique et moderne.

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nische Capriccio, das in phantastischer Zusammenstellung die Intaktheit der Gebäude vorführt, taugt nicht für die Bewunderung, die Diderot einfordert. Durch die Abwertung werden aber implizit zwei Parameter der Ruinenästhetik in Diderots Besprechung ablesbar: Gestaltgebender Zufall und lebendige Oberfläche, die durch Verwitterungsspuren ihre eigene prägende Physiognomie annimmt, sind die kompositorischen Werte, die als Maßstab für die Wertigkeit von Ruinen erkennbar werden. Zugleich vollzieht sich eine Abkopplung des Prozesses des Verfalls von einem konkreten Ereignis oder einem sinnstiftenden Kontext, sei es eine historisch verankerte Zerstörung durch Menschenhand oder eine Naturkatastrophe. Das Gebäude gewinnt erst durch eine zu vollziehende respektive von statten gehende Ruinierung Interesse, im intakten Zustand scheint es keiner Beachtung (durch die Kunst und die Kunstkritik) würdig. Dieser Prozess der Zersetzung wird zugleich aber als aktives Eingreifen in einen künstlerischen, vielleicht auch politischen Akt aufgefasst: Der Palast muss ruiniert werden. Als Angriffsfläche bieten sich Roberts Bilder hierfür insofern an, als sich durch sie eine „scheinbar ubiquitäre Antike“ vermittelt, die „ihre Funktion als [Zeugnis] einer konkret benennbaren Vergangenheit vollständig verloren“ (Oy-Marra 2008, 102) hat. Die Kräfte, die diese Ruinierung bewirken, können deshalb ungenannt bleiben. Der einstürzende Palast suggeriert eine sozio-politische Dimension, der sowohl vergangenes wie auch zukünftiges Potential innewohnt, die den politischen Umsturz mitdenken kann, wiewohl er am Horizont des ausgehenden Absolutismus 1767 noch nicht aufleuchtet (Raulet 1996, 198). Erinnert sei an dieser Stelle auch noch einmal an die Bedeutungszuweisung von Gebäudefunktionen und Ruinenbegriff, wie er in bereits in der Encyclopédie vorgeschlagen wurde.21 Wenn sich das Objekt erst durch den Verlust von Intaktheit zum Gegenstand von Interesse wandelt, ist die Ruine damit alles andere als nur ein destruktives Produkt einer Zerstörung, sie bewirkt – um hier Peter Geimers vielversprechendem Ansatz von den „Zeiten der Ruine“22 weiterzudenken – genau das Gegenteil der Zerstörung; sie stellt keine Bedrohung dar, sondern die positive Bedingung für etwas Neues. Auch wenn nicht abgelesen werden kann, was dieses Neue sein kann, weil im Zustand der Ruine, im Wechsel von einem Nichtmehr zu einem Nochnicht, um es mit Georg Simmel (Simmel 2008, 125) zu sagen, noch nicht hinterlegt ist, wodurch das Zerstörte abgelöst werden wird. Nur durch eine solche Lesart kann erklärt werden, warum die Ruine ein Gegenstand von Interesse werden kann: Es muss demnach eine Umwertung in der Wahrnehmung stattfinden, denn eine zerstörte Form kann 21 Diderot bewundert im Salon jedoch auch die eingefallenen Bauernkaten bei Hubert Robert. Die Argumentation in den Salons lässt sich demzufolge nicht in allen Punkten stringent mit der Begriffsbestimmung in der Encyclopédie in Einklang bringen. 22 Vgl. Geimer (1999, 31–35) sowie Geimer (2002, 157–169).

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sonst nicht zu einem Ausdruck des Schönen avancieren. Nur so kann die Forderung nach Zerstörung Diderots in ästhetischer Hinsicht verstanden werden: Tant il est vrai que, quel que soit le faire, point de vraies beautés sans l’idéal. La beauté de l’idéal frappe tous les hommes, la beauté du faire n’arrête que le connaisseur. Si elle le fait rêver, c’est sur l’art et l’artiste, et non sur la chose. […] Il y a entre le mérite du faire et le mérite de l’idéal, la différence de ce qui attache les yeux et de ce qui attache l’âme. (Diderot 1995, 348–349)

Erst die Ruine bringt kompositorische Unordnung und Dynamik, bricht die eintönige Symmetrie einer Fassade auf, schafft Raum für malerische Qualitäten der Pinselführung, verleiht der Architektur Physiognomie und bildet damit in der Wahrnehmung des Betrachtenden eine neue Form von Einheit, die die Seele berühren kann. Eine inhärente Widersprüchlichkeit mag man im Zusammenklang von Schönheit und Ideal im Angesicht der Ruinen sehen, die sich auch in Diderots Aussage „Rien n’est beau sans unité“ (Diderot 1971, 335) widerspiegelt, wie er in seinen Pensées detachées in Hinblick auf Komposition und Wahl des Sujets äußert.23 Dass Diderots Denken genau diese Widersprüchlichkeiten als integrativen Teil seiner ästhetischen Schriften heraufbeschwört, ist bereits an anderer Stelle dieses Beitrags aufgezeigt worden. Die Ruine als Denkbild einer in Auflösung begriffenen Ganzheit steht diesen Überlegungen scheinbar diametral entgegen. Aufgefangen werden könnte dies, wenn man Roberts Bilder als ‚Ruinen der Dauer‘ versteht, deren Ruinenhaftigkeit immanent ist und sie damit einer eigenen Stabilität und Geschlossenheit unterstellt. Andererseits unterstreicht gerade der Kontext in den ‚verstreuten Gedanken‘ den Zusammenhang mit der bereits mehrfach angeklungenen politischen Lesart solcher Passagen. Wenn es folgend heißt, „il n’y a point d’unité sans subordination“ (Diderot 1971, 335), dann kann dies auch als staatstragende Idee der Subordination ausgelegt werden. Die Aussage „il faut ruiner un palais pour en faire un objet d’intérêt“ erscheint demzufolge im Licht einer politischen Hinterfragung, in der die neue Beweglichkeit im Umgang mit Ruinen das Denken zugleich selbst beweglich wie unsicher macht. Diese Verunsicherung ist damit poetisches Kalkül. Sie ist kein Manko von Diderots Schreibens, sondern als eine politische Herausforderung zu verstehen. Auch an anderer Stelle in den Salons zeigt sich, dass die kunstästhetischen Annäherungen an Gemälde in verschiedensten Facetten mit solchen absichtsvollen Unzuverlässigkeiten spie-

23 An dieser Stelle sei auf die Überlegungen von Hans Körner (1988, 72–126) verwiesen, der die Relevanz von Ganzheitsvorstellungen in Diderots Kunstkritik in seiner Studie herausgearbeitet hat.

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len, in dem der Blick des Rezipienten als Spaziergang durch Landschaften geleitet wird, die sich als ein Promenieren durch die Landschaftsbilder Joseph Vernets entpuppen. Bereits am Ende des 6. Spazierganges durch die sieben Gegenden, den er mit einem Abbé und seinen beiden Zöglingen unternimmt, eröffnet Diderot, der in diesen Passagen als eine Art Erzählerfigur auftritt, dass es hierbei um eine schöne Täuschung zum Zweck der narrativen Auflockerung des Genres der Ekphrasis handelt. Abbé und Zöglinge sind frei erfunden, der Gang durch die Gegenden in Wahrheit ein geistiger Spaziergang durch die Bildwelten Vernets (vgl. Diderot 1995, 174–236). Künstlerisches Produkt und Natureindruck fallen durch diese narrative Inszenierung in eins, ersteres ist damit nicht mehr genuin und notgedrungen als Ableitung aus letzterem gesetzt, sondern kann die Natur sogar mittels der Imagination überbieten. Es ist ein alter Streit um den Vorrang der Künste, der hier wie an anderen Stellen auch durchschlägt: Sprache ermächtigt in der Beschreibung von Natur wie Kunst Grenzen zu überschreiten und schöne Täuschungen als Realitäten aufzubauen. Die Literatur, so belegen es die Salonbeschreibungen, hat eine ästhetische Sprachmacht, die die Bilder lebendig machen und ihnen damit einen bestimmenden Platz in der Ordnung der Welt zuweisen kann, der jedoch mit einem Wort wieder in Frage gestellt werden kann. So überrascht es kaum, wenn sich Diderot in der Schlusspassage seiner sieben Gegenden durchstreifenden Wanderung zu den Landschaftsgemälden Vernets folgendermaßen auslässt: La clarté est bonne pour convaincre; elle ne vaut rien pour émouvoir. La clarté, de quelque manière qu’on l’entende, nuit à l’enthousiasme. Poètes, parlez sans cesse d’éternité, d’infini, d’immensité, du temps, de l’espace, de la divinité, des tombeaux, des mânes, des enfers, d’un ciel obscur, des mers profondes, des forêts obscures, du tonnerre, des éclairs qui déchirent la nue. Soyez ténébreux. Les grands bruits ouïs au loin, la chute des eaux qu’on entend sans les voir, le silence, la solitude, le désert, les ruines, les cavernes [...]; il y a, dans toutes ces choses, je ne sais quoi de terrible, de grand et d’obscur. (Diderot 1995, 235)

Dieser Aufruf ist unmissverständlich, die Anleihe an rhetorische Grundkategorien überdeutlich: Das movere als höchste Aufgabe und Wirkungsabsicht des Rhetors wird über die Klarheit der Darstellung im Sinne einer überzeugenden wie zugleich belehrenden Aufklärung gestellt. Der emotionalen Erschütterung, die sich als ästhetische Kategorie der Erhabenheit mit allem dazugehörigem Redeschmuck zu erkennen gibt, wird hier das Wort erteilt: „Soyez ténébreux“, heißt der Appell an die Dichter. Auch den Ruinen wird ein Platz in dieser Aufzählung eingeräumt. Sie gehören eben zu jenen Gegenständen, die die Dichter und Künstler befähigen, den Schauder des Großen, Erhabenen jenseits der Helligkeit heraufzubeschwören. Man bedenke erneut, dass Diderot die Salonkritiken in Abwesenheit der Bilder verfasste, um die es ging: „Die Salons schrieb er zu Haus am Schreibtisch, wo

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er keine Abbildung vor sich hatte. Mitunter klagte er darüber […]. Positiv gesprochen öffnet der Entzug der Bilder einen Freiraum für die Einbildungskraft. So werden philosophische Exkurse möglich, die wesentlich zum Reiz der Texte zählen.“ (Bexte 2005, 310–311). Die Dimensionen, die die Ruine über das bloße Sujet hinaus als Denkbild annehmen kann, schreiben sich in der Anbindung an das in der Encyclopédie gesetzte Axiom fort. Der Palast, der zur Ruine wird, löst sich zum einen von seiner Funktionsgebundenheit, um zu einer „belle ruine“ transformiert werden zu können. Zugleich impliziert der Verfall des Palasts den Niedergang oder Umsturz, beides Ausdrucksformen der Ruinenbildung, eines Machtgefüges. Noch weit vor dem Sturm auf die Bastille artikuliert sich hier in mikroskopischen Dosen revolutionäres Denken, das sich auch in anderen, stärker politisch ausgerichteten Schriften Diderots Bahn bricht. Schon in seinem Essay Pensées sur l’interpretation de la nature von 1754, das zeitgleich zu den ersten großen Schritten des Encyclopédie-Projekts verfasst wurde, wählt Diderot im XXI. Abschnitt das Bild der Ruine als Antagonisten für das Sammeln und Verbinden von Tatsachen, aus dem der gelehrte Philosoph, der die Einbildungskraft als positive Triebfeder seinem Denken unterstellt, als Wissender unbeschadet hervorgehen kann: Mais le tems a renversé jusqu’aujourd’hui presque tous les édifices de la philosophie rationelle. Le manœuvre poudreux apporte tôt ou tard des souterreins où il creuse en aveugle, le morceau fatal à cette architecture élevée à force de tête; elle s’écroule, & il ne reste que des matériaux confondus pêle mêle, jusqu’à ce qu’un autre génie téméraire en entreprenne une combinaison nouvelle. Heureux le Philosophe systématique à qui la Nature aura donné, comme autrefois à Epicure, à Lucrece, à Aristote, à Platon, une imagination forte, une grande éloquence, l’art de présenter ses idées sous des images frapantes & sublimes! l’édifice qu’il a construit pourra tomber un jour; mais sa statue restera debout au milieu des ruines;“ (Diderot 1754, 50–51)

3 Von Roberts Ruinen der Vergangenheit zu Diderots Ruinenpoetik der Zukunft Diderots Postulat einer Ästhetik der Ruine in seinem Salon de 1767, der in der von Else Marie Bukdahl et al. (1995) besorgten Ausgabe unter dem bezeichnenden Titel Ruines et Paysages firmiert, kann als eine der vielleicht prägendsten theoretischen Äußerungen des 18. Jahrhunderts in Bezug auf das Phänomen der Ruine gesehen werden. Freilich ist das von Mortier (1974, Kap. VII) und anderen, ja von Diderot selbst als „poétique des ruines“ ausgerufene Programm keine systematische Aufarbeitung oder in sich geschlossene Poetik, worauf schon eingegangen wurde. Der Begriff findet sich in einer längeren Passage über den Ruinenmaler

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Hubert Robert sowie versprengt in weiteren Passagen des Salon (vgl. Burda 1967, 55–59). Nicht die Ruine selbst, als Baudenkmal oder Monument, rückt dabei, das muss an dieser Stelle noch einmal betont werden, in den Blickpunkt der Betrachtung, sondern ihre ästhetische, bildkünstlerische Verarbeitung: Es sind Bilder von Ruinen, nicht die Ruinen selbst, die Diderot beschreibt und deren ästhetisches Potential er offenlegt. Zudem ist der Text als literarisch geformtes Produkt poetischer Sprachfindung aufzufassen, mit der Bildbeschreibung geht ein Akt der Vereinnahmung für die eigene Sache einher.24 In dialogisch vertrauter Ansprache an seinen Freund Grimm, zuweilen auch als Forderung an den Künstler Hubert Robert verfasst, legt Diderot seine Ausdeutung der schönen Ruinen vor, die aus einer Kunstkritik erwächst. Doch bis er im Rahmen der Ausstellungsbeschreibung zu den Bildern Roberts vordringt, werden einhundert andere Bildbetrachtungen vorgezogen.25 Diderots Besprechung von Robert hebt dann mit einer Passage über das Reisen an – „C’est une belle chose, mon ami, que les voyages“ (Diderot 1995, 325) – und verbindet damit Reisen und Kunst, Landschaft und Ruinen. Schon im Vorwort des Salon hatte er beklagt, dass eine gemeinsame Reise mit Grimm nach Italien nicht mehr stattfinden würde: „Pour ce voyage d’Italie si souvent projeté, il ne se fera jamais. Jamais, mon ami, nous ne nous embrasserons dans cette demeure antique, silencieuse et sacrée […].“ (Diderot 1995, 56) Die längere Abschweifung über Reisende und Reisen liegt begründet in der Überlegung, die Besprechung der Robert’schen Gemälde zur Auflockerung des Gegenstandes nach Italien zu verlagern und in einen größeren Erzählzusammenhang einzubetten: Mais à quoi bon, me direz-vous, cet écart sur les voyageurs et les voyages ? quel rapport de ces idées vraies ou fausses avec les ruines de Robert. Comme ces ruines sont en grand nombre, mon dessein était de les enchâsser dans un cadre qui palliât la monotonie des descriptions, de les supposer existantes en quelque contrée, en Italie, par exemple, et d’en faire un supplément à M. l’abbé Richard. Pour cet effet, il fallait lire son Voyage d’Italie. (Diderot 1995, 328)

Reiseliteratur und Ruinenmalerei würden so im Idealfall in der Imagination Diderots zu einem Gesamtkunstwerk verwoben. Doch die Lektüre wird als unnütz

24 Darauf, dass sich die zahlreichen Bildbeschreibungen auf reine Gedächtnisleistungen rückführen lassen, da die beschriebenen Bilder zur Zeit der Abfassung des Textes nicht mehr ausgestellt waren, macht Friedrich Bassenge (1967, XXXVI–XXXVII) im Vorwort der deutschsprachigen Übersetzung aufmerksam. 25 Einen anschaulichen Eindruck über die Vielzahl der ausgestellten Werke, an die es sich im Beschreibungsakt zu erinnern galt, gibt die Federtuschzeichnung von Gabriel de Saint-Aubin Le Salon de 1767, vue générale. In: Diderot (1995, nach 36).

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verworfen, als „[récits] d’une tête rétrécie et embéguinée des notions les plus ridicules“ (Diderot 1995, 328). Aber auch hier verfolgt die barsche und ironische Abrechnung ein erzählerisches Kalkül: Unversehens schiebt sich Literaturkritik vor die Kunstkritik. Die Überleitung zu Robert, die mittels verschiedener narrativer Elemente forciert aufgeschoben wird,26 folgt auf dem Fuße. Der intendierte Effekt ist absehbar: Die Vorzüge von Roberts Ruinenmalerei ebenso wie die Ruine als bildbeherrschendes Sujet der ca. 23 aus- und vorgestellten Werke Roberts werden dem Leser in Form von negativen digressions vorenthalten – ganz im Sinne der von Lawrence Sterne geprägten Erzählweise in seinem Tristram Shandy, dessen neun Bände etwa zeitgleich zwischen 1759 und 1766 in London erscheinen. Diderot nähert sich dem eigentlichen Gegenstand, den angekündigten Ruinen Roberts, eher von der Seite. Die Reihenfolge der besprochenen Gemälde weist zunächst Hirtenszenen und andere Sujets aus, in denen Ruinen als Motiv nur am Rande der Komposition stehen und ebenso randlagig besprochen werden oder sich als reine Architekturveduten griechischer Altertümer (hier der Tempel von Balbec) präsentieren (vgl. Diderot 1995, 331–336). Es überwiegt die Kritik an der Unvollkommenheit der Werke des jungen Künstlers. Wiederholt wird die Qualität der Darstellung der Figurendarstellung bemängelt. Gleichzeitig schreibt sich in dieser narrativen Ordnung fast unbemerkt die Genese der Gattung der Ruinenmalerei ein: Von der bloßen landschaftlichen Staffage, über ihren melancholischemblematischen Gehalt hin zum ästhetischen Objekt des Sublimen führt Diderot sukzessive seine hochadeligen Leser und Leserinnen und bereitet so in der eigenen Textregie auf einen impulsiven Höhepunkt vor. Überleitend kündigt er an: „C’est ne pas de la magie du pinceau, c’est des ravages du temps que l’on s’entretient.“ (Diderot 1995, 335). In Ruine d’un arc de triomphe, et autres monuments etabliert Diderot die topischen Kennzeichen jener barocken Ruinenmelancholie, zu der sich das ästhetische Empfinden in einem weiteren Schritt addiert: L’effet de ces compositions, bonnes ou mauvaises, c’est de vous laisser dans une douce mélancolie. Nous attachons nos regards sur les débris d’un arc de triomphe, d’un portique, d’une pyramide, d’un temple, d’un palais; et nous revenons sur nous-mêmes. Nous anticipons sur les ravages du temps; et notre imagination disperse sur la terre les édifices même que nous habitons. A l’instant la solitude et le silence règnent autour de nous. Nous restons seuls de toute une nation qui n’est plus. Et voilà la première ligne de la poétique des ruines. (Diderot 1995, 335)

26 Vgl. den dialogischen Einschub des scheinbar ungeduldigen Gegenübers: „Et Robert ? – Piano, di grazia ; Robert viendra tout à l’heure.“ (Diderot 1995, 330).

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Die Referenz auf nicht namhaft gemachte, wohl aber vergangene und ausgelöschte Geschichte, die sich durch die Gebäudetypen als Antikenszenario zu erkennen gibt, steht im Verbund mit der Einsamkeit und einer süßen Melancholie27 als Ausgangspunkt einer an Individuen gebundenen, subjektiven, zugleich aber auch kollektiven Ruinenerfahrung der Jetzt-Zeit. Die erneut aufgerufene Wendung „ravages du temps“ wir nun in einen Erfahrungsraum eingebunden, der auf uns selbst rückprojiziert wird: „et nous revenons sur nous-mêmes“. Wieder lässt sich aber auch die Nähe zu staatsphilosophischen Äußerungen diagnostizieren, so ist von einer Nation die Rede, die nicht mehr ist. Zugleich offeriert diese Passage den Blick in eine Zukunft, die selbst in Ruinen liegen wird. Die Eröffnung dieses über die eigene Zeit nach vorn gerichteten utopischen Gedankenspiels, die hier ihren Ausgangspunkt nimmt, wird 1791 von Constantin F. Volney in seinem Werk Les ruines, ou Méditation sur les révolutions des empires verfestigt und findet in Bildwerken wie Gustave Dorés The New Zealander (1872) seine Fortführung (vgl. Baum, 2019, 9).28 Dass der Blick des Wahrnehmenden nicht nur rückwärtsgewandt ist, sondern sich auch dazu versteigen kann, die eigene Gegenwart als künftige Ruine zu imaginieren, zeigt die Beweglichkeit der Denkform Ruine, die sich hier vom konkreten Bildgegenstand und seiner Ekphrasis deutlich entfernt. Roland Mortier, dessen Studie aus den 1970er Jahren als Standardwerk in Fragen der Ruinenrezeption angesehen werden kann, versteigt sich in dieser Hinsicht zu einer nahezu pathetischen Verklärung, wenn er resümiert: La poétique des ruines chère à Diderot est ainsi successivement, ou alternativement, une esthétique de l’émotion et du silence, une méditation morale sur le ,passage‘, une plongée existentielle, une rêverie philosophique et politique sur le despotisme. Nul artiste, avant lui, n’avait saisi aussi subtilement la richesse et la complexité du thème, sans doute parce qu’aucun motif n’associait avec autant de bonheur, au plus secret de lui-même, la sensibilité et la raison, l’intelligence et le cœur. (Mortier 1974, 97).

Ohne Zweifel beweist Diderot in den folgenden Partien seine Meisterschaft in Hinblick auf den Gegenstand Ruine. Mit historisch ganz ungebundenem Wohlgefallen im Kant’schen Sinn eröffnet er die Besprechung der nun folgenden Grande Galerie éclairée du fond, deren Emphase die bis dato vorgebrachten Mängel der Bilder Roberts vorerst beiseite fegt: O les belles, les sublimes ruines! quelle fermeté, et en même temps quelle légèreté, sûreté, facilité de pinceau! quel effet! quelle grandeur! quelle noblesse! qu’on me dise à qui ces Ruines appartiennent, afin que je les vole; (Diderot 1995, 336)

27 Vgl. zu diesem Themenkomplex auch Cammargre (2016, 183–185). 28 Vgl. auch Junod (1985, 321–326).

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Die Ruinenerfahrung wird zum malerischen Ausdruck eines von anderen Kausalitäten abgekoppelten Sentiments. Schönheit und Erhabenheit gehen in dieser Emphase ungebremst ineinander auf.29 Karlheinz Stierle konstatiert: Die Ruine ist interessant, weil ihre konkrete Erscheinung nicht schon ihre ästhetische Wirkung umfasst. Anschauung wird im Anblick der Ruine zur Reflexion, zur rêverie, zur spannungsreichen, in sich ästhetisch ungesättigten Empfindung, deren Unruhe jene Erwartung des Interessanten erfüllt, die Diderot an das Bild heranträgt. (Stierle 1990, 256)30

Die Bewertung der Ruine verlagert sich in ihre ästhetische Seinsweise, die Leichtigkeit des Pinsels gewinnt gegenüber jedwedem Erklärungsmuster zur Entstehung der Ruine und mithin über die ihr damit eingeschriebene Form der Vergänglichkeit. Das memento mori weicht dem imaginierten Blick auf das Bild, die Allegorese wird abgelöst von einem emotionalen Moment ästhetischer Erfahrung. „Wenn er [Diderot] in Bezug auf ein Bild von Hubert Robert von einer ,Poesie der Ruinen‘ spricht, meint Diderot, dass die Ruinen als solche und nicht mehr als Zeugnis einer untergegangenen Kultur Gegenstand ästhetischer Erfahrung sind“, konstatiert Gérard Raulet (1996, 185 [Kursivierung im Original]) demzufolge zurecht. Er weist damit, ebenso wie dies das Zitat selbst schon hinreichend tut, auf den Autonomieanspruch hin, den Diderot gemalten Ruinen zuweist. Die so gewonnene Freiheit im Sujet oder des Sujets – die Diderot übrigens ausdrücklich unterscheidet von der Gebundenheit der Zeichnung, welche zur Illustration eines Reisewerkes dient – zeigt, dass die Ruine zu einer Ausdrucksform von Erhabenheit und Schönheit werden kann. Die inhaltliche Abhängigkeit von Edmund Burkes Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757) hat Burda (1967, 57–58) bereits dezidiert aufzeigen können.31 Obschon Burke (1757) nicht konkret auf Ruinen eingeht, lassen sich die von ihm eingeführten Strukturelemente des Sublimen – darunter fallen Begriffe wie vastness, magnitude in building, grandeur, contrast of light and darkness, solitude und silence – auf die Ruine übertragen, wie es denn auch in Diderots Besprechungen von Roberts Werken und der Überleitung von den Spaziergängen durch Vernets Gegenden vorangetrieben wird. Durch Diderots spezifische Bildbeschreibungskunst wird der Ruine der Wert des autonom Ästhetischen zugewiesen. Denn Erhabenheit im Sinne Diderots meint nichts weniger als eine Wirkungsästhetik, die frei von klassizisti-

29 Zur grundsätzlichen Disposition, die Hubert Roberts Gemälde in dieser Hinsicht lieferten, vgl. Ullrich (2009, 49–63). 30 Vgl. auch Stierle (1979, 55–76) zur Verbindung von Diderots Begriff des Interessanten und Kants interesselosem Wohlgefallen. 31 Vgl. auch den von der Forschung wenig beachteten Beitrag von Weinshenker (1973), der viele Fundstellen erschließt und auf die dem innwohnende Kritik aufmerksam macht.

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schen Schönheitsidealen ist: Es überzeugt das, was emotional vielschichtig überwältigt, und dies wird am Einzelfall je neu ausgelotet. Das erklärt auch die potentielle Offenheit dieser Poetik, die sich nur bedingt als solche zu erkennen gibt und die man sich aus den verstreuten Äußerungen in den einzelnen Besprechungen der Bilder Roberts mühsam ableiten und zusammenstellen muss, ohne je eine geschlossene Programmatik daraus ableiten zu können. Leitmotiv bildet immer wieder eine von subjektiven Eindrücken geleitete Empfindungsprosa, die auf den poetologischen Gehalt verweist. Der einleitenden Beschwörung der „schönen Ruinen“ folgt die Kritik im Appellcharakter mit Rückgriff auf den Landschaftsmaler Joseph Vernet auf dem Fuße: Mais étudiez Vernet. Apprenez de lui à dessiner, à peindre, à rendre vos figures intéressantes; et puisque vous vous êtes voué à la peinture de ruines, sachez que ce genre a sa poétique. Vous l’ignorez absolument ; cherchez-la. Vous avez le faire, mais l’idéal vous manque. Ne sentez-vous pas qu’il y a trop de figures ici, qu’il en faut effacer les trois quarts. Il n’en faut réserver que celles qui ajouteront à la solitude et au silence. (Diderot 1995, 337–338)

Letztlich funktioniert die Autonomisierung dieser Ruinenerfahrung zum ästhetischen Gegenstand durch die gleichzeitige Abkopplung Diderots von seinem Gegenstand Robert. Die appellative Eindringlichkeit, mit der er diesen auffordert, nach der Poetik der Ruinen bei Vernet zu suchen, stellt nur die Einleitung und Vorbereitung zu einer Selbstäußerung dar. Da jenes imaginierte Künstler-Gegenüber trotz aller intensiven Ansprache stumm bleiben wird, bietet sich dem erzählenden Ich die Gelegenheit, die gefühlte Leerstelle in den Bildern selbst zu füllen: Mr Robert, vous ne savez pas encore pourquoi les ruines font tant de plaisir, indépendamment de la variété des accidents qu’elles montrent ; et je vais vous en dire ce qui m’en viendra sur-le-champ. Les idées que les ruines réveillent en moi sont grandes. (Diderot 1995, 338)

Was folgt, ist ein träumerischer Gang durch einen poetischen Raum, der ein Rückzugsort, ein „asile désert, solitaire et vaste“ (Diderot 1995, 339) ist – ganz im Sinne Rousseaus. Von den Gemälden Roberts wenden sich die weiteren Ausführungen ab. Einmal mehr bestimmt die Einsamkeit die Szenerie. Selbstfindung und Selbstaussprache sind die Leitmotive in der Konfrontation mit den Ideen, die die Ruine repräsentiert. Diderot macht hier vor allem die Umgebung der Ruine stark und betont damit den Zusammenklang von Landschaft und Ruine, die einen jeweils anderen Wirkungsgrad zu erzielen vermag: [...] moi, moi seul, je prétends m’arrêter sur le bord et fendre le flot qui coule à mes côtés! Si le lieu d’une ruine est périlleux, je frémis. Si je m’y promets le secret et la sécurité, je suis plus libre, plus seul, plus à moi, plus près de moi. (Diderot 1995, 339)

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So führt der Weg von den Bildern Hubert Roberts zu einer Poetik der Ruinen, die im Ich verborgen liegen, ganz im Sinne des Hinabsteigens in die Untiefen der Seele, die Karl Philipp Moritz in seinem Magazin zur Erfahrungsseelenkunde ab 1783 als eine Reise mit unsicheren Schritten eröffnen wird.

4 „… la poétique des ruines est encore à faire“ Die Ansätze, die hier von Diderot angeboten werden, geben sich dabei als work in progress und als Aufforderung an den Künstler Robert zu erkennen. Am Ende überlässt es der Autor diesem, das dialogische Wechselspiel weiter voranzutreiben: „S’il me reste quelque chose à dire sur la poésie des ruines, Robert m’y ramènera“ (Diderot 1995, 340). Aufgabe des Künstlers wie des Literaten ist es, die poetische Kraft in Bild und Sprache heraufzubeschwören. Der Kunstkritiker, der sich zugleich als Schriftsteller vorstellt und eigene Erinnerungsbilder erschafft, benötigt diesen Wahrnehmungsrest, um seine eigene Einbildungskraft produktiv zu machen und zu einer Poetik zu verdichten. Das besprochene Bild, an dem sich Diderots Überlegungen entzünden, gilt als verschollen, die vorgestellten Gemälde sind für Diderot selbst nur Garanten einer künftig möglichen Ruinenpoetik, die in Ansätzen in den Bildern Roberts vorhanden scheinen. In Anbetracht aller Mängel bleibt Diderot in der Rolle des schreibenden Philosophen mit zukunftsweisendem Blick nur festzuhalten, „que la poétique des ruines est encore à faire.“ (Diderot 1995, 344). Die Freiheit der Imagination, die dem zuspielt und solche utopischen Gedankenspiele überhaupt erst möglich macht, wird von Diderot bereits an anderer Stelle vorgestellt. Sie offeriert in Bezug auf die Ruinenästhetik eine grundlegende Hypothese, die hier abschließend nicht vorenthalten werden soll: Je crois que de grandes ruines doivent plus frapper, que ne feraient des monumens entiers et conservés. Les ruines sont loin des villes; elles menacent, et la main du Temps a semé, parmi la mousse qui les couvre, une foule de grandes idées et de sentimens mélancoliques et doux. J’admire l’édifice entier; la ruine me fait frissonner ; mon cœur est ému, mon imagination a plus de jeu. (Diderot 1818, 575) [Kursivierung, C.B.].

Die Auffächerung potentieller Lesarten der Ruine bzw. des künstlerischen Interesses an der Ruine oder dem Verfall von Kultur macht deutlich, mit wie vielen Schichtungen in der Begegnung mit vornehmlich römisch-antiken Ruinen wiederum in Ableitung solcher Überlegungen und Erwägungen in der damit korrespondierenden Literatur des 18. Jahrhunderts, allen voran literarisch ambitionierten Reisejournalen bis hin zu darauf aufbauenden Romanen wie Wilhelm Heinses Ardinghello, Jean Pauls Titan oder Germaine de Staëls Corinne ou l’Italie im europäi-

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schen Raum zu rechnen ist. Die Autopsie der Ruine in den Bildern Roberts, die auf dessen konkreter Italienerfahrung fußt, bildet den Ausgangspunkt von Überlegungen Diderots, in der sich barocke vanitas-Vorstellungen, Melancholie wie Euphorie, Geschichtsphilosophie und Ästhetik in einer offenen Form verfangen können. Ihr ästhetisches Potential gewinnt die Ruine aus der Gemengelage dieser Diskurse, die je neu ausgelotet werden. Diderot hat dieses Spiel der Einbildungskraft, das bis in die Moderne ausgreift, mit Vehemenz im Salon de 1767 eröffnet.

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Diderots Ruinenästhetik zwischen Enzyklopädie und Kunstkritik

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Bauformen der Geschichte: Ruinenlektüren im Umfeld der Französischen Revolution (Gibbon, Volney, Chateaubriand) Was die Französische Revolution von anderen Epochenschwellen unterscheidet, ist, dass sie gewissermaßen in Echtzeit als solche wahrgenommen wurde. Bereits in den Athenäumsfragmenten betrachtet sie Friedrich Schlegel „als das größte und merkwürdigste Phänomen der Staatsgeschichte“, „als ein fast universelles Erdbeben, eine unermessliche Überschwemmung in der politischen Welt.“ (Schlegel 1967, 247–248) Auch im Umgang mit Ruinen zeigt sich um die Schwelle der Revolution herum, wenn schon kein „universelles Erdbeben“, so doch ein merkliches tektonisches Zucken. Genau diese Destabilisierung soll hier anhand einer Auswahl von Texten nachgezeichnet werden, die unbeschadet ihrer Gattungsdifferenzen plausibel aufeinander bezogen werden können, denn in ihnen allen dienen Ruinen nicht nur als sinnlich-konkrete Materialisierungen historischer Verläufe, sondern auch als Medium einer grundsätzlichen Reflexion über die Makrostruktur von Geschichte selbst: Sei es als zyklische Wiederkehr strukturell gleicher Begebenheiten, von – mit Vico gesprochen – corsi und ricorsi,1 als kumulative Innovation und Verbesserung ihres irdischen Schauplatzes oder als aufwändiges Vorspiel eines unerklärlich vertagten Weltgerichts. Im Umkreis der Französischen Revolution, die sich als politisches Initialereignis der Moderne begreifen lässt, korrespondiert der Weitung des sozialen und politischen Imaginären2 auch eine ästhetische (und ideologische) Pluralisierung der Ruine: Der Diskurs über Ruinen wird zum Möglichkeitsraum, zum Testfeld makrohistorischer Imagination und zum Medium einer Abtastung von Zukunft durch die Reste der Vergangenheit.

1 Eine folgenreiche antike Formulierung eines solch zyklischen Geschichtsverständnisses bildet die sog. Anakyklosis-Theorie, die Polybios im sechsten Buch seiner Universalgeschichte (Ἱστορίαι) entwickelt. Ausgehend von der aristotelischen Typologie der Regierungsformen postuliert sie einen – strukturell immergleichen – Wechsel von der Monarchie über mehrere Zwischenstadien hin zur Demokratie und über deren Verfallsform der Ochlokratie wiederum zurück zur Monarchie. Vgl. hierzu Podes 1991. Zu Giambattista Vicos zyklischer Geschichtskonzeption der corsi und ricorsi siehe Burke 1985, 54–64. 2 Vgl. hierzu Taylor 2004. Die Durchsetzung einer linear-progressiven Auffassung historischer Zeit verdankt sich auch medialer Innovationen, wie Daniel Rosenberg und Anthony Grafton in ihrer Geschichte des Zeitstrahls eindrucksvoll dargelegt haben. Vgl. Rosenberg und Grafton 2010. https://doi.org/10.1515/9783110757811-005

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Die Konstellation der drei gewählten Autoren soll in diesem Zusammenhang exemplarisch die moderne Pluralisierung einer zuvor humanistisch dominierten und an der gräkorömischen Antike ausgerichteten Ruinenästhetik kenntlich machen, selbst wenn zwischen Gibbon, Volney und Chateaubriand in dieser Hinsicht nicht immer direkte Bezugnahmen nachgewiesen werden können. Ob der Volney der Ruines Gibbon bereits kannte, ist ungewiss. Chateaubriand hingegen hat sowohl Volney als auch Gibbon intensiv rezipiert.3 Dessen ungeachtet erlauben die ausgewählten Werke die Charakterisierung dreier Paradigmen in der Betrachtung und Ästhetisierung von Ruinen, die vor dem Hintergrund der humanistischen Tradition als moderne Pluralisierungsphänomene zu begreifen sind: Einem aufklärerisch-kosmopolitischen Paradigma (Gibbon) folgt ein revolutionäres (Volney) und diesem wiederum ein restauratives (Chateaubriand). Sie alle gehören seither zum ästhetischen und ideologischen Repertoire, auf das die moderne Ruinenkontemplation zurückgreifen kann.

1 Rom, ein Epitaph: Gibbons History of the Decline and Fall of the Roman Empire Zwischen 1776 und 1788 erscheint in insgesamt sechs Bänden Edward Gibbons Hauptwerk The History of the Decline and Fall of the Roman Empire. Schon weit vor seinem Abschluss begründet es den Ruf seines Autors als eines der bedeutendsten Historiker seines Zeitalters und ruft ob der Fülle an dargebotener Gelehrsamkeit und der Brillanz seines Stils allgemeine Bewunderung hervor. Gibbon beginnt seine Erzählung vom Untergang des Römischen Reiches in der Zeit der Antoninen oder Adoptivkaiser um 100 n. Chr., also in jener Zeit, in der das Imperium Romanum seine größte territoriale Ausdehnung erlangt und sich bereits erste Spuren einer Destabilisierung verzeichnen lassen. Im Fortgang betrachtet er auch mit unverhohlener Kritik die Rolle des Christentums, das er in Teilen verantwortlich sieht für den Niedergang der politischen Sphäre. Neu ist hierbei, dass Gibbon nach der Teilung des Reiches auch den oströmischen Teil, das spätere Byzanz, umfassend betrachtet. Gibbons Werk endet daher erst mit dem Schlüsseldatum 1453, als mit der Eroberung Konstantinopels der letzte Überrest des Byzanti 

3 Chateaubriands Vertrautheit mit Gibbon, die sich jedoch weniger in seiner Ruinenästhetik als vielmehr in seinen historiographischen Werken nachweisen lässt, ging teils so weit, dass sogar der Vorwurf des Plagiats laut wurde. Vgl. Dick 1905. Zu Gibbon und Chateaubriand vgl. ferner Dempsey 1975, 83–91, und Melonio 2009. Zu Chateaubriand und Volney vgl. Anm. 34.

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nischen Reiches an die Osmanen fällt.4 Nun ließe sich berechtigt fragen, weshalb dieses Werk der Historiographie als Gegenstand der Literaturwissenschaft taugt. Allerdings setzt diese Frage bereits ein anachronistisches Verständnis von Geschichtsschreibung voraus, das vielmehr als Rückprojektion einer historistischen Konzeption in das achtzehnte Jahrhundert erscheint. Im Zeitalter der Aufklärung hingegen situiert sich Geschichtsschreibung noch innerhalb der weit gefassten res litteraria der klassisch-rhetorischen Tradition. Dabei wird die angestammte aristotelische Unterscheidung, wonach die Historie bei der Erkenntnis des Allgemeinen hinter der Dichtung zurückstehe, nicht ohne weiteres übernommen.5 Anders als in einem objektivistischen Ideal der Historiographie sind Autor- bzw. Erzählerinterventionen und explizite Leserlenkungen daher durchaus an der Tagesordnung. Karen O’Brien betont deshalb zu Recht die ästhetisch-rhetorische Dimension der Geschichtsschreibung im Zeitalter der Aufklärung: The rhetorical model, in particular, helps to explain the nature of the presence of eighteenthcentury historians in their own texts both as political persuaders and orchestrators of their readers’ aesthetic responses. History was also understood in this period […] as a form of spectacle designed to awaken the imagination and stimulate the sensibility. (O’Brien 1997b, 7)

Geschichtsschreibung verstanden als Schauspiel, das Einbildungskraft und Empfindung anregen soll, bedient sich damit ästhetischer Strategien und lässt – zumindest auf Ebene der Darstellung – die Differenzen zu den explizit fiktionalen Textgattungen in den Hintergrund rücken. Eben hierdurch erschließt sich nunmehr auch die Rolle der römischen Ruinen für Gibbon. In seinen posthum veröffentlichten Memoiren datiert Gibbon die Idee zu seinem opus magnum auf den Herbst 1764, als er zu Besuch in Rom weilte: „It was at Rome, on the fifteenth of October, 1764, as I sat musing amidst the ruins of the Capitol, while the bare-footed fryars were singing Vespers in the temple of Jupiter, that the idea of writing the decline and fall of the city first started to my mind.“ (Gibbon 1966, 134)6 Gibbon erklärt die Genese seines Hauptwerks folglich als Verarbeitung einer Überwältigung durch die römischen Ruinen, die ihn etwa zu Beginn seines Besuchs

4 Für einen strukturellen Aufriss des Gesamtwerks siehe Pocock 2018. 5 Aristoteles, Poetik, 1451a–1451b: „Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt […]; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist die Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres [φιλοσοφώτερον καὶ σπουδαιότερον] als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine [τὰ καθόλου], die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere [τὰ καθ᾽ ἕκαστον] mit.“ Aristoteles 2002, 29. 6 Siehe hierzu auch Roberts 2011.

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vor Ergriffenheit nicht schlafen lässt. Diese Perspektivierung wiederum erscheint zunächst als doch eher topische Anknüpfung an die humanistisch motivierte Rom-Memoria seit Petrarca.7 Allerdings wird schon hier deutlich und dies, obwohl Gibbon demonstrativ das Kapitol als altes politisches Zentrum Roms für seine Betrachtung wählt, dass es ihm nicht um eine (und sei es nur imaginierte) Wiederherstellung vergangener Größe geht, sondern um eine Ätiologie ihres Untergangs. Dabei ist vielfach die Konstruiertheit dieser Schau bemerkt worden: Nicht nur gibt es auf dem Kapitol, das im sechzehnten Jahrhundert u. a. durch den Konservatorenpalast Michelangelos grundlegend umgestaltet wurde, gar keine Ruinen zu besichtigen, auch von dem genannten Jupitertempel ist nichts Sichtbares erhalten.8 Gibbons kapitolinische Ruinen entstehen damit einzig durch die imaginative Überblendung zweier Zeiten, deren Kopräsenz für das Auge unverfügbar ist. Trotz ihres kontrafaktischen Charakters verfehlt diese Szene nicht ihren Effekt, bildet sie doch darüber hinaus ein Bindeglied zu den beiden letzten Kapiteln des Decline and Fall, wo Gibbon 24 Jahre später in einer neuerlichen Sichtung der römischen Ruinen den Schlusspunkt unter sein Lebenswerk setzt.9 Um den Beschluss dieses Werkes nicht misszuverstehen, lohnt es sich jedoch, das Augenmerk auf eine in der Nachzeichnung der römischen Geschichte implizit mitlaufende Komplementärgeschichte zu lenken. Die Abstiegsgeschichte des Römischen Weltreichs ist, wie zahlreiche philosophische Interventionen des Erzählers Gibbon erkennen lassen, immer auch eine Aufstiegsgeschichte des modernen Staatensystems in Europa.10 Immer wieder finden sich daher Stellen, an denen gar die Überlegenheit der modernen Welt gegenüber dem Imperium Romanum betont wird. Während das Römische Reich an seiner eigenen Größe kollabiert sei und das Fehlen nennenswerter äußerer Feinde zur Erschlaffung militärischer Tugenden geführt habe, begreift Gibbon das moderne, vielstaatige Europa als eine Art kosmopolitische Republik:  

It is the duty of the patriot to prefer and promote the exclusive interest and glory of his native country: but a philosopher may be permitted to enlarge his views, and to consider Europe as

7 Vgl. hierzu die Verweise in Anm. 14. 8 Vgl. Craddock 1984, 65. 9 Es handelt sich hierbei um eine bewusst forcierte Symmetrie. Der letzte Satz des Decline and Fall evoziert gezielt Gibbons Ideation inmitten der römischen Ruinen: „It was among the ruins of the Capitol, that I first conceived the idea of a work which has amused and exercised near twenty years of my life, and which, however inadequate to my own wishes, I finally deliver to the curiosity and candour of the Public.“ Gibbon 1994, III, 1085. 10 Wie O’Brien treffend bemerkt hat, ist Gibbons Decline and Fall auch ein „veiled narrative of the rise of the modern West“. O’Brien 1997b, 170.

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one great republic, whose various inhabitants have attained almost the same level of politeness and cultivation. The balance of power will continue to fluctuate, and the prosperity of our own, or the neighbouring kingdoms, may be alternately exalted or depressed; but these partial events cannot essentially injure our general state of happiness, the system of arts, and laws, and manners, which so advantageously distinguish, above the rest of mankind, the Europeans and their colonies. (Gibbon 1994, II, 511)

An struktureller Stabilität sind die modernen Nationen Europas der römischen Vergangenheit damit gerade durch ihren ,Pluralismus‘ überlegen. Insbesondere die Strategie zwischenstaatlicher aemulatio erweist sich als Stimulanz von Innovation und fortschreitendem Wohlstand. Die europäische Gegenwart beerbt in Gibbons Deutung folglich weniger das römische Modell als vielmehr das griechische: In all the pursuits of active and speculative life, the emulation of states and individuals is the most powerful spring of the efforts and improvements of mankind. The cities of ancient Greece were cast in the happy mixture of union and independence, which is repeated on a larger scale, but in a looser form, by the nations of modern Europe: the union of language, religion, and manners, which renders them the spectators and judges of each others merit: the independence of government and interest, which asserts their separate freedom, and excites them to strive for pre-eminence in the career of glory. (Gibbon 1994, III, 421)11

Diese wenigen Andeutungen müssen hier genügen, doch gilt es festzuhalten, dass Gibbons Erforschung der Ursachen für den Untergang des Römischen Reiches letztlich weniger den Wunsch nach einer Wiederauferstehung des alten Roms erkennen lässt, nach „eine[r] resurrectio versunkener Größe“ (Huss 2013, 167), als vielmehr die Beruhigung über die zivilisatorische Überlegenheit der eigenen Epoche, die sich maßgeblich aus ihren Abweichungen von der gleichwohl verehrten Vergangenheit ergibt.12 Gibbons umfangreiche Nachzeichnung des Untergangs des Römischen Reichs und die Ergründung von dessen Ursachen geraten im Laufe der Abfassung des Decline and Fall insgeheim zu einer Apologie des modernen Europa. Dass der letzte Band des Decline and Fall im Jahre 1788 erscheint und damit ein Jahr vor Ausbruch der Französischen Revolution mit all ih-

11 Dieses Lob zwischenstaatlicher aemulatio („emulation“) und das Lob des griechischen Modells als Garant politisch-ökonomischer Stabilität und kultureller Blüte findet sich in ganz ähnlicher Form in David Humes Essay „Of the Rise of the Arts and Sciences“. Vgl. Hume 2008, 63. 12 Korrekter müsste man wohl von der Ersetzung einer „normativen Vergangenheit“ (Assmann 1999, 314) durch eine andere sprechen. Das Ideal eines zusammenhängenden Imperiums (römisches Modell) wird ersetzt durch das Ideal eines territorialen Pluralismus und seiner Möglichkeiten zu friedlichem wirtschaftlichem und kulturellem Austausch (griechisches Modell).

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ren politisch-militärischen Folgen, ist gewiss ein besonders garstiges Beispiel historischer Ironie.13 Erst vor dem Hintergrund dieser untergründig mitlaufenden Apologie des eigenen, aufgeklärten Zeitalters erschließt sich die tatsächliche Bedeutung der letzten Kapitel des Decline and Fall. Dort tritt mit der Dichterkrönung Petrarcas und der, wenngleich erfolglosen, Neugründung der Römischen Republik durch den Volkstribunen Cola di Rienzo das vierzehnte Jahrhundert mit seinen Versuchen einer Reanimation der römischen Vergangenheit hervor. In der Auswertung von Petrarcas Briefen an Giovanni Colonna über die Betrachtung der römischen Ruinen und des Traktats De varietate fortunae des toskanischen Gelehrten Poggio Bracciolini scheint sich Gibbon zunächst noch selbst in dieser Tradition einer humanistisch motivierten Rom-Memoria zu verorten.14 Wenigstens liest sich die eingangs zitierte Szene aus Gibbons Memoirs geradezu als Nachahmung seines Vorläufers Poggio: „In the last days of Pope Eugenius the Fourth, two of his servants, the learned Poggius and a friend, ascended the Capitoline hill; reposed themselves among the ruins of columns and temples; and viewed from that commanding spot the wide and various prospect of desolation.“ (Gibbon 1994, III, 1062) Anders als seine illustren Vorgänger jedoch erteilt Gibbon allen Wiederherstellungsversuchen, die sich aus dieser Ruinenschau speisen, eine erkennbare Absage. Das Rom seiner Zeit – und das heißt auch: die „vergangene Zukunft“ (Koselleck) Petrarcas und Poggios – schildert er vielmehr folgendermaßen: „The population of Rome, far below the measure of the great capitals of Europe, does not exceed one hundred and seventy thousand inhabitants; and within the spacious inclosure of the walls, the largest portion of the seven hills is overspread with vineyards and ruins.“ (Gibbon 1994, III, 1083) Die historische Dynamik hat sich in die europäischen Metropolen der Gegenwart verlagert, nach London etwa oder Paris, während in Rom der disabitato noch immer das Stadtbild bestimmt.15 Die Vergangenheit Roms kann damit nicht länger als zivilisatorisches Leitmodell für das Europa des achtzehnten Jahrhunderts dienen, vielmehr – und eben darin unterscheidet sich Gibbons eigene Ruinenschau von denjenigen Petrarcas und Poggios – taugt Rom nur mehr als Stätte einer säkularen Pilgerschaft: The map, the description, the monuments of ancient Rome, have been elucidated by the diligence of the antiquarian and the student: and the footsteps of heroes, the relics, not of su-

13 Siehe hierzu auch Pocock 2018, 24. 14 Es handelt sich um Petrarcas Epistolae familiares 2,14, 6,2 und 6,4. Zu Petrarca vgl. Kablitz 1999, Huss 2013 sowie den Beitrag von Angela Oster in diesem Band. 15 Zum nachantiken disabitato, der unbewohnten, wieder der Natur anheimgefallenen Zone innerhalb der Aurelianischen Mauer siehe Krautheimer 1980, 311–316.

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perstition, but of empire, are devoutly visited by a new race of pilgrims from the remote, and once savage, countries of the North. (Gibbon 1994, III, 1084)

Diese Abkömmlinge ,romanisierter‘ Barbaren aus dem Norden, d. h. auch Gibbon selbst, haben sich von der Unwiederholbarkeit Roms überzeugt und empfänden dessen Wiederherstellung auch nicht als wünschenswert. Zugleich – so lässt es die subtile Formulierung von den „once savage countries of the North“ durchscheinen – war es Rom selbst, das in der longue durée die Voraussetzungen für seine eigene Überschreitung geschaffen hat. Als solches bleibt es auch in der Gegenwart des achtzehnten Jahrhunderts aufbewahrt wie der 1764 von Gibbon imaginierte und tatsächlich längst verschwundene Jupiter-Tempel auf dem Kapitol. Was Gibbon damals in seiner Betrachtung der römischen Ruinen freilich noch nicht vermutet haben mag, bewahrheitet sich zum Ende des Decline and Fall, denn, so O’Brien: „He had come to bury Rome, not to praise it.“ (O’Brien 1997a, 247) Gemessen an der Monumentalität der römischen Hinterlassenschaften mag der „Ruinenwert“16 der civil society des achtzehnten Jahrhunderts weit bescheidener ausfallen, doch dieser Verlust an Größe,17 so legt es Gibbon nahe, wird kom 

16 Die Idee des Ruinenwerts geht auf Albert Speer zurück und verdankt ihren Ursprung dem Wunsch nach Selbstmonumentalisierung der totalitären Herrschaft des Nationalsozialismus. In seinen Erinnerungen bemerkt Speer hierzu anlässlich der Umgestaltung des Nürnberger Zeppelinfeldes, dem heutigen Reichsparteitagsgelände, folgendes: „Mit dem Bau des Zeppelinfeldes wurde unverzüglich begonnen, um wenigstens die Tribüne bis zum kommenden Parteitag fertigzustellen. Dieser mußte das Nürnberger Straßenbahndepot weichen. Als es gesprengt war, kam ich an dem Gewirr der zerstörten Eisenbetonkonstruktion vorbei; die Eiseneinlagen hingen heraus und hatten zu rosten begonnen. Ihr weiterer Verfall war leicht vorstellbar. Dieser trostlose Anblick gab den Anstoß zu einer Überlegung, die ich später unter dem etwas anspruchsvollen Namen ,Theorie vom Ruinenwert‘ eines Baues Hitler vortrug. Modern konstruierte Bauwerke, das war ihr Ausgangspunkt, waren zweifellos wenig geeignet, die von Hitler verlangte ,Traditionsbrücke‘ zu künftigen Generationen zu bilden: undenkbar, daß rostende Trümmerhaufen jene heroischen Inspirationen vermittelten, die Hitler an den Monumenten der Vergangenheit bewunderte. Diesem Dilemma sollte meine ,Theorie‘ entgegenwirken: Die Verwendung besonderer Materialien sowie die Berücksichtigung besonderer statischer Überlegungen sollte Bauten ermöglichen, die im Verfallszustand, nach Hunderten oder (so rechneten wir) Tausenden von Jahren etwa den römischen Vorbildern gleichen würden.“ Speer 1996, 68–69. Speers Überlegungen operationalisieren eine spezifische Denkfigur der Moderne, wie sie etwa bereits bei Hubert Robert oder Jean-Baptiste de Grainville in Erscheinung tritt: Die Antizipation der eigenen Zukunft als Ruine. Vgl. Anm. 22 und 45. Was dort noch Gegenstand ästhetisch-imaginativer Bearbeitungen ist, wird bei Speer zum Element architekturaler Praxis. 17 Diese diastratisch markierte ,Größe‘ würdiger Ruinen dokumentiert noch der Eintrag „ruine“ in der Encyclopédie, in dem es heißt: „Ruine ne se dit que des palais, des tombeaux somptueux ou des monuments publics. On ne dirait point ruine en parlant d’une maison particuliere de paysans

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pensiert durch Zugewinne an ökonomischer Dynamik, politischer Stabilität und ein generell höheres Maß an Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Die sich aufklärende bürgerliche Gesellschaft investiert weniger in ihr antizipiertes Nachleben als vielmehr in die Lebbarkeit der Gegenwart und deren Steigerung durch Zukunft. Diese optimistische Umbesetzung von Zukunft verdankt sich auch einer Geschichtskonzeption, die es vermag, noch die katastrophischen Zusammenbrüche vergangener Kulturen in ein kumulatives Fortschrittsschema zu integrieren: Since the first discovery of the arts, war, commerce, and religious zeal have diffused, among the savages of the Old and New World, these inestimable gifts: they have been successively propagated; they can never be lost. We may therefore acquiesce in the pleasing conclusion, that every age of the world has increased, and still increases, the real wealth, the happiness, the knowledge, and perhaps the virtue, of the human race. (Gibbon 1994, II, 516)

Selbst epochale Untergänge wie derjenige des römischen Weltreichs sind immer nur relativ. Durch einen kulturellen Mechanismus, den Gibbon hier mehr postuliert als benennt, gehen zivilisatorische Errungenschaften niemals vollständig verloren, sondern bilden die Fundamente späterer Kulturen, die nicht erneut an einem Nullpunkt ansetzen (das wäre das radikal-katastrophische Schema), sondern die Archive der Kunst, des Wissens und der Technik als Grundlage zu weiteren Steigerungsleistungen nutzen können. An Gibbons kapitolinischen Ruinen dokumentiert sich folglich in diesem graduellen Umschlag von einer normativen Vergangenheit hin zu einer offenen Dynamik kultureller Entwicklung bereits exemplarisch die für die Kultur der Moderne charakteristische Umstellung von „Herkunft auf Zukunft“ (Luhmann 1992, 59).

2 Prophetische Ruinen: Volneys Les Ruines ou Méditations sur les révolutions des empires Während Gibbon mit den römischen Ruinen im Zentrum des europäischen kulturellen Gedächtnisses verweilt, entfaltet ein um eine Generation jüngerer Franzose seine Ruinenschau an der Peripherie des mediterranen Beckens. Von 1783 bis 1785 durchreist der junge Volney das Osmanische Reich mit Stationen in Syrien, Palästina und Ägypten. Schon bald nach seiner Rückkehr erscheint in Paris sein Voyage en Syrie et en Égypte (1787), der sich auch dank der zeitgenössischen Be-

ou bourgeois ; on dirait alors bâtiments ruinés.“ Diderot und D’Alembert, XIV, 433 (Kursivierung im Original).

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geisterung für alle Arten von Reiseberichten rasch zum Bestseller entwickelt und den Namen des späteren idéologue bekannt macht. Erst nach dem Schwellendatum 1789 erscheint sein berühmtestes und wirkungsmächtigstes Werk: Les Ruines ou Méditations sur les révolutions des empires (1791). Hierbei handelt es sich um einen einigermaßen seltsamen Text. Autobiographischer Reisebericht, geschichtsphilosophische Spekulation und übernatürliche Erzählelemente verbinden sich hierin zu einer durchaus unrunden Mischung.18 Auf die Heterogenität dieses Textes sei nur deshalb verwiesen, weil insbesondere in der literarischen Rezeption Volneys vielfach nur der Anfang seines Werks bemüht wird, während das Nachleben jener doktrinär akzentuierten Passagen, die er selbst wohl als die originellsten ansah, weit bescheidener ausfiel. In einer dem Haupttext vorgeschalteten „Invocation“ richtet sich Volney in direkter Apostrophe an die Ruinen selbst: Je vous salue, ruines solitaires, tombeaux saints, murs silencieux ! c’est vous que j’invoque ; c’est à vous que j’adresse ma prière. Oui ! tandis que votre aspect repousse d’un secret effroi les regards du vulgaire, mon cœur trouve à vous contempler le charme des sentiments profonds et des hautes pensées. Combien d’utiles leçons, de réflexions touchantes ou fortes n’offrez-vous pas à l’esprit qui sait vous consulter ! C’est vous qui, lorsque la terre entière asservie, se taisait devant les tyrans, proclamiez déjà les vérités qu’ils détestent, et qui, confondant la dépouille des rois avec celle du dernier esclave, attestiez le saint dogme de l’ÉGALITÉ. C’est dans votre enceinte, qu’amant solitaire de la LIBERTÉ, j’ai vu m’apparaître son génie, non tel que se le peint un vulgaire insensé, armé de torches et de poignards, mais sous l’aspect auguste de la justice, tenant en ses mains les balances sacrées où se pèsent les actions des mortels aux portes de l’éternité. (Volney 1979, 1)19

Die noch nicht näher bestimmten Ruinen werden zu Statthaltern einer historisch ausgebliebenen Opposition gegen Tyrannei und Despotismus. In Form einer kontrafaktischen Stimme (vgl. „proclamiez“) verkünden sie posthum, was faktisch unausgesprochen blieb: die Einholung des Tyrannen durch den Tod.20 Doch bie-

18 Schon Jean Gaulmier hat die kompositorische Unausgewogenheit von Volneys Ruines betont. Gaulmier 1959, 113–114. 19 Man erkennt hier recht deutlich, wie die Rolle des solitären Betrachters mit derjenigen eines Advokaten der Gleichheit konfligiert. So befremdet das Maß an Verachtung, mit dem Volney von „les regards du vulgaire“ bzw. einem „vulgaire insensé“ spricht und dies im selben Moment, in dem er die Ruinen zu Monumenten des „saint dogme de l’ÉGALITÉ“ erhebt. 20 Diese Despotismuskritik im Medium der Ruine findet sich noch eine Generation später in Percy Bysshe Shelleys Sonett Ozymandias, das von einer ruinierten Herrscherstatue inmitten einer Wüstenlandschaft handelt. Die Stille der umgebenden Sandweiten straft die Hybris ihrer Inschrift Lügen: „And on the pedestal these words appear: / ,My name is Ozymandias, King of Kings: / Look on my Works, ye Mighty, and despair!‘ / Nothing beside remains. Round the decay / Of that colossal Wreck, boundless and bare / The lone and level sands stretch far away.‘“ (vv. 9–14) Zit. nach Shelley 2003, 198.

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tet die Gleichheit von Tyrann und Untertanen im Faktum ihrer Sterblichkeit einen eher überschaubaren Trost. Dennoch ist die Funktion der Ruine bei Volney eindeutig eine moralisierende, ja didaktische, denn die Ruinen als solche enthalten „utiles leçons“, die freilich in den umgebenden Einöden bislang wirkungslos verhallt sind.21 Volney soll es nun besser machen. Zu Beginn des Haupttextes findet sich also nunmehr die stilbildende compositio loci inmitten der Ruinen des säulenreichen Palmyra, von der aus sich alles Folgende entwickelt: L’aspect d’une grande cité déserte, la mémoire des temps passés, la comparaison de l’état présent, tout éleva mon cœur à de hautes pensées. Je m’assis sur le tronc d’une colonne ; et là, le coude appuyé sur le genou, la tête soutenue sur la main, tantôt portant mes regards sur le désert, tantôt les fixant sur les ruines, je m’abandonnai à une rêverie profonde. (Volney 1979, 6)

Diese „rêverie profonde“ über die wechselvollen Geschicke jener untergegangenen Reiche, deren Überreste Volney im Verlauf seiner Reise durch den Orient besichtigen konnte, gewinnt zunehmend fatalistische Züge und widmet sich als pessimistische Extrapolation aus den kontemplierten Vergangenheiten unvermeidlich auch den Bestandschancen der eigenen, aufgeklärten Zivilisation: Qui sait, me dis-je, si tel ne sera pas un jour l’abandon de nos propres contrées ? Qui sait si sur les rives de la Seine, de la Tamise ou du Sviderzée, là où maintenant, dans le tourbillon de tant de jouissances, le cœur et les yeux ne peuvent suffire à la multitude des sensations ; qui sait si un voyageur comme moi ne s’asseoira pas un jour sur des muettes ruines, et ne pleurera pas solitaire sur la cendre des peuples et la mémoire de leur grandeur ? (Volney 1979, 11, Kursivierung im Original)22

Die Zukunft Europas, so scheint es, liegt in der Wüste.23 Doch kaum, dass sich Volney in die Unabänderlichkeit dieses invarianten Zyklus von Aufstieg, Blüte und Untergang gefügt und die Unerforschlichkeit des göttlichen Ratschlusses akzeptiert hat, tritt ein gespenstisch anmutender Genius der Freiheit auf den Plan,

21 Es ist gerade die Unkenntnis dieser potentiellen leçons, die das zyklische Auf und Ab der menschlichen Geschicke in Gang hält: „Eh bien ! ajouta le Génie en se recueillant, puisque l’expérience des races passées reste ensevelie pour les races vivantes, puisque les fautes des aïeux n’ont pas encore instruit leurs descendans, les exemples anciens vont reparaître“ (Volney 1979, 58). 22 Diese ,Futurisierung‘ der Ruine, d. h. ihre Entdeckung als Medium zur Reflexion der eigenen Gegenwart als künftiger Vergangenheit dokumentieren eindrucksvoll auch zwei zeitgenössische Bilder Hubert Roberts, in denen er die Galerie du Louvre als künftige Ruine präsentiert (Hubert Robert: Vue de la Grande Galerie du Louvre en ruine, Paris (beide) 1796, Musée du Louvre). Vgl. hierzu Junod 1983. 23 Für eine Lektüre der Ruines als „a rich meditation on historical anxiety“ siehe Kim 2018, Zitat: 231.  

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der ebendiese Akquieszenz mit herrischer Stimme als „fausse sagesse“ (Volney 1979, 13) verwirft. Nicht ein wie auch immer geartetes metaphysisches Prinzip bewirke die wachsende Durchsetzung der Erde mit Ruinen, sondern einzig und allein menschlicher Irrtum. Zur Bekräftigung seines Einspruchs erhebt der Genius seinen Schützling mittels Levitation auf einen entrückten Stand- oder vielmehr Schwebepunkt in großer Höhe, von dem aus sich das Gesamt der Erde synoptisch erfassen lässt. Die Nahsicht der Ruinen wird abstrahiert zur Fernsicht des gesamtglobalen Schauplatzes, auf dem sich jene titelspendenden révolutions des empires ereignen. Mit diesem Blickwechsel beginnt auch der eigentlich philosophischdoktrinäre Teil des Werks, der aus dem Munde des Genius zunächst eine materialistische, an Helvétius und d’Holbach anknüpfende Anthropologie entwickelt, darauf aufruhend die Ansätze einer optimistischen Geschichtsphilosophie skizziert, um schließlich im umfangreichsten Teil des Werkes eine – mit Hume gesprochen – „Naturgeschichte der Religion“ zu rekonstruieren, welche die Genese sämtlicher Religionen über einen Mehrstadienprozess aus der Überlagerung eines ursprünglich astronomisch-rationalen Wissens postuliert, um sie letztlich als Verfallsformen einer ursprünglichen Weisheit zu diskreditieren.24 Wir wollen uns hier auf den zweiten Aspekt beschränken. Entgegen der fatalistischen Option, für die sich das solitäre Ich zu Beginn seiner Ruinenkontemplation noch entscheidet, betont der Genius durchweg die Eigenverantwortung des Menschen im Reich der Geschichte: „l’homme est devenu l’artisan de sa destinée ; lui-même a créé tour à tour les revers ou les succès de sa fortune“ (Volney 1979, 29). Das Chaos der Geschichte erwachse aus der Unordnung menschlicher Leidenschaften, denn der „cercle éternel de vicissitudes naquit d’un cercle éternel de passions.“ (Volney 1979, 50) Die schlechte Unendlichkeit einer scheinbar zirkulär verlaufenden Geschichte sei nicht zuletzt Ergebnis einer eingefleischten Taubheit der Menschen gegenüber der eigentlichen Lektion der Ruinen. Parallel zu dieser kritisierten Schuldverlagerung, in der anthropogene Untergangsursachen zu Wirkungen einer metaphysischen Gesetzmäßigkeit verklärt werden, vollzieht sich eine Entzauberung der Ruinen. Mehrfach wird deren monumentale Größe, die sie zu dankbaren Objekten ehrfürchtiger Betrachtung macht, depotenziert zum Symptom von Unfreiheit, Tyrannei und Despotis-

24 Trotz dieser letztlich materialistisch-rationalen Agenda fällt auf, wie sehr Volneys Ruines das Register des Sakralen bemüht. Neben der Lexik der Ruinenschilderungen zeigt sich dies bereits in der Betitelung des Einleitungstexts als „Invocation“ wie auch in der Erscheinung des Genius. Geneviève Cammagre hat daher treffend von „l’instauration d’un nouveau type de sacralité“ gesprochen, der sich hier im Umgang mit Ruinen dokumentiert, wobei es sich dabei klar um eine „sacralité profane“ bzw. ein „sentiment de transcendance laïcisée“ handelt. Cammagre 2016, 181, 185 und 186.

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mus.25 Volneys Befund ähnelt damit Walter Benjamins Diktum, wonach gilt: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.“ (Benjamin 1991, 696) Die Ruinen werden so sukzessive ihres falschen Nimbus entkleidet und hierbei kommen auch zeitgenössische Konnotationen des nahöstlichen Schauplatzes ins Spiel. Für Volney, der hierin einer langen Tradition seit Montesquieu folgt, ist der Nahe Osten, nicht nur in seiner gegenwärtigen politischen Form als Osmanisches Reich, sondern auch in seinen extinkten Hochkulturen ein Hort des Despotismus. Anders etwa als die ambivalente Geschichte Roms, in der sich immer auch die Phase der Republik in den Blick rücken lässt,26 bilden die Ruinen von Palmyra ein geeignetes Setting, um, wie es der Genius nunmehr unternimmt, den Raum der Geschichte umso emphatischer als einen offenen, postdespotischen Möglichkeitsraum menschlicher Freiheit zu entwerfen.27

25 Vgl. hierzu etwa auch die folgende Passage aus Volneys Voyage, wo der überwältigende Eindruck der Pyramiden von Gizeh umschlägt in eine kritische Reflexion über ihre politischen und materiellen Entstehungsbedingungen: „Après avoir pris une si grande opinion de la puissance de l’homme, quand on vient à méditer l’objet de son emploi, on ne jette plus qu’un œil de regret sur son ouvrage ; on s’afflige de penser que pour construire un vain tombeau, il a fallu tourmenter vingt ans une nation entière ; on gémit sur la foule d’injustices et de vexations qu’ont dû coûter les corvées onéreuses et du transport, et de la coupe, et de l’entassement. On s’indigne contre l’extravagance des despotes qui ont commandé ces barbares ouvrages […] [qui] attestent bien moins le génie d’un peuple opulent, et ami des arts, que la servitude d’une nation tourmentée par le caprice de ses maîtres“. Volney 1787, I, 254–255. In den Ruines tritt hierzu das Moment des Aberglaubens und des Fanatismus, nicht ohne einen gewissen Vorzug des eigenen Zeitalters der Lumières herauszustellen: „Jeune homme, crois-en la voix des tombeaux et le témoignage des monumens : des contrées sans doute en déchu de ce qu’elles furent à certaines époques ; mais si l’esprit sondait ce qu’alors même furent la sagesse et la félicité de leurs habitans, il trouverait qu’il y eut dans leur gloire moins de réalité que d’éclat ; il verrait que dans les anciens États, même les plus vantés, il y eut d’énorme vices, de cruels abus, d’où résulta précisément leur fragilité ; qu’en général les principes des gouvernemens étaient atroces ; qu’ils régnait de peuple à peuple un brigandage insolent, des guerres barbares, des haines implacables ; que le droit naturel était ignoré ; que la moralité était pervertie par un fanatisme insensé, par des superstitions déplorables ; qu’un songe, qu’une vision, un oracle, causaient à chaque instant des vastes commotions : et peut-être les nations ne sont-elles pas encore bien guéries de tant de maux ; mais du moins l’intensité en a diminué, et l’expérience du passé n’a pas été totalement perdue. Depuis trois siècles surtout, les lumières se sont accrues, propagées ; la civilisation, favorisée de circonstances heureuses, a fait des progrès sensibles“ Volney 1979, 80. 26 Eben diesen Bezug auf das republikanische Rom werden die französischen Revolutionäre bekanntlich sowohl symbolisch (z. B. Liktorenbündel) wie ästhetisch forcieren. Zugleich avancieren die Caesarenmörder Brutus und Cassius, besonders nach der Hinrichtung Ludwigs XVI., auf französischen Bühnen zu exemplarischen Identifikationsfiguren. 27 Nicht recht plausibel erscheint Sophie Lacroix’ Versuch, Volney als geschichtsphilosophischen Skeptiker zu inszenieren: „Volney semble osciller entre une vision des ruines qui en fait le résultat de malfaçons originaires à corriger en éradiquant les mauvaises fondations, et une autre  

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Die Effizienz dieser neuen Zeitgabe durch das Medium der Ruine verdankt sich nicht zuletzt dem minutiösen publizistischen Timing Volneys, der seine soeben erschienenen Ruines 1791 öffentlichkeitswirksam der Konstituierenden Nationalversammlung überreicht. Die Revolution wird darin perspektiviert als die Einlösung einer millenarischen Verheißung.28 So befindet der Genius mehr als suggestiv: „la terre attend un peuple législateur ; elle le désire, elle l’appelle, et mon cœur l’entend…“ (Volney 1979, 86, Kursivierung im Original). Der beachtliche Erfolg von Volneys Ruines verdankt sich folglich auch dieser Konvergenz der entwickelten Geschichtsphilosophie mit dem Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung, in den sie sich in einem Akt retroaktiver Teleologie selbst einschreibt.29 Die Ruine als solche aber erweist sich letztlich als das Andere dieser Revolution. So konkretisiert Volneys Werk in der Divergenz seines Titels und seines thetischen Gehalts die historische Umbesetzung des Begriffs der Revolution selbst.30 Während der Titel ihn noch in seiner ursprünglichen, der Astronomie entnommenen Bedeutung und daher auch im Plural anführt – les révolutions des empires –, führt die Prophezeiung des Genius hin zu jener singulären Révolution, die einen Schlussstrich setzen werde unter das zyklische Werden und Vergehen menschlicher Reiche. Die

vision qui les réfère à un principe immuable mais occulte qu’il faut rattacher, celle-ci, aux passions humaines.“ Lacroix 2007, 98. Dabei ist Volney von der Reformierbarkeit menschlicher Leidenschaften explizit überzeugt, wie aus den späteren, doktrinären Kapiteln der Ruines klar hervorgeht. So entwickelt Volney dort gar die Vision einer friedlichen Koexistenz der Nationen und Völker: „Et il s’établira de peuple en peuple un équilibre de forces, qui, les contenant tous dans le respect de leurs droits réciproques, fera cesser leurs barbares usages de guerre, et soumettra à des voies civiles le jugement de leurs contestations ; et l’espèce entière deviendra une grande société, une même famille gouvernée par un même esprit, par des communes lois, et jouissant de toute la félicité dont la nature humaine est capable“ Volney 1979, 85 (Kursivierung im Original). Lacroix hingegen entwickelt ihre Überlegungen oftmals in weiter Flughöhe über dem Text und unterschlägt in ihren Ausführungen etwa vollständig die Figur des Genius, der als Sprachrohr einer überzeitlichen Vernunft eingeführt wird. 28 Diese bewusst angestrebte Zäsur mit der Vergangenheit verdeutlicht auch der 1792 verabschiedete und rückwirkend vom Jahr 1789 an gezählte Revolutionskalender, der mit „l’an I de la Liberté“ beginnt. Zur ausgefeilten Ikonographie dieses Kalenders und der auch sprachtheoretisch interessanten Umbenennung der überkommenen Monatsnamen vgl. die Ausführungen in Gombrich 1979. 29 Diese Legitimation der Revolution aus der Tiefenzeit der Ruinen kann auch als Antwort auf ihr Legitimitätsdefizit im Vergleich zu dynastischen Formen der Legitimität begriffen werden. Gerade ihr Bruch mit der Vergangenheit wird so zur Quelle ihrer Legitimität. Ihr Eintritt bildet die Erfüllung einer millenarischen Verheißung, die ohne Präzedenz ist. 30 Zu diesem Bedeutungswandel von révolution um 1789 und dem nunmehr möglichen Singulargebrauch mit Majuskel (la Révolution) zur Betonung ihrer „singularité“ und „unicité“, aber auch ihrer Aktualität vgl. Rey 1989, 109–116.

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den Ruinen abgelauschte Lektion ist damit in letzter Konsequenz die Revolution und diese wiederum formuliert das Versprechen auf eine neue Zeit, die die Ruine als solche grundsätzlich hinter sich gelassen und die Gefahr des eigenen Untergangs gebannt haben wird.31 Für die Ästhetik der Ruinen ist Volney nicht zuletzt deshalb von Relevanz, weil er mit besonderer Klarheit die in der Ruinenschau implizierte „Ideologie des Ästhetischen“ aufdeckt, ihre Naturalisierung geschichtlicher Verläufe durch analogisierende Anleihen bei den Zyklen der Natur.32 Das romantisch anmutende Setting zu Beginn wird so im Fortgang des Textes Gegenstand einer umfassenden Korrektur durch den Genius. Somit taugt Volney genau besehen aber gerade nicht als Vorbereiter der Romantik, weil er deren typische Thematisierung der Ruine im Zeichen fatalistischer Melancholie gewissermaßen antizipierend als reaktionäre Ideologie enttarnt. Somit bleibt es wiederum ein Fall historischer Ironie, dass es vor allem der ideologisch ungeläuterte Anfangsteil der Ruines ist, der die romantische Ruinenkontemplation maßgeblich ermöglicht hat.33

3 Morphologie des Falls: Chateaubriand Während Gibbon immerhin verhalten, Volney dagegen mit revolutionärem Furor aus ihren Ruinenlektüren die Überwindung einer zyklischen Geschichtstheorie hin zu einer potentiell aufsteigenden Dynamik menschlichen Fortschritts gewinnen, bemüht sich Chateaubriand nur etwa ein Jahrzehnt später bereits um eine Einhegung dieses Möglichkeitsraums und eine Resubsumption menschlicher Geschichte unter das Dachnarrativ der Eschatologie. In seinem 1802 erschienenen Génie du christianisme legt er ein modernes Vademecum des nachrevolutionären Katholiken vor, das die kulturell unhintergehbare Bedeutung des Christentums für die Gegenwart und dessen singuläres ästhetisches Potential umfangreich entwickelt und damit in den Wirren des postrevolutionären Frankreichs als Leitstern

31 Andreas Heyer hat dennoch zu Recht bemerkt, dass sich bei Volney „kaum Ausführungen zur Transformationsperspektive, d. h. zum Weg von der Gegenwart hin nach Eutopia“ finden. Heyer 2006, 213. Volneys rückhaltloses Eintreten für die Revolution bewahrte ihn indes – wie zahlreiche andere Intellektuelle der Revolutionszeit auch – nicht davor, in den politischen Wirren der Terreur für zehn Monate im Gefängnis La Force inhaftiert zu werden. Der Guillotine entging er nur durch einen Fehler in der Gefängnislogistik, der zu einer Verzögerung führte. Nach der Absetzung Robespierres wurde sein Todesurteil revoziert. Vgl. Israel 2014, 532–533 und 582. 32 Vgl. Eagleton 1990. 33 Neben Chateaubriand nennt Sophie Lacroix auch Senancour, Lamartine und Hugo als romantische Erben Volneys. Lacroix 2007, 91.  

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dienen soll.34 Im wohl berühmtesten Kapitel „Du vague des passions“ charakterisiert er die conditio des Christen folgendermaßen: „Le chrétien se regarde toujours comme un voyageur qui passe ici-bas dans une vallée de larmes, et qui ne se repose qu’au tombeau. Le monde n’est point l’objet de ses vœux, car il sait que l’homme vit peu de jours, et que cet objet lui échapperait vite.“ (Chateaubriand 1978, 715, Kursivierung im Original) Vor diesem Hintergrund einer reaktivierten christlichen Vanitas-Topik erschließt sich auch die Theorie der Ruinen, die das fünfte Buch des dritten Teils unter dem Titel „Harmonies de la religion chrétienne avec les scènes de la nature et les passions du cœur humain“ vorlegt. Eröffnet wird der Abschnitt über die Ruinen durch einen anthropologischen Befund: Tous les hommes ont un secret attrait pour les ruines. Ce sentiment tient à la fragilité de notre nature, à une conformité secrète entre ces monuments détruits et la rapidité de notre existence. Il s’y joint, en outre, une idée qui console notre petitesse, des hommes quelquefois si fameux, n’ont pu vivre cependant au-delà du peu de jours assigné à notre obscurité. Ainsi, les ruines jettent une grande moralité au milieu des scènes de la nature […]. Et pourquoi les ouvrages des hommes ne passeraient-ils pas, quand le soleil qui les éclaire doit lui-même tomber de sa voûte ? (Chateaubriand 1978, 881)

Die beschließende Anspielung auf die Offenbarung des Johannes (Offb 6,12–14) perspektiviert die Ruinen als Vorübungen des jüngsten Tages, als apokalyptische Miniaturen, die auf das tatsächliche Endgericht vorausweisen. Der Ruine ist bereits widerfahren, was der Welt als ganzer bevorsteht. Die Moralisierung der Natur durch die Ruine eröffnet folglich eine andere, theologisch ausgerichtete Lesart menschlicher Geschichte als ein zu überstehendes Interim. Die Flüchtigkeit der Welt erlangt in den Ruinen nicht zuletzt deshalb besondere Eindringlichkeit, weil sie dokumentieren, dass auch die scheinbar stabilsten Hervorbringungen menschlicher Zivilisation der Zerstörung durch die Zeit nicht entgehen. Doch wird die Semantik der Ruine auch zum Interpretament für die Natur ihres Betrachters, denn „l’homme n’est lui-même qu’un édifice tombé, qu’un débris du péché et de

34 Mortier betrachtet Génie du christianisme – gewiss etwas zu pointiert – gar als direkte Erwiderung auf Volneys Les Ruines: „Dans une large mesure, Le Génie du Christianisme sera la réponse catholique aux Ruines de Volney, ce testament philosophique du siècle des lumières.“ Mortier 1974, 141. Bezeichnenderweise entwirft Chateaubriand in der Préface zu Génie du christianisme jenes Frankreich, in dem das Werk interveniert, seinerseits als Ruinenlandschaft: „Ce fut donc, pour ainsi dire, au milieu des débris de nos temples que je publiai le Génie du christianisme, pour rappeler dans ces temples les pompes du culte et les serviteurs des autels. Saint-Denis était abandonné […]. Partout on voyait des restes d’églises et de monastères que l’on achevait de démolir : c’était même une sorte d’amusement d’aller se promener dans ces ruines.“ Chateaubriand 1978, 715.

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la mort ; son amour tiède, sa foi chancelante, sa charité bornée, ses sentiments incomplets, ses pensées insuffisantes, son cœur brisé, tout chez lui n’est que ruines.“ (Chateaubriand 1978, 883)35 Die Ruine durchsetzt die Natur mit Erinnerungszeichen an diese postlapsarische conditio, an die zweite Natur des Menschen nach dem Fall, der den ursprünglichen Gnadenstand nicht aus eigener Kraft wiederherstellen kann.36 Die in den Ruinen gespeicherten historischen Zeitläufte verbinden sich so in Chateaubriands christlicher Neubegründung einer Ästhetik der Ruinen unweigerlich mit der existenziellen Zeitdimension des betrachtenden Subjekts. Doch beschränkt sich die Botschaft der Ruinen nicht auf Tod, Vergeblichkeit und Untergang, sondern eröffnet in Form christlicher Ruinen auch eine Lesbarkeit, die über den immanenten Zeithorizont menschlicher Geschichte hinausweist. Die „ruines des monuments chrétiens“ (Chateaubriand 1978, 885) vermitteln nach Chateaubriand daher eine ganz andere Botschaft als jene, die noch aus vorchristlicher Zeit stammen: „Sacrés débris des monuments chrétiens, vous ne rappelez point, comme tant d’autre ruines, du sang, des injustices et des violences ! vous ne racontez qu’une histoire paisible, ou tout au plus que les souffrances mystérieuses du Fils de l’Homme !“ (Chateaubriand 1978, 887) In Theorie und späterer ästhetisch-literarischer Praxis bemüht sich Chateaubriand damit um eine heilsgeschichtliche Refunktionalisierung der Ruine. Exemplarisch kristallisiert sich diese Denkfigur in dem neun Jahre nach Génie du christianisme erschienenen Itinéraire de Paris à Jérusalem, einem Reisebericht, in dem Chateaubriand seine Reise durch das östliche Mittelmeer ins Heilige Land und über Ägypten nach Nordafrika von Juli 1806 bis Juni 1807 dokumentiert. Sei-

35 Zur Rolle der Ruinensemantik für die Problematisierung subjektiver Identität in den autobiographischen Schriften Chateaubriands siehe Loehr 2003. 36 Chateaubriands christlich motivierte Lektüre von Natur und Landschaft, innerhalb derer sich seine Ruinentheorie situiert, knüpft hierbei an eine umfangreiche physikotheologische Tradition an, allerdings weniger an die im achtzehnten Jahrhundert verbreitete, harmonisierende Variante, die die Wohleingerichtetheit der göttlichen Schöpfung betont, als vielmehr an jene verfallsorientierte Spielart, die besonders in Thomas Burnets Telluris theoria sacra (1681) hervortritt. Geprägt von den Cambridge Platonists und im Rückgriff auf den Topos eines mundus senescens begreift Burnet die gesamte gegenwärtige Erde als Verfallsform, als Ruine ihres vorsintflutlichen Zustands. Evident werde dies nach Burnet besonders an zerklüfteten Berglandschaften wie den Alpen oder der amorphen Weite des Meers: „They are both in my judgment the image or picture of a great Ruine, and have the true aspect of a World lying in its Rubbish.“ Der Ruinenstatus der Welt ist folglich Ausdruck einer göttlichen Sanktion gegen eine sündige Menschheit, die eine Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Vollkommenheit nicht mehr selbstständig erlangen kann. Zu Burnet vgl. Zimmermann 1989, 1–16, Zitat nach ebd., 2. Zum mundus senescens vgl. Bartelink 1970.

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ne umfassende Kontemplation der attischen Ruinen von den Höhen der Akropolis schließt dort wie folgt: Ce tableau de l’Attique, ce spectacle que je contemplais, avait été contemplé par des yeux fermés depuis deux mille ans. Je passerai à mon tour : d’autres hommes aussi fugitifs que moi viendront faire les mêmes réflexions sur les mêmes ruines. Notre vie et notre cœur sont entre les mains de Dieu : laissons-le donc disposer de l’une comme de l’autre. (Chateaubriand 2005, 187)

Die Erschütterung durch die Ruinen wird im Idealfall aufgefangen durch ein erneuertes Vertrauen in die lenkende Weisheit Gottes. Die Flüchtigkeit des Subjekts, dessen Betrachtung schon Wiederholung vergangener Betrachtungen ist, dokumentiert sich in einem Ausgriff in die Zukunft, einer mentalen Zeitachsenmanipulation und einer imaginierten Reihe immer neuer Betrachter, die von den Ruinen zu den immer gleichen Befunden angeregt werden („les mêmes réflexions sur les mêmes ruines“). Im Zuge der zeitlichen Entgrenzung durch die Tiefenzeit der Ruinen begegnet sich das Ich als unbedeutende Kopie. Substanz gewinnt es nicht durch die Originalität seiner Schau, sondern einzig durch die Hoffnung auf eine metaphysische Aufhebung der Zeit und seine Teilhabe an der verheißenen Ewigkeit. Doch ist Chateaubriand auch ein Opfer des Pittoresken. Der Reiz der Ruine erschöpft sich nicht in der anagogischen Funktion, auf die Chateaubriand sie festlegen will, wonach der Blick auf die Ruinen und die in ihnen sinnfällig werdende Hinfälligkeit der irdischen Dinge hinleitet zu jener Überschreitung der Zeit, wie sie im Reich Gottes verkündet ist, in dem auch nur die Möglichkeit einer Ruine außer Kraft gesetzt ist.37 Vielmehr generiert dieser Reiz einen ästhetischen Überschuss, der sich in immer neuen, meisterhaft inszenierten Ruinenlektüren entlädt. Nicht ohne Grund nennt Chateaubriand seinen Itinéraire im Vorwort von 1826 „le livre de postes des ruines“ (Chateaubriand 2005, 68).38 Kurzum, das inszenatorische Pathos, die sinnliche Fülle und die raumzeitliche Singularität dieser Ruinenlektüren sichern gerade das, was nach christlicher Lesart Gegen-

37 Trotz ihrer gegensätzlichen Lesarten menschlicher Geschichte treffen sich Volney und Chateaubriand in ihren Zukunftsentwürfen in diesem Merkmal der Ruinenlosigkeit. Ob als weltimmanente Vervollkommnung durch vernunftgeleitetes menschliches Handeln oder als transzendente Überwindung der Welt als solcher: In beiden Fällen ist die Überwindung der Ruine ein Merkmal des utopischen Entwurfs. 38 Neben den attischen Ruinen sind besonders diejenigen Spartas und Karthagos zu nennen. Die Semantisierung der Ruinen im Heiligen Land hingegen unterscheiden sich signifikant von derjenigen ‚heidnischer‘ Hinterlassenschaften. Vgl. zu dieser heilsgeschichtlich motivierten Differenz in der Ästhetisierung der Ruinen Strohmaier 2020.

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stand einer Überschreitung sein sollte: die an den Phänomenen hängende libido spectandi, die lustvoll erfahrene Tiefe der eigenen Erinnerung und den Genuss der eigenen historisch-literarischen Bildung. Die Ruinen geraten Chateaubriand somit insgeheim zum Medium des Aufschubs dessen, was sie, wenigstens im Geiste des Betrachters, herbeiführen sollen: Statt die Natur zu moralisieren und die Landschaft zu überschreiten ermöglichen sie eine Proliferation des Pittoresken. Ihre Vorhandenheit versieht die Erde mit einer schier unerschöpflichen Fülle interessanter und denkwürdiger Ansichten und produziert mit Ruinen als Zentrum immer neue Erfahrungen von Landschaft, die zum unerschöpflichen Gegenstand ästhetischer Aufmerksamkeit avancieren.39 Bei seinem Publikum setzt Chateaubriands Itinéraire folglich weniger den Wunsch nach einer Verabschiedung der Welt frei als vielmehr den Wunsch nach Autopsie, den Wunsch, sich selbst in die Position dieser magistralen Schau zu begeben und die geschilderten Ruinen mit eigenen Augen zu sehen. Die projektierte Re-Christianisierung der Ruine wird so von jener Anfangsentscheidung eingeholt, auf der die gesamte Architektur von Génie du christianisme beruht: die Rechtfertigung des Christentums durch seine Wirkungen in dieser Welt und mit ästhetischen Mitteln. Mit der ästhetisch-kulturellen Ausrichtung seiner Apologie des Christentums reagiert Chateaubriand besonders auf den Vorwurf der philosophes um Voltaire und Diderot, das Chris-

39 Grundannahme dieser Überlegung ist, dass ,Landschaft‘ – im Anschluss an Georg Simmel – nicht eine von sich aus gegebenes Nebeneinander topographischer Gegebenheiten bezeichnet, sondern eine aktive Synthese durch den Betrachter: „Die Natur, die in ihrem tiefen Sein und Sinn nichts von Individualität weiß, wird durch den teilenden und das Geteilte zu Sondereinheiten bildenden Blick des Menschen zu der jeweiligen Individualität ,Landschaft‘ umgebaut.“ Die Wahrnehmung einer gegebenen Szenerie als Landschaft verhält sich daher analog zu dem „was der Künstler tut: daß er aus der chaotischen Strömung und Endlosigkeit der unmittelbar gegebenen Welt ein Stück herausgrenzt, es als eine Einheit faßt und formt, die nun ihren Sinn in sich selbst findet und die weltverbindenden Fäden abgeschnitten und in den eigenen Mittelpunkt zurückgeknüpft hat – eben dies tun wir in niederem, weniger prinzipiellem Maße, in fragmentarischer, grenzunsichrerer Art, sobald wir statt eine Wiese und eines Hauses und eines Baches und eines Wolkenzuges nun eine ,Landschaft‘ schauen.“ Eine beobachterunabhängige Landschaft kann es demnach nicht geben, vielmehr gilt nach Simmel: „Wo wir wirklich Landschaft und nicht mehr eine Summe einzelner Naturgegenstände sehen, haben wir ein Kunstwerk in statu nascendi.“ Simmel 2008, 43, 45 und 47. Der besondere Reiz der Ruine für die Konstitution von ,Landschaft‘ besteht nun einerseits darin, dass sie als Selektionshilfe dienen kann, um bestimmte topographische Ensembles vor anderen auszuzeichnen, anderseits darin, dass sie selbst einen ästhetisch interessanten Hybrid bildet, in dem die geläufige Unterscheidung Natur/Kultur thematisiert und gegebenenfalls destabilisiert wird, denn „es entsteht eine neue Form, die vom Standpunkt der Natur aus durchaus sinnvoll, begreiflich, differenziert ist. Die Natur hat das Kunstwerk zum Material ihrer Formung gemacht, wie vorher die Kunst sich der Natur als ihres Stoffes bediente.“ Simmel 2008, 36–37.

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tentum habe ein Zeitalter der Barbarei, des Fanatismus und der Finsternis über die Welt gebracht: On l’avait séduit [sc. le monde] en lui disant que le christianisme était un culte né du sein de la barbarie, absurde dans ses dogmes, ridicule dans ses cérémonies, ennemi des arts et des lettres, de la raison et de la beauté ; un culte qui n’avait fait que verser du sang, enchaîner les hommes, et retarder le bonheur et les lumières du genre humaine : on devait donc chercher à prouver au contraire que de toutes les religions qui ont jamais existé la religion chrétienne est la plus poétique, la plus humaine, la plus favorable à la liberté, aux arts et aux lettres ; que le monde moderne lui doit tout, depuis l’agriculture jusqu’aux sciences abstraites ; depuis les hospices pour les malheureux, jusqu’aux temples bâtis par MichelAnge, et décorés par Raphaël. (Chateaubriand 1978, 469–470)

In dieser kulturellen Leistungsschau des Christentums, das gerade nicht als Hemmschuh menschlicher Entwicklung erscheinen soll, übernimmt Chateaubriand unter der Hand jedoch die grundlegende Annahme der philosophes und der Religionskritik der Lumières: Die Religion hat sich durch ihre Wirkungen in dieser Welt auszuweisen, während die ihr originäre Ebene der Transzendenz in den Hintergrund rückt. Die Faszination von Chateaubriands Ruinen resultiert somit ganz maßgeblich aus dieser ungelöst verbleibenden Ambivalenz. Als Mahnungen, des Endes der Welt zu gedenken, sind sie in ihrer Vielzahl jederzeit zugleich Beweis für die Genießbarkeit seines Noch-nicht, für eine seltsam widerstrebende Lust am Aufschub.40

4 Die Frage nach der Zukunft und die Politik der Ruine In der Konklusion seiner Poétique des ruines präzisiert Roland Mortier den Kern des Ruinenthemas einigermaßen unspektakulär: „En définitive, au travers de ces innombrables variations, le thème fondamental de l’inspiration ,ruiniste‘ reste la perception du temps“ (Mortier 1974, 225). Mortiers Befund ist dabei so unbestreit-

40 In einer noch immer anregenden Lektüre von Chateaubriands Gesamtwerk hat Jean-Pierre Richard auf der Mikroebene einzelner Stileme die immer neue Inszenierung eines néant herausgearbeitet, das allerdings nicht resultativ dargestellt wird, sondern vielmehr indirekt über immer neu inszenierte Momente der Nichtung und des Verschwindens, d. h. als immer noch wahrnehmbarer Prozess. Auch Chateaubriands Ruinen ließen sich unschwer in diese übergreifende ,Poetik der Nichtung‘ integrieren; einer Nichtung freilich, die in ihren stets neuen Inszenierungen immer zugleich aufgeschoben bleibt. Vgl. Richard 1967.  

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bar wie unzureichend. ‚Zeit‘ ist eben keine homogene Größe, sondern ein vieldimensionales Basismedium menschlicher Sinnvollzüge und eben als solches ohne Abweichungen und Varianten nicht denkbar. In anderen Worten: Jegliches Konzept von nicht-mathematischer und also bedeutungstragender Zeit konstituiert sich selbst wiederum in einem Horizont von Zeitlichkeit. Und gerade dieser unvermeidliche konzeptuelle Wiedereintrag ermöglicht das, was sich vor dem skizzierten Hintergrund als eine Politik der Ruine beschreiben ließe.41 Auch wenn die Begegnung von Subjekt und Ruine sich überwiegend in topisch gewordener Einsamkeit vollzieht – Diderot etwa kritisiert Hubert Robert einmal, weil sich in einem seiner Ruinenbilder zu viele Menschen tummeln42 –, bildet die Sphäre des Politischen den Schatten dieser Kontemplation. Die paradoxale Einsamkeit im Angesicht der Ruinen führt hier gerade nicht zu einer Beschränkung der Reflexion auf die individuelle Endlichkeit des Betrachters und die Hinfälligkeit der Dinge im Allgemeinen. Als metonymische Residuen untergegangener Kollektive erzwingen die Ruinen gleichsam von selbst die Reflexion auf jene historischen Dynamiken, die zu den Untergängen geführt haben, die sie als Überreste bezeugen.43 Sie sind virtuell umgeben von einem mahnenden Chor der Toten. Sie lassen das Riskante gegenwärtiger Zivilisationen hervortreten, die Ungewissheit ihrer Bestandschancen, setzen aber auch den Wunsch frei, dem Wiederholungszwang einer zyklischen, scheinbar natürlichen Dynamik des Verhängnisses zu entgehen, indem sie diese Untergänge als Konsequenzen zivilisatorischer ‚Baufehler‘ liest, die sich hätten vermeiden lassen. In nuce konstituiert sich damit bereits hier, zumindest auf der Ebene metahistorischer Imagination, so etwas wie ein Paradigma der Prä-

41 Zu der auch (post‑)kolonialen Relevanz einer solchen Politik der Ruine vgl. den Beitrag von Sara Izzo in diesem Band. 42 Diderot, Salon de 1767: „Ne sentez-vous pas qu’il y a trop de figures ici ; qu’il en faut effacer les trois quarts. Il n’en faut réserver que celles qui ajouteront à la solitude et au silence. Un seul homme qui aurait erré dans ces ténèbres, les bras croisés sur la poitrine et la tête penchée m’aurait affecté davantage. L’obscurité seule, la majesté de l’édifice, la grandeur de la fabrique, l’étendue, la tranquillité, le retentissement sourd de l’espace m’aurait fait frémir. Je n’aurais jamais pu me défendre d’aller rêver sous cette voûte, de m’asseoir entre ces colonnes, d’entrer dans votre tableau. Mais il y a trop d’importuns. Je m’arrête. Je regarde. J’admire, et je passe.“ Diderot 1990, 337–338. Zu Diderot siehe auch den Beitrag von Constanze Baum in diesem Band. 43 Geneviève Cammagre bemerkt hierzu treffend: „La séparation d’avec les hommes qu’est la retraite, même temporaire, rattache à leur histoire.“ Cammagre 2016, 194. Besonders deutlich wird diese politische Wendung einer scheinbar rein subjektiv-ästhetischen Einsamkeit inmitten der Ruine schon zu Beginn von Volneys Ruines: „O ruines ! je retournerai vers vous prendre vos leçons ! je me replacerai dans la paix de vos solitudes ; et là, éloigné du spectacle affligeant des passions, j’aimerai les hommes sur des souvenirs ; je m’occuperai de leur bonheur, et le mien se composera de l’idée de l’avoir hâté.“ Volney 1979, 2.

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vention.44 Politisch ist diese Hermeneutik der Ruine allein schon deshalb, weil sie immer auch die Sphäre gegenwärtiger Vergemeinschaftung berührt, die durch das Potential der Ruine, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in singulärer Weise zu verdichten, in besonders drängender Weise thematisch wird. So gerät Gibbon die Trauer über die untergegangene Größe des alten Roms zu einer Apologie des Zeitalters der Aufklärung. So kann Volney aus der Kontemplation der nahöstlichen Ruinen die Überwindung einer zyklischen Geschichtskonzeption gewinnen und mit ihr die Verheißung eines egalitären Zeitalters jenseits von Tyrannei und Despotismus. Und so kann Chateaubriand nach dem Scheitern der Revolution schließlich die Ruinen nutzen, um die Wirkungsbereiche historischer Gestaltungskraft von neuem zu marginalisieren und die Geschichte als solche wieder der Eschatologie zu subsumieren.45 Der ontologische Status jener Ruinen, die den jeweiligen Geschichtsentwurf autorisieren sollen, ist dabei überaus zwielichtig. Alle drei Autoren berufen sich emphatisch auf den eigenen Augenschein. Im Falle Gibbons wurde bereits deutlich, dass seine kapitolinischen Ruinen Fiktion sind. Doch auch bei Volney verhält es sich ähnlich, denn: Volney war nie in Palmyra.46 Seine Kontemplation speist sich vielmehr aus den Kupferstichen eines englischen Reiseberichts aus den 1750er Jahren.47 Auch Chateaubriands Génie du christianisme erscheint mehrere Jahre vor seinen ausgedehnten Reisen durch Italien, Griechenland und den Nahen Osten mit ihren ausgiebigen Ruinensichtungen. Seine Theorie der Ruinen geht ihrer Empirie also deutlich voraus. Kurzum: Alle drei Autoren nutzen die Pa-

44 Siehe Horn 2014, 297–375. 45 Ausgehend von Chateaubriands ambivalenter Eschatologie als Replik auf Volneys ruinengestützten Optimismus ließe sich auch ein weiteres, ebenfalls ,konterrevolutionär‘ motiviertes rewriting der Ruines in den Blick nehmen. Mit Alexis de Grainvilles Le dernier homme erscheint 1805 der Prototyp all jener Endzeitfiktionen, die eine Apokalypse ohne Heil entwerfen und die seither eine anhaltende Konjunktur erfahren haben. Wie schon Volney hält sich auch der Erzähler Grainvilles zu Beginn inmitten der Ruinen von Palmyra auf. Dort begegnet ihm jedoch kein Genius der Freiheit, sondern ein finster aussehender Mann, der ihn in eine Höhle bittet. Hier erfährt er anhand eines prognostischen Spiegels vom bevorstehenden Untergang der Menschheit aufgrund ihrer moralischen Depravation und sieht, wie sich sein zukünftiges Ich – als einzig fertiles Exemplar des männlichen Geschlechts – gegen die Zeugung weiterer Nachkommen entscheidet und damit das Ende einer an Sterilität zugrunde gehenden Menschheit besiegelt. Grainvilles finstere Prognose über das Schicksal der menschlichen Gattung bildet eine Palinodie zu Volneys Aufklärungsoptimismus: An die Stelle einer Zukunft ohne Ruinen tritt eine Zukunft als Ruine, eine Entgrenzung der Ruine, die das Gesamt menschlicher Zivilisation erfasst. Zu Grainville vgl. Horn 2014, 53–57. 46 Siehe Gaulmier 1959, 47. 47 Es handelt sich um Robert Wood und James Dawkins, The Ruins of Palmyra, otherwise Tedmor, in the Desart, London 1753. Vgl. Mortier 1974, 139.

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thosformel der Ruine und ihr singuläres Potential zur Erzeugung imaginativer und affektiver Evidenz.48 Ruinen werden hier zu materiellen Ankerpunkten, die eine je besondere Geschichtsauffassung zur sinnlichen Erfahrbarkeit verdichten. Die Varianz metahistorischer Zuschreibungen oszilliert zwischen einer De-Naturalisierung bzw. (Re‑)Naturalisierung der Ruinen, je nachdem, ob der in ihnen dokumentierte Verfall als unvermeidliche Konsequenz einer invariant gesetzten menschlichen Natur begriffen wird oder als historische Kontingenz, die sich durch die Spielräume menschlicher Freiheit als prinzipiell überschreitbar darstellt. Im Geflecht dieser konfligierenden Deutungen erweist sich die Ruine als Medium einer doppelten Destabilisierung. Sie ermöglicht nicht nur antagonistische Lesarten menschlicher Zukunft. Auch die Vergangenheit, als deren beredte Zeugin sie einstehen soll, erweist sich immer mehr als Konjektur. Die steinerne Monumentalität der Ruinen wird zum stabilen Zeichen mit umkämpfter Deutung.

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48 Diesen Präsenzeffekt der Ruinen hat bereits Georg Simmel betont: „mit diesem Stück, das wir in der Hand halten, beherrschen wir geistig die ganze Zeitspanne seit seiner Entstehung, die Vergangenheit mit ihren Schicksalen und Wandlungen ist in den Punkt ästhetisch anschaulicher Gegenwart gesammelt.“ Simmel 2008, 40.

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Verschiebungen einer Ruine. Le tepidarium zwischen Rekonstruktion und Imagination, zwischen Malerei und Dichtung (Théodore Chassériau, José-Maria de Heredia) Als erste von insgesamt drei großen pompejanischen Badeanstalten wurden 1824 die Überreste der Forumsthermen von Pompeji freigelegt,1 die sich aus einem Männer- und einem kleineren Frauenbad zusammensetzen, jeweils bestehend aus Palaestra, Apodyterium, Frigidarium, Tepidarium und Caldarium.2 Am reichsten von allen Räumen ist das Tepidarium des Männerbades ausgestattet, wo man auf das Schwitzbad wartete, sich abkühlte oder nach dem Caldarium Reibungen und Salbungen vornehmen ließ (Abb. 1).3 Hier wurden drei Bronzebänke, deren Beine in Kuhfüßen enden, sowie ein großes tragbares Kohleheizbecken mit Sphinxfüßen und Kuhrelief gefunden – Anspielungen auf den Stifter Nigidius Vaccula, der sich auch namentlich in den Bänken verewigt findet. Der Raum selbst lässt an den Wänden rote Farbreste erkennen und wird von einem Tonnengewölbe mit reicher, teils zerstörter ornamentaler und figuraler Stuckatur überspannt. Das Gesims ruht auf den Schultern von bärtigen, teils unbekleideten, teils mit einem Felllendenschurz versehenen Männerfiguren, die als Herkules oder Atlas gedeutet werden können.4 Bereits diese knappe Beschreibung der hier betrachteten Ruine kommt nicht ohne interpretative Momente aus, die das tiefsitzende Bedürfnis einer sowohl

1 Vgl. Eschebach 1991, 260. 1857 wurden die größeren Stabianer Thermen ausgegraben, 1877 die Zentralthermen entdeckt, die sich 79 n. Chr. allerdings noch im Bau befanden. Zur Zeit des Vulkanausbruchs scheinen infolge des Erdbebens von 62 n. Chr. nur das Männerbad der Forumsthermen und das Frauenbad der Stabianer Thermen in Betrieb gewesen zu sein, wie antike Aschefunde nahelegen (vgl. Eschebach 1991, 266). Neben den drei genannten Badeanstalten wurden ab 1960 die vor der Stadt befindlichen Terme Suburbane ausgegraben. 2 So die bereits zeitgenössisch verbreitete und heute etablierte Forschungsansicht (vgl. Overbeck/Mau 1884, 201–214 und Eschebach 1991). 3 Vgl. Overbeck/Mau 1884, 206 und Eschebach 1999, 87, der zufolge das Tepidarium nach dem Erdbeben von 62 n. Chr. als Apodyterium benutzt wurde, da die Suspensur, d. h. der ‚schwebende Fußboden‘ zerstört und das darunter liegende System der Fußbodenbeheizung zugeschüttet wurden. 4 Vgl. insgesamt die Bestandsaufnahme bei Overbeck/Mau 1884, 206, 208 und Eschebach 1991, 265–266.  





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Abb. 1: Das Männertepidarium der Forumsthermen in Pompei (© akg-images / Bildarchiv Steffens)

funktionalen als auch ästhetischen Rekonstruktion der fragmentierten Architektur erkennen lassen. Solche interpretativ-konstruktiven Momente sind bei jeder Auseinandersetzung mit dem Ruinösen zu konstatieren, wenngleich in unterschiedlich starker Ausprägung. Besonders virulent wird die Frage nach den Manifestationsformen der Imagination zweifellos bei künstlerischen Aneignungen einer Ruine. Einen solchen Fall möchte ich mit der pikturalen Appropriation des erwähnten Tepidariums durch Théodore Chassériau genauer in den Blick nehmen. Der 1819 geborene Maler, der ab 1830 bei Jean-Auguste-Dominique Ingres in die Lehre ging, besichtigte 1840 auf seiner Italienreise die Überreste von Pompeji. 13 Jahre später stellte er ein Gemälde beim Pariser Salon aus, dessen vollständiger Titel lautet: Tepidarium, salle où les femmes de Pompéi venaient se reposer et se sécher en sortant du bain. Bezeugen die Lexeme ‚Tepidarium‘ und ‚Pompéi‘ den Akt der Referenz auf antike Überreste, wie er für den zeitgenössischen (Neo-)Klassizismus5

5 Die Differenzierung von Neoklassizismus und Klassizismus ist eine moderne Begriffsunterscheidung des 20./21. Jahrhunderts, die eine Abgrenzung der französischen Kunst des 17. Jahrhunderts von Tendenzen des ausgehenden 18. sowie der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ermöglichen soll (vgl. Stadler 1994, Bd. 7, 6 und die Etymologie des Wortes, wie sie im Trésor de la langue française informatisé nachgewiesen wird), die jedoch auch in der kunsthistorischen Forschung keineswegs systematisch vorgenommen wird.

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maßgeblich war, so werden Bildanalyse und Bildvergleiche im Folgenden die Spezifika von Chassériaus Bezugnahme zu erkennen geben. Welcher Status kommt der Ruine in Chassériaus Gemälde zu? In welcher Relation stehen Rekonstruktion und Imagination?6 Welche Verschiebungen lassen sich beobachten und wie sind sie zu erklären? Die folgenden Ausführungen werden zeigen, dass der Rückgriff auf die pompejanische Ruine und ihre Transformation als Auseinandersetzung mit den Prämissen klassizistischer Kunst und zugleich als deren partielle Reformierung gewertet werden können. Dieses reflexive Potential des Gemäldes deutet auch JoséMaria de Heredias Le tepidarium an. Das Sonett wird jedoch nicht allein in seinem Verhältnis zu Chassériaus Bild, sondern zugleich auch zur antiken Ruine genauer analysiert. Derart können die dem Gedicht inhärenten Dimensionen poetisch-poetologischer Reflexion herausgearbeitet werden.

1 Bilder einer Ruine – von Chassériaus Reiseskizzen über Vorzeichnungen bis hin zum Salongemälde War innerhalb der Ausbildung an der Académie des beaux-arts ein einjähriger Aufenthalt in Italien vorgesehen, erwies sich eine solche Reise zu den Überresten der Antike und den Meisterwerken der Renaissance insbesondere für einen Ingres-Schüler als obligatorisch. Und so würdigte auch Chassériau, der nur wenige Monate in Italien verbrachte,7 das antike Erbe. Sein Brief aus Rom vom 9. September 1840 an seinen Bruder Frédéric zeugt indessen von einer dezenten Distanz-

6 Der SFB 644 Transformationen der Antike hat mit seinem konstruktivistischen Konzept der ‚Allelopoiese‘ die wechselseitige Bedeutung jedes Antikenbezuges für ‚Aufnahmekultur‘ und ‚Referenzkultur‘ in den Blick gerückt (vgl. Böhme 2011, 7–37). Meine Ausführungen orientieren sich an der in dem Kontext entwickelten Begriffsdefinition von ‚Rekonstruktion‘: „Rekonstruktionen sind Versuche der Wiederherstellung eines verlorenen oder nur fragmentarisch erhaltenen Ganzen, die die Authentizität des Transformierten behaupten und die interpretative Dimension der Transformation vernachlässigen“ (Bergemann u. a. 2011, 52). 7 Die genaue Reiseroute rekonstruiert Prat aus Briefen und Reiseskizzen: Am 1. Juli 1840 bricht Chassériau in Marseille per Schiff nach Neapel auf, wo er Herculaneum, Pompeji, Capua, Salerno, Paestum, Cava de’ Tirreni, Palestrina und Mola di Gaeta besichtigt. Am 24. August geht es nach Rom und Umgebung. Hiervon zeugen Zeichnungen von Tivoli, Olivano und Subiaco. Am 19. Januar 1841 fährt er nach Civitavecchia, Livorno, Pisa, Florenz und schließlich Genua, von wo aus er wahrscheinlich wieder per Schiff Ende Januar nach Frankreich zurückkehrt (vgl. Prat 1988, Bd. 1, 451).  

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nahme. Ohne die Erhabenheit der Antike anzuzweifeln, betont Chassériau, dass sie unwiederbringlich der Vergangenheit angehöre, indem er Rom mit dem Tod assoziiert: „Je regarde Rome comme l’endroit de la terre ou les choses sublimes sont en plus grand nombre, comme une ville où l’on doit beaucoup voir et beaucoup réfléchir, mais aussi comme un tombeau“ (zit. nach Lindheim 2005, 112). Die Nachahmung der Antike ließe sich mit Chassériau in dem Sinne problematisieren, als im Streben nach größtmöglicher Vollkommenheit die kreative Kraft klassizistischer Kunst durch das starre Festhalten an der Vergangenheit sich zu erschöpfen droht. Eben diesen Vorwurf richtet Chassériau im selben Brief an Ingres: „il restera comme un souvenir et une reproduction de certains âges de l’art du passé, mais sans avoir rien créé pour l’avenir. Mes souhaits et mes idées ne sont en rien semblables…“ (zit. nach Prat 1988, Bd. 1, 37). Etwas anders stellt sich die Lage beim Anblick der Ruinen von Pompeji und Herculaneum dar, die Chassériau noch vor seinem Romaufenthalt eingehend studiert.8 Bekanntermaßen hat die ab dem 18. Jahrhundert einsetzende und im 19. Jahrhundert fortschreitende Entdeckung der beim Vesuvausbruch 79 n. Chr. verschütteten kampanischen Städte maßgeblich auf das geltende Antikenverständnis gewirkt und es in Teilen infrage gestellt, indem das Bild einer mythologisch-heroischen Antike um eine alltäglich-profane Seite erweitert wurde.9 Mehr noch: Man hielt die Ruinen im 19. Jahrhundert für Überbleibsel etruskischer Zivilisationen, die angesichts des gut erhaltenen Isis-Tempels in Pompeji mit der Kultur Ägyptens in Verbindung gebracht wurden.10 Eine Verknüpfung von Orient und Okzident lässt sich auch an der ab 1824 erscheinenden Publikation Les ruines de Pompéi von Charles François Mazois nachvollziehen, wenn der Architekt bei der Beschreibung der Forumsthermen immer wieder Vergleiche zu den öffentlichen Bädern des Orients zieht.11 Doch nicht nur diese Möglichkeiten der Hybridisierung einer gängigen klassizistischen Antikenkonzeption scheinen für Chassériau ausschlaggebend für die  

8 Dies könnte auch mit dem Umstand zusammenhängen, dass sich hier jener von Simmel fokussierte „Gegensatz zwischen Menschenwerk und Naturwirkung, auf dem die Bedeutung der Ruine als solcher beruht“, wohl am eindrücklichsten zeigt (Simmel 1911, 139). 9 Lecat und Biasini bringen dies folgendermaßen auf den Punkt: „[D]e la lave et des cendres, sortaient par morceaux des éléments d’une ville qui, tout fragmentaires qu’ils étaient, apparaissaient bien différents de cette splendeur impériale dont témoignait la Ville“ (Lecat/Biasini 1981, XIII). 10 Vgl. hierzu Lindheim 2005, 134 und 170–172. 11 Vgl. Mazois/Gau 1824–1838, Bd. 3, 70. Théophile Gautier schreibt entsprechend in seinem Bericht zum Salon von 1852, bei dem er Chassériaus noch unfertiges Tepidarium bereits ankündigt: „Les bains mores d’Alger vous donnent une idée de ce que pouvait être le tepidarium de Pompeï“ (zit. nach Guégan 2002, 366).

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Wahl seines Bildsujets gewesen zu sein, wie noch zu zeigen sein wird. Herculaneum und Pompeji bieten auch in ihrer eigenwilligen Spannung zwischen Konservierung und Fragmentierung den idealen Rahmen, um eine vergangene Gegenwart präsent zu machen und zugleich imaginierend zu verlebendigen. Dies deutet sich bereits mit einer Zeichnung (RF 25209) an, die Chassériau von einem Raum in der sogenannten Villa des Diomedes angefertigt hat.12 Der Maler entwirft bei der Betrachtung und Skizzierung der Überreste und vor allem der Spuren, welche die Bewohner an einer der Wände hinterlassen haben, eine Bildidee, die er schriftlich auf dem Papier festhält: toutes les femmes étaient le longt du mur toutes effrayées c’est le trait gravé sur le mur la femme de Diomède est celle du milieu entouré de toute sa famille le père arrive et tout doit être touché par les cendres là un seul petit coin de figure effrayant avec un esclave qui porte une torche et des clefs toutes les femmes serrées le longt du mur pour rendre l’impression il faut que le tableau soit hardiment en longueur […]. (Prat 1988, Bd. 1, 545)13

Aus der Rekonstruktion des Sicht- und Fühlbaren – Chassériau notiert noch: „J’ai baisé ces traces douloureuses et inouïes“ auf dem Papier – entsteht eine dramatische Szene.14 Zugleich erfolgt durch die Medienkombination eine mediale Trennung. Denn interessanterweise deutet der Maler diese imaginierte Szene nicht im Medium der Zeichnung an, sondern allein im deskriptiv-narrativen Kommentar, der die rekonstruierende Skizze flankiert.15 Die Bildidee bleibt auf diese Weise Bildidee.16 Insgesamt entwickelt Chassériau unterschiedliche Modi der Skizzenhaftigkeit in seinen Reisezeichnungen, um den fragmentarischen Charakter der pompejanischen Ruinenlandschaft zeichnungsspezifisch zum Ausdruck zu bringen. So

12 Abbildungen aller hier und im Folgenden genannten Zeichnungen finden sich in Prat 1988. 13 Vgl. zur Skizze Guégan 2002, 366. Böhmes Charakterisierung der Ästhetik der Ruine lässt sich geradezu mustergültig an dieser annotierten Zeichnung nachvollziehen: „Die Ruine zeigt eine prekäre Balance von erhaltener Form und Verfall, von Natur und Geschichte, Gewalt und Frieden, Erinnerung und Gegenwart, Trauer und Erlösungssehnsucht“ (Böhme 1989, 287). 14 Die Tragik menschlichen Leids, das sich in Pompeji und Herculaneum sehend-imaginierend nacherleben lässt, unterscheidet sich von jener naturbedingten Tragik, die Simmel der Ruine per se zuschreibt: „Darum wirkt die Ruine so häufig tragisch, – aber nicht traurig – weil die Zerstörung hier nichts sinnlos von außen Kommendes ist, sondern die Realisierung einer in der tiefsten Existenzschicht des Zerstörten angelegten Richtung“ (Simmel 1911, 142). 15 Mit den fehlenden Interpunktionen und den Wiederholungen könnte man diesem Kommentar gar literarische Qualitäten zusprechen. Für eine Transkription der gesamten Annotationen dieses Blattes siehe Prat 1988, Bd. 1, 544–545. 16 Sie wird im Übrigen auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt als Ölgemälde verwirklicht.

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werden in der genannten Zeichnung durch dunkle Lavierungen Schattierungen erzeugt, die eine Plastizität suggerieren, die durch die unmittelbare Juxtaposition in schroffem Gegensatz zur Zweidimensionalität der Bleistiftschraffuren steht. Zuweilen zeichnet sich ein Kontrast zwischen ausgearbeiteter Zeichnung mit Weißhöhungen und minimal angedeuteten Partien ab (vgl. RF 26437, recto) oder der Fokus wird auf einzelne Aspekte einer Architektur gelegt unter Vernachlässigung ihrer Kontextualisierung, nur eingefasst durch das Weiß des Papiers (vgl. RF 24874).17 Wieder anders liegt der Fall bei einer Zeichnung, die mit dem späteren Salongemälde in Zusammenhang steht (RF 25840). In den Details lässt sie sich eindeutig dem Männer-Tepidarium in den Forumsthermen zuordnen: Zu erkennen ist das Kohleheizbecken mit den markanten Sphinxfüßen, die Bänke mit Kuhfüßen, die kräftigen Gesimsträger mit fellenem Lendenschurz sowie Okulus und Vertiefung an der Stirnwand, die zudem analoge Verzierungen aufweist.18 Doch auch wenn sich das Interesse des Malers augenscheinlich auf einzelne Details und Ornamente richtet, werden diese an keiner Stelle mit minutiöser Akribie aufs Papier gebracht. Zuweilen belässt es der Maler auch bei groben Andeutungen mit Aquarellfarbe, so als ob die wenigen Striche genügten, um das Gesehene in Erinnerung zu rufen. Das Ziel ist offenkundig keine gewissenhafte Dokumentation des Zustands der Ruine. Teile des Papiers bleiben unberührt. Die geflügelten Fi-

17 Eine sehr ausgeprägte Skizzenhaftigkeit ist auch bei der ersten der beiden von Chassériau 1840 in Pompeji geschaffenen Zeichnungen zu beobachten, die mit dem späteren Salongemälde in Zusammenhang stehen (RF 26083). Hinzukommt eine rätselaufgebende Bildüberschrift des Künstlers: Mit Bleistift ist am oberen rechten Bildrand „Bains de Vénus Génétrix“ vermerkt. Dies hat zu der irrigen Annahme geführt, dass auch Chassériaus Salongemälde mit diesen Bädern in Verbindung zu bringen sei (an besonders prominenter Stelle im Kommentar zum Tepidarium auf der Webseite des Musée d’Orsay (, letzter Aufruf 22. August 2019). Siehe aber auch Sandoz 1974, 354 und Guégan 2002, 366). Sie wurden fälschlich in der Villa des Diomedes verortet (so bei Lindheim 2005, 242), obwohl de facto weder in Pompeji noch in Herculaneum Thermen mit einem entsprechenden Namen belegt sind, der auch in zeitgenössischen Publikationen an keiner Stelle auftaucht (siehe Mazois/Gau 1824–1838 oder Overbeck/Mau 1884). Chassériau muss vielmehr schon beim ersten Skizzieren des pompejanischen Baderaums, der zwar nicht eindeutig, aber doch am ehesten als Tepidarium der Forumsthermen identifiziert werden kann, in Ansätzen jene Bildvorstellung entwickelt haben, die er über 10 Jahre später als Ölgemälde realisieren sollte: So verweist das Genitivattribut auf einen Typus antiker Venus-Darstellungen, der mit der Aphrodite de Fréjus dite ‚Vénus Génitrix‘ seit 1803 auch im Louvre vertreten war. Ihre Haltung stimmt in Teilen mit der zentralen Frauenfigur von Chassériaus Gemälde überein. 18 Korrigiert sei damit die Auffassung, diese Bleistiftzeichnung des Tepidariums sei in den Stabianer Thermen entstanden (so erstmals von Bénédite 1931, Bd. 2, 427 und in der Folge von Lacambre 1979, 323; Prat 1988, Bd. 1, 290 und Peltre 2001, 195).

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guren, die das Fenster rahmen, vermitteln vielmehr in wenigen grau-bräunlich lavierten Strichen den Eindruck des Verfallenen. Chassériau nimmt auch keine vereinheitlichenden Ergänzungen und Einebnungen des Ruinösen vor, wie dies bei Zeichnungen in Mazois’ Ruines de Pompéi häufig der Fall ist. Von dieser Reiseskizze unterscheidet sich die über 10 Jahre später entstandene Vorzeichnung zum großformatigen Ölgemälde durch die Akzentverschiebung. Hier geht es nun nicht mehr darum, die Raumsituation und ihre Details einzufangen, sondern die Anordnung des Bildpersonals zu erproben. Einzelne Haltungen und Motive finden sich hier angedeutet, für die Gestaltung des Bildzentrums hat der Maler indes eine andere Lösung gefunden, wie ein Blick auf das vollendete Salongemälde zeigt (Abb. 2).

Abb. 2 : Théodore Chassériau, Tepidarium. Salle où les femmes de Pompéi venaient se reposer et se sécher en sortant du bain, 1853, Öl auf Leinwand, Paris, Musée d’Orsay (© Musée d’Orsay, dist. RMN / Patrice Schmidt, Wikimedia Commons)

Das konventionelle Querformat und eine imposante Bildgröße von 171 x 258 cm deuten eine Klassifizierbarkeit am oberen Ende der Gattungshierarchie an. Das Sujet entspricht jedoch keinem klassischen Historiengemälde: Kein Schlüsselmoment der Geschichtsschreibung, des Alten oder Neuen Testaments oder der griechisch-römischen Mythologie wird dargestellt, sondern eine stilisierte Vorstellung des antiken Alltags. Man hat es mit einer Mischung aus Historie und Genre zu tun, die als genre historique etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in der

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französischen Malerei immer mehr Verbreitung fand.19 Insbesondere Künstler wie Jean-Léon Gérôme – verwiesen sei auf dessen beim Salon 1847 präsentiertes Bild Jeunes Grecs faisant battre des coqs – haben den monumentalen Helden und Göttinnen eines David oder Ingres antike Szenen des täglichen Lebens im mittelgroßen Format entgegengesetzt. Im Folgenden wird noch zu zeigen sein, in welcher Weise Chassériau abzugrenzen ist von diesen néo-grecs, wie sie von der zeitgenössischen Kunstkritik genannt wurden.20 In einem frontal beleuchteten Raum haben zahlreiche Frauen auf Bänken um ein golden glühendes Kohlebecken im Bildmittelgrund Platz genommen. Einige laufen mit Gefäßen um die Sitzenden, einige unterhalten sich, andere greifen in die roten Nischen, die von weiblichen Statuetten in langen antikisierten Gewändern gerahmt werden und in denen sich abgelegte Kleidung zu befinden scheint. Vor dem dunklen Hintergrund, der am oberen Bildrand durch ein Rundfenster den Blick auf ein Stück Himmel freigibt, hebt sich eine leicht aus dem Zentrum gerückte Figurengruppe ab: Während eine der beiden Frauen in frontaler Stellung zur Hälfte entkleidet den rechten Fuß auf einen Hocker abgestellt hat und in einer Mischung aus grazilem Tanz und behaglichem Strecken die von einem schimmernden Schleier umspielten Arme über den Kopf hebt, spiegelt die vor ihr sitzende Rückenfigur in blassrosa Gewand mit freigelegtem Rücken die bewundernde Haltung der Betrachter:innen vor dem Bild. Mehrere Gegensätze finden sich in dieser Figurengruppe konzentriert: Der Gegensatz von Sitzen und Stehen, von dunklen und hellen Gewändern, von entblößten und bekleideten Körpern, von blondem und brünettem Haar. In der Gestaltung der rahmenden Frauenfiguren werden diese Unterschiede vervielfältigt, so dass sie insgesamt weniger als Gegensätze wahrgenommen werden, denn den Eindruck von Mannigfaltigkeit erzeugen. Zu diesem Eindruck trägt in besonderer Weise die Farbgebung bei, genauer gesagt: die sehr nuancenreiche Darstellung des Inkarnats und die Wahl verschiedener, teils klarer, teils gedeckter Farbtöne für die kleidenden wie auch stilllebenartig drapierten Tücher. Kein Vergleich zur rosigen Fleischschau, die Ingres im selben Jahr wie Chassériau entwirft und noch Jahre später modifiziert hat.21 Ein weiterer Unterschied zum Bain turc fällt auf: Während das Tondo als mittelgroße Auftragsarbeit auf eine lineare Komposition verzichtet, wie sie sonst für Ingres’ Gemälde charakteristisch ist, schafft die antike Architektur in Chassériaus

19 Vgl. auch Guégan 2002, 367. Siehe zu dieser Gattung genauer Genge 2006. 20 Siehe bspw. Vignon 1853, 65–70 und About 1855, 153 sowie generell zur kunstkritischen Auseinandersetzung mit entsprechenden Künstlern Dadaş 2018, 48–49. 21 Der zentrale Unterschied zwischen Ingres’ Aktdarstellung und Chassériaus Bild manifestiert sich folglich keineswegs allein in der „Farbenvielfalt der Stoffe“ (so Liere 1974, 34).

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Tepidarium jenen klaren symmetrischen Aufbau, den man von klassizistischen Bildwerken gewohnt ist. Dieser Unterschied dürfte mit dem entscheidenden Spezifikum des Gemäldes zusammenhängen: Wie der Titel dies expliziert, greift Chassériau auf eine konkrete Architektur zurück, was seinen Umgang mit der Antike – in divergierender Weise – von jenem Davids und Ingres’ unterscheidet. Betrachtet man bspw. Davids ‚Manifest‘ des Neoklassizismus, Le serment des Horaces,22 so bildet eine einfache dorische Säulenloggia den Hintergrund einer Darstellung, die in Gänze auf den dramatischen Moment des heroischen Entscheidungsakts konzentriert wird. Für die historische Situierung der Szene bedient sich der Maler somit eines Typus antiker Baukunst.23 Etwas anders liegt der Fall bei seinem Schüler Ingres: Dieser konsultierte für die Darstellung des tempelartigen Bettes in La maladie d’Antiochus eine relativ aktuelle Studie des Archäologen James Millingen zu antiken Vasen24 und richtete sich, wie Birgitta Coers gezeigt hat, bei der Gestaltung des Innenraums nach pompejanischen Wandaufrissen.25 Im Unterschied zu David greift Ingres folglich nicht auf eine der bekannten Ordnungen antiker Architektur zurück, sondern orientiert sich an Funden und Erkenntnissen der archäologischen Forschung seiner Zeit. Doch auch in Ingres’ Historienbild hat man es aufgrund der versatzstückartigen Konstruktion der Räumlichkeit letztlich mit einer Typisierung zu tun.26 Beide Arten der Typisierung umgeht Chassériau mit der genauen bildlichen und auch schriftlichen Verortung seines anonym bleibenden Bildpersonals im Tepidarium der einzigen pompejanischen Badeanlage, die zum Zeitpunkt der Entstehung des Bildes ausgegraben war. Allerdings hat man es nun nicht mehr mit einer Ruine zu tun. Die antiken Überreste werden zum historischen Setting verdichtet. Die Details der Architektur lösen sich aufgrund einer ausgeprägten Schattierung im Dunkel des Bildhintergrunds auf und nicht, weil der Zahn der Zeit an ihnen nagt. Chassériaus Bild scheint die antike Vergangenheit lebendig werden

22 Mit Blick auf dieses Bild haben schon Jahn und Haubenreisser folgende „Haupteigenschaften der klassizist[ischen] Malerei“ genannt: „bedeutender antikischer Inhalt, Klarheit im Aufbau, zeichnerisch-lineare Form, kühle Farbe. Die Bewegung darf nur in der Form, niemals (wie im Barock und Rokoko) in der Farbe liegen“ (Jahn/Haubenreisser 1983, 410). 23 Entsprechendes gilt auch für Davids Mars désarmé par Vénus (1824), das Sandoz wenig überzeugend zusammen mit zahlreichen weiteren Gemälden zum ‚ikonographischen‘ Vorbild für Chassériaus Gemälde erklärt (vgl. Sandoz 1974, 354). 24 Millingen 1813 (vgl. hierzu Picard-Cajan 1992, 290). 25 Dies erfolgte in teils starker Anlehnung an die Rekonstruktion der Villa des Sallust durch Ingres’ Freund, den Archäologen Jakob Ignaz Hittorf (vgl. Coers 2018, 196–197). 26 Coers hat mit Blick auf Ingres’ Bild von „asynchronen, aber in sich stimmigen Vorlagen“ gesprochen, die aus heutiger Sicht ein „ahistorisches Schlafgemach“ bildeten (Coers 2018, 208).

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zu lassen, den Betrachter/die Betrachterin in eine Zeit zu versetzen, als die Ruine noch keine Ruine war.

2 Le tepidarium zwischen Rekonstruktion und Imagination Bereits Zeitgenossen und Zeitgenossinnen haben die archäologische Treue des Salongemäldes bewundert. So betont Chassériaus Freund, der Malerdichter und Kunstkritiker Théophile Gautier, in seinem Bericht zum Salon von 1853, dass die antiken Details von ‚extremer Exaktheit‘ seien. Gautier rechtfertigt sein Urteil, indem er auf seine eigene Pompeji-Reise verweist, die er 1850 unternahm. Beiläufig erwähnt er einige kleine Änderungen, die er aber offenkundig als unerheblich erachtet: Aus den Herkulesfiguren aus Terrakotta seien bronzene Statuetten geworden, die Fächer für die Kleidung seien mit roten Platten ausgelegt.27 Die Forschung hat diese Einschätzung von Chassériaus Tepidarium zum großen Teil übernommen. Stéphane Guégan spricht von einem „scrupule archéologique“, der bis ins ornamentale Detail gehe (Guégan 2002, 366). Christine Peltre lobt „le soin archéologique de la scène“ (Peltre 2001, 195).28 Bewerten lässt sich diese archäologische Treue des Bildes am besten im Vergleich. Das Gemälde selbst sowie erste Reaktionen der zeitgenössischen Kunstkritik geben hierbei das in Beziehung zu setzende Kunstobjekt und den Künstler vor. So hat bereits Gautier den ersten Artikel seines Salonberichts erst Chassériaus dann Gérômes Ausstellungsstücken gewidmet. Ähnlich wie Chassériau feiert er Gérôme als Athener, der mit zwei Jahrtausenden Verspätung in Frankreich das Licht der Welt erblickt habe. In der Forschung hat man diesem néo-grec die größere archäologische Detailgenauigkeit zugesprochen.29 Anhand eines Bildvergleichs von Gérômes beim

27 Vgl. Gautier 1853, 1–2. Weniger aufmerksam ist Saint-Victor 1867, 433. 28 Lindheim erklärt die ‚archäologische Genauigkeit‘ mit einer doppelten Strategie des Malers: Sie gebe Chassériaus von Ingres erlernte Kunstfertigkeit zu erkennen, die in einem sorgfältig genauen Studium des Darzustellenden zum Ausdruck komme, und bezeuge zugleich Chassériaus Kenntnis von archäologischen Funden und ästhetischen Debatten (vgl. Lindheim 2005, 243). 29 So wird Liere zufolge das Tepidarium der Forumsthermen nicht mit jener Exaktheit rekonstruiert, die man in Bildern von Gérôme finde (vgl. Liere 1974, 33). Und Peltre spricht von Chassériaus „vision personnelle d’une Antiquité étrange et inquiète, éloignée des minuties néo-grecques justifiées par le souci post-ingriste d’exactitude archéologique et relevées d’un zeste d’érotisme de belle santé“ (Peltre 2001, 198).

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Salon von 1850/51 präsentiertem Intérieur grec (Abb. 3) mit Chassériaus Tepidarium zeigt sich indes ein zentraler konzeptueller Unterschied.

Abb. 3: Jean-Léon Gérôme, Intérieur grec, 1850, Öl auf Leinwand, New York, Privatsammlung (aus: Ausst. Kat. Jean-Léon Gérôme. L’Histoire en spectacle, Los Angeles, The J. Paul Getty Museum, Paris, Musée d’Orsay, Madrid, Thyssen-Bornemisza, Paris 2010, S. 59)

Ähnlich wie Chassériau und anders als Ingres – etwa mit La maladie d’Antiochus – verzichtet Gérôme auf die Darstellung eines heroischen Moments antiker Ereignisgeschichte. Doch anders als Chassériau und ähnlich wie Ingres lokalisiert er den lebensweltlichen Moment in einer an „pompejanischen Privathäusern“ orientierten Architektur (Kepetzis 2009, 144). Diese gibt in ihrer Detailverliebtheit die gerühmte archäologische Genauigkeit zu erkennen, reicht jedoch nicht bis zum Zitat eines konkreten antiken Bauwerks.30 Genau diese Divergenz ist entscheidend: Denn aus der Referenzialisierbarkeit des Gesamtsettings ergibt sich bei Chassériau die Möglichkeit, Rekonstruktion und Imagination in ein Span-

30 Coers entgeht in ihrer Gegenüberstellung der beiden Gemälde dieser zentrale Unterschied. Kepetzis weist demgegenüber in ihrem Bildvergleich Chassériaus Darstellung als „archäologisch ‚korrekter‘“ aus (Kepetzis 2009, 153), ohne dies jedoch genauer zu kommentieren.

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nungsverhältnis zu bringen. Während man es bei Gérôme – trotz der archäologischen Fundierung im Detail31 – letztlich mit einer antikisierenden Konstruktion zu tun hat,32 schafft Chassériau im Medium der Malerei eine fiktionale Belebung der Antike. So liefert sein Gemälde eine ‚entruinierte‘ Rekonstruktion des Tepidariums der pompejanischen Forumsthermen, das durch das weibliche Bildpersonal im buchstäblichen Sinne mit Leben gefüllt wird. Und auch im metaphorischen Sinne erfährt der Raum eine Verlebendigung, da der toten, weil funktionslos gewordenen Ruine33 in einer Welt des pikturalen Als Ob wieder der Status antiker Gebrauchsarchitektur zugewiesen wird, deren greifbarste Spuren in den Häusern von Pompeji zu finden sind. Hatte der Maler im bereits zitierten Brief an seinen Bruder Rom mit einer Grabesstätte verglichen, wird er mit seinem Salongemälde jenem Anspruch gerecht, den er während seiner Italienreise auf dem Blatt einer ersten Bildidee zum Tepidarium notiert hat: „Faire vivre“.34 Dass mit der referenzialisierbaren Architektur in Chassériaus Gemälde nur auf eine Suggestion von Authentizität abgehoben wird, dass de facto nur die Imagination dieses Bild einer lebendigen Antike kreieren kann, hat bereits Gautier in seinem Salonbericht angedeutet, indem er das eigene Imaginieren im realen Tepidarium thematisierte: En dix-huit cent cinquante, nous [d.i. Gautier] visitions Pompeï […]. Nous étions parvenu dans une salle charmante, à la voûte presque intacte, entourée d’une série d’Hercules ou d’Atlas en terre cuite supportant une corniche richement ornementée et formant, entre leurs interstices, une suite d’armoires ou de cabinets pour serrer les habits; […] nous restâmes là longtemps, refaisant le pavé de mosaïque, restituant les moulures brisées, remettant en place les marbres abolis, repeuplant le Tepidarium désert avec les jeunes femmes de Pompeï, dont il ne reste maintenant qu’un bracelet d’or ou qu’un boucle d’oreille de perle dans une pincée de cendre; nous coloriions les statues du musée de Naples, nous détachions les fresques de la maison de Salluste et du poète tragique pour les douer d’une vie fantasmatique et les faire asseoir ou se coucher autour de la vaste salle en des attitudes de grace et de nonchalance, si préoccupé d’ailleurs de notre rêve que nous en perdîmes nos compagnons. (Gautier 1853, 1; Kursivierung Ş.D.)35

31 Vgl. hierzu genauer Kepetzis 2009, 146 und Betzer 2010, 488. 32 Dies wird auch durch den Widerspruch zwischen Titel (Intérieur grec) und Bild bestärkt, das, wie Kepetzis zeigen konnte, „nicht auf das antike Griechenland, sondern auf Pompeji“ Bezug nimmt (Kepetzis 2009, 144, Kursivierung im Original). 33 Man hat es mit einer spezifischen modernen Perspektive des L’art pour l’art zu tun, wenn Böhme in dieser Nutzlosigkeit die Schönheit der Ruine begründet sieht (vgl. Böhme 1989, 287). 34 Die vollständige Annotation lautet: „des femmes venant du bain – Pompéi ou Olivano – une qui regarde et celle-ci qui rit – faire vivre“ (zit. nach Prat 1988, Bd. 1, 289). Vgl. hierzu auch Peltre 2001, 198 und Guégan 2002, 366. 35 Eine Spur der imaginativen Pompeji-Rekonstruktion hat Gautier 1852 mit seiner in der Revue des deux mondes publizierten Novelle Arria Marcella. Souvenir de Pompéi hinterlassen.

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Von einer tatsächlichen Wiederbelebung der Antike kann auch bei Chassériau keine Rede sein. Der Bezug auf eine reale antike Ruine erlaubt es vielmehr, Rekonstruktion und Imagination zueinander in Beziehung zu setzen und diese Spannung auch zur Darstellung zu bringen. So wird in zahlreichen Details des Bildes eine dokumentarische Treue zum Referenzobjekt der pompejanischen Forumsthermen bewahrt. Die dargestellte Funktionalisierung der Architektur zeugt indessen von einer deutlichen Verschiebung: Der reich verzierte Raum, der von der Mehrzahl der zeitgenössischen Archäologen als Männertepidarium beschrieben wurde, ist hier den Frauen vorbehalten.36 Mazois hatte in seinen Ruines de Pompéi zwar die These aufgeworfen, das große Tepidarium sei als Teil eines späteren Ergänzungsbaus zu unterschiedlichen Badezeiten von Männern und Frauen getrennt benutzt worden. Doch Chassériaus Umformung der Gesimsträger in weibliche Figuren beweist, dass es sich um eine ästhetisch motivierte Entscheidung des Malers handelt,37 in der sich nicht zuletzt die Ablehnung eines umfassenden historischen Dokumentationsanspruchs manifestiert. An dieser Entscheidung haben fraglos auch soziokulturelle Konventionen ihren Anteil: So würde die ausschließliche Ansammlung männlicher und wohlgemerkt unheroischer Aktfiguren im Frankreich des 19. Jahrhunderts einem absoluten Bruch mit europäischen Maltraditionen gleichkommen. Schon die Darstellung weiblicher Aktfiguren ohne deren mythologische, religiöse oder historische Rechtfertigung durch das Bildsujet hatte den Vorwurf der Sittenlosigkeit zu befürchten, wie einige kunstkritische Reaktionen auf Gérômes Intérieur grec bezeugen.38 Weshalb Gérôme, nicht aber Chassériau der Vorwurf der Indezenz gemacht wurde, wird deutlich bei einem genaueren Blick auf die jeweilige Gestaltung des Bildpersonals. Bei Gérôme erscheint die sich räkelnde Figur im Bildzentrum vollständig enthüllt, ein sich umarmendes Paar im Hintergrund wird eher schlecht als recht von einem Vorhang verdeckt und insbesondere der Blickkontakt zwischen einer nachlässig bekleideten Frau und einem Mann im Mittelgrund sowie der lasziv herausfordernde Blick der liegenden Aktfigur aus dem Bild heraus konnten und können den Eindruck vermitteln, man habe es mit einer Darstellung käuflicher Liebe zu tun.39 Gérômes Detailliebe wurden von Teilen der Forschung denn auch gänzlich unarchäologische Absichten unterstellt. Sarah

36 Vgl. auch Coers 2018, 214–215. 37 Siehe zur Konzentration auf Frauendarstellungen innerhalb von Chassériaus Œuvre und seinen damit verbundenen Erneuerungsbemühungen Peltre 2001 und Lindheim 2005. 38 Vgl. hierzu Coers 2018, 204–205. 39 Vgl. Coers 2018, 204–205.

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Betzer etwa spricht von „Gérôme’s use of the historical setting as an alibi for the unambiguous depiction of a brothel“ (Betzer 2010, 475).40 Auch in Chassériaus Tepidarium suchen zwei rahmende Figuren auf der rechten und linken Seite den Blick der Betrachtenden. Doch bezeichnenderweise sind gerade sie von der Fessel bis zum Hals in Röcke und Tücher gehüllt. Die dargestellte Kommunikation zwischen mehreren Figuren, ihre versunkenen Blicke oder eine Geste wie die zum Wärmen vorgestreckten Hände vermitteln den Eindruck von unaufgeregter Alltäglichkeit und vermindern eine allzu direkte sexuelle Aufladung des Bildes. Auch die konsequente Legitimierung der stets nur partiell bleibenden Aktdarstellung mit der distanzierenden Ansiedlung der Szene in einer konkreten antiken Badeanlage subtilisiert das Moment der Erotik. Ein solches Moment ist dessen ungeachtet freilich gegeben. Insbesondere die zentrale Figurengruppe thematisiert als mise en abyme jenen Blick auf eine enthüllte Weiblichkeit, den das Bild dem realen Publikum bietet. Vor allem dem männlichen Betrachter gewährt es einen (männlich) imaginierten Zugang zu einem ihm entzogenen Bereich, ohne dass er sich hierbei als Voyeur oder verbotener Eindringling fühlen muss.41 Hierfür sorgt die bühnenartige Öffnung und Darbietung der Szene durch die Ausrichtung zahlreicher Figuren hin zu einem imaginären Publikum, durch die starke Betonung der Perspektive und den distanzschaffenden Vordergrund, der die Bildschwelle hervorhebt.42 Indessen darf nicht unberücksichtigt bleiben, dass bei Chassériau, anders als bei Gérôme, ein weiblicher Blick auf den weiblichen Akt ins Zentrum gerückt wird. Einer männlichen Objektivierung des weiblichen Körpers wird damit zumindest auf der Ebene des Dargestellten entgegengewirkt. Hierzu trägt auch, wie Sarah Betzer überzeugend gezeigt hat, eine ikonographische Annäherung des mittigen Frauenpaares an die Darstellung von Apollo und Daphne43 sowie Pygmalion und Galatea bei. Denn zum einen wird derart auf sehr subtile, alludierende Weise aus den beiden Figuren ein gleichgeschlechtliches Liebespaar. Zum anderen erhalten weibliche Schönheit und Liebe über die genannten Anspielungen

40 Hiervon unterscheidet sich ihre Bewertung von Chassériaus Tepidarium: „For Chassériau, Pompeii became a productive site for exercising an archaeological impulse whereby vestigas of the past would ultimately function as a distinctly feminine space of female homoeroticism“ (Betzer 2011, 118). Blix spricht demgegenüber völlig undifferenziert von einem „mix of erudition, charm, eroticism, and antiquity“, den er gleichermaßen bei Gérôme und Chassériau gegeben sieht (Blix 2009, 206). 41 Zu pauschal ist da das Urteil von Goupil 2002, 145. 42 Vgl. auch Peltre 2001, 195 und 200. Allenfalls mit Blick auf das Motiv des Okulus ließe sich dem Bild eine ‚voyeuristische Dimension‘ zusprechen (so bei Guégan 2002, 367). 43 Siehe hierzu bereits Guégan 2002, 368.

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nicht nur in ihrer erotischen Dimension, sondern auch in ihrer ästhetischen Verknüpfung mit den Künsten eine Relevanz.44

3 Ein neuer Klassizismus Zweifellos folgen auch Chassériaus Frauendarstellungen bestimmten Idealvorstellungen. So lässt die zentrale Figur partiell in Haltung und Gewandung an die Venus Genitrix und die Venus von Milo denken.45 Ein solcher Rekurs auf zwei berühmte antike Statuen des Louvre lässt grundsätzlich auf eine klassizistische Konzeption des weiblichen Körpers schließen. Gautier bewundert denn auch die marmorgleiche Schönheit der zentralen Aktfigur. Aufschlussreich ist indes seine Kritik an Chassériaus Darstellungsweise: Le seul reproche que nous ferons à l’artiste est d’avoir négligé quelques extrémités et parfois attaqué d’une brosse trop rude certaines délicates portions de nu. Nous ne demandons pas un poli excessif, mais il ne faut pas que la gradine raie trop violemment la chair immortelle du Paros[.] (Gautier 1853, 2)

Gautier verlangt eine Anpassung des Darstellungsmodus an die Glätte des Marmors, nicht nur weil innerhalb der traditionellen Malerausbildung eine Glättung der letzten Malschicht mit dem Dachspinsel (blaireau) vorgesehen war, die dem Gemälde den Status des fini zuwies,46 sondern insbesondere weil sich das klassizistische Schönheitsideal an der antiken Bildhauerkunst orientierte. Übertragen auf die Malerei wurde folglich nicht nur ein sauber verarbeiteter Pinselstrich erwartet, sondern mithin eine Negierung der eigenen Materialität des Mediums gefordert, wie dies Gautier auch expliziert: „toute trace de l’outil, c’est à dire du moyen matériel, doit disparaître dans un chef-d’œuvre où tous les détails antiques sont d’une exactitude extrême“ (Gautier 1853, 2). Genau diese Negierung der Materialität der Malerei, wie sie für klassizistische Bildwerke als selbstverständlich erachtet werden darf, wird mit Chassériaus Gemälde nun aber negiert. Damit unterscheidet sich auch seine Darstellungsweise von jener Ingres’ und Gérômes. Mit der Spiegelung der Pose der stehenden Aktfigur lässt sich Chassériaus Tepidarium geradezu als Replik auf Gérômes Intérieur grec begreifen.47 Der Maler wendet

44 Vgl. insgesamt Betzer 2010, 478 und 481–486. 45 Vgl. für den Rekurs auf die Venus von Milo Guégan 2002, 367. Zur Venus Genitrix siehe oben Anm. 17. 46 Vgl. Krüger 2007, 12. 47 Es geht hier m. E. folglich nicht um eine ‚Beeinflussung‘ (Kepetzis 2009, 153). Eine Vorbildfunktion für Chassériaus Tepidarium haben bereits Sandoz 1974, 354 und Peltre 2001, 198 Gérô 

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sich gegen das Kunstideal knochen- und muskelloser Rundungen, das Ingres ausgebildet und das offensichtlich auch Gérôme verfolgt hat. Mit der freieren Pinselführung wird zudem eine materiell sichtbare Pikturalisierung des gängigen klassizistischen Schönheitsideals vorgenommen.48 Die Darstellung des weiblichen Körpers im Tepidarium emanzipiert sich auf diese Weise partiell von der fremdmedialen Orientierung an der antiken Skulptur. So vermag sie mit malerischen Mitteln nun auch jene Lebendigkeit zu suggerieren, die Chassériau zum eigenen Ziel der Antikennachahmung erklärt und die auch Henri Delaborde in seinem Salonbericht von 1853 an dem Bild gelobt hat: Le sujet traité cette année par M. Chassériau est un sujet antique; mais, contrairement à la coutume de beaucoup de peintres contemporains qui, faute d’autre muse, n’invoquent que l’archéologie, le peintre du Tepidarium semble avoir attaché une médiocre importance aux particularités de costume et aux vérités de détail. Il est assez aisé de transporter sur la toile des statues copiées dans les musées, des accessoires tirés de la collection des vases d’Hamilton; en revanche, il est difficile de donner à des figures grecques ou romaines le mouvement

mes Intérieur grec zugesprochen, ohne zu erkennen, dass zentrale Unterschiede in der jeweiligen Konzeption und Darstellungsweise des Akts für eine distanzierende Bezugnahme sprechen. 48 Damit nähert sich Chassériau tendenziell jenem Künstler an, dessen Malwerkzeug Kritikerinnen und Kritiker gern mit einem ‚trunkenen Besen‘ („balai ivre“) verglichen haben: Delacroix (vgl. bspw. Gautier 1874, 201). Chassériau wurde immer wieder als Maler charakterisiert, der die Lager von Ingres und Delacroix, von Linie und Farbe, von Klassizismus und Romantik zu versöhnen suche (etwa Vignon 1853, 75). Siehe zur grundsätzlichen Problematisierung dieser Charakterisierung des Malers Guégan/Pomarède/Prat 2002, 14 und zur Auseinandersetzung der Forschung mit dieser Einordnung von Chassériau Lindheim 2005, 105–107. Die eigentliche Problematik greift jedoch weiter, wie Mora gezeigt hat. Denn bereits Delacroix – der sich bekanntlich selbststilisierend stets als Klassizisten und keineswegs als Haupt der Romantik bezeichnete –, verteidigte sowohl in seiner an der Antike und Renaissance geschulten Kunsttheorie als auch in Teilen mit seiner Historienmalerei eine Orientierung an der Antike, sah anders als David und Ingres hierfür aber eine weniger lineare Darstellungsweise vor (vgl. Mora 2000). Schon Delacroix scheint folglich bis zu einem gewissen Grad, auf die Erneuerung eines bestimmten Klassizismus abgezielt zu haben. Ein solches Bestreben kann – mit ganz anderen Ergebnissen – wiederum auch Ingres zugesprochen werden, wenn man auf dessen Abweichungen vom David’schen Klassizismus blickt (siehe hierzu Shelton 2000, 731 und 739, Anm. 8, der auch zeigen konnte, dass die personalisierende Dichotomisierung von Delacroix und Ingres nicht, wie gemeinhin angenommen, mit zentralen Werken der 1820er, sondern erst ab den 1840ern zum Gemeinplatz der zeitgenössischen Kunstkritik wurde, was Shelton mit dem Aufkommen der Salonkarikaturen und mit politischen Entwicklungen in Zusammenhang gebracht hat). Wenn im Zusammenhang meiner Ausführungen Unterschiede zwischen Darstellungen von Chassériau einerseits und von David, Ingres und Gérôme andererseits herausgearbeitet werden und dieser Abschnitt den Titel „Ein neuer Klassizismus“ trägt, so geschieht dies vor der Grundannahme, dass man es mit einer Vielzahl teils mehr, teils weniger stark variierender Klassizismen zu tun hat.

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et la vie, […]; rien de plus difficile, en un mot, que de faire acte de peintre là où nous sommes habitués à ne voir que l’œuvre froide du sculpteur. (Delaborde 1853, 1148)

Scharfsichtig erkennt Delaborde, dass die Übertragung eines skulpturalen Ideals in die Malerei eine unnatürliche Starrheit der Darstellung bewirkt. Dass Beweglichkeit und Lebendigkeit auch durch Chassériaus lockereren Pinselduktus vermittelt werden, der nun nicht mehr die Glätte des skulpturalen Materials nachahmt, entgeht dem Kritiker allerdings. Aufschlussreich ist Delabordes Kommentar noch in einer weiteren Hinsicht: Stärker als Gautier betont der Kritiker die architektonischen Abweichungen vom antiken Ruinenvorbild, die er als Loslösung von einem rigiden archäologischen Anspruch wertet. Hierbei weist auch die Bekleidung des Bildpersonals in seinen Augen Sonderlichkeiten auf, die sich dank Christine Peltre in Teilen genau lokalisieren lassen: Die Trägerin der Bronzeschalen am linken Bildrand und die Dienerin mit Wasserkrug rechts, die ihr Gewand zwischen die Zähne genommen hat, entsprechen in ihrer Haltung und Kleidung Zeichnungen, die Chassériau auf seiner Algerienreise 1846 angefertigt hat.49 Peltre zufolge liegt in solch einer „erneuerten Weiblichkeit, die im Kontakt von sich kreuzenden Einflüssen steht“, das Novum von Chassériaus Kunst begründet (Peltre 2001, 62–63). Dieses Novum, das muss betont werden, lässt sich – abgesehen von den genannten vereinzelten motivischen Übereinstimmungen – nicht an einer genauen ethnischen oder modischen Differenzierbarkeit des Bildpersonals festmachen. Sie ist auch dann nicht gegeben, wenn Peter Miller mit Blick auf kosmetische Details eine partielle Nähe zu den „kajalumrandeten Blicken der ägyptischen Grabesporträts von Fayyum“ (Miller 2003, 4) herzustellen sucht, schließlich ist diese Schminkpraxis auch im Frankreich des 19. Jahrhunderts bekannt, wie etwa Baudelaires Éloge du maquillage bezeugt.50 Chassériaus Tepidarium zeichnet sich vielmehr durch eine Hybridität aus, die sich der Spezifizierung entzieht. Diesem Umstand wird der Kritiker Paul de Saint-Victor mit seiner verallgemeinernd-hyperbolischen Äußerung gerecht, wenn er sich beim Anblick des Bildes einem „mélange charmant et superbe de femmes de toute race et de tout climat“ gegenüber wähnt (Saint-Victor 1867, 433).51 Denn auch wenn sich diese Diversität im Einzelnen nicht genau benennen lässt; sie ist ange-

49 Vgl. Peltre 2001, 198. 50 „Ce cadre noir rend le regard plus profond et plus singulier, donne à l’œil une apparence plus décidée de fenêtre ouverte sur l’infini“ (Baudelaire 1992, 377). Der zeitgenössische Berufskritiker Paul Mantz hat in seinem Nachruf auf Chassériau von einer Mischung aus orientalisierenden und modernen Elementen in den Frauendarstellungen des Malers gesprochen (vgl. Mantz 1856, 224). 51 Entsprechend auch Henry de La Madeleine in seinem Salonbericht von 1853 (siehe hierzu Guégan 2002, 367).

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sichts der vielen unterschiedlichen Inkarnat- und Haarfarben eindeutig gegeben.52 Auch diese Vielfalt trägt zu einer Reformierung klassizistischer Malerei bei, schließlich werden die dargestellten Frauenfiguren in einer antiken Badeanlage in Pompeji angesiedelt – in einer jener antiken Städte, deren Entdeckung zur Infragestellung eines allzu homogenen Antikenverständnisses beigetragen hatte.53

4 Von der Ruine zum Bild zum Gedicht Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass bereits Chassériaus Italienreise den Maler zu der Ansicht gebracht zu haben scheint, dass klassizistische Antikennachahmungen einer Revision bedürfen. Indem Le tepidarium auf eine konkrete Ruine Bezug nimmt, kann anders als bei den betrachteten Vergleichsbildern von David, Ingres und Gérôme der Spagat zwischen Rekonstruktion und Imagination, wie er für jede künstlerische Auseinandersetzung mit der Antike unumgänglich ist, dargestellt und reflektiert werden.54 Mit dem Moment der imaginativen Belebung der Ruine wird Chassériau zugleich dem eigenen Anspruch des faire vivre gerecht. Dieser Anspruch manifestiert sich auch in der Darstellungsweise, im Verzicht auf ein der antiken Skulptur nachempfundenes poli. In ihrer bildfiktionalen Funktionalisierung erfährt die pompejanische Ruine hierbei eine Verschiebung: Aus dem Männer- wird ein Frauenbad. Und auch in der Gestaltung der Frauenfi-

52 Lindheim hat überzeugend von einer „racial diversity“ gesprochen, in diesem Zusammenhang aber auch den Verzicht auf eine Differenzierung von Europäerinnen und dem „Oriental Other“ hervorgehoben (vgl. Lindheim 2005, 255), ohne zu erkennen, dass man hierfür allererst ein eindeutig fassbares orientalisierendes Moment in dem Bild identifizieren können müsste. Zuzustimmen ist hingegen der Feststellung, dass keine ethnische Hierarchisierung des Bildpersonals erfolgt (vgl. Lindheim 2005, 255). Der dunkelhäutigen Trägerin von Bronzeschalen am linken Bildrand kommt eine Dienerin mit weißlich hellem Teint und Wasserkrug entgegen. Auf der Bank vor ihnen sitzt eine blonde, hellhäutige Ruhende im blauen Kleid zwischen zwei brünetten Aktfiguren mit dunklerem Inkarnat. In der Gestaltung des Inkarnats spiegeln sich folglich keine Herrschaftsverhältnisse wider, wie dies bei orientalisierenden Darstellungen der Zeit nicht selten der Fall ist. 53 Lindheim hat ein entsprechendes Bestreben nicht nur für das Tepidarium, sondern für die Frauendarstellungen des Malers allgemein angesetzt (vgl. Lindheim 2005, 108–109), allerdings auch mit Blick auf das Tepidarium die m. E. schwer am Bild zu begründende Fusion von Orient und Okzident als zentrale neue Komponente erachtet (vgl. Lindheim 2005, 189–190). 54 Dass das Moment imaginativer Konstruktion in Chassériaus Tepidarium im klassizistischen Sinne auf die Antike fokussiert bleibt, markiert einen Unterschied zum Delacroix’schen Imaginationskonzept und der damit verwandten microcosme-Theorie Gautiers sowie der Baudelaire’schen imagination créatrice. Siehe zu Delacroix und Baudelaire Mras 1966, 72–88, zu Gautier Cenerelli 2000, 56–69, und Hofmann 2001, 269–277.  

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guren manifestiert sich ein neuer Klassizismus: Es wird zwar Bezug genommen auf berühmte antike Venusstatuen, die Diversität des Bildpersonals vermittelt insgesamt aber ein heterogeneres Antikenbild. Abschließend möchte ich zeigen, wie in Heredias Le tepidarium eine Auseinandersetzung mit diesem Aspekt der Diversität sowie dem Verhältnis von Rekonstruktion und Imagination erfolgt. Ein Schwerpunkt liegt auf dem bislang verkannten Umstand, dass das Gedicht eine doppelte Reaktion darstellt: auf Chassériaus Gemälde und auf die antike Ruine. Man hat es derart gewissermaßen simultan mit einem Bildgedicht und Dinggedicht zu tun.55 Während die für die Parnasse-Lyrik typischen Verfahren der transposition d’art einerseits oder der Objektrarefizierung andererseits ein mimetisches Dichtungskonzept zu problematisieren erlauben,56 kann mit Heredias ungewöhnlicher und m. E. auch weitgehend beispielloser Doppelausrichtung dezidiert das Zusammenspiel von Nachahmung und Interpretation zum Gegenstand gemacht werden.  

Le tepidarium La myrrhe a parfumé leurs membres assouplis; Elles rêvent, goûtant la tiédeur de décembre, Et le brasier de bronze illuminant la chambre Jette la flamme et l’ombre à leurs beaux fronts pâlis. Aux coussins de byssus, dans la pourpre des lits, Sans bruit, parfois un corps de marbre rose ou d’ambre Ou se soulève à peine ou s’allonge ou se cambre; Le lin voluptueux dessine de longs plis. Sentant à sa chair nue errer l’ardent effluve, Une femme d’Asie, au milieu de l’étuve, Tord ses bras énervés en un ennui serein; Et le pâle troupeau des filles d’Ausonie S’enivre de la riche et sauvage harmonie Des noirs cheveux roulant sur un torse d’airain. (Heredia 1998, 93)57

55 Zu letzterem siehe Müller 1997. Kranz definiert dagegen Heredias Tepidarium vorschnell als „deskriptive[s] Bildgedicht“ (Kranz 1973, 70). Entsprechend auch Killick und Scott, denen im Übrigen jegliche Differenzen zwischen Gedicht und Bild entgehen (Killick 1985 und Scott 1988). 56 Vgl. Hempfer 1993. 57 Das Gedicht erscheint erstmals 1875 in der von Henri Malin geleiteten Revue Le siècle littéraire. Ein Jahr später wird es in die letzte Edition des Parnasse contemporain und 1893 dann in Heredias Gedichtband Les trophées in die Sektion „Rome et les barbares“ aufgenommen. Es sind nur wenige Abweichungen dieser letzten von der ersten Fassung festzustellen: 1875 ist noch „brasier de cuivre“ (v. 3), „Dans les coussins épais, sur la pourpre des lits“ (v. 5), „Sentant sur sa chair“ (v. 9)

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Der Titel des Sonetts, das über 20 Jahre nach der Präsentation von Chassériaus Salonerfolg erscheint, bleibt bewusst mehrdeutig:58 Er lässt sich einerseits auf das Gemälde beziehen und insbesondere das erste Terzett legt in der motivischen Anspielung auf die zentrale Frauenfigur des Gemäldes nahe, dass wir es mit einer transposition d’art zu tun haben. Andererseits bleibt der Name des Malers unerwähnt, so dass der Titel auch auf das pompejanische Tepidarium selbst Bezug nehmen könnte, an dem sich Chassériau orientierte. Zwar fällt anders als in Chassériaus Gemäldetitel nicht der Name der kampanischen Stadt, doch die Erwähnung eines bronzenen Heizbeckens im dritten Vers erlaubt eine eindeutige Zuordnung zum Tepidarium der pompejanischen Forumsthermen.59 Für diese zweite Lesart spricht das zweite Quartett, das mit der Erwähnung von Kissen, purpurnen Betten und der dominant horizontalen Positionierung der weiblichen Körper ein Bild evoziert, das deutlich von Chassériaus Darstellung abweicht. Derart wird mit Heredias Gedicht eine andere menschliche Belebung der antiken Ruine imaginiert.60 Dort, wo bei Chassériau der klassizistische Antikenbezug die Grenzen der Imagination absteckt, werden diese bei Heredia durch literarische Eckpfeiler vorgegeben. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Quellen für den ersten Vers und den vorletzten Reim von Heredias Tepidarium benannt,61 denen auf-

und „dans un ennui serain“ (v. 11) zu lesen und die Verse 9 und 10 sind vertauscht (siehe https:// gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k114035f/f72.image). 58 Und dies im Unterschied zu anderen Gedichten des Autors, in denen auf existierende Kunstwerke Bezug genommen wird. So ist z. B. das Sonett Jason et Médée mit der Widmung „A Gustave Moreau“ versehen, Le prisonnier mit „A Gérôme“ überschrieben. 59 Monika Trümper hat mich darauf hingewiesen, dass 1856/57 auch in den Stabianer Thermen, die 1875 vollständig freigelegt waren, ein identisches, heute im Museo archeologico nazionale von Neapel befindliches Kohlebecken gefunden wurde, allerdings nicht in einem der Baderäume (siehe hierzu Eschebach 1979, 4 und 25). In diesem Sinne bleibt die Bezugnahme in Heredias Sonett m. E. eindeutig. 60 Heredias Gedicht ließe sich derart auch als literarische Antwort auf kunstkritische Reaktionen auf Chassériaus Gemälde deuten. Gautier hatte in seinem Salonbericht auf die eigene imaginative Belebung der Forumsthermen verwiesen, dieser im Unterschied zur bildlichen Darstellung aber keinerlei Beständigkeit zugesprochen: „Malheureusement, la traduction pure et simple de la beauté qui suffit au peintre, ne suffit pas au poète, et notre songe rétrospectif s’évanouit sans laisser de trace. Jugez de notre enchantement lorsque nous avons vu exécuté par un pinceau habile le tableau dont l’idée nous était venue dans le Tépidarium de Pompeï et qui, par un magnétisme secret, s’était présentée aussi à l’imagination de notre ami Théodore Chasseriau“ (Gautier 1853, 1). Auch Edmond About erwähnt sogleich den eigenen Pompeji-Besuch, gibt sich anders als Gautier aber von vornherein geschlagen: „J’avoue en toute humilité que mon imagination n’a rien produit d’aussi pittoresque que le tableau de M. Chassériau“ (About 1855, 188). Eine beständige literarische Belebung der antiken Ruine bietet demgegenüber Heredia mit seinem Sonett. 61 Vgl. Ibrovac 1923, 71–72, der sich bezieht auf Thauziès 1910/1911, hier 55–56. Die übrigen ‚Quellen‘, die für das Tepidarium vorgeschlagen werden, erweisen sich als zu unspezifisch und  



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grund ihrer Eindeutigkeit und der prominenten Positionierung am Anfang und Ende des Gedichts als intertextuelle Bezugnahmen wichtige Funktionen zukommen. Der erste Vers von Heredias Sonett „La myrrhe a parfumé leurs membres assouplis“ setzt sich aus zwei Halbversen zusammen, die jeweils auf ein Gedicht aus Leconte de Lisles Poèmes antiques (1852) und Poèmes barbares (1862) rekurrieren – auf Gedichte jenes Dichters also, dem Heredia seine Trophées gewidmet hat.62 Der erste Halbvers orientiert sich hierbei an „La myrrhe a parfumé leurs barbes vénérables“ (v. 110) aus Leconte de Lisles La vigne de Naboth (Leconte de Lisle 2012, 51). Das Langgedicht kreist um die alttestamentarische Geschichte des Weinbergbesitzers Nabot, der es ablehnte, seinen Weinberg Ahab, dem König von Samarien, zu verkaufen und dafür von den Ältesten der Stadt – angestiftet durch die Frau des Königs – unter falschen Anschuldigungen verurteilt und gesteinigt wurde. Nicht badende Frauen, sondern äußerlich zwar als schön, innerlich aber als korrumpiert und skrupellos beschriebene „beaux vieillards“ (v. 104) werden hier mit dem Duft der Myrrhe in Zusammenhang gebracht. Der zweite Halbvers nimmt Bezug auf Leconte de Lisles Langgedicht Niobé, in dem zunächst ein königliches Fest beschrieben wird, bei dem Niobe selbstvermessen Leto abwertet, weil diese nicht wie sie selbst sieben Töchtern und sieben Söhnen, sondern nur Apollon und Artemis das Leben geschenkt habe. Noch vor den Feierlichkeiten und bevor sie Zeuge von Niobes Hybris werden, nehmen die Gäste zur Entspannung ihrer Glieder ein Ölbad: En de limpides bains nourris de sources vives, De larges conques d’or reçoivent les convives. L’huile baigne à doux flots leurs membres assouplis; De longs tissus de lin les couvrent de leurs plis. (vv. 83–86) (Leconte de Lisle 2011a, 218)63

Als besonders interessant erweisen sich nicht so sehr die möglichen thematischmotivischen Konnotationen dieser intertextuellen Referenzen, die hier daher vernachlässigt werden, sondern vielmehr der Umstand, dass zu Beginn von Heredias

werden daher vernachlässigt. Zum Verhältnis von Quellen- und Intertextualitätsforschung siehe grundlegend Hempfer 1991, insbes. 19. 62 Zudem folgt in der Erstpublikation in Le siècle littéraire Heredias Tepidarium unmittelbar auf Leconte de Lisles Sonett Paysage polaire. 63 In beiden Gedichten wird zwar auf konkrete Gestalten und Sagen des Alten Testaments und der griechischen Mythologie zurückgegriffen, im Fall von Niobé hat man es aber auch mit der zitierten ungewöhnlichen Beschreibung anonymer, badender Gäste zu tun, die sich mit der ‚alltäglichen‘ Antikendarstellung bei Heredia und auch Chassériau in Zusammenhang bringen lässt.

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Sonett so geballt Referenzen zu verzeichnen sind. Ein Gedicht auf eine antike Ruine und ein Gemälde, das diese Ruine imaginierend rekonstruiert, baut seinen ersten Vers aus zwei existierenden Halbversen zusammen. Auch bei Heredia signalisiert der Gedichtanfang folglich, dass hier (literarische) Konstruktion als imaginierende Rekonstruktion zu begreifen ist. Zugleich kommt Heredias doppelter Rekurs auf seinen Lehrer und Mentor Leconte de Lisle einem poetologischen Statement gleich: Leconte de Lisle hatte in seinem Vorwort zu den Poèmes antiques nicht nur jede romantische Ästhetik der Emotionalität als Entweihung der Kunst abgewertet, sondern auch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den unverdorbenen Ursprüngen der Kunst der griechischen und auch indischen Antike verteidigt. Mit diesem Anspruch der historischen Wissenschaftlichkeit ging die Vorstellung einer „étude vraie du monde antique“ (Leconte de Lisle 2011b, 96) einher. Unberücksichtigt blieb mithin notgedrungen das Moment des interpretativen Zugriffs auf die idealisierte Vergangenheit. Eben dieses Moment demonstriert demgegenüber der erste Vers von Heredias Tepidarium in seiner Konstruiertheit.64 Auch am Ende des Sonetts wird auf existierende Dichtung zurückgegriffen, diesmal jedoch nicht ohne feine Ironie: Die ungewöhnliche rime léonine „Ausonie“/„harmonie“ findet sich bereits in Alfred de Mussets Langgedicht Après une lecture von 1842, das 1852 in der Sammlung Poésies nouvelles veröffentlicht wurde. Es ist ein poetologisches Gedicht, das im Sinne romantischer Ausdrucksästhetik die emotionale Naturverbundenheit des Dichters, sein gesteigertes Empfindungsvermögen, seine Irrationalität sowie seine tiefe Empathie mit den Leidenden der Erde zentral setzt. Abgewertet werden dementsprechend Nachahmer und vor allem Versifikatoren, die für den Sprecher keine Poeten sind: Certes, c’est une vieille et vilaine famille Que celle des frelons et des imitateurs; Allumeurs de quinquets, qui voudraient être acteurs. Aristophane en rit, Horace les étrille; Mais ce n’est rien auprès des versificateurs. Le dernier des humains est celui qui cheville. (Musset 1957, 427)65

64 Zumindest in dieser punktuellen Gegenüberstellung deutet sich ein bislang vernachlässigter feiner Unterschied in der Mimesiskonzeption von Heredia und seinem Lehrer an, der möglicherweise erklären könnte, weshalb in Leconte de Lisles Gedichtbänden – anders als bei Gautier, Banville und Heredia – seltener transpositions d’art zu finden sind, wie schon Hempfer konstatiert, aber in anderer Weise begründet hat (siehe Hempfer 2017, 296–297).

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Diesen verachteten Verseschmieden hält der Sprecher Giacomo Leopardi entgegen, der nicht so sehr auf den Versbau geachtet, sondern vielmehr seinen Gefühlen und Gedanken freien Lauf gelassen habe. Leopardi adressierend heißt es in der 20. Strophe: Telle fut la vigueur de ton sobre génie, Tel fut ton chaste amour pour l’âpre vérité, Qu’au milieu des langueurs du parler d’Ausonie Tu dédaignas la rime et sa molle harmonie, Pour ne laisser vibrer sur ton luth irrité Que l’accent du malheur et de la liberté. (Musset 1957, 427)

Interessanterweise findet genau an der Stelle, wo Leopardi eine Verachtung für den Reim und dessen weiche Harmonien zugeschrieben wird, eine höchst kunstvolle rime léonine Verwendung. Diese rime léonine wird mit ihrem Rückbezug auf „génie“, das erste Reimwort der Strophe, wiederum auf eine rime riche reduziert, was sich ebenfalls programmatisch verstehen lässt. Vor diesem Hintergrund kann der Umstand, dass Heredia Mussets rime léonine Jahrzehnte später in sein Tepidarium integriert, nur als subtile Reaktion auf ein Dichtungsverständnis gewertet werden, das mit der Kritik an sogenannten versificateurs gegen eine Fokussierung der lyrischen Materialität gerichtet ist, ohne dass erkannt wird – so ließe sich zumindest diese Bezugnahme deuten –, wie unausweichlich die Relevanz der Materialität für jedes Dichten ist, selbst für einen Musset im Moment der Reimschmähung. Darüber hinaus demonstriert diese Referenz gerade mit dem Rückgriff auf Reimwörter sehr anschaulich, dass auch Nachahmung keineswegs unoriginell sein muss, sondern mit der Imitation Neues entstehen kann. Dies zeigt allein schon der Blick auf die Semantik der beiden Reimwörter: Seit Vergil bezieht sich die lateinische Bezeichnung „Ausonia“ nicht mehr nur auf eine Region an der Grenze zwischen Latium und Kampanien, sondern im poetischen Sprachgebrauch auf Gesamtitalien.66 Während in Heredias Sonett dieses antike Italien Vergils gemeint ist, wird bei Musset auf das zeitgenössische Italien Leopardis abgehoben, genauer noch auf die italienische Sprache und Dichtungspraxis der Zeit. Unterschiedliche Bedeutungsdimensionen entfaltet auch „harmonie“ in den beiden Gedichten: Bei Musset geht es um eine akustische, bei Heredia um eine visuelle Har-

65 Der Ausdruck cheviller des vers ließe sich mit dem Trésor de la langue française informatisé folgendermaßen paraphrasieren: „Mettre des mots de remplissage qui ne sont utiles que pour la rime ou la mesure“. 66 Vgl. hierfür die etymologischen Angaben im Trésor de la langue française informatisé.

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monie, die durch die Harmonie des Doppelreimes aber klanglich unterstrichen wird, was zugleich die Bedeutung der Materialität von Dichtung untermauert. Diese literarischen Referenzen funktionieren insgesamt zwar etwas anders als die interpikturalen und intermedialen Bezüge von Chassériaus Tepidarium. In vergleichbarer Weise tragen aber auch sie zu einer konzeptuellen Einordnung und Abgrenzung von Heredias Gedicht bei. Beiden Kunstwerken im weiteren Sinne ist hierbei eine Berücksichtigung des interpretativen Zugriffs bei der Rekonstruktion der Antike gemein. Eine entscheidende Differenz darf indessen nicht vernachlässigt werden: Im Unterschied zu Chassériaus gemalter Rekonstruktion der Ruine, die imaginative Anteile andeutet, erfolgt die ‚Entruinierung‘ in Heredias Gedicht allein über die Refunktionalisierung der einstigen Gebrauchsarchitektur. Mit keinem Wort wird näher auf den Raum eingegangen, der dem Gedicht seinen Namen gibt. Nur das signifikante Bronzebecken wird genannt, architektonische Details, Wandgestaltung, Fußboden und Decke bleiben hingegen unerwähnt. Diese Nichtnennung könnte als Versuch gewertet werden, die Spezifik des Ruinösen in die Sprache der Lyrik zu übertragen: Das Verschweigen bringt qua Negation67 das Verschwinden des Vergangenen zum Ausdruck, für das die Ruine steht. So liegt bei Heredia der Fokus ausschließlich auf den weiblichen Figuren, die sich im Tepidarium befinden. In eindringlicher Weise werden wie im Bild – nur mit sprachlichen Mitteln – neben dem Sehsinn verstärkt Geruchs- und Tastsinn angesprochen.68 Und wie im Bild zeichnen sich die Beschriebenen durch ihre Diversität aus: Verwiesen sei auf die rarefizierende Ästhetisierung69 der Körper mit den oppositiv gesetzten Genitivattributen „de marbre rose ou d’ambre“ in Vers 6 sowie die farbliche Gegenüberstellung der blassen Erscheinungen in Vers 12 und den schwarzen Haaren auf bronzenem Rumpf im letzten Vers. Anders als bei Chassériau wird diese Diversität in den Terzetten nun aber explizit im Orient und Okzident, genauer noch Asien und Italien verortet. Und anders als bei Chassériau geht dies in der letzten Strophe mit animalisierenden Charakterisierungen auf beiden Seiten einher, wenn vom „troupeau des filles d’Ausonie“ (v. 12) und der „sauvage harmonie / Des noirs cheveux“ (v. 13f.) die Rede ist. Eine solche Animalisierung der Frau ist auch in einigen kunstkritischen Kommentaren zu Chassériaus Bild zu beobachten,70 verrät m. E. jedoch mehr über ihre Verfasser als über das besprochene Gemälde.  

67 Vgl. für eine Auseinandersetzung mit den produktiven Sinndimensionen der Negation Dadaş/ Vogel 2021. 68 Siehe mit Blick auf Chassériaus Bild Betzer 2010, 480–481. 69 Vgl. hierzu Hempfer 1993. 70 So bspw. bei About 1855, 188 und Saint-Victor 1867, 434.

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Mit diesen drei zentralen Unterschieden deutet sich an, dass sich das Verhältnis von Rekonstruktion und Imagination verschiebt und zwar durch die doppelte Bezugnahme des Sonetts auf das pompejanische Tepidarium und Chassériaus gleichnamiges Gemälde.71 Anders als bei Chassériau betrifft es nicht mehr so sehr die Auseinandersetzung mit der antiken Ruine, sondern verlagert sich auf deren Darstellung, genauer noch auf deren figürliche Belebung durch Chassériau. Wie insbesondere die Gegenüberstellung der zweiten und dritten Strophe zeigt, changiert Heredias Gedicht hierbei zwischen einer fremdmedialen Nachbildung des Gemäldes und dem imaginativen Entwurf einer antiken erotisch aufgeladenen Szene. Ein Konnex zwischen Gedicht und pompejanischer Ruinenarchitektur ist gleichwohl gegeben, er reduziert sich allerdings auf zwei Schlagwörter, mithin auf ein Minimum. Bezeichnenderweise wird genau mit dieser ‚Vernachlässigung‘ der Ruine im gleichzeitig punktuellen Bezug auf sie, jene Vergänglichkeit erfahrbar, die sie par excellence symbolisiert.

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71 In dieser doppelten Bezugnahme potenziert sich das reflexive Potential des Gedichts gegenüber Heredias Le vase, das sich auf kein reales (Kunst‑)Objekt bezieht. Hufnagel zufolge gibt dieses Sonett durch den „Kompositcharakter der mythischen Szenen […] eine konstruktive, nicht-mimetische Poetik“ zu erkennen (Hufnagel 2017, 199). Anders als im Fall von Le tepidarium rückt indes nicht die spannungsreiche Relationierung von Rekonstruktion und Konstruktion, von Mimesis und Imagination ins Bewusstsein der Rezipierenden.

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Şirin Dadaş

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Abbildungsverzeichnis Das Männertepidarium der Forumsthermen in Pompei (© akg-images / Bildarchiv Steffens). Chassériau, Théodore. Tepidarium. Salle où les femmes de Pompéi venaient se reposer et se sécher en sortant du bain, 1853, Öl auf Leinwand, Paris, Musée d’Orsay (© Musée d’Orsay, dist. RMN / Patrice Schmidt, Wikimedia Commons). Chassériau, Théodore. Bains de Vénus Génétrix, 1840, Paris, Musée d’Orsay. https://www.mu see-orsay.fr/fr/collections/oeuvres-commentees/recherche/commentaire_id/tepidarium 101.html?no_cache=1&cHash=ebb 2996688 (22. August 2019). Gérôme, Jean-Léon. Intérieur grec, 1850, Öl auf Leinwand, New York, Privatsammlung (Ausst.Kat. Jean-Léon Gérôme. L’Histoire en spectacle, Los Angeles, The J. Paul Getty Museum, Paris, Musée d'Orsay, Madrid, Thyssen-Bornemisza, Paris 2010, S. 59)

Lars Schneider

Die Schläfer im Tal: die Zertrümmerung eines Topos bei Rimbaud und Zola Mais ce qui fait surtout le charme de Rocreuse, c’est la fraîcheur de ce trou de verdure. Émile Zola: L’Attaque du moulin (1877)

Die französische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts zeichnet sich durch einen unbändigen Willen zur Modernität aus,1 der sich nicht zuletzt mit Arthur Rimbauds (1854–1891) Diktum „Il faut être absolument moderne“ aus der Saison en enfer (1873) illustrieren lässt. Dass es mit dieser (absoluten) Modernität nicht so einfach ist, zeigt indes bereits ein Blick auf die Personen und Werke der großen Modernisierer.2 Denn diese sind mit den Werkzeugen der ‚Alten‘ nicht nur bestens vertraut,3 sie zögern auch nicht sie weiterhin, z. T. sogar virtuos, zu handhaben; mit der Folge, dass das Alte im Neuen fortlebt, das deshalb keine reine, sondern eine hybride Struktur aufweist und, obgleich es ‚absolut modern‘ sein will, ebendies niemals sein kann.4 Der folgende Beitrag möchte dieses Fortleben des Alten im Neuen anhand des locus amoenus näher beschreiben. Hierzu stützt er sich auf zwei exemplarische Texte aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts: Arthur Rimbauds einschlägiges Sonett Le Dormeur du val (1870) sowie Émile Zolas (1840–1902) eher marginale Erzählung L’Attaque du moulin (1877). Dabei sollen die folgenden vier Thesen vertreten werden: Erstens steht der liebliche Ort bei beiden Autoren im Zeichen von (Des‑)Illusion. Zweitens bewirkt die moderne Episteme eine Histori-

1 Die Modernisierung der französischen Literatur lässt sich allein an den zahlreichen Ismen ablesen, die einander ablösen. 2 Insbesondere in den bis dahin stark reglementierten Gattungen reicht es zunächst vollkommen aus, die noch immer bestehenden Regeln nicht zu befolgen. Die Lyrik Lamartines und das Drama Hugos sind zunächst v. a. eines: nicht ‚klassisch‘. D. h., das ‚Klassische‘ fungiert in beiden Fällen eindeutig als Bezugshorizont. Beide ‚romantische‘ Poetiken lassen sich mithin als Abweichungspoetiken auffassen. 3 Rimbaud etwa ist bis zum Alter von 15 Jahren ein Musterschüler. Und es liegt nahe, hier eines der Fundamente für sein schmales aber bedeutsames dichterisches Schaffen zu sehen. Zu seiner Biographie vgl. u. a. Baronian 2009; Lefrère 2001. 4 Ebendies wird v. a. den historischen Avantgarden zu schaffen machen. Bereits die futuristische Anti-Tradition weist ebenso unbedingt voraus wie zurück. Vgl. u. a. Mann 1991 sowie den Beitrag von Giulia Lombardi in diesem Band. Zur Diskursivierung von Neuem vor der unvermeidlichen Verschränkung von ‚alt‘ und ‚neu‘ vgl. auch Huss 2016.  







https://doi.org/10.1515/9783110757811-007

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sierung und Pathologisierung seiner Motive, was ihn zugrunde richten, sprich, ruinieren wird. Drittens verhandeln beide Texte die (Schock‑)Erfahrung einer modernen Kriegsführung, die – v. a. bei Zola – ein vitales Gemeinwesen in eine Ruinenlandschaft verwandelt, die nicht ästhetisiert, sondern möglichst realistisch beschrieben wird. Dabei, so die vierte These, verschwimmen im Vergleich beider Texte die Grenzen zwischen ‚symbolistischer‘ Lyrik und ‚naturalistischer‘ Prosa.  

1 Alte Topik – Bemerkungen zum locus amoenus Wie Ernst Robert Curtius hervorhebt, werden die gängigen Motive des locus amoenus bereits in den Homerischen Ideallandschaften in Ilias und Odyssee ausformuliert.5 Und zwar in jenen lieblichen Naturausschnitten, die mit Schatten spendenden Baumgruppen, klaren Quellen und saftigen Blumenwiesen beschrieben werden. Es sind Orte der Fruchtbarkeit, Sorglosigkeit und des ewigen Frühlings, wo es sich lagern, dichten und philosophieren lässt. Mit Theokrit (270 v. Chr.) und nicht zuletzt mit Vergil (17–19 v. Chr.) wird der liebliche Ort jedoch zum zentralen Element der Hirtendichtung,6 wobei die idyllische Hirtenwelt nicht nur an die Natur, sondern auch an die Liebe gebunden ist. Somit dient der Topos der Gestaltung von Lustorten, die den erotischen Genuss mit einschließen. Allerdings, so Curtius, führt er recht bald ein „rhetorisch-poetisches Eigendasein“ (Curtius 1965, 197–199), sodass er für Natur- und Landschaftsbeschreibungen aller Art herangezogen wird. So auch in der Spielart der frigida Tempe7, sprich, dem kühlen, von Bergen umringten (Wald-und-Blumenwiesen‑)Tal. Überdies zeigen sich in den Ausgestaltungen des Topos in der Schäferdichtung Verbindungen von zeitlichen und räumlichen Formationen, die Mikhail Bachtin als idyllischen Chronotopos beschreibt.8 Wie die eingangs erwähnte (Wunsch‑)Vorstellung vom ewigen Frühling/Jungsein andeutet, ist der locus amoenus ein Ort, der aus der linearen Zeit der Historie fällt. Daher wundert es nicht, wenn er zur Darstellung von Sehnsuchtsräumen (Arkadien) und Jenseitslandschaften (elysische Gefilde, Paradies) herangezogen wird. Von Räumen, die man mit Michel Foucault als „kompensatorische Heterotopien“ ([1967] 1984)9 bezeichnen kann, weil sie zusammen mit der Zeit auch gesellschaftliche und politi 



5 Curtius 1965. Zum locus amoenus in der antiken Literatur vgl. fernerhin: Schlapbach 2010; Haß 1998. 6 Zur italienischen Hirtendichtung vgl. u. a. Nelting 2007. 7 Vergil: Georgica IV, v. 469. 8 Bachtin 1989. Vgl. Frank 2015. 9 Zur Heterotopieforschung vgl. u. a. Warning 2015; Warning 2009.  



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sche Realitäten (und Ordnungen) suspendieren, die allerdings stets als das sie ermöglichende Andere mitschwingen.10 Dementsprechend sind in der idyllischen Hirtenwelt Gegensemantisierungen angelegt, die u. a. bei Francesco Barbieri (1591–1666) und Nicolas Poussin (1594– 1665) sichtbar werden. Beide Maler zeigen Hirten, die wider Erwarten feststellen, dass in Arkadien das Ausgeschlossene – die lineare Zeit und mit ihr die Endlichkeit und der Tod – unweigerlich mit anwesend ist:  

Abb 1: Giovanni Francesco Barbieri Et in Arcadia ego (1616–1620)11

Die lieblichen Schäferwelten stehen mithin im Zeichen von Illusion und Desillusion. Sie sind potentielle Einfallstore für all das, was sie (kategorisch) ausschließen.12 Ebendies wird auch von Rimbaud und Zola erkannt, aber, so die These, nach den Maßgaben der Episteme des neunzehnten Jahrhunderts ausformuliert, die im Zeichen von Historizität steht.

10 Zur politisch-historischen Bezugsdimension der Schäferwelten vgl. u. a. Iser 1993. Ferner sei verwiesen auf die Arbeiten des DFG-Netzwerks Politiken der Idyllen https://blogs.uni-bremen. de/idyllen/ (19. Juni 2020). 11 https://de.wikipedia.org/wiki/Et_in_Arcadia_ego#/media/Datei:Et-in-Arcadia-ego.jpg (19. Juni 2020). 12 Vgl. Leopold 2014, 85.  

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Abb 2: Nicolas Poussin Et in Arcadia ego (1625–1630)13

2 Alte Topik und neues Wissen bei Arthur Rimbaud Am siebten Oktober des Jahres 1870 – im Alter von 16 Jahren – verfasst Rimbaud das Sonett Le Dormeur du val, das 18 Jahre später in Alphonse-Pierre Lemerres (1838–1912) Anthologie des poètes français erstmals publiziert werden wird:14 Le Dormeur du val 1 2 3 4

C’est un trou de verdure où chante une rivière, Accrochant follement aux herbes des haillons D’argent ; où le soleil, de la montagne fière, Luit : c’est un petit val qui mousse de rayons.

5 6 7 8

Un soldat jeune, bouche ouverte, tête nue, Et la nuque baignant dans le frais cresson bleu, Dort ; il est étendu dans l’herbe, sous la nue, Pâle dans son lit vert où la lumière pleut.

13 https://de.wikipedia.org/wiki/Et_in_Arcadia_ego#/media/Datei:Nicolas_Poussin_-_Et_in_ Arcadia_ego_(deuxi%C3 %A8me_version).jpg (19. Juni 2020). 14 Zu den Gedichten der Jahre 1870 und 1871 vgl. u. a. Murat 2013.  



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9 Les pieds dans les glaïeuls, il dort. Souriant comme 10 Sourirait un enfant malade, il fait un somme : 11 Nature, berce-le chaudement : il a froid. 12 Les parfums ne font pas frissonner sa narine ; 13 Il dort dans le soleil, la main sur sa poitrine 14 Tranquille. Il a deux trous rouges au côté droit. (Rimbaud 1972, 32)

In der ersten Strophe schildert eine anonyme Sprechinstanz eine idyllische Landschaft. Dabei bedient sie sich der Elemente des locus amoenus, und zwar in der Variante der frigida Tempe. Auf diese Weise entsteht ein Bild, das die zeitgenössische Leserschaft aus der Bukolik kennt: ein von Bergen umringtes Tal mit Wiesen, durch die ein Bach fließt. Es wachsen Blumen und Kräuter und die Sonne strahlt vom (blauen) Himmel herab. Und inmitten dieser Szenerie liegt die im Titel erwähnte schlafende (Hirten‑) Gestalt. Doch dieser liebliche Ort erweist sich spätestens mit dem trait final (v. 14) als locus terribilis, wenngleich nicht im herkömmlichen Sinne. Denn es handelt sich nicht um eine Ödnis, einen Ort der Weltabkehr oder der Liebesklage.15 Rimbauds Sonett mündet nicht in einen weiteren Topos, sondern in eine realhistorische Szenerie: die Leiche eines jungen Soldaten auf einem Schlachtfeld des Deutsch-Französischen Krieges.16 Das Eingangsbild erweist sich demzufolge als ein Trugbild, das die betont nüchterne Beschreibung Schritt für Schritt entlarvt, indem sie die Isotopie des locus amoenus durch die des locus terribilis im obigen Sinn ersetzt. Überdies fallen bei Mehrfachlektüre des Sonetts zahlreiche doppelt kodierte Lexeme ins Auge, die sich in der zweiten und dritten Strophe häufen. Die bewusst gesetzten semantischen Knotenpunkte verleihen dem Text seinen Reiz, da sie zur Spannung zwischen dem anfänglichen Schein und dem tatsächlichen Sein beitragen. trou (vv. 1/14) follement (v. 2) ouverte (v. 5) nue (v. 5) baignant (v. 6) étendu (v. 7)

Tal – (Einschuss‑)Loch, Grab überschwänglich – wahnsinnig geöffnet – offen stehend, aufgerissen unbekleidet – entblößt badend – (in Blut) eingetaucht sein ausgestreckt – niedergestreckt

15 Vgl. Garber 1974. Zum locus terribilis vgl. ferner Muela Ezquerra 2013. 16 Das Manuskript ist auf Oktober des Jahres 1870 datiert, nachdem die französische Armee zu großen Teilen besiegt ist und der Kaiser Napoleon III. (1808–1873) sich in Preußischer Gefangenschaft befindet. Die Schlacht von Sédan vom 3. September des Jahres wurde in der Nähe von Rimbauds Heimatort Charleville ausgefochten.

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dort (vv. 7/9/13) pâle (v. 8) lit (v. 8) glaïeuls (v. 9) il a froid (v. 11) tranquille (v. 14)

lautliche Nähe zu mort (Minimalpaar) (leichen‑)blass (Toten‑)Bett Gladiolen = Grabbepflanzung ihm ist kalt – er ist erkaltet (leblos) beruhigt – regungslos

Die Dekonstruktion des Eingangsbilds vollzieht sich auch auf formaler Ebene. So konfligiert die Syntax derart mit dem Versmaß (Alexandriner), dass sich kein dem Topos angemessener harmonischer Lesefluss einstellen will. Zahlreiche Enjambements lenken die Aufmerksamkeit u. a. auf „Dort“ (v. 7) und „Tranquille“ (v. 14), die im Rejet stehen.17 Eine derart betonte Ruhe erscheint suspekt. Auch der semantische Funke, der aus den positionsäquivalenten Lexemen „comme“ (v. 9) und „somme“ (v. 10) entspringt, stellt die Szenerie infrage, bevor das vitale Grün des „trou de verdure“ (v. 1) durch das blutige Rot der „deux trous rouges au côté droit“ (v. 14) ersetzt wird.18 Der Ersteindruck einer idyllischen Hirtenlandschaft wird demnach von Beginn an unterlaufen. Dabei entpuppt sich die Beschreibung keineswegs als falsch. Im Gegenteil, die Sprechinstanz lügt nicht. Sie gibt ihre Informationen lediglich scheibchenweise preis. Sie beginnt absichtlich mit Elementen, die an eine Idylle erinnern und lässt sich bei der Konkretisierung der Szenerie Zeit. Im Ausschreiben des Schlachtfeldes offenbart sie mithin eine gehörige Portion Zynismus. Dieser richtet sich nun einerseits gegen die Poetik der Parnassiens, denen eine Soldatenleiche in den Kunstgarten gelegt wird.19 Andererseits geht es hier nicht nur um die Verspottung einer Dichterschule.20 Der Text dokumentiert das Wirken der modernen Episteme, indem er den zeit- und geschichtslosen locus amoenus zu einem zeitgenössischen Schlachtfeld macht. Auf diese Weise illustriert er einen Foucault’schen Befund: „Eine tiefe Historizität dringt in das Herz der Dinge ein, isoliert sie und definiert sie in ihrer eigenen Kohärenz, erlegt ihnen Ordnungsformen auf, die durch die Kontinuität der Zeit impliziert sind“ (Foucault 1971, 26).  

17 Die starken Enjambements befinden sich in den Versen 1/2, 2/3, 3/4, 5/7, 9/10 und 13/14. 18 Fernerhin ist drauf hinzuweisen, dass die Gattung des Sonetts für das Thema vollkommen unangemessen ist. Es geht hier eben nicht um Liebes-, sondern um Kriegsdichtung. Zur Sonettdichtung vgl. u. a. Warning 1997. 19 Zu Rimbaud im Kontext der Pariser Dichterszene vgl. u. a. Wetzel 1985. 20 Der Herabwürdigung der Kunstdichtung entspricht auf der anderen Seite die Nobilitierung des toten Soldaten, dem hier ein literarisches Denkmal gesetzt wird, dessen Wirkung noch immer anhält. Eine biographistische Lesart, der zufolge der Jüngling Rimbaud einen traumatischen Leichenfund lyrisch verarbeite, scheint hingegen eher unwahrscheinlich.  



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Ebendies wird demonstriert, wenn der liebliche Ort zum Schlachtfeld und der ewigjunge Hirte zum pathologischen Körper wird, der – ganz wie Baudelaires (1821–1867) Charogne (1857) – der Verwesung ausgesetzt ist. Hier manifestiert sich ein Wissen, das Foucault in Naissance de la clinique untersucht.21 Und zwar am Beispiel eines medizinisch-pathologischen Diskurses, der sich mit morbiden Phänomenen befasst und dessen ‚Fallgeschichten‘ auf andere kulturelle Praktiken, unter ihnen die Literatur, ausstrahlen.22 So wirft die Sprechinstanz (mit Ausnahme von Vers 11) einen betont neutralen Blick auf die Szene und notiert ihre Erkenntnisse mit der epistemologischen Bescheidenheit einer klinischen Beschreibung im Modus des showing. Ein Vorgehen, das v. a. für den realistischen Roman kennzeichnend ist.23 Darüber hinaus lassen sich die quer über den Text verteilten Körperteile („bouche“, „tête“ v. 5, „nuque“ v. 6, „pieds“ v. 9, „narine“ v. 12, „poitrine“ v. 13) als Hinweise auf die verheerenden Auswirkungen von Waffentechniken lesen, die im Deutsch-Französischen Krieg erstmals zum Einsatz gelangen.24 Der Text scheint die gewaltsame Zerstückelung des Körpers buchstäblich nachzuahmen. Mit jeder weiteren Lektüre wird klar, wie sehr das vermeintliche Schäfersonett darauf anlegt ist, einen schockierenden Realitätseffekt zu erzielen,25 indem sich die ungemein topische als eine ungemein realistische Beschreibung erweist. Das gilt auch für eine nouvelle aus dem Jahr 1877, die den Gemeinplatz mit anderen Mitteln zugrunde richtet.  

3 Alte Topik und neues Wissen bei Émile Zola L’Attaque du moulin ist die Auftaktnovelle des Sammelbandes Les Soirées de Médan (1880), der die Hochphase des französischen Naturalismus einläutet.26 Doch handelt es sich nicht um einen exklusiv für diesen Band verfassten Text. Er erschien bereits 1877 im russischen sowie 1878 im französischen Feuilleton. Die nouvelle von 1880 ist eine überarbeitete Neuauflage.27 Deren Handlung spielt an

21 Foucault 1963. 22 Behrens/Zelle 2012. 23 Vgl. dazu Föcking 2002. 24 Im Deutsch-Französischen Krieg kommen erstmals der Vorläufer des Maschinengewehrs, die mitrailleuse, sowie die Krupp’sche Stahlkanone zum Einsatz. 25 Barthes 1968. 26 Zu den Soirées de Médan vgl. Pagès 2014. 27 Zur Editionsgeschichte der Novelle siehe Zola 1976, 1590.

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der Wassermühle des Père Merlier im Kern des fiktiven Lothringer Dorfes Rocreuse, das in eine idyllische Schäferlandschaft eingebettet ist: […] des prés s’élargissent, de grands arbres, qui suivent le cours de la Morelle, couvrent le fond de la vallée d’ombrages magnifiques. Il n’y a pas, dans toute la Lorraine, un coin de nature plus adorable. A droite et à gauche, des bois épais […] emplissent l’horizon d’une mer de verdure ; tandis que, vers le midi, la plaine s’étend, d’une fertilité merveilleuse […] Mais ce qui fait surtout le charme de Rocreuse, c’est la fraîcheur de ce trou de verdure. (Zola 1880, 3–4)

An dieser Landschaftsbeschreibung ist erkennbar nichts originell. Sie ist aus den Motiven des locus amoenus zusammengesetzt, und zwar aus dessen Variante, der frigida Tempe. Demnach nimmt es nicht wunder, dass sie sich wörtlich mit der Beschreibung Rimbauds deckt, wenn von einem „trou de verdure“ (s. o.) die Rede ist. Inmitten dieses von der Morelle durchzogenen Wald- und Wiesentals schlummert wie zu erwarten ein Jüngling:28 Dominique, ein romantisch rätselhafter Fremder, der durch seine bloße Gegenwart den jungen Mädchen des Dorfes, allen voran der Müllerstochter Françoise, den Kopf verdreht. Demzufolge ist auch die erotische Komponente des Lustortes realisiert. Im Verlauf der Handlung kommt nunmehr alles wie es muss: Nach anfänglichem Widerstand erteilt der alternde Müller dem Paar seinen Segen. Dessen Hochzeit wird auf den 25. August, „le jour de la Saint-Louis“29, terminiert. Dieses Fest gibt einen ersten Hinweis auf die örtliche Zeitstruktur. Denn womöglich, so der auktoriale Erzähler, fühlt sich der Vater an seine eigene Brautwerbung und die anschließende Hochzeit erinnert:  

Peut-être s’était-il souvenu de son propre mariage. Lui non plus ne possédait pas un sou vaillant, lorsqu’il avait épousé Madeleine et son moulin ; cela pourtant ne l’avait point empêché de faire un bon mari.30 (Zola 1880, 9)

Auch Françoises Vater hat einst als mittelloser Außenseiter in die Müllerfamilie eingeheiratet und sich im Anschluss in der Familien- und Dorfgemeinschaft be-

28 „[…] on le [Dominique] trouvait souvent endormi dans l’herbe, à des heures où il aurait dû travailler.“ Zola 1959, 8. 29 Seit dem siebzehnten Jahrhundert stehen der Pariser Bevölkerung am 25. August sowohl die Gärten der Tuilerien als auch die Gärten von Versailles offen. Zeitgleich findet ein Fest der Künste statt. Die Akademien öffnen ihre Türen der Öffentlichkeit und verleihen Preise an Redner, Bildhauer, Maler und Architekten. Daher ist anzunehmen, dass der Mühlhof des Bürgermeisters – das örtliche Zentrum der Macht – der Dorfbevölkerung am Hochzeitstag ebenfalls offensteht. 30 Zola 1959, 9.

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währt. Und mit Dominique wird sich diese Geschichte wiederholen.31 Folglich hat man es in Rocreuse nicht mit einer historisch-chronologischen, sondern mit einer zyklischen Zeit zu tun, die versinnbildlicht wird durch ein uraltes, sich ewig drehendes (und anthropomorphisiertes) Mühlrad: […] la roue du moulin […] craquait en tournant, avec la toux asthmatique d’une fidèle servante vieillie dans la maison. […] Lorsque l’eau la battait de son flot d’argent, elle se couvrait de perles, on voyait passer son étrange carcasse sous une parure éclatante de colliers de nacre. (Zola 1880, 6)

In Rocreuse wird der Bachtin’sche Chronotops der Idylle realisiert, die als ein übersichtlicher, in sich geschlossener und konfliktfreier Raum aus der historischen Wirklichkeit herausfällt: „On se croirait dans quelque parc enchanté […]“ (Zola 1880, 4). Doch – der conditionnel kündigt es an – auch dieser Eindruck ist trügerisch. Dominique etwa wohnt nur einen schussweit entfernt von der Mühle. Man ist also in Besitz von Waffen, die auch zum Einsatz gelangen. Denn mit dem Deutsch-Französischen Krieg naht historisches Unheil heran. Tatsächlich wird die Mühle der Schauplatz gleich zweier Rückzugsgefechte der französischen Armee. Sie wird zunächst an die Preußen verloren, dann aber zurückerobert. Im Zuge der Kampfhandlungen ziehen dunkle Wolken über der idyllischen Schäferlandschaft auf, die sich – wie bei Rimbaud – in einen locus terribilis, ein blutrotes Schlachtfeld, verwandelt. Die liebliche Anfangsszenerie – die Mühle und ihre Umgebung – wird nach und nach zerstört. Im Tal, wo Dominique anfangs schlummerte, beginnen Soldaten zu fallen. Und sie liegen aus- und niedergestreckt auf der Wiese – wie Schlafende: Le petit soldat venait de recevoir une balle en pleine poitrine. C’était le premier mort. […] À la lisière du bois, un Prussien était brusquement sorti de derrière un arbre comme d’une coulisse, battant l’air de ses bras et tombant à la renverse. Et rien ne bougea plus, les deux morts semblaient dormir au grand soleil […]. (Zola 1880, 17) Dominique, derrière les soldats, regardait; et, quand la fumée se fut un peu dissipée, il aperçut trois Prussiens étendus sur le dos au milieu du pré. (Zola 1880, 19)

Dieser Vorgang wird bis zum Ende der Novelle vorangetrieben. Die Mühle – das Zentrum des vitalen Gemeinwesens – wird dabei zur Kriegsruine, und das Mühltal füllt sich mit Leichen:

31 Aus heutiger Sicht liest sich die Geschichte des Belgiers Dominique auch als die einer gelungenen Integration. Diese steht sodann im krassen Gegensatz zu den Kämpfen zwischen Franzosen und Preußen, die über das Dorf hereinbrechen.

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Ah ! le pauvre moulin ! Des boulets le perçaient de part en part. Une moitié de la toiture fut enlevée. Deux murs s’écroulèrent. Mais c’était surtout du côté de la Morelle que le désastre devint lamentable. […] Coup sur coup, la vieille roue reçut deux boulets, et elle eut un gémissement suprême : les palettes furent charriées dans le courant, la carcasse s’écrasa. C’était l’âme du gai moulin qui venait de s’exhaler. Puis, les Français donnèrent l’assaut. Il y eut un furieux combat à l’arme blanche. Sous le ciel couleur de rouille, […] la vallée s’emplissait de morts. (Zola 1880, 48)

Hierbei handelt es sich erneut um einen Prozess der Historisierung. Denn zusammen mit den Kriegsparteien dringt die historisch-chronologische Zeit in den idyllischen Enklavenraum der Mühle ein. In der Folge werden die Zeitangaben präziser. Und das bislang ruhige Geschehen wird immer hektischer. Es zeichnet sich das ab, was Hartmut Rosa als Beschleunigungseffekt beschreibt (Rosa 2004): „einen Monat später“, „seit einer Woche“, „bis zum Abend“, „fast zwei Stunden“, „noch eine halbe Stunde“, „noch fünf Minuten“ (Zola 1959, 278–285) … Versinnbildlicht wird diese Zeit nicht durch das (schon zerstörte) Mühlrad, sondern durch die modernen Chronometer der Offiziere: „Ab und zu sah der Hauptmann auf die Uhr. Als eine Kugel den Fensterladen durchschlug und in die Decke fuhr sagte er leise: Vier Stunden. Wir halten uns nicht so lange“ (Zola 1959, 283). Die Parteien kämpfen mit der Uhr in der Hand gegen die Zeit. Und sowohl der Ort als auch seine Bewohner werden in diesem Kampf unweigerlich mit hineingezogen. Indem man den Protagonisten Ultimaten stellt, beginnt auch für sie die Uhr zu ticken. Auch Zola erweist sich mithin als ein Autor seiner Zeit, indem er eine tiefe Historizität in das Herz der Dinge einziehen lässt. Auch er gibt eine nach dem locus amoenus modellierte Idylle der kriegerischen Zerstörung preis. Auch er ersetzt den atemporalen durch den pathologischen Körper,32 auf den die zeitgenössischen Wissenschaften vom Leben aufbauen. So wird Françoise eine „Szene der Hysterikerin“ (Behrens 2012) aufführen, wenn sie, beobachtet von Dominique, verwirrt und orientierungslos durch das Mühltal irrt. Der ‚Schläfer‘ seinerseits wird von zwölf Kugeln förmlich durchsiebt. Derweil sich im frischen Tal die Leichen junger Soldaten stapeln, womit es zur Präfiguration des modernen Massengrabs wird. Ein weiteres Merkmal moderner Kriegsführung ist die Verlagerung von Kampfhandlungen in die Kommunen, die u. a. der Schlachtenmaler Alphonse de Neuville (1836–1885) festhält:33  

32 Zur Thematik des im pathologischen Sinne ruinierten Körpers vgl. Simona Oberto in diesem Band. 33 Robichon 2010; Chabert 1979.

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Abb. 3: Alphonse de Neuville: Les dernières cartouches (1873)34

Dabei schöpft er aus derselben Quelle wie Zola. In beiden Texten kristallisiert sich ein ganz unmittelbar aktuelles Zeitgeschehen. Demzufolge haben beider Kriegsruinen nichts mit den künstlichen Ruinen gemein, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Konjunktur haben und auf ästhetische Effekte abzielen.35 Stattdessen bezeugen sie die kriegerische Zerstörung von Gemeinwesen und den mit ihr einhergehenden Schrecken. Die dabei billigend in Kauf genommene Miteinbeziehung der Zivilbevölkerung spielt Zola allegorisch anhand der Müllerstocher Françoise durch, die nicht (männlich) rational, sondern (weiblich) hysterisch36 auf die Ereignisse reagiert, womit sie deren Verlauf zusätzlich negativ beeinflusst. Françoise (kurz, die frz. Bevölkerung) wird das Spektakel zwar überleben. Sie wird dabei jedoch nicht nur ihr Zuhause und ihre Familie, sondern auch ihren Verstand verlieren. Am Ende sitzt sie „wie stumpfsinnig“ (Zola 1959, 299) zwischen den Leichen ihres zukünftigen Gatten und ihres Vaters in den rauchenden Trümmern der Mühle. Der Gipfel des Wahnsinns offenbart sich jedoch, wenn die kaiserlichen Truppen das zivile Desaster – den Zola’schen Kataklysmus37 – als einen militärischen Sieg zelebrie-

34 https://de.wikipedia.org/wiki/Alphonse_de_Neuville#/media/Datei:Alphonse-Marie-% 20Adolphe_de_Neuville_-%20_Les_derni%C3 %A8res_cartouches_(1873).jpg (19. Juni 2020). 35 Vgl. u. a. Zimmermann 1989. 36 Vgl. Schaps 1983; Lamott 2001; Koerber 2018. 37 Zum Kataklysmus als Modell für Zolas Romane vgl. Warning 2009; Warning 1999.  



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ren, wohl wissend, dass der Krieg längst verloren ist, der Kampf um die Mühle also vollkommen sinnlos geführt wurde.38

4 Prosaischer Rimbaud? Lyrischer Zola? Die hiesigen Ausführungen zeigen, wie zwei moderne Autoren den tradierten Topos des locus amoenus zur Ausgestaltung zweier pastoraler Idyllen heranziehen, die einander dann auch bis aufs Wort gleichen. Diese Praxis ist erst einmal alles andere als originell. Entscheidend ist der Kontext. Sowohl Rimbaud als auch Zola schreiben in einer Episteme der Geschichte, die ihren Idyllen das Idyllische – die Zeit- und Geschichtslosigkeit – austreibt. Beide Autoren rufen den klassischen Topos der frigida Tempe auf, um ihn als Illusion zu entlarven. Was sie ihren Lesern als Idyllen zeigen, sind zeitgenössische Schlachtfelder und Ruinenlandschaften. Stärker kann der Kontrast zwischen der Erwartungshaltung und der (literarischen) Realität kaum sein. Rimbaud und Zola stoßen ihre Leser gezielt vor den Kopf. Doch während ersterer dem Topos mit einer Beschreibung zusetzt, rückt ihm letzterer erzählerisch zu Leibe. Dabei kommt es zu einer interessanten, weil unerwarteten, Durchdringung von ‚symbolistischer‘ Lyrik und ‚naturalistischer‘ Prosa.39 Während der Lyriker Rimbaud am Ende seines Sonetts einen fast prosaischen Realitätseffekt erzielt, beginnt der Naturalist Zola seinen Text mit einem Motiv aus der Schäferdichtung. Das scheinbar Unvereinbare nähert sich einander an. Und behält man die obige Etikettierung bei, liegt es nahe, das Resultat dieser Annäherung mit einem Chiasmus zu beschreiben. Somit hätte man es mit ‚naturalistischer Lyrik‘ (Rimbaud) und mit ‚symbolistischer Prosa‘ (Zola) zu tun.40 Des Weiteren wirft die bemerkenswerte Nähe beider Texte die Frage auf, ob die Autoren einander rezipiert haben, oder ob ihre historisierende Verwendung des Topos einfach ‚in der Luft‘ lag? Angesichts der komplizierten Editionsgeschichte des Dormeur du val erscheint Ersteres wohl eher unwahrscheinlich.

38 Diese betont kritische Haltung ist dann auch ein Bindeglied der Novellen des renommierten Sammelbandes. 39 In seinem frühen Sonett Voyelles (1871) versucht sich Rimbaud zwar bereits an einer Alchemie des Wortes. Gleichwohl ist es (noch) nicht eigentlich symbolistisch – wenn man sein Werk überhaupt eindeutig etikettieren möchte. Auch Zolas nouvelle entspricht nicht wirklich der Poetik des roman expérimental. Die Erzählhaltung erinnert vielmehr an seinen Vorläufer Honoré de Balzac (1799–1850). Daher werden die geläufigen Adjektive ‚symbolistisch‘ und ‚naturalistisch‘ an dieser Stelle in einfache Anführungszeichen gesetzt. 40 Der späte Zola wird sich bekanntlich gönnerhaft als Symbolisten bezeichnen.

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Letzteres aber drängt sich umso mehr auf, als dass Rimbaud und Zola in Vénus anadyomène (1870) und Nana (1880) die Göttin der Liebe mit denselben Mitteln in zeitgenössische Kurtisanen verwandeln, deren Körper einem alters- und krankheitsbedingtem Verfall ausgesetzt sind. Auch hier wird eine topische Beschreibung bewusst in ihr Gegenteil verkehrt.41 Auch hier wird das Publikum enttäuscht, indem sich der ideale als ein ruinöser Körper erweist: Rimbauds Venus ist von der Lustseuche gezeichnet, Zolas Nana wird am Ende des Romans gar spektakulär verwesen.42 So wird klar, dass die Zerstörung des Alten im neunzehnten Jahrhundert ein literarisches Potential birgt, das sich sowohl mit blankem Zynismus (Rimbaud) als auch mit wissenschaftlichem Interesse und einem ausgeprägten Sinn für den literarischen Markt (Zola) in verschiedenen Gattungen ausschöpfen lässt.43 Beide Autoren sind so vertraut mit der literarischen Tradition, dass sie sie im Namen einer ‚symbolistischen‘ oder ‚naturalistischen‘ Modernität zertrümmern, ohne sich ihrer dabei gänzlich zu entledigen. Der locus amoenus bildet den Ausgangspunkt beider Texte. Und er scheint – als Bedingung der Möglichkeit – durch sie hindurch. Für Rimbaud und Zola ist das (noch) nicht weiter problematisch. Die auf sie folgenden Zerstörungskünstler – allen voran Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944) – werden hingegen genau daran scheitern.44

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41 Dabei agieren beide Autoren in einem wesentlich deutlicher zu bestimmenden Kontext. So erinnert Alexandre Cabanels Naissance de Vénus (1863) den Kunsthistoriker Hubertus Kohle weit weniger an eine Göttin als an ein Pin-up-Girl. Vgl. Kohle 2011. Und die Erfindung der anatomischen Venus belegt einmal mehr die Pathologisierung des göttlichen Körpers, von der auch hier die Rede ist. 42 Zolas Nana ist nicht zuletzt eine allegorische Figuration des untergehendes Kaiserreichs. Vgl. Zeller 2016. 43 Den poète maudit und den (naturalistischen) Großschriftsteller unterscheidet nicht zuletzt ihr Geschäftssinn. Im Gegensatz zu Rimbaud ist Zola ein exzellenter Vermarkter seiner selbst. Es wäre ihm vermutlich nicht in den Sinn gekommen, den Romanzyklus der Rougon-Macquart ohne jedwede finanzielle Gegenleistung anzugehen. 44 Vgl. dazu u. a. Ehrlicher 2001.  

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Simona Oberto

Die verwesende Schlossruine von Lourps in En rade: Huysmans’ Radikalisierung der Schauerromantik Gerade einmal zwei Jahre nach dem äußerst erfolgreichen Roman À rebours (1884) erschienen, gehört En rade zu den weniger bekannten Werken des im fin de siècle prominent gewordenen Joris-Karl Huysmans. Der Text wurde zwischen November 1886 und April 1887 als Feuilletonroman in der Revue Indépendante veröffentlicht, die zu einem wichtigen Organ des Symbolismus aufsteigen sollte. Sehr durchwachsene Reaktionen folgten auf die Publikation.1 So heißt es in einer beißenden Rezension in der konservativen Tageszeitung La Liberté, die den Damen von der Lektüre des Romans strengstens abrät, „l’ouvrage n’est pas précisément une bonbonnière“ (Anonym 1887, 2, Sp. 4–6). Der Autor des Artikels nimmt dabei an der Darstellungsweise und an der Sprache des Textes Anstoß, die sich abscheulicher Gegenstände bediene, etwa Krankheiten, und dies sei auf eine ganz bestimmte Ursache zurückzuführen: „Notez bien que l’auteur est un naturaliste. C’est un des disciples en vue de M. Zola“ (Anonym 1887, 2, Sp. 4). Und in der Tat erfährt man aus einem Brief des „pape Zola“ (Anonym 1887, 2, Sp. 4)2 an Huysmans von dessen scheinbar wohlwollender Aufnahme von En rade. Allerdings täuschen Zolas Bemerkungen über die Struktur des Werkes und insbesondere über die Verschränkung der naturalistischen mit einer phantastischen Komponente darin kaum über eine grundsätzliche Ablehnung von Huysmans’ künstlerischen Entscheidungen hinweg: „très sincèrement, j’aurais préféré les paysans d’un côté, les rêves de l’autre. Cela, sans doute, était plus ordinaire ; […] Il me semble que l’opposition que vous avez voulue ne se produit pas, ou du moins se

1 „Malgré des accents qui nous frappent, le livre dérouta l’époque, se vendit mal. Il n’eut, en quinze ans, que trois éditions.“; Lefai 1953, 21. Der Symbolist Stéphane Mallarmé erhebt En rade zum eigentlichen Meisterwerk Huysmans’ und stellt den Roman sogar über das von ihm ausgesprochen bewunderte und im Gedicht Prose pour des Esseintes zelebrierte À rebours: „Je crois que c’est votre maîtresse œuvre jusqu’ici ; vous connaissez ma prédilection pour À rebours mais c’est un livre exceptionnel“; siehe den Brief [DLIV ter. – À Joris-Karl Huysmans] [8.06.1887] in Mallarmé 2017, 39 (Supplément au tome III); ebenso positive Reaktionen folgen von Seiten Villiers de l’Isle-Adams sowie Paul Verlaines, siehe Bloy et al. 1980, 80 (Brief 68), 86 (Brief 77); siehe ferner Breton 1992, 996–1004; de Gregorio Cirillo 1999, hier insbes. 24–30 sowie die Website huysmans.org: http://huysmans.org/reviews/raderev/raderevs.htm (5. September 2019). 2 In Sp. 6 spricht der Autor des Artikels vom Naturalismus als einer „Église divisée par le schisme. Une partie des dévots s’est levée ce matin même contre pape Zola“. https://doi.org/10.1515/9783110757811-008

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produit avec une confusion qui n’est pas de l’art. […] N’importe…“ (Zola 1908, 284–285). Huysmans wird das negative Urteil mit Fassung tragen und es im Antwortbrief in eine Metapher verwandeln: Er teile Zolas Meinung zum eigenen Roman, der wie eine Hose mit zwei sehr unterschiedlichen Hosenbeinen sei, von welchen das eine die Realität, das andere die Luft berühre.3 Die soeben lediglich angedeutete Vielfalt der Urteile über den Text mag verwundern, kommt En rade doch nach einer oberflächlichen Betrachtung recht harmlos daher. In naturalistischer Manier erzählt der Text zunächst die Geschichte des Ehepaares Jacques und Louise Marles, die in Folge fehlgeschlagener Spekulationen in finanzielle Not geraten sind und auf der Flucht vor ihren Gläubigern die Hauptstadt verlassen müssen. Sie ziehen also in die Brie, wo sie von Louises Verwandten, dem Onkel Antoine und der Tante Norine, aufgenommen werden. Genauer gesagt, dürfen die beiden ihren Aufenthalt im verlassenen Schloss von Lourps verbringen, dessen Verwalter père Antoine ist.4 Doch der Rückzug aufs Land, der mit der bürgerlichen Unternehmung der villégiature verwechselt werden könnte,5 stellt sich alsbald in jeglicher Hinsicht als Debakel heraus. Die ländliche Idylle wird von Anfang an gebrochen, denn das Schloss ist nur mehr eine Ruine und damit als Wohnstätte ungeeignet, während das Landleben von Unrat, Armut und Belanglosigkeit bestimmt ist und von der Gier sowie den betrügerischen Machenschaften der Dorfleute erschwert wird. Überdies verschlechtert sich Louises Nervenkrankheit zunehmend – ebenso wie die Finanzen der beiden – und es kommt zur vollkommenen Entfremdung der Gatten unter unausgesprochenen gegenseitigen Vorwürfen. Durch die Intervention eines Freundes wird den Marles schließlich die Rückkehr nach Paris gelingen, wenn auch unter vollkommen geänderten Bedingungen. Es muss demnach das andere ‚Hosenbein‘ sein, dasjenige, ‚das die Luft berührt‘, um noch einmal Huysmans’ Metapher aufzugreifen, das den besonderen Stellenwert des Romans ausmacht. Von Anbeginn begleitet nämlich eine düstere Stimmung Jacques’ Aufenthalt in Lourps und insbesondere seine Interaktion mit der Schlossruine, die mehr als nur ein bloßer Schauplatz ist. Nicht nur spielen sich in ihr unheimliche Ereignisse ab, sie entwickelt sich zu einer regelrechten Bedrohung für die Insassen, deren Stimmungen sie spiegelt und deren Körper sowie

3 Lettre LII, vers le 2 juin 1887, zit. nach Huysmans 1953, 126–129, hier 127: „Quant à votre opinion sur les jambes différentes de ce pantalon, l’une réelle, l’autre en air, elle est hélas ! la mienne.“ 4 Die Charaktergestaltung dieser Figur im Roman sowie der Hinweis darauf, dass sie preußische Soldaten beherbergt habe, erinnert an die ebenfalls Antoine benannte Figur in Maupassants Novelle „Saint-Antoine“; siehe Maupassant 2014. 5 Anonym 1887, 2, Sp. 4 „Le titre est flatteur et rafraîchissant ; on croit sentir les brises de mer“; siehe hierzu auch Borie 1984, 9–12.

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Geist sie ‚infiziert‘.6 Huysmans verdichtet dabei die räumlich-materielle Dimension der Ruine in Gestalt des Schlosses mit der abstrakten Dimension des Ruins, die sich im Bereich des Finanziellen realisiert, in der psycho-physischen Degeneration der Protagonistin und den neurotischen Zuständen des Protagonisten sowie im Zusammenbruch ethischer Maßstäbe zwischen dem Ehepaar.7 Mit Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand unseres Bandes, einer Ästhetik und Poetik der Ruinen, soll es im Folgenden darum gehen, aufzuzeigen, wie Huysmans das Motiv der Ruine in seinem Roman zum Ausgangspunkt einer komplexen Auseinandersetzung mit der Tradition der Romantik und insbesondere der Schwarzen Romantik macht. Wichtiger als das Aufzeigen der bestehenden Kontinuitäten wird es dabei sein, auf das Spannungsverhältnis einzugehen, das aus der Umformung der romantischen Elemente hervorgeht, das sowohl poetologische als auch ästhetische Implikationen hat. Die spezifischen Verfahren, die aus diesem Verhältnis resultieren – Entidealisierung, Radikalisierung, Verfremdung – erlauben es, Huysmans’ Werk innerhalb derjenigen Strömung zu verorten, die mit Praz gesprochen als „estremo romanticismo“ verstanden wird, der Dekadenz (Praz 2008, 329), die Huysmans mit À rebours bereits entscheidend geprägt hatte. In ihrer äußersten Konsequenz betrifft dies die Fragen nach der Stellung des Subjekts im und zum sozialen und gesellschaftlichen Raum seiner historischen Zeit, nach den Möglichkeiten der Erkenntnis und der Rolle von Kunst im Erkenntnisprozess. Zur Erörterung der skizzierten Zusammenhänge wird die vorliegende Untersuchung in drei Schritten vorgehen: Nach einer Einführung in die spezifische Ästhetik des Hässlichen von Huysmans’ Schlossruine soll zunächst die schauerromantische Dimension des Textes beleuchtet werden. Hierbei sollen von der Forschung bislang nicht oder nur unzureichend berücksichtigte Intertexte in den Vordergrund treten, und zwar insbesondere Edgar Allan Poes The Fall of the House of Usher in der Übersetzung durch Charles Baudelaire (1857) sowie Théophile Gautiers Le capitaine Fracasse (1863), und nach ihrer Funktion in En rade befragt werden. In diesem Zusammenhang wird es ferner darum gehen, zu zeigen, wie

6 „Le château est une figure plastique, […] dont la matérialité est la forme d’un état d’âme“; Lhermitte 2012, 262. Auf den Seiten 257 und 260 heißt es ferner: „le château renferme […] dans les propres murailles ou dans ses soubassements le germe mortel […] du pourrissement, de la décomposition et de l’extinction. […] Même quand il n’en est pas à l’origine, le château réveille et exacerbe la maladie de ses hôtes […], il concentre les symptômes du ‹ mal › fin de siècle, la névrose, dont les écrivains suggèrent la double nature : physiologique et morale“. 7 Der französische Begriff ‚ruine‘ ist polysem und umfasst beide Bedeutungen dessen, was in der deutschen Sprache unter ‚Ruin‘ und ‚Ruine‘ definiert wird. Siehe zum Verhältnis von Ruin und Ruine grundsätzlich Hörisch 1996.

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strukturellen diskursiven Verfahren der romantischen Poetik, darunter die Korrespondenz und der dialektische Kontrast von Elementen, im Roman systematisch das synthetisierende Prinzip entzogen wird, das Ideale, das auch die Aufnahme und Darstellung von Gegenständen rechtfertigte, die nicht dem ästhetischen Bereich des Schönen zugehörten. Die Absage an den romantischen Idealismus wird bei Huysmans nicht nur durch die in Richtung des Pathologischen und Abstoßenden forcierte Ästhetik des Hässlichen deutlich, vielmehr betrifft sie auch die mit dem Motiv der Ruine einhergehende Interpretation der Geschichte und das Verständnis von Zeit, die im Zeichen des Verfalls stehen. In einem dritten Schritt soll gezeigt werden, wie die Ruine im Verbund mit dem Traum, einem weiteren klassischen Motiv der Romantik, in Anlehnung an deren Kontrastpoetik als prachtvoller Palast ‚rekonstruiert‘ wird. Im Einklang mit schauerromantischen Doppelungsstrategien wird dieser einerseits zum Resonanzraum der Psyche des Protagonisten, zu einem „espace du dedans“ (Lhermitte 2012, 262),8 und verleiht dessen verdrängtem Eros eine Gestalt.9 Andererseits erfüllt der Traum eine metapoetische Funktion, die nicht nur darin besteht, das Imaginäre im Bereich der Fiktion zu potenzieren,10 sondern auch in einem Spiel mit romantischen Autoritätsdiskursen, wie anhand eines weiteren close reading zu Gautiers Histoire du romantisme evident werden soll.

1 Eine Ruine im Zeichen der Krankheit: Huysmans’ Ästhetik des Hässlichen Huysmans hat mit dem Schloss von Lourps für seinen Roman eine realexistierende Kulisse gewählt, die er persönlich gut kannte und literarisch bereits in À rebours wirkungsvoll fruchtbar gemacht hatte.11 Aus der Biographie sowie aus der Korrespondenz des Autors, auf die an dieser Stelle lediglich hingewiesen sei, weiß man, dass er es zwischen 1881 und 1885 wohl insgesamt drei Mal besucht und sich dort gemeinsam mit der ebenfalls an einer Nervenkrankheit leidenden Lebensgefährtin Anna Meunier, ihrer Tochter und Schwester sowie dem Schriftsteller Léon Bloy aufgehalten hat, mit dem er zu diesem Zeitpunkt noch befreun-

8 Lhermitte 2012, 262. 9 Vgl. Lhermitte 2012, 260: „la pathologie dominante est l’impuissance sexuelle qui frappe ici hommes et femmes“. 10 Vgl. Alt 2005, 6. 11 Das Schloss befindet sich im Département Seine-et-Marne, in der östlichen Île-de-France. Siehe dazu die Notice in Huysmans 1977, 79–89.

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det war.12 Historisch ist hingegen wenig über das Schloss bekannt, das ursprünglich dem mittelalterlichen Adelsgeschlecht der Marquis von Saint-Phalle gehörte und im 19. Jahrhundert in den Besitz eines Bürgerlichen, des Blumenhändlers Simonot wechseln sollte.13 Zu diesem Zeitpunkt hatte das Schloss bereits seine Integrität eingebüßt und präsentierte sich dem Paris-überdrüssigen Huysmans im Zustand einer Ruine.14 In einem Brief vom 26. August 1885 macht der Autor seine Adressaten mit der Gestalt der Schlossanlage bekannt. Interessant ist daran zum einen, dass er eine Reihe von konkreten Schwierigkeiten des Alltags beschreibt, denen auch die fiktiven Schlossbewohner Jacques und Louise Marles begegnen werden, zum anderen, dass er seinen Aufenthalt terminologisch im Widerstreit von Romantik und Naturalismus fasst: … Ce que je deviens, mes chers amis, je suis mal et bien – romantiquement et naturalistement [sic]. J’ai pris possession du château mort de Lourps, un château d’assez bel air, avec un pigeonnier, ses anciens fossés, ses 200 chambres. Le parc, saccagé et acheté bribes à bribes par des paysans, est encore délicieux, revenu à l’état de nature, poussant des fleurs au hasard, plein d’allées de bois délicieuses pour des promenades lentes, […] une débauche de colombes et d’hirondelles vacarmant dans les combles du château des marquis de SaintPhale, abandonné, ruiné, émietté, exquis avec ses caveaux des vieux temps, ses espaliers, sa porte donnant sur une vieille église […]. Voilà le côté romantique, l’endroit – je le savoure fort, rêvassant dans ces jardins solitaires et détraqués […]. Quant au côté naturaliste, il est autre. C’est le radeau de la Méduse !! – On est plus loin de tout que si l’on était dans une île, loin de tout continent. […] [S]ur les 200 chambres du château, 5 ou 6 sont habitables, les autres s’effondrent ou sont habitées par les oiseaux. Et l’installation est désolante. […] La question de la mangeaille prend des proportions inouïes et, chose plus grave, la question pécuniaire dévient simplement effrayante. […] Ça va mal finir. […] [A]joutez à cela que, dans cet isolement, rien ne ferme, ni fenêtres ni portes, […] que la bourgeoisie [i.e. die Damen] a peur, la nuit, dans cette bâtisse mal hantée, suivant les dictons du pays. (Bloy et al. 1980, 38–39)15

12 Vgl. Deffoux 1935; Lefai 1953; Fumaroli 1977, 397–398. Persönliche Stellungnahmen von Huysmans zu Lourps finden sich in Huysmans 1953, 108–110 (Lettre XLI) Bloy et al. 1980, 38–40 (Brief 25); Huysmans 1974. Zum Aufenthalt von Bloy in Lourps siehe die Briefe 26–28 in Bloy et al. 1980, 41–45. 13 Vgl. ER, 179. Im Folgenden wird En rade von Huysmans mit der Sigle ER zitiert. Siehe auch Fumaroli 1977, 397. 14 Der Geschichte und dem Zustand der Schlossruine von Lourps, die ursprünglich abgerissen werden sollte, jedoch restauriert wurde, haben die Mitglieder der 1927 gegründeten Société J.-K. Huysmans zahlreiche Untersuchungen gewidmet: Joubert 1978; Langé 1930a, 1930b, 1937; Martineau 1938. 15 Siehe auch Lettre XLI vom 12. Juli 1884 aus Jutigny an Zola, in welchem Huysmans vom Landleben, den Bauern und den Rindern erzählt, zu welchen er sich Notizen macht; Huysmans 1953, 108–110.

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Aus einer romantischen Perspektive, wie es im Zitat heißt, sei das „tote Schloss“ entzückend, mit seinem Taubenschlag, seinen Gräben und Gruften, der alten Kirche, vor allem aber der in den Naturzustand zurückgekehrten Landschaft des Parks und des Gartens, in welchen sich wunderbare Spaziergänge unternehmen ließen und die sich vorzüglich für Tagträumereien eigneten. Aus einer naturalistischen Perspektive kippt der pittoreske Eindruck hingegen, um Sorgen praktischer Art Platz zu machen: Von über 200 Räumen sind gerade einmal fünf oder sechs bewohnbar, während die anderen Zimmer der Zeit und den Vögeln anheimgefallen sind; die Lebensmittelversorgung ist schwierig und über die Maßen kostspielig, sodass die Finanzlage zunehmend erschreckend wird; schließlich versetzen die Dorfleute die „bourgeoisie“ mit Spukgeschickten über die Ruine in Angst. Was das generelle Unwohlsein komplettiert, ist ferner die vollkommene Einsamkeit, die mit Verweis auf Théodore Géricaults Gemälde Le Radeau de la Méduse (1818–1819) kolossale Dimensionen annimmt und die Pariser mit den darauf abgebildeten Schiffbrüchigen auf hoher See vergleicht.16 Das Zwischenfazit lautet demnach, „Ça va mal finir“, der Aufenthalt werde kein gutes Ende nehmen. Dem Leser von En rade werden eine Vielzahl an Entsprechungen (auto‑)biographischer und deskriptiver Art auffallen, etwa mit Hinblick auf die neurologischen Beschwerden der weiblichen Protagonistin oder die finanziellen Engpässe.17 Wie die Mitglieder der Société J.-K. Huysmans in mehreren Studien herausgestellt haben, achtet der Naturalist Huysmans überdies darauf, seine fiktive Schlossruine realitätsgetreu abzubilden: So entsprechen ihre Architektur, Struktur und Historie jenen des realen Gebäudes.18 Durchaus typisch für den Naturalismus ist im Roman auch, dass die Schilderung der Ereignisse durch eine extra-heterodiegetische Erzählinstanz erfolgt, die sich überwiegend einer inneren

16 Dasselbe Gemälde wird im dritten Kapitel von Émile Zolas L’Assommoir (1877) thematisiert, in welchem die Hochzeitsgesellschaft der beiden Protagonisten Gervaise und Coupeau unter anderem den Louvre besucht. Géricaults Radeau de la Méduse begegnet ihnen dabei als erstes und es lässt sich auch in diesem Fall symbolisch interpretieren: Es bezeichnet den Zustand der Arbeiter, die nicht nur im abstrakten Sinne aufgrund ihres Mangels an Bildung im Museum ‚gestrandet‘ sind, sondern auch drohen, aus den Räumlichkeiten nicht mehr heraus zu finden. Vgl. Zola 2008, hier 85–90. 17 Siehe hierzu de Gregorio Cirillo 1999, 85–93; vgl. ER, 134. 18 Siehe hierzu Joubert 1978; Galichet 1987. Deffoux macht uns allerdings darauf aufmerksam, dass Huysmans bei der Anzahl an Zimmern stark übertrieben habe: „si l’on interroge les anciens du pays, ils sont d’accord pour déclarer que Huysmans et Bloy exagéraient en parlant de deux ou trois cents chambres, alors que le « château mort » en comptait au plus une cinquantaine“ (Deffoux 1935, 197).

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Fokalisierung bedient, welche mit dem Perspektive der männlichen Hauptfigur Jacques übereinstimmt.19 Diese ist es denn auch, welche man gleich zu Beginn des ersten Kapitels auf ihrem äußerst unangenehmen Weg nach Lourps begleitet. Jacques ist in der vollkommenen Einsamkeit der Dämmerung zu Fuß unterwegs und von einer tiefen Verzweiflung über den Verlust seines gesamten Vermögens gequält, der zum einen die Demütigung des sozialen Absturzes bedeutet,20 zum anderen unverkennbar mit dem mysteriösen Leiden von Louise in Verbindung steht. Dieses lässt selbst die Spezialisten ratlos zurück, sodass Jacques auf seinem Weg zum Schloss dahinter eine Krankheit des Geistes mutmaßt: „Depuis cette faillite qui la jetait au rancart, […] la maladie s’était affilée et accrue ; […] la maladie semblait donc surtout spirituelle, les événements l’avançant ou la retenant, selon qu’ils étaient déplorables ou propices“ (ER, 42). Angesichts dessen bildet Lourps für das unglückliche Paar den einzigen Zufluchtsort, die titelgebende „rade“: „C’était là le seul refuge […]; abandonnés par tout le monde, dès la débâcle, ils pensèrent à chercher un abri, une rade, où ils pourraient jeter l’ancre […] pendant un passager armistice, avant que de rentrer à Paris pour commencer la lutte“ (ER, 41).21 In Analogie zum oben zitierten Brief dient eine nautische Metaphorik dazu, einen Ausnahmezustand zu beschreiben, der ein martialisches Ausmaß annimmt („armistice“; „lutte“). Der Rückzug aufs Land soll ihnen so eine vorübergehende Waffenruhe verschaffen, bevor sie in der Hauptstadt erneut das Schlachtfeld des Kapitals betreten. Jacques’ diffuse Ängste finden dabei eine Korrespondenz in der umgebenden Landschaft, die im ersten Kapitel insbesondere durch gewisse Manifestationen des Lichts in der Dämmerung erzeugt werden. Der Zeitpunkt der Anreise ist dabei keineswegs zufällig, deutet er doch auf die Schwellenzeit zwischen Tag und Nacht, die in Richtung der Dunkelheit progrediert, die im übertragenen Sinne auch den Tod und damit die Vergänglichkeit bedeuten kann. Die Dämmerung gehört ferner zu den privilegierten Momenten für die Einkehr und die Naturbetrach-

19 Eine Ausnahme bildet das sechste Kapitel des Romans, in dem auch die Perspektive von Louise präsentiert wird. 20 Siehe ER, 41–43. 21 Das breite semantische Spektrum der titelgebenden Wendung ‚en rade‘, die einer ursprünglich nautischen Metaphorik entstammt und den Zustand eines Schiffes bezeichnet, das im sicheren Hafen angelegt, darauf wartet, dass der Sturm vorbeizieht (16. Jh.), bis zu seiner späteren Bedeutung, die den Zustand des Ausgeschlossen-Seins sowie der Verlassenheit und Einsamkeit beschreibt, schlägt sich so in der Handlung nieder. Siehe dazu Borie 1984, 8; Artikel Rade1. In: CNRTL, https://www.cnrtl.fr/lexicographie/rade (2. April 2020); siehe ferner zum „valore polisemico“ sowie dem „aspetto anfibologico della titolatura“ de Gregorio Cirillo 1999, 37–42.

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tung des romantischen Subjekts, etwa in Alphonse de Lamartines L’Isolement oder in Victor Hugos Soleils couchants.22 Bezeichnenderweise ist die erste Konstruktion, der Jacques begegnet, ein Friedhof, der institutionalisierte Ort des Todes, an dem entlang ein Pfad über weite Felder führt. Kurz darauf wird er der schwarzen Gemäuer einer alten Kirche gewahr, über welcher stille Flüsse roter Wolken fließen und die ihn trotz ihrer unheimlichen Erscheinung in einen Zustand tröstlicher Melancholie versetzen.23 Letzterer kippt jedoch kurz darauf unweigerlich bei der Betrachtung der Landschaft, die sich hinter ihm wie ein Abgrund auftut, dessen Boden sich in den unendlichen Tiefen der Dunkelheit verliert (vgl. ER, 44). Erneut in einem Zustand heftiger Erregtheit gelangt Jacques endlich zum Schloss von Lourps als sich die letzten Strahlen des brennenden Himmels im Sonnenuntergang in ein „firmament de cendre“ verwandeln: des braises mal consumées rougeoyaient dans la fumée des nuages et éclairaient le château par derrière […]. Ainsi éclairé, le château semblait une ruine calcinée, derrière laquelle un incendie mal éteint couvait. […] La vision de ce château qui paraissait brûler sourdement encore, exaspéra son état d’agitation nerveuse […]. (ER, 45)

Die erhoffte Erleichterung am Ziel der Reise bleibt demnach aus: Das Schloss präsentiert sich im Zustand seiner Zersetzung und damit von vornherein im Zeichen des Verfalls, als hätte das lodernde Feuer der letzten Abendröte einen Prozess der Kalzinierung in Gang gesetzt, dessen Endprodukt eine „masse pâle“ (ER, 47) ist. Die besondere Beschaffenheit der Lichtverhältnisse, vor allem die Röte und die Glut der untergehenden Sonne, aber auch ihr Kontrast zum aschfarbenen Himmel lassen sich als Erwähnung der romantischen Tradition und als Evokation von Hugos oben genanntem Zyklus aus sechs Gedichten deuten.24 Vor allem im ersten der Soleils couchants ist die Feuermetaphorik des Himmels sehr präsent:

22 Siehe Lamartine 1963, v. 2 und 10; Hugo 1964a, im Folgenden mit Angabe der Gedicht- und Verszahl im Haupttext zititert. Siehe hierzu grundsätzlich Warning 1997, hier insbes. 183–190. Als ein Verweis auf die Romantik ließe sich auch das Incipit des vierten Kapitels von En rade verstehen „Le lendemain, dès l’aube, vers les quatre heures“ (91), das Hugos Incipit „Demain, dès l’aube, à l’heure où blanchit la campagne“ aus dem gleichnamigen Gedicht der Sammlung Les Contemplations (1856) in Worlaut und Satzstruktur evoziert. 23 ER, 43–44: „une grande bâtisse emplissait le ciel […] aux traits noirs et durs, au-dessus de laquelle coulaient des fleuves silencieux de nuées rouges. […] La personnalité de ses angoisses avait disparu […] pour se combiner avec cette indicible mélancolie qu’exhalent les paysages assoupis sous le pesant repos des soirs […] lénifiant la certitude des exactes souffrances par son mystère, le soulagea“. 24 Die Begrifflichkeit zur Analyse der intertextuellen Phänomene erfolgt in Anlehnung an Hempfer 1991.

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„nuages ardents“ (Hugo 1964a, I, v. 23); „soleil […] Comme un globe d’airain, qui, rouge, est rejeté/ Dans les fournaises remuées/ […] L’ardente écume des nuées“ (Hugo 1964a, I, v. 38–42). Im zweiten Gedicht findet sich hingegen die chromatische Gegenüberstellung des Feurigen und des Aschfarbenen bzw. Grauen, „succédant au couchant rouge et sombre,/ Le crépuscule gris meurt“ (Hugo 1964a, II, v. 5–6), dem kurz darauf die Erwähnung eines Kirchenbaus folgt („sa cathédrale“; Hugo 1964a, II, v. 8) sowie die Vorstellung eines sich unter dem lyrischen Sprecher auftuenden Abgrundes („sous moi s’ouvre comme un abîme“; Hugo 1964a, II, v. 14), zwei Elemente – Kirche und Abgrund – die auch in En rade und in derselben Reihenfolge erwähnt werden. Im dritten Gedicht von Hugo kommt es zu einer Gegenüberstellung von Stadt und Land, bei welcher der lyrische Sprecher, der sich wie Jacques auf der Flucht aus Paris befindet (Hugo 1964a, III, vv. 7–8), es genießt, „aux feux du couchant sombre […]/ dans les champs“ (Hugo 1964a, III, vv. 1–2) den eigenen Schatten wachsen zu sehen. Wichtig ist dabei zu betonen, dass der Himmel in der Dämmerung, welcher durch die Phantasie des lyrischen Sprechers von Hugo immer neue Gestalten annimmt, indessen stets Verweis („un mystère est au fond de leur grave beauté“; Hugo 1964a, I, v. 46) und Bestandteil einer universellen Ordnung ist („ordre universel“; Hugo 1964a, IV, v. 17), die vom christlichen Gott regiert wird („C’est Dieu qui les suspend“; Hugo 1964a, I, v. 34). In dieser Welt ist der Künstler Kraft seiner Imagination am Schöpfungsakt beteiligt und wirft im eigenbezüglichen Akt der Selbstermächtigung („j’aime à voir […] croître et marcher mon ombre“; Hugo 1964a, III, v. 2, Kursivierung S.O.) regelrecht den eigenen Schatten, den eigenen Geltungsanspruch auf sie voraus. Von ebendieser metaphysischen Ordnung gibt es in En rade keine Spur, die Landschaft spiegelt Phänomene wider, die sich im Inneren des Individuums abspielen, jedoch nicht darüber hinausweisen. In einer solchermaßen konzipierten Welt ist das kreative Individuum stärker auf die immanente Gegenständlichkeit der Dinge angewiesen, die er zwar wie das romantische Subjekt ästhetisch nach Belieben besetzen könnte; diese Dinge können aber nur mehr aufeinander verweisen, ihnen fehlt eine transzendente Bezugsgröße, und was noch mehr ist, dem Individuum selbst fehlt es an kreativem Potential und Willen. Indessen scheint Huysmans ebendies auf der Ebene des discours durch die Aufmerksamkeit auf den Bereich der Intertextualität zu kompensieren bzw., um den historischen Terminus zu verwenden, auf die Nachahmung, sodass die Literatur selbst zur Bezugsgröße seines Textes aufsteigt. Die wenigen bislang angeführten Oppositionen (Furcht und Hoffnung, Feuer und Asche) werden sich im Verlauf der Handlung und insbesondere mit Hinblick auf die Ruine um ein Vielfaches vermehren. Es lässt sich beobachten, dass ihre Beschreibung im Einklang mit der romantischen Kontrastpoetik in einer fortwährenden Dialektik von Tag und Nacht, Außen und Innen, Realität und Traum, Licht

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und Dunkelheit, Leben und Tod begriffen ist, aus welcher immer neue Filiationen entstehen. Ebenso wenig einladend wie das Äußere der Ruine wird ab der ersten Nacht das Innere des Schlosses erscheinen. Jacques’ Eintritt darin erfolgt über einen Gefängnisgang mit einem Kreuzrippengewölbe. Dieser führt ihn über ein riesiges Vestibül und ein steinernes Treppenhaus, in welchem der Wind tost, in die erste Etage, die vom unheimlichen Geräusch knarrender Türen, aber auch rostiger Ketten erfüllt ist. Dort hat seine Frau das einzig bewohnbare Zimmer für sie hergerichtet, das trotz ihrer Bemühungen nach morschem Holz und Feuchtigkeit riecht und darüber hinaus spärlich und schlecht eingerichtet ist – ein „logis mort“, wie es der Melancholiker definiert: „c’était l’abandon le plus complet, la glace du sépulcre, la dissolution des murs battus par le vent et les averses“ (ER, 48–50). An dieser Stelle kehren nicht nur weitere Elemente aus Huysmans’ Brief in der Fiktion wieder, auch die negativen Konnotate des Aufenthalts, Gefangenschaft, Tod und Auflösung häufen sich. Gleich in der ersten Nacht ihres Aufenthalts wird Jacques ferner durch einen plötzlichen Schrei seiner Frau, die Schritte im Treppenhaus vernommen hat, aus der ersten Traumvision gerissen. Auf der Jagd nach dem Eindringling versucht der Protagonist seine ungewöhnliche Angst, eine „peur non d’un danger connu, […] devant un homme […], mais une peur de l’inconnu“ (ER, 66) in den Griff zu bekommen. Ausgerechnet die aberwitzigsten Geschichten, etwa dass es im Schloss spuke („s’imaginant le château hanté“; ER, 66), sollen ihm die Furcht austreiben.25 Wo die Vernunft nicht ausreicht, muss die Phantasie aushelfen, allerdings reicht Jacques’ Imaginationsleistung dazu nicht aus, es bleibt ihm nur die Feststellung der „bruits inquiétants dans un désert noir“ (ER, 66). Zwar weist der Widersacher, dem Jacques schließlich begegnet, unheimliche und phantastische Eigenschaften auf, denn er greift mit der Lautstärke eines tosenden Sturms und „deux rouelles de phosphore en flammes“ (ER, 66–67) unter schrillen Rufen an. Nach einem unspektakulär kurzen Kampf wird sich jedoch herausstellen, dass es sich lediglich um einen riesigen Kauz handelt. Das imaginierte Unheimliche offenbart somit seine enttäuschende reale Banalität.26 Bei Tage präsentiert sich das Schloss seinen Bewohnern hingegen freundlicher, sodass Jacques es nach und nach in seiner Gänze erforscht, mit der Absicht seinem ennui zu entfliehen. Ausgehend vom Innenhof blickt er beim Anbruch des

25 ER, 66: „allant du coup aux idées les plus impossibles, les plus romanesques, le plus folles“. 26 Gleichzeitig liest sich der Kauz mit den rotglühenden, brennenden ‚Phosphoraugen‘ wie ein Verweis auf Baudelaires Gedicht Les hiboux („Les hiboux se tiennent rangés/ […] Dardant leur œil rouge“ [vv. 2–4]; Baudelaire 1975, 67) sowie auf Villiers de l’Isle-Adams Erzählung L’Intersigne aus den Contes cruels (1883); Villiers de l’Isle-Adam 1983b, 272–273.

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zweiten Tages erstmals im Licht auf „le château, immense, avec une aile d’une étage percée de huit fenêtres, une tour carrée contenant l’escalier, puis, en retour d’équerre, une autre aile, avec les croisées du bas taillées en ogives“ (ER, 69). Der sonnenbeschienene Bau wird dabei anthropomorphisiert und nimmt die Physiognomie einer alten Frau an, die von der Zeit gekrümmt und den Elementen ausgehöhlt, ihren ‚Kopf‘ – die Fassade des Gesichts mit den wasserblauen Augen der Fenster –, der vom Dach wie von einem Hut bedeckt ist, einem bleichen Licht entgegenhält. Dieses erhellt ihre Haut und ihre geschminkten Wangen: Et cette bâtisse, cassée par l’âge […] élevait sa façade éclairée de croisées […] couleur d’eau, coiffée d’un toit en tuiles brunes […], dans un fluide de jour pâle qui blondissait sa peau hâlée de pierres. […] [U]n coup de soleil fardait la vieillesse du château dont les imposantes rides souriaient […] sur le rugueux épiderme de son crépi. (ER, 69–70)

Die freundliche Erscheinung der Ruine erweckt in Jacques die Hoffnung ihrer Wiedergeburt („renaître“) aus dem gegenwärtigen sepulkralen Zustand. Es bedürfte nur weniger Handgriffe, um ihr wieder Leben einzuhauchen. Diese Beschreibung des Schlosses offenbart dabei die erste intertextuelle Bezugnahme auf Théophile Gautiers umfangreichen Roman Le capitaine Fracasse (1863), der Elemente der Schauerromantik wiederaufnimmt.27 Das Werk handelt von den abenteuerlichen Ereignissen, die im trostlosen Leben des jungen, verarmten Baron de Sigognac eintreten, als eine Truppe von Schauspielern eines Nachts unvermittelt an das Tor seines „château en ruines“ (Gautier 1863, III) klopft. De Sigognac ist (wie Des Esseintes und Usher28) der Nachkomme eines ruinierten Adelsgeschlechts, das dem letzten ihrer Art lediglich das Schloss vermacht hat (Gautier 1863, 27–28). Von besonderer Relevanz ist dabei das allererste Kapitel des Romans, das mit Le Château de la Misère betitelt ist und den Leser in die „solitude, la misère et l’abandon“ einführt (Gautier 1863, 14), die sowohl auf den Zustand der Ruine zutreffen als auch auf die Existenz des Protagonisten (Abb. 1).

27 Eine Verbindung zwischen den Texten hat zuletzt Henri Lefai im Jahr 1953 angenommen, ohne ihr nachzugehen: „J’imagine qu’il y revoit ce Château de la Misère du Capitaine Fracasse“; Lefai 1953, 11. 28 Im Avant-propos (I–IV) erwähnt Gautier Poe explizit; Gautier 1863, II.

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Abb. 1: Doré 1866, Le Chateau de la Misère

Nicht nur die Einsamkeit und die Verlassenheit kommen wortwörtlich auch in En rade vor, um Ursachen für den allumfassenden Verfall zu beschreiben. Auch der Begriff der misère, der sowohl die Armut im abstrakten, emotionalen als auch im konkreten, finanziellen Sinne umfasst, wird von Huysmans aufgegriffen und indiziert, wie der Begriff der ruine, einen Zustand der doppelten, nämlich psychischen

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und monetären Belastung der Protagonisten.29 Indessen dient letzterer Begriff Gautier auch dazu, das Château de la Misère in seiner Spezifik eines durch Armut und Zerfall gezeichneten Bauwerks zu markieren, dem der Tod eingeschrieben ist, eine „maison morte“ (Gautier 1863, 10)30, die an Huysmans’ Wendung des „logis mort“ erinnert. Unter den zahlreichen Elementen, die deutliche Rekurse auf Gautiers Roman von Seiten Huysmans’ erkennen lassen,31 ist für die vorliegenden Belange zunächst die Beschreibung der vorderen Fassade des Schlosses bedeutsam: De larges plaques de lèpre jaune marbraient les tuiles brunies et désordonnées des toits, […] ; la rouille empêchait de tourner les girouettes, qui indiquaient toutes un vent différent ; […] sur les douze fenêtres de la façade, il y en avait huit barrées par des planches ; les deux autres montraient des vitres bouillonnées, tremblant, à la moindre pression de la bise […]. Entre ces fenêtres, le crépi, tombé par écailles comme les squammes [sic] d’une peau malade, mettait à nu des briques disjointes, des moellons effrités. (Gautier 1863, 2–3)

Dieser Darstellung ist jene des Schlosses von Lourps teilweise wortwörtlich angelehnt, so ist auch „sa façade“ von den „bises“, den Nordwinden strapaziert, besitzt ein „toit en tuiles brunes“ und wird als „peau“ beschrieben, als „epiderme“, deren „crépi“, Putz zwar nicht schuppt, aber doch runzelig ist („ruguex“; ER, 69– 70). Der in diesem Prätext aufscheinende Nexus von Bauwerk und Krankheit wird indessen, wie in Kürze gezeigt wird, von Huysmans radikalisiert. Im Rahmen derselben Entdeckungstour, die ihn an der Fassade des Schlosses innehalten lässt, stellt Jacques sodann fest, dass der obere Teil der Ruine (Obergeschoß und Dach) aus dem 18. Jahrhundert stammt, während die Grundfeste auf das Mittelalter zurückgehen, auf die Epoche der gotischen Kunst (ER, 69–71;175). Ebendiese vertikale Unterteilung spiegelt sich im Inneren der Ruine, in deren oberen Stockwerken sich die Wohnungen der Saint Phalle befanden und deren Souterrains sich in noch unerforschten, doch zugemauerten Kellergewölben unter-

29 Vgl. ER, 123 und 126: „Et maintenant qu’il n’avait plus d’argent du tout, que serait-ce donc ? […] c’est la déchéance morale et physique, la misère complète“; „la misère de son corps, […] désorbitée par les approches de la misère.“ 30 Huysmans wird in seiner Beschreibung der Ruine ebenfalls die beiden entscheidenden Begriffe wiederaufnehmen: „Vu devant, le château demeurait imposant, malgré la misère de sa tenue et le délabrement“ (ER, 74; Kursivierung durch Vf.in). 31 Eine eingehende Analyse würde den Rahmen und die Zielsetzung der vorliegenden Arbeit sprengen; es sei nur darauf hingewiesen, dass sich auch bei der Beschreibung der Innenräume der beiden Ruinen sehr zahlreiche Gemeinsamkeiten finden, z. B. ihre große Anzahl und der stets verfallene Zustand, die von Feuchtigkeit befallenen Wände, auf denen sich regelrechte geographische Karten ausbreiten oder eine Tapete, auf der „pampres“, also Weinranken abgebildet sind sowie die Präsenz einer Katze; siehe Gautier 1863, 6 und ER, 65 (das 2. Kapitel ist überhaupt sehr relevant für den Vergleich).  

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halb des Schlosses ausbreiten. Während letztere bis zur Kirche sowie in die Nachbardörfer reichen und damit intakt sind, herrscht in den Adelsgemächern, die sich wie ein Labyrinth über die beiden Flügel des Schlosses ausbreiten, die vollkommene Verwahrlosung, „cette chambre [i.e. das Schlafzimmer der Marquise] gardait une apparence de santé dans l’ombre, mais à la lumière, elle était d’une vieillesse exténuée, ignoble“ (ER, 85).32 Zu Staub verfallen und unkenntlich geworden, und zwar ebenso wie die Gräber der Marquis,33 breitet sich darin ein schwacher Duft aus, der zunächst lieblich erscheint: „il semblait la dernière émanation des senteurs oubliés du XVIIIe siècle, de ces senteurs à base de bergamote et de citron“ (ER, 86). Wenige Schritte weiter verwandelt sich die Ausdünstung des Zimmers jedoch in einen Grabesgeruch („puait la tombe“), die Jacques schlagartig in die Lage eines Grabschänders versetzt: „Il lui semblait violer une sépulture, la sépulture d’un âge révolu, d’un milieu défunt“ (ER, 86). In den soeben zitierten Zeilen bahnt sich eine Aufklärungskritik an, die vor allem für die gothic fiction von Bedeutung ist34 und sich sowohl gegen den Fortschrittsoptimismus der Aufklärung als auch gegen die sozialen Umwälzungen der Revolution wendet. Neben dem materiellen Verfall der Gegenstände aus dem siècle des lumières, die ausgerechnet bei Lichte besehen („à la lumière“), ihr nicht nur erschöpftes, über die Maßen beanspruchtes Alter offenbaren, sondern zugleich als „ignoble“, niederträchtig bzw. vulgär bezeichnet werden, trägt der Text die Unwiederbringlichkeit des Ancien régime, eines nicht nur historischen, sondern auch kulturellen Zeitalters und seines aristokratischen Milieus zu Grabe. Der Protagonist versucht dabei den Anschluss an letzteres in immer neuen, erfolglosen Anläufen herzustellen. Im Kontext der Kritik ist womöglich auch Jacques’ Ablehnung vernünftiger Ursachen und stattdessen der Rückzug in die Phantasie auf der Jagd nach dem Kauz in der ersten Nacht zu verorten. Diese Aufklärungskritik wird anhand eines weiteren Bestandteils der Außenanlage der Ruine, des Gartens, fortgeführt, der im eingangs zitierten Brief von Huysmans ebenfalls erwähnt wird. Der Garten spielt dabei eine besondere Rolle, denn er wird – nicht zuletzt vermittels einer weiteren intertextuellen Bezugnahme auf Gautiers Capitaine Fracasse – zu einer Allegorie der Geschichte und der Gesellschaft sowie des Daseins (in) der Ruine.35

32 ER, 85: „elle était sillonnée des vermicelles et taraudée par les termites. […] Quelle ruine !“ 33 ER, 179, 200–204: „de serpigineux ulcères de lichen et de mousse rongeaient les tombes dont les creuses inscriptions étaient depuis longtemps comblées“ (200). 34 Vgl. Brix 2004, 295: „Autour du motif du château, le roman gothique a ainsi fédéré, en Angleterre et en France, des écrivains qui ont choisi de se dresser contre l’optimisme des Lumières.“ 35 Auch in Huysmans’ À rebours dient die Schilderung der Flora als Ausgangspunkt für Überlegungen zur Verfasstheit der Gesellschaft; Huysmans 1977, Kap. 8. Im ersten Kapitel von L’Oblat

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Wie Jacques mit Verwunderung und einer gewissen Bitterkeit feststellt, hat die Natur selbst in der Grünanlage des Schlosses über die Kultur triumphiert. Er sieht, dass sämtliche Blumenbeete, Pfade und Obstbäume nunmehr überwachsen und unkenntlich bzw. mangels angemessener Pflege verwildert sind. Mehr noch haben vom Wind dahergebrachte Pflanzen und Gräser sie um ihre Existenz gebracht: il vit un jardin fou, une ascension d’arbres, montant en démence, dans le ciel. […] Des plantes de buis […] les uns étaient mortes et les autres avaient poussé, ainsi que des arbres […] retournés à l’état sauvage […] ; plus loin, des pommes de terre, venues d’on ne sait où, germaient, ainsi que des coquelicots […]. Ce jardin avait dû autrefois être planté d’arbres à fruits et d’arbres à fleurs […]. Toutes les fleurs cultivées des parterres étaient mortes ; c’était un inextricable écheveau de racines et de lianes, […] un assaut de plantes potagères aux grains portées par le vent, de légumes incomestibles, aux pulpes laineuses, aux chairs déformés […]. Et un silence […] planait sur ce désordre de la nature, sur cette jacquerie des espèces paysannes et des ivraies, enfin maîtresse d’un sol engraissé par le carnage des essences féodales et des fleurs princières. […] Quelle jolie chose que les foules végétales et que les peuples ! (ER, 71–73)36

Aus Jacques’ Perspektive wird der Garten so zum Symbol eines ‚Klassenkampfes‘, in welchem die fürstlichen, ästhetisch vollendeten Kulturpflanzen, die ehemals das Schloss umgaben und das Ancien Régime symbolisieren, dem Bauernaufstand sowie dem darauffolgenden Gemetzel und der Invasion – der Revolution – durch eine plebejische, parasitäre und deformierte, hässliche Flora nicht standhalten konnten. Vom Wind herbeigeweht, also ohne würdige Abstammung, hinterlässt diese – ebenso wie die im letzten Satz genannte Instanz des Volkes in ihrem Aufbegehren gegen die bis dahin geltenden Standesnormen – nichts als Wahnsinn (also das genaue Gegenteil von Vernunft und Aufklärung), Verrohung, Tod und Unordnung, und zwar nicht zuletzt auf ästhetischer Ebene.37 Auf diesel-

findet sich hingegen eine beinahe wortwörtliche Aufnahme des obigen Zitates. Diesmal ereignet sich der Kampf der Kulturpflanzen gegen die „plantes hostiles“ auf dem Gebiet des Glaubens, denn der Protagonist Durtal plant, einen „jardin liturgique“ anzulegen: „il se plaisait à rêvasser dans le jardin, dont une partie était restée, […] en friche : et c’était une poussé d’herbes folles, de fleurs sauvages venues d’on ne sait où ; et Durtal s’amusait […] se bornant à arracher les orties et les ronces, les plantes hostiles, prêtes à étouffer les autres ; et il songeait, au printemps, à élaguer tout de même une partie de ces intruses pour organiser à leur place un jardin liturgique“. Zit. nach Huysmans 1903, Kap. 1, 13. 36 Vgl. auch Lhermitte 2012, 257: „le château des écrits de fin de siècle offre un espace d’évasion à des héros qui honnissent la réalité naturelle […]. Aussi est-il opposé systématiquement, tantôt aux logements parisiens […] tantôt au monde rural.“ 37 Für eine politische Lesart der Textstelle siehe Rasson 1993, 73–75: „C’est à une nature soudainement politisée que nous sommes confrontés ici […]. La nature dérange, non seulement parce

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be Weise wie der Garten entbehrt das Schloss seiner ursprünglich adeligen Bewohner, um nunmehr in der Gewalt von kinderlosen und damit im weiteren Sinne unfruchtbaren, hässlichen Dorfleuten, Onkel Antoine und Tante Norine,38 eine vollkommen verwahrloste Existenz zu fristen. Dieser Zustand setzt sich durch die Ankunft der Neuankömmlinge fort. Die Marles, welche unterschiedlichen sozialen Schichten angehören – Jacques entstammt dem bürgerlichen Geldadel, während Louise eine in die „petite bourgeoisie“ aufgestiegene bäuerliche Herkunft aufweist39 – sind ebenfalls kinderlos. Den Naturzustand des Gartens, den Huysmans in seinem Brief als „délicieux“ lobt, verabscheut seine Figur als „désordre“, was sich als weiteres Element einer Kritik an den Lumières verstehen lässt, deren Garten- bzw. Landschaftsideal die (scheinbare) Spontaneität der Flora gegenüber künstlichen Anordnungen derselben (bspw. im Rokoko) privilegierte.40 Ebendieser Widerstreit von Natur und Kultur prägt auch die Beschreibung des Gartens im Hofe des Château de la Misère im ersten Kapitel von Gautiers Roman, nach dessen Vorbild der Schlossgarten von Lourps stilisiert ist: Quant au jardin lui-même, il retournait doucement à l’état de hallier ou de forêt vierge. À l’exception d’un carré où se pommelaient quelques choux aux feuilles veinées et vert-de-grisées, et qu’étoilaient des soleils d’or au cœur noir, dont la présence témoignait d’une sorte de culture, la nature reprenait ses droits sur cet espace abandonné et en effaçait les traces du travail de l’homme qu’elle semble aimer à faire disparaître. Les arbres non taillés projetaient en tous sens des branches gourmandes. Les buis, destinés à marquer le dessin des bordures et des allées, étaient devenus des arbustes, ne subissant plus le ciseau depuis longues années. Des graines apportées par le vent avaient germé au hasard et se développaient avec cette robustesse vivace, particulière aux mauvaises herbes, à la place qu’avaient occupée les jolies fleurs et les plantes rares. (Gautier 1863, 5)

Die Natur hat hier systematisch ihre Herrschaft über die Kultur ausgebreitet und den Garten mithilfe von herbeigewehten Samen in den Naturzustand zurückversetzt. In Analogie dazu präsentiert sich der Garten von Lourps, in dem ebenfalls der Naturzustand zu Ungunsten der Kultur Einkehr gehalten hat. Auch hier werden die unkontrolliert wachsenden Bäume und die veränderte Form der Buchsbäume thematisiert („une ascension d’arbres, montant en démence“; „plantes de buis […] avaient poussé, ainsi que des arbres“) ebenso wie das Verschwinden der

qu’elle est du côté du laid, mais aussi dans la mesure où sa floraison incontrôlée est le modèle du bouleversement politique qui précipita la France dans le XIXe siècle“ (74; Kursivierung im Original). 38 Zur Beschreibung der Figuren siehe ER, 51–53. 39 ER, 103 (Zitat), 119–123, 172–173 (auch zur Beschreibung der Marles). 40 Vgl. Müller 2003, 320–321.

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Blumen und Kulturpflanzen („arbres à fruits […] arbres à fleurs […] les fleurs cultivées des parterres étaient mortes“). Was die Bezugnahme von Huysmans auf Gautiers Text jedoch eindeutig macht, sind der Verweis auf und die Formulierung der „grains portées par le vent“, die beinahe wortwörtlich Gautiers „graines apportées par le vent“ aufnimmt.41 In beiden Fällen indiziert sie eine Machtergreifung der Natur, die sich der Usurpation und des Parasitismus bedient.42 Gautier schließt im Unterschied zu Huysmans an dieser Stelle allerdings keine historisch-politischen Überlegungen an, noch werden die Entwicklungen von dessen Erzählinstanz ausdrücklich negativ bewertet, wodurch die Differenzleistung von Huysmans, auf die sogleich eingegangen wird, umso deutlicher hervortritt. Der Garten von Lourps führt schließlich entlang der alten Burggräben durch einen kleinen Wald, von dem aus man die Rückseite des Schlosses erreicht. An dieser Stelle ereignet sich für Jacques, und mit ihm für den Leser, eine plötzliche Wendung, denn: Ce côté, privé de soleil, était lugubre […]. Vu devant, le château demeurait imposant, malgré la misère de sa tenue et le délabrement de sa face, [sa vieillesse] devenait en quelque sorte, accueillante et douce ; vu de dos, il apparaissait morne et caduc, sordide et sombre. […] En somme les infirmités d’une vieillesse horrible, l’expuition catarrhale des eaux, les couperoses du plâtre, la chassie des fenêtres, les fistules de la pierre, la lèpre des briques, toute une hémorragie d’ordures, s’étaient rués sur ce galetas qui crevait seul à l’abandon, dans la solitude cachée du bois. (ER, 75)43

So imposant und lebendig die sonnenbeschienene Fassade der Ruine wirkt, umso abstoßender ist ihre pathologisierte dunkle Seite. Die von Beginn an zu spürende, unheilvolle Atmosphäre des Schlosses bekommt an dieser Stelle ihre wirkungsvolle ästhetische Realisierung durch Rückgriff auf den medizinischen Diskurs, genauer auf Bilder von ansteckenden Infekten mit ekelerregenden Symptomen (Keuchhusten, Lepra), von Dermatosen (Couperose), Krankheiten der Augen („chassie“44), der Blutgefäße (Fistel) sowie schließlich in einer ‚Blutung‘ von Unrat. 41 ER, 71–73. Auch die bei Gautier erwähnten Brennnesseln und Dornenranken sind im Garten von Lourps präsent: „Çà et là, dans ces antiques ovales envahis par les orties et par les ronces, de vieux rosiers apparaissaient, retournés à l’état sauvage“. (71); vgl. Gautier 1863, 6–7. 42 Gautier 1863, 2: „Le chemin qui menait de la route à l’habitation s’était réduit, par l’envahissement de la mousse et des végétations parasites, à un étroit sentier“. 43 Das Gegenmodell zu dieser abstoßenden Form von Verwesung bildet die Entdeckung der Ptomaine, welche für eine ästhetische bzw. wohlriechende Form der Putrefaktion sorgen: „dans la putréfaction des cadavres, […] la ptomaïne, qui se présente à l’état d’huile incolore et répand une lente mais tenace odeur d’aubépine, de musc, […] fleur d’oranger ou de rose“ (ER, 183). 44 Die Definition dazu lautet: „Humeur onctueuse et jaunâtre sécrétée sur le bord des paupières“, in: CNRTL (8. März 2020).

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Diese Darstellung der schlimmsten Konsequenzen des Alterungsprozesses eines kranken Organismus’, der alleine im dunklen Wald vor sich hin ‚krepiert‘, erfüllt dabei eindeutig Postulate einer Ästhetik des Hässlichen. Deren erste umfassende Theoretisierung stammt vom Hegelianer Karl Rosenkranz.45 In seiner einschlägigen Ästhetik des Häßlichen (1853), die „den Höhepunkt und zugleich den toten Punkt der philosophischen Beschäftigung mit dem Häßlichen bezeichnet“, behandelt er den Gegenstand als das „Negativschöne“ (Kliche 2001, 48), das damit für die titelgebende Wissenschaft ebenso unentbehrlich sei, wie etwa die Untersuchung des Begriffs der Krankheit für die Wissenschaft der Biologie (Rosenkranz 2015, 5).46 Derselbe Gegenstand wird sodann im Zusammenhang seiner Darstellbarkeit thematisiert. Im Kapitel Das Geisthäßliche unterscheidet Rosenkranz Ursachen der Hässlichkeit des Menschen, die entweder seiner Willensfreiheit geschuldet sind – dem Bösen – oder in seiner natürlichen Veranlagung liegen und ihn so nach außen hin entstellen. Zu letzteren zählt die Krankheit: Die Krankheit ist Ursache des Häßlichen allemal, wenn sie eine Verbildung des Skeletts, der Knochen und Muskeln zur Folge hat z. B. bei syphilitischen Knochenauftreibungen, bei gangränen Zerstörungen. Sie ist es allemal, wenn sie die Haut färbt, […]; mit Exanthemen bedeckt, wie im Scharlach, in der Pest, […] im Aussatz, in Flechten, […] u.s.w. Die scheußlichsten Deformitäten [bewirken…] nicht nur ekelhafte Ausschläge, sondern auch Faulungen und Knochenzerstörungen […]; deren Existenz dem Wesen des Organismus als Einheit widerspricht und in welche er auseinanderfällt. Die Anschauung eines solchen Widerspruchs ist so überaus häßlich. (Rosenkranz 2015, 37–38 [Einleitung. Das Geisthäßliche])47  

Wo die Krankheit, hier insbesondere jene der Haut, zur Ursache des Hässlichen wird, weil sie den Menschen in seiner körperlichen Einheit zerstört, ist der daraus resultierende Effekt das „Ekelhafte“: Das Ekelhafte ist […] die Negation der schönen Form der Erscheinung durch eine Unform, die aus der physischen oder moralischen Verwesung entspringt. […] [W]eil alles das uns Ekel einflößt, was durch die Auflösung der Form unser ästhetisches Gefühl verletzt. Für den Begriff des Ekelhaften im engern Sinn aber müssen wir die Bestimmung des Verwesens hinzufügen, weil dasselbe dasjenige Werden des Todes enthält, das nicht sowohl ein Welken und Sterben, als vielmehr das Entwerden des schon Toten ist. […] Das Ekelhafte als ein Pro-

45 Vgl. Eco 2013, 16; zur französischen Rezeption des Werkes siehe Kliche 2001, hier insbes. 48– 52; Waszek 2005. 46 Siehe ferner zur Ästhetik des Ekelhaften als Begleiterscheinung der Dekadenz im Zusammenhang der Romantik und insbes. bei Rosenkranz: Menninghaus 1999, hier v. a. das Kapitel IV. Poesie der Verwesung – »schöner Ekel« und die Pathologie des »Romantischen«, 189–224. 47 Rosenkranz 2015, 38: „Die Krankheit ist überhaupt Ursache der Häßlichkeit, wenn sie die Gestalt abnorm verändert“.  

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dukt der Natur, Schweiß, Schleim, Kot, Geschwüre u. dgl., ist ein Totes, was der Organismus von sich ausscheidet und damit der Verwesung übergibt. (Rosenkranz 2015, 293–294 [Dritter Abschnitt, B, III, b Das Ekelhafte]; Kursivierung im Original)48

Neben der Krankheit, welche unter die „Auflösung der Form“ fällt, liegt der Ursprung des Ekelhaften, das Anteil am Toten hat, am „Entwerden“, in der „physischen oder moralischen Verwesung“, die eine „Unform“ bewirke. Rosenkranz erwähnt an dieser Stelle die ‚moralische Verwesung‘, die auf das Laster zurückgehe (Rosenkranz 2015, 35; 298),49 konzentriert sich in seiner Darlegung indessen hauptsächlich auf die physische Spielart, auf die im Zitat aufgelisteten ‚Produkte‘ der Natur. Diese findet man auch in Huysmans’ Beschreibung der Schattenseite der Ruine wieder. Wichtig ist dabei, dass sie für Rosenkranz in der Kunst keinen Selbstzweck erfüllen dürfen, vielmehr „wird die ekelhafte Krankheit nur unter der Bedingung darstellbar, daß ein Gegengewicht ethischer oder religiöser Ideen mitgesetzt wird“ (Rosenkranz 2015, 298). Eben jenes ethische oder religiöse „Gegengewicht“ fehlt der Ruinenästhetik von En rade jedoch gänzlich – umso mehr als auch die Kirche neben dem Schloss eine Ruine ist – und unterscheidet den materialistischen Ansatz von Huysmans damit grundlegend von idealistischen Positionen. Gebäude, Mensch und Geschichte sind gleichermaßen in ihrer ‚Einheit‘ aufgelöst und befinden sich in einem Zustand der Verwesung, der zum einen physisch ist, zum anderen auf ein spirituelles mal zurückgeht, das nicht näher gefasst werden kann. Huysmans’ Ruine distanziert sich damit aber auch dezidiert von prominenten Poetiken des Häßlichen und deren Entwicklungen in der französischen Literatur, die er auf einzigartige Weise mit Radikalität übertrifft. Hier ist allen voran Hugos Préface de Cromwell (1827), das ‚Manifest‘ der Romantik, zu nennen, deren neuartige Forderung nach einer Ästhetik des Grotesken aus der Synthese schöner und hässlicher Elemente hervorgeht, die erhaben sei.50 Distanz herrscht aber auch zur erhabenen „carcasse superbe“ der Charogne von Baudelaire, die am Wegesrand unter der prallen Sonne wie eine sich öffnende Blume ihre Kreatürlichkeit preisgibt und ein memento mori an die Geliebte ist (Baudelaire 1975, 31).51 Zwar er-

48 Vgl. auch Menninghaus 1999, 204–208. 49 Vgl. zu Rosenkranz’ „ästhetische[r] Pathologie“ Kliche 2001, 51–52. 50 Hugo 2009. Auch hier erfüllt das Hässliche keinen Selbstzweck: „Ce que nous appelons le laid […] est un détail d’un grand ensemble qui nous échappe, et qui s’harmonise, non pas avec l’homme, mais avec la création tout entière“ (30). Siehe hierzu auch Kliche 2001, 57–58. 51 Siehe hierzu Menninghaus: „Eine Darstellung des Ekelhaften um seiner selbst willen […] bietet gleichwohl auch Baudelaire nicht. […] Verwesung als organischer Prozeß ist eine (ironische) Figur der Defiguration […]. [Sie] entspricht der romantischen Entdeckung einer formalen Selbst-

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wähnt auch Gautier im ersten Kapitel seines Intertextes Capitaine Fracasse, dass die Rückseite des „castel […] plus ravagée et plus dégradée“ als ihre Vorderseite sei (Gautier 1863, 7),52 von dem Crescendo an Erkrankungen, wie sie in En rade beschrieben werden, fehlt hier allerdings jegliche Spur, sodass die Nachahmung keine zufriedenstellende Erklärung für die starke Bildlichkeit der verwesenden Ruine liefern kann. Huysmans’ Beschreibung ruft vielmehr den letzten Abschnitt aus dem finalen Kapitel von Zolas Nana auf den Plan, in welchem der Zersetzungsprozess des Körpers der ehemaligen ‚Liebesgöttin‘ von Paris in Folge einer Pockeninfektion in sehr genauen Einzelheiten geschildert wird.53 Interessanterweise wird in einer der wenigen Studien, die es zum Motiv der Ruine im Naturalismus gibt,54 Zolas Nana als personifizierte Ruine untersucht. Ausgehend von einer neueren Definition des Begriffs ‚Ruine‘ in der sechsten Auflage des Dictionnaire de l’Académie française von 1835, die nunmehr auch eine Person bezeichnen kann, deren Alterungsprozess sie um Schönheit und/oder Talent gebracht hat, untersucht Sandrine Harismendy-Lony wie das Motiv sowohl Nanas Ursprung als auch ihre soziale Entwicklung bestimmt: „La ruine, sous forme de dégradation, puis d’effacement, se propage lentement du milieu à l’individu, de la maison au visage et au corps, marque du temps et de la lente évolution“ (Harismendy-Lony 2003, 162).55 Bezeichnend ist an dem Prozess, dass er ansteckend ist: „Enfin, par un phénomène de contamination […], ell[e] ruin[e] tout autour d’ell[e]“ (Harismen-

ironie der Kunst: ironische »Selbstschöpfung« durch »Selbstvernichtung« gelingt der Kunst paradigmatisch, indem sie ihre eigenen Gesetze und Tabus einer permanenten Defiguration und Dekomposition aussetzt“ (Menninghaus 1999, 214–215). 52 Im Unterschied zu Huysmans’ Garten führt derjenige Gautiers also nicht zur ‚dunklen‘ Seite des Schlosses, sondern zu einer kleinen Höhle in der sich eine Marmorstatue aus der Renaissance befindet, die eine Flora – die Personifikation der kulturgewordenen Natur – abbildet, deren Nase allerdings abgefallen ist und sie damit in eine Effigie des Todes verwandelt („Flore […] laquelle avait dû être fort galante en son temps et faire honneur à l’ouvrier, mais qui était camarde comme la Mort, ayant le nez cassé.“; Gautier 1863, 6). 53 Siehe Zola 2002, Kapitel XIV, 517–518: „Nana restait seule […] une pelletée de chair corrompue, jetée là […]. Les pustules avaient envahi la figure entière, un bouton touchant l’autre ; et flétries, affaissées, d’un aspect grisâtre de boue, […] sur cette bouillie informe, où l’on ne retrouvait plus les traits. Un œil, celui de gauche avait complètement sombré dans le bouillonnement de la purulence […]. Toute une croûte rougeâtre partait d’une joue, envahissait la bouche, qu’elle tirait dans un rire abominable. […] Vénus se décomposait“. 54 Einschlägige Studien zum Motiv der Ruine im Realismus und Naturalismus bilden ein Desiderat. Siehe zumindest Flaubert 2017, 127; Flaubert 2013, insbes. erster Teil, Kap. 6 und dritter Teil, Kap. 11 (Emmas Grab). Nicht zum Motiv der Ruine im Realismus, aber immerhin bei Flaubert siehe le Scanff 2005. 55 Dass Nana überdies ihr Umfeld in den Ruin treibt, mache sie laut der Autorin zu einer Vorreiterin der dekadenten Figur der femme fatale.

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dy-Lony 2003, 158).56 Die Darstellung des kranken, abscheulichen – ruinierten – und ansteckenden femininen Körpers ist jedoch auch bei Zola nicht reiner Selbstzweck, steigt doch seine Kurtisane bekanntlich zum Symbol Frankreichs im Second Empire auf. Sie ist damit den historischen Ereignissen der eigenen Zeit eingeschrieben und dient ein Stück weit als Zerrspiegel für den Zukunftsoptimismus der durch industriellen Fortschritt wirtschaftlich erstarkten Nation. Ebendieser Glaube an die Zukunft fehlt den Marles, die abseits der Hauptstadt in einem gewissermaßen zeitlosen Raum ewiger Gegenwart von der Schlossruine ‚kontaminiert‘ werden. Wie im Falle der Ruine sorgen auch bei ihnen Schmutz, Dunkelheit und Einsamkeit für eine Ausbreitung des ‚Infekts‘, die proportional zur Dauer ihres Aufenthalts in Lourps ist. Die Symptome manifestieren sich schleichend, anfangs bei Louise, die nunmehr chronisch erkrankt ist und den Alkoven nicht mehr verlässt,57 bei Jacques hingegen in Form einer Geistesschwäche. Er kann weder Baudelaire lesen noch seiner Imagination, dem einzigen Gegenmittel zum ennui, freien Lauf lassen, ja sein ganzes Denken hat die Form der Ruine angenommen: „Et il demeura, agité […] par une tempête interne, dans laquelle surnageaient […], des décombres d’idées dont la structure démolie ressemblait à celle de certains rêves“ (ER, 166).58 Infolgedessen kommt es zu nachhaltigen Veränderungen ästhetischer und moralischer Art. So beobachtet – oder halluziniert – Jacques an seiner Frau einen „changement moral“, der sich auf ihr Äußeres auswirke („se répercutait sur sa face“; ER, 172). Analog zu den Umwälzungen, die er im Garten festgestellt hat, vermeint er in den ehemals feinen Gesichtszügen seiner Frau, eine Vergröberung festzustellen, die ihre wahre – soziale – Natur als Bäuerin ans Tageslicht bringt und die kosmetische Pflege der Pariser Kultur zunichte macht.59 Louises Antlitz wird an dieser Stelle zu einer Synekdoche für den Zerfall ihres gesamten Körpers und Geistes, die es erlaubt die Protagonistin als Gegenbild der weiblich konnotierten Ruine zu deuten, zu der ein Wechselverhältnis besteht und deren degenerierende Metamorphose ebenfalls ausgehend vom kosmetisch vernachlässigten ‚Gesicht‘, der Fassade, beschrieben worden ist.

56 Harismendy-Lony 2003, 158. 57 ER, 164: „il est bien manifeste que la campagne ne profite pas à Louise. Elle est constamment enfermée et ne veut pas sortir ; enfin le côté sinistre de ce château agit évidemment sur elle...“. 58 ER, 171 zum Baudelaire-Verweis. Auf die gefährliche Natur des Schlosses deuten zudem die Dorfleute immer wieder hin: „ce château, il porte pas bonheur quand on l’habite ; à preuve que le Marquis y est mort... – Et que sa femme, lorsque la lune était forte, elle parlait... elle parlait... elle avait plus sa tête“ (136). 59 ER, 172 : „les traits de sa femme se paysannaient ; elle avait été jadis assez plaisante“.

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Eine Dekadenz führt die nächste mit sich und so ist es schließlich die Ehe, die zu Fall geht. Wie im Falle des Schlosses hatte Jacques gehofft, darin eine Zuflucht vor den Anfechtungen des Alltags zu finden: Ce qu’il avait voulu, c’était l’éloignement des odieux détails, […] dans une bienheureuse rade, l’arche capitonnée, à l’abri des vents, et puis c’était aussi la société de la femme, […] le préservant […] de la piqûre des petits riens, […] c’était le tout sous la main, […] amour et bouillon, linges et livres. (ER, 121)

Es fällt dabei auf, dass der Text denselben Wortlaut („rade“) und dieselbe nautische Metaphorik („arche capitonnée, à l’abri des vents“; ER, 119)60 aufweist, um einerseits Lourps (siehe den Beginn des vorliegenden Kapitels) und andererseits das Sakrament zu beschreiben, wodurch eine Engführung der Gegenstände erzielt wird. Angesichts des Versagens machen sich die Eheleute insgeheim gegenseitige Schuldzuweisungen und stellen sich die existentiellen Möglichkeiten vor, die aus der Abwesenheit des Partners/der Partnerin entstünden.61 Für Jacques wirkt der Gedanke an den Tod seiner Frau wie eine Befreiung, die er schließlich von sich stößt, in der traurigen Gewissheit, dass „cette solitude […], semblable à une iodure, faisait sortir les boutons de leur maladie spirituelle, secrète, et les rendait visibles, inoubliables à jamais, l’un pour l’autre […]. Lourps […] nous aura mutuellement initiés à l’abomination de nos âmes et de nos corps!“ (ER, 167; 211).

2 Eine Ruine zwischen Schauerromantik und Dekadenz: Lourps und die maison Usher Mit seiner Wahl der Schlossruine von Lourps als Handlungsort von En rade reiht sich Huysmans in eine romantische Traditionslinie der Darstellung nationaler Ruinen. Nach prominenten Vorstößen bei Chateaubriand und Lamartine, sind es die Prosawerke Hugos, die die Ruinenästhetik in Frankreich in besonderer Weise bereichern.62 Die ästhetische und literarische Rehabilitierung der mittelalterli-

60 Siehe außerdem ER, 119 („Louise, […] c’était endormie, laissant la bonne mener la barque“) und 126 („le mari qui n’avait su garer la barque“); Kursivierung durch Vf.in. Eine ‚gepolsterte‘ bzw. lauwarme Arche weitab der Gesellschaft wünscht sich auch des Esseintes; vgl. „à une arche immobile et tiède où il se réfugierait loin de l’incessant déluge de la sottise humaine.“; Huysmans 1977, 86. 61 ER, Kap. VI, 117–137. 62 Vgl. Mortier 1974, hier 220. Siehe zur Ruine in der Romantik ferner auch Hamon 1989, Kap. I La ruine et la serre, 55–94.

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chen gegenüber den bis dahin prestigeträchtigeren Ruinen antiker Kulturen (Rom, Griechenland, Ägypten, das Heilige Land)63 erfolgt vor dem Hintergrund einer komplexen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. So ist die mittelalterliche Ruine nicht nur das Sinnbild für eine Hochphase der Macht und der historischen Bedeutsamkeit Frankreichs, zu welcher die restaurativen Kräfte nach der Revolution zurückkehren wollen und sie daher im Sinne eines didaktischen Inzitaments auffassen. Ihre Bedeutung geht zugleich aus der Erfahrung einer Krise der Gegenwart bzw. aus der Kritik an der Vergangenheit, genauer an der Aufklärung hervor.64 Das Feudalsystem an der Basis dieses geschichtlichen Konstrukts steht ferner im Verbund mit der christlichen Religion, was sich in der konkreten architektonischen Gestalt der Ruine niederschlägt, die sich in vielen Fällen als Schloss präsentiert, das sich in direkter Nähe von Klöstern, Kapellen oder Kirchen befindet.65 Charakteristische ästhetische Züge erhält das Schloss dabei von der gotischen Kunst, als deren evidentestes Merkmal die Spitzbögen hervorgehoben werden. Mit Hinblick auf das romantische Subjekt kann die Ruine schließlich zum Ort der Reflexion werden, aber auch zum Ausgangspunkt der eigenen fantasmagorie, der Traum- oder Trugbilder des Beobachters.66 Diese Emanzipation verdankt die mittelalterliche, nationale Ruine der Weiterentwicklung eines Motivs aus der europäischen Literatur, genauer aus der eng-

63 „Jusqu’à la Révolution, la ruine se devait d’être romaine, ou grecque, ou égyptienne pour bénéficier du prestige de la beauté reconnue. L’esthétique néo-classique perpétuera ce goût en pleine vague romantique, et les voyageurs continueront les pèlerinages d’art en Italie, en Grèce, en Orient.“ Zit. nach: Chapitre XV. Victor Hugo, ou les fantasmagories de la ruine, in Mortier 1974, 211–222, hier 212. 64 Mortier 1974, 9–13; Brix 2004; Rasson 1993, Kap. I La question des châteaux, 9–28. 65 Mortier 1974, 213: „Longtemps refoulé dans la sous-littérature du roman noir, le goût de la ruine macabre se conjugue ici avec l’attrait du passé national pour envahir le domaine, jalousement préservé, de la grande poésie. Les circonstances sont d’ailleurs propices à cette intrusion: liée à la religion (cloître, chapelle, église) ou au passé féodal (donjon, tour, château), la ruine nationale apparaît un peu comme le symbole des valeurs que privilégie la Restauration. Elle fait partie du patrimoine et du paysage autochtones ; elle est l’image du passé chargé de prestige auquel on tend à revenir après le grand ébranlement de 1789, où l’on ne veut voir qu’une rupture sacrilège et un hiatus accidentel. Au cosmopolitisme des ‹ lumières › succède le repli sur les valeurs indigènes, l’apologie de la chevalerie, l’exaltation du terroir et des traditions religieuses“. Das Interesse an den Ruinen des Landes ist ferner von der kulturpolitischen Bestrebung motiviert, die architektonischen Überreste unter Denkmalschutz zu stellen; siehe dazu auch Goetz 2009, 19–25. 66 Vgl. Mortier 1974, 225: „Bientôt elle [die Imagination] libérera les fantasmes de l’inconscient et laissera le poète jouer à sa guise des formes irrégulières de la ruine pour y projeter ses hantises et y fixer ses visions.“

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lischsprachigen gothic novel. Zwischen dem späten 18. bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden, lässt sich die Strömung einerseits über die zeitlichen und räumlichen Kategorien der Handlung identifizieren: Sie spielt im Mittelalter und ist in Burgen, Ruinen oder Klöstern verortet. Die zerfallenen Bauwerke, die üblicherweise dem 13. und 14. Jahrhundert entstammen, verfügen dabei über eine gewissermaßen standardisierte Architektur und Topographie. Zu dieser zählen neben dem typischen gotischen Baustil zuweilen labyrinthisch angelegte Räume im Innenbereich des Schlosses, der ferner Schlafgemächer, Treppenhäuser, geheime oder unterirdische Gänge, Gruften und Galerien enthält.67 Dunkle bzw. ungewöhnliche Lichtverhältnisse herrschen dort vor, sodass man Gefahren und Hindernissen begegnet, wie etwa Fledermäusen und Käuzen.68 Im Außenbereich desselben fallen hingegen verwahrloste Türme und Burggräben auf, die sich auch in diesem Fall in der näheren Umgebung von religiösen Bauten befinden. Die allgegenwärtigen Ruinen besitzen dabei einen morbiden Charme als Orte der Phantasie und zugleich als Zeugen der menschlichen Misere.69 Ihre häufig melancholischen Insassen werden dabei von unbestimmten Empfindungen, Angstzuständen und (Alb‑)Träumen heimgesucht, deren Ursachen auf Zustände des Wahnsinns oder gar das Böse selbst zurückgehen können.70 Gerade in der Spätphase der Strömung steht das „Übernatürliche […] im Dienst des Bösen“, dem selbst der Held, welcher an einer „durch unterdrückte und tabuisierte Sexualität und Leidenschaft hervortretenden Triebhaftigkeit“ leidet, nicht entkommen kann (Poppe 2010, 665–666).71 Der roman noir bzw. terrifiant, wie er in Frankreich genannt wird, zeichnet sich andererseits durch eine Wirkungsästhetik aus, deren Ziel die suggestive Erweckung eines angenehmen Grauens ist, die den Wegfall der realen Angst vor natürlichen oder übersinnlichen Phänomenen im Zeitalter der Aufklärung kompensieren soll.72 Mit fortschreitender Zeit wird diese Ästhetik dem Wunderbaren immer mehr Platz zugestehen, womit eine Erhöhung der Aufmerksamkeit für poe-

67 Gerade die Gestaltung des unterirdischen Bereiches des Schlosses weist Ähnlichkeiten zu Villiers de l’Isle-Adams Geschichte „The Duke of Portland“ auf, die bislang nicht thematisiert worden sind; Villiers de l’Isle-Adam 1983a. 68 Vgl. Lascar 2004, 185–190. 69 Lascar 2004, 188–190. 70 Siehe hierzu grundsätzlich Kapitel 3 All’insegna del divin marchese in Praz 2008; siehe ferner Poppe 2010. 71 Siehe zur Rolle der Erotik in den Schlössern des roman noir als Gegenreaktion zum Modell der Libertinage der Lumières ferner Brix 2004. 72 Poppe 2010, 663.

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tische Verfahren oder Diskurse einhergeht, etwa intertextuelle Beziehungen bzw. den Orientalismus.73 Wie die bisherigen Ausführungen deutlich gemacht haben, entspricht die Ruine von En rade tradierten ästhetischen Maßgaben der Schauerromantik,74 und zwar sowohl in Hinblick auf die architektonisch-topographische Anlage – das ‚halbgotische‘ Schloss befindet sich neben einer Kirche und einem Friedhof und in seinem Inneren werden die labyrinthischen Räume, Galerien und unterirdischen Gänge hervorgehoben – als auch in Hinblick auf ihre mittelalterliche Herkunft. Ebenso lassen sich die suggestiven Elemente der Ruine, genauer die Geräusche des Windes und der rostigen Ketten, die Präsenz der Käuze75 sowie das märchenhafte Element des Fluches, die besonderen Lichtverhältnisse und die unheilschwangere, lebensbedrohliche (böse) Atmosphäre bzw. der Einfluss des Bauwerks auf das Gefühlsleben und die Imagination der Figuren dieser Gattungstradition zuschreiben. In diesen Kontext gehört es auch, dass der Held des Romans die eigene „unterdrückte und tabuisierte Sexualität“ vermittels der im Traum zum orientalistischen Palast verklärten Ruine zum Ausdruck bringt. Ferner wurde die für diese Tradition ebenfalls relevante aufklärungskritische Dimension des Romans beleuchtet.76 Insgesamt verweigert sich der Text einer geschichtsphilosophischen Verortung. Wie zuvor gesehen, haben in Lourps weder das Mittelalter noch das Ancien régime oder das siècle des lumières, die sich die Substanz der Ruine teilen, Fortbestand. Erkenntnis, memoria und Didaxe – alles traditionelle Elemente der neuzeitlichen Ruinenästhetik – werden damit eindeutig verabschiedet, die erinnerungslose Ruine kann nichts mehr lehren, sie ist der materialisierte Verfall. Der Untergang dieser früheren Epochen wird von keinem alternativen Geschichtsmodell kompensiert, noch wird ein historischer Fortschritt evoziert. Vielmehr ist die Zeitlichkeit des Romans von einem Stillstand charakterisiert, der sich als epoché verstehen ließe, als das Sistieren eines historischen Verlaufs, mit dem die Aussetzung eines theoretischen Urteils einhergeht.77 Diese Zeitlichkeit wird nicht

73 „La fin du siècle, où l’on retrouve encore des traces de la forteresse noire, semble ainsi privilégier le château des contes, nimbé de merveilleux […]. En réalité, gothique et merveilleux se croisent tout au long du siècle pour faire de l’édifice un lieu herméneutique privilégié et multiforme, parfois teinté d’orientalisme […].“; Auraix-Jonchière 2004, 8. 74 Vgl. hierzu auch Rasson 1993. 75 Vgl. ER, 164–165. 76 Vgl. auch Rasson 1993, 14: „Le château gothique […] se présentait comme un commentaire, en creux certes, sur le siècle des Lumières.“ 77 Vgl. hierzu Fetscher 2005, hier insbes. 779–780. Berücksichtigt man die Rückkehr der Protagonisten nach Paris unter schlechteren Bedingungen als zu ihrer Ankunft, ließe sich womöglich

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zuletzt in der titelgebenden nautischen Metaphorik eines im Hafen angelegten Schiffes versinnbildlicht, das einer Beruhigung des tosenden Meeres harrt. Auf diese Weise lässt sich die düstere Ruine als eine Ablehnung der Moderne lesen und mit ihr des bürgerlichen Wertesystems in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert, hier insbesondere der Familie und der Kirche, deren metaphysischer Stellenwert nicht mehr vorhanden ist.78 Überdies erfolgt eine Absage an die romantische Ruinenästhetik. Wie bereits erörtert, erhebt Huysmans’ verfallenes Schloss keinen Anspruch auf Schönheit oder Idealisierung.79 Stattdessen ist dessen Schilderung dem medizinischen Diskurs verpflichtet, genauer dem Bereich der (Moral-) Pathologie. Seine Engführung von Alterung und Krankheit ist dabei nicht neu, begegnet man ihr doch in der romantischen Lyrik, allerdings in einem positiven Sinne. Hugo etwa fordert in seinem Gedicht an den Triumphbogen geradezu, dass der Frontgiebel blättere, dass die Flechte die Wand von weitem mit einer goldenen Lepra bedecke und dass das ‚Gesicht‘ des ehrwürdigen Gebäudes zerfalle.80 Für ihn ist das hohe Alter eine Bedingung von Anmut und damit etwas Erstrebenswertes: „La vieillesse couronne et la ruine achève“.81 Im Unterschied dazu, wird bei Huysmans der Alterungsprozess zu etwas Schrecklichem („une vieillesse horrible“), in dessen Gefolge sich abstoßende Krankheiten finden, die nicht Bewunderung, sondern im Rosenkranz’schen Sinne Ekel erregen. Huysmans’ Darstellung des kranken und krankheitserregenden Schlosses muss vielmehr vor dem Hintergrund der Literatur der Dekadenz gelesen werden, wo ebendies ein beliebtes Motiv bildet. Die Dekadenz schöpft ihre Inspiration ebenfalls aus der gothic novel und stellt die daraus resultierenden Filiationen in einem für sie charakteristischen „dialogisme intertexutel“ zur Schau (Lhermitte 2012, 255).82 Ein Werk im Besonderen dient dabei als Brücke zwischen Romantik und Dekadenz: Es ist dies Edgar Allan Poes Erzählung The Fall of the House of Usher (1839),83 die von Charles Baudelaire 1857 in der Sammlung Nouvelles histoires

sogar von einer ‚zyklischen‘ Zeitstruktur sprechen – die Marles befänden sich dabei in einer Abwärtsspirale. 78 Vgl. Rasson 1993, 11 und zur Beschreibung der Kirche siehe ER, 200–203. 79 Vgl. demgegenüber bspw. Hugos Gedicht À l’Arc de Triomphe, in welchem es heißt: „Voulezvous qu’une tour, voulez-vous qu’une église / Soient de ces monuments dont l’âme idéalise / La forme et la hauteur, / Attendez que de mousse elles soient revêtues, / Et laissez travailler à toutes les statues / Le temps, ce grand sculpteur !“ (I, vv. 55–60) ; Hugo 1964b, 937–938. 80 Hugo 1964b, 937: „que le fronton s’effeuille comme un arbre. / […] que le lichen, cette rouille du marbre, / De sa lèpre dorée au loin couvre le mur ; / Et que la vétusté, […] / Prenne […] la ronge à la face“ (I, vv. 37–42). Gautiers „lèpre jaune“ könnte an Hugos „lèpre dorée“ angelehnt sein. 81 Hugo 1964b, 937 (I, v. 31). 82 Vgl. Rasson 1993, 19.

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extraordinaires ins Französische übertragen wurde.84 Die berühmte Geschichte handelt von einem Besuch des anonymen und in der Ich-Form erzählenden Protagonisten im Hause Usher. Vom Besitzer Roderick Usher dorthin eingeladen, um Beistand für dessen seelische und physische Krankheit zu leisten, begegnet der Erzähler eines Abends der ebenfalls erkrankten Zwillingsschwester des Hausherrn. Als diese verstirbt, wird sie von den beiden Männern in die Familiengruft getragen und in ihren Sarg eingeschweißt, aber: zu früh wie sich herausstellen wird. In einer stürmischen Nacht wird sie blutüberströmt ihre Gruft verlassen, um sich an ihrem Bruder zu rächen, der um ihr noch vorhandenes Leben wusste. In einem Brief aus Lourps an Arnold Goffin wird Huysmans Überlegungen zum aktuellen Zustand der Literatur anstellen und dabei festhalten: „le classique et le romantique sont inhumés et aucune exhumation […] n’est possible ; le naturalisme [est] moribonde […] – Le côté supranaturel sera épuisé non moins vite – au reste aucun élève n’est possible dans ce champ – […] Edgar Poe [est] sans descendants possibles“ (Huysmans 1974, 4; der Brief ist undatiert). Trotz dieser Behauptung wird Huysmans zumindest versuchen, Poes Nachfolge anzutreten, und zwar durch Nachahmung von dessen Erzählungen. Bereits 1887 weist ein Rezensent von En rade darauf hin, dass in der Ruine die besondere Atmosphäre der maison Usher herrsche,85 ein Urteil, das zahlreiche französische Studien übernehmen,86 wenngleich diese Rekurse zum Teil negativ bewertet werden.87 Wie jedoch eine genauere Betrachtung der französischen Version durch Baudelaire, La Chute de la Maison Usher, zeigt, geht die Bezugnahme von En rade über die bloße Evokation dieses Prätextes hinaus und reicht vielmehr von wortwörtlichen Anklängen bis hin zur Aufnahme handlungstragender Elemente. Die erste Analogie betrifft die Ankunft der Protagonisten am jeweiligen Gebäude gleich zu Beginn der jeweiligen Handlung, denn beide erreichen dieses allein als die Dunkelheit bereits eingebrochen ist.88 Ebenso sind beide von einer un-

83 Vgl. Lhermitte 2012, 256. S. ferner zu Poes Kurzgeschichte im Kontext des Nouveau roman auch den Beitrag von Hannah Steurer in diesem Band. 84 Die Erzählung wurde zw. 1844 und 1884 mindestens 138 Mal ins Französische übersetzt, wodurch Poe zu den meistrezipierten ausländischen Autoren gehörte; Bandy 1977, 270. Es steht jedoch außer Frage, dass „Huysman’s Poe was the Baudelairian one“, siehe Goulet 2017, 204. Siehe zu den beiden Autoren ferner Cevasco 1971; Silva Camarani und Moura Colucci de Camargo 2014. 85 „la vieille demeure abandonnée, […] en […] son mystère de ruine autour de laquelle flotte une atmosphère spéciale de Maison Usher !“ Zit. nach Régnier 1887. 86 Siehe Lefai 1953, 11; „On trouve dans En rade […] une description du château de Lourps qui en fait une sorte de Maison Usher“; Fumaroli 1977, 398. 87 Lefai 1953, 22: „si la critique d’alors […] note déjà cette athmosphère […]; un episode analogue […] cela ne diminue en rien l’œuvre d’art.“ 88 Vgl. hierzu auch de Gregorio Cirillo 1999, 31.

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bestimmten Trauer erfüllt, „[u]ne alanguissante tristesse“ begleitet Jacques (ER, 44), während eine „insupportable tristesse“ die Seele des Erzählers von Poe befällt (Poe und Baudelaire 1974a, 132). In beiden Fällen verspüren die Figuren ferner ein „je ne sais quoi“ (Poe und Baudelaire 1974a, 133), ein Unwohlsein, das sich in Angst wandelt, als sie das Schloss bzw. das Anwesen erblicken89 und sie erleben eine Schwächung ihres Denkvermögens, die vom Bauwerk ausgeht.90 Dass die Macht des Letzteren jedoch viel größer ist, bildet eine weitere Gemeinsamkeit der Texte. Genauer geht es um den Nexus von Bauwerk und Krankheit. So spricht zunächst Poes Erzähler von „une vapeur mystérieuse et pestilentielle“, der die „habitation“ umgibt (Poe und Baudelaire 1974a, 135), anschließend erfährt er im Zwiegespräch mit Usher von gewissen Vorstellungen, auf die der Hausherr sein nervöses Leiden zurückführt: J’appris aussi […] une autre particularité de sa situation morale. Il était dominé par certaines impressions superstitieuses relatives au manoir qu’il habitait, […] relatives à une influence […] que quelques particularités dans la forme même et dans la matière du manoir héréditaire avaient […] imprimée sur son esprit, – un effet que le physique des murs gris, des tourelles et de l’étang noirâtre où se mirait tout le bâtiment, avait à la longue créé sur le moral de son existence. (Poe und Baudelaire 1974a, 140; Kursivierung im Original)

Die Gestalt und die Materie des Anwesens wirken demnach auf den zunehmend wahnsinnigen Usher ein („il faut que je meure de cette déplorable folie“) und verändern nicht nur sein Äußeres, denn er erscheint dem Besucher außerordentlich verändert (Poe und Baudelaire 1974a 140),91 sondern vielmehr seine Moral. Genauso wie Usher leidet auch Jacques an einer Nervenkrankheit, die sich im Zuge des Aufenthaltes in der Schlossruine verschärft. Analog dazu steigt diese in En rade zu einem ,Krankheitserreger‘ auf, der sowohl den Körper als auch den Geist seiner Bewohner ‚infiziert‘: Jacques wird Veränderungen an seinem wie dem Äußeren seiner Frau feststellen92 und überdies wird die Ruine ihre Moralvorstellungen nachhaltig verändern.

89 Vgl. ebd. 90 ER, 171 („l’atmosphère de Lourps changeait les points de vue, émoussait le morfil de l’esprit“); Poe und Baudelaire 1974a, 133 („C’était une glace au cœur, un abattement, un malaise – une irrémédiable tristesse de pensée qu’aucun aiguillon de l’imagination ne pouvait raviver ni pousser au grand. Qu’était donc […] qui m’énervait ainsi en contemplant la Maison Usher ?“). 91 Poe und Baudelaire 1974a, 137–139: „À coup sûr, jamais homme n’avait aussi terriblement changé, en aussi peu de temps, que Roderick Usher !“ (137). Zitat im Fließtext auf S. 139, Kursivierung im Original. 92 ER, 173: „Moi-même je change […], sa peau jaunissait, ses yeux se ridaient […] il avait toujours eu le corps un peu penché, voilà maintenant qu’il se voûtait. […] [I]l s’attrista de se voir si vieux à trente ans.“

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Eine weitere bedeutende Bezugnahme betrifft den Zustand der weiblichen Protagonistinnen. Lady Madeline, die Zwillingsschwester des Hausherrn, ist seit langer Zeit von einer mysteriösen Krankheit befallen, die die Ärzte ratlos lässt: La maladie de lady Madeline avait longuement bafoué la science de ses médecins. Une apathie fixe, un épuisement graduel de sa personne, et des crises fréquentes, quoique passagères, d’un caractère presque cataleptique, en étaient les diagnostics très singuliers. Jusque-là, elle avait bravement porté le poids de la maladie et ne s’était pas encore résignée à se mettre au lit ; mais, sur la fin du soir de mon arrivée au château, elle cédait […]. (Poe und Baudelaire 1974a, 141)

Vor dieselben Herausforderungen stellt auch Louises Krankheit ihre Ärzte, auch wenn diese andere Symptome aufweist: la santé de sa femme égarait la médecine depuis des ans ; c’était une maladie dont les incompréhensibles phases déroutaient les spécialistes, une saute perpétuelle d’étisie et d’embonpoint, […] puis des douleurs étranges, […] tout un cortège de phénomènes aboutissant à des hallucinations, à des syncopes, à des affaiblissements tels que l’agonie commençait au moment même où, par un inexplicable revirement, la malade reprenait connaissance et se sentait vivre. (ER, 42)93

Beide Damen werden im Verlauf der Handlung bettlägerig und, mehr noch: Ihr Tod gilt den männlichen Figuren als etwas Erstrebenswertes. Während Roderick Usher seine Schwester jedoch bewusst bei lebendigem Leibe zu Grabe trägt, muss Jacques sich damit begnügen, Louises Tod in der Imagination auszukosten. Auch die Motivation für letzteres unterscheidet sich maßgeblich: Vom Hause angesteckt, erwartet Usher die Erfüllung seines Schicksals durch die Rache der Schwester und damit den ultimativen Sieg des Anwesens; Jacques hingegen bewegen weniger wahnsinnige, aber auch weniger ‚pathosreiche‘ Gründe. Er wünscht sich lediglich ein unbeschwertes und sorgenfreies Leben als Alleinstehender mit seinen Büchern im warmen Kämmerchen, für welches sich der degenerative und zunehmend abstoßende Zustand seiner Frau als ein Hindernis erweisen würde. Die melancholische Atmosphäre der Ruine in potentia der Maison Usher (zu einer solchen wird sie regelrecht erst in den letzten Zeilen der Erzählung), ihr zersetzender Einfluss auf den Körper und die Psyche der männlichen und weiblichen Bewohner sowie zahlreiche Handlungselemente belegen damit Huysmans’ Bezugnahme auf Poe.

93 Vgl. hierzu auch de Gregorio Cirillo 1999, 31. Auch Bérénice und Ligeia aus Poes gleichnamigen Erzählungen werden den Folgen einer mysteriösen Krankheit erliegen, die, wie im Falle Louises, ihr ganzes Wesen verändert.

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3 Von der Ruine zum Palast: Triebsublimierung und Metapoetik Poes Erzählungen bilden auch in der ersten Traumvision von Jacques einen von mehreren Intertexten, auf die im Folgenden nicht näher eingegangen werden kann.94 Dieser Traum, der als Motiv ebenso wie das Prinzip der Kontrastpoetik, dem er hier gehorcht, romantischer Provenienz ist,95 präsentiert die Ruine nicht als alten, verfaulenden Körper, sondern verwandelt sie in ein Symbol der Fruchtbarkeit, einen Phallus. Der Protagonist wird die Eindrücke am ersten Abend seines Aufenthalts in der Ruine in einem Traum verarbeiten, dessen Inhalt eine Triebsublimierung darstellt. Das Wirken des Unterbewussten wird dabei in den Kontext der alttestamentarischen Geschichte um Esther am Hofe des babylonischen Königs Ahasveros verortet.96 Für die vorliegenden Belange sind dabei zwei Aspekte von Relevanz: zum einen, dass dem eigentlichen Ereignis die Beschreibung eines prächtigen Palastes vorausgeht, der die Ruine zu einer ero-

94 Jacques wird auf dieselbe Art und Weise wie der Protagonist aus Poes Bérénice durch einen plötzlichen Schrei aus seinen Träumen gerissen, dem anschließend eine typographische Unterbrechung des Textes durch eine Zeile von Punkten folgt; auch die titelgebende Dame ist, wie Louise und Lady Madeline krank und das Zimmer, in dem sie liegt, strömt den Tod aus („sentait la mort“; 128); siehe Poe und Baudelaire 1974b, 119–131. 95 Insgesamt gilt Huysmans als ein Pionier des Traumnarrativs in Frankreich, Freuds Traumdeutung von 1899 kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht die Parameter zur Analyse des Zusammenspiels von Traum und Unterbewusstem liefern; siehe Fortassier 1987. Den Träumen von En rade sind zahlreiche Studien, insbes. mit Fokus auf deren psychologische Dimension, gewidmet worden; siehe (in Auswahl) Antosh 1987 (mit Verweis auf die Studien von Gaston Bachelard), für welche die Relevanz des Traumes weniger in der erotischen Komponente liegt, als vielmehr im Einfluss der Bibel auf das Unterbewusste des Protagonisten; als einen alchemistischen „parcours initiatique de Marles-Huysmans“ in Richtung von Formen höheren Wissens (und biographisch motivierter Spiritualität) interpretieren die Träume Mosele 1991 und de Gregorio Cirillo 1999, 101–120; aus einer dezidiert freudianischen Perspektive untersucht schließlich Peter Priskil die Träume und gelangt zu dem äußerst fragwürdigen Schluss, es handle sich dabei um die „zensurbedingte Entstellung“ der „Beobachtung des elterlichen Koitus durch das Kind“ (79); überflüssig erscheint es ihm, dafür eindeutige biographische Belege zu liefern (76: „die ausführliche Biographie Baldicks über Huysmans [enthält] keine Nachrichten, insbes. über dessen Kinderjahre, die uns weiterhelfen könnten“); Priskil 2007. Zum Motiv des Traums in der Romantik siehe hingegen (in Auswahl) Alt/Leiteritz 2005; Goumegou 2007; Porter 1979; Baumüller und Krestin 2005. 96 Sie befindet sich im gleichnamigen Buch des Alten Testaments und Huysmans verweist in En rade eigens darauf, siehe ER, 78–79. 1886 wird Huysmans diese Traumepisode als Fragment in der symbolistischen Zeitschrift La Vogue veröffentlichen; vgl. Huysmans 1886. Huysmans’ Traum ist damit dem Diskurs des Orientalismus verpflichtet, worauf im Folgenden nicht eingegangen werden kann.

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tischen Korrespondenzlandschaft im Zeichen synästhetischer Künstlichkeit verklärt; zum anderen, dass die onirische Begebenheit eine Bibelszene pervertiert, die in Gautiers Histoire du romantisme genutzt wird,97 um die Ehrerbietung für den Meister jener Strömung, Victor Hugo, besonders wirkungsvoll zu vermitteln. Die Traumtätigkeit setzt ein, als Jacques von den Anstrengungen des ersten Tages, aber mehr noch von der Langeweile ermattet, die Wand seines Alkovens betrachtet, die wie das übrige Zimmer mit einer Tapete bedeckt ist, auf der Weinreben abgebildet sind. Als unterdessen die Decke des Alkovens vor seinen Augen anfängt, sich wie Wasser zu kräuseln und anschließend zu ‚verflüssigen‘,98 erspäht er eine Straße, an deren Ende ein Palast emporsteigt: „ce palais […] montait dans les nuages avec ses empilements de terrasses, ses esplanades, ses lacs […], ses tours à collerettes de créneaux en fer, ses dômes […], ses gerbes d’obélisques aux pointes couvertes ainsi que des pics de montagne d’une éternelle neige […]“ (ER, 58–59). Der in babelischer Manier in die Höhe ragende Prachtbau löst sich plötzlich in Luft auf, um der Betrachtung eines riesigen Saals Platz zu machen. Hinter Säulen mit geschmückten korinthischen Kapitellen erstrecken sich darin Quergalerien, die mit verschiedenen wertvollen Materialien verziert sind. Doch damit nicht genug, wachsen um diese Säulen herum Weinreben: „partout, du haut en bas, aux cimes des échalas, aux pieds des tiges, des vignes poussaient des raisins de rubis et d’améthystes, des grappes de grenats et d’amaldines, des chasselas de chrysoprases, des muscats gris d’olivines et de quartz“. Der als „vraisemblable imposture“ (ER, 59) bezeichnete Weingarten ist vollkommen artifiziell und erstrahlt in den Farben der Edelsteine, aus denen seine Früchte und Rebsorten bestehen. Die schwungvolle Bewegung, mit welcher die Ranken die Äste umschlingen, an deren Ende „se balançaient de symboliques grenades dont les hiatus carminés d’airain caressait la pointe des corolles phalliques“, kündigt sodann die erotische Thematik recht eindeutig an, die durch eine unvermittelt vom Boden emporsteigende Art Bettstatt („une sorte de lit“) betont wird (ER, 60). Gegensätzlicher könnten die beiden Herrschaftsbauten dem Leser kaum begegnen. Während in den ‚realistischen‘ Erzählabschnitten die Angst, die Dunkelheit, der Tod und der Verfall ständige Begleiter der Schlossruine von Lourps sind, kündet eine grandiose, schillernde, preziöse Szenerie dem Beobachter im Traum eine Welt im Zeichen des Ästhetizismus an. In beiden Fällen nähert sich der Protagonist dem Bau über eine Straße, an deren Ende das Schloss bzw. der Palast ste-

97 Zugleich lässt sich feststellen, dass Huysmans seine Esther nach dem Vorbild von Mallarmés dekadenter und androgyner femme fatale in dem nach ihr benannten Gedicht Hérodiade modelliert; dies ist bislang in der Forschungsliteratur nicht untersucht worden und kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. 98 Zum Thema des Wassers im Roman siehe Favier-Richoux 1978.

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hen. Ebenso dringt er in beiden Fällen über einen Vorraum, ein Vestibül, das er über einen Gefängnisgang betritt im ersten Fall und einen großen Saal mit rankenden Juwelen im zweiten Fall, zur handlungsentscheidenden Räumlichkeit vor, nämlich dem Schlafzimmer bzw. der Bettstatt. Auf dieselbe Art und Weise dominiert dort das Motiv der Weinrebe die visuellen Eindrücke: Im Wachzustand handelt es sich dabei um eine alte brackige Tapete „imitant une treille“ (ER, 48), im Traum hingegen um eine doppelkodierte, vor Lebendigkeit, Sinnlichkeit und Fruchtbarkeit strotzende Flora, die das für Jacques unerträgliche Wirken der Natur in Kultur übersetzt und das ‚Naturschöne‘ zugunsten des synästhetischen ‚Kunstschönen‘ verabschiedet. Hinter deren fortwährenden Verschlingungen und prall aufblitzenden Früchten lauert ferner die Macht des Eros.99 Dem farblosen, ärmlich ausgestatteten und übelriechenden Schlafzimmer der ‚Realität‘, dem „logis mort“, in welchem frustriertes Verlangen herrscht,100 wird der überbordende Luxus der Materialien, aber auch der chromatischen und olfaktorischen Eindrücke entgegengesetzt, in einem Gebäude, das die Sinnlichkeit nach innen und außen, durch die phallisch konnotierte Architektur (Obelisken und Türme etwa), zur Schau stellt. Eine Besonderheit des Traum-Palastes ist indessen die gewissermaßen religiöse Anlage des Innenraums hin zur Bettstatt: Es ist von einem (Haupt‑)Schiff („nef“) die Rede, das an seinem Ende gerundet ist „tel que les chevets à verrières des basiliques“ (ER, 59), wobei ‚chevet‘ zum einen das Kopfende eines Bettes und zum anderen die Apsis bedeuten kann, welche einen Kirchenraum abschließt. Das Detail ist alles andere als nebensächlich, nähert es doch den Palast einem Kirchenbau an und sakralisiert den profanen Akt, der sich kurz darauf abspielen wird. Zugleich ließe sich das Detail als Geste der Profanierung eines als Sakralbau angelegten Palastes im Zeichen des urchristlichen Symbols der Weinrebe deuten, aber mehr noch der biblischen Episode (Est 5,1), die entgegen ihres ursprünglichen Wortlautes, als Vehikel der kodierten Versprachlichung eines Geschlechtsaktes und vor allem der männlichen Lust genutzt wird.101 Für die Darstellung von deren Höhepunkt spielt schließlich abermals der Palast eine entscheidende Rolle. Nachdem nämlich die Figur der Esther entblößt wurde und sich auf den Knien vor dem König befindet, hält dieser ihr in einem Akt der Unterwerfung das ebenfalls phallisch konnotierte Zepter zum Kuss entgegen, woraufhin der enorme Saal er-

99 ER, 78: „la Vigne géante, sœur […] de la Nudité charnelle, sœur d’Esther, de la Vigne s’alliant pour sauver Israël.“ Gerade aufgrund der Künstlichkeit, Schönheit und Fruchtbarkeit lässt sich die „inconcevable végétation“ des Weingartens als Gegenentwurf zum oben thematisierten Schlossgarten deuten (ER, 60). 100 ER, 211: „Avec Louise, malade et lasse, inquiète et froide, aucun désir n’était possible“. 101 Auch der dritte Traum in En rade folgt einer Logik der Profanierung.

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schüttert wird und beginnt, zu wachsen: „le palais monta s’agrandissant encore, s’envolant, se perdant dans le ciel, éparpillant, pêle-mêle, sa semaille de pierreries dans le labour noir où scintillait, là-haut, la fabuleuse moisson des astres“ (ER, 63). Diese Pervertierung der biblischen Geschichte geht in En rade mit der eines weiteren Intertextes einher, die diesmal eine metapoetische Bedeutung annimmt. Auch in Gautiers Literatur- und Sozialgeschichte der Romantik, der Histoire du Romantisme, dient dieselbe Stelle aus dem Buch Esther dazu, einen Höhepunkt zu schildern. Genauer wird sie als Vergleich für die Gefühle des Autors herangezogen, als dieser es nach drei Anläufen endlich schafft, die Bekanntschaft mit seinem ‚Idol‘ Victor Hugo zu machen: Apparut […] Victor Hugo, lui-même dans sa gloire. Comme Esther, devant Assuérus, nous faillîmes nous évanouir. Hugo ne put, comme le satrape vers la belle Juive, étendre vers nous pour nous rassurer, son long sceptre d’or, par la raison qu’il n’avait pas de sceptre d’or. […] Il nous releva de la manière la plus gracieuse […]. (Gautier 1864, 10)

Im Rahmen dieses Autorisierungsnarrativs versetzt sich Gautier durch den Vergleich in eine weibliche Rolle, während Hugo an die Stelle von Assuerus tritt. Sowohl in der Bibel als auch in der Histoire bildet Zuneigung die Basis der Beziehung und der Kontakt zum Zepter dient der Rückversicherung der bzw. des Unterworfenen. Die Machtgeste ist also mit einer Erhöhung verbunden, die im Falle Gautiers seine Aufnahme in das ‚Pantheon‘ der Romantiker bedeutet, eine Sodalisierung im Kreise der Strömung. Huysmans’ Adaption der Textstelle macht aus dem Vergleich eine Allegorie der Sinnlichkeit. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis bei Gautier wird zu einer erotischen Beziehung verfremdet, die, wie uns scheint, zusätzlich ins Lächerliche gezogen wird: Aus dem weiblich konnotierten Gautier, der vor dem virilen Hugo beinahe in Ohnmacht fällt, macht Huysmans regelrecht eine Frau, während Hugo zwar in seiner regalen Position verbleiben darf, indessen alle Merkmale seiner (auch intellektuellen) Kraft und Gewalt, wie sie ihm Gautier zuweist,102 einbüßt. So lässt sich die Versunkenheit des Königs in En rade vor diesem Hintergrund womöglich als Absage an eine als hypertroph empfundene

102 Vgl. Gautier 1864, 12–13. Huysmans’ melancholischer König scheint vielmehr der Herrschaftsfigur aus Baudelaires drittem Gedicht aus der Spleen-Serie der Fleurs du Mal nachempfunden: „Je suis comme le roi d’un pays pluvieux,/ Riche, mais impuissant […]/ Qui […] S’ennuie/ […] Rien ne peut l’egayer/ […] [Rien] Ne distrait plus le front de ce cruel malade;/ Son lit fleurdelisé se transforme en tombeau,/ Et les dames d’autour, pour qui tout prince est beau,/ Ne savent plus trouver d’impudique toilette/ Pour tirer un souris de ce jeune squelette“ (vv. 1–13); Baudelaire 1975, 74.

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romantische Geste der Weltschöpfung und -aneignung durch den Künstler deuten, wie wir sie etwa im Zusammenhang von Hugos Soleils couchants beobachtet haben: „Il régardait à ses pieds […] las peut-être de l’inutilité de la toute-puissance et des inaccessibles aspirations qu’elle fait naître“ (ER, 60). Als finales Moment dieser Absage lässt sich der zu einer Metonymie dieses Königs gewordene Palast deuten, der zwar dessen wertvolles „Saatgut“ verteilt, allerdings umsonst, denn entgegen seiner Schönheit ist es vollkommen unfruchtbar, und zwar – so will es scheinen – auf dieselbe Art wie die Romantik für einen décadent schön, aber letztlich steril ist.

4 Schlussbemerkung Die Ruine von Lourps situiert sich in einem komplexen Netz an Zuschreibungen, die es erlauben, das Motiv an der Schnittstelle ästhetischer und poetologischer Diskurse zu verorten. In Anlehnung an Strategien der romantischen Poetik (Korrespondenz, Kontrast, Traumspiegelung, Idealisierung, Darstellung nationaler Ruinen) bzw. ihrer ‚schaurigen‘ Spielart macht Huysmans sein Schloss zu einem düsteren halbmittelalterlichem Relikt, in dem eine unheimliche todesschwangere Atmosphäre herrscht und in dem sich (nicht zuletzt im Innenleben der Figuren) Unheimliches abspielt. Durch die intertextuelle Bezugnahme auf Schwellentexte der gothic fiction, und hier insbesondere Poes maison Usher, wird die Filiation des Motivs einer intrinsischen Verbindung zwischen dem ruinösen und krankheitserregenden Zustand des Gebäudes und der (moral‑)pathologischen sowie physischen Degeneration seiner Bewohner deutlich. Diese erlaubt es ihm, den Bogen von der Romantik über den Naturalismus und hin zur Dekadenz zu spannen. Anhand des Rekurses auf den ebenfalls schauerromantisch beeinflussten Roman von Gautier, Capitaine Fracasse, der denselben Nexus von Bauwerk und Krankheit aufweist, wird in En rade sodann die für die Ruinenthematik entscheidende Dialektik zwischen Natur und Kultur anhand des Zustands des Schlossgartens verhandelt. Indessen lässt sich erkennen, dass der Ruinendiskurs bei Huysmans deutlich anders gelagert ist: Seine Ruine ist frei von jedweder Form der Idealisierung. Hierdurch radikalisiert er die in der romantischen Ästhetik des Hässlichen bereits angelegte Wechselwirkung von Bauwerk und Krankheit bzw. Alterung zu einer Darstellung des Abstoßenden, die sich auf den medizinischen Diskurs stützt. Mit diesem geht kein angenehmes Grauen einher, sondern das Abscheuliche wird in Richtung der Wirkfunktion des Ekelhaften forciert. Angesichts dessen werden die Reaktionen des eingangs erwähnten Rezensenten verständlich, nur liegt die Ursache hierfür nicht exklusiv im Naturalismus.

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Die Ruine wird so zum Symbol eines allumfassenden Verfalls, der die Werte und Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft systematisch destruiert und auch die Geschichte zu einer nicht mehr einholbaren Dimension macht – aufklärerischer Fortschrittsoptimismus, aber auch jede andere Form der Teleologie scheinen in einer epoché aufgehoben, die sich bereits in der nautischen Metaphorik des Titels ankündigt. Wo die Romantik aus der semantischen Komplexität der Ruine einen hermeneutischen Vorteil zieht, der etwa ihre Geschichte und die Position des Subjekts innerhalb derselben lesbar macht, und damit Identität herstellt, versperrt sich Huysmans’ Schloss jeglicher finaler Deutung durch semantische Proliferation, in einem Prozess der (Wesens‑)Einheit und Identität grundlegend zersetzt. Schließlich offenbart die große Aufmerksamkeit für die Artifizialität auf sowohl der Ebene der histoire (Traumvision) als auch auf der des discours, aufgrund des Ästhetizismus und der starken Präsenz sowie Konzentration von zum Teil sehr heterogenen Intertexten auf engstem Raum, Huysmans’ Distanznahme von sowohl romantischen als auch naturalistischen Nachahmungspostulaten – die einen lehnen die imitatio auctoris (zumindest nominell) strikt ab, die anderen betreiben hingegen eine imitatio naturae, eine Wirklichkeitsnachahmung des im positivistischen Sinne begriffenen ‚Wahren‘. Gleichzeitig machen sie seine Hinwendung zu einer eklektizistischen Nachahmungspraxis und -poetik manifest, die noch einer umfassenden systematischen Untersuchung bedarf. In keinem der späteren Romane von Huysmans wird das Motiv der Ruine (wie des Traums) jedenfalls eine derartige Prominenz einnehmen, insofern muss En rade in der Tat eine Ausnahmestellung im Œuvre ihres Autors zugeschrieben werden. Was indessen keine Ausnahme bildet, sondern vielmehr zu einem Kernelement der Poetik von Huysmans bis hin zu L’Oblat (1903) wird, ist die systematische Auseinandersetzung mit der Romantik, die in den Folgewerken auf der Basis anderer Motive und Diskursverfahren geführt wird.

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Abbildungsverzeichnis

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Ruine und Revolution. Zur Zeitlichkeit des gesellschaftlichen Umbruchs in utopischen anarchistischen Schriften zwischen 1881 und 1936 1 Zum utopischen Potenzial des Anarchismus Utopisch – das ist wohl derjenige Begriff, der die Druckerzeugnisse aus der Frühphase der anarchistischen Bewegung in Spanien1 am treffendsten charakterisiert. Zeitungsartikel, Flugblätter, Kurzgeschichten, Theaterstücke und Romane dieser Provenienz2 entwickeln zwischen 1881 und 1936 wiederholt Alternativen zur nationalstaatlichen Souveränität, die den Einzelnen unfrei mache,3 zum industrialisierten, kapitalistischen Wirtschaftssystem, das ungleiche Vermögensverteilung, soziale Spaltung und moralischen Verfall bedinge,4 sowie zum Katholizismus, der den Einzelnen in seiner Entfaltung behindere.5 Über die revolutionäre oder edukative Ausräumung bestehender Machtstrukturen, so der Diskurs, solle ein neuer Mensch, eine neue Gesellschaft entstehen, solle sich eine Selbstherrschaft etablieren, die auf den Gewissenserwägungen des Individuums sowie auf konsensuell getroffenen Entscheidungen fuße,6 Freiheit, Gleichheit und Solidarität ermögliche und mithin eine wahrhafte Umsetzung der Ideale der Französischen Re-

1 In Spanien tauchen ab den 1860er Jahren anarchistische Gruppierungen auf, seit den 1880er Jahren sind sie so weit verbreitet und fest gesellschaftlich verankert, dass sie als soziale Akteure mit charakteristischem Profil wahrgenommen werden (vgl. Manfredonia 2001, 33). Bis 1920 haben sie sich dergestalt konsolidiert, dass sie aus der soziopolitischen Landschaft nicht mehr wegzudenken sind (vgl. Esenwein 1989, 6). Der Anarchismus stellt mithin im Untersuchungszeitraum eine politisch und gesellschaftlich stark prägende Strömung dar. 2 Das Publikationswesen bildet den Kernbereich der anarchistischen Interaktion, weshalb es in der damaligen Zeit zu zahlreichen Gründungen gruppenspezifischer Publikationsorgane kommt, die sich dezidiert von der angenommenen Korrumpiertheit der bürgerlichen Presse und ihren institutionellen Kanälen absetzen und nicht nur inhaltlich, sondern auch hinsichtlich Sprache, Typographie, Leser*innenbindung eine Alternative darstellen (vgl. Litvak 1995, 235). 3 Vgl. Dugast 2001, 7. 4 Vgl. Vicente 2013, 33. Auch besteht eine gewisse Präferenz für die Gattung Utopie im anarchistischen Schreiben (vgl. Aisa 2017, 20). 5 Vgl. Junco 1976, 71. 6 Vgl. Junco 1976, 17. https://doi.org/10.1515/9783110757811-009

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volution bedeute.7 Allgemeiner gesprochen: Indem die Texte Große Erzählungen einer Gemeinschaft entwerfen, die über bestehende Strukturen hinausweisen, manifestieren sie eine Spaltung zwischen Sein und Bewusstsein, die auf die Kritik, Ausräumung und Ersetzung des Status quo abzielt.8 Eine Verbindung dieses utopischen Grundgestus zur Ruine liegt nicht zwangsweise auf der Hand bzw. sie erscheint in gewisser Weise sogar abwegig. Vor allem die Zeitlichkeitsvorstellungen, die an beide Gegenstandsbereiche bis dato gekoppelt sind, divergieren und erzeugen Reibungen: Das Utopische – laut Marc Bloch der Inbegriff des Noch-Nicht9 – ist vorwärtsgewandt, präsentiert eine idealisierte Version der Zukunft und drängt auf deren Realisierung. Der Diskurs um die Ruine hingegen dreht sich in der barocken, aufklärerischen und romantischen Tradition primär um die Vergangenheit,10 nicht selten ist er mit einem nostalgischen, elegischen oder schwärmerischen Ton und damit vorwiegend einer kontemplativen Haltung verknüpft.11 Umso mehr mag es verwundern, dass in den anarchistischen faktualen und fiktionalen Texten Ruinenerwähnungen doch mit einer gewissen Häufigkeit zu finden sind, dass diese mithin auch im modernen Kontext nicht obsolet werden oder ihre Attraktivität zu verlieren scheinen. Die folgenden Ausführungen gehen der Frage auf den Grund, inwiefern sich utopisches Denken und Ruine im Kontext des Anarchismus nicht nur vereinen lassen, sondern, wie die Ruine in der Frühphase der Bewegung sogar zum Motor der Propaganda werden kann. Dabei fokussieren sie vor allem den Aspekt der spezifischen Zeitlichkeit von Utopie und Ruine. Hierzu erstellen sie zunächst anhand von Alfonso Martinez Rizos 1945. Advenimiento del comunismo libertario exemplarisch ein Profil des utopischen, anarchistischen Zeitkonzepts, um dieses im Anschluss mit den Ruinendarstellungen abzugleichen. Intention ist es, unter Berücksichtigung der diskursiven und literarischen Rahmenbedingungen der je-

7 Diese werden als nur zum Schein realisiert angesehen: Den Bürgern werde, so die anarchistische Argumentation, in der repräsentativen Demokratie die Möglichkeit zur Partizipation an Entscheidungen vorgegaukelt, wobei sie jenseits der Wahlen realiter der Souveränität des Staatsoberhaupts ausgeliefert seien (vgl. Beaud 1994, 305). 8 Zur Definition des Utopischen als Große Erzählung: vgl. Lenk 2005, 34; als Spaltung zwischen Sein und Bewusstsein: vgl. Mannheim 1965, 169; als Motor des Wandels: vgl. Levitas 2010, 209. 9 Vgl. Bloch 1980, 108. 10 Man denke an Georg Simmels Auffassung der Ruine als „anschauliche Gegenwart der vergegenständlichten Vergangenheit“ (vgl Sturm 1996, 94). 11 Vgl. Villemur 2016, 195. Michel Makarius liest in seiner Kulturgeschichte Ruinendarstellungen als Indikator der epochenspezifischen Beziehung zu Vergangenheit und Zukunft. Dabei bringt er die barocken Ruinendarstellungen mit dem Nostalgischen, die aufklärerischen mit dem Sublimen und die romantischen mit dem Pittoresken in Verbindung (vgl. Makarius 2004, 9–10, 69, 95 und 144).

Ruine und Revolution

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weiligen Texte, ausgehend vom kreativen Umgang der Autor*innen mit der Ruine deren moderne Neubewertung und deren kulturellen Stellenwert zu skizzieren.

2 Zur Spezifität der Zeitlichkeit anarchistischer Utopien Obschon sie damals sonst eher wenig populär ist,12 lässt sich bei den Autor*innen aus der Frühphase des Anarchismus eine Präferenz für die literarische Utopie ausmachen, da sie sich für die Aushandlung alternativer Gesellschaftsmodelle in besonderer Weise eignet.13 Es erscheint im Untersuchungszeitraum ein gutes Dutzend Utopien und das, obwohl die Gattung in Spanien davor so gut wie keine Tradition besitzt.14 In deren vergleichender Lektüre lässt sich eine schrittweise inhaltliche und ästhetische Ausdifferenzierung beobachten, die gleichsam in 1945 von Alfonso Martinez Rizo gipfelt, weshalb dieser Text hier zur Profilierung der typischen Zeitlichkeit des anarchistischen Denkens herangezogen wird. Der Protagonist dieser 1933 verfassten Uchronie15 wacht eines Morgens auf und gewahrt, dass er über Nacht zwölf Jahre in die Zukunft, eben ins Jahr 1945, gereist ist. Zunächst liest er in seinem Tagebuch, das er in seinem Zimmer vorfindet, nach, dass infolge revolutionärer Erhebungen eine gesellschaftliche Transformation weg vom Kapitalismus hin zum Sozialismus eingesetzt hat; daraufhin schließt er sich anarchistischen Versammlungen, Demonstrationen und Aufständen an, um die Veränderung noch weiter zu treiben und die Akratie zu implementieren. Auf einer dieser Veranstaltungen wird er von der sozialistischen Polizei festgenommen und wegen Demagogie zum Tod verurteilt. Seine Hinrichtung erle-

12 Zum einen sind zu diesem Zeitpunkt eher die Anti-Utopien auf dem Vormarsch (vgl. Werder 2009, 109), zum anderen distanzieren sich Marxist*innen und Sozialist*innen dezidiert von der Gattung, die idealistische Schwärmereien konkreten Maßnahmen vorziehe (vgl. Levitas 2010, 69). 13 Vgl. Gómez Tovar 1991, 5. Die Topoi werden dabei im Sinne der eigenen Ideologie fortentwickelt (vgl. Ramos-Gorostiza 2009, 12). Dementsprechend wird der ideale Staat durch eine Selbstherrschaft ersetzt, es werden die Wichtigkeit von Revolution und Transformation betont und es findet eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen wissenschaftlichen/philosophischen Diskursen (z. B. Evolutionstheorie, Malthusianismus, Eugenik, Kriminologie, Determinismus, Positivismus, geschichtsphilosophischen Heilsideen, Nihilismus oder primitivistische Kulturkritik) und literarischen Schreibweisen (z. B. Realismus, Naturalismus, Symbolismus) statt. 14 Vgl. Aviles Fernandez 1976, 15. 15 Es handelt sich um keinen uchronischen Text in Reinform, zumal keine unumschränkt ideale Welt präsentiert wird, sondern auch Problematisierungen (v. a. der sozialistischen Regierung) stattfinden.  





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ben er und der die Leser*innen allerdings nicht mehr, da er vom Gefängnis aus durch die Zeit zurücktransferiert wird und in seinem Bett 1933 wiedererwacht, woraufhin er beschließt, seine Erkenntnisse und Erlebnisse aus der Zukunft im vorliegenden Text festzuhalten. Bereits dieses konzise Resümee lässt in Hinblick auf die Zeitlichkeit eine ausgeprägte Fluidität konstatieren. Der Protagonist überwindet sämtliche temporalen Beschränkungen problemlos,16 was textuell durchaus positiv konnotiert ist: Auch wenn seine Zeitreisen nicht intentional, sondern zufällig erfolgen, mögen sie dem Rezipienten geordnet erscheinen, zumal die zirkuläre Struktur (1933 – 1945 – 1933) den Eindruck von Abgeschlossenheit besorgt. Außerdem dienen als Rechtfertigung für sie der Traum bzw. der übermäßige Drogenkonsum vom Vorabend, also zwei Elemente, die im Imaginären der damaligen Zeit aufgrund ihres transgressiven Charakters ein Faszinosum darstellen.17 Unterstrichen wird diese Fluidität durch das Spiel mit Faktualität und Fiktionalität. Auf der einen Seite ist 1945 mit „una visión novelesca del porvenir“ übertitelt und im einleitenden Passus expliziert der Schreiber diesen imaginären Status.18 Auf der anderen Seite erfährt die Referenzialität eine deutliche Betonung: Der Text spielt wiederholt auf politische Ereignisse und berühmte Persönlichkeiten aus der Realität des Lesers an,19 wechselt stellenweise in den berichtenden Modus (indem er etwa eine Auflistung historischer Eckdaten integriert, 251) und nimmt Manifestcharakter an (indem er ein 19-Punkte-Programm zur gerechten Güterverteilung präsentiert, 263). In dieser Modellierung eines polymorphen Zeitkonzepts und eines unklaren Referenzstatus kommt eine Auflösung regulierender Strukturierungen zum Ausdruck,

16 Dies trägt nicht nur zu seiner Heroisierung bei, sondern er eignet sich auf diese Weise auch einen Wissensvorsprung an, der ihm Glaubwürdigkeit verleiht. 17 Die Überschreitung und Transzendierung der Wirklichkeit, welche in Traum und Rausch erfahren werden können, stellt vor allem für avantgardistische Schreiber ein Faszinosum dar, weshalb sich das Motiv in der Literatur der Jahrhundertwende häuft (vgl. Feustel 2013, 94–99). Im Übrigen finden sich zumal Ende des 19. Jahrhunderts nicht wenige Konvergenzen und Synergien zwischen dem avantgardistischen und anarchistischen Schreiben (vgl. Eisenzweig 2001, 500). 18 Es heißt: „Necesita, pues, el autor, poner a contribución su imaginación para poder presentar un cuadro plástico del nuevo orden de cosas que ambicionamos los anarcosindicalistas“ oder „Puede ser que tengan razón los impacientes y que la revolución social ocurra mucho antes de la fecha por mí imaginada“ (Seitenzahlen hier und im Folgenden aus Martínez Rizo 1991, 249, Kursivierung T.H.). 19 Namentlich erwähnt werden etwa der Politiker und Unternehmer Juan Pich y Pon, der Präsident des Partido Republicano Radical Alejandro Lerroux, der Präsident unter Alfonso XIII Manuel García Prieto sowie die Schriftsteller Ángel Samblancat und Miguel de Unamuno (Martínez Rizo 1991, 253).

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wie sie der Anarchismus ja nicht nur für den ästhetischen, sondern auch für den gesellschaftlichen Bereich vorsieht. Neben der Transgressivität charakterisiert eine ausgeprägte Dynamik die Temporalität von 1945. Diese gilt nicht nur in Bezug auf den Protagonisten, der in seinen Zeitreisen flexibel zwischen semantischen Räumen wechselt,20 sondern auch hinsichtlich der dargestellten Gesellschaft, in der sich zahlreiche Umbrüche vollzogen haben, und im diegetischen Präsens auch vollziehen. Sie sorgen für Dialogizität, bedingt doch die simultane Präsenz der jüngeren und älteren Version der Hauptfigur ein ständiges, expliziertes Oszillieren zwischen zwei divergenten Bewusstseinen und sorgt das wiederholte Zurückkommen auf die Realität der Leser*innen für ein vergleichendes Springen zwischen Fiktion und Alltag.21 Die gezeigte Gesellschaft erscheint demnach als etwas genuin Veränderbares, in Transformation Begriffenes; der Umbruch, nicht der Status ist als Nullstufe gesetzt. Unterstrichen wird dies durch metafiktionale Elemente: die beständige Selbstthematisierung des Protagonisten als Autor namens Rizo (Martínez Rizo 1991, 254; 273), der etwa am Kiosk auf seine Veröffentlichung El amor dentro de 200 años aus dem Jahr 1932 stößt (255)22 und die mise en abyme, dass der Protagonist beim Aufwachen in der Zukunftswelt das Buch, das der Leser in Händen hält, findet, das er nach seiner Rückkehr in die Gegenwart schreiben wird, und es selbst anliest (303).23 Diese komplexen Verwicklungen, die für den Rezipienten durchaus eine kognitive Herausforderung darstellen können, akzentuieren den Eindruck der Dynamisierung. Fürderhin lässt sich in der Modellierung der Zeit eine Tendenz zur Präsentifizierung ausmachen. Den Leser*innen wird das Zukünftige als Gegenwärtiges dar-

20 Die Zeitreise, welche sich als Motiv in der Literatur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert findet und in enger Verbindung mit Phantastik, Science Fiction und Utopie steht, bietet nicht selten eine Auseinandersetzung mit dem Thema ‚freier Wille vs. Determinismus‘: Indem mit den Möglichkeiten eines Eingriffs in die Geschichte gespielt wird, kommt es zu einer Betonung der Handlungsmacht der Protagonisten (vgl. Lehnert-Rodiek 1987, 181 und 204). 21 Hierzu tragen nicht zuletzt auch die zahlreichen Leser*innenansprachen in der ersten Person Plural bei, die sich nicht nur im einleitenden Paratext, sondern auch über den Haupttext verstreut finden. 22 Die Erwähnung dieses Buchs, das eine Mischung aus Utopie und Dystopie darstellt und mit einem selbstironischen Augenzwinkern auch die Probleme libertärer Gesellschaften thematisiert, dient nicht nur der Selbststilisierung des Autors im literarischen Feld in Rekurrenz auf avantgardistische Schreibweisen wie die Metafiktion, sondern hat auch eine werbetechnische Funktion. 23 Die Tatsache, dass der Protagonist das Buch, nachdem er es in der Zukunftswelt auf seinem Schreibtisch aufgefunden hat, nicht vollständig liest, sondern sich stattdessen entscheidet, es zu erleben, entspricht dieser Präferenz für Dynamik und korrespondiert mit dem anarchistischen Prinzip der Direkten Aktion, auf das später noch etwas genauer eingegangen wird.

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geboten, was nicht nur inhaltlich über die Zeitreise verwirklicht, sondern auch über den Tempusgebrauch akzentuiert wird: In der Realität der Rezipient*innen noch zu unternehmende Schritte zur anarchistischen Gesellschaft sind im Text im indefinido, als abgeschlossen, präsentiert (z. B. Martínez Rizo 1991, 268). Damit einher geht eine Schreibweise, die dem Adressaten das Kommende besonders konkret vor Augen führt. Minutiös werden die libertären Errungenschaften beschrieben, wobei selbst auf alltagsweltliche Details wie das genaue Vorgehen beim Lösen eines Bustickets oder das neue Design der zur Verfügung gestellten Wohnungen eingegangen wird – ein effet de réel, der in der Vorstellung der Leser*innen eine Immediatisierung besorgen mag.24 Nicht zuletzt steht die Modellierung der Zeitlichkeit in 1945 mit einer pragmatischen Orientierung in Verbindung. Die Zeitreise des Protagonisten verleiht der Gegenwart der Leser*innen ein Telos, die zu ergreifenden Maßnahmen sind in klaren Linien vorgezeichnet, was zum Kampf für die bessere Gesellschaft motivieren kann. Akzentuiert wird dies durch die Modulation der Erzähldauer, die eine qualitative Gewichtung der Ereignisse vornimmt: Indem die zeitweise Verschlechterung der Umstände unter der sozialistischen Regierung sowie der Gefängnisaufenthalt des Protagonisten gerafft, die Verhaftung sogar elliptisch dargestellt sind, die Übernahme der Macht durch die Anarchisten hingegen szenisch ausgewalzt wird, lenkt der Text den Fokus auf Kampf und Sieg und verdrängt eventuelle negative Begleiterscheinungen. Handeln erscheint dadurch als etwas Positives und Effektives und in jedem Fall besser als Nichtstun. Diese vier ästhetischen Strategien im Umgang mit Zeitlichkeit – die Betonung der Transgressivität, die Dynamisierung, die Präsentifizierung und die Handlungsorientierung – stützen nicht nur das propagandistische Ziel, zu suggerieren, dass gesellschaftliche Veränderung unmittelbar möglich ist, wenn sie nur in Angriff genommen wird, sondern korrelieren auch mit den philosophischen Positionierungen des Anarchismus: Sie sollen eine optimistische, zukunftsorientierte Perspektive nahebringen, die einer nostalgischen Abwendung von den Neuerungen des industriellen Zeitalters oder einer nihilistischen Klage über die gegenwärtige, desaströse Lage entgegensteht.25 Sie sollen von der Realisierbarkeit der Transformation überzeugen, was der damals hochpräsenten, bestehende Machtverhältnisse zementierenden deterministischen Gesellschaftsauffassung zuwider 

24 Zur immediatisierenden Funktion des Realitätseffekts vgl. Hiergeist 2014, 374–375. Nicht zuletzt trägt auch die einleitende Reflexion über die Datierung des anarchistischen Umsturzes auf das Jahr 1945 zur Präsentifizierung bei, in deren Rahmen der Verfasser anmerkt, selbstverständlich könne es – bei entsprechender Motivation der Arbeiterschaft – auch schon früher zur Revolution kommen (Martínez Rizo 1991, 249). 25 Vgl. Junco 1976, 528; Glöckner 1995, 131.

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läuft.26 Sie sollen Vitalismus und Spontaneität übermitteln27 und entsprechend dem Konzept der Direkten Aktion28 zum Agieren statt zum Reagieren animieren. Kurz gesagt: Sie zielen auf die Selbstermächtigung des marginalisierten Subjekts per Revolution ab.

3 Zeitlichkeit der anarchistischen Ruine Diese Ergebnisse sind nun auf den ersten Blick mit den Konnotationen, die der Zeitlichkeit von Ruinen konventionellerweise anhaften, kaum vereinbar, kontrastiert die anarchistische Zukunftsorientierung und Immediatisierung doch mit dem Verweis auf die Vergangenheit, ihre Aktivität und Dynamik mit der durch sie häufig induzierten Kontemplativität angesichts einer bereits geschehenen Veränderung. Wie die Zeitlichkeit von Ruinen nichtsdestotrotz für die anarchistische Sache produktiv gemacht wird, behandelt der zweite Teil meiner Ausführungen, der Ruinendarstellungen in unterschiedlichen faktualen und fiktionalen Texten utopischer Intention29 in den Blick nimmt. Zunächst taucht das Lexem ‚ruina‘ in den untersuchten Schriften relativ häufig auf. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass es im Spanischen nicht nur ein verfallenes Gebäude bezeichnet, sondern allgemein Niedergang und Elend, so dass gehäuft von der „ruina de los pobres/de los trabajadores/del pueblo“30 die Rede ist, von der Kapitalisten, Politiker, Militär und Kleriker profitierten. Dieser metaphorische Wortgebrauch hebt mittels seines reifizierenden Charakters auf die Funktionalisierung, Ausbeutung und Entmenschlichung ab, welche die bestehenden, ungleichen wirtschaftlichen, religiösen und politischen Machtstrukturen

26 Vgl. Préposiet 2002, 62. 27 Vgl. Roselló 2003, 137. 28 Als Direkte Aktion werden Handlungen verstanden, welche die erwünschte Gesellschaftsordnung im hic et nunc des kapitalistischen Nationalstaats unmittelbar beginnen lassen, etwa die Gründung von kollektivistisch geführten Unternehmen, Kommunen oder Reformschulen (vgl. Loick 2017, 185–192). 29 Als Korpus dienen hier die Ausgaben der meistrezipierten anarchistischen Zeitschriften Bandera social und La Revista blanca zwischen 1885 und 1936. Indem sie vielfältige Themen (politische Aktualität, wissenschaftliche Erkenntnisse, soziokulturelle Streitfragen, pädagogische Theorien und Literatur in Form von Kurz- und Fortsetzungsgeschichten, Gedichten und Theaterstücken) präsentieren, decken diese ein breites inhaltliches Spektrum ab und propagieren darüber nicht nur anarchistische Ideen, sondern auch einen anarchistischen Lebensstil (vgl. Madrid 2006, 111). 30 Etwa in: Anonym 8.3.1885, 1; Anonym 28.6.1885, 1; Anonym 16.8.1885, 2; Anonym 20.9.1885, 3; Anonym 1.11.1885, o. S.; Lorenzo 1901, 422.

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für die Arbeiterklasse bedeuten.31 Doch die Anzeige des beklagenswerten Gesellschaftszustandes über ‚ruina‘ funktioniert nicht nur, indem die Arbeiter*innen in der Opferrolle gezeigt werden, sondern auch, indem ihnen die Verantwortung für den Verfall übertragen wird. Dementsprechend wird als Wurzel des Übels häufig eine generelle ruina moral im Sinne einer sittlichen Dekadenz und Verrohung, identifiziert: Ichbezogenheit, Nihilismus und Trunksucht,32 Lethargie, Gleichgültigkeit und Resignation bedingten dieses, so der Tenor, und spielten dem verhassten System damit geradewegs in die Hände.33 Dies wird bisweilen auch über die Beschreibung konkreter Ruinen verbildlicht, etwa, wenn in der Kurzgeschichte En un mundo esclavo ein Intellektueller, der seine Zeitgenossen durch Reden auf dem Marktplatz aufrütteln möchte, in Bezug auf den Gesellschaftszustand betont: [E]sa casa pesada y sucia está impregnada con la sangre de los hombres que perecieron. Amenaza ruina. El presentimiento de su próxima destrucción la penetra. Vacilante aguarda su total derrumbamiento. Las apenas y por momentos se las ve mostrarse impacientes. Al fin actuarán, y el viejo edificio, al hundirse, aplastará vuestras cabezas. (Gorki 1901, 367)

In ähnlicher Weise spiegelt im Theaterstück Escenas de familia der Chronotopos eines ruinösen Hauses die Traurigkeit und Desillusion seiner Bewohner wider: [H]ace frío en esta casa. Encendimos la estufa, pero hace frío. Una casa ruinosa... El viento se cuela por todas partes... Y vuestro padre, ¡tiene un humor!... Se queja de los riñones... Es viejo ya... ¡Otra ruina! Los disgustos... el desorden... los gastos... las atenciones constantes... (Gorki 1904, 598)

In der Reportage Campos, fábricas y talleres heißt es über fruchtbare Ländereien, die von den verarmten Bauern verlassen worden sind: en todas direcciones se encontraban granjas y arboledas amenazadas de ruina. Una población entera ha desaparecido, y hasta sus últimos vestigios lo harán también si las cosas continúan en el mismo estado; y esto ocurre en una parte del país dotada de un suelo fertilísimo […]. (Kropotkin 1901, 74)

31 Es heißt in diesem Kontext beispielsweise auch, die Arbeiter*innen seien „considerados como medios, como máquinas de producción“ (Anonym 8.3.1885, 1), während den Kapitalist*innen „antropofagismo civilizado“ vorgeworfen wird (Anonym16.8.1885, 2). 32 Vgl. Recus 1900, 31. 33 Es heißt hierzu etwa: „¿No sois también víctimas de la explotación? Pues, si lo sois, no llevéis vuestra candidez hasta tolerar nuestra verdadera ruina; no os resignéis con la desgracia, que es un crimen“ (Anonym 26.4.1885, 3) oder „lo que entristece y deprime, es que la clase obrera, en todas partes, deja hacer, deja pasar el mal, la ruina en marcha rápida“ (Nettlau 1926, 134). Mit der Beschreibung dieser moralischen Dekadenz einher geht nicht selten die Beschreibung der ruina física der Figuren, die mit kranker oder deformierter Physiognomik gezeichnet werden.

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Die Ruinen dienen in diesen Fällen der Negativbewertung des sozialen Status quo, sie sollen skandalisieren und hierüber zum Handeln aufrufen. Die Besonderheit ist dabei, dass sie jeweils als infinit, als noch im Werden beschrieben sind, wofür Formulierungen wie das „amenazadas de“, „presentimiento de“ und der Tempusgebrauch sorgen. Ein unwiederbringlicher Verlust ist zwar für die nahe Zukunft angedeutet, jedoch noch nicht erreicht. Gleichheit und Freiheit könnten die Gesellschaft vor der „ruina de todas las mezquindades y ruines egoísmos“ noch retten (Luben 1901, 32), die Selbstermächtigung den Selbstverrat noch abwenden.34 Auf diese Weise nimmt die Passage keinen rein elegischen Duktus an, sondern animiert zum Eingreifen. Diese Anlage wird dadurch unterstrichen, dass die Ruinen im anarchistischen Kontext häufig an die Idee des Neuaufbaus gekoppelt sind. In Bezug auf die Bildung heißt es etwa „puesto que las enmiendas no han de servir, demolamos el edificio, que amenaza ruina, para construir uno nuevo“ (Gourmand 1901, 356) und in einem historischen Artikel über das Römische Reich wird etwa der Staatsmann Cato lobend hervorgehoben „por haber con saludables ordenanzas y sabias leyes, restaurado la república romana, que la alteración de las costumbres había puesto al borde de su ruina“ (Anonym 20.8.1886, 3). Die Ruine erscheint folglich nicht als Mahnmal einer verlorenen Größe, bei dem nostalgisch verharrt wird, sondern erhält ihre Dynamik, indem sie als Baumaterial und Fundament für Neues interpretiert wird. Der Fokus liegt statt auf der Erstarrung auf dem ständigen Fluss der Dinge, statt auf der Betroffenheit ob der Destruktion auf ihrer Nutzbarmachung. Dementsprechend heißt es im Artikel Conferencias entre familia: No se encuentre la humanidad suida entre insólitas ruinas, desorientada y sin acierto para escoger los materiales y fundamentos de una sólida instrucción: que no porque destruyendo ya se edifica nos hemos de quedar en la atonía ante los escombros, sin impulsar y emprender la nueva edificación. [...]. Y al transformar, deberia escoger y combinar los matierales de tal modo, que el soberbio y majestuoso edificio del porvenir no recuerde absolutamente en lo más mínimo las glaciales columnas y cúpulas sombrías del pasado. (Anonym 30.8.1885, 2)

Jeglicher Eindruck von Erhabenheit wird hier durch die Verwendung sachlichen, teils bautechnischen Vokabulars umgangen. Die Passage plädiert für eine Art Upcycling der Vergangenheit, indem es das Zerstörte als Schlüssel der Erneuerung präsentiert, und bewirkt damit in ihrer Inszenierung der Ruine eine optimistische Zukunftsorientierung. Weiterhin fungieren Ruinen in den untersuchten Texten als Signa eines nahenden Zusammenbruchs des bestehenden Systems. Dessen Untergang sei ledig-

34 Vgl. Montseny 1931, 380–381.

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lich eine Frage der Zeit, man könne bereits „presenciar la ruina de los capitalistas“ (Anonym 1.12.1900, 10) oder „El presente sistema industrial […] lleva y en sí mismo los gérmenes de su propia ruina“ (Kropotkin 1901, 550). Dieses Argument wird bisweilen bildlich konkretisiert, wenn etwa im Theaterstück Se volvieron las tornas ein Richter angesichts des zunehmenden Erfolgs der anarchistischen Revolution beschämt zugeben muss, dass er eine „ruina, un sueño del pasado“ (Morris 1901, 145) sei und in einer gesellschaftlichen Ordnung ohne Judikative die Zukunft bestehe oder in den vermischten Nachrichten dem Zusammenbruch der Kuppel einer Kirche ein symbolischer Wert zugeschrieben wird: El viernes de la semana pasada se hundió la cúpula de la iglesia mayor de Játiva, que amenazaba ruina desde el último terremoto. Se va confirmando que los terremotos son un castigo merecido, que dijo un obispo. ¡Cuánto daría S.E. por poder volverse atrás! (Anonym 3.5.1885, 2)

Diese Darstellung präsentiert das Künftige, also das Ende des Kapitalismus und der Katholischen Kirche, als gegenwärtig, es entsteht über die Ruine ähnlich wie in 1945 eine spannungsreiche Simultaneität zweier ungleichzeitiger Zustände, die der Realität des Lesers eine Teleologie verleiht. Fürderhin eignet dieser Inszenierung auch eine Dynamik, ist sie doch nicht als etwas Finites, sondern als Übergangsstadium vom kompletten Zusammenbruch zum Neuaufbau der Gesellschaft konzeptualisiert. Es lässt sich mithin festhalten, dass sämtliche Elemente, die sich im vorherigen Abschnitt als charakteristisch für die anarchistische Zeitauffassung erwiesen haben, auch in der Ruinendarstellung zum Einsatz kommen, so dass deren Konventionen bisweilen invertiert werden. Dies möchte ich im Folgenden weiter pointieren, indem ich zwei Texte genauer in den Blick nehme, deren Fokus ausschließlich auf Ruinen liegt. Es handelt sich um feuilletonistische Reiseberichte, welche die Eindrücke beim Besuch zweier archäologischer Stätten schildern – ein Kontext, der die Leser*innen aufgrund seines nicht dezidiert propagandistischen Charakters und der Gattungstradition auf eine elegische Beschwörung vergangener Größe vorprogrammieren mag.35 Diese Erwartung wird allerdings unterlaufen.

35 Beschreibungen archäologischer Ausgrabungen sind damals eher im bildungsbürgerlichen Milieu angesiedelt, arretieren die Geschäftigkeit des sonstigen Lebens, weisen einen erhebenden Charakter auf und beschwören (nicht selten zur Legitimation eines aktuellen starken und interventionistischen Staates) einstige Weltreiche (vgl. Guérin 2005). Die enge Kopplung eines solchen historiographischen Gestus mit einer patriotischen Ideologie findet sich von anarchistischer Seite nicht selten kritisiert (vgl. Steinicke 1994, 44).

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La ciudad muerta von Federica Montseny36 schildert einen Besuch in den Ruinen von Ampurias, einer antiken griechischen Kolonie in der heutigen Provinz Girona. Obschon eine längst untergegangene, der heutigen Gesellschaft in vielerlei Hinsicht ferne Zivilisation geschildert wird, werden Nostalgie und Statik vermieden. Im Gegenteil sind die Ruinen auffällig lebendig geschildert, indem sie erstens wiederholt personifiziert werden (etwa „tendida sobre una colina baja, al borde del mar eterno, duerme su sueño de siglos la ciudad muerta“ (Montseny 1926, 108; Hvg. T.H.)),37 zweitens nicht die sichtbaren Gemäuer, sondern das Leben, das sie gefüllt haben mag, beschrieben werden („el recuerdo de todas las vidas que pasaron, de los dramas que vivieron, de los muertos amores que albergaron los muros en ruinas de la ciudad muerta, llenó y encendió mi mente“; „En las piedras de su zócalo percibimos el roce de los vehículos, que rayaron la piedra“ (Montseny 1926, 108)), drittens die vermittelnde Instanz dezidiert die kontemplative Haltung vermeidet und stattdessen ihre Aktivität betont („La tarde, encapuchada de obscuras nubes, nos privó de contemplar detenidamente las ruinas de Ampurias“ (Montseny 1926, 108), auch spricht sie davon, eine Nacht lang in den Ruinen wohnen zu wollen, um mit den ehemaligen Bewohnern zu singen und tanzen),38 viertens der Fokus nicht auf das Vergangene, sondern die aktuellen Erlebnisse und Sinneseindrücke gelegt wird („mis pies se posaban, no sin emoción sobre piedras que guardaban, a través de los siglos, la huella invisible de otras plantas. Mis manos acaraiciaron la curva graciosa de las columnas, a cuya sombra quién sabe qué seres reposaron para soñar.“ (Montseny 1926, 109)) und fünftens die Ruinen als vorläufig präsentiert werden (es heißt, wo in der Antike die Griechen, im Mittelalter die Christen gesiedelt hätten, könne auch heute wieder eine Metropole entstehen, wenn man nur wolle). Die Intention gilt folglich der Vermeidung eines tableau-Eindrucks, eines epischen Stillstands sowie der Beförderung der Immediatisierung und Dynamisierung der archäologischen Stätte, die mit der ästhetischen und appellativen Aktivierung der Rezipient*innen korreliert. Hieraus entwickelt die Autorin im abschließenden Absatz eine Typologie, wenn sie behauptet, es fänden sich in Ampurias zwei Arten von Ruinen: die antiken, griechischen, in denen die Gesellschaft nach wie vor lebendig erscheine, welche ein plötzliches, schicksalhaftes Ereignis wie ein Erdbeben oder ein Staubregen ausgelöscht haben müsse. Aus einer solchen Asche könne, zumal sie so vital sei, jederzeit eine neue, starke Zivilisation auferstehen. Die Überreste aus dem christlichen Mittelalter hingegen, hätten sich mit „asfixiante y castradora presión“ 36 Vgl. Montseny 1926, 108–111. 37 Auch die umgebende Natur wird sehr lebendig und personifiziert geschildert. 38 Dies schlägt sich auch in stilistischer Hinsicht nieder, zumal die zahlreichen Interjektionen, Einschübe und Appositionen für eine rhythmische Bewegtheit sorgen, die Vitalität ikonisiert.

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(Montseny 1926, 110) auf die alten Gemäuer gelegt, was einen langsamen Verfall, ein Dahinsiechen, eingeleitet habe, das mit den Adjektiven ‚inhumano‘ und ‚antiestético‘ belegt ist. In dieser wertmäßigen Opposition zwischen Antike und Mittelalter werden nicht nur unterschiedliche politische und religiöse Strukturen, die Demokratie und das Feudalsystem, der Polytheismus und das Christentum aufbzw. abgewertet,39 sondern auch – wie es heißt – „dos conceptos sobre la vida“ (Montseny 1926, 110) verhandelt: Diese drehen sich um Selbst- bzw. Fremdbestimmung, um Aktivität bzw. Passivität, um Eigenermächtigung bzw. Schicksalsergebenheit, wobei freilich jeweils ersteres mit dem Anarchismus verbunden ist. In den antiken Trümmern wird folglich eine moderne Dimension der Ruine erschlossen, die sich gerade durch ihre Zukunftsorientierung und Dynamik auszeichnet.40 Ähnlich verhält es sich in Las ruinas de Persépolis von León Abensour,41 das eine altpersische Ausgrabungsstätte schildert. Zwar wird hier auf die eben erwähnten immediatisierenden Verfahren verzichtet, die Beschreibung ist nüchtern und faktenzentriert, was der abschließende Hinweis, der Autor sei zertifizierter Historiker, authentifiziert. Nichtsdestotrotz impliziert dies freilich keine Neutralität. Der Schreiber legt den Fokus darauf, dass sich in den Ruinen die Wandelbarkeit bestehender Machtstrukturen erkennen ließe: Während der Ort unter den Achämeniden Aushängeschild eines Weltreichs gewesen sei, hätte er im 19. Jahrhundert Banditen als Zuflucht gedient; während Persien früher „el país más poderoso del universo“ (Abensour 1930, 95) gewesen sei, sei heute von diesem Glanz kaum mehr etwas übrig; während die Stiersymbole an den Gemäuern einst Stärke und Einfluss zum Ausdruck gebracht hätten, bedeuteten sie heute nichts mehr; der vormals pompöse Königsthron sei gegenwärtig nutzlos und leer. Dieses gedankliche Springen zwischen unterschiedlichen Zeitstufen generiert nicht nur eine Simultaneität des Asynchronen und darüber eine Spannung, sondern bringt auch die Arbitrarität und Wandelbarkeit von Besitz- und Machtverhältnissen zum Ausdruck. Die Relevanz des transformatorischen Potenzials schlägt sich auch in der impliziten Positivbewertung der Zerstörung wider, die sich etwa an Formulierungen wie „el tiempo y los hombres han contribuido grandemente a la destrucción de la maravillosa ciudad“ (Abensour 1930, 97) ablesen lässt. Die Menschen wirken aktiv auf die Stadt ein, anstatt als von ihrem Umfeld determinierte zu erscheinen.

39 Die (nicht selten auch pauschalisierende) Berufung auf das antike Griechenland als wahrhafte, ideale Demokratie findet sich im anarchistischen Kontext wiederholt. 40 Diese Zukunftsorientierung und Verflechtung mit einem politischen Programm haftet der Ruinendarstellung seit der Französischen Revolution wiederholt an (vgl. Raulet 1996, 204), so dass naheliegt, dass sie mit dem Gedanken des Umsturzes von unten eng verflochten ist. 41 Abensour 1930, 93–96.

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Noch eine weitere Implikation hat das Springen zwischen den unterschiedlichen Perspektiven auf die persische Vergangenheit. Diese wird vor allem gegen Ende des Texts manifest, welches enthüllt, dass das Grabmal Kyros’ des Großen, um das sich viele Legenden rankten und das lange als Heiligtum verehrt worden sei, in Wirklichkeit die letzte Ruhestätte seiner Mutter oder Gemahlin darstelle. Damit dekonstruiert der Schreiber die Ruinen und den heroisierenden Gestus, mit dem häufig über sie gesprochen wird, als wahrheitsfernen Mythos, der die Ehrfurcht der Bürger*innen begünstigen und damit bestehende Machtstrukturen zementieren soll. Hierzu heißt es in einer Art abschließenden Moral: Toda metafísica puede demostrarse por medio del absurdo – y todos los metafísicos usan un poco indiscretamente de este falacioso recurso. Prueban sin gran pena que los demás sistemas no son más que ruinas; pero se detienen respetuosamente, paternalmente, ante su propio sistema, como si éste tuviera bastante fuerza para resistir toda crítica. Pero el adversario destruye mi sueño tan fácil y cruelmente como yo destruí los otros sueños. [...] Algunos días de descanso en mi flotante cabaña alternarán con mis viajes hacia todos los fantasmagóricos palacios. Me gusta mi ruina en España y los castillos españoles de los soñadores más potentes y atrevidos que yo. (Abensour 1930, 95–96)

Die Leser*innen sollten sich nicht von bestehenden Strukturen blenden lassen, die realiter nichts weiter als Ruinen seien. Das Durchschauen pompöser Indoktrinierungen als nichtige Illusionen ohne Dauer gibt hier, wie man zunächst annehmen könnte, allerdings nicht Anlass zur pessimistischen Klage über das Fatum, sondern ganz im Gegenteil: Die Ruine wird zu einer Denkfigur der Selbstermächtigung der Marginalisierten, die zum Kampf gegen das gesellschaftliche Zentrum aufruft.

4 Fazit Für die untersuchten Schriften lässt sich nicht nur eine Anpassung der Ruine an die anarchistischen Grundideen, sondern auch die Arbeit an einer modernen, politisch motivierten Ruinenästhetik konstatieren, die besonders mit einer spezifischen Auseinandersetzung mit der Zeit einhergeht: einer optimistischen Zukunftsgewandtheit und einer dynamischen Pragmatisierung. Diese lässt sich als Spiegel diskursiver Entwicklungen in der Konzeptualisierung von Gesellschaft lesen, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in Gang kommen. Eine deterministische, statische Auffassung von der sozialen Rolle des Individuums bekommt Konkurrenz durch die Idee der Konstruktivität von Gesellschaft und Identität; eine als nationale Totalität gedachte Gesellschaft wird durch die Heterogenität ihrer Subgruppen, das Auseinanderdriften der individuellen Lebensstile

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herausgefordert.42 Die Ruine verliert in diesem Zusammenhang ihre sublime, bedrängende oder ernüchternde Komponente, sie wird zum Vehikel individueller und sozialer Selbstbestimmung und -verortung.

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42 Dieses Ringen ist freilich nicht als Sieg oder Durchsetzung zu verstehen, sondern lediglich als Impuls einer Veränderung, die das gesamte 20. Jahrhundert lang andauert und auch im 21. Jahrhundert fortbesteht.

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„España es una vasta ruina tendida de mar a mar“: Zum Motiv der Ruinen von Imperium, Nation und Geschichte im Spanien der Jahrhundertwende (Ganivet, Machado, Maeztu) 1 Geschichte(n) als Ruhm und Ruine: narrative und emotive Dimensionen imperialer Erzählungen Für die symbolische Verfasstheit von Imperien scheint in besonderem Maße zu gelten, was mit Blick auf die Entität der Nation ungleich prominenter postuliert worden ist: Als politische und kulturelle, aber auch als juristisch-institutionelle und ökonomische Gebilde sind sie in besonderem Maße darauf angewiesen, ihre konstitutive interne Heterogenität in sinn- und verbindungsstiftenden Narrativen zu organisieren.1 Imperien sind, insofern sie unablässig eine Produktion diversester Texte – von Verwaltungsdokumenten bis zu hin zu Romanen – anstoßen, mithin im Sinne einer „textuellen Praxis“2 zu verstehen, innerhalb derer der Verfertigung kollektiver sozialer Imaginationen3 eine zentrale Bedeutung zukommt. Die Wirksamkeit solcher „Sozialfiktionen“ hängt dabei entscheidend von ihrer Fähigkeit zur Modellierung von Zeit ab (in Gestalt von identitätsstiftenden Herkunfts- und integrationswirksamen Zukunftserzählungen), bildet die Deutungsmacht über die Zeit in der Moderne doch „die wichtigste Dimension […], in der sich Gesellschaften kulturell organisieren“ (Koschorke 2012, 232). Imperien stehen dabei, mehr noch als kleinräumige Ordnungen, unter dem Druck zur Schaffung von „Rechtfertigungsnarrativen“ (Forst 2013), woraus sich insbesondere die Notwendigkeit des Entwurfs einer möglichst zeitresistenten sowie leistungs- und integrationsfähigen kollektiven Erzählung ergibt, weshalb

1 Vgl. die klassischen Studien zu Nationen als vorgestellten Gemeinschaften mit erfundenen Traditionen von Anderson 1983, sowie von Hobsbawm und Ranger 1983. 2 Vgl. dazu ausführlich die Überlegungen zur „textualidad del imperio“ von Vega 2003, insbes. 15–35. Ebenso zur Rhetorik imperialer Diskurse die Studie von Spurr 1993. 3 Vgl. dazu auch die Beiträge und insbes. die Einleitung in Loy et al. 2020. https://doi.org/10.1515/9783110757811-010

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[a]lle Imperien mit längerem Bestand […] sich als Zweck und Rechtfertigung ihrer Existenz eine weltgeschichtliche Aufgabe gewählt [haben], eine Mission, die kosmologische oder heilsgeschichtliche Bedeutung für das Imperium reklamierte. Hegemonialmächte brauchen keine Mission, Imperien hingegen kommen ohne sie nicht aus. (Münkler 2005, 132)

Solche imperialen Missionen zeichnen sich – angesichts der anmaßenden Dimensionen und der daraus erwachsenden Kritik ihrer Unternehmungen – notwendig durch eine Tendenz zur „Selbstsakralisierung“ aus, um sich unter Rückgriff auf eine „quasi-religiöse Zwecksetzung […] den beliebigen Entscheidungen der politisch Mächtigen und gesellschaftlich Einflussreichen [zu entheben]“ (Münkler 2005, 135) und so ihre eigene (narrative) Unangreifbarkeit zu sichern. Die Implikationen solch transzendental fundamentierter Imperialerzählungen sind dabei unschwer zu erkennen: In ihrer konstitutiven Nähe zu Kategorien des Absoluten ist das Schicksal des Imperiums kaum anders zu artikulieren als im Modus sakraler Narrative mit ihren dichotomen Mustern von Triumph und Untergang, von Leid und Erlösung, von Ruhm und Ruin. Liegt der Vorteil solcher Narrative in ihrer kollektiven Mobilisierungsenergie, lässt sich ihr Defizit vor allem in der Unfähigkeit bestimmen, die eigene Identität und Geschichte in Begriffen des Relativen zu artikulieren: Das Genre der nüchternen Bilanzauswertung ist dem Imperium wesensfremd. Aus dieser Neigung zur narrativen Verabsolutierung des eigenen Schicksals speist sich folglich die imperiale Tendenz zur Dramatisierung von Geschichte und Identität im Modell von Aufstieg und Niedergang. Dies trifft, wie Münkler treffend beobachtet, insbesondere im Falle Spaniens zu, wo ein bedeutendes (und noch näher zu betrachtendes) historiographisches Narrativ die zweite, von einem Verlust der Hegemonie in Europa geprägte Phase des spanischen Imperiums ab der Mitte des 17. Jahrhunderts und damit „zweieinhalb Jahrhunderte Reichsgeschichte kurzerhand zur Verfallsgeschichte erklärt. Was dabei – nicht unbedingt in den historischen Darstellungen, wohl aber im historischen Bewusstsein – aus dem Blick gerät, ist das zyklische Auf und Ab in der langen Periode des vorgeblichen Niedergangs“ (Münkler 2005, 110). Eben dieses relativierende Modell einer Wahrnehmung der Imperialhistorie als in distinkte Phasen untergliederte Geschichte scheint jedoch – wie im Folgenden anhand der intensivierten Auseinandersetzungen über dieses Thema im Kontext der spanischen Moderne erläutert werden soll – aus einer narrativen und emotiven Perspektive gleichermaßen unattraktiv zu sein, da es der kompakten und emotional ungleich intensiveren Form der (zudem über einen langen Zeitraum tradierten und eingeübten) Erzählung von der transzendentalen Mission des Reichs zuwiderläuft.4 Dies lässt die Annahme plau-

4 Vgl. zur grundsätzlichen Bedeutung von „emotional regimes“ im 19. Jahrhundert auch die Überlegungen von Aschmann 2019.

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sibel erscheinen, wonach sich imperiale Erzählungen mit ihrer binären Logik aus Glorien- und Dekadenzmustern immer schon durch eine Prädisposition zum Rückgriff auf den Topos der Ruine auszeichnen. Das Auftauchen dieses Motivs in den Erzählungen imperialen Niedergangs ist dabei insbesondere mit Blick auf ein spezifisches Zeitregime der Ruine interessant, welches sich auf die Formel des „festgehaltene[n] Augenblick[s] zwischen einer unvergangenen Vergangenheit und einer schon gegenwärtigen Zukunft“ (Böhme 1989, 288) bringen lässt. In dieser ihrer temporalen Komplexität steht die Ruine im Kontrast zu der dominierenden Wahrnehmung von Zeit im imperialen Selbstverständnis, das sich im Sinne einer „Zeitsouveränität“ ausprägt, besteht doch „[e]ine der gefährlichsten Bedrohungen imperialer Politik […] im Verlust der Fähigkeit, die Rhythmen von Expansion und Konsolidierung, also Beschleunigung und Verlangsamung imperialen Wachstums, nach eigenem Gutdünken bestimmen zu können“ (Münkler 2005, 63). Die Ruine lässt sich damit in solchen Szenarien empfundener historischer Dekadenz generell als Symptom einer „Zeitangst“ (Krauss 1997, 66) bestimmen, wie sie Werner Krauss mit Blick auf Spanien als prägend insbesondere für die konservativen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts identifiziert hat. Der gespaltenen Zeitlichkeit der Ruine, in der historische Spur und Projektionen des Zukünftigen einander stets überlappen, entspricht zudem eine gespaltene Affektivität, der im Kontext imperialer (Krisen‑)Erzählungen eine entsprechend ambivalente Funktion zukommt: Als Rest gemahnt die Ruine einerseits an die Uneinholbarkeit vergangener Größe und ist damit ursächlich für die (im Kontext der spanischen Jahrhundertwende noch näher zu beleuchtende) Dominanz einer „imperialen Melancholie“ (Krauel 2013); zugleich aber eröffnet die in den imperialen Relikten konservierte Erinnerung Restitutionshoffnungen im Sinne einer möglichen Wiederherstellung der verlorenen Ganzheit (und des verlorenen Reichs) und damit einen der Verlusttrauer entgegensetzten und prospektiv ausgerichteten Affektimpuls. Wie auch immer das Verhältnis dieser Wahrnehmungen sich im Einzelfall ausgestalten mag – unstrittig ist, dass der Ruinen-Erzählung im Kontext nationaler (und imperialer) Kollektiverzählungen die spezifische Fähigkeit eignet, so etwas wie einen unerledigten Rest in der Welt [zu] deponieren, der dort eine fortdauernde Unruhe erzeugt und entweder im Imaginären oder sogar durch faktische Übersprungshandlungen bearbeitet werden muss. Imaginär insofern, als dieser unerledigte Rest eine Unrast stiftet, die zur Weiterbearbeitung der Vergangenheit treibt – in Figuren der Heimsuchung und ihrer Bewältigung durch Wiederholung oder Variation, kurz durch immer neue Erzählanläufe. (Koschorke 2012, 63–64)

Im Falle des spanischen Imperiums verdichten sich diese Bewältigungsoperationen im Umfeld der Jahrhundertwende und im Kontext des historischen Bruchs

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von 1898 mit dem Verlust der letzten Kolonien5 bekanntlich zur nationalen Obsession und zum Fetisch einer ganzen Generation von Intellektuellen, die im Folgenden anhand dreier ihrer bekanntesten Vertreter – Ángel Ganivet, Antonio Machado und Ramiro de Maeztu – und im Hinblick auf die Produktivität und die Vielfalt des Motivs der Ruinen von Imperium, Nation und Geschichte näher untersucht werden sollen. Zuvor jedoch gilt es, die deutlich weiter zurückreichende und in unmittelbarem Zusammenhang mit den imperialen Narrativen stehende „MetaErzählung von der prekären Identität Spaniens“ (von Tschilschke 2009, 55) in ihren historischen und gegenwärtigen Ausprägungen überblicksartig zu vergegenwärtigen.

2 Von der leyenda negra zur imperiofobia: eine kurze Geschichte imperialer Obsessions- und Kompensationserzählungen in Spanien In der Frage nach dem Wesen des spanischen Imperiums verdichten sich praktisch seit Beginn der imperialen Unternehmung der Conquista Diskurse von nationaler Selbst- und Fremdwahrnehmung und damit der spanischen Identität und Geschichte. Diese unterliegen divergierenden historischen Konjunkturen und Instrumentalisierungen und erlauben nicht zuletzt eine Besichtigung der Bruchlinien zwischen den ideologischen Lagern in Spanien selbst, wobei der alle imperialen Debatten überlagernde Topos bzw. Mythos eben jener (der eingangs diskutierten Logik imperialer Narrative folgende) Mythos des ewigen Verfalls ist: The myth of decline is the most fundamental of all the myths in Spain’s history, because it supplies a simple and universal explanation for every aspect of the country’s development. It will survive for as long as the myth of Spain’s greatness in the age of empire survives, since it is the exact reverse of it: a mirror image that contrasts present disasters with past successes. (Kamen 2008, 172)

5 Martínez weist zurecht auf das Faktum hin, „dass das spanische Weltreich über die Unabhängigkeit des amerikanischen Kontinents zu Beginn und den späteren Verlust von Kuba, Puerto Rico und den Philippinen am Ende des 19. Jahrhunderts hinaus existierte“ und das Projekt des sich erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts konstituierenden africanismo in der Forschung häufig marginalisiert werde. Da letzteres jedoch keine vergleichbare intellektuelle Bearbeitung erfuhr wie der Verlust der amerikanisch-pazifischen Kolonien, soll es auch hier nicht intensiver behandelt werden (Martínez Antonio 2013, 18). Vgl. zu den afrikanischen Projektionen und ihrer Funktion als einer „kolonialen Fata Morgana“ auch die Ausführungen von Archilés 2013.

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Es soll an dieser Stelle weniger um die perspektivenabhängige Frage gehen, ob das spanische Weltreich tatsächlich den Anforderungskriterien an ein „wirkliches“ Imperium genügte;6 entscheidend ist vielmehr die Tatsache, dass die Wahrnehmung der faktischen Existenz eines spanischen Imperiums eine historisch klar zu beobachtende diskursive Wirksamkeit im Sinne eines durch vielfältigste Text- und Mediengattungen konstituierten „imperialen Imaginären“ (Archilés 2013, 40) zu entfalten vermochte, welche sich insbesondere in der Funktion einer in nationalen Krisenzeiten immer wieder aktivierbaren Kompensationserzählung äußerte.7 Lässt sich die Frühphase dieser Problematik exemplarisch anhand der nicht zuletzt im Kampf um die europäische Hegemonie bedeutsamen Auseinandersetzungen im Zuge der von Bartolomé de Las Casas 1552 publizierten Brevísima relación de la destruición de las Indias als Ursprung der sog. leyenda negra diskutieren,8 so intensivieren sich die Debatten um die Frage nach der Bewertung des Imperiums und damit der Geschichte und der Identität der spanischen Nation ab dem 18. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Aufklärung und den nun immer deutlicher zu Tage tretenden – ökonomischen wie ideologischen – Unterschieden zwischen Spanien und neuen hegemonialen Mächten Frankreich und England. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang vor allem die Tatsache, dass sich innerhalb der spanischen Aufklärung zwei antagonistische Modi hinsichtlich der Frage nach den Ursachen des imperialen und nationalen Niedergangs ausbildeten, dabei aber keiner von beiden „in seinen grundlegenden Erlebnisstrukturen dem Typus aufklärerischer Geschichtsphilosophie entsprach (oder entsprechen konnte)“ (von Tschilschke 2009, 194). Zwar unterschieden sich die historischen Krisennarrative der reformorientierten und traditionalistischen Kräfte voneinander, indem etwa erstere die Dekadenz der Nation vor allem der Expansionspolitik der (Fremd‑)Herrschaft der Habsburger-Dynastie und deren Unterdrückung der

6 Nach den von Münkler postulierten Minimalkriterien von zeitlicher und räumlicher Ausdehnung mit unterschiedlichen Phasenverläufen (vgl. Münkler 2005, 16–26) ist dies durchaus der Fall, wenngleich andere Stimmen mit Blick auf die fehlende Rechtseinheit und vor allem die Absenz einer ausgeprägten „imperialen Vision“ diese Frage eher kritisch beurteilen (vgl. etwa Kamen 2008, 96). 7 „Although Spain did not, in the strict sense, have an ‚empire‘ and few Spanish writers contributed to imperialist theory, both the word and the reality gradually took shape in the minds of Spaniards and became a recurrent myth that lodged itself yet more firmly in the imagination every time Spain faced a serious crisis. […] As often happens, the notion of empire communicated the comfort of power at a time when power was slipping away, and it renewed confidence in the future of the nation“ (Kamen 2008, 98–99). Vgl. zur imperialen Kultur im 19. Jahrhundert in Spanien auch Blanco 2012. 8 Vgl. zur Verbindung von internationalen Hegemoniekämpfen und dem negativen Bild des spanischen Imperiums jüngst noch einmal die Beiträge in Rodríguez Pérez et al. 2015.

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spanischen Opposition (mit der Niederschlagung des Aufstands der Comuneros 1521 als Kardinalmythos) anlasteten, während letztere gerade im Ende der Casa de los Austrias und der neuen reformistischen Politik der Bourbonen nach 1700 den Motor des Verfalls identifizierten;9 zugleich aber waren beide Modi der Kritik vereint in ihrer prinzipiellen Diagnose einer aus der Krise des Imperiums erwachsenen Dekadenz der Nation10 und präfigurierten damit bereits die Diskurse der jeweiligen ideologischen Lager des 19. Jahrhunderts.11 Dieses brachte für Spanien bekanntlich nicht nur einen konfliktreichen Prozess der Nationenbildung im modernen Sinne und damit eine Intensivierung nationalidentitärer Auseinandersetzungen und Geschichtskämpfe mit sich,12 sondern auch einen radikalen Bruch in der Struktur des Imperiums selbst. Der Verlust der Mehrzahl der amerikanischen Kolonien in den Unabhängigkeitskriegen der ersten Dekaden des Jahrhunderts bedeutete das Ende der alten monarquía hispánica, an deren Stelle eine Art ‚zweites Imperium‘ trat, welches zwar neben Kuba und Puerto Rico noch die Pazifikbesitzungen (mit den Philippinen, Karolinen und Marianen sowie Guam und Palau) und einige afrikanische Territorien umfasste, zugleich aber eine deutlich geringere „mythologische Produktivität“ aufwies, wie Krauel bemerkt: Neben der Erkenntnis des endgültigen Verlustes aller hegemonialen Hoffnungen war es vor allem die Tatsache, dass das ‚neue‘ imperiale Projekt – „based on repressive political measures carried out by the colonial bureaucracy […], economic arrangements that benefited the metropolis and the local elites […], and racist cultural assumptions“ (Krauel 2013, 16) – sich als denkbar ungeeignet für eine Fortführung der alten imperialen Missionserzählung(en) mit dem katholischen Ideal und dem Heroismus der frühen conquistadores als Kernelementen erwies. Das Fortbestehen des Imperiums war also von einer zunehmenden Agonalität geprägt, was die Erfahrung nationaler Dekadenz im Unterschied zu den europäischen Nachbarn noch verstärkte und – als Konsequenz des erwähnten unmöglichen geschichtsphilosophischen Optimismus – mit zur dominanten Zeiterfahrung Spaniens in der Moderne beitrug im Sinne einer identitätsbildenden „Fortschrittsresistenz, welche man […] als Essenz spanischer Nationalidentität hochzuhalten begann“ (Gumbrecht und Sánchez 1986, 191). Eben diese Fortschrittsresistenz, zu welcher auch die Literatur bzw. die Literaturgeschichtsschreibung in ihrer Funktion als „Kompensation gleichsam ‚traumatischer‘ Erfahrungen mit der politischen Geschichte“ (Gumbrecht und Sánchez

9 Vgl. dazu ausführlich auch die Darstellung in von Tschilschke 2013. 10 „Not until the end of the eighteenth century did the crucial word ‚decline‘ begin to be applied systematically to Spain“, notiert Kamen dazu (Kamen 2008, 178). 11 Vgl. zu dieser Kontinuität etwa die Ausführungen in Núñez Seixas 2018, 30–35. 12 Vgl. auch dazu die Darstellung von Núñez Seixas 2018, 19–44.

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1983, 339) einen erheblichen Beitrag leisteten, begünstigte folglich allen Dekadenzdiskursen zum Trotz die Tatsache, dass sich die dominante Zeiterfahrung „vom Mittelalter bis zum Ende des XIX. Jahrhunderts in der spanischen Gesellschaft über die verschiedenen Epochenschwellen hinweg [als] ein Bewußtsein kultureller Kontinuität“ (Gumbrecht und Sánchez 1986, 199) ausprägte. Diese kompensatorischen Kontinuitätsnarrative büßen ihre Leistungsfähigkeit erst zur Jahrhundertwende hin ein, als die Wahrnehmung von Geschichte im modernen, d. h. kontingenten Sinne „auch in Spanien zu einer gesellschaftlich etablierten Struktur der Erfahrungsbildung“ (Gumbrecht und Sánchez 1986, 197) wird, was nicht zuletzt auch durch die traumatische Erfahrung des endgültigen Verlusts der imperialen Reste im Spanisch-Amerikanischen Krieg im neuralgischen Jahr 1898 begünstigt wurde. Auch wenn man das Narrativ vom nationalen Trauma ebenfalls als mythologische Konstruktion kritisiert hat,13 wurde insbesondere der Fall von Kuba und Puerto Rico (im Unterschied etwa zu den kontinentalen amerikanischen Kolonien) als politisch ungleich bedeutsamerer Verlust empfunden, herrschte doch mit Blick auf die Inseln ein „amplio consenso entre las élites liberales y tradicionalistas en que las colonias no eran territorios aparte, sino elementos constitutivos de la nación española“ (Núñez Seixas 2018, 29).14 In jedem Fall fungierte die Jahreszahl des in der spanischen Historiographie nur als el desastre adressierten Ereignisses bekanntlich als Namensgeberin der generación del 98.15 Diese markierte nicht nur den Beginn einer neuen, d. h. genuin modernen und so medienwirksam wie konflikthaft geführten Auseinandersetzung über das Schicksal der Nation,16 sondern besaß zugleich an der ausgiebigen Verhandlung dieser nationalen Identitätsfrage insofern ein aus dem selbstempfundenen Modernisierungsrückstand genährtes Interesse, als jene „es der spanischen textproduzierenden  



13 Vgl. etwa Kamens Bemerkung: „When the Americans took over Cuba in 1898, they already controlled 85 per cent of its foreign trade. What survived for four centuries was little more than an illusion of empire; the real empire had vanished long before“ (Kamen 2008, 122). 14 Die Problematik erschließt sich vor allem aus der Tatsache, dass die angestrebte Autonomie der Kolonien bzw. der finale Verlust nicht zuletzt als mögliche Blaupause für regionalistische Abspaltungsbestrebungen im spanischen Mutterland selbst gesehen wurde wie Núñez Seixas betont: „Si España era una unidad orgánica, forjada por una Historia común, la religión católica y el papel de la Monarquía, en la que la diversidad etnoterritorial sólo era tolerada en un nivel prepolítico, la concesión de un régimen de autonomía específico a las islas caribeñas, consideradas parte de la nación, podría tener consecuencias insospechadas en los territorios no castellanos de la propia metrópoli“ (Núñez Seixas 2018, 41). 15 Zur Diskussion des Generationenbegriffs vgl. etwa den Beitrag von Fox 2012, 23–33; außerdem im gleichen Band den Beitrag von Mecke 2012. 16 Vgl. dazu auch die Überlegungen von Ette 1998.

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Elite erlaubte, die eigene Auseinandersetzung mit der nationalen Frage in einem ‚dramatischen‘ Schema zu artikulieren, auch ein ‚nationales Drama‘ zu modellieren, und damit europäischen Patterns ‚moderner‘ Erzählung zu genügen“ (Lang 2015, 48). Die generelle und eingangs postulierte Tendenz imperialer (Krisen‑) Narrative zur Dramatisierung fand folglich in den medialen, diskursiven und kollektivpsychologischen Bedingungen der spanischen Jahrhundertwende, die den Diskursen der 98er zugrunde lagen, ein besonders günstiges Klima zu einer weiteren Intensivierung jener imperialen Obsessions- und Kompensationserzählungen vor. In einer bewussten Abkopplung von den faktischen Problemlagen waren die Intellektuellen der Zeit geradezu darauf „erpicht, ihre eigenen psychologischen Krisen im Rahmen des postromantischen Klimas auf größere Zusammenhänge zu projizieren“ bzw. angesichts ihrer in der „Schule des Determinismus“ erworbenen Sensibilität für die Fatalität historischer Prozesse stets bereit, „das Desaster als Gelegenheit [zu nutzen], ihre diffusen Krisenängste zu kondensieren und ein Ereignis zur Chiffre dieser Ängste zu erheben“ (Lang 2015, 47).17 Die Prominenz des Motivs des Ruins bzw. der Ruine in ihrer konkreten Materialität – „España es una vasta ruina tendida de mar a mar“ (Fox 2014, 52), fasste es Ortega y Gasset in einer Rezension von Azoríns Castilla aus dem Jahr 1913 zusammen – erklärt sich im Falle der 98er also einerseits aus den historisch bereits etablierten Verfallsdiskursen über das spanische Imperium, erfährt darüber hinaus aber im Umfeld der Jahrhundertwende eine entscheidende Intensivierung, welche sich aus der skizzierten Erschöpfung der tradierten kompensatorischen Kontinuitätsnarrative und der an ihre Stelle tretenden Konstitution eines modernen historischen Zeit- und Geschichtsbewusstseins speist. Erst aus einer solchen historisch gebrochenen Reflexion heraus, die zur modernen geschichtlichen (Verlust-) Erfahrung im eigentlichen Sinne fähig ist, erwächst die Voraussetzung für eine neue „Ästhetik der Ruine“, in denen diese zu „freien Schauplätzen neuer signifikatorischer Akte“ (Böhme 1989, 287)18 zu werden vermag. Ein dergestalt verändertes Ruinenbewusstsein und die sich daraus ergebende ästhetische Produktivität des Motivs der Vergangenheit als Rest impliziert jedoch zugleich – und insbesondere für die 98er vor dem Hintergrund des verlorenen Imperiums und der dekadenten Nation – die vor allem politisch bedeutsame Frage nach den Möglichkeiten der Restitution, waren doch „die nationale Schmach von

17 Vgl. ähnlich die Aussage von Kamen, wonach die Krise von 1898 „gave Spanish intellectuals a theme to which they could dedicate thousands of pages of debate, without always having much acquaintance with the historical facts“ (Kamen 2008, 184). 18 Böhme verweist in diesem Zusammenhang auch auf die hier interessierende Funktionalisierung der Ruine im Zuge „nationalistischer Kontinuitätsstiftung“ ab der Romantik (Böhme 1989, 297).

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1898 und der Tod derer, die man aus der Distanz der Jahre als Opfer beweinen und verehren konnte, zum Garanten für die wahrhaft religiöse Hoffnung auf eine glorreiche Zukunft geworden“ (Gumbrecht 1990, 799). In diesem Sinne geht – wie im Folgenden zu zeigen sein wird – die Reflexion über die Ruinen, insbesondere im Fall der konservativen Intellektuellen der Jahrhundertwende, einmal mehr mit einem kompensatorischen Impuls einher, welcher sich im Hinblick auf die eingangs thematisierte Ambivalenz der Ruine in einer doppelten Lektüre geschichtlicher Reste ausgestaltet: einerseits als Beleg vergangener Größe im Affekt der Trauer und andererseits als mobilisierende Erinnerung im Sinne eines Motors restitutiver (bzw. im prominenteren medizinischen Duktus der Epoche: regenerationistischer19) Hoffnungen. Die Forschung hat dieses kompensatorische Momentum im Hinblick auf das verlorene und zugleich begehrte Imperium verschiedentlich in freudianischen Kategorien der Melancholie gelesen.20 Eben diese Ambivalenzen sollen nun im Folgenden in ihren narrativen und emotiven Dimensionen in den Darstellungen des Ruins bzw. der Ruinen von Imperium, Nation und Geschichte in den Texten dreier so unterschiedlicher Autoren der spanischen Jahrhundertwende wie Ángel Ganivet, Antonio Machado und Ramiro de Maeztu untersucht werden, um nicht nur die ästhetischen, sondern vor allem auch die politischen Implikationen divergierender Ruinen-Diskurse und damit die ideologischen Polarisierungen der spanischen Intellektuellen im Zeitraum zwischen 1896 und 1934 zu diskutieren, nicht zuletzt auch im Sinne eines ‚Vorspiels‘ des daran anschließenden Spanischen Bürgerkrieges. Während mit Blick auf Ganivet die ruinöse Ambivalenz von Rest und Restitution anhand des erwähnten Idearium Español (1896) sowie der posthum publizierten Erzählung Ruinas de Granada vor allem in ihrem Pendeln zwischen utopisch-autoritären und nihilistischen Diskursen interessiert, soll anhand zweier Gedichte aus Antonio Machados berühmtem Gedichtzyklus Campos de Castilla (1912) die Frage nach einer ästhetisch wie politisch ungleich komplexeren Darstellung der imperialen Ruinen sowie der Rolle Kastiliens im Rahmen der Ruinendiskurse der 98er verdeutlich werden. Abschließend werden mit Ramiro de Maeztus Essay-Sammlungen Hacia otra España (1899) und Defensa de la Hispanidad (1934) die Funktionen des RuinenMotivs im Werk der ideologischen Zentralfigur der spanischen Rechten des 20. Jahrhunderts diskutiert, was nicht zuletzt insofern von Belang ist, als bedeutende Elemente von Maeztus Diskurs auch in gegenwärtigen Auseinandersetzungen um das Erbe des Imperiums und die Identität der Nation in Spanien zu be19 Vgl. dazu ausführlich die Studie von Aronna 1999. 20 So weist etwa Krauel darauf hin, dass etwa insbes. der Diskurs über das ruinierte Imperium in Ángel Ganivets Schlüsselessay Idearium español geprägt sei von „examples of the internalized aggression that Freud sees as characteristic of melancholic subjects” (Krauel 2012, 194).

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sichtigen sind. So flammte im Zuge des 2016 von der konservativen Publizistin Elvira Roca Barea veröffentlichten und in Spanien zum Verkaufsschlager avancierten Pamphlets Imperiofobia y leyenda negra21 eine neuerliche und polarisierte Debatte um die historische Beurteilung und die sich daraus ableitenden Narrative von Imperium und nationalem Selbstbild auf. In Rocas Lob des spanischen Imperiums als eine Art „katholische Integrationsmaschine“ und ihrer Kritik an der imperiofobia des liberalen und zugleich pro-europäischen Spektrums artikulierten sich einmal mehr jene narrativen und affektiven Muster der imperialen Obsessions- und Kompensationserzählungen, welche von der Kritik wiederum freudianisch im Sinne eines gestörten Zeitbewusstseins bzw. als „formas patológicas del duelo“22 hinsichtlich einer unverarbeiteten Vergangenheit gelesen wurden. Imperiofobia verdeutlichte damit im Kontext gegenwärtiger national-populistischer Bewegungen die ungebrochene Mobilisierungskraft (post-)imperialer Narrative in Spanien, womit die nun folgende Analyse der historischen ‚Vorläufer‘ und ihrer nun gleichsam gespensterhaft wiederkehrenden Krisen- und Identitätsdiskurse aus der vorletzten Jahrhundertwende noch einmal eine zusätzliche und beunruhigende Aktualität zu gewinnen vermag.

3 „La ruina espiritual de España“ oder die zerlumpte Nation: Ruinen-Diskurse zwischen Idealismus und Nihilismus im Werk Ángel Ganivets „Nuestra debilidad intelectual se patentiza en la incoherencia de nuestra cultura, formada de retazos de diferentes colores como la vestimenta de los mendigos“ (Ganivet 1961a, 267) – in der Metapher eines zerlumpten Bettlers umschreibt Ángel Ganivet (1865–1898) die seiner Ansicht nach grundlegende Problematik der Fragmentierung und Heterogenität der spanischen Kultur und des spanischen ‚Geistes‘ in seinem 1896 publizierten Essay Idearium español, jener „seltsamste[n] aller nationalen Fibeln“ (Krauss 1997, 42), wie sie Werner Krauss einmal nannte. Diese Leitsemantik des Ruins der Nation, die sich im Idearium weniger in Referenzen auf eine Materialität der Ruine in engeren Sinne als in einer durch sozial21 Roca Barea 2016. 22 Vgl. dazu die ausführliche Kritik bzw. die Überführung der multiplen historischen und argumentativen Unzulänglichkeiten von Roca Bareas Pamphlet in der Replik von Villacañas Berlanga 2019, 261.

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kategorisierende und organizistische Metaphern strukturierten Bildlichkeit ausprägt,23 hat in Ganivets Essay keineswegs einen rein dekorativen Wert. Vielmehr kommt ihr im Kontext seines (schon im Titel ersichtlichen) idealistischen Zugriffs auf die spanische Geschichte bzw. die Vorstellungen von Nation und Imperium eine zentrale epistemologische Funktion zu, wie sie auch für eine Vielzahl anderer Texte der Zeit, allen voran Miguel de Unamunos fast zeitgleich publizierte Essay-Sammlung En torno al casticismo (1895), prägend ist. Ganz im Sinne der narrativen und emotiven Logiken (post‑)imperialer Erzählmuster versteht sich Ganivets Idearium nicht als Ort einer nüchternen, auf empirisch-materialistischen Parametern aufbauenden Analyse der spanischen Krise der Jahrhundertwende und ihrer tieferen historischen Ursachen,24 sondern als eine vor allem auf kollektivpsychologische Verlustkompensation abzielende Fiktion im Sinne einer „symbolic resolution to the economic and political contradictions afflicting fin-de-siecle Spanish society that displaces such contradictions into the imagined community of the nation“ (Krauel 2013, 29). Ausgehend von dieser „für ihn typische[n] Entmaterialisierung empirischer Daten“ (Engler 2012, 30) entwirft Ganivet eine ganze Reihe von idealistischen Narrativen zur (V)erklärung des spanischen Niedergangs und den Möglichkeiten einer künftigen Restitution. Affirmativ vertritt der zu dieser Zeit als spanischer Diplomat in Belgien und in Finnland wirkende Ganivet eine Kritik am „criterio excesivamente positivista“ der Historiographie seiner Zeit, deren Problem aus seiner idealistischen Perspektive gerade in ihrem narrativen und emotiven Mangel besteht: ¿A qué puede contribuir una serie de hechos exactos y apoyados en pruebas fehacientes, si se da a todos estos hechos igual valor, si se los presenta con el mismo relieve y no se marca cuáles son concordantes con el carácter de la nación, cuáles son opuestos, cuáles son favorables y cuáles contrarios a la evocación natural de cada territorio, considerado con sus habitantes, como una personalidad histórica? (Ganivet 1961a, 109)

Die hier unschwer zu erkennende Präsenz einer romantischen Volksgeist-Idee bei Ganivet, welche der Geschichte primär identifikatorische (bzw. im skizzierten Kontext vor allem: kompensatorische) Funktionen zuschreibt, prägt sich im wei-

23 Diese partizipiert nicht nur an den von Ganivet nachweislich stark rezipierten (sozial‑)darwinistischen Diskursen seiner Zeit, sondern an einer historisch bis in die antike zurückreichenden Körpertopik, welche „im Sinnfeld des 19. Jahrhunderts den Glückszustand der Nation als eines gesunden, dabei unzeitgemäßen Volkskörpers lehrt und vor Erkrankung warnt“ (Engler 2012, 39). 24 Derartige Zugriffe finden sich gleichwohl in einer materialistisch argumentierenden Tradition der Zeit in Werken wie Lucas Malladas Los males de la patria y la futura revolución española (1890) oder den für die regenerationistischen Debatten zentralen Texten von Joaquín Costa wie Reconstitución y europeización de España (1900) oder Oligarquismo y caciquismo (1901).

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teren Verlauf des Textes zu einem eklektizistischen Konvolut aus, welches die Ursachen des imperialen und nationalen Ruins insbesondere in einer „unnatürlichen“ Expansionspolitik Spaniens verortet, wie sie Habsburger und Bourbonen gleichermaßen betrieben hätten.25 Diese habe gegen die „natürliche“ geistige Konstitution Spaniens verstoßen, welche Ganivet wiederum aus einer Art deterministischen „Geo-Psychologie“ ableitet, die Nationen (bzw. „Völkern“), je nachdem, ob es sich dabei um Insel-, Halbinsel- oder Kontinentalstaaten handelt, spezifische kollektive politische Handlungsmuster zuordnet. Der imperiale (und nationale) Niedergang wird so nicht als Resultat empirisch belegbarer Probleme – wie etwa bestimmter demographischer, ökonomischer und machtpolitischer Faktoren26 – gelesen, sondern im Sinne einer transzendenten Aufladung gewissermaßen zur Folge eines Verstoßes gegen ein überzeitliches „Erdgesetz“ stilisiert: Al empeñarse España, nación peninsular, en proceder como las naciones continentales, se condenaba a ruina cierta, puesto que si una nación se fortifica adquiriendo nuevos territorios que están dentro de su esfera de acción natural, se debilita en cambio con la agregación de otros que llevan consigo contingencias desfavorables a sus intereses propios y permanentes. (Ganivet 1961a, 110–111)

Auf ähnliche Weise wird die „interne“ spanische Geschichte als eine kontinuierliche Kontamination durch fremde Elemente – Römer, Westgoten, Araber und „Europäer“ – gedeutet, die bis in die Gegenwart die Ausprägung eines „reinen spanischen Geistes“ verhindert hätten und damit einer „período español puro, en el cual nuestro espíritu, constituido ya, diese sus frutos en su propio territorio“ (Ganivet 1961a, 110). Die aus dieser „Analyse“ des spanischen Ruins resultierenden Postulate Ganivets mit Blick auf die Zukunft umfassen einen der bereits angedeuteten Semantik der Purifikation entsprechenden Opfer- und Reinigungsdiskurs mit emotiven Handlungsanweisungen,27 in welchem sich ein autoritäres Politikverständnis artikuliert, das die Überwindung aller Partikularinteressen zur Bedingung einer neuen Periode der Glorie erklärt.28 Zugleich wird vor dem Hintergrund

25 Vgl. Ganivet 1961a, 116. 26 Vgl. hier etwa die Ausführungen von Münkler 2005, 106–107. 27 “[E]n presencia de la ruina espiritual de España, hay que ponerse una piedra en el sitio donde está el corazón y hay que arrojar aunque sea un millón de españoles a los lobos, si no queremos arrojarnos todos a los puercos” (Ganivet 1961a, 65). Vgl. dazu etwa auch die Bemerkungen zur Kontaminations- und Reinheitsdiskurs im Kontext der immer wieder auftauchenden Jungfräulichkeitsmetaphorik in Herrero 1982. 28 „Cuando todos los españoles acepten, bien que sea con el sacrificio de sus convicciones teóricas, un estado de derecho fijo, indiscutible y por largo tiempo inmutable, y se pongan unánimes a trabajar en la obra que todos interesa, entonces podrá decirse que ha empezado un nuevo período histórico“ (Ganivet 1961a, 118).

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von Ganivets erwähnter „geo-psychopolitischer Theorie“ und ihrer angeschlossenen Energielehre die Abschottung des spanischen Geistes im wohl berühmtesten Zitat des Essays eingefordert, wenn es heißt: Una restauración de la vida entera de España no puede tener otro punto de arranque que la concentración de todas nuestras energías dentro de nuestro territorio. Hay que cerrar con cerrojos, llaves y candados todas las puertas por donde el espíritu español se escapó de España para derramarse por los cuatro puntos del horizontes [...]: Noli foras ire; in interiore Hispaniae habitat veritas. (Ganivet 1961a, 155)

Zugleich aber werden hinter diesem Ideal des Rückzugs ins Nationale immer wieder die Relikte der imperialen Vergangenheit sichtbar. Diese werden – ganz im Widerspruch zu ihrer vermeintlichen Schuld am spanischen Niedergang – unter Rückgriff auf vormoderne Parameter wie Ehre29 und Brüderlichkeit glorifiziert und schlagen sich für Ganivet in der (im Folgenden noch bei Maeztu näher zu beleuchtenden) Idee der hispanidad nieder. Diese wird explizit in Frontstellung sowohl zu vertragstheoretischen als auch zu naturrechtlichen und universalistischen Ideen der Moderne gebracht, und zwar im Sinne einer historisch erwachsenen Brüderlichkeit zwischen Spaniern und Hispanoamerikanern im Gestalt von „relaciones fraternales que engendra la vecindad, la conciudadanía, la raza, el idioma, la religión, la historia, la comunidad de intereses o de cultura“ (Ganivet 1961a, 133). Auch in dieser Figur der Überhöhung des imperialen Erbes im historischen Moment seines maximalen Ruins ist folglich wieder jene typische Kompensationsfunktion der reaktionären Narrative der Jahrhundertwende zu erblicken als eines „discurso de ficciones imperiales que pretende reclamar, infructuosamente, la hegemonía nacional a través de argumentos históricos y jurídicos ya caducos – razones que fundamentaban la perdida grandeza del imperio del siglo de oro“ (Barriuso 2009, 75–76).30 Ergeben sich im Idearium aus der Analyse des imperialen und nationalen Ruins noch idealistisch-utopische Diskurse mit reaktionärem Einschlag, so weichen diese in Ganivets letzten vor seinem Suizid 1898 verfassten Werken einem

29 Zur Ehre als „Leit-Emotion“ im politischen Kontext des 19. Jahrhunderts vgl. auch Aschmann 2019, 98–108. 30 Zugleich finden sich bei Ganivet, im Idearium und insbes. in seinen Romanen, Phantasien neuerlicher kolonialer Abenteuer in Afrika, welche mitunter „deutliche Züge des präfrankistischen Imaginariums [tragen], und […] in ihrer, wenn auch spirituellen, Expansion durchaus die ‚totalitären‘ Züge eines aggressiven Expansionismus auf[weisen]“ (Lang 2015, 200). Erwähnenswert diesbezüglich ist allerdings auch die Tatsache, dass besagte Romane ihre autoritären Imaginarien wiederum in genuin modernistischer Formensprache artikulieren (vgl. Barriuso 2009, 84– 86).

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melancholisch grundierten Nihilismus. Dieser lässt sich in einer (diesmal ganz materialistisch ausgerichteten) Ruinenbetrachtung in der posthum veröffentlichten Erzählung Las ruinas de Granada beobachten: In einer Art Science FictionStory reisen die beiden Protagonisten, ein Dichter (el poeta) und ein Wissenschaftler (wohl ironischerweise el sabio genannt), in einer fernen Zukunft mittels einer Art Luftschiff, dem „aerostat“, in Ganivets Heimatstadt Granada, die 3000 Jahre zuvor durch einen Vulkanausbruch vernichtet wurde.31 Ein ähnliches Schicksal hat, so wird berichtet, etwa auch London und die französische Atlantikküste ereilt, die – im Gegensatz zu Paris – untergegangen sind. Vor dem Hintergrund dieses dystopischen Szenarios, das in der Literatur der spanischen Jahrhundertwende keine Ausnahme ist, wie etwa ähnlich gelagerte Technikdystopien von Unamuno oder Azorín belegen, artikuliert die Erzählung angesichts der Betrachtung der Ruinen von Granada die Wendung Ganivets zum Nihilismus: Während der sabio in der Reise nach Andalusien vor allem eine wissenschaftliche Herausforderung sieht, um seine positivistisch grundierten Dokumentationsbedürfnisse zu stillen, dient dem poeta die Ruinenschau vor allem als Gelegenheit zu romantischer Imagination sowie der Reflexion über die Vergänglichkeit des Lebens und der Welt: […] hallamos en ellas [las ruinas] una petrificación de la vida misma, tal como fué. [...] – Esa es una visión de arqueólogo; hay una visión más bella: la del artista que no ve allí una petrificación de la vida sino otra forma de la vida, en que ya el hombre no es necesario, en que la idea vive y habla en el aire, inspirada por la poesía que brota de las ruinas. (Ganivet 1961b, 718)

In der Folge nimmt der sabio die Betrachtungen der Ruinen und insbesondere einiger ebenfalls zu besichtigender Mumien zum Anlass, einen aus positivistischen und insbesondere darwinistischen Versatzstücken bestehenden Diskurs zu artikulieren, welcher im Untergang bestimmter Städte bzw. menschlicher Zivilisationsstufen die evolutionäre Logik des struggle for life bestätigt sieht, deren (vorläufiges) Resultat in Gestalt der hochtechnisierten Welt der Erzählgegenwart des Textes entsprechend nicht weiter problematisiert wird. Dementgegen überlässt sich der poeta seiner assoziativen Betrachtung der Ruinen und gewinnt diesen zwei in die Erzählung integrierte Gedichte ab, deren Kreation gleichfalls futuristisch grundiert ist: Eine Apparatur namens „ideófono“, welche der Dichter an seinen Kopf hält, ‚übersetzt‘ unmittelbar die Gedanken des poeta in einen aus dem Gerät tönenden melancholischen Gesang. Die beiden im klassischen Romanzenvers gehaltenen Lieder, von denen eines den vielsagenden Titel „La canción de la

31 Vgl. Ganivet 1961b.

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piedra“ trägt, artikulieren aus der Betrachtung der versteinerten Mumien heraus eine Klage über die Vergänglichkeit der Welt, mit welcher die Erzählung auch endet. Im Lied, das als Kontrapunkt zum optimistischen Evolutionsdiskurs des sabio und zugleich auch zur idealistisch-utopischen Geschichtsvision Ganivets im Idearium fungiert, artikuliert sich nicht nur die Sehnsucht nach einer Stillstellung der Geschichte, sondern auch nach einer Überwindung der menschlichen Existenz als solcher im Sinne einer ‚Versteinerung‘ und Angleichung an die geschichtslose Natur selbst. Die Ruinen eröffnen hier folglich nicht mehr die Möglichkeit einer Utopie oder einer wie auch immer gearteten Restitution vergangener Größe, sondern nur noch eine – in ihrer autobiographischen Dimension kaum zu übersehende – Todessehnsucht,32 in der bezeichnenderweise auch nicht mehr die Rede vom spanischen Imperium bzw. der Nation ist, sondern nur noch von der verheerten Heimatstadt Ganivets, welche er selbst 1898 nach seinem Suizid im Baltikum nicht mehr wiedersehen sollte.

4 Kastilische Ruinenlandschaften: zur Ambivalenz imperialer Reste in Antonio Machados Campos de Castilla „Castilla miserable, ayer dominadora,/envuelta en sus andrajos desprecia cuanto ignora“ (Machado 2002a, 104, vv. 40–42) – das Bild eines in „Lumpen gehüllten“ Landes, das „verachtet, was es nicht kennt“, fungiert auch in Antonio Machados (1875–1939) publiziertem Gedichtband Campos de Castilla aus dem Jahr 1912 als Leitmotiv, wenngleich hier – im Unterschied etwa zu Ganivet, aber in prominenter Analogie zur Mehrheit seiner Zeitgenossen wie Azorín, Unamuno oder Ortega y Gasset – die Fragen von imperialer und nationaler Größe und Dekadenz zentral am Beispiel Kastiliens verhandelt werden. Kastilien wird in dieser Perspektive zum präferierten Projektionsgegenstand der Ruinen- und Kompensationsnarrative der Epoche, die eben seiner ambivalenten Rolle zwischen gegenwärtigem Verfall (insbesondere im Kontrast zu den dynamischen Zentren der baskischen und katalanischen Peripherie) und seiner historischen Glorie als Ursprungsort der spanischen Monarchie und damit des goldenen Zeitalters der Nation (und des Imperiums) geschuldet ist. Kastilien steht damit nicht nur metonymisch für die ver-

32 Vgl. zu diesem Punkt und zu Ganivets „negativem Mystizismus“ auch die erhellenden Ausführungen in der monumentalen kulturgeschichtlichen Studie von Cerezo 2003, 614–622.

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lorene politische Größe Spaniens, sondern vor allem auch für seinen ‚Geist‘, aufgehoben in den kanonischen Werken in Literatur und Malerei und insbesondere in der Sprache, welche im Zuge der nationalen Identitätskämpfe der Moderne – wie etwa in den philologischen Werken von Marcelino Menéndez y Pelayo und später bei Ramón Menéndez Pidal – zum „símbolo y marcador étnico de la nación española“ im Sinne einer „lengua ontológicamente superior“ (Núñez Seixas 2018, 51–52; Kursivierung im Original)33 erhoben wird. Im Hinblick auf die Lyrik und die Person Antonio Machados gestaltet sich die Frage nach der Beurteilung der Präsenz der kastilischen Ruinen und ihrer imperialen und nationalen Dimensionen besonders kompliziert, galt (und gilt) Machado, der auf der Flucht vor den Frankisten bekanntlich gemeinsam mit seiner Mutter 1939 den Tod in Colliure fand, doch als eine geradezu mythische Ikone des republikanischen Spaniens. John Butt hat diese Problematik des Umgangs im Kontext der „engagierten“ Machado-Forschung exemplarisch herausgearbeitet und unter das Schlagwort der „embarassed readings“ gefasst, die sich aus der ideologischen Unvereinbarkeit der insbesondere in Campos de Castilla operierenden „two modes, landscape description and martial rhetoric“ ergaben: „The poem apparently either did not fulfil the ideal that great poetry is ‚unideological‘ or failed to confirm either the critic’s liberal, humanist, or socialist sentiments or Antonio Machado’s progressive reputation“ (Butt 1991, 322). Tatsächlich sind insbesondere die beiden hier im Fokus stehenden Gedichte A orillas del Duero und Campos de Soria durch die Tatsache miteinander verbunden, dass in die Landschaftsbetrachtungen eines durch Zentralkastilien streifenden lyrischen Ichs eine Vielzahl an Ruinenmotiven mit imperialen und nationalen Konnotationen integriert sind: So erscheint die kastilische Berglandschaft im offensichtlich historisch konditionierten Blick des Wanderers in A orillas del Duero als gleichsam von ihrer kriegerischen Vergangenheit kontaminierte, wenn Berghänge wie Schilde („una redonda loma cual recamado escudo“ (16)) oder Flussbiegungen als Armbrust („las serrezuelas calvas por donde tuerce el Duero/para formar la corva ballesta de un arquero“ (20) erscheinen. Die Präsenz von Steineichen und Stieren ergänzen das von Nationalsymbolen geprägte Setting, das gleichwohl unmittelbar darauf in seiner Dekadenz dargestellt wird: ¡Oh, tierra triste y noble, la de los altos llanos y yermos y roquedas, de campos sin arados, regatos ni arboledas; decrépitas ciudades, caminos sin mesones,

33 Vgl. zum Zusammenhang von Sprache und Imperium bei Menéndez y Pelayo auch die Ausführungen von Ugalde Quintana 2015.

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y atónitos palurdos sin danzas ni canciones que aun van, abandonando el mortecino hogar, como tus largos ríos, Castilla, hacia la mar! (Machado 2002a, 104, vv. 34–40)

Die Schilderung des aufgrund der Abwanderung in die peripheren Zentren entvölkerten Landesinneren mit seinen brachliegenden Feldern und verfallenen Städten folgt den klassischen Kastilien-Topoi der Epoche und wird in den folgenden Versen in weiteren Bildern ausgeformt, in denen die glorreiche Vergangenheit nur noch als Gespenst („Sobre sus campos aún el fantasma yerra/de un pueblo que ponía a Dios sobre la guerra“ (46–47)) oder als Schwundstufe und Ruine präsent ist („La madre en otro tiempo fecunda en capitanes/madrastra es hoy apenas de humildes ganapanes./Castilla no es aquella tan generosa un día,/cuando Myo Cid Rodrigo el de Vivar volvía“ (49–52)). Ähnlich verhält es sich in Campos de Soria, wo die ersten fünf Strophen einmal mehr eine Landschaftsschilderung umfassen, die insbesondere die Zyklen der Natur und das Leben (bzw. den Tod) der Landbevölkerung zum Gegenstand hat. Das ländliche Setting wird jedoch in der sechsten, auch formal durch den Wechsel des Versmaßes von silvas zu octosílabos markierten Strophe abrupt durch die in Campos de Castilla quasi singuläre Beschreibung einer Stadt in Gestalt von Soria durchbrochen, die sich im Zustand des Ruins befindet: ¡Soria fría, Soria pura, cabeza de Extremadura, con su castillo guerrero arruinado, sobre el Duero; con sus murallas roídas y sus casas denegridas! (Machado 2002b, 138, vv. 79–84)

Die Beschreibung des ruinierten Soria kann dabei metonymisch für den Zustand ganz Kastiliens bzw. der spanischen Nation und auch des Imperiums gelesen werden, fungierte die Stadt doch während der Reconquista geraume Zeit als wichtiger Außenposten im Krieg gegen die Araber. Ebenso rühmte sich die Stadt ihrer sog. „doce linajes de Soria“, also der Zwölf Geschlechter Sorias, und einer daraus resultierenden, besonderen pureza de sangre sowie der Tatsache, dass einige der Mitglieder dieser nobleza Teil der persönlichen Leibwache von Ferdinand IV. von Kastilien waren. Der Verfall der Stadt wird nun in der Folge über die Beschreibung ihrer Topographie hinaus vor allem auf diesen Aspekt der Dekadenz der ehemaligen Herrscherschicht ausgeweitet, wenn es heißt:

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¡Muerta ciudad de señores soldados o cazadores; de portales con escudos de cien linajes hidalgos, y de famélicos galgos, de galgos flacos y agudos, que pululan por las sórdidas callejas, y a la medianoche ululan, cuando graznan las cornejas! (Machado 2002b, 138–139, vv. 85–93)

Das ruinöse Wirken der Zeit wird hier besonders eindrücklich geschildert im Übergang von den einstigen zwölf zu nunmehr hundert „linajes“ und hin zur vollständigen Auflösung der Idee einer blutreinen Noblesse im Bild der dürren, heulenden und sich zugleich beständig vermehrenden Windhunde, die nun die Erscheinung des einst stolzen Soria prägen. Von der heroischen Vergangenheit Kastiliens und der zwölf Geschlechter Sorias zeugt allein noch der „escudo“, also das Wappen, als jene Ruinenschrift verblasster Größe, innerhalb derer die lyrische Betrachterinstanz gleichwohl – wie in den Schlussversen anklingt – noch ein ästhetisches Momentum zu entdecken weiß: ¡Soria fría! La campana de la Audiencia da la una. Soria, ciudad castellana ¡tan bella! bajo la luna. (Machado 2002b, 139, vv. 95–99)

Formal wird das Thema des Ruinösen im Gedicht zudem durch die Proliferation von Adjektiven und Passiv-Formen im Sinne einer Tilgung jeglicher Handlungsaktivität sowie eine Präponderanz des verso de pie quebrado inszeniert, wie Gustavo Pérez Firmat gezeigt hat, der den Text weiterhin explizit im Anschluss an die von Spenser oder Du Bellay begründete lyrische Ruinentradition liest.34 Im Hinblick auf die eingangs aufgeworfene Frage nach der Bewertung der Ruinenpräsenz und ihrer politischen Implikationen bei Machado (und im Vergleich zu Autoren des konservativen oder reaktionären Spektrums wie Ganivet oder auch Azorín) liegt ein bedeutsamer Aspekt sowohl im spezifischen Ort der Ruinenbetrachtungen innerhalb der Struktur der beiden Gedichte sowie in der ge-

34 Vgl. Pérez Firmat 1988, 1–16.

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nerellen Wahrnehmung und Modellierung von Zeit in Campos de Castilla.35 So werden die Ruinenbetrachtungen in beiden genannten Gedichten jeweils von Strophen am Beginn und am Ende des Gedichts gerahmt, die sich entweder durch eine anders gelagerte Thematik, ein abweichendes Versmaß oder die explizite Präsenz eines lyrischen Ichs auszeichnen, welches sich in den Passagen mit den national und imperial konnotierten Ruinenbildern nicht findet. So folgen sowohl in A orillas del Duero als auch in Campos de Soria auf die Ruinenpassagen am Ende des Gedichts zwei idyllische Naturbilder, die frei von den imperialen Resten der Vergangenheit und gänzlich im Präsens verortet sind: In Campos de Soria wandelt sich die imperiale Ruinenschrift der escudos in die von Liebenden in die Pappeln am Fluss eingeritzten Namen („Estos chospos del río, que acompañan / con el sonido de sus hojas secas / el son del agua, cuando el viento sopla, / tienen en sus cortezas / grabadas iniciales que son nombres“ (Machado 2002b, 140, vv. 119–123); in A orillas del Duero weicht der Verlust des Imperiums der privaten Trauerbewirtschaftung in Gestalt der zum Abendgebet schreitenden Witwen, die gleichzeitig vom Eindruck eines durch die anbrechende Abenddämmerung huschenden Wieselpaares überspielt wird (Machado 2002a, 105, vv. 69–76). In diesem Sinne entfaltet sich in den Gedichten eine komplexe Perspektivenvielfalt und eine Vielstimmigkeit,36 welche eine identifikatorische (bzw. ideologisch grundierte) Lektüre der Ruinenpassagen kompliziert, wenn nicht gar unmöglich macht. Dieser „possibility of a contrapuntal or dialogic reading of the poem“ (Butt 1991, 332) entsprechen auch innerhalb der betreffenden Ruinenpassagen untrennbar mit der Nationalsymbolik verknüpfte Elemente der Kritik bzw. der Ironie, etwa wenn in A orillas del Duero die geistige Rückständigkeit des Landes in einem Bild der trägen und weltabgewandten Philosophen aufgerufen wird oder die geschilderte Wandlung von den reinblütigen Adelsgeschlechtern in die hündische Animalität durchaus auch eine grotesk-komische Dimension besitzt. So lassen sich, wie Butt überzeugend begründet, eben diese Passagen der imperialen Reste vor dem Hintergrund der strukturellen und perspektivischen Komplexität der Gedichte lesen als eine spielerische Distanzierung von einer „declamatory rhetoric […] so as to open up a possibility that the poem is ironizing its declamatory passages by reminding us, through a shift of narrative voice, that the writer is not, or is no longer, the source of its more emotional language“ (Butt 1991, 335). Darüber hinaus ist es aber insbesondere die Wahrnehmung und Modellierung von Zeit bei Machado, welche die Dialektik von Rest und Restitution, wie sie etwa 35 Vgl. dazu etwa auch die Bemerkung von Walters, Campos de Castilla sei entgegen des Titels „essentially a poem about time rather than about place“ (Walters 1985, 338). 36 „the poem is not a unified work of art in the usual sense of the phrase but rather a dialogue of two or more dissonant voices of which the martial rhetoric is only one“ (Butt 1991, 323).

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am Beispiel Ganivets als zentral für sein kompensatorisches und idealistisch-utopisches Narrativ analysiert wurde, unterläuft: Aus den imperialen Ruinen erwächst bei Machado nirgendwo die Vision einer nationalen oder gar imperialen Auferstehung. Der Horizont des Zukünftigen ist als solcher gleichsam inexistent, was in den erwähnten Bildern einer präsentischen Naturerfahrung am Beginn und am Ende der Gedichte bzw. – in Campos de Soria – in den vor allem auf die Zeiterfahrung der Naturzyklen rekurrierenden ersten fünf Strophen deutlich wird. Auch wenn die Forschung auf Machados Verbindung zum Denken der Romantik (samt ihrer Ruinentheorie) hingewiesen hat,37 scheint bezüglich der Zeitmodellierung in Campos de Castilla vor allem die Tatsache bedeutsam, dass es Machado nicht – wie etwa Ganivet oder vor allem Azorín in seinen Ruinen-Betrachtungen in Castilla – um eine Stillstellung der historisch beschleunigten Zeit(wahrnehmung) der Moderne geht.38 Vielmehr ist die in seinen Gedichten artikulierte Wahrnehmung von Zeit genuin modern, indem sie gerade auf die Unmöglichkeit eines überzeitlichen Standpunktes des Betrachters verweist. So heißt es etwa in A orillas del Duero und wohlgemerkt inmitten der ‚imperialen Passage‘: „Todo se mueve, fluye, discurre, corre o gira; / cambian la mar y el monte y el ojo que los mira“ (Machado 2002a, 104, v. 45–46). Geschichte ist bei Machado also insofern immer schon ruinös, als ihr keine kompensatorischen Funktionen mehr zugesprochen werden können und sie, wie Vittoria Borsò postuliert, gelesen wird als relación discontinua de distintos momentos, cada uno de los cuales se define por su relación con los otros. Machado renuncia a la alianza entre memoria creadora y topografía esencialista. […] En Campos de Castilla, la conciencia de la ausencia del pasado, de la pérdida, se refiere a la imposibilidad de recuperar la historia heroica. (Borsò 2012, 249)

In diesem Sinne lässt sich zusammenfassen, dass Machados kastilische Ruinenlandschaften zwar reich an romantisch grundierten Motiven und imperialen Resten sind, die Perspektive einer möglichen Restitution dieser vergangenen Größe oder auch nur eines geschichtsphilosophischen oder gar politischen Narrativs, wie sie für die Mehrzahl der widerstreitenden identitären Kurse (und ihrer Ruinenbetrachtungen) im Spanien der Jahrhundertwende prägend waren, nicht zulassen. Sie stehen damit – sowohl in ihren narrativen als auch in ihren emotiven Dimensionen – nicht nur in klarem Gegensatz zu Ganivets imperialen Kompensa-

37 Vgl. dazu die aufschlussreiche Studie von Cardwell 1998 bzw. auch Pérez Firmat 1988, 10. 38 Vgl. dazu den Kommentar von Werner Krauss, der „hinter der Oberflächenhaftigkeit von Azoríns Impressionen die mystische Suche nach Gott in jeder Erscheinung, nach dem, was ihre verlorene Einheit in der Rückkehr zum Ursprung wiederherstellt“ erkennt und in dieser Ästhetik auch die politische Position Azoríns im Sinne einer „Konformität mit allen reaktionären Zuständen“ verkörpert sieht (Krauss 1997, 71).

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tionsdiskursen, sondern auch zu den aus den Ruinen des Imperiums geborenen Visionen von Ramiro de Maeztu, welche hier abschließend aufgrund ihrer effektiven politischen Wirkmächtigkeit im Spanien des 20. Jahrhunderts betrachtet werden sollen.

5 Auferstehung aus Ruinen und die Spur der Steine: Ramiro de Maeztus Konzept der hispanidad als (neo‑)imperiales Kompensationsnarrativ Die zweifelhaften Ehrentitel Ramiro de Maeztus (1874–1936), „der geistig bedeutendste Kopf der spanischen Reaktion“ (Krauss 1997, 22) bzw. eine „Art ‚Rosenberg‘ des Frankismus“ (Dorowin 1991, 3) gewesen zu sein, haben nicht selten den Blick auf die politischen und publizistischen Anfänge des 1936 von republikanischen Soldaten in einem Vergeltungsakt hingerichteten Autors verstellt. Diese umfassen zunächst nicht nur Sympathien für sozialistische Positionen,39 sondern führen in Gestalt von Maeztus mehrere Dutzend Zeitungsartikel und Kolumnen umfassendem Frühwerk Hacia otra España (1899) mitten hinein in die Zeit des Spanisch-Amerikanischen Krieges und des Verlusts der letzten karibischen (bzw. pazifischen) Kolonien, die Maeztu in seinen Texten seiner Leserschaft in Gestalt einer quasi „kinematischen Ruinenanalyse“ des Krieges und des Zustandes der Nation präsentiert: Quiero hacer de este libro una especie de cinematógrafo, en el que vayan los lectores reviviendo conmigo las impresiones y los raciocinios que han sugerido a nuestras almas, no ya solo los últimos trágicos acontecimientos, sino el aspecto ruinoso que nos ofrecen la patria y los ideales heredados y las esperanzas despertadas por las tendencias que en estos meses se vislumbran. (Maeztu 1967, 25)

Dabei sind Maeztus publizistische Texte – ganz im Sinne der (post‑)imperialen Affektlogiken – weniger als Problemanalysen sine ira et studio zu verstehen, sondern als agitatorisch aufgeladene Pamphlete aus der grundlegenden Emotion einer „imperial indignation“ heraus, welche, wie Krauel postuliert, „not indignant at the idea of empire in itself“ sei, sondern „at how the empire was administered in the late nineteenth century in terms of both the actual colonies and the ever-re-

39 Vgl. dazu insbes. die umfangreiche Studie von Fox 1988.

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vered myths of empire“ (Krauel 2013, 126). Maeztu illustriert in seiner Kritik an der mangelhaften imperialen bzw. kolonialen40 Politik Spaniens im 19. Jahrhundert einmal mehr die Dialektik aus Ruin(en)-Diagnose und Regenerationshoffnungen, welche aber – im Gegensatz etwa zu Ganivet – zunächst einer ideologisch vollkommen differenten Ausrichtung folgen. Zwar betont auch Maeztu die Tatsache, dass es sich bei Nationen um imagined communities handele im Sinne eines „compuesto en el que entran por partes desiguales el fantasma libresco de la historia y el instinto de asociación, de defensa y de empresa“ (Maeztu 1967, 233); zugleich aber folgt aus seiner empörten Schilderung der metonymisch für das desastre des Krieges stehenden Rückkehr der versehrten Soldaten41 und dem den üblichen Krankheits- und Körpermetaphern folgenden diagnostischen Diskurs42 ein gleichsam materialistisches Reform- und Modernisierungsprogramm. Dieses Progamm, dessen zuweilen paradoxale Prägung Werner Krauss als „utopischen Wirtschaftsdynamismus“ (Krauss 1997, 42) umschreibt, stellt in manifester Fortführung von Nietzsches Historismuskritik den nationalen und imperialen Geschichtsbegriff ins Zentrum der Anklage. So problematisiert Maeztu eben jene eingangs mit Gumbrecht beschriebenen Narrative der (vermeintlichen) kulturellen und historischen Kontinuität der Nation im Sinne eines „cerrando los ojos al caminar del tiempo, evocando en obsesión perenne glorias añejas, figurándose ser siempre aquella patria que describe la Historia“ (Maeztu 1967, 107) und eines kompensatorischen Ruinendiskurses, mit dem die Spanier in ihrem „culto a las cosas muertas, embellecidas por la pátina de los siglos“ (Maeztu 1967, 133) die Vergötzung ihrer toten Geschichte betrieben hätten. Auch wenn Maeztu selbst die Kriegsniederlage in historischen Analogien zu erfassen sucht, indem er sie mit Blick auf die französische Niederlage gegen Preußen als „Sedán doloroso“ (Maeztu 1967, 102)43 adressiert, steht im Zentrum von Maeztus Ruinen-Reaktion in einem gleichsam protofuturistischen Duktus die Forderung nach einer Überwindung der Totenwächter der Geschichte und einer entfesselten Modernisierung mit sozialdarwinistischen Anklängen:

40 Diese war ihm durch seine vergeblichen Versuche, über einige Jahre die väterlichen kubanischen Landwirtschaftsbesitzungen zu retten, bestens vertraut. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Fox 1988, 264–271. 41 „[E]l lúgubre desfile de muertos vivos“, nennt Maeztu dieses Heer der Untoten, die das Resultat der militärisch ruinösen Logik der Generäle ist, um im Tenor des Entsetzens gleich anzufügen: „¿Tenemos muertes? ¡pues más muertes... ¿ruinas?... ¡pués más ruinas!“ (Maeztu 1967, 142–143). 42 So ist etwa die Rede vom gestörten Verhältnis zwischen Staat und Bürger, „como si roto el cordón umbilical entre la nación y el ciudadano“ (Maeztu 1967, 39). 43 Vgl. dazu auch Ette 1998, 51.

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Para acometer tamaña empresa, no son partidos políticos, ni sentimentalismos literarios, ni ideales democráticos, ni tradiciones de orden, ni estados constituyentes, ni épicas glorias, ni marchas de Cádiz, ni profesores de humanidades, ni varones ilustres y probos lo que se necesita; sino bancos agrícolas, sindicatos capitalistas, ruda concurrencia, brutal lucha. (Maeztu 1967, 178)

Aus dieser eine Apologie des Geldes und eine parallele Freisetzung der Kräfte von Bourgeoisie und Proletariat einschließenden Programmatik44 speist sich Maeztus Umwertung des imperialen Narrativs hin zu einer „idea of an internal colonization“ als einer „fiction of a modern, bourgeois empire contained within Spain’s borders“ (Krauel 2013, 140), wenn er in der Modernisierung des rückständigen Landesinneren als „las nuevas Indias“ (Maeztu 1967, 215) den neuen Zielpunkt der kollektiven nationalen Energien identifiziert. Diese Vision jedoch sollte in der Folge von Maeztus ideologischer Wandlung eine radikale Umwertung erfahren, welche sich an seinen Englandaufenthalt zwischen 1905 und 1919 anschloss, während dem er unter den Einfluss des sog. Guild Socialism geriet, dessen „neumittelalterliche Wirtschafts- und Staatstheorie, verbunden mit der pessimistischen Anthropologie der katholischen Antiromantik, […] die ideologische Grundlage [bildete], auf welcher der Autor seine weiteren Reflexionen aufbaute“ (Dorowin 1991, 68). Aus dieser hier nicht im Detail darstellbaren Wandlung, die in der Publikation der 1916 erschienenen Schrift Authority, liberty and function in the light of the war gipfelte, speisten sich in der Folge Maeztus zunehmend konservative Positionen, welche sich auf der Ebene der Frage nach dem Wesen der Nation und den imperialen Narrativen schließlich in der Konstruktion der Idee der hispanidad als eines „surrogate imperialism“ (Hennessy 2000) mit kompensatorischen Funktionen ausprägte. Die hispanidad fungierte dabei als Ausdruck eines „imperialismo cultural de sustitución“, der den faktischen Verlust der Hegemonie über die ehemaligen amerikanischen Kolonien unter Verweis auf eine durch das spanische Imperium – und insbesondere durch Glaube und Sprache – begründete Kulturgemeinschaft zu kompensieren versuchte und sich ab 1910 in Spanien verstärkt in konkreten symbolischen Akten wie einer „creciente difusión y popularidad de los monumentos a la raza hispana, a Cristóbal Colón, a conquistadores y descubridores del siglo XVI y XVII, o en la celebración del 12 de octubre“ (Núñez Seixas 2018, 53; Kursivierung im Original) manifestierte. Die hispanidad wird dabei von Maeztu in seiner 1934 publizierten Defensa de la hispanidad als eine Art dritter Weg im Sinne eines katholisch fun-

44 Zu Maeztus ambivalentem Verhältnis zur Bourgeoisie und zur biographisch-ideengeschichtlichen Verortung seines Werks vgl. ausführlich die grundlegende Studie von Villacañas Berlanga 2000.

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damentierten Weltmodells gegenüber den ideologisch dominierenden Blöcken von Kapitalismus und Kommunismus gezeichnet, welches nicht an einer (faktisch ohnehin unmöglichen) Restitution eines realen Imperiums interessiert sei, sondern als eine geistige Heimat der hispanischen Völker verstanden werden müsse, wobei Maeztus korporatistisch-autoritärem Staatsideal gleichwohl eine konkrete politische Strukturidee inhärent ist: A mí no me gusta la palabra Imperio, que se ha echado a volar en estos años. No tengo el menor interés en que empleados de Madrid vuelvan a recaudar tributos en América. Lo que digo es que los pueblos criollos están empeñados en una lucha de vida o muerte con el bolchevismo, de una parte, y con el imperialismo económico extranjero, de la otra, y que si han de salir victoriosos han de volver por los principios comunes de la Hispanidad, para vivir bajo autoridades que tengan conciencia de haber recibido de Dios sus poderes, sin lo cual serán tiránicas, y de que esos poderes han de emplearse en organizar la sociedad de un modo corporativo, de tal suerte que las leyes y la economía se sometan al mismo principio espiritual que su propia autoridad, a fin de que todos los órganos y corporaciones del Estado reanuden la obra católica de la España tradicional, la depuren de sus imperfecciones y la continúe hasta el fin de los tiempos. (Maeztu 2017, 339–340)45

Die Wahrnehmung der ruinierten Nation, wie sie noch in Hacia otra España präsent war, verändert sich unter den gewandelten ideologischen Prämissen um die Idee einer neuen Heilsgeschichte herum dahingehend, dass die hispanidad zum großen Versprechen der Auferstehung aus Ruinen und zum Garanten der Wiedererlangung einer nach 1700 unterbrochenen (hi)spanischen Größe wird: „Así la obra de España, lejos de ser ruinas y polvo, es una fábrica a medio hacer, como la Sagrada Familia, de Barcelona, o la Almudena, de Madrid, o si quiere, una flecha caída a la mitad del camino, que espera el brazo que la recoja y lance al blanco“ (Maeztu 2017, 75). Die Ruine wird aus dieser Perspektive gewissermaßen zum reinen Oberflächenphänomen, hinter dem der unversehrte spanische ‚Geist‘46 in seinem unerschütterlichen Wesen und seiner weltumspannenden Präsenz den Horizont einer neuen Größe verspricht. Dementsprechend fungieren für Maeztu nun auch die imperialen Reste nicht mehr als Zeugnisse einer Verlustgeschichte, son-

45 Diese Idee eines katholischen Ideals als Alternative zu den die Weltgeschichte bestimmenden Mächten der Moderne lässt sich in Spanien freilich wesentlich weiter zurückverfolgen, nämlich bis hin zu Donoso Cortés’ discursos über die Diktatur bzw. die Lage Spaniens und Europas aus den Jahren 1849 und 1850. Vgl. Donoso Cortés 1954. 46 Vgl. hierzu die Bemerkung von Krauss hinsichtlich des Eingangsbildes des Textes von Spanien als vom Efeu halb erstickter Steineiche („una encina medio sofocada por la yedra“ (Maeztu 2017, 71), in welcher „Entität und Erscheinung räumlich konfrontiert [werden]“ (Krauss 1997, 166) und den Ausgangspunkt für den traditionalistischen Spaniendiskurs Maeztus bildet.

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dern vielmehr als Vorboten einer neuen (und wiederum imperial aufgeladenen) Epoche. Dies wird exemplarisch anschaulich im Schlusskapitel des die drei ideologischen Säulen beschreibenden Manifestes – Servicio, jerarquía y hermandad –, wo es am Beispiel der Kathedrale von Mexiko-Stadt über diese Verbindung aus Stein und Geist heißt: „Creo en la virtud de las piedras labradas y en que el espíritu que las talló vuelve a infundirse en el país de sus canteros, escultores y maestros de obras, si no ha perdido totalmente la facultad merecerlo“ (Maeztu 2017, 329). Maeztus Vorbild für eine solche Rückgewinnung politischer und kultureller Größe aus einer angemessenen Lektüre historischer Relikte ist dabei Benito Mussolinis Italien, dessen ‚Ruinenpolitik‘ Maeztu – nun in expliziter Zurückweisung von Filippo Tommaso Marinettis futuristischem Diskurs – als mögliches Vorbild auch eines neuen hispanischen Universalismus preist: Un general inglés describía hace un siglo la impresión que Italia le había producido: ,Ruinas pobladas por imbéciles‘. Cuando Marinetti predicaba el incendio de los Museos es que se daba cuenta de lo que opinaba el general inglés. Pero el general se equivocaba. Y por eso las piedras de la Roma antigua pudieron inspirar el Renacimiento; y las del Renacimiento han hecho surgir la tercera Italia. La Roma de Mussolini está volviendo a ser uno de los centros nodales del mundo. ¿No han de hacer algo parecido por nosotros las viejas piedras de la Hispanidad? (Maeztu 2017, 329)47

Analog zu Mussolini, der in der romanità nicht primär eine futuristische Verurteilung des passatismo, sondern vielmehr die Möglichkeit einer Versöhnung von historischer Glorifizierung und faschistischer Moderne48 mit Zukunftspotential sah, „a history to be made“ (Arthurs 2012, 27), erblickte auch Maeztu in der Spur der Steine den Ausgangspunkt einer neuen Bewusstwerdung des hispanischen Geistes. In diesem Sinne gibt er die Antwort auf seine Frage nach einer möglichen Adaption des italienischen Vorbilds gleich selbst, wenn er die „Auferstehung“ bzw. Reaktualisierung des hispanischen Geistes aus einer gleichsam epiphanischen Kontemplation der Kathedrale imaginiert: Un día vendrá, y acaso sea pronto, en que un indio azteca, después de haber recorrido medio mundo, se ponga a contemplar la catedral de Méjico y por primera vez se encuentre sobrecogido ante un espectáculo que le fue toda la vida familiar y que, por serlo, no le decía nada. Sentirá súbitamente que las piedras de la Hispanidad son más gloriosas que las del Imperio romano y tienen un significado más profundo, porque mientras Roma no fué más que la

47 Zu Marinettis Ruinendiskurs vgl. den Aufsatz von Giulia Lombardi in diesem Band. 48 Vgl. zu dieser Parallele einer „eklektischen Verschmelzung römisch-antiker und renaissanceistischer Versatzstücke“ bei Mussolini und dem hispanistischen Pendant mit seinem „Verschnitt verschiedenster Elemente“ sowie der italienischen Rezeption der von Maeztu mitbegründeten Acción Española die Ausführungen von Dorowin 1991, 59–63.

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conquista y la calzada y el derecho, la Hispanidad, desde el principio, implicó una promesa de hermandad y de elevación para todos los hombres. (Maeztu 2017, 329–330)

Die imperiale Dimension der Kathedrale verbürgt hier den neuen universalistischen Anspruch der hispanidad, der – in Maeztus Reichsvergleich – zwangsläufig auch dem italienischen ‚Vorbild‘ überlegen ist: Während das Projekt Roms sich auf die Trias von „Eroberung, Sandale und Rechtssystem“ reduzieren lasse und daher auch kein vergleichbares Bauwerk von universeller Größe hervorgebracht habe, flössen in den Steinen der mexikanischen Kathedrale und im Baustil des Barock „el espíritu español y el indígena“ zusammen und begründeten damit die Möglichkeit einer Bewusstwerdung einer alle geographischen und „rassischen“ Grenzen überschreitenden Einheit der hispanischen Völker. Die spanische Kolonialvergangenheit wird von Maeztu – und daraus ergibt sich die befremdliche Analogie zur national-populistischen Imperienrevision im Spanien des 21. Jahrhunderts – als ein vornehmlich idealistisches Missionsprojekt sowie ein katholisch fundamentiertes Fortschrittsprogramm für die rückständigen Nationen Amerikas gepriesen. Auf einer konkreten politischen Ebene (und insbesondere in Lateinamerika) konnten sich Maeztus Phantasien eines aus seinen kolonialen Ruinen auferstehenden, geistigen hispanischen Imperiums, welches in der Frühphase des Frankismus mit den ganz realen Expansionsphantasien der Falange in Nordafrika und Europa konkurrierte,49 allerdings – mit wenigen Ausnahmen50 – kaum durchsetzen. Gleichwohl bildete die Idee der hispanidad im Sinne einer „plasmación concreta […] más bien literaria y culturalista“ (Núñez Seixas 2018, 58) einen bedeutsamen Pfeiler der transatlantischen frankistischen Außenpolitik51 und entfaltete nicht zuletzt im Kontext reaktionärer politischer Ideologien im Lateinamerika des 20. Jahrhunderts eine mitunter beträchtliche Energie.52

49 Vgl. dazu ausführlich: Box und Gosselin 2013. 50 Vgl. zur vergleichsweise prominenten Rezeption der Idee der hispanidad in Argentinien, wo Maeztu in den 1920er Jahren als spanischer Botschafter des Diktators Primo de Rivera diente, die Ausführung in Hennessy 2000, 112–113. 51 Vgl. Krauel 2013, 178. 52 Vgl. dazu auch die Beiträge in Cañellas Mas 2011.

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6 Konklusion: Ruinen als unendliche Geschichte(n) Die Betrachtung von Ruinendiskursen im Kontext der spanischen Jahrhundertwende belegt einmal mehr die zentrale Bedeutung, welche der Ruine – gleichsam als Materialisierung der Nostalgie als einer historischen Leitemotion der Moderne53 – im politischen und ästhetischen Imaginären seit der Romantik zukommt. Die Ruine lässt sich in ihrer Ambivalenz als Rest eines uneinholbar Verlorenen und der daraus erwachsenden Möglichkeit der Imagination zukünftiger Restitution mithin bestimmen als ein Ort der verdichteten Erfahrung moderner Welt- und Zeitentfremdung. Ihre politische Bedeutung bzw. ihre narrative und emotive Energie bezieht sie aus der in ihr immer schon angelegten Möglichkeit zur Verwandlung der Verlusterfahrung in Utopien, also ganz im Sinne jener Dialektik von Melancholie und Ordnung(sbedürfnis), wie sie Wolf Lepenies exemplarisch diskutiert hat.54 Die Beispiele Ángel Ganivets und Ramiro de Maeztus liefern vor diesem Hintergrund und auf ihre je eigene Weise Belege für den im Kontext autoritärer und reaktionärer Ausrichtungen funktionalisierten Zusammenhang von Rest und Restitution. Antonio Machados Ruinenlandschaften hingegen lassen sich dazu kontrapunktisch lesen als Verlustreflexionen einer zwischen Trauma und Ironie pendelnden Wahrnehmung der Moderne, welche zugleich ohne die Vision einer neuen und kompensatorischen Ganzheitlichkeit auszukommen vermag. Mit Blick auf die Geschichte des Ruinenmotivs in Spanien unter imperialen und nationalen Vorzeichen wird weiterhin ersichtlich, inwiefern Narrative des Ruinösen in solchen kollektivsymbolischen Kontexten offenbar immer wieder in Phasen der Latenz treten können, aus denen heraus sie unter veränderten historischen und politischen Bedingungen – wie die rezenten Debatten um die nationalpopulistischen Aufwertungsversuche der spanischen Kolonialvergangenheit zeigen – bei Bedarf reaktiviert werden können. Wenn, wie Stéphane Michonneau in seinen Überlegungen zur Funktionalisierung der Kriegsruinen im Frankismus bemerkt hat,55 der gesamte spanische Diskurs über Ruinen zwischen 1830 und 1960 von einer Politisierung der Ruine geprägt, dann lässt sich diese These im Hinblick auf nationalistische und neo-imperiale Narrative von Ruin und Restitution hin erweitern, wie sie sich gegenwärtig in einem seines Optimismus der transición und

53 Vgl. Boym 2001. 54 Vgl. Lepenies 1972, insbes. 9–42. 55 Michonneau 2014.

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der europäischen Integration (zumindest in Teilen) verlustig gegangenen Spanien unter dem Vorzeichen der neuen Krisen des 21. Jahrhunderts wieder zeigen.

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L’écriture éclatée. Ruines, destructions et reconstructions poétiques chez Filippo Tommaso Marinetti et Guillaume Apollinaire 1 Les avant-gardes : élan destructeur de l’ancien, ferveur créatrice du nouveau Toute avant-garde artistique vise à rompre brutalement avec le passé pour se projeter avec véhémence vers l’avenir.1 L’histoire des avant-gardes montre, en effet, que cette projection vers le futur a une vigueur majeure autant que la rupture avec le passé est proclamée de manière violente.2 Afin de marquer leur désaccord net avec les formes littéraires classiques, quelques attitudes ou courants avant-gardistes du début du XXe siècle adoptent des techniques artistiques dont l’impact sur le lecteur se veut immédiat, selon lesquelles la forme du texte acquiert autant d’importance que ses contenus, voire davantage.3 Ainsi apparaissent des textes

1 Ceci trouve une explication dans la première acception du mot ‚avant-garde‘, issu du champ lexical militaire : « Partie (d’une armée) qui marche en avant du gros des troupes. » (Le grand Robert de la langue française, deuxième édition). 2 Cf. Finter (1980, 205–206), qui reprend la métaphore contenue dans la deuxième acception du mot ‚avant-garde‘ : « Avantgarde kündigt Krisen an – ökonomische, politische, ideologische/religiöse Krisen –, sie kann ihr Ausdruck, ihre Folge sein. Vorhut, Truppe und Nachhut setzen an, Krisen als Krisen von symbolischen Systemen zu schreiben; sie zerstören gesellschaftliche Bande, suchen ihre Zerstörung zu artikulieren, wollen neue Gesellschaftlichkeit schaffen », ou Wolfgang Asholt et Walter Fähnders (2000, 10) qui définissent la perspective adoptée par les avant-gardes « [universalistisch], gleichermaßen [neuschaffend] wie vernichtend ». Un aperçu essentiel sur les différentes avant-gardes du XXe siècle est à lire dans Zima et Strutz (1987) et dans Asholt et Fähnders (2000). Dans ce dernier, à côté de la métaphore militaire, aux avant-gardes est aussi appliqué le caractère de ‚phare‘ (« Leuchtturm », Asholt et Fähnders 2000, 9) ou de ‚gratte-ciel‘ qui offrirait une vue privilégiée et universelle (« Wolkenkratzer », Asholt et Fähnders 2000, 9). Cette dernière image dérive du manifeste Poščëčina obščestvennomu vkusu (1912) des Futuristes russes. 3 Et cela à partir des manifestes élevés par les courants avant-gardistes au degré d’un genre artistique conçu pour atteindre le grand public. Sur l’importance du manifeste pour les avant-gardes du XXe siècle et son évolution depuis le XIXe siècle, cf. Fähnders (1995, 69–95) ; Asholt et Fähnders (1995, XVII–XVIII), où est d’ailleurs affirmé : « Die Manifeste sollen nicht mehr vom Kunstwerk geschieden werden, ihre Form verweist vielmehr darauf, daß sie sich an der Grenze zwischen Kunstwerk und außerkünstlerischer Realität ansiedeln » (Asholt et Fähnders 1995, XVII) tout en soulignant : « das seinerzeit [...] provozierend wirkende Layout [...] [ist] unverzichtbarer https://doi.org/10.1515/9783110757811-011

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qui se distinguent par un type d’écriture fragmentée, éclatée, ruineuse.4 Cependant, l’écriture en ruines, tout en se référant à une acception figurée qui sera éclairée par la suite, s’appuie premièrement – et tout simplement – sur une signification propre : elle est tout d’abord une écriture de ruines. En effet, avant d’être considérées comme un trope, les ‚ruines‘, en tant que « [débris], restes d’un édifice, d’une ville »5 font l’objet littéraire chez quelques auteurs à l’attitude avantgardiste. Elles méritent pour autant d’être observées, tout en s’interrogeant quant à l’existence d’une esthétique et poétique des ruines dans un contexte littéraire d’avant-garde. Les pages qui suivent traitent de deux auteurs du début du XXe siècle, représentants de deux courants avant-gardistes distincts, mais proches l’un de l’autre : d’abord, le chef de file du groupe de la grande avant-garde européenne que fut le Futurisme italien,6 Filippo Tommaso Marinetti ; ensuite, Guillaume Apolli-

Teil der Botschaft und nicht attraktives Design: Erwartungshorizont und Eindeutigkeit in Sachen Manifestantismus sollen gestört, eine neue Kommunikation erprobt werden » (Asholt et Fähnders 1995, XVIII–XIX). Voir aussi Bürger (2017, 22–23), qui définit le processus artistique avant-gardiste de la manière suivante : « ein Prozess rationaler Wahl zwischen verschiedenen Verfahrensweisen, wobei die Wahl im Hinblick auf eine zu erreichende Wirkung getroffen wird. […] [Als] Kunstmittel erkannt werden können die einzelnen Verfahrensweisen erst seit den historischen Avantgardebewegungen […] [.] [Hier] [wird] der Schock des Rezipienten zum obersten Prinzip künstlerischer Intention […] damit die Verfremdung tatsächlich zum beherrschenden künstlerischen Verfahren wird […] [.] [Erst] die volle Entfaltung der […] Radikalisierung der Verfremdung im Schock [macht] die Allgemeingültigkeit der Kategorie erkennbar » (en italiques dans le texte original). Quant à la réaction du lecteur, cf. infra n. 52. 4 Selon une dichotomie romantique, la ruine est communément qualifiée comme l’ultime reste de ce qui dans le passé avait une forme achevée ; le fragment, en revanche, représente l’inaccompli. McFarland (1981, 5–6) parle d’une triade fragment-ruine-inachèvement, soulignant le rapport de contiguïté qui existe entre ces termes. Selon Fähnders (1995, 72), le fragment acquiert une nouvelle signification auprès des avant-gardes puisqu’il devient l’emblème d’un projet dans l’état de devenir : « das Projekt-Avantgarde […] operiert gleichsam in zwei Etappen, indem es mit einer Revision des […] Zeitpfeiles von der Vergangenheit in die Zukunft diese nun sogleich als gegenwärtige zu realisieren sucht. Dabei zeichnet sich ‚Fragment‘ nicht allein durch Bruchstückhaftigkeit aus, sondern ihm kommt als Gesetztes, als Imaginiertes bereits Realität, wenn nicht gar ‚Vollendung‘ zu ». Pourtant, pour mettre en marche son projet, l’avant-garde se sert, entre autre, des ‚restes‘ des traditions poétiques passées ; il me semble alors légitime de parler de ruines, dans le contexte des avant-gardes, qui englobent également le concept – avec acception avant-gardiste – de fragment. Pour une interprétation possible de la ruine moderne, cf. infra n. 39. 5 Selon la définition du Dictionnaire de l’Académie française, 9e édition : https://www.dictionnaire-academie.fr/article/A9R3196 (23 Juillet 2020). 6 Cf. Asholt et Fähnders (2000, XVIII). Sur les raisons de cette suprématie, globalement acceptée par la critique, cf. Finter (1980, 6–7), qui considère le futurisme italien, à côté du futurisme russe, la première avant-garde du XXe siècle, puisque les deux mouvements seraient les premiers à répondre à la crise du début du siècle (« [der Futurismus sucht] auf das Problem der Krise von Ein-

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naire, témoin, ce dernier, d’une expérience poétique individuelle et originale, où l’influence des formes et des préceptes futuristes est évidente, bien que le poète français maintienne toujours une certaine distance par rapport à l’apologie destructrice futuriste.7 Dans cet article seront privilégiés des manifestes programmatiques de Marinetti et deux écrits d’Apollinaire, dont le calligramme Saillant. Ces textes naissent dans les deux premières décennies du XXe siècle, aux alentours de la Grande Guerre, l’événement qui réduira l’Europe en ruines, au sens propre du terme.

2 Filippo Tommaso Marinetti et le Futurisme : destructions et ruines « Il Futurismo […] è […] una cartuccia di dinamite per tutte le rovine venerate. » :8 cette affirmation que Filippo Tommaso Marinetti écrira dans une lettre à son collègue, le peintre futuriste belge Aimé Félix Mac Del Marle en 1913, est un condensé du célèbre élan destructeur futuriste. La destruction radicale de l’ancien est le moteur du discours de ce mouvement, comme l’expriment clairement les nombreux manifestes que publieront les Futuristes.9 Tatiana Cescutti (2008, 153) parle, à cet égard, d’une « esthétique de la ‚destruction‘ » progressive d’œuvre en œuvre, énoncée justement dans les manifestes. Ainsi, l’appel impétueux contenu dans le Manifeste du Futurisme10 glorifie le « geste destructeur » dont les Futuristes se

zelnem und Gesellschaft sowohl eine individuelle Antwort – Textexperimente – als auch eine kollektive Antwort – direktes Eingreifen in der Kulturinstitution – zu geben »). Semblable la thèse soutenue par Helmut Meter (1987, 87) : « beim movimento futurista italiano [handelt es sich] um die erste straff organisierte und von einer einheitlichen Ideologie und Gesellschaftspraxis gekennzeichnete Bewegung der experimentellen Kunst und Literatur […] [deren] (grundlegende) Intention [es ist,] […] Kunst und Leben miteinender zu versöhnen ». L’idéologie controversée du futurisme, ainsi que la manipulation politique de la poétique futuriste ne peuvent être traitées ici ; cf., à cet égard : Finter (1980) ; Schulz-Buschhaus (1992) ; Lista (1977) et Hinz (2000). 7 Cf. infra n. 33. 8 Filippo Tommaso Marinetti : Lettera aperta al futurista Mac Delmarle, publiée le 15 août 1913 sur Lacerba. À lire dans De Maria (1983, 93). 9 Cf. supra n. 3. 10 Le Manifeste du Futurisme fut publié en français comme éditorial du Figaro le 20 février 1909 ; le mois suivant sortit sa version en italien sur Poesia. Filippo Tommaso Marinetti rédigeait ses manifestes et ses œuvres littéraires dans les deux langues ; dans cet article seront citées les versions originales de ses écrits. À propos des conséquences du bilinguisme de Marinetti sur la diffusion internationale des idées et préceptes avant-gardistes, cf. Asholt et Fähnders (1995, XX–XXI).

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veulent les acteurs : « Nous voulons [débarrasser l’Italie] des musées innombrables qui la couvrent d’innombrables cimetières. » (Marinetti 1973, 87). Les ‚musées-cimetières‘ dont il est question – de même que les bibliothèques, les universités, les académies et maintes villes11 – sont les dépositaires d’une culture et d’une histoire que les Futuristes considèrent dépassées.12 Ayant acquis, aux yeux des Futuristes, le statut de ruines, celles-ci doivent être détruites pour céder la place à un renouvellement artistique, philosophique et politique. Les ruines vénérées (« rovine venerate ») sont alors la synecdoque d’une culture ankylosée dont les Futuristes visent à se libérer le plus rapidement et violemment possible : « viennent donc les bons incendiaires […] À vous les pioches et les marteaux !... sapez les fondements des villes vénérables. » (Marinetti 1973, 88).13 La ruine a, d’un côté, une évidente acception négative, puisqu’elle rappelle la culture à laquelle les Futuristes s’opposent avec véhémence. Cependant, d’un autre côté, les ravages que le Futurisme demande à l’activisme de ses adeptes provoque, dans la fragmentation de l’ancien, de nouvelles ruines, qui augmentent les possibilités syntaxiques et sémantiques. Marinetti (1973, 88) appelle en effet à des gestes d’action dévastateurs, qui seront, dans leur élan, des « jets violents de création et d’action ». Tatiana Cescutti (2008, 167) parle ici d’un « principe de l’opposition systématique » dans la composition poétique futuriste14 qui consiste en l’« exploration […] [d’] une ‚surréalité‘ qui est destruction systématique du réel

11 Dont Venise, exemple paradigmatique de la ville européenne que les Futuristes se proposent de détruire et à laquelle est dédié l’écrit Contro Venezia passatista (1910). Dans ce texte bref, Venise est décrite comme « cloaca massima del passatismo. […] città putrescente, piaga magnifica del passato. […] illustre ruina » (Marinetti 1983b, 34–35). La ruine comme symbole de l’immobilité est à lire aussi dans l’écrit Uccidiamo il chiaro di luna (1909), où il est question de quitter la ville imaginaire au nom de Paralisi : « città di Paralisi […] coi suoi orgogli impotenti di colonne troncate » (Marinetti 1983a, 17) et de traverser les villes européennes « rovine dell’Europa » (Marinetti 1983a, 21). 12 Voir, à cet égard, la comparaison faite, dans le Manifeste du Futurisme, entre les musées et la mort : « Admirer un vieux tableau c’est verser notre sensibilité dans une urne funéraire, au lieu de la lancer en avant […] » (Marinetti 1973, 88). 13 Sur la valeur de la rapidité pour les Futuristes, voir le quatrième point du manifeste : « la splendeur du monde s’est enrichie d’une beauté nouvelle: la beauté de la vitesse » (Marinetti 1973, 87). 14 Opposition définie par Tatiana Cescutti (2008, 155) de la manière suivante : « dualité qui correspond aux deux pôles de la tension destructrice […] comme étant la lutte entre deux principes opposés ». Marinetti entretiendrait, alors un rapport « d’attraction et de haine […] avec le passé qu’il voudrait détruire mais qui persiste comme espace existentiel et littéraire intime. » (Cescutti 2008, 164).

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dans la mesure où elle projette l’individu ‚en avant‘ ».15 La destruction de l’ancien devient alors la condition essentielle pour le renouveau. La démolition des ruines préconisée dans ce contexte s’entend tout d’abord comme une métaphore. On doit toutefois rappeler que certains poètes futuristes combattirent dans quelques guerres du début du XXe siècle, ce qui évidemment ne put ne pas avoir d’effets sur leur perception de l’‚objet ruine‘. Les guerres qui eurent lieu aux alentours de 1900 s’appuyèrent sur de nouvelles technologies, révolutionnaires quant à leur précision et leur ampleur dévastatrice,16 dont l’innovation la plus frappante fut sans aucun doute l’aviation. En général, la fascination du vol eut des conséquences remarquables sur l’esthétique futuriste, non seulement grâce à la possibilité d’avoir une perspective plus vaste sur le paysage, mais aussi puisque le vol effectué dans des buts militaires mit l’homme en mesure de provoquer des destructions majeures, de devenir donc producteur de ruines, et cela à une vitesse et puissance jusqu’alors inimaginables.17 Il est alors intéressant d’observer le Manifeste technique de la littérature futuriste afin d’apercevoir la transposition du discours de la destruction appliqué à la langue littéraire, et plus particulièrement à la syntaxe, l’aspect le plus remarquable ainsi que celui réellement innovateur à l’intérieur des textes futuris-

15 Cette « ‚surréalité‘ », ou encore « poétique de la mort-renouvellement » poussée à l’extrême aboutit pourtant à une « dé-réalisation » (Cescutti 2008, 180), une « dynamique de la destruction qui fait éclater toute limite » (Cescutti 2008, 185) et toute cohérence. Le sujet de la destruction, constamment présent chez Filippo Tommaso Marinetti, apparaît pour la première fois dans le poème, rédigé en français, intitulé Destruction (1904), qui anticipe l’attitude esthétique rebelle que le poète développera par la suite dans ses manifestes lors de l’exposition des principes théoriques de sa poétique. 16 Il est question ici, bien évidemment, de la Première Guerre Mondiale, mais il faut mentionner également la guerre italo-turque (septembre 1911–octobre 1912), conflit mené par le Royaume d’Italie contre l’Empire ottoman pour la conquête de la Tripolitaine et de la Cyrénaïque. Cette guerre vit l’utilisation, pour la première fois dans l’histoire, de l’avion en tant que nouvelle technologie militaire. Le premier bombardement aérien de l’histoire se produit en Tripolitaine (cf. Lioy 1964, 14). Il est avéré que quelques poètes futuristes, dont le même Marinetti, furent des témoins directs de cette guerre, en tant que journalistes ou combattants. 17 La fascination pour le vol de la part des Futuristes est immense et inspirera le courant artistique de l’aéropeinture. Je renvoie, pour les détails, à Lista (1973). La littérature témoigne aussi de l’attraction pour cette nouvelle technologie dans le contexte de guerre: « Noi voliamo rapidi contro di voi […] Io regolerò il tiro!... L’alzo a ottocento metri! Attenti!... Fuoco!... Oh! l’ebbrezza di giocare alle biglie della Morte! […] Il mio aeroplano corre sulle sue ruote, scivola sui pattini e s’alza a volo di nuovo!... Io vado contro il vento! » (Marinetti 1983a, 26). Voir également Guillaume Apollinaire, qui, enthousiaste, parle de « la fable d’Icare, si merveilleusement réalisée aujourd’ hui » (Apollinaire 1991d, 952).

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tes. Paru d’abord en français et repris par la suite en italien,18 ce manifeste proclame: Il faut détruire la syntaxe en disposant les substantifs au hasard de leur naissance. […] Il faut employer le verbe à l’infini […] Le verbe à l’infini peut seul donner le sens du continu de la vie et l’élasticité de l’intuition qui la perçoit.19 (Marinetti 1983d, 133)

L’image de la disposition idéale du syntagme futuriste, régi par un verbe à l’infinitif,20 semble retracer une vue d’ensemble sur un paysage en décombres : tout comme des ruines qui, observées dans le paysage où elles sont posées, évoquent aux yeux de leur observateur le passé de ce qu’elles ont été, les ruines-substantifs placées apparemment ‚au hasard‘ sur la page littéraire s’organisent autour du verbe à l’infinitif qui, lui, a la fonction de transmettre au lecteur le sens de la continuité de la vie, soit de reconstituer le sens du syntagme. Apparemment dépourvu d’un sens logique, le syntagme futuriste fait appel à l’intuition du lecteur, une intuition qui devrait percevoir les analogies entre les « [objets] » observés dans le texte, c’est-à-dire les unités de sens réduites à leur essence : […] la perception par analogie devient de plus en plus naturelle à l’homme. […] il faut fondre directement l’objet avec l’image qu’il évoque en donnant l’image en raccourci par un seul mot essentiel. […] C’est moyennant des analogies très vastes que ce style orchestral, à la fois polychrome, polyphonique et polymorphe, peut embrasser la vie de la matière. (Marinetti 1983d, 134)

18 La publication, en français, se fit de manière indépendante en mai 1912, cependant plusieurs quotidiens français (dont Le Figaro et L’Intransigeant) en donnèrent des compte-rendus à partir du 7 juillet 1912 (cf. Lista 1973, 137). La version italienne parut le 12 octobre de la même année dans La Gazzetta di Biella (Lista 1973, 137) et fut reprise comme introduction au recueil I poeti futuristi: Libero Altomare, Mario Bètuda, Paolo Buzzi, Enrico Cardile, Giuseppe Carrieri, Enrico Cavacchioli, Auro D’Alba, Luciano Folgore, Corrado Govoni, G. Manzella-Frontini, F. T. Marinetti, Armando Mazza, Aldo Palazzeschi, Milan 1912. 19 En italiques dans le texte original. À remarquer ici l’utilisation incorrecte de l’expression « verbe à l’infini », que Marinetti alterne à l’expression correcte « verbe à l’infinitif ». Le lecteur de la production littéraire futuriste sera ailleurs défini comme « osservatore acuto » (Marinetti 1983c, 66). 20 Quant à l’utilisation de l’infinitif, Marinetti précisera : « in un lirismo violento e dinamico, il verbo all’infinito sarà indispensabile, poiché, […] adattabile […] costituisce la velocità stessa dello stile. Il verbo all’infinito nega per sé stesso l’esistenza del periodo ed impedisce allo stile di arrestarsi e di sedersi in un punto determinato. » (Marinetti 1983c, 75). Il est intéressant à cet égard, notamment dans un contexte de ruines, de voir que le verbe à l’infinitif suspend toute valeur chronologique ; il serait alors une sorte de débris de partie de discours rendue ainsi chronologiquement neutre, car dépourvue de toute trace de remémoration du passé ou de perspective sur l’avenir, ainsi qu’impersonnelle, puisque également privée d’un sujet qui régit la forme verbale.

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Sont amorcés ici des principes clé de la poétique futuriste, à savoir l’esprit de synthèse (« fondre […] l’objet avec l’image »), la simultanéité21 dans la production du texte (« style orchestral ») et surtout le processus de concrétisation, selon Marinetti, mis en œuvre par le langage22 (« vie de la matière »), ce à quoi correspond l’abolition du je lyrique.23 Ces aspects seront observés partiellement aussi par Apollinaire, tel qu’il sera précisé par la suite. Les perceptions par analogie de la matière sont une forme d’intuition. Marinetti parle en effet de « psychologie intuitive de la matière » (Marinetti 1983d, 136),24 aptitude requise au lecteur, essentielle pour capter le sens du message futuriste. L’intuition du lecteur suit le déchaînement de l’imagination du poète, une imagination qui est une […] imagination sans fils. […] La syntaxe était une sorte de chiffre abstrait qui a servi aux poètes pour renseigner les foules sur l’état coloré, musical, plastique et architectural de l’univers. […] Il faut supprimer cet intermédiaire pour que la littérature entre directement dans l’univers et fasse corps avec lui. […] Délivrance des mots, ailes planantes de l’imagination, synthèse analogique de la terre embrassée d’un seul regard, ramassée toute entière en des mots essentiels. (Marinetti 1983d, 136–137)

Seul le regard de l’observateur dans un paysage qui, en une seule fois, saisirait les ruines (« terre embrassée d’un seul regard »), c’est-à-dire les signifiants étalés sur le paysage observé, est en mesure de comprendre l’essence du message que ces mêmes ruines évoquent, soit un lien avec le passé et une re-sémantisation dans un présent brutalement penché vers l’avenir.25 De manière analogue, l’écri-

21 Marinetti parle de « lirismo multilineo » (en italiques dans le texte original) ou de « complicate simultaneità liriche » (Marinetti 1983c, 78). 22 Marinetti affirme que « Les images […] constituent le sang même de la poésie » et que leur perception doit conduire à un « style analogique » (Marinetti 1983d, 134). Voir, à cet égard, Webster (1995, 12) : « Marinetti devalued the word as aesthetic object […] and instead insisted that words be treated as material […] For Marinetti, the world was not to end up in a book, but rather the book was to end up in the world. To that end, he created a visual style called words-in-freedom ». 23 « Détruire le ‚Je‘ dans la littérature, c’est-à-dire toute la psychologie […] l’abolir en littérature. Le remplacer enfin par la matière […] Seul le poète asyntaxique et aux mots déliés pourra pénétrer l’essence de la matière et détruire la sourde hostilité qui la sépare de nous. » (Marinetti 1983d, 135–136, en italiques dans le texte original). 24 En italiques dans le texte original. 25 Cf. Leveque (2015, 435) : « the world becomes re-conceptualized and re-symbolized in terms of the values and ideals of Futurist art. » Encore en 1912, les artistes futuristes Umberto Boccioni, Carlo Carrà, Luigi Russolo, Giacomo Balla et Gino Severini signent la préface du Catalogo delle Esposizioni di Parigi, Londra, Berlino, Bruxelles, Monaco, Amburgo, Vienna, ecc., où apparait pour la première fois, dans un contexte futuriste, le mot « simultaneità » qui veut signifier justement l’aptitude à la synthèse de la matière de la part de l’auteur futuriste mais aussi, lors de la réception de

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vain ou poète futuriste se situe à l’origine d’un sens qui fait appel à des signifiants essentiels, délivrés de toute règle syntaxique (« sans fils »). Le signifié résultant de ce processus procède strictement de la subjectivité du sujet écrivain et de l’intuition du lecteur. Les mots-objets dénoués de toute syntaxe constituent les « objets en liberté » (Marinetti 1983d, 135), qui aboutiront à l’esthétique des « mots en liberté » (Marinetti 1983d, 137),26 développement naturel, selon Marinetti, du vers libre.27 Ceci est du moins ce qu’il affirmera l’année suivante, avec un écrit conçu pour compléter le Manifeste technique et qui, par la suite, se révélera central. Celui-ci, intitulé Distruzione della sintassi-Immaginazione senza fili-Parole in libertà,28 se veut être l’illustration des idées amorcées dans le manifeste précédent. Les « mots en liberté » sont l’unité minimale de sens à la base de la poétique futuriste, qui se résume dans l’affirmation suivante, déjà présente dans la conclusion du Manifeste technique : « L’art est un besoin de se détruire et de s’éparpiller » (Marinetti 1983d, 137). L’art reflète la volonté du sujet-artiste d’abandonner sa perspective de je lyrique pour se fragmenter tout en fusionnant avec l’univers,29 ainsi que de disperser ses fragments dans les multiples formes de la matière. L’art futuriste devient alors création de fragments, ou de ruines, qui gagnent en puissance et s’articulent sur plusieurs niveaux, sujettes à une écriture où la

l’œuvre, de la part du public. Marinetti reprendra cette notion l’année suivante dans Distruzione della sintassi-Immaginazione senza fili-Parole in libertà. Quant à l’utilisation de ce terme dans un contexte avant-gardiste plus vaste, cf. infra n. 43. 26 Cf. Schulz-Buschhaus (1992, 148), qui, en démontrant de manière convaincante que le motif principal de la poétique futuriste est une apothéose de la guerre, rapproche le style parolibériste marinettien à une action belliqueuse : « die Marinettinischen ‚Tavole Parolibere‘ [ähneln] […] Schlachtfeldern. Typographisch ist in ihnen die ‚passatistische‘ Idylle der Buchseite ebenso zerrissen wie syntaktisch die zeitgliedernde Abfolge ausformulierter Sätze. » 27 L’idée, amorcée dans Marinetti (1983d, 137) : « Après le vers libre, voici enfin les mots en liberté » sera reprise dans Marinetti (1983c, 71) : « Il verso libero dopo avere avuto mille ragioni d’esistere è ormai destinato a essere sostituito dalle parole in libertà ». 28 Publié en italien en mai 1913 ; Marinetti en fit une traduction française qu’il lut le 22 juin de la même année au cours d’une conférence tenue lors d’une exposition de Umberto Boccioni à Paris (cf. Lista 1973, 147). 29 Cf. supra n. 22. Marinetti (1983c, 70) : « questo narratore […] allaccerà le sue sensazioni coll’universo intero […] lancierà delle immense reti di analogie sul mondo. » Par la suite, Marinetti s’en prend encore une fois au je lyrique, à cette « ossessione dell’io che i poeti hanno descritto, cantato, analizzato e vomitato fino ad oggi » en faveur d’une fusion avec la matière : « Si deve esprimere invece l’infinitamente piccolo che ci circonda, l’impercettibile, l’invisibile, l’agitazione degli atomi […] io voglio introdurre nella poesia l’infinita vita molecolare che deve mescolarsi, nell’opera d’arte […] poiché questa fusione costituisce la sintesi integrale della vita. » (Marinetti 1983c, 73–74).

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lecture (conçue comme reconstruction) ne peut que fonctionner en faisant recours à la simultanéité des perceptions. La révolution syntaxique propagée par les Futuristes se traduit également par une révolution graphique. Le texte est réduit à une essence référentielle, souvent énigmatique ; le message poétique y paraît privé de toute logique ; la syntaxe et la ponctuation sont anéanties. Il en résultent des fragments linguistiques, point de départ de l’écriture éclatée, caractéristique du Futurisme.30 La persistance du fragment suggère l’aspect ruineux et anarchique affiché par le texte futuriste ;31 or, l’élan destructeur futuriste vise, en une deuxième phase, à un mouvement de reconstruction. Celle-ci ne sera pas la simple connexion d’éléments s’appartenant aux niveaux syntaxique ou sémantique ; chez les Futuristes la reconstruction passe par une synthèse de la matière, sachant que toute matière qui compose l’univers est sujette à apparaître à l’intérieur du poème. Ainsi, le sens originaire d’un mot ou d’une phrase ne sera pas détruit à jamais, mais étendu à l’infini. Cette multiplication de sens et de valences issue de la destruction des objets culturels et linguistiques traditionnels, au-delà de la simple ferveur nihiliste, acquiert alors un intérêt particulier. Le dynamisme destructeur n’est que le début d’un acte poétique qui veut anéantir et créer à la fois. Le je lyrique futuriste s’exprime justement à l’intérieur de cette dialectique de mort et de régénérescence, résumée ainsi par James Leveque (2015, 437) : « Futurism sought to live within that moment between […] destruction and new creation. »32

30 Marinetti (1983c, 77) : « La mia rivoluzione è diretta contro la così detta armonia tipografica della pagina, che è contraria al flusso e riflusso, ai sobbalzi e agli scoppi dello stile che scorre nella pagina stessa. […] Con questa rivoluzione tipografica […] io mi propongo di raddoppiare la forza espressiva delle parole. » 31 Cescutti (2008, 155) parle de « forme du chaos […] narratif et formel poussé jusqu’à son exaspération […] à travers le désordre d’une imagination explosive et rebelle […] Le chaos apparaît donc comme une nécessité poétique, comme une condition préalable à l’originalité poétique ». 32 Voir également Jean Burgos (1982, 13–14) qui parle de « poétique de la relation et de la rupture » à la base de cette « poétique de l’Imaginaire […] une sorte de grammaire du langage poétique répondant à une syntaxe d’une espèce particulière », caractéristique de l’œuvre d’Apollinaire et, me semble-t-il, également de celle futuriste.

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3 Guillaume Apollinaire et les Calligrammes : ruines et reconstructions Comme il a été évoqué auparavant, le rapport de Guillaume Apollinaire avec l’avant-garde futuriste est ambivalent.33 Cette relation difficile s’exprime, entre autres, par la réception ambiguë de L’antitradition futuriste, texte composé avec l’approbation de Marinetti,34 publié d’abord sur Gil Blas le 3 août 1913 et un mois plus tard, en italien, sur Lacerba. Une partie de la critique littéraire voit en ce texte la preuve de l’adhésion d’Apollinaire au futurisme, s’appuyant surtout sur les réactions que l’écrit eut auprès des Italiens ;35 cependant, une analyse du texte dévoile des « sollicitations divergentes ».36 S’il est vrai qu’Apollinaire reprend les mots et concepts qui se répètent dans les écrits théoriques de Marinetti, notamment « DESTRUCTION » et « CONSTRUCTION », tout en annonçant hardiment « MER…DE aux […] ruines », le poète y introduit également d’autres concepts, plus spécifiques à sa propre réflexion poétologique, tels que « synthèse » et « simultanéité » :

33 Tel que le démontre la correspondance entre Apollinaire et les Futuristes, en particulier la longue querelle épistolaire (sur un ton très cordial) avec Ardengo Soffici quant à la prééminence des Cubistes ou des Futuristes (« Et il y avait belle lurette que Delaunay avait semé les toiles des débris de ses tours que Boccioni vagissait encore. », lettre de Guillaume Apollinaire à Ardengo Soffici du 9 avril 1913, dans Bonato (1992, 61)). Encore en 1912, dans un article paru dans la revue L’intermédiaire des chercheurs et des curieux, Guillaume Apollinaire affirmait : « Le futurisme est […] une imitation italienne des deux écoles de peinture française qui se sont succédé dans les dernières années : les fauves et les cubistes. » (Apollinaire 1991b, 487). Enfin, lors d’une causerie sur l’art, tenue à Paris le 26 novembre 1917, intitulée L’esprit nouveau et les poètes, le poète parlera, dans le cas de l’art futuriste, d’une « [surenchère] […] [fille excessive] de l’esprit nouveau », incomparable aux développements artistiques en France « car la France répugne au désordre. On y revient volontiers aux principes, mais on a horreur du chaos » (Apollinaire 1991d, 945). Voir également Meter (1977). 34 Cf. la lettre du 25 juillet 1913 d’Apollinaire adressée à Marinetti, où il est question de dernières retouches avant la publication du texte (dans Bonato (1992, 24–25)). 35 Cf. la lettre de Marinetti adressée à Soffici en septembre 1913 : « Il manifesto è importantissimo, solido ponte originale predisposto all’incontro delle due avanguardie. […] Se scrivi a Apollinaire coprilo di rose perché le merita. » (dans Bonato (1992, 25)). 36 « […] un texte aux sollicitations divergentes: condensé de thèses futuristes – auxquelles Apollinaire est loin de s’associer globalement –, en même temps que critique implicite, mise en garde voilée, suggestion de ses propres positions » (Caizergues et Décaudin 1991, 1672–1673). André Salmon, en présentant le texte sur Gil Blas, dira : « Il fallait trouver ceci: être plus futuriste que Marinetti. M. Guillaume Apollinaire y a réussi, pour notre joie. » (Caizergues et Décaudin 1991, 1672– 1673).

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Apollinaire 1991c, 937–939.

Néanmoins, bien que d’une manière beaucoup plus modérée et, surtout, visant à d’autres buts poétiques, Guillaume Apollinaire reprendra quelques-uns des principes amorcés par Marinetti. Ceci se révèle également dans le contexte d’une écriture ruineuse.

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Comme pour Marinetti, l’utilisation du terme ‚ruine(s)‘ n’est pas très fréquente à travers l’œuvre d’Apollinaire. Une page de son œuvre est, cependant, remarquable : dans le roman posthume La femme assise, publié en 1920 et en 1948 en deux versions très différentes l’une de l’autre,37 le narrateur observe, du point de vue de l’un de ses personnages, les ravages que la Grande Guerre a provoqués dans certaines zones rurales françaises. La dévastation le touche profondément ; toutefois, son bouleversement est nuancé. Ainsi, dans l’édition de 1920 du roman, apparaît un passage qui sera omis de la version successive : Le peintre A… D… avait obtenu d’aller peindre dans la zone des armées les vues pittoresques des ruines de la guerre. […] Il avait vu un grand nombre de villages que l’artillerie et l’incendie ont ruinés. Les uns sont réduits à l’état de squelettes ; il ne reste que quelques murs. Quelquefois l’église est presque intacte. Le plus souvent le clocher a été abattu. Mais tous ces décombres ont déjà l’aspect grandiose des ruines antiques. Malgré l’horreur qu’elles représentent, on est forcé d’en admirer la beauté, que dis-je ? la pureté. Dans les villes du front, la guerre n’a causé que des dégâts dont l’apparence sinistre ne peut que serrer le cœur. Il n’y a que des démolitions. Dans les villages, au contraire, la ruine est pour ainsi dire achevée et forme un ensemble empreint le plus souvent d’une grandeur touchante, d’une délicatesse à pleurer. A… D… avait reproduit ce caractère dans ses études, car il était sensible et chacune des ruines qu’il avait vues avait éveillé en lui un sentiment où se mêlait à la haine contre la barbarie destructrice un profond respect artistique. […] que ces ruines sont vivantes ! […] L’inspiration l’anime, jamais aucune ruine ne l’a transporté à ce point.38

L’instant de l’observation des ruines – à la « valeur artistique » – de la part du personnage correspond, dans ce passage, à une confrontation romantique avec celles-ci. Cette dernière se retrouve dans les sentiments éprouvés par le personnage, particulièrement « sensible », qui, « forcé d’en admirer la beauté […] la pureté » et « transporté » par les émotions, trouve sa source d’inspiration artistique dans les ruines.39

37 L’existence de deux versions différentes – les deux étant posthumes – est due à la découverte, à la fin des années Quarante, d’une dactylographie corrigée du texte paru en 1920. Cf. Caizergues et Décaudin (1977, XIII). À l’édition de 1948 sera ajouté le sous-titre Chroniques de France et d’Amérique. 38 La citation est tirée de l’édition publiée chez Gallimard en 1920 (« une version informe qu’Apollinaire eût certainement désavouée, et celle qui la remplaça, pour être bien meilleure, restait entachée de nombreuses imperfections. » (Caizergues et Décaudin 1977, IX)), reproduite dans la longue note contenue dans Caizergues et Décaudin (1977, 1369–1372). Sur l’histoire éditoriale mouvementée de ce roman cf. Caizergues et Décaudin (1977, 1329–1335). 39 La ruine a une position emblématique à l’intérieur de la pensée romantique, puisque ‚l’objet ruine‘ situé dans un paysage a le pouvoir d’évoquer des émotions contrastantes chez l’observateur et le laisser aller aux souvenirs et à une réflexion quant à l’Homme et à son devenir. Cf., à cet égard McFarland (1981) ; Mortier (1974) et Immerwahr (1972). Ce dernier reprend l’emblème ruine

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Or, ici il n’est guère question des « ruines antiques », vestiges du passé, incluses dans la nature et marques d’une harmonie mélancolique ; il s’agit au contraire clairement des dévastations provoquées par les combats récents et elles ont sur le personnage un effet ambivalent : si d’un côté elles lui rappellent l’horreur de la guerre, elles lui apparaissent également belles et pures. Bien que issues de destructions brutales et rapides et dissociées d’un processus temporel constant qui les aurait englobées à l’intérieur d’un paysage, ces ruines modernes ont déjà atteint la forme « achevée », parfaite, délicate et grandiose par laquelle la ruine antique s’offrait aux yeux de l’observateur romantique. L’œuvre apollinairienne est sillonnée de bien d’autres ruines, au sens propre et figuré. Un exemple est constitué par un calligramme issu de Case d’armons, la troisième section du recueil paru en 1918 et intitulé justement Calligrammes. Poèmes de la paix et de la guerre, qui rassemble des poèmes composés entre 1912 et 1916, principalement pendant le cantonnement du poète sur le front de la Marne. Toujours en 1918, dans une lettre adressée à André Billy, Apollinaire déclarera : « Quant aux Calligrammes, il sont une idéalisation de la poésie vers-libriste. » ;40 le poète adhère ainsi à la poétique du parolibersimo exaltée par Marinetti. Saillant est le calligramme composé de ruines qui demandent à être reconstruites par l’imagination du lecteur:

pour exprimer le développement de la pensée romantique, symbolisant la remémoration du passé qui s’accompagne de la mélancolie quant au présent et à l’avenir : « der emblematische Charakter einer Ruine ist der Wiederaufbau eines vergangenen Zeitalters in der Einbildungskraft und die sehnsüchtige Erinnerung daran, begleitet von melancholischem Nachsinnen über die Hinfälligkeit menschlicher Werke und Kulturen. » (Immerwahr 1972, 61). À cette idée de la ruine romantique s’oppose, selon Gérard Raulet (1996, 182), le paradigme d’une ruine moderne, caractérisée par « die ungelöste Spannung zwischen Konstruktion und Dekonstruktion […] als der eigentliche Schlüssel der Ästhetik der Ruinen. [Die Ruine] drückt als solche die Bewegung der Moderne aus. » (en italiques dans le texte original). 40 Guillaume Apollinaire cité dans Butor (1966, 7).

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Apollinaire 1994, 227.

Les ruines sont clairement évoquées dans cette périphrase qui mentionne les « […] pierres / Du beau royaume dévasté ». Les ravages sont dus à la « torpille aérienne » ; les ruines dont il est question sont alors évidemment le résultat de bombardements. L’évocation des ruines est mise en relief par la disposition typographique du calligramme : la périphrase, isolée au cœur de la page poétique, voisine du « Grain / de / blé », crée avec celui-ci un rapprochement sémantique étonnant, voire d’opposition. Tout au long du calligramme, d’autres rapprochements sont créés ; d’abord par le biais des comparaisons : « la couleuvre […] dressée comme une épée », « Un trou d’obus propre comme une salle de bain » ; ensuite par l’évocation du monde animal (« le Rapace », « la couleuvre », le « cheval pif », le « troupeau », le « crapaud ») ou fantastique (« troupeau mordoré ») et enfin par la juxtaposition de différents univers, dont chacun s’impose à l’attention du lecteur et appelle à la construction d’isotopies : l’isotopie de la guerre (« un dragon à pied sans armes », « torpille aérienne », « dévasté », l’« épée », le « trou d’obus », le hurlement « VIVE LE CAPISTON ! ») ; celle d’une nature mystérieuse mais néanmoins fascinante (« troupeau mordoré », « saphirs nocturnes ») ; enfin, des images de la vie quotidienne : « grain de blé », « berger suivi de son troupeau », les filles qui marchent le long du canal. Le « Salut » invoqué à deux reprises est à la fois la formule de salutation, ironique, adressée aux troupes allemandes en retraite (indiquées dans l’antonomase du « Rapace »), mais également une invocation criée afin d’être épargné par le bombardement (le « salut » reporté en caractères d’imprimerie).

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L’écriture du calligramme est éclatée et réclame, telle une ruine qui attendrait à être rebâtie et donc re-sémantisée par une reconstruction, la relation – ou plutôt la ré-union – de ses unités de sens, soit de ses fragments épars. Les éclats dont il est question dans notre contexte sont présents sur différents niveaux : typographique, syntaxique et lexical. L’aspect typographique est plutôt évident dans la disposition originale du texte sur la page, typique du genre du calligramme apollinairien.41 Le niveau syntaxique requiert une reconstruction logique des vers. Cela est d’autant plus ardu puisque le calligramme est privé de ponctuation et les verbes, conjugués au présent de l’indicatif ou figurant en forme de participes du présent et du passé, figent la chronologie du texte dans la simultanéité des images qui se présentent au lecteur. Les seules exceptions sont deux occurrences de l’imparfait (« chantait », « s’en allaient »), qui, tout en créant un lien avec le passé, sont soumises, par le présent dans « T’en souviens-tu », au synchronisme du souvenir. La lecture procède par intuitions et rapprochements logiques ; le niveau strictement syntaxique ne peut se passer alors de la sémantique. Ce dernier niveau fait recours à la capacité intuitive et associative du lecteur, et cela dans l’organisation des isotopies, mais, également, dans le déchiffrement de leurs références ambiguës. Les expressions du « cheval pif » ou de la « couleuvre dressées comme une épée » donnent un premier sens, accordé par les comparaisons qu’elles composent; cependant, l’observation de ces deux expressions et leur rapprochement avec les « filles » du dernier vers, ainsi qu’avec la possible évocation biblique du « Grain / de / blé » et de l’« Ancien nom » annoncent un sens ultérieur. Le titre autour duquel s’organise le calligramme (« saillant » signifie en relief et le verbe intransitif « saillir », utilisé pour déterminer l’action d’un liquide, peut signifier « jaillir »), acquiert alors toute autre acception, malicieusement érotique et ironique : « saillant » ne détermine non seulement le membre du je lyrique, mais aussi les ruines, relevées par leur disposition sur la page et soulignées doublement par le titre du calligramme, qui qualifie ce qui est déjà mis en relief sur d’autres niveaux, soit le niveau typographique pour les ruines, soit le niveau référentiel pour le sexe du je. Encore, le participe présent substantivé

41 Le rapport mot-image dans les calligrammes d’Apollinaire, aspect essentiel de ses poèmes, « objet[s] tout d’abord du regard » (Jones 1990, 101) ne peut être traité ici en détail. Cf. Burgos (1982), notamment le chapitre consacré à Apollinaire (253–282); Jones (1990) et Shingler (2011, 66–85). Il faut rappeler ici que Apollinaire n’est pas le précurseur de ce type de poésie; ce rôle appartient plutôt à Stéphane Mallarmé, qui avec son poème Un coup de dés jamais n’abolira le hasard, amorcé déjà en 1896, devient l’inventeur d’un « nouvel espace poétique ». Cf. Mallarmé (1998, 361–387), ainsi que la Notice contenue dans le même volume (1315–1327), de laquelle est tirée la citation (1315).

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« saillant » indique, dans le jargon militaire, la disposition particulière d’un champ de bataille projeté vers le territoire ennemi. Les différentes acceptions confluant dans ce relief seront ultérieurement amplifiées à la fin du calligramme par les vers : « Lou / Lou Verzy ». « Lou » était le surnom par lequel Apollinaire appelait sa maîtresse Louise de Coligny ; Verzy le village où il cantonnait, donc la localisation géographique du paysage en ruines du poème. Plusieurs niveaux sémantiques se recoupent et se confondent alors pour culminer dans la signification ambiguë et érotique du titre du poème. Ce dernier se révèle comme une évasion voluptueuse, un bref instant de plaisir que le poète-voyeur, ce même « dragon à pieds sans armes » observant « les filles », s’accorde. Les images de destructions provoquées par la guerre se fondent avec les fantaisies érotiques qui représentent un moment court et intense d’espoir de reconstruction d’une normalité. Par ailleurs, si dans son Manifeste technique Marinetti affirmait la nécessité que le poète embrasse la matérialité du langage, Apollinaire semble ici affirmer quelque chose de différent : la matérialité même gicle du poète. Le premier vers « Rapidité attentive à peine un peu d’incertitude » fait appel non seulement à la spontanéité et à la brièveté du moment onaniste, mais aussi à la rapidité de lecture et à l’attention du lecteur : le je lyrique requiert la lecture du calligramme de la part de son lecteur; la lecture sera rapide puisque le texte se limite à la seule page; mais le je lyrique prévient son lecteur d’être attentif, car il s’attend à ce que ce dernier reconstitue le morcellement syntaxique, lexical et figuré du poème pour retracer ainsi le sens du message qu’Apollinaire lui propose. L’« incertitude » de la part du lecteur pendant la lecture sera inévitable ; l’ironie contenue dans le « à peine un peu d’incertitude » sera accrue par l’ordre dispersé – apparemment – des vers qui suivront. Au centre de la page sur laquelle s’étend le calligramme se situent les ruines et tout autour s’enchaînent, dans un fractionnement continu, les strophes et les vers. Chaque unité se détachera des autres et sera mise en rapport avec celles-ci d’une nouvelle manière à chaque lecture ; toute nouvelle lecture du calligramme est un renouvellement dans la reconstruction de ses ruines typographiques, syntaxiques et sémantiques. Cela se laisse résumer, selon Jean Burgos, par « une attirance profonde, et très révélatrice, pour la vision morcelée du monde » de la part d’Apollinaire, dont la conséquence littéraire sera un […] morcellement dans l’agencement et la typographie du poème : Calligrammes […] traduit […] la volonté d’ajouter au déroulement temporel du discours […] l’éclatement même de ce discours ; morcellement dans la facture du poème : la technique de rapiéçage et de découpage […] relève […] d’une certaine vision éclatée dont on peut suivre la trace d’un bout à l’autre de son œuvre ; morcellement dans l’enchaînement des strophes et des périodes, mais aussi dans l’enchaînement des vers, par un travail savant qui s’opère toujours […] de façon

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à supprimer transitions logiques, glissement attendus, et à faire se détacher chaque unité formelle – spatiale – […] morcellement plus révélateur encore dans l’enchaînement des images qu’aucun lien ne semble rapprocher et qui se succèdent dans le plus parfait désordre apparent, comme si chaque image, loin de s’ouvrir sur l’image suivante, devait au contraire s’affirmer dans sa plus complète autonomie pour que son éclatement produise son plein effet. Mais cette image, pour autonome qu’elle soit dans son fonctionnement, révèle elle aussi, dans son contenu même, cet éclatement, ce démembrement que nous pouvons saisir à tous les niveaux et dans des manifestations bien différentes. (Burgos 1982, 260–261)

La lecture du calligramme prend alors l’allure d’une lecture–reconstruction simultanée des plans syntaxique, sémantique et pragmatique qui composent le poème. Si cela est un procédé commun à la poésie en général,42 il faut cependant souligner que l’enjeu des avant-gardes est de justement confondre, voire de détruire, l’ordre et la hiérarchie traditionnels des plans afin de mettre en marche un processus de lecture par lequel se ferait une reconstruction synchrone de ces mêmes plans.43 Tout en se rapportant au courant du simultanéisme, Mario Richter (2014, 323) appelle ce processus une « urgence de mettre en œuvre le concept esthétique de simultanéité »44 qui se veut reconstruction, produite en même temps, de la part du lecteur, des différents éclats – ou ruines – présent(e)s à la surface et dans les profondeurs du texte. Chez Apollinaire, la lecture simultanée des différents niveaux devient l’acte unificateur,45 pendant lequel le lecteur enchaîne les éclats qui composent le calligramme. Apollinaire appellera le processus créateur du poète une « synthèse » des différents éléments qui entrent en jeu dans le poème, à laquelle correspond, sur le plan de la lecture réunissant les différents niveaux textuels, visuels et sémantiques sur lesquels est bâti le message poétique, une lecture également amenée à synthétiser.46

42 À cet égard, cf. Weich (1998), en particulier le chapitre théorique (21–45). 43 La simultanéité est amplifiée ultérieurement au niveau spécifiquement sémantique, puisque la perception juxtaposée d’images et de mots, souvent d’onomatopées, ajoute au texte, à côté de l’évidente dimension visuelle, une importante dimension auditive, créant ainsi ce que Helmut Meter (1977, 2) appelle « simultane Überschneidungen verschiedensartiger Sinneseindrücke ». À propos du simultanéisme, clairement inspiré de l’art de Robert Delaunay, Apollinaire écrira en 1914 l’essai Simultanéisme-librettisme où il affirmera que le simultanéisme poétique découle des « nouveautés typographiques de Marinetti et des futuristes qui même sans couleurs […] inaugurèrent la simultanéité typographique » (Apollinaire 1991e, 978). 44 En italiques dans le texte original. 45 Cf. Richter (2014, 9). 46 Apollinaire (1991d, 944) : « Les artifices typographiques poussés très loin avec une grande audace ont l’avantage de faire naître un lyrisme visuel […] presque inconnu […] Ces artifices peuvent aller très loin encore et consommer la synthèse […] de la littérature ».

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Dans les calligrammes apollinairiens, la typographie des poèmes tient de la « topographie » sur la page littéraire, à savoir les limites de cet espace graphique où l’œil du lecteur fera un « ‚tour d’horizon‘ » (Richter 2014, 183–184),47 lequel peut cependant varier d’après l’intuition du lecteur particulier et se renouveler ainsi à chaque lecture.48 Le même Apollinaire (1991e, 976) affirme la nécessité de « lire d’un seul regard l’ensemble d’un poème ».49 L’écriture éclatée du poète acquiert alors son sens dès qu’elle est soumise à l’acte isolé de lecture unificatrice de la part du lecteur. Or, de façon similaire à l’écriture en juxtapositions du calligramme, la lecture du poème ne se révèle pas seulement un arrangement des différents éléments qui le composent, mais devient plutôt une combinaison de ceux-ci. Les processus – complémentaires – d’écriture synthétique et de lecture simultanée rassemblent les ruines de l’écriture respectivement du côté du poète et du lecteur. Le je lyrique, entité où convergent les itinéraires lexicaux et sémantiques dans l’espace du message poétique borné, ici, aux contours d’un calligramme, demande à son lecteur une lecture simultanée de toutes les analogies, contiguïtés, juxtapositions, contradictions, oppositions systématiques, unifications de mots et d’images et bien d’autres associations, plus ou moins rationnelles, soit une reconstruction des ruines syntaxiques et lexicales. Chaque nouvelle lecture du calligramme mettra en place un enchaînement syntaxique et sémantique différent qui ‚décalligrammatisera‘50 le poème, révélant ses différents niveaux avant de les synthétiser de nouveau ; toute lecture sera un nouveau démantèlement et une nouvelle reconstruction de ruines.

47 Toujours dans le contexte métaphorique de la cartographie poétique, Jones (1990, 63) parle, dans le cas des calligrammes, de « terrains vagues de la poésie [où] errent les blocs de vers ». 48 À propos de Loin du pigeonnier, le calligramme qui ouvre la section Case d’armons, Richter (2014, 183) exprime une affirmation valable, me semble-t-il, également pour Saillant : « L’œil du lecteur […] fait […] un véritable ‚tour d’horizon‘ […] sur la zone de guerre, posant son regard sur un paysage concret en constante transfiguration, passant du réel au plan métaphorique ». 49 Shingler (2011, 67–68) rappelle : « Apollinaire insisted that the process of reading and viewing should not merely be conjoined, but combined […] the reader’s perceptual experience of the poem should include a simultaneous awareness of textual and visuo-spatial elements, with reading and viewing conceived as two aspects of a single overall interpretative movement [...] reading and viewing, while retaining their specificity, should not be partitioned off from one another in our experience: they should be conceived as two sides of the same coin, rather than as two different coins. […] Apollinaire places the perceptual integration of text and image at the centre of his aesthetic. » (en italiques dans le texte original). 50 C’est Jones (1990, 54) qui parle de « invitation de décalligrammatiser », ce qui correspondrait à la lecture et interprétation libres offertes par la plupart des calligrammes apollinairiens.

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La coexistence des actions complémentaires d’écriture et de lecture crée une tension continue entre, d’une part, la présence des éclats synthétisés par l’instance lyrique et, d’autre part, le regroupement de ces mêmes éclats par le lecteur, bien que la relation varie selon chaque lecture. Ainsi, les calligrammes d’Apollinaire répondent à ce que Jean Burgos (1982, 13) a désigné une « poétique de la relation et de la rupture », où « tout tient à tout dans le texte ». La syntaxe éclatée apollinairienne confère au poème un sens différent de celui traditionnel, voire une pluralité de sens différents, dévoilés dans l’instant des lectures isolées du calligramme. L’écriture éclatée d’Apollinaire décale les limites de la fonction référentielle de la langue et il serait bien trop réducteur de croire qu’elle se passe de toute logique. Comme chez les Futuristes, Apollinaire remet en question le langage poétique traditionnel par chaque texte, dans un jeu continu de destruction et reconstruction des plans référentiels, chronologiques et spatiaux.

4 Pour une écriture ‚ruineuse‘ avant-gardiste Destruction – reconstruction – multiplication – simultanéité – synthèse : celles-ci sont autant de notions communes à la poétique futuriste qu’à celle d’Apollinaire et annoncent l’emploi, au sens propre et figuré, du concept de ‚ruines‘. En effet, aussi bien Filippo Tommaso Marinetti que Guillaume Apollinaire sont les poètes d’une écriture éclatée qui se veut un modèle d’‚écriture ruineuse‘ propre de l’avant-garde littéraire. Les ruines sont, d’un côté, le résultat du démantèlement de la poésie traditionnelle ; de l’autre, elles signifient une multiplication de morceaux épars, levier d’édification d’une nouvelle création poétique. Les ruines avant-gardistes se manifestent donc, dans le texte littéraire, d’abord par la fragmentation et l’érosion des discours poétiques traditionnels ; ensuite, par l’accentuation de la matérialité de la langue poétique, dont témoigne l’aspect visuel des textes, comme dans le cas des onomatopées chez les Futuristes ou des calligrammes d’Apollinaire. Les ruines des avant-gardes n’ont cependant pas seulement une valence syntaxique ou sémantique, mais elles sont exposées à un procédé tropique essentiel : trace d’un passé que les Futuristes annoncent vouloir détruire, les ruines sont le noyau de leur poussée vers le futur, car c’est bien à partir de la négation et de l’éclatement des formes du passé qu’ils bâtissent leur poétique agressive du renouveau. D’une manière semblable se construit le calligramme apollinairien : pourtant, le poète ne vise point à annihiler les discours traditionnels ; dans le mouvement en deux phases de démembrement des éléments constitutifs du poème et de rassemblement de ceux-ci, il cherche à enrichir la tradition poétique d’une nouvelle dimension, un « esprit nouveau » :

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L’esprit nouveau qui s’annonce prétend avant tout hériter des classiques un solide bon sens, un esprit critique assuré, des vues d’ensemble sur l’univers et dans l’âme humaine […] Il prétend encore hériter des romantiques une curiosité qui le pousse à explorer tous les domaines propres à fournir une matière littéraire qui permette d’exalter la vie sous quelque forme qu’elle se présente. […] Mais le nouveau existe bien […] Il est tout dans la surprise. L’esprit nouveau est également dans la surprise. C’est ce qu’il y a en lui de plus vivant, de plus neuf. La surprise est le grand ressort nouveau. C’est par la surprise […] que l’esprit nouveau se distingue de tous les mouvements artistiques et littéraires qui l’ont précédé […] perpétuel renouvellement de nous-mêmes, cette création éternelle, cette poésie sans cesse renaissante dont nous vivons. (Apollinaire 1991d, 943–952)51

Que le lecteur subisse le bouleversement des éclatements futuristes ou bien soit projeté au cœur de la pensée simultanée d’Apollinaire, sa lecture du texte avantgardiste sera saisissante. Reconstruction parfaitement inscrite à l’intérieur de l’esthétique du choc accordée à la ruine par Hartmut Böhme (1989),52 la découverte du texte, sur la base d’une typographie éclatée, suivra le parcours d’une topographie imaginaire passionnément orientée vers le futur mais édifiée encore en profondeur sur le passé, tel que prôné par Apollinaire quand il écrit : « Il faut […] embrasser d’un coup d’œil : le passé, le présent et l’avenir. [L’œuvre] doit présenter cette unité essentielle qui seule provoque l’extase » (Apollinaire 1991a, 7).

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51 Quant à la genèse de l’expression « esprit nouveau », dont l’origine n’est pas à attribuer à Guillaume Apollinaire, cf. Leroy (2000). 52 Cf. Hartmut Böhme (1989, 294), qui postule une « Ästhetik des Schocks » véhiculée par l’apparence de beauté de la ruine, car beauté simulacre, puisque la ruine est issue d’une destruction. Il faut citer ici encore Marinetti pour rappeler le rapport avec le lecteur idéal du texte futuriste : « Non voglio suggerire un’idea o una sensazione […] voglio anzi afferrarle brutalmente e scagliarle in pieno petto al lettore » (Marinetti 1983c, 77). Dans cette agressivité, Schulz-Buschhaus (1992, 137) reconnaît un « militarisme textuel » (« [textueller] Militarismus ») typique du texte marinettien.

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Sara Izzo

Ruinenpoetik im Kontext kolonialer Mittelmeerpolitik in französischen Reiseberichten der 1930er Jahre 1 Einleitung Pour qu’il y ait ruine, il faut qu’il y ait rupture, destruction, un virement violent du temps et des goûts qui laisse derrière les matériaux du passé. Mais en même temps, dans un mouvement inverse, il faut qu’il existe un espace qui aille au-delà des ruptures du temps, qui les assimile sur son corps comme la chair assimile les plaies sous les cicatrices. Le paysage méditerranéen est parsemé des ruines qui inscrivent sur sa surface le déroulement des siècles. (Théodoropoulos 2016, 1351–1352)

Für Théodoropoulos gilt der Mittelmeerraum als Körper einer fortwährenden palimpsestischen zeitgeschichtlichen Vernarbung, die in den seine Historie charakterisierenden Ruinen zum Ausdruck kommt. Nicht nur römische, sondern auch die antiken Überreste anderer im Mittelmeer verankerter Zivilisationen kennzeichnen diesen Raum, der mit Horden und Purcell (2000, 24) als „network of communications“ beschrieben werden kann, um dessen hegemoniale Kontrolle ein unablässiger Kampf zwischen unterschiedlichen Seemächten bestand. Trotz (oder wegen) dieser eigentlich plurikulturellen Beschreibung des Raumes, entwickeln sich in Frankreich gerade die römischen Ruinen im Kontext der kolonialen Expansion im 19. Jahrhundert alsbald zu wichtigen Bedeutungsträgern eines vermeintlichen römischen Erbes, welches die Kolonialisierung insbesondere in Nordafrika legitimieren soll. Wie Fabre (2000, 54) hervorhebt, bildet sich Ende des 19. Jahrhunderts die ideologisch verzerrte Vision einer Méditerranée latine heraus, die eine nationale bzw. europäische Prädominanz in Nordafrika auch historisch fundieren will: „[signes], traces et symboles de ‚l’Afrique romaine‘ vont ainsi apparaître et constituer une ascendance légendaire. Cet héritage latin, romain, chrétien est pour eux d’autant plus légitime qu’il est considéré comme premier, il précède l’arrivée de l’islam.“ Nach dem Vorbild von Napoleons Ägyptenexpedition werden auch im Zuge der französischen Eroberung Algeriens wissenschaftlich intentionierte Kampagnen und Reisen staatlich organisiert und subventioniert, wobei insbesondere die archäologische Gebietserforschung der Kolonisierung eine historische Legitimierung verleiht:

https://doi.org/10.1515/9783110757811-012

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L’application du colonel Carbuccia à reporter sur une carte les sites romains repérés lors de ses missions de reconnaissance comme la curiosité du capitaine Delamare pour les inscriptions et les bas-reliefs témoignent de l’intérêt fasciné que l’armée française porte, dans les années 1840, aux traces locales de l’occupation romaine. Ainsi l’archéologie offre-t-elle à la conquête française tout à la fois un modèle et une légitimation; mieux, elle conduit à l’élaboration implicite d’un espace organisé autour des vestiges du passé – celui de l’Empire romain, qui englobe l’Algérie et la France et, par-delà la mer, les unit. (Bourguet 1998, 25)1

Unter dieser Prämisse geraten die Ruinen ins Spannungsfeld nationaler und trans- bzw. supranationaler Ausdeutungen, welche die eigene Präsenz und Vormachtstellung in einem vermeintlich römisch geprägten (Nord‑)Afrika historisch affiliieren sowie nobilitieren wollen. Denn wenngleich diverse Nationen mit Bezug auf die latinité an ein gemeinsames kulturelles Erbe des römischen Imperiums anknüpfen – insbesondere Frankreich und Italien, die, wie Poupault (2014, 35) es beschreibt, ihren Nationalismus über einen Restaurationsgedanken instituieren – bleiben sodann die geopolitischen Rivalitäten zwischen den Nationen lebendig. Die Ruinen sind als Marksteine einer historischen und geographischen Grenzziehung zu betrachten, „une sorte de limite, une limite double, ambivalente, qui touche le temps et l’espace.“ (Théodoropoulos 2016, 1351) Als Spiegel einer romanité/romanità bzw. latinité/latinità werden sie im nationalkonservativen und ab den 1920er Jahren im faschistischen Diskurs zu (trans)nationalen Erinnerungsorten instrumentalisiert, anhand derer die eigene mediterrane Identität hergeleitet wird. Entsprechend der von Aleida Assmann (2006, 138) aufgestellten Klassifikation unterschiedlicher Aufgaben des kulturellen Funktionsgedächtnisses nehmen die römischen Ruinen im kolonialen Diskurs jene der „Legitimation“ ein, welche „das vordringliche Anliegen des offiziellen oder politischen Gedächtnisses“ konstituiert. Eine Dekonstruktion dieser kolonialen Ideologie einer römischlateinischen Méditerranée erfolgt in Frankreich in den 1930er Jahren durch die um den in Algerien ansässigen Verleger Edmond Charlot versammelten Autoren, die unter dem Begriff der école d’Alger als „literarische Bewegung“ (Fréris 2003, 49) bzw. „Autorenzirkel“2 bezeichnet werden. Zu ihnen zählen unter anderem Albert Camus, Gabriel Audisio, Jean Grenier und Armand Guibert. In ihren mediterranen Reiseberichten und Essays der 1930er Jahre, die Gegenstand dieser Untersuchung sein sollen, entwickeln sie in Opposition zum nationalistisch-faschistisch geprägten Kolonialdiskurs eine eigene Ruinenpoetik, die hier durch drei Tendenzen cha-

1 Neben den militärischen Kartographierungen antiker Stätten wurden auch Wissenschaftler beauftragt, wie etwa Amable Ravoisié, der anhand von Ruinen, Inschriften und Medaillen gezielt die römische Vorherrschaft in Algerien erschließen sollte. Vgl. dazu Oulebsir (1998, 241–243). Vgl. zur französischen Ausdeutung der römischen Ruinen in Algerien auch: Lorcin (2002). 2 Vgl. zum Begriff des ‚cénacle littéraire‘: Temime (2002, 105).

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rakterisiert werden soll: erstens, das Verständnis von Ruinen als Zeichen einer kulturellen und sozialen Polyphonie im Mittelmeerraum; zweitens, die Etablierung antirömischer Gedächtnisorte; und drittens, die Revision einer Natur-Kultur-Dichotomie, die das Ideal einer natürlichen Zersetzung und ‚Liquid(is)ierung‘ des in den Ruinen kristallisierten römisch-imperialen Kulturverständnisses abbildet. Zu beobachten ist somit, wie ausgehend von den antiken Ruinenstätten, aber auch anderen symbolischen Orten, eine immer wieder neue literarische Kartographierung des Mittelmeerraums vorgenommen wird, durch die je spezifische kulturelle Grenzziehungen ausgelotet werden.3

2 Zwischen mediterranem Reisebericht und Essay Die hier im Fokus stehenden Texte sind in Hinblick auf ihr Genre nicht klar klassifizierbar, sondern oszillieren zwischen Reisebericht und philosophisch-ästhetischem Essay, wie auch die dahingehend heterogenen Titel signalisieren: Inspirations méditerranéennes4 von Jean Grenier von 1937, Jeunesse de la Méditerranée5 I und II von Gabriel Audisio von 1935 und 1936, Périple des îles tunisiennes6 von Armand Guibert von 1938 sowie Noces7 von Albert Camus ebenfalls von 1938. Diese von Maignan als „nouveau genre de l’essai méditerranéen“ (Maignan 2018, 140) bezeichnete Textsorte ist nicht nur durch die von ihm fokussierte Thematik der Definition einer mediterranen Identität gekennzeichnet, sondern auch gerade durch ihre genrespezifische sowie reflexive Offenheit, die dem Essay seit Montaigne durch seine diskursive bzw. diskurrierende Argumentationsweise zu eigen ist.8 Mit Franck Hofmann (2018, 172) kann der sogenannte essai méditerranéen als eine spezifische Form der Lebenshaltung betrachtet werden, die weit über die Thematik der Suche nach einer mediterranen Identität hinaus die Beziehung des Menschen zur Welt in den Blick nehme. Die für das Genre typische offene Denkund Darstellungsweise, welche Friedrich (1967, 26) zufolge als Gegenbild eines Systemdenkens verstanden werden kann, stellt aber auch gerade, so die Überlegung hier, eine Reaktion auf die bereits beschriebene ideologische Festschreibung der Méditerranée latine dar, deren kulturelle Grenzziehungen aufgelöst werden. Inhalt und Form der Texte scheinen dabei ineinander zu greifen. Hierbei ist

3 4 5 6 7 8

Vgl. zum Mittelmeer als Ort der kulturellen Grenzziehung: Arend (1998). Grenier (2006). Audisio (2009); Audisio (1936). Guibert (1999). Camus (2016). Vgl. Friedrich (1967, 26–27).

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insbesondere auch die Fokussierung der eingeschlagenen Reiserouten von Interesse, die eine Revision der archetypischen zirkum-mediterranen Umfahrt darstellen, wie sie in Chateaubriands) Itinéraire de Paris à Jérusalem von 1811 abgesteckt wird9 und die von Paris über Venedig und Triest bis zurück nach Frankreich zentrale antike Stätten, wie Sparta, Athen, Smyrna, Konstantinopel, Rhodos, Jerusalem, Alexandria, Kairo, Karthago, Cordoba und Granada umfasst. In seinem Vorwort zur Ausgabe von 1826 beschreibt Chateaubriand sein Werk mithin als Ruinenführer: „En effet mon Itinéraire fut à peine publié qu’il servit de guide à une foule de voyageurs. Rien ne le recommande au public que son exactitude ; c’est le livre de postes des ruines : j’y marque scrupuleusement les chemins, les habitacles et les stations de la gloire.“ (Chateaubriand 2016, 68–69) Im Unterschied zu der kreisrund geordneten Umfahrt in diesem Archetypus des mediterranen Reiseberichts konzentrieren sich die Routen in den mediterranen Essays des Textkorpus entweder auf spezifische Küsten bzw. Länder, wie etwa Tunesien im Fall von Guibert und Audisio sowie Algerien im Fall von Camus, oder aber sie basieren auf einer der Struktur des essayistischen Genres selbst ähnlichen, nicht-linearen, ungeordneten Hin- und Herfahrt, wie etwa bei Grenier sowie in Audisios erstem Essayband. Ruinen oder andere ruhmreiche Stätten und Symbole treten in den Hintergrund und werden nicht mehr national als Zeichen einer französischen Identität im Mittelmeer ausgedeutet, wie dies Saminadayar-Perrin (2011, 11–12) zufolge bei Chateaubriand vollzogen werde, dessen Text emblematisch für eine „entreprise de synthèse par annexion“ sei: „du ‚miracle grec‘ au tombeau du Christ, de la patrie des Muses au Saint-Sépulcre, le pèlerin refonde son identité en retrouvant la double origine, culturelle et spirituelle, de la liberté française.“ Die mediterranen Essays sollen somit nicht nur als eine Revision des ideologischen Mittelmeerkonzeptes einer Méditerranée latine verstanden werden, sondern auch als eine Auseinandersetzung mit diesem durch Chateaubriand entworfenen literarischen Modell, wie im Folgenden anhand der darin entfalteten Ruinenpoetik veranschaulicht werden soll.

2.1 Ruinen als Zeichen einer kulturellen und sozialen Polyphonie im Mittelmeerraum Eine erste Revision findet durch die plurikulturelle Resemantisierung der Ruinen im Mittelmeerraum statt, wie sich insbesondere anhand von Jean Greniers Text Inspirations méditerranéennes zeigen lässt, der erstmals 1937 in den Éditions Charlot

9 Vgl. dazu auch Maignan (2018, 141).

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in Algerien erschienen ist. Entsprechend dem programmatischen Titel, der in Anlehnung an den gleichnamigen Essay von Paul Valéry zur geokulturellen Positionierung Europas im Mittelmeerraum formuliert ist,10 wird das Mittelmeer als metaphysischer Inspirationsraum begriffen: Il existe pour chaque homme des lieux prédestinés au bonheur, des paysages où il peut s’épanouir et connaître, au-delà du simple plaisir de vivre, une joie qui ressemble à un ravissement […]. La Méditerranée peut inspirer un tel état d’âme. […] Par les lignes et les formes qu’elle impose elle rend la vérité inséparable du bonheur ; l’ivresse même de la lumière n’y fait qu’exalter l’esprit de contemplation. Ainsi peut-elle inspirer une métaphysique qui soit à égale distance du culte de l’Absolu et du culte de l’Action. (Grenier 2006, o. S.)

Auf seiner Route von Algerien nach Italien, in die Provence und schließlich nach Griechenland, welche durch die Titel der vier Hauptkapitel nachgezeichnet wird, ist in diesem Kontext insbesondere das letzte Unterkapitel im ersten Teil über Algerien von Bedeutung, in dem die Hadriansvilla nordöstlich von Rom im Zentrum steht. Diese Einspeisung der Reflexionen zur ‚römischen‘ Ruine in den nordafrikanischen statt in den darauffolgenden italienischen Teil bildet strukturell eine Auflösung räumlich-kultureller Grenzen ab, die auch thematisch im Vordergrund steht. Dabei geht es nun aber nicht mehr um eine homogenisierte Romanisierung oder Latinisierung Nordafrikas, sondern die Ruinen der Villa Adriana werden als stilistisch-kultureller Hybrid vorgestellt, die einer vermeintlich monokulturellen Vereinheitlichung des Mittelmeers unter römischer Vormachtstellung entgegenwirken: […] sur une colline un grand mur rouge qui ne ferme rien, puis une piscine de marbre au centre d’une prairie, des bâtiments, des portiques, une succession de chambres et de cours rectangulaires, un stade, une basilique, un théâtre, une nymphée, des thermes, des terrasses. Et tout cela de conceptions différentes, de styles opposés. Il semble qu’on passe de Syrie en Grèce, de Grèce en Égypte, à mesure qu’on franchit ce qui fut une porte ou un escalier, et que brusquement on revienne à Rome. (Grenier 2006, 40–41)

10 Vgl. Valéry (1957, 1084–1098). Der Text bildet den Auftakt der autobiographisch orientierten Vortragsreihe Confidences d’auteurs für die Université des Annales. Er flankiert das ebenfalls 1933 entstandene Manifest für das in Nizza im gleichen Jahr begründete Centre Universitaire Méditerranéen, welches Wolfgang Lepenies zufolge ein Gegengewicht zur faschistischen Kulturpolitik Italiens bilden sollte. Vgl. dazu Lepenies (2016, 279). Innerhalb von Paul Valérys Gesamtwerk markiert dieser Text einen Übergang von einem rein eurozentrischen Mittelmeerkonzept hinzu einem transkulturellen mediterranen Humanismus, wie er dann von den Autoren um den Verleger Charlot schwerpunktmäßig theoretisiert wird.

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Wenngleich es sich bei diesem „ensemble composite“ (Grenier 2006, 41) um ein von Kaiser Hadrian artifiziell angelegtes Konstrukt handelt, dient diese Ruine Grenier als Inspirationsquelle einer für den Mittelmeerraum typischen palimpsestischen und transkulturellen Überschreibung von Orten, die Spuren diverser Zivilisationen in sich vereinen. So unterscheidet er (Grenier 2006, 41) zwischen diesem gewollten („voulu“) kulturellen Kompositum und jenen Orten, die unfreiwillig („malgré eux“) Ausdruck einer Überschichtung unterschiedlicher Zivilisationen im Mittelmeerraum sind. Grenier interpretiert die Ruinen in diesem Verständnis schließlich als Ebenbild ganz Nordafrikas, das als melting pot unterschiedlicher Kulturen beschrieben wird: Ces ruines dans ce paysage m’ont fait penser à l’Afrique du Nord. C’est ainsi que je la vois, comme le grand bazar de Stamboul qu’ont enrichi et dévasté successivement des générations d’immigrants, de voyageurs et de conquérants. Les tapis les plus somptueux, les verroteries les plus misérables… la noblesse et la mendicité, tous les contrastes… mais quand même, et toujours, un confluent de richesses, un composé de rêves. La villa Hadrian c’est l’Algérie. (Grenier 2006, 42)

Die römischen Ruinen werden als Sinnbild einer zivilisatorischen sowie sozialen Durchmischung durch Migration, Reisen und Eroberung ausgelegt. „Die Hadriansvilla ist Algerien“, wie Grenier hier betont – ein Mosaik der Kulturen,11 ein Abbild menschlichen Lebens, so im Weiteren: Devons-nous sur un champ de fouilles rejeter, à mesure qu’on nous le tend, les débris de marbres sous prétexte qu’ils sont informes ? Rassemblés, ils feront peut-être une colonne, une statue ; les dés colorés feront une mosaïque; le pis est qu’ils ne soient utiles à rien et impossibles à réunir ; alors ils formeront une image ressemblante de la vie humaine […]. (Grenier 2006, 43)

Ebenjenes in den Ruinen versinnbildlichte Zusammenspiel plurikultureller Überreste sei Ausdruck einer für Nordafrika typischen „polyphonie“ (Grenier 2006, 44), wie Grenier schließlich mit Bezug auf die Ruinen in Karthago beschreibt: Ceux qui sont allés jusqu’à Sidi-bou-Saïd, ceux qui ont eu le bonheur de vivre, ne fût-ce qu’un peu de temps, sur les terrasses en fleur qui dominent le golfe de Tunis, ont pu ressentir cette émotion complexe que donnent des choses disparates et pourtant pleines de signifi-

11 Arend (1998, 279) zieht in diesem Zusammenhang eine Parallele zur Interpretation Fernand Braudels, der ebenfalls den Begriff des ‚Mosaiks der Kulturen‘ als Charakteristikum des Mittelmeers verwendet. Der erste Band seines Schlüsselwerks setzt sich zum Ziel „de dessiner les visages et le visage de la Méditerranée afin d’en mieux dominer et d’en mieux comprendre, si possible, le destin multicolore.“ (Braudel 2017, 34).

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cation. […] Et ils viennent de visiter les ruines puniques de Carthage, ses ruines romaines et sa basilique chrétienne. Un peu étourdis de ces discordances, incertains s’ils doivent opter pour l’un ou l’autre des thèmes de cette polyphonie, ils s’arrêtent au soleil couchant de Sidi-bou-Saïd. (Grenier 2006, 43–44) [meine Kursivierung, S.I.]

Eigentümlich für Greniers Beispiel ist, dass gerade eine artifiziell hybridisierte römische Ruine zum Emblem der kulturellen Vielstimmigkeit im Mittelmeerraum erhoben und in den nordafrikanischen Teil seines Reiseberichts eingeschrieben wird. Die Bilder des Bazars, des Mosaiks und der Polyphonie sind Metaphern eines historischen Palimpsestes, wie es für die kulturelle Hybridisierung im Mittelmeerraum charakteristisch ist. Wenngleich Grenier in Auseinandersetzung mit dem kolonialen Ruinendiskurs somit eine Resemantisierung der antiken Überreste vornimmt, gliedert sich auch seine Vorstellungswelt in eine orientalistische Argumentationskette ein, insofern nämlich als die in den Ruinen versinnbildlichte kulturelle Polyphonie zu einem Zeichen von territorialer Unabhängigkeit umgedeutet wird: „Ce pays n’appartient à personne et il accueille tout le monde.“ (Grenier 2006, 42) Somit werden auch hier die autochthonen Bewohner Nordafrikas unter dem Deckmantel eines mediterranen Kollektivs auf symbolischer Ebene territorial quasi ‚enteignet‘. Das Motiv der kulturellen und sozialen Hybridisierung wird auch in Armand Guiberts Périple des îles tunesiennes von 1938 thematisiert. Der Text knüpft an ein vermeintlich verschollenes Werk des späthellenistischen Geschichtsschreibers Diodor von Sizilien mit dem Titel „Livre des îles“12 an. Statt jedoch einer umfassenden Beschreibung sämtlicher mediterraner Inseln beleuchtet Guibert, der von 1929 bis 1941 in Tunesien lebte,13 eine Auswahl tunesischer Inseln, die wiederum als emblematisch für den gesamten Mittelmeerraum bewertet werden. Seine Beschreibungen sind gekennzeichnet durch ein palimpsestisches Geschichtsverständnis, wie am Beispiel der auf den noch sichtbaren Ruinen einer römischen Stätte erbauten spanischen Festung von Borj Hassar auf den Kerkennah-Inseln deutlich wird: „Le fortin espagnol de Bordj el Ksar [sic!] […] garde sa faction sur une armée des ruines.“ (Guibert 1999, 48). Bollwerk und archäologische Stätte von Borj Hassar nimmt Guibert zum Anlass, um eine historisch ständig wechselnde Nutzung der Festung und Bevölkerung der mal in punischem, mal in römischem, islamischem, spanischem und osmanischem Besitz befindlichen Inselgruppe, die zudem als Exilort illustrer antiker Persönlichkeiten, wie etwa Han-

12 „Diodore de Sicile a écrit un ‚Livre des îles‘ dont le titre seul nous est parvenu.“ (Guibert 1999, 17). 13 Vgl. Loreti (2008, 83).

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nibal, Gaius Marius sowie Gaius Gracchus gilt. Statt jedoch diese palimpsestisch überschichteten Ruinen zum Kristallisationspunkt einer ruhmreichen und identitätsstiftenden nationalen Historie zu erheben, stehen bei Guibert die Spuren jener einfachen Bauern und Fischer im Zentrum, an die niemand erinnert, obwohl sie die eigentlichen Protagonisten im Mittelmeerraum seien: Je ne saurais avoir des regrets pour les passants illustres, dont le feu fixe attire les regards les plus lointains, – mais la légion souterraine de ceux qui n’ont pas eu à être oubliés, n’ayant jamais été connus ? […] La coupe de la falaise montre encore des alvéoles, des veines sinueuses qui suivent le tracé des anciennes rues, et le sol à perte de vue est jonché de débris marqués à l’empreinte de l’homme: des poteries surtout, fragiles vestiges, mais témoins de l’humble vie de tous les jours. (Guibert 1999, 51)

Ihre Spuren kristallisieren sich in den als „fragiles vestiges“ bezeichneten Tonscherben, die den massiven Ruinen staatlicher Monumente ebenso wie den militärischen Persönlichkeiten der Vergangenheit als Erinnerungsort eines inoffiziellen Gedächtnisses14 jener „légion souterraine“ gegenübergestellt werden. Die Beispiele aus den mediterranen Reiseberichten von Grenier und Guibert zeigen somit, dass eine doppelte Revision stattfindet: Zum einen wird die Ausdeutung römischer Ruinen als Manifestationen einer römisch-lateinischen Erbschaft in Nordafrika zersetzt, indem die antiken Überreste als Zeugnisse eines palimpsestisch verzeichneten Kulturaustauschs umgedeutet werden; zum anderen wird auch die in Chateaubriands literarischem Modell der Mittelmeerreise etablierte Galerie illustrer identitätsstiftender Ruhmesstationen dekonstruiert, indem unter dem Banner einer maritimen Einfachheit der eigentliche Charakter der mediterranen Identität propagiert wird. Die römische Kultur, – deren homogene Einheit darüber hinaus in Frage gestellt wird –, wird hier als ein mediterranes Substrat neben vielen verstanden und somit relativiert. Dennoch bleiben auch diese Texte insofern einem kolonialen Erbe verpflichtet, als sie trotz einer transnationalen und -kulturellen Perspektivierung der Ruinen im Mittelmeerraum vor allem die europäische Präsenz in einem orientalistisch-mediterraneistisch15 überschriebenen Nordafrika zu rechtfertigen scheinen.

14 In Assmanns (2006, 139) Klassifikationsschema unterschiedlicher Aufgaben des kulturellen Funktionsgedächtnisses ist als Konterprinzip zum offiziellen Gedächtnis von der ‚Delegitimation‘ bzw. ‚Delegitimierung‘ die Rede, womit allerdings „das Motiv der Gegenerinnerung [bezeichnet wird], deren Träger die Besiegten und Unterdrückten sind“. In obigem Falle werden jedoch neue Träger eines transnationalen maritimen Kollektivs evoziert, die im nationalen Gedächtnis keine (oder nicht die angemessene) Berücksichtigung finden. 15 Michael Herzfeld (2010, 51) prägt in Anlehnung an Edward Saids Konzept des ‚Orientalismus‘ den Begriff des ‚Mediterraneism‘ „[that] can be treated as much more than an ideology – as in fact,

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2.2 Karthago als anti-römischer Gedächtnisort Neben diesem Prozess einer plurikulturellen Resemantisierung von Ruinen findet sich bei dem aus Marseille stammenden Autor Gabriel Audisio ein literarischer Delegitimierungsprozess römischer Ruinen wider. Ihre Funktion als Erinnerungsorte einer maritimen Vergangenheit versucht Audisio zu widerlegen. Tatsächlich spiegeln seine mediterranen Reiseberichte eine radikal ablehnende Haltung gegenüber dem an ein römisches Erbe anknüpfenden Restaurationsgedanken wider und schreiben sich darüber hinaus sehr viel expliziter in den politischen Kontext seiner Zeit ein. Dabei richtet er sich weniger gegen die französische Ausdeutung römischer Ruinen als koloniale Legitimierungsstrategie, denn gegen die im italienischen Faschismus propagierte Anknüpfung an das römische Imperium zur Rechtfertigung der eigenen Mittelmeerpolitik. Audisios erster Reisebericht Jeunesse de la Méditerranée von 1935 kritisiert in mehreren Passagen die – vor allem im Bereich des Urbanismus und der Körperkultur exemplifizierten – Fehlentwicklungen im faschistischen Italien sowie dessen neue politische Ordnung, die dem wahren esprit méditerranéen zuwiderlaufe.16 Emblematisch dafür ist die autobiographische Beschreibung seiner Ankunft auf Sardinien zusammen mit dem Piloten der italienischen Luftwaffe Umberto Nobile in dem Unterkapitel „Par Tunis à Tyrrhénée l’Italienne“ (Audisio 2009, 161). Symbolisch bringt das Mittelmeer selbst den von Audisio (2009, 161) kritisierten faschistischen Kult der Ordnung ins Wanken: „ils ont dressé la statue de l’Ordre. Mais l’ordre est un colosse aux pieds d’argile. Ne l’ai-je pas vu, ici même, qui chancelait, sur ce navire jeté à la côte, quand du maître d’équipage au sbire tout se débandait devant l’événement ?“ Nobile wird in diesem Kontext als Inkarnation jener monumentalen faschistischen ‚Statue der Ordnung‘ verhandelt, die durch die Meeresbewegung destabilisiert wird. Tatsächlich erleidet der Soldat bei seiner Ankunft im Hafen von Cagliari einen Schiffsbruch und macht durch seine unheroische Flucht auf einem Beiboot auf sich aufmerksam.

a programme of active political engagement with patterns of cultural hierarchy.“ Die Verteidigung einer mediterranen Identität in Abgrenzung zur nicht-mediterranen ist aber im Unterschied zum Orientalismus ein endogenes Konzept, wird also aus dem Inneren des Mittelmeerraums selbst konstruiert, und impliziert somit gerade die Problematik einer kontinuierlich veränderbaren kulturellen Grenzziehung. Im Falle der obigen Texte sogenannter pieds-noirs wird zwar die dichotome Ost-West-Kartographierung im Mittelmeer revidiert, doch bleibt auch hier die Konzeptualisierung einer mediterranen Identität an die eigene koloniale Präsenz in Nordafrika gebunden. 16 Vgl. z. B. Audisio (2009, 40–41) und Audisio (2009, 85).  

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Der im ersten Band jedoch noch inzidenter behandelte Aspekt einer Kritik an der faschistischen Ordnung wird in Audisios zweitem Bericht Jeunesse de la Méditerranée II. Sel de la mer von 1936 schwerpunktmäßig aufgegriffen. Dabei scheint es kein Zufall zu sein, dass der Essay zum einen nicht mehr dem gesamten Mittelmeerraum, sondern nur noch Tunesien gewidmet ist, und zum anderen die Entfaltung einer „poésie des ruines“ (Audisio 1936, 33) den inhaltlichen Schwerpunkt bildet. Für die topographische Wahl Tunesiens steht – anders als im Falle Guiberts – bei Audisio weniger ein autobiographischer, als ein politischer Beweggrund im Zentrum. Wie Bessis (1986, 6) hervorhebt, avanciert Tunesien, das kolonialgeschichtlich als ‚Zankapfel‘ der italienisch-französischen Beziehungen gilt, durch die Mittelmeerpolitik des faschistischen Regimes in Italien in den 1920– 30er Jahren erneut zu einem Stein des Anstoßes. Audisios Ruinenpoetik scheint auf diesen Interessenkonflikt Bezug zu nehmen. So wird in diesem zweiten Reisebericht das Gebiet um Tunis zum Zentrum des gesamten Mittelmeeres proklamiert: La Méditerranée contemporaine reste semblable à l’univers des Anciens, car leur univers c’était justement la Méditerranée : un cercle. Tous les points font également face au centre, tout y est ramené par une espèce de dynamisme centripète. Et précisément le centre […], le cœur, la clef de l’équilibre est tout près de Tunis. (Audisio 1936, 57)

Die Rezentralisierung des Mittelmeers um Tunis basiert auf der Vorstellung, dass hier Orient und Okzident zusammenfließen.17 Tatsächlich wird in Audisios weiterer Argumentation die antike Stätte von Karthago bei Tunis folgerichtig anstelle der römischen Ruinen von Gabès zu einem symbolischen Ort des esprit méditerranéen und mithin zu einem anti-römischen Gedächtnisort stilisiert. Die Dezentrierung Roms geht mit einer Rezentrierung um Karthago einher. Trotz der klaren topographischen Verortung Karthagos liegt der Fokus hier jedoch weniger auf der antiken Ruinenstätte, als auf einer Umschreibung Karthagos zu einer imaginären Projektionsfläche des Mittelmeergeistes, wie er ihn verlebendigt beispielsweise auch in seiner Heimatstadt Marseille sieht: „La Carthage que je dis, ce n’est pas là où elle fut que j’irai la chercher, comme font presque tous les voyageurs. […] Carthage est partout où je la promène, partout où je la découvre.“ (Audisio 1936, 71– 72) In seiner Gegenüberstellung der römischen und der punischen Zivilisationen, deren beider Spuren den nordafrikanischen Raum beschreiben, wird alleine die punische als eine maritime charakterisiert, während Rom als „terrien“ (Audisio 1936, 101) abgestraft wird. Damit richtet sich Audisio implizit gegen die von Mussolini kolportierte Analogisierung der eigenen Mittelmeerpolitik mit dem rö-

17 Vgl. Audisio (1936, 57).

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mischen Aufstieg zu einer Mittelmeermacht im Zuge der punischen Kriege, welche beispielhaft in Carmine Gallones faschistischem Propagandafilm Scipione l’Africano (1937) zum Ausdruck kommt. Was Audisio als ‚Ruinenpoetik‘ präsentiert, ist somit eine Demontage des römischen Ruinenkults, wie in seinen Beschreibungen der römischen Ruinen von Gabès manifest wird: „C’est vrai, les colonnes, le chapiteau sont romains. […] Voici le moment où les âmes sensibles à la grandeur des temps antiques chancellent sur leurs montures: Rome leur apparaît, et les légions en marche, les douze césars, la pax romana, toute l’Histoire en grand uniforme, la Latinité en costume de cérémonie.“ (Audisio 1936, 27) Dieses ironische Bild einer phantomatischen Auferstehung des römischen Primats im Mittelmeer aus den eigenen Ruinen heraus erweist sich als eine Kritik an dem von Griffin (2004, o. S.) als „palingenetisch“ bezeichneten Geschichtsverständnis des Faschismus, den die Vision einer Neugeburt der römisch-imperialen Gemeinschaft als Überwindung der Dekadenz prägte. Diesem setzt Audisio ein mythifiziertes Karthago gegenüber, das eine Vergeistigung der méditerranéité symbolisiert und im Mittelmeerraum auch in unterschiedlichen Städten (so etwa Marseille) weiterlebt.

2.3 Natur-Kultur-Dichotomien als zeitgeschichtliches Revisionskriterium Neben der Typisierung der Ruinen als Zeichen einer kulturellen Vielstimmigkeit im Mittelmeerraum und der Konstruktion antirömischer Gedächtnisorte als Delegitimierungsstrategie gegenüber einer faschistischen Mittelmeerpolitik bildet die Natur-Kultur-Dichotomie18 das dritte Charakteristikum der Ruinenpoetik im mediterranen Essay der 1930er Jahre. Während die koloniale und faschistische Memorialpolitik sich gerade der Sicherung zivilisatorischer Spuren im Mittelmeerraum widmen, um durch die Anknüpfung an ein römisches Erbe die eigene Präsenz insbesondere im nordafrikanischen Raum zu legitimieren, wird hier der Fokus gerade auf den natürlichen Zerfall der kulturellen Überreste gelegt. In der Forschung wurde dieser Aspekt insbesondere mit Bezug auf Albert Camus’ Text Noces analysiert,19 doch manifestiert er sich auch bei Grenier und Audisio. Bei letzterem findet das Oppositionspaar von Natur und Kultur bzw. in diesem Fall Natur und

18 Simmel (2008, 34–36) spricht von einem Widerstreit zwischen dem „Willen des Geistes“ einerseits, welcher die Materie nach seinem Vorbild mit ästhetisch-kulturellen Mitteln formt, und der „Notwendigkeit der Natur“ andererseits, welche auf das Menschenwerk einwirkt und sich insbes. im ruinösen Verfall von Baukunst in ihrer Dominanz zeigt. 19 Vgl. dazu Favre (1989, 105–116).

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Archäologie eine Doppelung in dem von Leben und Tod, wie anhand seines Besuchs der archäologischen Stätte von Thugga bei Tunis deutlich wird: Dougga, certes j’y vais […], certes, je suis ému sur cette colline célèbre. Ce qui m’émeut ? D’abord la solitude, le chant des coqs, les ânes qui broutent entre les dalles où la rose des vents est gravée. […] Nous, les pauvres hommes, tristes au point de chercher les froides pitances de l’archéologie quand l’herbe fraîche pousse à nos pieds, quand la vie de toutes parts nous réclame avec ses tentations merveilleuses […]. Ce qui me touche à Dougga : les bédouines accroupies sous les oliviers, les enfants de la mechta voisine qui font la cueillette des olives, la fumée qui s’élève d’un gourbi tassé parmi les architraves chues. En un mot : la poésie des ruines. (Audisio 1936, 33)

Die eigentliche ‚Poesie der Ruinen‘ entsteht für Audisio erst durch die Natur und das Leben in den Ruinen. Während die archäologische Stätte an sich keinerlei Faszination auf den autobiographischen Erzähler ausübt, – denn „ce qui est détestable dans la ruine, c’est le cadavre“ (Audisio 1936, 33) –, so transformieren jene Akteure, welche die Natur und das Leben repräsentieren, den Ort zu einem poetischen Faszinosum. Eine ähnliche Kontrastierung schlägt sich in Camus’ Essaysammlung Noces nieder, wie besonders eindrücklich im ersten Text „Noces à Tipasa“ manifest wird. Am Beispiel der römischen Stätte im algerischen Tipasa beschreibt Camus die natürliche Zersetzung der Ruinen, ihre Abnutzung, ihre langsame Liquidierung sowie ihren Übergang in einen Naturzustand. In Form einer dramatischen Spannungskurve führt der autodiegetische Erzähler den Leser zunächst in der Funktion eines Zuschauers, schließlich in der Funktion eines Akteurs durch die Ruinenstätte und veranschaulicht die Verschmelzung der Natur mit den Ruinen, aber auch mit dem eigenen Sein: Dans ce mariage des ruines et du printemps, les ruines sont devenues pierres, et perdant le poli imposé par l’homme, sont rentrées dans la nature. Pour le retour de ces filles prodigues, la nature a prodigué les fleurs. Entre les dalles du forum, l’héliotrope pousse sa tête ronde et blanche, et les géraniums rouges versent leur sang sur ce qui fut maisons, temples et places publiques. Comme ces hommes que beaucoup de science ramène à Dieu, beaucoup d’années ont ramené les ruines à la maison de leur mère. Aujourd’hui enfin leur passé les quitte, et rien ne les distrait de cette force profonde qui les ramène au centre des choses qui tombent. (Camus 2016, 13)

Die in diesem Bild als Gladiatoren der Zeit versinnbildlichten Geranien stehen allegorisch für ein Geschichtsparadigma natürlicher Zyklizität,20 mit dem sich

20 Vgl. Trageser-Rebetez (2001, 56).

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Camus gegen eine für okzidentale Gesellschaften typische lineare Fortschrittsorientierung abgrenzt. Die Ruinen werden von der Natur absorbiert und in ein zeitliches Werden überführt, das ein Zeitverständnis der zivilisatorischen Sukzession überschreitet. Dies wird auch mit Blick auf die Überreste der Basilika von SainteSalsa verdeutlicht, die nicht als ein Symbol christlicher Präsenz in Algerien ausgedeutet, sondern in den Prozess eines natürlichen Werdens eingespeist werden: Comme aussi cette basilique sur la colline Est : elle a gardé ses murs et dans un grand rayon autour d’elle s’alignent des sarcophages exhumés, pour la plupart à peine issus de la terre dont ils participent encore. Ils ont contenu des morts; pour le moment il y pousse des sauges et des ravenelles. La basilique de Sainte-Salsa est chrétienne, mais chaque fois qu’on regarde par une ouverture, c’est la mélodie du monde qui parvient jusqu’à nous: couteaux plantés de pins et de cyprès, ou bien la mer qui roule ses chiens blancs à une vingtaine de mètres. La colline qui supporte Sainte-Salsa est plate à son sommet et le vent souffle plus largement à travers les portiques. Sous le soleil du matin, un grand bonheur se balance dans l’espace. (Camus 2016, 14–15)

Die römischen ebenso wie die christlichen Ruinen werden in ihrem natürlichen Zerfall gerade nicht durch ein restauratives oder palingenetisches Geschichtsverständnis für zeitgenössische geopolitische Legitimationsstrategien eingeholt, sondern zu einem existentiellen Mahnmal einer Lebensführung unter dem epikureischen Lebensmotto des carpe diem umgedeutet. Als vermeintliche Symbole eines kulturellen Funktionsgedächtnisses werden sie somit demontiert.21 Stattdessen dienen sie als Spiegel der eigenen Vergänglichkeit, die in dem durch die Natur performierten Spektakel einer ewigen Wiederkehr des Gleichen zu einer lebenbejahenden Sinnstiftung auffordert.

3 Fazit Um zu einer resümierenden Bilanz zu gelangen, soll hier noch einmal an die eingangs als für Ruinen typisch beschriebene „limite double, ambivalente, qui touche le temps et l’espace“ (Théodorpoulos 2016, 1351) angeknüpft werden. Tatsächlich zeigt die in den betrachteten mediterranen Essays bzw. Reiseberichten entfaltete Ruinenpoetik, wie der römische Ruinenkult des nationalistisch-faschistischen Kolonialdiskurses auf raumzeitlicher Ebene dekonstruiert wird, wenn-

21 Quinney (2014, 78) schlussfolgert, dass die Anspielung auf die römischen und christlichen Ruinen als Voraussage zu deuten sei, welche die Zukunft der französischen Herrschaft in Nordafrika betreffe.

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gleich die Texte insgesamt insofern einem orientalistischen Denkmuster verhaftet bleiben, als die eigene koloniale Präsenz in Nordafrika auch unter Bezugnahme auf eine gemeinsame mediterrane Identität nicht in Frage gestellt wird. Das zunächst im offiziellen Diskurs als monokulturell interpretierte römische Substrat der Ruinen im Mittelmeerraum erfährt eine Pluralisierung, wie sie für diesen geopolitischen Raum als Zone kulturellen Austauschs eigentümlich ist. Die Ruine wird dabei zum Zeichen einer kulturellen und sozialen Vielstimmigkeit. Darüber hinaus werden die Ruinen nicht mehr als Kristallisationspunkte eines restaurativen oder palingenetischen Geschichtsverständnisses betrachtet, sondern einerseits als historisch-kulturelle Palimpseste und andererseits auch als Ausdruck eines fortwährenden zyklischen Werdens der Natur, das selbst die zivilisatorische Sukzessionskette übersteigt. Mittels dieser Revision der kolonialen Ruinenpoetik wird somit auch der Mittelmeerraum neu kartographiert: räumliche und zeitliche Zirkularität dieses transkulturellen Raumes werden in einem Chronotopos ständigen Wandels in Einklang gebracht.

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Angelica Rieger

Paris en ruines. Deux regards à un siècle d’intervalle Mettre Paris en ruines, ne serait-ce que dans son imagination, est un défi poétique fascinant. Mais le rôle des ruines dans la mémoire culturelle, tel qu’il s’exprime dans des œuvres littéraires, est sujet à des changements qui dépendent aussi bien du lieu que du moment où le regard s’y pose et de celui qui pose ce regard. Sans aucun doute, celui d’un historien du dernier tiers du XIXe se distingue de celui d’un poète flâneur de la seconde moitié du XXe siècle. Outre l’époque, le genre détermine la perspective : l’auteur d’un roman de science-fiction du XIXe n’observe pas les ruines de Paris de la même manière que celui d’une prose poétique du XXe siècle. Comment ces regards sur les ruines imaginaires de Paris changent-ils à travers les siècles ? Et que les unit-il néanmoins ? Comment et pourquoi les auteurs réduisent-ils en ruines cette métropole si présente dans la mémoire collective culturelle de leurs lecteurs contemporains ? Un jeu d’esprit, une fiction qui place le narrateur au cinquième millénaire et le dote du regard d’un véritable archéologue découvrant les ruines d’une ville dont il ne sait pas grand chose ? Un esprit poétique qui évoque dans les ruines imaginaires d’un Paris qui lui est bien connu la ruine d’une civilisation, de toute une culture ? Ce sont ces questions que je me propose d’étudier à travers l’analyse de deux textes séparés d’un peu plus d’un siècle : le premier, peu connu, d’Albert Franklin, Les ruines de Paris en 4875 (1875),1 et le deuxième, très présent dans l’esprit parisien, Les ruines de Paris de Jacques Réda (1977).2 Ma tentative de réponse à ces questions se divise, après une brève présentation des deux auteurs, en trois parties. Je commencerai par une définition du terme « ruines » ; je passerai ensuite à l’objet en ruines, Paris, la métropole, et finirai par examiner le contraste entre le Paris de Franklin et celui de Réda dans une optique de mémoire culturelle. Jacques Réda n’a guère besoin d’une présentation: le recueil de poèmes en prose et en vers libres Ruines de Paris, de 1977 est le premier grand succès d’un des poètes de langue française les plus prolifiques du XXe siècle.3

1 Franklin, Albert. Les ruines de Paris en 4875. Paris : Paul Daffis et Léon Willem, 1875 (https:// gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k5813428k.texteImage; 31 mars 2020). 2 Réda, Jacques. Les ruines de Paris. Paris : Gallimard, 1977. 3 V. p. ex. Jocqueviel-Bourfea (2005) ; Maulpoix (1986) ; ainsi que sur Les ruines de Paris en particulier Prieto (2009) et Taylor (1997). https://doi.org/10.1515/9783110757811-013

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Le bibliothécaire, historien, journaliste et écrivain Alfred Franklin (1830– 1917), en revanche, n’a jamais atteint un public comparable, malgré ses vingt-sept volumes de la Vie privée d’autrefois (1887–1902).4 À côté d’un roman historique, Les ruines de Paris en 4875 (1875), satire du monde scientifique du Paris de son temps, est son unique roman de science-fiction. Le petit livre, qu’il appelle lui-même « bagatelle » (Franklin s. d., 2) et « bluette modeste » (Franklin s. d., 5), a néanmoins connu assez de succès pour être réédité – sans date, mais étant donnée la modification de son titre, très probablement en 1908 – en tant que « troisième édition très augmentée » d’une préface de l’auteur et d’un chapitre supplémentaire (v. infra) sous le titre Les ruines de Paris en 4908.5

1 Ruines et ruines La définition des ruines varie selon les civilisations et évolue dans le temps, même si les ruines ont en commun le fait que, selon Roland Mortier, « avant d’acquérir une beauté propre, la ruine a d’abord une fonction médiatrice : elle autorise à la méditation historique, philosophique, morale; elle sert une fin qui lui est extérieure et qui la dépasse » (Mortier 1974, 9). La ruine devient, par là, l’objet idéal du poète. Il existe tout un débat autour de ce phénomène et de la signification des ruines dans la littérature que je ne pourrai rendre que de manière extrêmement raccourcie, en renvoyant aux synthèses déjà menées à bien par Assmann (2002) ou Stadler (2002) dans le volume collectif Ruinenbilder, entre autres.6 Une ruine, du latin ruere, faire tomber, désigne les restes d’un bâtiment effondré. En tant que monuments,7 les ruines réelles et/ou artificielles8 font souvent

4 V. le Dictionnaire de biographie française, t. 14. Flessard-Gachon, t. 14, col. 1102. 5 Franklin, Albert. Les ruines de Paris en 4908. Documents officiels et inédits. Troisième édition très augmentée. Paris : Flammarion, s. d. (https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k11657142/f1.image; 31 mars 2020). Selon sa préface (p. 3), il aurait même inspiré Edmond Haraucourt (1856–1941) pour Cinq mille ans ou la Traversée de Paris, paru dans Le Journal en 1904 (https://www.quarante-deux. org/exliibris/00/9b/ee/c1.html, 31 mars 2020). V. aussi https://www.histoires-de-paris.fr/faceparis-ruine-4908/ (31 mars 2020). 6 Assmann et al. (2002). Ce recueil interdisciplinaire vise les « Rahmenbedingungen der Wahrnehmung und Beschreibung von Ruinen in ihrem historischen und kulturellen Kontext », texte de la couverture). Stadler (2002) en donne une vue panoramique, Assmann (2002) se concentre surtout sur la littérature anglaise. 7 V. surtout Pilia (2019). 8 V. p. ex. Vöckler (2009) et MacCormick (1999).

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partie du patrimoine historique et de l’héritage culturel d’une civilisation, donc de sa mémoire et par là de son identité culturelle.9 Les ruines se forment soit naturellement, à défaut de soins de conservation, comme conséquence d’une intervention violente (par exemple une guerre) ou de catastrophes naturelles (un cataclysme), soit artificiellement, planifiées et construites, comme les constructions romantiques. Surtout depuis le Romantisme, elles font souvent l’objet – à côté de leur place dans la littérature – de dessins et de peintures (il suffit d’évoquer le nom de Caspar David Friedrich).10 La ruine entre dans le domaine des réflexions philosophiques avec Georg Simmel (1907) et Walter Benjamin (1925) (Assmann et al. 2002). Elle symbolise le déclin ou la décadence, et, par analogie, la perte, la disparition des biens, de la fortune ou d’un système de valeurs complet, de l’identité culturelle d’une civilisation entière. Les ruines imaginaires des écrivains sont souvent celles d’une civilisation disparue. Je ne cite qu’un exemple, de la fin du XXe siècle : pour Patrick Modiano, dans Fleurs de ruine (1991), elles signifient la fin d’une civilisation. L’architecture de son Paris en ruines semble intacte, mais la société d’après-guerre qui y fleurit ne l’est plus. Il n’évoque qu’une seule fois les « jardins du Carrousel » où des enfants jouent « parmi les vasques et les statues brisées, les pierres et les feuilles mortes » (Modiano 1992, 90) mais tout est ruiné, malgré tout.11 Il est évident que la ruine romantique, qui marque le XIXe siècle, et la ruine postmoderne se ressemblent peu. La critique déconstructiviste en a déjà témoigné.12 Néanmoins, il y a un point commun dans les constructions de ruines artistiques. La ruine est surtout le prétexte rêvé, ou le lieu idéal, pour se livrer en toute impunité à ce jeu poétique qui consiste à remodeler le réel, à confondre les lignes, à retrouver les fantasmes et les délires qui dorment au tréfonds de la conscience, à réveiller les obsessions immémoriales de l’homme devant un monde qui l’inquiète et qui l’écrase (Mortier 1974, 222).

9 V. p. ex. Assmann (2002). 10 Pour une définition de la ‚ruine romantique‘, v. p. ex. McFarland (1981), ainsi que, pour les ruines dans la littérature française, surtout Mortier (1974) ; pour la ruine dans l’art v. p. ex. Dillon (2014) ; pour Caspar David Friedrich en particulier, v. Schulze (1987). À propos des ruines postromantiques parisiennes v. Fournier (2008). 11 Voir l’étude d’une œuvre antérieure de Modiano, Ronde de nuit, de 1969, par Angelika Corbineau-Hoffmann 2018, 103–104) : « fast verzweifelte Reaktion auf einen existenziellen Orientierungsverlust » (« réaction presque désespérée à une perte d’orientation existentielle ») qui confirme cette interprétation. 12 V. p. ex. Bolz (1996), et, dans ce volume collectif, surtout Bolz (1996b), ainsi que Raulet (1996) ; v. aussi Wigley (1993).

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Franklin est encore un enfant des ruines romantiques, tandis que la poésie de Réda évolue dans un monde postmoderne. Pour mesurer l’espace qui les sépare, il faudra donc partir de deux définitions différentes du terme « ruine ». Pour le premier, je m’appuie sur le dernier chapitre de l’étude de Roland Mortier sur la poétique des ruines en France, Victor Hugo, ou les fantasmagories de la ruine (Mortier 1974, chap. X). L’auteur part du principe que « [dans] l’esthétique classique, qui se perpétue en pleine époque romantique, l’idée de ruine s’associe à celle d’une grandeur passée, d’une œuvre prestigieuse témoignant de la puissance ou de la splendeur d’une civilisation disparue » (Mortier 1974, 9). La poétique des ruines, dans cet esprit-là, ne saurait donc survivre aux temps modernes ? Jacques Réda semble reprendre justement ce défi : Puis viendra un âge où l’accélération du temps ne laissera plus aux ruines le loisir de vieillir en beauté : quel est le charme d’une usine désaffectée ? Quelle émotion (si ce n’est l’horreur) peut inspirer le spectacle des ruines d’une ville bombardée ? La ruine objet de poésie, la ruine mémorial. La ruine propice au rêve et aux jeux de l’imagination sont autant de visages du monde de la lenteur (Mortier 1974, 227).

Or, les ruines d’un Paris du XXe siècle, symbole du « vivre vite » à l’opposé de ce « monde de la lenteur », deviennent précisément, et paradoxalement, le centre d’intérêt de Jacques Réda. Quel est alors l’attrait de cette métropole pour la poétique des ruines de l’auteur ?

2 Paris en ruines Dans les beaux-arts, les monuments de Paris en ruines sont relativement rares; néanmoins, un des grands peintres de ruines du XVIIIe siècle, Hubert Robert (1733–1808), « le Robert des Ruines », s’y consacre. Le peintre, chargé des collections du musée et impliqué dans l’aménagement de la Grande Galerie, alors à peine en construction, dans sa Vue imaginaire de la Grande Galerie du Louvre en ruines de 1796,13 nous en a déjà donné une vision qui semble véritablement inspirer les ruines du Louvre de Franklin (v. infra).

13 Fig. 1. V. à propos de Hubert Robert surtout Stadler (2002, 276) ; Zucker (1968) et Macaulay (1953).

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Ill. 1 : Hubert Robert (1733–1808), Vue imaginaire de la Grande Galerie du Louvre en ruines (1796)14

Mais Paris en ruines est bien plus qu’un « bâtiment effondré », c’est une métropole en ruines. Et les ruines urbaines sont spécifiques :15 à la poétique des ruines s’y joint la poétique des métropoles qui, selon Angelika Corbineau-Hoffmann (2018), suit ses propres lois. Celle-ci part du principe que, pour apprécier la démesure de la métropole, il faut la décrire ; et elle présente, à travers une série de poètes français qui se laissent tenter par la métropole, de Mercier à Proust, en passant par Diderot, Hugo, Baudelaire et Zola, ce qu’elle considère comme cette « épreuve que le terme ‚métropole‘ impose aux textes qui s’en occupent » et qui « ouvre, avec cette déchirure même, de nouvelles perspectives diverses » (Corbineau-Hoff-

14 Source : https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hubert_Robert_-_Imaginary_View_of_the _Grande_Galerie_in_the_Louvre_in_Ruins_-_WGA19589.jpg (31 mars 2020). 15 V. Makarius (2004) et surtout son chapitre « Ruinen in der Stadt » (Makarius 2004, 179–189).

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mann 2018, 78).16 L’étude de la série d’exemples cités ci-dessus, l’amène à la conclusion que : Tous les textes étudiés se servent de modèles qui ne reproduisent pas la réalité métropolitaine dans le sens de l’imitatio, mais qui cherchent à la surpasser en donnant aux grandes villes, par rapport à leur fonction empirique, une nouvelle signification de longue portée. On y apprenait des données universellement valables par-delà l’objet lui-même. Et à cette fin, l’activation d’un mode de texte supposé marginal, la description, était une condition inconditionnelle. (Corbineau-Hoffmann 2018, 104–105)17

Même si elle n’évoque qu’en passant un Paris en ruines dans un sens métaphorique, celles de Mercier qui voit, d’en haut des tours de Notre-Dame, la capitale comme « un amas confus de décombres » (Corbineau-Hoffmann 2018, 83), on peut partir du principe que ce raisonnement est également valable pour la description des ruines chez Franklin et Réda, sur lesquelles nous nous concentrerons par la suite.

3 Les ruines de Franklin et Réda a Franklin La tradition de la vision utopique de Paris remonte au XVIIIe siècle, notamment au roman L’An 2240, rêve s’il en fut jamais de Louis-Sébastien Mercier, de 1768. Mais son Paris du troisième millénaire n’est point en ruines, il représente, convaincu du progrès imparable de l’humanité, tout au contraire un espace architectural idéal pour une vie de société idéale (Corbineau-Hoffmann 2018, 80). Un peu plus d’un siècle plus tard, Alfred Franklin, désabusé, n’y croit plus. Il se présente en anti-Mercier acerbe : la ville de Paris n’existe plus, et les rares descendants des survivants du cataclysme qui l’a détruite vivent en pleine décadence.

16 « […] die Zerreißprobe, die der Gegenstand ‚Großstadt‘ den mit ihm befassten Texten auferlegt, ermöglicht im Zerreißen selbst neue, sich vielseitig eröffnende Ausblicke. […] » (CorbineauHoffmann 2018, 78). 17 « In allen betrachteten Texten kamen Modelle zum Einsatz, welche die großstädtische Wirklichkeit nicht im Sinne der imitatio abbildeten, sondern sie zu überbieten suchten, indem den Städten eine gegenüber ihrer Funktion in der Empirie neue und weitreichende Bedeutung zugeschrieben wurde. An ihnen erfuhr man Allgemeines über den Gegenstand hinaus. Dafür war die Aktivierung eines in der Narration vermeintlich marginalen Textmodus, der Beschreibung, die unbedingte Voraussetzung. » (Corbineau-Hoffmann 2018, 104–105).

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Les principaux sites décrits dans sa narration sont : L’Arc de Triomphe, L’Avenue des Champs-Élysées, La Place de la Concorde et l’obélisque, Les statues du Jardin des Tuileries, La statue de Jeanne d’Arc, place des Pyramides, Le Musée du Louvre.18 Le roman d’Alfred Franklin est situé au cinquième millénaire. Il consiste en sept lettres datées entre le 20 mai 4875 et le 6 avril 4876, écrites par différentes personnalités calédoniennes impliquées dans l’exploration de Paris à la recherche de leurs origines.19 La première lettre (Franklin 1875, 5–25), dirigée par le chef d’expédition, l’Amiral baron Quésitor,20 « À son excellence Monsieur le Ministre de la Marine et des Colonies, à Nouméa (Calédonie) », informe le gouvernement calédonien de l’arrivée de l’expédition dans les environs de Paris. La deuxième (Franklin 1875, 29–33), adressée « À Monsieur l’Amiral Baron Quésitor commandant les forces maritimes calédoniennes dans les mers françaises », lui apporte la réponse du ministre et annonce des renforts ainsi qu’un envoi de spécialistes.21 La troisième lettre (Franklin 1875, 35–53), signée par « L. Le Rouge, Membre de l’Institut, Académie des Inscriptions et Belles-Lettres », et la quatrième (Franklin 1875, 57–63), rédigée par « J. Lepère, membre de l’Institut, Académie des Beaux-Arts » informe « son excellence Monsieur le Ministre de l’Instruction Publique des Cultes et des Beaux-Arts » (Franklin 1875, 37) des premières trouvailles sur place. La cinquième consiste en un « Compte rendu analytique » de la discussion de ces rapports par l’« Institut impérial de Calédonie (Section des Beaux-Arts) » (Franklin 1875, 67). La sixième lettre (Franklin 1875, 77–88), écrite par « L. Valfleury, Membre de l’Institut-Académie des Inscriptions et Belles-Lettres » accompagne un envoi d’un exemple des fouilles, la statue de Jeanne d’Arc (v. infra), à Nouméa ;22 la septième 18 Mis à part l’axe auquel mon étude contrastive se limitera par la suite (v. supra), ces sites seront présentés brièvement dans le résumé suivant du roman. Dans sa troisième édition, Franklin rajoute, après le Musée du Louvre, la Bibliothèque Mazarine (v. infra, n. 22). 19 « Si, comme le veut la tradition, Nouméa doit son origine à une colonie parisienne, j’ai retrouvé le berceau de nos ancêtres. J’ai retrouvé la plus belle, la plus riche, la plus célèbre, la plus somptueuse ville du vieux monde, car c’est en vue des ruines de Paris que j’écris cette dépêche » (Franklin 1875, 4). 20 Les noms parlants des personnages sont au niveau de la satire extrêmement évidents, v. aussi le « Comte A Stataire », ministre (Franklin 1875, 29), et les noms des bateaux de l’amiral, « Quésitor », « Repertrix » et « Eruo » (Franklin 1875, 5). 21 « Il a été décidé qu’une commission scientifique serait attachée à l’expédition. Elle est composée de trois membres de l’académie des Beaux Arts, trois membres de l’académie des Inscriptions et Belles-Lettres et trois membres de l’académie des Sciences » (Franklin 1875, 32). 22 Dans sa troisième édition, Franklin intercale ici une autre lettre, non datée, adressée par l’Amiral Quésitor au Ministre de la Marine (Franklin s. d., 77–101) qui relate, toujours sous forme de satire, la traversée du Pont des Arts et la découverte de la Bibliothèque Mazarine, pris par les explorateurs pour le « Port des Lézards » qui conduirait, par conséquent, au « Muséum d’Histoire

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(Franklin 1875, 89–98), enfin, présente les adieux de l’Amiral Quésitor au ministre de la marine après la dissolution de son équipe. Ces sept lettres permettent de reconstituer les événements de la manière suivante : une expédition de Nouméa découvre les ruines de Paris, ville détruite lors d’une catastrophe naturelle. Le « cataclysme », qui a anéanti le vieux monde et n’a épargné que la Calédonie, a été si fort que Paris se trouve maintenant à peu de distance de la mer – « À trois ou quatre kilomètres de la côte » (Franklin 1875, 8).23 À côté de ses ruines, il y a un village de « naturels » qui accueillent l’expédition et lui font visiter les restes de Paris. Ces uniques survivants du cataclysme n’ont conservé, de la culture de leurs ancêtres parisiens, que la recherche du plaisir et l’instabilité de leurs gouvernements. La description de leur mode de vie est à la fois une satire de l’esprit colonial de la France et de la vie parisienne au XIXe siècle. Le lendemain de son arrivée, les « naturels » guident l’amiral dans les ruines de Paris.24 Les Calédoniens s’émerveillent de la découverte de l’ancienne métropole : Enfin nous gravîmes une petite colline, et arrivés au sommet, un même cri sortit de toutes nos poitrines ; devant nous se déroulait le plus imposant tableau qu’il puisse être jamais donné à l’homme de contempler. C’était bien Paris, nul de nous n’en douta, ces ruines grandioses étaient bien le tombeau de la reine du vieux monde. Sa tête orgueilleuse plane encore au-dessus de ces espaces désolés. Dans une vallée, dont nos yeux pouvaient à peine embrasser l’étendue, se dressaient pêle-mêle des dômes, des colonnes, des portiques, des flèches élancées, des combles immenses, des frontons, des statues, des chapiteaux, des entablements, des crêtes, des corniches ; et à notre gauche nous voyions se profiler, fier et hardi sur le ciel noir, le couronnement de l’arc triomphal élevé par un des derniers Poléons de la France à la gloire de ses armées. Aucune secousse n’a donc ébranlé la grande cité, et elle doit se retrouver telle aujourd’hui qu’elle était il y a deux mille ans, à l’heure où s’est précipitée la gigantesque avalanche de terre, de cendres et de sable sous laquelle elle est ensevelie (Franklin 1875, 20–21).

Naturelle », où des fragments de livres sont découverts, dont un « exemple » est donné en transcription partielle. 23 « Je l’avoue, nous ne pensions guère, à ce moment, être aussi près du but de nos recherches. Kortambert, en effet, dans les fragments géographiques si savamment restitués par M. Dartieu, dit d’une manière positive que Paris est situé à environ deux cents kilomètres de la mer. Mais, il faut bien le reconnaître, nos érudits et nos géologues sont loin, même dans leurs hypothèses les plus hardies, d’avoir exagéré l’incroyable violence du cataclysme qui a bouleversé tout le vieux monde, et auquel notre petite île a eu seule le privilège d’échapper » (Franklin 1875, 6–7). 24 Franklin introduit ici le motif de la ruine hantée : les Calédoniens sont fascinés par leur découverte, mais les naturels évitent les ruines parce qu’ils les croient hantées.

Paris en ruines. Deux regards à un siècle d’intervalle

317

L’amiral reçoit les renforts demandés, ainsi qu’une équipe scientifique, « la Commission scientifique des ruines de Paris » (Franklin 1875, p. 57). Cette équipe commence à explorer les ruines et à faire des rapports sur les fouilles. Elle propose d’abord une description de « l’agglomération géologique qui recouvre Paris » (Franklin 1875, 39), et, en ‚latin‘ (de cuisine), aussi bien de la flore (« laurier », « tabac » et « absinthe ») que de la faune (« Canis canichus », « Felis gouttierius », « Lepus civeticus »). L’équipe part d’une fausse datation qui fixe la fin de Paris « vers le milieu du dix-septième siècle, et au plus tard vers l’an 1700 », ce qui sera à l’origine de toute une série de mésinterprétations des fouilles.25 Celles-ci commencent à proximité de l’Arc de Triomphe,26 pour se poursuivre sur les Champs-Élysées27 et arriver à la place de la Concorde, qu’ils surnomment, à cause de l’Hôtel du Ministère de la Marine, la « Place de la Navigation ». Les fouilles se prolongent jusqu’au jardin des Tuileries, que les explorateurs interprètent – bien qu’ils n’y trouvent aucune trace de morts ensevelis – comme un vaste cimetière. Ils comprennent donc les statues comme des stèles de tombeaux. Ainsi, par exemple, le groupe de

25 Sur la datation : « Je me borne à énumérer ici les faits les plus saillants qui ressortent de nos observations […]. Les conclusions en sont formelles; elles infirment quelques-unes des données historiques admises jusqu’à présent, et donnent une solution définitive à la querelle chronologique qui divise depuis si longtemps les archéologues. M. de Beaupré démontre, en effet, avec évidence, que la grande révolution géologique par laquelle la France a été anéantie s’est produite vers le milieu du dix-septième siècle, et au plus tard vers l’an 1700 de l’ère chrétienne. On doit donc, sans hésitation, regarder comme falsifiés ou interpolés, dans les fragments conservés d’auteurs français, tous les passages qui semblent accorder à Paris une plus longue existence » (Franklin 1875, 42 –43). 26 Sur l’Arc de Triomphe : « Les ordres de l’empereur nous prescrivaient de déblayer, avant tout, l’arc triomphal élevé sur la rive droite de la Seine. Trois jours suffirent à ce travail, et le glorieux monument sortit intact du linceul qui l’enveloppait depuis trente siècles. Il nous fut alors donné d’admirer à loisir ce chef-d’œuvre de l’architecture antique […]. Toutes les faces du monument sont revêtues de sculptures d’une conservation parfaite. Sous la voûte, haute de vingt mètres, une multitude de noms gravés dans la pierre étaient destinés à conserver le souvenir des principales victoires remportées par les Français ; et sur trente boucliers placés autour de l’attique on lit les noms de leurs généraux les plus illustres » (Franklin 1875, 44–45). 27 Les Champs-Élysées : « Cet arc triomphal et l’immense avenue qui le précède composent l’entrée la plus grandiose que l’imagination ait jamais pu rêver pour une capitale ; la réalité l’emporte ici sur les récits fantastiques où sont célébrées les merveilles de Babylone et de Ninive. Large de cent vingt mètres, ornée de parterres fleuris, de bassins et de fontaines, ombragée d’arbres séculaires dont nous avons retrouvé les racines transformées en lignite, l’avenue s’étend à perte de vue, bordée dans toute sa longueur de constructions où le marbre et l’or ont été prodigués » (Franklin 1875, 47–48).

318

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L’homme et sa misère28 sert de prétexte à une triste histoire de la famille dont il orne le tombeau et à des réflexions quant à l’origine de serpents dans la région de Paris. Le comité envoie une ‚énigmatique‘ statue de Jeanne d’Arc29 en Calédonie. L’Institut délibère et arrive à la conclusion qu’il s’agit d’une Minerve fondue à Orléans sous le gouvernement de la reine République. Un dernier rapport scientifique concerne le Louvre, considéré comme un immense Mausolée des souverains de France, de nouveau avec de nombreuses statues ‚funéraires‘ comme les souverains en empereurs romains et les souveraines en Vénus.30 De la même manière, la « Mairie » est interprétée par un tour de force philologique comme un temple dédié à la Sainte Mairie (= Marie) du Louvre.31 Dans la dernière lettre, que l’amiral essaie de faire voyager par bouteille cachetée et jetée à la mer, il doit enfin apprendre au ministre que ses marins ont déserté pour retourner à leurs sources et adopter la façon de vivre tranquille des « naturels ». L’organisation du gouvernement et des institutions scientifiques calédoniennes reflète visiblement le système français. Il s’agit – d’une manière extrêmement évidente – d’une satire de la société française ainsi que de ses institutions scientifiques. Induits en erreur par des sources secondaires dépassées, les scientifiques se lancent dans des descriptions et interprétations fantasmagoriques.

28 V. Hugues, Jean-Baptiste. La Misère, 1923. https://www.paristoric.com/index.php/paris-dhier/statues/statues-des-tuileries/2410-la-statue-la-misere (31 mars 2020). 29 Ici, Franklin donne dans l’actualité de son temps : la célèbre statue de Frémiet vient d’être inaugurée en 1874. V. Frémiet, Emmanuel. Statue équestre de Jeanne d’Arc, 1874. https://fr.wikipe dia.org/wiki/Statue_%C3 %A9questre_de_Jeanne_d%27Arc_(Fr%C3 %A9miet) (31 mars 2020). 30 Cette description rappelle fortement le tableau d’Hubert Robert (v. supra, fig. 1). Franklin continue : « Nous avons retrouvé l’imposante nécropole où, depuis l’origine de la monarchie, étaient déposés les restes mortels des souverains français. C’est un immense palais, situé à l’extrémité du cimetière que décrit notre dernier rapport. Les étages supérieurs se sont écroulés ; mais le rez-de-chaussée a presque partout supporté ce poids sans faiblir, et ses vastes salles nous ont conservé d’incomparables trésors historiques » (Franklin 1875, 79). 31 Voir la description suivante : « nous poursuivions le cours de nos recherches, et nous nous trouvions en présence de deux églises construites sur le même plan et reliées entre elles par une tour octogone. Nous avons déblayé seulement les façades, qui sont fort élégantes, et nous avons appris ainsi que l’un de ces temples était consacré à Sainte Marie du Louvre » (Franklin 1875, 83).  



Paris en ruines. Deux regards à un siècle d’intervalle

319

b Réda Les ruines de Paris de Jacques Réda s’organisent d’une manière différente. La première partie réunit sept séries de poèmes en prose dont les cinq premières seulement concernent le centre de Paris, tandis que les deux dernières, « Aux environs » et « La bénédiction de Saint-Serbe », s’en éloignent, tout comme la seconde partie du recueil, comprenant « Basse ambulante » et « Arrêts, buffets, liaisons routières ». Les cinq parties dédiées au centre de Paris sont : Le pied furtif de l’hérétique, Sans bruit et presque sans paroles, Dans le doux épaississement du gris, On ne sait quoi d’introuvable, Une petite porte bleue. Évoqués, les sites du Paris ‚touristique‘ du centre n’y figurent guère : Nearly all urban districts charted by him will appear „exotic“ to a connoisseur of merely the center of Paris; no mention is made of the Latin Quarter, Saint-Germain-des-Pres, the Louvre area, the Ile Saint-Louis or the Ile de la Cité. In fact, some proverbially dull, unsightly or sleazy areas resemble, literally, „jungles“ in this liberated (and liberating) prose. (Taylor 1997, 3)

Bien que quelques-uns des sites évoqués par Taylor (1997) y apparaissent au moins indirectement (v. infra), la critique est unanime sur ce point: Jacques Réda is best known as a poet of place, remarkable precisely for his interest in the unremarkable and his compelling descriptions of nondescript places, the kind that most of us traverse unseeingly in our day-to-day lives. He has also led a notable second in search of his own distinctive voice and thematic territory. He found it in his somewhat eccentric approach to the evocation of place, which is most tellingly characterized by the apparent aimlessness of the flâneur, who works in what appears to be a random manner (à l’improviste), devoting himself to ephemera, and unapologetically refusing to monumentalize his subject matter (Prieto 2009, 89).

Pour cerner les ruines de Paris repérées par le flâneur de Réda,32 je me concentrerai ici, à une exception près, sur les ruines des vingt arrondissements de Paris, et laisserai de côté les « environs » ainsi que tout l’extra-Parisien de la seconde partie du recueil. Les nombreux lieux évoqués par Réda diffèrent, pour la plupart, de ceux d’Alfred Franklin. J’en présenterai d’abord un inventaire sous forme de deux tableaux

32 C’est le nom que je donne, dans la tradition de Baudelaire et conformément à la critique, au narrateur anonyme des Ruines de Paris qui parle à la première personne. V. à ce propos aussi Prieto (2009, 93) : « Rédas affinities with Baudelaire are clear, noteworthy, and well documented in the critical literature. […] historians of the everyday tend to trace de Baudelairean flâneur tradition through the Surrealists to the Situationists ».

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schématiques,33 suivi d’une typologie des ruines caractéristiques de Réda. On peut y distinguer des lieux spécifiés – par des noms de rues, de places, de bâtiments ou d’arrondissements parisiens – et des lieux non spécifiés – dont la description se limite à leur type d’urbanité. Le premier schéma révèle que l’univers du flâneur de Réda dans les ruines de Paris est un univers aquatique, traversé de ponts (5 mentions), d’où l’on peut regarder du « parapet de pierre sur l’eau glacée » (Réda 1977, 58) et de passerelles qui traversent des canaux avec des écluses ou la Seine ; un univers souterrain de tunnels (4) ; un réseau urbain de rues (4), avenues, boulevards, allées, chaussées et impasses. Le flâneur s’y promène sur des trottoirs (4), dans des squares ou des parcs. Son paysage urbain se compose essentiellement de murs, d’asphalte et de rails. Les hauts lieux de la culture, comme les théâtres, l’intéressent visiblement bien moins que les entrepôts ou les palissades, et son regard s’ouvre parfois sur le périphérique et la banlieue. Lieux non spécifiés Mentions Objet

Précision(s)34

5

Pont

Pont (16), Ponts (44), Pont de fer (15), Pont, trou noir du (36), Pont de Paris vers l’ouest, le dernier (50)

4

Rue

Rue (16), Rues (17), Rue vide, la (36), La rue où vécut celle qui réside ma sœur selon les Nombres (40)

Tunnel

Tunnel obscur, du (26), Tunnels, l’obscurité des (95), Tunnel sous le remblai, un (88), Tunnel très bas de section rectangulaire, annulant tout, un (28)

Mur

Mur, un (28, 89), Murs, trouée dans, les (17), Mur de briques, un haut pan de (93)

Trottoir

Trottoir (83, 89), Trottoir, le bout du (43), Trottoirs sourds de Paris (23)

33 Ce schéma ne prend en considération que les parties choisies pour mon corpus, c’est-à-dire les chapitres un à cinq de la première partie. Il ne s’agit pas de donner une statistique empirique, mais une idée des lieux préférés par le flâneur dans les ruines de Paris. Les endroits sont classés, dans les deux tableaux, par leur chiffre de mentions et, à l’intérieur des rubriques, par ordre alphabétique. Ces deux listes ne seront pas soumises ici à une étude complète, mais me permettent de choisir, pour mon étude contrastive, pleinement dans l’esprit de la fragmentation inhérente aux ruines, des fragments qui autorisent la confrontation et la comparaison. 34 Les numéros entre parenthèses indiqués dans les grilles se réfèrent aux numéros de page de Réda (1977).

Paris en ruines. Deux regards à un siècle d’intervalle

321

Lieux non spécifiés Mentions Objet

Précision(s)35

2

Avenue

Avenue, l’ (9), Avenue avec des petits trembles, une large (72)

Boulevard

Boulevards, les (17), Boulevard, de l’autre côté du (72)

Entrepôt

Entrepôt, l’ (15), Entrepôts, des (34)

Parc

Parc, le (11, 15)

Quai

Quai, le (26), Quai rétréci, le (28)

Théâtre

Théâtre, le (9), Théâtre, au dos de ce (63)

Allée

Allée en terrasse, une (11)

Asphalte

Asphalte, l’ (80)

Banlieue

Banlieues (17)

Canal

Canal (26)

Chaussée

Chaussée déserte, la (29)

Écluse

Écluse, l’ (26)

Impasse

Impasse qu’un arbre illumine, une (64)

Palissade

Palissade, une (13)

Parapet

Parapet de pierre sur l’eau glacée, pierres du (58)

Passerelle

Passerelle de fer (61)

Périphérique

Périphériques, les (72)

Rails

Rails étincelants (42)

Square

Square paisible et plat, mon (40)

1

Les lieux précisés confirment ce premier résultat : les références au réseau des rues (67),36 avenues, boulevards, passages, impasses, places, ronds-points et

35 Les numéros entre parenthèses indiqués dans les grilles se réfèrent aux numéros de page de Réda (1977). 36 V. à propos des noms des rues Taylor (1997, s. p.) : « The street names, all copied scrupulously from the originals, can be intriguingly meaningful […] or significantly banal ». Ainsi, dans On ne sait quoi d’introuvable, le flâneur note soigneusement l’itinéraire qu’il entreprend pour faire ses courses en dix stations, 1. Rue de la Banque (Réda 1977, 65–71), 2. Rue Saint-Honoré (Réda 1977, 66), 3. Quai Voltaire (Réda 1977, 66), 4. Rue du Bac (Réda 1977, 67), 5. Boulevard Raspail (Réda 1977, 67), 6. Rue de Grenelle (Réda 1977, 67), 7. Rue du Vieux-Colombier (Réda 1977, 68), 8. Rue de Rennes (Réda 1977, 69), 9. Rue Saint-Placide (Réda 1977, 70) et 10. Rue de Sèvres (Réda 1977, 71).

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parcs abondent, mais le côté aquatique persiste: Paris n’est pas seulement traversée par la Seine ou par des canaux que surplombent des ponts ou que l’on longe sur les quais. Certains quartiers préférés (11) et quelques sites (22) sont également nommés, tandis que, parmi les arrondissements, seuls le Quinzième37 et le Seizième y figurent. Et le flâneur dans les ruines de Paris porte visiblement de l’intérêt aux transports en commun (14) : aux stations de Métro, aux gares (Bir-Hakeim, Boulevard-Victor, Boulainvilliers, Saint-Lazare), aux lignes de la Ceinture et de la Petite-Ceinture et vers la banlieue, par exemple. Lieux spécifiés Mentions Objet

Précision(s)

3

Arrondissement

Quinzième, les profondeurs du (71), Seizième, en plein (95), Seizième (99)

4

Avenue

Émile-Zola, avenue (30), Maine, l’avenue du (42), Philippe-Auguste, à demi (98), Suffren, l’avenue de (59)

2

Boulevard

Raspail (55), Raspail, Boulevard (67)

1

Cafés

Bouchard, le Café (85)

2

Canal

Ourcq, canal de l’ (34), Saint-Denis, canal de (28)

1

Impasse

Singer, l’impasse du 29, rue (96)

1

Parc

Montsouris, le parc (61)

2

Passage

Boiton, passage (78), Vandrezanne, passage (81)

11

Place

Abbé-Georges-Hénocque, la place de l’ (63), Alpes, place des (85), Bastille (17), Concorde, place de la (10), Costa-Rica, place de (98), Étoile, l’ (32), Falguière, place (46), Gambetta, la place (91), Italie, la place d’ (78), Paul-Verlaine, place (81), République (17)

7

Pont

Alexandre, pont (58), Alma (55), Alma, l’ (32), Garigliano, pont du (72), National, le pont (85), Poterne des Peupliers, pont de la (61), Tolbiac, pont de (86)

2

Porte

Orléans, porte d’ (41), Vincennes, la porte de (91)

1

Quai

Quai Voltaire (66)

11

Quartier

Auteuil (96, 97), Belleville (91), Bercy, les bâtiments fermiers de (86), Butte, la [Montmartre] (81), Butte-aux-Cailles, la (20,

37 Selon le flâneur, c’est une immense ruine : « Avant la dévastation du Quinzième, on assistait à la rencontre imprévisible et plutôt ahurie, dans un tatras muet de bicoques, de Cervantès et de Platon » (Réda 1977, 36–37).

Paris en ruines. Deux regards à un siècle d’intervalle

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Lieux spécifiés Mentions Objet

Précision(s) 78, 81), Chaillot, butte de (52), Chaillot, crête de (98), Cité des Artistes (82), Issy-les-Moulineaux (39), Ménilmontant (91), Saint-Germain-des-Prés (70)

2

Rond-point

Rond-Point [Champs-Élysées] (27, 54), Rond-Point, drugstore du (66)

67

Rue

Alésia, rue d’ (83), Alleray, la rue d’ (47), Amsterdam, rue d’ (87, 88), Babylone, rue de (14), Bac, Rue du (66), Banque, Rue de la (65), Bauches, la rue des (97), Belleville, rue de (18), Berton, la rue (99), Bobillor, la rue (81), Caulaincourt (30), Château, rue du (43), Château-des-Rentiers, rue du (85), Cinq-Diamants, rue des (81), Cler, la rue (98), Convention, la rue de la (75), Couronnes, la rue des (64), Desnouettes, rue (39), Dieulafoy, la rue (63), Dijon, rue de (87), Envierges, la rue des (46), Estrées, rue d’ (30), Félix-Potin, à demi (98), Fontaineau-Roi, rue de la (64), Gazan, rue (47), Gergovie, rue de (47), Grenelle, la rue de (67), Jonas, rue (78), La Boétie, rue (79), Leblanc, la rue (71), Leblanc, rue (93), Lecourbe, la rue (40, 75), Léningrad, la rue de (87), Lévis, la rue de (98), Liège, la rue de (87), Londres, rue de (87), Marcel-Proust, la rue (99), Mesureur, rue (38), Moulin-des-Prés, rue du (78), Moulin-Joli, rue du (64), Ouest, rue de l’ (43), Passy, la rue de (97), Patay, rue (83), Pierre-Guérin, rue (97), Pierre-Levée, rue de la (64), Procession, rue de la (47), Pyrénées, la rue des (91), RaymondLosserand, la rue (97), Raynouard, la rue (99), Regnault, rue (85), Rennes, Rue de (69), Rennes aplatie avec de longues salves de brume contre la Tour, la rue de (41), Rome, rue de (88), Saint-Charles, rue (50), Saint-Dominque, la rue (97), Saint-Honoré, Rue (66), Samson, rue (79), Sainte-Placide, Rue (70), Sèvres, la rue de (71), Tolbiac, la rue de (63, 78), Tournelles, rue des (29), Vandrezanne, rue (78), Vaugirard, rue de (40, 44), Vercingétorix (47), Vienne, rue de (87), Vieux-Colombier, Rue du, Vilin (46), rue (en dessous de la rue des Envierges) (46)

2

Seine

Seine, la (96), Seine, au bord de la (57)

22

Site

Balzac, la maison de (99), Eiffel, la tour (58), Faculté de Droit, la (30), Iéna, l’ancien hôtel d’ (94), Institut, l’ (96) Invalides (14, 53), Luxembourg (30), au-dessus du Nativité, la (86), Notre-Dame (53), Panthéon, le long du (31), Panthéon (38, 53), Père-Lachaise, du (91), Rousseau, derrière la statue de (31), Sacré-Cœur (39), Saint-Paul (55), Saint-Sulpice (53), La Tour [Montparnasse] (41, 42), Tour Montparnasse, la (70), Les Tours (53), Tuileries (24), Versailles (96), Vincennes, zoo de (84)

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Lieux spécifiés Mentions Objet 14

Transports commun

Précision(s) en Bir-Hakeim, la station (98), Boulevard-Victor, gare (50), Boulainvilliers, l’ancienne gare de la rue de (95), Ceinture, de l’autre côté de la (85), Ceinture, la ligne de (83), Invalides-Versailles, la ligne (93), Masséna glacis, direction (85), Montparnasse, combinaisons de (42), Montparnasse, lignes de (47), Petite-Ceinture, le chemin de fer de (40), Petite-Ceinture dans son fossé, la (47), Petite-Ceinture, l’ancienne gare de (p. 61), Petite-Ceinture, les rails de la (81), Saint-Lazare (27, 87)

Le paysage urbain de ruines de Réda est constitué de trois éléments complémentaires : l’architecture, la végétation et la météorologie.38 Or, évidemment, la plupart des endroits spécifiés ne sont pas en ruines. Qu’entend-il alors par « ruines » ? Ce qui l’attire, ce sont les terrains vagues, surtout ceux dans un état intermédiaire entre une urbanisation en déchéance et une reconstruction : « Thus he has a tendency to aestheticize utilitarian sites (e.g. factories, construction sites, industrial zones) and to find value in disused and unproductive sites (like terrains vagues and the defunct Petite ceinture train line) » (Prieto 2009, 95). Ce sont les ruines fragiles que la nature récupérera bientôt qui le fascinent, « new ruins », comme Rose Macauley les appelle dans Pleasure of ruins (1953) : New ruins are for a time stark and bare […]. It will not be for long. Very soon trees will be thrusting through the empty window sockets, the rose-bay and fennel blossoming within the broken walls, the brambles tangling outside them. Very soon the ruin will be enjungled, engulfed, and the appropriate creatures will revel. Even ruins in city streets will, if they are let alone, come, soon or late, to the same fate (Macauley 1953, 453).

Dans le doux épaississement du gris, le flâneur va jusqu’à formuler le projet de créer une « Union pour la Préservation des Terrains Vagues » (Réda 1977, 45) et lui trouver des promoteurs :

38 Les descriptions de la végétation et du temps mériteraient une étude à part qui dépasserait ce cadre. Prieto (2009, 90) remarque que « this image of the kind of crepuscular illumination we might encounter on a grassy embankment once the sun has sunk below the horizon […] recurs in many variations throughout Réda’s place poetry, beginning with Les ruines de Paris » ; et « As Jean-Michel Maulpoix has noted, a book could be written on Réda’s sunsets » (Prieto 2009, 110). Il se réfère à Maulpoix (1986).

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Ce poème (si c’en est un) lui servirait de manifeste ou plutôt de préambule, puisque moi je n’entreprendrai rien, ne pouvant être à la fois dans les rues et dans les bureaux de cette ligue. […] chaque fois qu’un de leurs chantiers attaque un ancien terrain vague ou en ouvre un nouveau. C’est pourtant le seul aspect positif de leurs ravages : entre l’écrasement opéré par les bulldozers et l’érection de ces Résidences qui semblent sortir d’un vieil album à la gloire de Lyautey (si bien que des hectares entiers du Quinzième réalisent l’idéal de béton colonial de Fès ou de Rabat), un temps quelquefois assez long s’écoule, pendant lequel, à travers les barrières qui se déchaussent, on voit la végétation vigoureuse des ruines qui recroît (Réda 1977, 45).

Il conçoit même un discours d’inauguration qu’il prononce à mi-voix devant la place Falguière, dont ne subsiste à peu près plus rien. De part et d’autre de la rue d’Alleray s’enfoncent des terrains vagues, […] Puis un bout de la rue de Gergovie (tout ce quartier est gaulois) et la rue Vercingétorix avec d’autres étendues de décombres : expansifs comme des épagneuls, quelques arbres condamnés submergent une vingtaine de marches, la rampe de fer jusqu’à d’énormes pavés et, à droite au fond d’une impasse, des maisons sous un bouillonnement de minuscules fleurs blanches, tristes et intimidées comme les mariées des vieilles photos. Entretemps, le ciel rapide s’est recouvert (Réda 1977, 46–47).

Mais ce genre de ruines est de courte durée dans les métropoles, même s’il souhaiterait les protéger – « Une moitié au moins de ces espaces devrait être laissée à l’abandon » (Réda 1977, 46). C’est précisément pour cela qu’il aime les immeubles condamnés à la démolition, les chantiers, les rails morts et terrains vagues qui l’attirent encore et toujours, comme les hangars abandonnés derrière « le dernier pont de Paris vers l’ouest, aux piles minces comme des lames » (Réda 1977, 50): Je regrette le hangar où VIDAL ET CHAMPREDONDE amassent des carrosseries, derrière la gare Boulevard-Victor. J’aime les rails, la ferraille, la rouille quand, par-dessus, l’espace inaltérable saute et s’accroît. Puis j’oblique rue Saint-Charles dans un commencement de forêt vierge, sous l’épaisseur d’eau des platanes jamais taillés (Réda 1977, 50).

Le plus grand plaisir du flâneur est de pénétrer dans ces chantiers interdits, comme, rue Leblanc, où l’on peut observer « une grande partie des bâtiments des usines Citroën » (Réda 1977, 93) : Pourtant en moins de trois semaines tout change et, sinon le talus du chemin de fer, du moins en face, je le constate. Et de celui-là ne se maintient plus qu’un haut pan de mur de briques, à six fenêtres en plein cintre dont la grille rend plus proche le ciel : car du seul fait qu’elle cadre, s’interpose, interdit, on a l’impression que ce qu’elle montre pourrait être accessible – et c’est la paix de ce tendre gris, qui s’accorde si bien avec les touffes de pâle herbe citadine, plus loin avec les épis de rails luisants du quai de Javel. Il n’y a le long de cette voie qu’une barrière devenue symbolique, et personne pour m’apostropher (Réda 1977, 93).

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Les chantiers acquièrent, selon lui, une dimension mythique ; « tout du long de la rue Leblanc aux murs impitoyables, et dans la rampe qui monte au pont du Garigliano » (Réda 1977, 71–72), ils lui permettent de devenir le premier homme à Paris, un barbare : De l’autre côté du boulevard que je traverse, voici une large avenue avec des petits trembles, de gros pavés. Elle m’appelle si tendrement dans son virage en pente : j’y vais. […] Encore quelques mètres, je m’arrête, j’entre à travers des planches dans un chantier : énorme excavation avec une Mer Morte d’émeraude et de violette, et une monstrueuse montagne de gravats par-dessus. Au sommet je m’y enfonce jusqu’à la cuisse. Si tout croulait, quand et dans quel état me retrouverait-on parmi l’amas de plâtre et de poutres ? […] Peu à peu le silence, la charitable obscurité. Tel un barbare déçu je demeure accroupi sur mon tertre, adossé aux ruines de Paris (Réda 1977, 72–73).

Ce sont ces positions en hauteur, précaires, que le flâneur préfère, et c’est de loin, de la butte de Chaillot, qu’il entrevoit les monuments de Paris : […] tous les monuments qu’on découvre au sud de la ville depuis cette esplanade – Invalides, Saint-Sulpice, les Tours, Notre-Dame, Panthéon – paraissent recroquevillés, frappés d’une lâche incertitude, prêts à se confondre parmi les ruines grelottantes des maisons (Réda 1977, 53).

Et c’est « non pas dans de nouvelles impressions de promeneur mélancolique » (Réda 1977, 61) mais en explorateur de l’inattendu qu’il voue un véritable culte à la Petite-Ceinture : Je suis venu par une succession d’obscures coulisses, depuis le Parc Montsouris jusqu’au pont de la Poterne des Peupliers, […] mais, à cette occasion, pour revoir l’ancienne gare de la Petite-Ceinture, et plus loin la passerelle de fer, toutes les deux maintenant démolies, ce qui malgré des reliquats d’une activité ferroviaire (un espace, des rails, des foudres, des wagons), à la fois me désole et me relance vers l’inattendu (Réda 1977, 61–62).

L’explorateur des ruines peut aussi se transformer, comme dans Sans bruit et presque sans paroles, en pilleur de ruines, ici en compagnie d’un inconnu : Avançant comme deux glaneurs dans ces ruines aplaties de la rue de Belleville, nous ne cherchons rien, puis nous ramassons n’importe quoi, enfin des châssis de fenêtre peut-être bien inutilisables mais presque intacts. […] une poutre maîtresse en chêne qui a sa pareille encore dans les gravats. […] On voudrait tout sauver, mais ce ne serait que provisoire au fond de nos caves (Réda 1977, 18).

En principe, l’explorateur des ruines de Paris est un être solitaire, et des silhouettes anonymes ne font que très rarement partie du décor, comme ici dans Une petite porte bleue :

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Et là, tout de suite, rue du Moulin-des-Prés, comme on dit petit jour glisse un petit soir qui pourrait être d’émeute, car on se sent haut et retranché, familier d’un dédale (rue Samson, rue Jonas) où les silhouettes qui se défilent supposent une épaisse touffe de peuple encore ici concevable, opiniâtre dans sa façon furtive de se cramponner. Il ne manque peut-être que des armes. On en trouverait. De quoi tenir plusieurs jours sous l’effondrement amorcé des façades (rue Vandrezanne, passage Boiton) (Réda 1977, 78).

Le Paris en ruines de Réda est, paradoxalement, une métropole du XXe siècle, presque intacte. C’est le flâneur qui découvre, dans les processus d’urbanisation et de construction, des ruines éphémères, sur des terrains vagues, des lignes de train fermées et des usines désaffectées ; c’est là qu’il fouille pour en tirer son inspiration poétique. Le Paris de Franklin est un site archéologique que ses protagonistes explorent par des fouilles.

c Étude contrastive Tout semble donc séparer ces deux visions de Paris en ruines. Et pourtant, elles convergent vers un même lieu : l’axe Étoile – Concorde – Louvre.39 Cet axe central unit plusieurs parmi les symboles les plus puissants de Paris comme centre du pouvoir, centre culturel, centre de toute une civilisation par excellence. Il faut tout d’abord constater que les deux auteurs rapprochent l’existence ou la perception de leurs ruines à une catastrophe naturelle, un cataclysme. Nous avons déjà évoqué « l’incroyable violence du cataclysme qui a bouleversé tout le vieux monde » (Franklin 1875, 7), responsable de la mise en ruines de Paris par Franklin. Or – et c’est notre seule excursion ‚Aux environs‘, Porte Pouchet –, le Paris de Jacques Réda s’ensevelit dans un même silence d’après-cataclysme : Il règne ici la paix qui succède aux profonds cataclysmes, quand leur souvenir même est perdu, et que le ciel de nouveau préhistorique pâture avec une lenteur innocente l’ampleur en fin de compte extatique du dégât. L’être antérieur au temps contemple avec les yeux de ma tête, mes jambes le soulèvent et le transportent machinalement sur un remblai. J’y cherche en vain le soleil dans cette pulvérisation de la lumière, un peu plus dense au bout des rails aplatis vers le nord (Réda 1977, 121–122).

39 Paradoxalement, vu sa tendance ‚excentrique‘ à fuir le centre de Paris, Réda dédie à cet axe, avec Le pied furtif de l’hérétique (Réda 1977, 9–14), un passage-clé en situation exposée au début du recueil.

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Encore une fois, après le chantier mythique par-delà le pont Garigliano, Réda a recours à cette métaphore préhistorique, au regard d’un « être antérieur au temps » d’en haut sur les ruines de Paris. Mais les regards, d’en haut également, des explorateurs de Franklin dans leur préhistoire qu’ils essaient de dévoiler par des fouilles dans les ruines de Paris, sont évidemment moins transcendants. Franklin présente la découverte de l’obélisque de la Place de la Concorde comme une parodie des hypothèses archéologiques émises par les scientifiques de son époque à propos de cultes inconnus dont plus rien ne témoigne sauf des monuments en pierre. Nous arrivons de la place de l’Étoile aux Champs-Élysées – que les Calédoniens surnomment, à cause de la mésinterprétation des restes d’une plaque de rue, l’avenue des Chefs-Illustres :40 « L’avenue des Chefs-Illustres aboutit à une vaste place, autrefois décorée avec magnificence. Mais un seul de ses ornements subsiste intact : c’est une immense aiguille formée d’une seule pierre, haute de vingt-cinq mètres et entièrement couverte de caractères que nous n’avons pu déchiffrer » (Franklin 1875, 50–51). Ils prennent les inscriptions hiéroglyphiques de l’obélisque – bien qu’ils remarquent « une vague ressemblance avec l’écriture hiératique des Égyptiens primitifs » (Franklin 1875, 52), ils ignorent son origine égyptienne – pour des témoignages d’un culte d’initiés : « Nous y voyons la preuve que chez les Français, comme chez beaucoup d’autres peuples de l’antiquité, les prêtres avaient une langue spéciale, connue des initiés seuls et inintelligible pour le vulgaire » (Franklin 1875, 52). Réda, peu intéressé par l’Arc de Triomphe lui-même, se limite au mouvement insensé qui l’entoure, son flâneur observe une dame « effarée au Rond-Point par la violence de la cohue » (Réda 1977, 27) et constate qu’« aller du Rond-Point à Saint-Paul un premier septembre, jour de la rentrée, est une entreprise de suicide » (Réda 1977, 54) ; et, s’il s’y rend, c’est dans sa « quête de l’Absolu » pour y acheter ses cigarettes belges de la marque Leduc « au drug-store du Rond-Point » (Réda 1977, 66). Mais lui aussi tombe sous le charme de l’obélisque, et exprime un saisissement mystique comparable à celui des explorateurs de Franklin :

40 V. supra, et : « […] une intéressante trouvaille épigraphique vint lever tous nos doutes. En fouillant le sol, vers l’extrémité de l’avenue, un sapeur du génie découvrit une plaque indicative semblable à celles qui figurent à l’angle de nos rues. Elle portait ces mots  Avenue des xxxxxxes. La lumière était là, et elle ne tarda pas à luire à nos yeux. Une courte conférence nous suffit pour restituer les lettres effacées par le temps, et compléter l’inscription, qui doit évidemment être lue ainsi : Avenue des Chefs-illustres » (Franklin 1875, 49–50).

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Alors que me faut-il ? Ça, le saisissement bref quand on sort des Tuileries, et que dans cette seconde on ne se sait plus quelqu’un voyant cela qui n’a plus le nom de soleil happant le mystère qu’est l’obélisque, et l’on reste figé dans l’énormité rose par rien qui ressemble à de l’extase ou de la terreur (Réda 1977, 24–25).

Mais c’est surtout l’ambiance aquatique des lieux qui crée des correspondances dans la perception de la Place de la Concorde, dont une partie de construction et notamment le Ministère de la Marine édifié par Gabriel au XIXe siècle ( !), a réellement été conçu pour célébrer le génie naval de la France. En excellents navigateurs, les Calédoniens ont tendance à survaloriser tous ce qui est en rapport avec la navigation et à interpréter les restes du Ministère de la Marine en conséquence: Nous pensons qu’on doit y reconnaître soit un ex-voto, soit un monument religieux élevé à la mémoire des anciens nautes qui inaugurèrent le commerce par eau, resté toujours si actif sur la Seine. La situation de cette place au bord du fleuve, un fragment d’inscription ainsi conçu : ERE DE LA MARINE Et les débris de nombreuses colonnes rostrales, tout concourt, en effet, à démontrer que les intérêts et les services de la navigation fluviale se centralisaient en cet endroit. (Franklin 1875, 51–52).

Un siècle plus tard, le monument ne semble rien avoir perdu de cet aspect mythique, que le flâneur de Réda ressent encore dans Le pied furtif de l’hérétique : Tant bien que mal enfin j’atteins la place de la Concorde. L’espace devient tout à coup maritime. Même par vent presque nul, un souffle d’appareillage s’y fait sentir. Et, contre les colonnes, sous les balustrades où veillent des lions, montent en se balançant des vaisseaux à châteaux du Lorrain, dont tout le bois de coque et de mâts, et les cordes, et les toiles sifflent et craquent, déchirant l’étendard fumeux qui sans cesse se redéploye au-dessus de la ville. Je vais donc comme le long d’une plage, par des guérets. Et sans doute c’est l’indécision du soir qui m’ouvre cette étendue, toujours pourtant mêlée aux pierres et au fracas de Paris. Car en plein jour, surtout dans les mois mal apprivoisés (février, mars, novembre), quand l’air pâlit comme aux lisières des landes et des marais, les rues creusent dans une lueur d’estuaire de sable : à chaque pas va surgir ce miroitement de perle entre des dunes, et le cœur bat, et d’entières forêts qui transhument stationnent aux carrefours, puis s’éclipsent d’un bond comme la licorne. Sur tous les monuments une sauvagerie élémentaire mais tendre a subsisté (Réda 1977, 10).

Pour la traversée du jardin des Tuileries et les environs du Louvre, les perceptions s’éloignent de nouveau : là où l’équipe d’explorateurs de Franklin aperçoit un immense cimetière orné de stèles, le flâneur de Réda voit « sur tous les monuments une sauvagerie élémentaire mais tendre » qui « émeut jusqu’au marbre ignorant des heures et des saisons » (Réda 1977, 10). Mais l’émerveillement persiste :

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Un angle ébloui saute alors en étrave au milieu de ce flot de métamorphoses, hissant avec lui des palais dans la splendeur du premier jour. Des attelages de bronze vert s’envolent ; on sent, perdus entre deux houles antédiluviennes de fougères, les siècles en proie à leur fragilité, et l’espérance humaine écarquillée devant sa solitude. […] Désert et calciné, le parc rumine en contrebas d’une allée en terrasse (Réda 1977, 10–11).

Mais, juste en face de ce parc où « d’assez vastes aires n’ont connu depuis des mois que le pied furtif de l’hérétique » (Réda 1977, 10–11), la nuit venue, le flâneur revient – comme au drug-store du Rond-Point – à la réalité de la « librairie anglaise » qui « vient de s’éteindre sous les arcades ».41

4 Conclusion Le Paris en ruines des deux romans se caractérise par la fragmentation, mais les manières de fragmenter divergent. La fragmentation de Franklin consiste en un travail archéologique : décrire et interpréter ce qui peut encore être trouvé dans un Paris détruit il y a plusieurs millénaires par un cataclysme. La fragmentation de Réda, quant à elle, relève des restes d’une civilisation et décrit ce qui est en voie de perdition. Curieusement, dans ces deux textes aussi différents, on perçoit des correspondances dans leur poétique des ruines de Paris qui peuvent paraître surprenantes, comme les évocations des forces de la nature, du cataclysme et d’une préhistoire mythique. Ceci nous ramène à nos réflexions préliminaires à propos de la « fonction médiatrice » de la ruine qui, selon Roland Mortier (1974, 9), la prédestine à prendre une signification « historique, philosophique et morale […] qui la dépasse » ; et à propos de la transcendance du texte littéraire qui, selon Angelika Corbineau-Hoffmann (2018, 104–105), cherche à surpasser, dans sa description, la réalité métropolitaine en lui donnant « une nouvelle signification ».42 Ce qui unit les deux romans analysés ici est cet objectif commun de surpasser la réalité métropolitaine. Ainsi, ces deux textes transportent une mise en littérature d’une mémoire culturelle et collective parisienne. Or, d’une manière générale, la fonction élémentaire du médium ‚littérature‘ dans la constitution de la mémoire collective est, selon Astrid Erll (2005, 254), de « sauvegarder des contenus (resp. objets) de la mémoire collective et de les conserver à disposition à travers le

41 Réda 1977, 10–11. Cette description vise la libraire W.H. Smith, sous les arcades, 248, rue de Rivoli, 75001 Paris, v. https://whsmith.fr/ (date de la dernière consultation: 4 avril 2020). 42 v. la citation complète supra, n. 18.

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temps ».43 Ces contenus ou objets sont ancrés dans la mémoire par ce qu’elle appelle des « cues » qui déclenchent le rappel d’un contenu particulier (Erll 2005, 255). Ceux-ci diffèrent d’une culture à l’autre et cette différence, ancrée dans la mémoire culturelle, est relativement stable à travers le temps. L’axe Étoile – Concorde – Louvre et ses environs sont, et c’est ce qui explique ces convergences, des « cues » profondément ancrés dans la mémoire collective de Paris. Quelle est la portée et la puissance métaphoriques de la destruction de cet axe, voire d’une des plus grandes capitales d’Europe ? Cet axe est ancré dans notre mémoire culturelle et stabilise par là notre image de cette métropole menacée, comme conclut Angelica Corbineau-Hoffmann, une image de la ville dont la présence mentale à l’intérieur de ses lecteurs persiste même quand les métropoles ont changé depuis longtemps ou même, qui sait, n’existent peut-être même plus. L’imaginaire des récepteurs marque pour ainsi dire le dernier endroit (et la définitive abolition des limites) des métropoles dans la littérature. (Corbineau-Hoffmann 2018, 255)

Consciente que cette présentation des ruines parisiennes, à défaut d’être complète, n’est elle-même qu’une sorte de ‚ruine‘, j’espère avoir pu quand même offrir une « ouverture » dans le sens d’Angelika Corbineau-Hoffmann (2018) sur la description des ruines de Paris.

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43 « Inhalte (bzw. Gegenstände) des kollektiven Gedächtnisses zu speichern und durch die Zeit hindurch zur Verfügung zu halten » (Erll 2005, 254).

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Table des illustrations https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hubert_Robert__Imaginary_View_of_the_Grande_ Galerie_in_the_Louvre_in_Ruins_-_WGA19589.jpg (31 mars 2020). Robert, Hubert. Vue imaginaire de la Grande Galerie du Louvre en ruines, 1796.

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Die Leerstelle der Ruine – die Ruine als Leerstelle. Claude Simon und Alain RobbeGrillet Die Ruine definiert sich durch ein Spannungsverhältnis von Präsenz und Absenz, das seine Verkörperung in der Figur der Leerstelle findet. Denn ein Gebäude kann erst dadurch als Ruine identifiziert werden, dass seiner Fassade ein Teil fehlt und die so hervorgebrachte Lücke die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht. Die Fehlstelle der Ruine macht die Zerstörung offenkundig und lenkt den Blick auf die destruierte Vergangenheit. Als Schaufenster in die Geschichte wird die Leerstelle dabei zur Projektionsfläche für das Vergangene, das mythisch verklärt oder imaginär verändert werden kann. Zugleich richtet sich die Leerstelle der Ruine aber auch nach vorne. Denn in der Lücke, aus der sich die Ruine konstituiert, tritt auch ein kreatives Potential zutage. Das blanc als französischer Begriff für die Leerstelle verweist bereits auf die Farbe Weiß als Farbe des noch unbeschriebenen Blattes.1 Gleich der leeren weißen Seite vermag die Lücke in der Ruine Anlass zur Entstehung von etwas Neuem sein, kann sie nicht nur die Vergangenheit ins Imaginäre ziehen, sondern ein neues Imaginäres erzeugen. An die Seite der Destruktion tritt die (Re‑)Konstruktion, in der die Ruine sich an die Baustelle annähert. Auch die Baustelle bestimmt sich von einer Leerstelle her, die nun aber nicht mehr auf das Vergangene, sondern auf das Zukünftige schaut und den Blick zurück in einen Blick nach vorne wandelt. Eine besondere Präsenz gewinnt die Leerstelle der Ruine innerhalb der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts im Umfeld des Nouveau roman. Er bringt aus der Erfahrung der Ruinen einer durch den Zweiten Weltkrieg zerstörten Welt sowie der Ruinen eines ,alten‘ Romansystems eine neue Form des Schreibens hervor.2 Sie lässt sich als écriture ruinesque begreifen, weil sie auf einer Ruinenstruktur beruht, die histoire und discours gleichermaßen affiziert. Dass der auf dem Gestaltungsprinzip der Ruine und des Fragments fußende Nouveau roman zugleich eine Literatur der Leerstelle ist, geht auch aus Alain Robbe-Gril-

1 Zur Semantisierung der leeren Seite in Kunst und Literatur der Moderne vgl. die einführenden Bemerkungen von Schneider (2016, 15–26). 2 Die Bedeutung der Ruine als Ausgangspunkt des Nouveau roman wird z. B. im Untertitel der nachfolgenden Sammelbände sichtbar gemacht: Le “Nouveau Roman” en question 6. Vers une écriture des ruines (Faerber 2008) und Le "Nouveau Roman" en questions 7. Vers une ruine de l’écriture? (Faerber 2012).  

https://doi.org/10.1515/9783110757811-014

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lets Pour un nouveau roman als Vision einer neuen Literatur hervor: An die Stelle des „personnage“ (Robbe-Grillet 1963, 31) als mit ausführlicher Biographie und Identität ausgestattete Romanfigur setzt er namenlose, sich in ungewisser Identität bewegende Gestalten; die Handlungskohärenz wird dergestalt aufgebrochen, dass die Leserin und der Leser selbst als ,Konstrukteure‘ aktiv werden und allerhand Leerstellen zu füllen versuchen müssen – und dabei stets zu scheitern drohen. Ist das fragmentarisierte Erzählen im Nouveau roman ein Erzählen in und auf der Ruine, so macht es zugleich die Arbeit auf dem chantier de l’écriture sichtbar. Das Schreiben auf Ruinen ist ein Schreiben auf einer Baustelle des Textes, die als Werkstatt und Experimentierfeld immer neue Formen ,ruinösen‘ Erzählens auslotet. Exemplarisch zur Anschauung gelangen kann das Modell der Ruine als Leerstelle im Nouveau roman anhand der Werke Claude Simons und Alain Robbe-Grillets. Das literarische Schaffen beider Autoren nimmt mit einer Faszination für Ruinen und die ihnen inhärenten ästhetischen Möglichkeiten seinen Anfang – und wird bis ins Spätwerk auf dem Fundament dieser Faszination ruhen: Im Endhorizont des Nouveau roman und des eigenen Werks nämlich entfalten Simon und Robbe-Grillet am Übergang zum neuen Jahrtausend noch einmal das Potential der Ruine als Leerstelle, indem sie es jeweils in den Mittelpunkt eines Romans rücken: Claude Simons Le Jardin des plantes (1997) und Alain Robbe-Grillets La Reprise (2001). Darüber hinaus ist beiden Werken die in Ruinen liegende Stadt Berlin der Nachkriegszeit als Schauplatz gemeinsam. Während nahezu die gesamte Handlung von La Reprise in Berlin spielt, ist die Stadt in Le Jardin des plantes ein Ort von vielen und Gegenstand zweier Textfragmente. Indem beide Autoren die Kulisse der gleichen von Ruinen durchzogenen Stadt wählen, um eine écriture ruinesque zu vollziehen, schreiben sie sich auch in einen übergreifenden französischen Diskurs der Stadt Berlin ein. Die Ruine und ihre Leerstelle sind darin von zentraler Bedeutung.

1 Französische Blicke auf Berliner Ruinen In Madame de Staëls De l’Allemagne (1813), das eines der frühesten Berlinportraits der französischen Literatur enthält, werden die Ruinen ex negativo evoziert. Denn die verhältnismäßig junge preußische Kapitale Berlin ist noch frei von Ruinen und gerade in dieser Absenz identifiziert Madame de Staël einen Mangel, nämlich die fehlende historische Tiefe der Stadt. Eine neue, als Projekt gegründete Stadt hält Madame de Staël für ein nordamerikanisches Zukunftsmodell, das zu Europa nicht passt:

Die Leerstelle der Ruine – die Ruine als Leerstelle

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[Ce] pays nouvellement formé n’est gêné par l’ancien en aucun genre. Que peut-il y avoir de mieux, dira-t-on, soit pour les édifices, soit pour les institutions, que de n’être pas embarrassé par des ruines ? Je sens que j’aimerais en Amérique les nouvelles villes et les nouvelles lois [...] ; mais sur notre vieille terre il faut du passé. (de Staël 1968, 133)

Der Ruine wohnt das „passé“ als identitätstiftendes Merkmal inne. Madame de Staël evoziert hier einen romantischen Diskurs der Ruine als Erinnerung an eine dichte und ins Mythische enthobene Vergangenheit, die in Berlin fehlt. Erst der Zweite Weltkrieg hinterlässt Spuren der Zerstörung im Raum der Stadt und macht die Ruine zu einer wichtigen Denkfigur des französischen Berlindiskurses. Sie wird bis in die Gegenwart der wiedervereinigten Stadt hinein zum Ausgangspunkt für eine aus der Leerstelle resultierenden Erinnerungsarbeit. Eine paradigmatische Sichtbarkeit erhält diese Erinnerungsarbeit am Beispiel der Ruine des Anhalter Bahnhofs als Ort der Ambivalenz von Absenz und Präsenz. Von einem der bis zum Zweiten Weltkrieg bedeutendsten Fernbahnhöfe der Stadt ist heute nur noch der Portikus mit den beiden Statuen von Tag und Nacht erhalten (vgl. Abb. 1). Bereits in den 1970er Jahren wird die Bahnhofsruine bei Jean-Michel Palmier zum essentiellen Bestandteil für die Arbeit an einem kulturellen und literarischen Gedächtnis Berlins. Im Berliner requiem (1976) stößt Palmier, der sich die geteilte Stadt auf der Suche nach den Spuren der Weimarer Republik und ihrer Künstler erschließt, auf die Ruine des Bahnhofsportals: „Aujourd’hui, il ne reste [...] que les trois arches de la façade, entourées de barbelés, au milieu d’un terrain vague [...] je ne peux m’empêcher de m’arrêter quelques instants pour regarder la vieille façade que les Berlinois ont tenu à conserver comme souvenir de ce que fut leur ville.“ (Palmier 1976, 104). Der Überrest der Bahnhofsfassade wird zum Schaufenster in eine Vergangenheit der Stadt, die Palmier in der Gegenwart der Teilung wiederzugewinnen versucht.

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Abb. 1: Portikus des Anhalter Bahnhofs mit den beiden Figuren von Tag und Nacht.3

Ihre Anziehungskraft behält die Bahnhofsruine nach dem Fall der Mauer bei, nun im Kontext einer Erinnerungsarbeit, die von der wiedervereinigten Stadt zurückblickt auf die Weimarer Republik, den Zweiten Weltkrieg und die Shoah sowie die Erfahrung der Teilung. Michèle Métail, die als früheres Oulipo-Mitglied Berlin unter der Befolgung von contraintes durchwandert und dabei der Vergangenheit oft gleichsam per Zufall begegnet, sieht sich auf einem ihrer Spaziergänge plötzlich der Bahnhofsruine gegenüber: voûtes et rosaces un portique, ruine laissée vide hors d’un pigeon, fiente lignes blanchies de la destination dévoyée des voies

3 Quelle der Abbildung: Wikimedia Commons, Jörg Zägel/CC BY-SA, https://upload.wikimedia. org/wikipedia/commons/d/d9/Berlin%2C_Kreuzberg%2C_Askanischer_Platz_6-7 %2C_Portik us_des_Anhalter_Bahnhofs%2C_01.jpg (19. Juni 2020).  

Die Leerstelle der Ruine – die Ruine als Leerstelle

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égarée autrement la gare terrassée son terminus vain 13 aôut 2000 : Porticus Anhalter Bahnhof Portique de l’ancienne gare d’Anhalt (Métail 2002, 43)4

Die ersten Worte des kurzen Gedichts aus Toponyme : Berlin (2002) entwerfen das Bild der Gewölbe und Fensterrosetten des Portikus, ohne auf die Zerstörung des Gebäudes einzugehen. Es ersteht vor dem geistigen Auge zunächst als intaktes Bauwerk, bevor der Begriff „ruine / laissée vide“ die Zerstörung sinnfällig werden lässt. Ruine und Leerstelle werden hier zusammengedacht und die Idee der Leere rahmt die Beschreibung des Bahnhofs als „terminus vain“ ein. Métails kurzer Text, dessen Faktur aus 10 Versen à 15 Buchstaben das Format 10 x 15 der begleitenden Fotografien aufgreift, steht exemplarisch für die in den Berliner Ruinen sichtbar werdenden Lücken als Ausgangspunkte einer Erinnerungsarbeit: Von der Leerstelle her wird eine Vergangenheit der Stadt evoziert. Eine solche Erinnerungsarbeit findet auch und besonders bei Cécile Wajsbrot statt. Bereits in ihrem ersten Berlinroman, Caspar Friedrich Strasse (2002), ist die Ruine des Anhalter Bahnhofs Gegenstand einer Überblendung des Raums der Stadt mit dem Raum der Kunst: In der Betrachtung von Caspar David Friedrichs Gemälde Abtei im Eichwald verwandelt sich die Klosterruine vor den Augen des Erzählers in den Mauerrest des Bahnhofs (Wajsbrot 2002, 86–87), der an die Stelle der Leinwand des Gemäldes das Weichbild der Stadt treten lässt. In Wajsbrots Roman L’Île aux musées, in dem die Erzählstimme auf ein Kollektiv von Statuen in Berlin und Paris übergeht, die ihre Rolle als Zeugen der Geschichte und Hüter der Erinnerung reflektieren, taucht der Anhalter Bahnhof erneut auf. Wie Palmier und Métail beschreibt Wajsbrot die Leere, den Mangel an Spuren des einstigen Bahnhofs, der die Ruine im Berlin des 21. Jahrhunderts kennzeichnet. Analog zum Statuenkollektiv blicken die Figuren von Tag und Nacht als Wächter der Erinnerung auf die Stadt: „[Aujourd’hui] où il ne reste rien, ni rails ni trains ni voyage, aujourd’hui où un pan de mur se dresse, solitaire, au milieu d’un terrain vague, ce sont le jour et la nuit qui montent la garde.“ (Wajsbrot 2008, 29)5 Beinhaltet der französische Berlindiskurs eine Auseinandersetzung mit der Ruine als Leerstelle, die für die Erinnerungsarbeit nutzbar gemacht wird, so erfährt dabei die Ruine eine Ergänzung durch die Baustelle. Der Titel von Régine Robins Berlin chantiers 4 Vgl. zu Métail in Berlin und ihrer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auch die nachfolgenden Veröffentlichungen: Steurer (2016a); Steurer (2018) und Steurer (2019). 5 Auch François Bon (o. J.) beschäftigt sich in seinem online erschienenen Text Berlin, l’île sans mur mit der Ruine des Anhalter Bahnhofs.

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(2001) verweist auf die Omnipräsenz von Baustellen in der wiedervereinigten Stadt. Die Freiflächen der Berliner Baustellen denken die Stadt nach vorne und können gerade dadurch der Arbeit an der Vergangenheit neue Impulse geben. Mit Claude Simons und Alain Robbe-Grillets Texten über Berlin erhält der französische Berlindiskurs als Ruinendiskurs noch einmal eine neue Dimension. Vor dem Hintergrund des Nouveau roman eröffnen die Texte einen Zugriff auf die Ruine als Leerstelle, der über die Frage nach Erinnerung und Gedächtnis hinaus vor allem dem kreativen Potential der auf den Schaffensprozess offenen leeren Seite zur Sichtbarkeit verhilft und die Ruine zur metapoetischen Figur macht.

2 Nous sommes tous constitués de ruines: Ruine und Leerstelle bei Claude Simon Claude Simons Werk entsteht unter dem Eindruck des Zweiten Weltkrieges als einer Auflösung der Welt. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrung des Zerfalls konstituiert sich Simons Schaffen von Beginn an aus der Spannung von Destruktion und (Re‑)Konstruktion. Bereits der Untertitel von Le Vent (1957), dem ersten Roman, den Simon im mit dem Nouveau roman in besonderem Maße verbundenen Pariser Verlagshaus Éditions de Minuit veröffentlicht,6 nimmt dieses Spannungsverhältnis auf: Tentative de restitution d’un retable baroque. Dass die Leerstelle, die in der restitution zu füllen versucht werden soll, nicht allein auf das barocke Altarbild des Titels bezogen ist, sondern vor allem auf den Diskurs des Romans als écriture ruinesque, wird im Incipit deutlich: Et tandis que le notaire me parlait, se relançait encore – peut-être pour la dixième fois – sur cette histoire (ou du moins ce qu’il en savait, lui ou du moins ce qu’il en imaginait, n’ayant eu des événements qui s’étaient déroulés depuis sept mois, comme chacun, comme leurs propres héros, leurs propres acteurs, que cette connaissance fragmentaire, incomplète, faite d’une addition de brèves images, elles-mêmes incomplètement appréhendées par la vision, de paroles, elles-mêmes mal saisies, de sensations, elles-mêmes mal définies, et tout cela vague, plein de trous, de vide [...] et maintenant, maintenant que tout est fini, tenter de rapporter, de reconstituer ce qui s’est passé, c’est un peu comme si on essayait de recoller les débris dispersés, incomplets, d’un miroir, s’efforçant maladroitement de les réajuster, n’obtenant qu’un résultat incohérent, dérisoire, idiot [...]) tandis que le notaire parlait, donc, je ne pouvais m’empêcher d’imaginer l’autre [...]. (Simon 2006a, 3–4)

6 Vgl. zur Veröffentlichungsgeschichte von Le Vent die Anmerkungen im Kommentar des ersten Bandes von Simon in der Bibliothèque de la Pléiade erschienenen Werkausgabe Duncan (2006, 1249–1266). Hier 1250.

Die Leerstelle der Ruine – die Ruine als Leerstelle

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„[Du] moins ce qu’il en savait“ – das Wissen des Notars scheint ebenso zweifelhaft und lückenhaft wie dasjenige der anderen Figuren und des Erzählers. Gleich mehrfach wird die Unvollständigkeit des Wissens in einem Wortfeld des Fragmentarischen – „fragmentaire“, „incomplète“, „incomplètement“, „plein de trous“, „de vide“, „résultat incohérent“ – evoziert. Die „débris dispersés“ der histoire, wie sie die Figuren zu rekonstituieren versuchen, sind in den discours gespiegelt. Er beruht auf einer Ästhetik der Ruine und der Leerstellen, die Simon ausgehend von Le Vent weiterentwickelt, so u. a. in der Beschreibung einer Baustelle in Leçon de choses (1975)7 und nicht zuletzt in La Route des Flandres (1960) als besonderer Auseinandersetzung Simons mit dem Zweiten Weltkrieg als Auflösung der Welt: „comme si non pas une armée mais le monde lui-même tout entier [...] était en train de se dépiauter se désagréger s’en aller en morceaux“ (Simon 2006b, 202). Den Ruinencharakter der menschlichen Existenz reflektiert Simon auch im wenig bekannten Album d’un amateur (1988), das ihn nicht allein als Schriftsteller, sondern – in der Zusammenstellung von ihm angefertigter Aufnahmen – vor allem als Fotografen zeigt. In einer handschriftlich abgedruckten und damit die fotografische Dimension fortführenden Textpassage begreift er die Ruine dort als Fundament des Albums und der Erfahrung der Welt:  

Nous sommes tous constitués de ruines [...]. C’est aussi en partie autour de photos de ruines que s’est constitué cet album. Je ne crois pas que l’on doive voir là l’effet chez moi d’une quelconque morbidité. Après tout, les ruines sont la manifestation de la vie dans ce qu’elle a de plus robuste, et tout passé est une addition de ruines auxquelles le temps, les mutilations confèrent une majesté durable que l’édifice ainsi ennobli n’avait pas à l’état neuf. (Simon 1998, 18)8

7 Das Incipit von Leçon de choses faltet ein ganzes Wortfeld der Zerstörung und des Bruchstückhaften auf, das die Baustelle wie eine Ruine erscheinen lässt: „débris [...] éparpillés sur le carrelage“, „carrelage hexagonal brisé“, „fragments d’objets“, „morceaux de bois“ (Simon 2013a, 557). Auf die an dieser Stelle sichtbar werdende Faszination Simons für das Unfertige der Baustelle verweist auch Janssens (1998, 26–27). Vgl. dazu auch Hyppolite (2017, 115–133). Im gleichen Band beschäftigt sich auch Benoît Peaucelle (2017, 75–88) mit der Ruine bei Claude Simon: Peaucelle (2017, o. S.) untersucht die Baustelle als „mise en ruine de l’architecture“ und verweist dabei ebenfalls auf den Anfang von Leçon de choses und die Tatsache, dass erst bei genauer Lektüre überhaupt erkennbar wird, dass es dort nicht um eine Ruine, sondern um eine Baustelle geht. Vgl. ähnlich Roger-Michel Allemand (2013, 231–246) in seinem Aufsatz über die vestiges bei Claude Simon. 8 Vgl. zum Album d’un amateur im Kontext von Simons fotografischem Selbstverständnis Albers (2002), besonders Albers (2002, 121–134). In Simons Vorstellung „Nous sommes tous constitués de ruines“ nimmt im Übrigen die Ruinenmetaphorik eine ,anthropologische Wendung‘, die, wenn

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In der Vorstellung der Vergangenheit als „addition de ruines“, die aus der Fragmentarisierung eine „majesté durable“ gewinnen, ruft Simon das idealisierte Modell einer antiken Ruine auf und begreift die Ruine zugleich als Figur der Überlagerung von Vergangenheitsschichten. Peter Janssens weist darauf hin, dass die Ruine an dieser Stelle nicht nur für die Zerstörung, die Reduktion, sondern vielmehr für ein Mehr, einen Zuwachs an Bedeutung steht: „L’ontologie simonienne est une ontologie de la ruine dès lors qu’on admet avec Simon que ruiner n’est est [sic] pas enlever, mutiler ou défigurer : c’est d’abord ajouter, renforcer“ (Janssens 1998, 33). Simon selbst verweist auf den Mehrwert der Ruine, deren „majesté durable“ das intakte Gebäude noch nicht kennzeichnet, weil sie erst durch die Zerstörung entsteht. Aus der défiguration erwächst in Simons Werken insofern ein ajout, als die Leerstelle der Ruine zum einen eine Vielzahl von Zeitschichten präsent hält und zum anderen als page blanche das Potential zur Schaffung von Neuem verkörpert. Der Bedeutungszuwachs aus einer Leerstelle heraus betrifft nicht nur Simons Texte, sondern auch die in Album d’un amateur enthaltenen Fotografien. Irene Albers (2002) arbeitet in ihrer Studie zur Fotografie bei Claude Simon heraus, inwiefern das fotografische Interesse des Autors stets auch dem gilt, was im Bild unsichtbar bleibt.9 Er lenkt den Blick des Betrachters auf den Bereich, der sich in der Leerstelle des außerhalb des Bildrahmens liegenden Wirklichkeitsausschnittes befindet (Albers 2002, 124). Für die Auseinandersetzung mit Le Jardin des Plantes und den Fragmenten zu Berlin scheint das insofern umso interessanter, als das Album d’un amateur, so Irene Albers weiter, einen wichtigen Prätext für Le Jardin des Plantes bildet. Insbesondere die Anordnung der Fotografien weist voraus auf das Fragmentarisierungsprinzip, das der Romanstruktur zugrunde liegt (Albers 2002, 126). Die Collagetechnik, derer sich Simon in beiden Werken bedient, erzeugt zwischen den auf den ersten Blick scheinbar unverbunden nebeneinanderstehenden Fragmenten Leerstellen, die erst in der Betrachtung bzw. Lektüre gefüllt werden. Die Ruine als Bauprinzip fundiert sowohl die Struktur des Album d’un amateur als auch diejenige des Jardin des Plantes. Vor allem im Roman ist diese Struktur ein Verweis zurück auf die Ruinen des 20. Jahrhunderts, in denen sich Simons Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und der Blick auf die kollektive Geschichte vermischen. Als „Protokoll der Erinnerung“ und „Gedächtnisportrait entlang der Geschichte unseres Jahrhunderts“

auch vor einem christlichen Horizont, ebenso bei Chateaubriand sichtbar wird. Vgl. zu Chateaubriands Ruinendiskurs den Beitrag von Paul Strohmaier in diesem Band. 9 Das Verhältnis von Präsenz und Absenz in der Fotografie ist auch in Roland Barthes La Chambre claire von zentraler Bedeutung; u. a. begreift er das punctum als „une sorte de hors-champ subtil, comme si l’image lançait le désir au-delà de ce qu’elle donne à voir“ (Barthes 1980, 93).  

Die Leerstelle der Ruine – die Ruine als Leerstelle

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(Oster 2002, 291–292) lassen die Textfragmente beinahe das komplette 20. Jahrhundert wiederaufleben. Die beiden Fragmente zu Berlin sind Varianten ein und derselben Szene: Inmitten einer urbanen Ruinenlandschaft taucht eine Frau aus dem Aufgang einer U-Bahn-Station auf, geht durch das Bild und verschwindet. Eingefangen wird ein Augenblick in der Stadt, wie ihn ebenso eine Fotografie festhalten könnte – auch an dieser Stelle zeigt sich die Nähe zum Album d’un amateur, dessen Fotografien ebenfalls „die ‚Spur‘ eines Augenblicks“ (Albers 2002, 134) zu konservieren versuchen. In der ersten Version wird das Bild der vorübergehenden Frau in aller Kürze entworfen: Berlin Est 197.. (vérifier) station de métro Stadt-Mitte au milieu des ruines d’où émergeait un voyageur environ toutes les sept ou huit minutes le silence Elle en sortit robe rose s’éloigna marchant solitaire au pied des façades longue muraille brûlée brun-noir aux fenêtres béantes sur le ciel soleil orange qui déclinait rougissant vermillon velouté peu à peu s’enfonçant la tache rose de sa robe dansante toute petite maintenant là-bas désert disparue. (Simon 2006c, 911–912)

Der Hinweis auf Ostberlin und die 1970er Jahre erzeugt zunächst die Erwartung, mit einem Bild der Mauer konfrontiert zu werden. Allerdings wird diese Erwartung nicht eingelöst; stattdessen wird der Leser mit den Ruinen, dem verbrannten Mauerwerk und den leeren Fenstern zurückgeworfen auf den Zweiten Weltkrieg. Auch die in Auflösung begriffene Syntax spiegelt die Ruine als Zeichen des Zerfalls:10 Die Elemente des Textfragmentes sind unverbunden und ohne Satzzeichen aneinandergereiht. Zwischen den Ruinen öffnet sich eine Leerstelle in der Stadtoberfläche, nämlich der U-Bahn-Ausgang, aus dem die vorübergehende Frau ans Tageslicht tritt – sie scheint gleichsam aus der Vergangenheit heraus in die Gegenwart hinüberzugehen. Dass sie aus der Eintönigkeit der Ruinenlandschaft als Einzelfigur herausfällt – sie wird ja als „solitaire“ beschrieben –, manifestiert sich auch im Gegensatz von Ruhe und Bewegung: Die Frau fügt sich nicht dauerhaft in ihre Umgebung ein, sondern passiert diese lediglich, gleich der Frauenfigur aus Baudelaires À une passante. Obwohl sie nur kurz aus der Leerstelle auftaucht und wenig später wieder darin verschwindet, verändert sie, und zwar gerade aufgrund ihres Status als Passantin, die Wahrnehmung der Stadt. Dem tristen und leblosen „brun-noir“ der Ruine steht mit der Passantin ein Farbspektrum des Lichtes und der Energie gegenüber: „robe rose“, „ciel soleil orange“, „rougissant vermillon“, „tache rose“ – auch hier gelangt die Nähe zur Fotografie

10 Zur Idee der Syntax Claude Simons als Ort einer von der Ruine ausgehenden Dekomposition vgl. auch Rioux-Watine (2008, 51–67). Hier 62.

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zur Anschauung. In den mit ihr in Verbindung stehenden Farben avanciert die Frau zu einem Symbol der Lebendigkeit. Als Figur der Inspiration trägt sie ein neues schöpferisches Potential in sich und fasst darin das Verhältnis zwischen traditionellem Erzählen und Nouveau roman in ein Bild: Aus der Leerstelle kommend erweckt die Frau die Ruinen zum Leben, so wie Claude Simon die Leerstelle nutzt, die ihm die Ruinen der Nachkriegszeit und die Abkehr von klassischen Narrationsformen hinterlassen haben, um aus ihr eine neue Literatur zu schaffen. Die Frau wird so zur Allegorie eines Prozesses der Kreation aus der Destruktion: „Avec Simon, la ruine, les fragments brisés, c’est le lieu même de l’art, son ferment. C’est le lieu où un nouveau monde peut surgir, proche du réel, mais strictement issu des mots, de l’art, des correspondances entre les arts, entre les livres“ (Yapaudjian-Labat 2010, 432).11 Die zweite Version des Berlinfragments in Le Jardin des plantes ist eine Ausgestaltung der ersten (Yapaudjian-Labat 2010, 431). In dieser zweiten Version umfasst der Text etwa eine Seite und ist nicht nur länger geworden, sondern ersetzt die fragmentarische Syntax durch ein Schreiben in ganzen Sätzen. Orientiert er sich darin stärker an klassischen narrativen Mustern, so nimmt er zugleich auf Bühne und Theater, zugleich aber auch auf den Film Bezug. Der Text beginnt mit dem einen theatralen wie filmischen Kontext eröffnenden Begriff der Szene: „La scène suivante [...] : une jeune fille (ou une très jeune femme) vêtue de rose sort de la station de métro Stadtmitte (Centre-Ville) à Berlin. Celle-ci s’ouvre au milieu d’une vaste étendue de ruines où, par endroits, de rares immeubles se tiennent encore debout [...].“ (Simon 2006c, 1019)12 Die Ruinenlandschaft Berlins mit ihren „murailles calcinées et [...] amoncellements de pierres ou de briques“ (Simon 2006c, 1019) fungiert als Kulisse für eine Inszenierung der Stadt – und lässt sich in der Berliner Topographie deutlich konkreter verorten, als das in der ersten Version der Fall ist. Die U-Bahn-Station befindet sich in der Nähe des Gendarmenmarktes, zu dem der Blick schwenkt. Er vollzieht eine Bewegung von der Vergangenheit in die Gegenwart, indem er zuerst das Aussehen des Platzes vor dem Krieg evoziert und ihm dann die zerstörten Gebäude in den 1970er Jahren gegenüberstellt: „De chaque côté se dressaient alors symétriquement deux églises exactement identiques construites dans le style baroque du XVIIe, ornées de frontons, d’entablements, de colonnes et qui, touchées par les bombes et incendiées, sont maintenant d’un rouge noirci, couleur de briques cuites.“ (Simon 2006c, 1019)

11 Auch Yapaudjian-Labat (2010) setzt sich mit dem Spätwerk Simons und Robbe-Grillets vor dem Hintergrund der Ruine auseinander. 12 Les Géorgiques beginnt ganz ähnlich mit dem Blick auf eine „scène [...] suivante“ (Simon 2013b, 649). Die Leerstelle findet dort eine Übersetzung in das „plus rien“ der „plaine nue, blanche ou plutôt blanc“, die sich ins Unendliche zu erstrecken scheint (vgl. Simon 2013b, 700).

Die Leerstelle der Ruine – die Ruine als Leerstelle

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Das Tempus des imparfait („dressaient“) ordnet die barocke Ausgestaltung der beiden Kirchen einem vergangenen Bild der Stadt zu. Es unterscheidet sich vom „maintenant“, dem Hier und Jetzt des Erzählers in der von Ruinen übersäten Stadt. Zum einen also lädt die Ruine hier dazu ein, den Blick zurückzulenken und das Berlin der Vorkriegszeit in den leeren Raum der zerstörten Mauern zu projizieren. Simon macht die Ruinen zum anderen aber auch nutzbar, um den realen Stadtraum in einen Kunstraum zu verwandeln, in dem mehrere künstlerische Disziplinen in eins fallen. In der Disposition der Ruinen am Gendarmenmarkt und der sie überziehenden Pflanzen erkennt die Erzählinstanz eine Parallele zu einem Gemälde im Stile der Romantik oder dem Werk Nicolas Poussins.13 Indem die Ruinen des Zweiten Weltkrieges an das Modell der antiken Ruinen angenähert werden, treten die Zeitebenen des Ruinösen zutage: „Une exubérante végétation d’arbrisseaux, de buissons et d’herbes folles qui ont pris racine dans des entablements les font ressembler à ces ruines antiques que se plaisaient à peindre les artistes épris de romantisme ou que l’on peut voir parfois dans les tableaux de Poussin.“ (Simon 2006c, 1019) Auf den Vergleich mit Poussin folgt ein Schnitt: Erst jetzt erscheint die „jeune fille en robe rose“ (Simon 2006c, 1019) auf der Bühne, zu der die Stadtlandschaft am Anfang durch den Begriff der Szene geworden ist. In der Montage wird die Frauenfigur unmittelbar im Zusammenhang von künstlerischem Schaffen und der ästhetischen Kraft der Ruinenlandschaft platziert. Während ihres Gangs durch die Ruinen erscheinen diese noch einmal ganz explizit als Theaterkulisse: „une suite de façades restées debout, sans rien derrière, comme un décor de théâtre aux fenêtres vides à travers lesquelles on peut voir le ciel.“ (Simon 2006c, 1019) Es ist dabei gerade die Leerstelle, die eine Annäherung zwischen Bühnenraum und Berliner Ruinen erlaubt, weil die Überreste der zerstörten Gebäude frei vor einem leeren Raum stehen wie Kulissenelemente für eine Inszenierung. Am Ende des Fragments kommt zum Theater und der Bildenden Kunst der Film als dritte Kunstform hinzu. Aus der Ferne nimmt die Erzählinstanz das Rauschen des Verkehrs wahr. Da es die Stille der Stadt kaum durchdringt, wird es mit dem zischenden Hintergrundgeräusch verglichen, das beim Abspielen eines Stummfilms zu hören ist: „un faible chuintement, pas plus fort que celui dans lequel se déroule un film muet.“ (Simon 2006c, 1019) Aus der Szene auf dem Theater wird der Ausschnitt eines Stummfilms, der auch das fotografische Bild des ersten Berlinfragments in Bewegung versetzt. Als Protagonistin des Films steigt die junge Frau im rosafarbenen Kleid aus dem U-Bahn-Schacht empor, durchquert 13 Brigitte Ferrato-Combe (1998, 76) sieht in Poussin Claude Simons „équivalent artistique de l’expérience vécue“. Die Rolle der Bildenden Kunst im Werk Claude Simons untersucht auch Hanhart-Marmor (2014). Speziell zur Kunst in den Berlinfragmenten aus Le Jardin des plantes vgl. Hanhart-Marmor (2014, 169–172).

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die Ruinenlandschaft und verschwindet mit der Sonne aus dem Bild. Wie die vorübergehende Frau ist der romantische Topos der untergehenden Sonne, der auch bei Baudelaire eine Gestalt gewinnt, die Inszenierung einer flüchtigen Zeiterfahrung. Die beiden Augenblicke des Vorübergehens werden im Schlussbild zu einer einzigen Erfahrung verdichtet: Bientôt elle n’est plus qu’une tache dansante qui diminue encore, un point, puis plus rien, disparue. [...] Le disque du soleil d’un rouge orangé dans la légère brume de chaleur descend peu à peu au-dessus des pans de murailles écornées, de plus en plus rouge, velouté, à mesure qu’il s’affaisse, entamé par quelque corniche, la dentelle de quelque balcon pendant dans le vide, disparaissant aussi à la fin. (Simon 2006c, 1020)

Das Schlussbild ist mit dem des Anfangs identisch: eine Stadt voller Ruinen. Dennoch hat das Vorübergehen der jungen Frau gerade in seiner Flüchtigkeit die Ruinenlandschaft nachhaltig verändert. Denn die Frau, das sie umgebende Licht und ihr Erscheinen im Kontext der drei Kunstdisziplinen Theater, Malerei und Film hinterlassen eine poetische Präsenz, die im Textfragment konserviert wird. Als „allégorie de la naissance de l’écriture par le pouvoir de la ruine“ (Hanhart-Marmor 2014, 172) gleicht sie erneut Baudelaires Passantin, deren „fugitive beauté“ (Baudelaire 1975, 92–93) das lyrische Ich so berührt, dass das Ephemere des Augenblicks, in dem eigentlich gar keine Begegnung stattfindet, auf Dauer gestellt werden kann. Claude Simons Berlinfragmente entwickeln ihre Ästhetik gleichsam aus der Leerstelle der Ruine – als Zeichen der Destruktion tritt sie in einen Prozess der (Re)konstruktion ein, der als mise en abyme die Entstehungsgeschichte des Romans formuliert: Erst aus den – literarischen wie architektonischen – Ruinen, die der Krieg hervorgebracht hat, vermag Simon Le Jardin des plantes zu schreiben.

3 Nous écrivons désormais, joyeux, sur des ruines: Ruine und Leerstelle bei Alain Robbe-Grillet Auch Alain Robbe-Grillets Schaffen bewegt sich im Zeichen der Ruine. Besonders in den drei Bänden der zwischen Autobiographie und Fiktion changierenden Romanesques geht er immer wieder darauf ein, dass sein Schreiben von Ruinen fundiert wird. Nicht zufällig trägt der letzte Band der Trilogie den Titel Les Derniers jours de Corinthe (1994). Er nimmt nicht nur auf den Namen von Henri de Corinthe als Zentralfigur des Textes Bezug, sondern evoziert auch die paradigmatische Ruinenstadt Korinth als Ort einer mehrfachen Zerstörung. In Les Derniers jours de Co-

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rinthe hält Robbe-Grillet fest: „Nous écrivons désormais, joyeux, sur des ruines“ (Robbe-Grillet 1994, 17) und führt an einer späteren Stelle aus, dass das Bewusstwerden einer Welt und einer Literatur in Ruinen Auslöser seiner Tätigkeit als Schriftsteller war: J’ai déjà dit [...] que les ruines de la vieille Europe écrasée sous les bombes, son passé historique parti en fumées, ses maisons natales anéanties (celle de Goethe à Francfort-sur-le-Main, celle de Wagner à Leipzig et la pauvre mienne à Brest), la ruine parallèle de ce que représentait à mes yeux notre droite maurrassienne (tradition, hiérarchie, discipline, État…), sans doute aussi l’échec sanglant et répété (depuis la guerre de Vendée jusqu’aux camps d’extermination nationaux-socialistes) du bel humanisme des Lumières, j’ai déjà supposé – disaisje – que cet effondrement général dont je prenais conscience, à la fin des années 40, pouvait avoir constitué l’élément moteur essentiel de ma décision – plutôt étrange chez un jeune ingénieur de recherche agronomique, passionné par la biologie – d’abandonner tout pour élaborer d’aléatoires architectures romanesques : construire malgré la peur et sans aveuglement quelque chose de solide sur ces débris, au milieu des brumes, de la dérision, du sourd fracas répercuté par les pans de murailles qui n’en finissaient plus de s’abîmer. (Robbe-Grillet 1994, 142–143)14

Anne Tomiche (2000, 139) verweist auf die dreifache Bedeutung der Ruine, die in den Romanesques Gestalt annimmt: die Ruine der Geschichte als Historie, die Ruine der Geschichte als Narration und die Ruine des erzählenden Subjekts. Während, so Robbe-Grillet in Les Derniers jours de Corinthe weiter, die zentrale Größe für die Zeiterfahrung im Nouveau roman nicht mehr die Dauer, sondern der Augenblick ist (Robbe-Grillet 1994, 146), der die Flüchtigkeit und das Fragmentarische der Zeit betont, ist auch der Raum des Romans dahingehend von einer Fragmentarisierung der Erzählstruktur betroffen, dass er als „espace en ruine“ (Robbe-Grillet 1994, 146) erscheint. Ist die Ruine zum einen das Bauprinzip, nach dem Robbe-Grillets Romane konstruiert sind, so sind in diesen Romanen zum anderen von Beginn an physische Bilder von zerstörten Gebäuden und Landschaften enthalten, die auch das Modell der antiken Ruine abrufen. In Les Gommes (1953) bewegt sich der Protagonist Wallas durch eine ihm unbekannte Stadt, um als Agent einen Fall zu lösen, der ihn letztlich auch auf die Spuren seiner eigenen Identität führt. Sie zerfällt ebenso in Fragmente wie die Mission, auf der Wallas sich befindet. Denn seine Biographie ist an den Ödipus-Mythos angelehnt – er wird seinen ihm unbekannten Vater töten. Eine Anspielung auf die Parallele zum Mythos ist der Schriftzug „di“ auf den titelgebenden Radiergummis, nach denen 14 Außerdem lässt Robbe-Grillet seinen Protagonisten „sur ,le roman en ruines‘“ (Robbe-Grillet 1994, 152) reflektieren und beschreibt seinen Eindruck einer „insistante atmosphère d’un mode en ruine – Pompéi, Corinthe ou New York – que je retrouve partout sous mes pas“ (Robbe-Grillet 1994, 178).

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der Agent in den Schreibwarenläden der Stadt vergeblich sucht. Im Schaufenster entdeckt er dabei ein Bild der Ruinen von Theben als Handlungsort der ÖdipusGeschichte: Les ruines de Thèbes. Sur une colline qui domine la ville, un peintre du dimanche a posé son chevalet, à l’ombre des cyprès, entre les tronçons de colonne épars. Il peint avec application, les yeux reportés à chaque instant sur le modèle ; d’un pinceau très fin il précise maints détails [...] Au coin de la grille, les feuilles des fusains luisent au soleil, qui en accuse quelques contours. Par-derrière, un arbuste dépasse au-dessus de la haie, un arbuste dénudé dont chaque branchette est marquée d’un trait brillant, du côté de la lumière, et d’un trait noir du côté de l’ombre. Le cliché a été pris en hiver, par une journée exceptionnellement claire. Quelle raison la jeune femme pouvait-elle avoir de photographier ce pavillon ? (Robbe-Grillet 1953, 220–221)15

Die das antike Vorbild für die Personenkonstellation im Roman evozierende Ruine tritt in einen Prozess der Überlagerung zwischen Antike und Gegenwart ein. Beinahe unmerklich geht das Bild Thebens in die Fotografie eines Hauses über – des Hauses, in dem sich zentrale Momente der Romanhandlung abspielen und das dem unbekannten Vater des Agenten gehört. In der Überlagerung der Bilder deutet sich die Parallele zwischen Ödipus und Wallas an, die auf Leerstellen – der Ungewissheit über die eigene Identität und die Unkenntnis des Vaters – beruht. Die antike Ruine ist für Alain Robbe-Grillets écriture ruinesque ein bedeutsamerer Bezugspunkt als für diejenige Claude Simons und unterstreicht seine Anknüpfung an Topoi der antiken Literatur und Mythologie, die seine Romane in Form von Ruinenbildern durchziehen. In besonderer Weise gelangt die antike Ruine in der Topologie d’une cité fantôme (1976) zur Sichtbarkeit, nicht zuletzt, weil der Roman die beiden Kapitel „Construction d’un temple en ruines à la déesse Vanadé“ und „Construction d’un temple en ruines (suite et fin)“ beinhaltet,16 in deren Titeln das Spannungsverhältnis von Destruktion und (Re‑)Konstruktion zum Ausdruck gelangt. Der Versuch des Romanerzählers, eine verlorene Stadt halb im Traum mental wiederaufzubauen, scheitert stets von Neuem und lässt eine „ruine perpétuelle“ (Macé 2017, o. S.) zurück. In Robbe-Grillets letztem Roman, La Reprise, begegnet der von Ruinen durchzogene Stadtdiskurs des Autors dem französischen Berlindiskurs als Ruinendiskurs. Der Roman erzählt wie Les Gommes eine Agentengeschichte, nun vor der Kulisse des zerstörten Berlins in den späten 1940er Jahren: Henri Robin, ein französischer Geheimagent, befindet sich auf einer Mission, deren Zweck sich ihm 15 Das Bild der Ruinen von Theben, das sich im Schaufenster mit der Fotografie des Hauses verbindet, taucht an einer früheren Stelle des Romans schon einmal auf (vgl. Robbe-Grillet 1953, 162– 163). 16 Vgl. Robbe-Grillet 1976.

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entzieht und die ihn selbst zu einer Ruine der in Fragmente zerfallenden Identität macht. Die Destabilisierung seines Selbst, die sich in Doppelgängerfiguren, Traumsequenzen und Zweifeln an der Realität der erlebten Ereignisse äußert, besitzt eine Entsprechung in der narrativen Struktur: Der Erzähler des Haupttextes springt zwischen verschiedenen Perspektiven und wird durch einen zweiten Erzähler in Fußnoten ergänzt, der die Aussagen des ersten unterläuft. Wer und ob überhaupt jemand die Wahrheit sagt, wird ebenso wenig aufgelöst, wie Robin zu einer Lösung für seinen Fall gelangt. Der Schreibanlass, der zur endgültigen Entstehung des Romans führt, ist eine Ruinenerfahrung im Leben des Autors: Zum Jahreswechsel 1999/2000 wird Robbe-Grillets Schloss in der Normandie durch ein Unwetter zerstört und in Ruinen gelegt. Aus der persönlichen Katastrophe entsteht für ihn die Motivation, am Manuskript von La Reprise weiterzuschreiben – die Ruinenwelt von Robbe-Grillets Wohnsitz und diejenige des Nachkriegsberlins überlagern sich in der Genese des Textes.17 Darauf geht auch der Roman ein: J’ai souvent parlé de la joyeuse énergie créatrice que l’homme doit sans cesse déployer pour reprendre le monde en ruine dans des constructions nouvelles. Et voilà que je me remets à ce manuscrit [...] quelques jours à peine après la destruction d’une part notable de ma vie, me retrouvant donc à Berlin après un autre cataclysme [...]. (Robbe-Grillet 2001, 82)

Erneut setzt an dieser Stelle ein Überlagerungsprozess zwischen verschiedenen Zeitebenen der Ruine ein, der in der Agentengeschichte fortgeführt wird Henri Robin sieht sich bereits auf der Reise nach Berlin als Ort seiner Mission einer Erfahrung der Ruine ausgesetzt, wenn er auf der Bahnfahrt „la Thuringe et la Saxe en ruines“ (Robbe-Grillet 2001, 9) durchquert. Die Überreste von Gebäuden der Stadt Halle, die er aus dem Zugfenster erblickt, erscheinen ihm als Bestandteile eines „tableau“ (Robbe-Grillet 2001, 10) – wie bei Claude Simon werden Ruinenlandschaft und Leinwand des Gemäldes ineinandergeblendet. Zugleich wird an dieser Stelle auch eine Erfahrung der Leerstelle zur Sprache gebracht, indem Robin die am Fenster vorbeiziehenden Ruinen als surrealistischen Bildeindruck mit einem „trou dans l’espace normalisé“ (Robbe-Grillet 2001, 10)18 vergleicht. Das Tableau der Zerstörung bedingt eine Destabilisierung der Ortsidentität, denn der Agent ist sich plötzlich nicht mehr sicher, ob es sich bei der zerbombten Stadt vor dem Fenster überhaupt um Halle handelt: „Peut-être ne s’agit-il pas de Halle, mais d’une autre grande ville ?“ (Robbe-Grillet 2001, 11) Im Verweis auf die „autre grande ville“ wird das ebenfalls in Ruinen liegende Berlin 17 Darauf bezieht sich z. B. Tara Collington (2010, 212) in ihrer Auseinandersetzung mit der Bildenden Kunst in La Reprise: „[Cette] tragédie du paysage en Normandie donne naissance à un texte littéraire qui nous raconte une autre tragédie du paysage, celle de l’après-guerre à Berlin“. 18 Vgl. dazu Yapaudjian-Labat (2010, 433).  

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vorweggenommen, während das urbane Ruinenfeld gleichzeitig die erschütterte und ,durchlöcherte‘ Identität des Protagonisten spiegelt. Seine Ankunft in Berlin konfrontiert ihn erneut mit einer Ruine und einem Orientierungsverlust: Am halb verfallenen Bahnhof Lichtenberg verirrt er sich und hat Angst, seinen Mittelsmann Pierre Garin zu verpassen (vgl. Robbe-Grillet 2001, 23). Mit Garin, den er schließlich doch findet, fährt er im Auto zum Gendarmenmarkt als Ausgangspunkt der Mission. Auf der Fahrt durch die zerstörte Stadt übernimmt Garin die Rolle des Fremdenführers, der die Leerstellen der Ruine durch die Evokation der Vergangenheit zu füllen versucht: C’était comme la visite guidée d’une antique cité disparue, Héropolis, Thèbes, ou Corinthe. Après de nombreux détours, occasionnés par des artères non encore déblayées, ou interdites, et plusieurs chantiers de reconstruction, nous avons atteint l’ancien centre-ville, où presque tous les bâtiments étaient détruits plus qu’à moitié, mais paraissaient resurgir à notre passage dans tout leur éclat, pour quelques secondes, sous les descriptions fantômes du cicérone Pierre Garin [...]. (Robbe-Grillet 2001, 25–26)

Die Ruinen des Krieges treten abermals in eine gemeinsame Konstellation mit den Ruinen der Antike ein. Hinter der „antique cité disparue“ scheint einerseits das Modell antiker Städte auf, das bereits in Les Gommes Eingang in Robbe-Grillets Werk gefunden hat;19 andererseits verweist die verschwundene Stadt der Antike auch auf die imaginäre Stadt, um die sich letztlich alle Stadtromane Robbe-Grillets drehen, auch wenn sie die Oberfläche real existierender Städte wie Berlin, Paris oder New York zitieren. Pierre Garin verhilft darüber hinaus in der Aktualisierung mythischer Bilder antiker Ruinen dem im Krieg zerstörten Berliner Stadtbild wieder zur Sichtbarkeit. Auf der Weiterfahrt macht er Henri Robin auf zentrale Berliner Orte aufmerksam, die sich nun in einem Zustand der Zerstörung befinden: Passé la mythique Alexanderplatz, dont l’existence même n’était plus guère identifiable, nous avons traversé les deux bras successifs de la Spree et rejoint ce qui fut Unter den Linden, entre l’Université Humboldt et l’Opéra. La restauration de ce quartier monumental, trop chargé d’histoire récente, ne constituait pas, de toute évidence, une priorité pour le nouveau régime. Nous avons tourné à gauche, peu avant les vestiges chancelantes, difficilement reconnaissables, de la Friedrichstrasse, opéré encore diverses circonvolutions dans ce labyrinthe de ruines où mon chauffeur semblait se sentir parfaitement chez soi, pour déboucher enfin sur la place des Gens d’Armes (les compagnies montées de Frédéric II avaient là leurs écuries), que Kierkegaard jugeait la plus belle place de Berlin, dans le crépuscule hivernal,

19 Zum Umgang mit antiken Vorbildern in La Reprise und in Les Gommes vgl. Brigitte Burrichter (2003, 183–194).

Die Leerstelle der Ruine – die Ruine als Leerstelle

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sous un ciel maintenant devenu limpide où les premières étoiles commencent à s’allumer. (Robbe-Grillet 2001, 26)

Der Blick, der hier durch die Leerstelle der Ruine in die Vergangenheit geworfen wird, ist ein vermittelter und ins Imaginäre gehender Blick: Als Ich-Erzähler des Kapitels gibt Henri Robin wieder, was Garin ihm berichtet und beschreibt. In der Narration erschafft Garin den Vorkriegszustand der Stadt ein zweites Mal – Robin kann ihn nur im Imaginären, nicht aber in der Wirklichkeit sehen. Präsenz und Absenz, Destruktion und Rekonstruktion sind dabei auch syntaktisch verschränkt: Jedes Bild eines Monuments, das Garin entwirft, ist Teil eines Oppositionspaars, dessen anderer Teil die Zerstörung benennt („dont l’existence même n’était plus guère identifiable“, „ce qui fut“, „les vestiges chancelants, difficilement reconnaissables“).20 Die Autofahrt der beiden Agenten endet am Gendarmenmarkt – also am Schauplatz von Claude Simons zweitem Berlinfragment. Henri Robin wird von Pierre Garin in ein Haus geführt und soll dort einen Beobachtungsposten einnehmen. In einem den gesamten Roman kennzeichnenden Spiel mit Doppelungen und Spiegelungen besteht die dafür vorgesehene Wohnung aus zwei identisch geschnittenen und möblierten Zimmern (vgl. Robbe-Grillet 2001, 27). Die Beschreibung der Wohnung und der Zwillingszimmer übernimmt Robbe-Grillet fast wörtlich aus Søren Kierkegaards Gjentagelsen (1843, in der deutschen Übersetzung Die Wiederholung, in der französischen La Reprise),21 dem er bereits ein Zitat als

20 Vgl. auch Yapaudjian-Labat (2010, 432). 21 „Der Gendarmenmarkt ist wohl der schönste Platz in Berlin; das Schauspielhaus, die zwei Kirchen nehmen sich vortrefflich aus, besonders bei Mondenschein, von einem Fenster her gesehen. Die Erinnerung hieran trug viel dazu bei, daß ich von der Stelle kam. Man steigt zum ersten Stock empor in einem mit Gas erleuchteten Hause, man öffnet eine kleine Tür, man steht im Entrée. Zur Linken hat man eine Glastür, die in ein Kabinett führt. Man geht geradeaus, man ist in einem Vorzimmer. Innenwärts von diesem aus sind zwei Zimmer, ganz von der gleichen Form, ganz und gar gleich möbliert, dergestalt, daß man im Spiegel das Zimmer doppelt sieht. Das innerste Zimmer ist geschmackvoll erleuchtet. Ein Armleuchter steht auf einem Arbeitstisch, ein zierlicher Lehnstuhl, mit rotem Samt bezogen, steht am Tische. Das vordere Zimmer ist nicht erleuchtet. Hier mischt sich des Mondes bleiches Licht mit dem helleren Lichtschein aus dem inneren Zimmer. Man setzt sich auf einen Stuhl am Fenster, man betrachtet den großen Platz, man sieht die Schatten der Vorübergehenden über die Mauern huschen, alles wandelt sich zu einer Bühnendekoration“ (Kierkegaard 1955, 24–25). Später bezieht sich Robbe-Grillets Erzähler explizit auf Kierkegaards Beschreibung der Wohnung: „[Dans] cette pièce de dimensions bourgeoises (mais présentement sans lit et glacée) que Kierkegaard appelait ,la chambre du fond‘ lors des deux séjours qu’il y a effectués : sa fuite après l’abandon de Régine Olsen, pendant l’hiver 1841, puis l’espoir de ,reprise‘ berlinoise au printemps 1843“ (Robbe-Grillet 2001, 45).

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Motto für La Reprise entnimmt.22 Bei Kierkegaard gibt es im Wesentlichen nur einen Unterschied zwischen den beiden Zimmern: Eines ist beleuchtet, das andere liegt im Dunkeln. In La Reprise kommt ein weiterer Unterschied hinzu, der im Kontext der Ruine von besonderem Interesse ist. Während eines der beiden Zimmer einigermaßen bewohnbar scheint, ist das zweite halb verfallen: La chambre du devant n’est pas éclairée. Il n’y a même pas de bougie dans le chandelier en alliage de plomb. La fenêtre est béante, embrasure sans vitrage ni châssis, par où pénètrent le froid extérieur ainsi que la pâle clarté lunaire qui se mêle à la lueur plus chaude, bien que très atténuée par la distance, provenant de la chambre du fond. Ici, les deux battants de l’armoire bâillent largement, laissant deviner des étagères vides. Le siège du fauteuil est crevé, une touffe de crins noirs s’en échappe par une déchirure triangulaire. On se dirige irrésistiblement vers le rectangle bleuâtre de la croisée absente. (Robbe-Grillet 2001, 28)

Der Krieg hat hier lediglich die Ruine eines Zimmers zurückgelassen, die geprägt ist vom Eindruck des Fragmentarischen und – erneut – des Lückenhaften: das geöffnete Fenster, das fehlende Fensterglas, der offenstehende Schrank, das sich auflösende Sesselpolster, die leeren Regale, das nicht mehr vorhandene Fensterkreuz. Für den weiteren Handlungsverlauf wird das Zimmer vor allem auf Grund der Leerstelle des offenen Fensters von Bedeutung sein. An diesem Fenster stehend blickt Henri Robin auf den Gendarmenmarkt herab in die Vergangenheit und in ein Imaginäres der Stadt.23 Mitten auf dem Gendarmenmarkt und genau in Robins Blickfeld befindet sich nämlich die Ruine einer Statue, von der nur noch der Sockel erhalten ist: „le socle massif, à peine écorné par les bombes, de quelque allégorie en airain aujourd’hui disparue“ (Robbe-Grillet 2001, 29). Hier öffnet sich eine neue Leerstelle, nämlich diejenige, die der Krieg in der Zerstörung der Statue auf dem Sockel hinterlassen hat. Sie inspiriert Robin dazu, sich in die Perspektive von Schriftstellern wie Kafka, Humboldt, Heine und Voltaire zu versetzen, die sich am gleichen Ort wie er selbst aufgehalten und keine Leerstelle, sondern die nun verschwundene Statue betrachtet haben. Die Leerstelle übernimmt die Rolle eines weißen Blatts als Raum für das Erzählen der Vergangenheit und als Ausgangspunkt eines neues Imaginären, so auch Cécile Yapaud-

22 Das Motto lautet: „Reprise et ressouvenir sont un même mouvement, mais dans des directions opposées ; car, ce dont on a ressouvenir, cela a été : il s’agit donc d’une répétition tournée vers l’arrière ; alors que la reprise proprement dite serait un ressouvenir tourné vers l’avant“ (RobbeGrillet 2001, 7). 23 Eine ähnliche Vermischung der Wahrnehmungsebenen findet auch in E.T.A. Hoffmanns Des Vetters Eckfenster statt. Dort ist die Beobachtung aus einem Fenster am Gendarmenmarkt der Ausgangspunkt einer Reflexion über die Wahrnehmung der Stadt auf der Schwelle von Wirklichkeit und poetischer Vorstellungskraft (vgl. Hoffmann 2004, 468–497).

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jian-Labat (2010, 433): „Ce qui est vacant dans la ruine devient chez Robbe-Grillet espace d’art et de liberté, libération créatrice.“ Später am Abend nämlich, als Garin bereits gegangen ist, betrachtet Robin erneut den leeren Sockel und ersetzt die freie Fläche in seiner Imagination durch eine Skulpturengruppe, wie sie bereits in Les Gommes enthalten ist: „[Un] groupe en bronze hypothétique m’apparaissait peu à peu“ (Robbe-Grillet 2001, 32). Neben anderen Figuren steht ein alter Mann auf einem von Pferden gezogenen Wagen. Ab diesem Moment werden die Grenzen zwischen Realität und Imagination in der Wahrnehmung Robins unscharf. So wie die Skulpturengruppe aus dem Nichts im Geiste des Agenten ersteht, erscheint, eingeführt mit dem gleichen Verb apparaître, am späten Abend ein Mann auf dem Gendarmenmarkt und tritt so, obwohl er vermeintlich real den Platz betritt, in Verbindung mit der imaginierten Bronzegruppe: „Mais voici qu’un homme apparaît, sur la place déserte, comme s’il sortait des impressionnants décombres du Théâtre Royal.“ (Robbe-Grillet 2001, 34) Es ist an dieser Stelle nicht eindeutig bestimmbar, ob der Unbekannte, der aus der Ruine des zerstörten Theaters herauszukommen scheint, nicht doch eine dritte Projektion Robins in die Leerstelle des Sockels darstellt. Erdachter und realer Stadtraum überlagern sich auch, als Robin beobachtet, wie der Mann erschossen wird, und deshalb seinen Beobachtungsposten verlässt, um sich der reglosen Gestalt auf dem Platz zu nähern. Vor der vermeintlichen Leiche legen sich plötzlich die Gesichtszüge des alten Mannes aus der Skulpturengruppe über die des Toten. Robin kehrt in die Wohnung zurück und blickt abermals aus dem Fenster: Der Tote ist verschwunden; dafür sieht der Agent erneut die Skulpturen auf dem Sockel. Als ‚Beweis‘ des Erlebten bleibt ihm das Portemonnaie des Toten mit dessen Ausweis. Er hat in der Mitte ein Loch: [...] une carte d’identité allemande, dont la photo a été déchiquetée par le projectile qui a troué le cuir de part en part. [...] En examinant avec plus de soin le porte-cartes, il me paraît douteux que ce gros trou rond aux bords éclatés ait été fait par la balle d’une arme de poing, ou même d’épaule, tirée d’une distance non négligeable. Quant aux souillures d’un rouge assez vif qui en maculent une des faces, elles ressemblent plus à des traces de peinture fraîche qu’à du sang. (Robbe-Grillet 2001, 38–39)

Das Loch im Ausweis nimmt das Verwirrspiel um die ‚durchlöcherte‘ Identität des nur scheinbar Toten und des Agenten Henri Robin vorweg – wie bei Les Gommes ist auch hier der Ödipus-Mythos das antike Vorbild für Robins Familiengeschichte. Als Leerstelle einer ruinösen Identität öffnet das Loch im Ausweis den Raum der Narration auf einen Zwischenraum, in dem sich die Erfahrung der Stadt ins Imaginäre weitet. Ein rotes Loch wie im Ausweis des Scheintoten tritt bei RobbeGrillet schon einmal auf, im Untertitel seines Romans Djinn. Un trou rouge entre les pavés disjoints (1981). Auch die pavés disjoints, die verschobenen Pflasterstei-

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ne, werden in La Reprise aufgegriffen. Sie bilden einen Riss24 und eine Lücke in der Oberfläche der Stadt, über die Robin in eine Sphäre des Traumhaften und Imaginären gelangt.25 Seine Identität und die Auflösung des Falls bleiben bis zum Ende des Romans ebenso lückenhaft wie der Text selbst, der der Leserin und dem Leser im Versuch, den Sinnzusammenhang zu (re‑)konstruieren, stets von Neuem entgleitet. La Reprise ist darin wie Claude Simons Le Jardin des plantes das Ergebnis eines ,ruinösen‘ Schreibens. Ist die Bedeutung der Ruine als Denkfigur des literarischen Schaffens bei beiden Autoren bereits im Frühwerk angelegt, so gewinnt sie im Endhorizont des Nouveau roman abschließend noch einmal eine neue Gestalt im Blick auf die zerstörte Stadt Berlin. In Simons Le Jardin des plantes verdichtet sich die Erfahrung der Ruine in der Figur der aus den Ruinen hervorgehenden Passantin, deren flüchtige Präsenz die Stadt verändert. In Robbe-Grillets La Reprise wiederum ist die Figur des Agenten Henri Robin auf der Suche nach der eigenen, in Ruinen liegenden und ,durchlöcherten‘ Identität beständig den Ruinen Berlins ausgesetzt. Sie machen die Verschiebung des Stadtraums ins Imaginäre sinnfällig und sind zugleich Denkfiguren der Romanstruktur, die immer wieder zu zerfallen scheint und in die Irre führt. Beide Autoren schreiben sich damit in das Umfeld des Nouveau roman ein, dem der Zerfall der Welt zum Anlass für eine Arbeit an Zerfall und Neukonstruktion literarischer Formen wird. Die Ruine verweist dabei zum einen auf die Abkehr von traditionellen Erzählverfahren, die in der écriture ruinesque destruiert und ad absurdum geführt werden. Zum anderen speist sich die Ästhetik des ,ruinösen‘ Schreibens, und zwar sowohl bei Claude Simon und Alain Robbe-Grillet als auch generell im Nouveau roman, aus der Leerstelle der Ruine. Als leere Seite, die sich auf neue Möglichkeiten des Schreibens und Erzählens öffnet, wird sie zur Trägerfigur eines Schöpfungspotentials. Aus der Leerstelle der Destruktion geht die Möglichkeit zur Kreation hervor – Simon und Robbe-Grillet nutzen sie ebenso wie Robbe-Grillets Romanfigur Henri Robin. Indem er kurz nach der Ankunft in Berlin den Bericht seiner Mission – den Text 24 In seiner Analyse von Robbe-Grillets Gesamtwerk orientiert sich Jacques Poirier (2008, 204) am Riss als ästhetischem Gestaltungsmittel und unternimmt auf der Grundlage dieser Figur eine Annäherung an Edgar Allan Poes The Fall of the House of Usher – nur dass der Riss dort eine umgekehrte Wirkung besitzt: Bei Poe destruiert er eine Familie und ihre Geschichte, während er bei Robbe-Grillet die Literatur erst hervorbringt: „Dans le cas de la maison Usher, la fissure qui traverse la façade voue le bâtiment à sa ruine ; il en va différemment chez Robbe-Grillet, pour qui les fissures constituent le lieu de l’engendrement“. Vgl. zu Poes Kurzgeschichte im Kontext der Ruine auch den Beitrag von Simona Oberto in diesem Band. 25 Vgl. zu den pavés disjoints als Ausdruck einer dislocation der Stadt auch (Steurer 2016, 379). Auch die in diesem Aufsatz untersuchte Brücke als Denkfigur einer circulation du sens beschreibt eine Sinnverschiebung, die immer neue Leerstellen erzeugt.

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des Romans – auf ein weißes Blatt Papier zu schreiben beginnt, führt er in actu das Schaffenspotential der Leerstelle vor: „Sur la feuille blanche, d’une petite écriture fine et sans rature, j’ai commencé sans hésitation mon récit“ (Robbe-Grillet 2001, 31).

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Abbildungsverzeichnis Portikus des Anhalter Bahnhofs mit den beiden Figuren von Tag und Nacht: Jörg Zägel/CC BY-SA https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d9/Berlin%2C_Kreuzberg%2C_ Askanischer_Platz_6-7 %2C_Portikus_des_Anhalter_Bahnhofs%2C_01.jpg. (19. Juni 2020)  

Kurzinformation zu den Autor*innen Constanze Baum ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2012 wurde sie an der Technischen Universität Berlin, am Institut für Neuere Deutsche Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft mit einer Arbeit zu Ruinenlandschaften promoviert (Ruinenlandschaften. Spielräume der Einbildungskraft in Reiseliteratur und bildkünstlerischen Werken über Italien im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Heidelberg 2013). Ihre Forschungsgebiete liegen im Bereich von Literaturen in Wechselbeziehung zu den Künsten mit einem Schwerpunkt im 18. Jahrhundert. Ihre Publikationen in diesem Bereich umfassen Arbeiten zur Ruinenrezeption, Reiseliteratur, zu Denkmals- und Bildkulten sowie Theatralitätskonzepten. Stephanie Béreiziat-Lang hat Romanistik und Klassische Archäologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Université Michel de Montaigne Bordeaux III studiert. In München sowie an der Universiteit Utrecht (NL) wurde sie mit einer Arbeit zur Kontinuität der Décadence in den Literaturen Spaniens, Portugals und Kataloniens promoviert (Translationen der décadence. Heidelberg 2015). Seit 2015 ist sie Wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 933 Materiale Textkulturen. Materialität und Präsenz des Geschriebenen in non-typographischen Gesellschaften, wo sie zum Teilprojekt C09 Körperbeschriftungen: Text und Körper in den iberischen Literaturen der Vormoderne forscht. Zu ihren Forschungsgebieten gehören Modernismen und Ästhetik des Fin de siècle, die Narrativik des iberischen Mittelalters, Textualität und Körperlichkeit, Subjektkonstitution, Alterität und transkulturelle Identitätsgestaltung. Şirin Dadaş hat in Berlin und Paris Romanistik und Kunstgeschichte studiert. Sie ist seit 2011 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Romanische Philologie der Freien Universität Berlin. 2016 erfolgte die Promotion mit einer Arbeit zur Kunstliteratur der Gebrüder Goncourt, Ernest Chesneaus und Émile Zolas, 2018 erschienen unter dem Titel Von Bildern reden. Kunstkritik und Malerroman im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Seit 2016 arbeitet sie im SFB 980 Episteme in Bewegung an ihrem aktuellen Forschungsprojekt zum poetologischen Wissen im Cinquecento. Zuletzt erschienen: Dynamiken der Negation – (Nicht)Wissen und negativer Transfer in vormodernen Kulturen, hg. v. Şirin Dadaş u. Christian Vogel. Wiesbaden 2021. Teresa Hiergeist ist Professorin für französische und spanische Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Romanistik der Universität Wien. Sie wurde an der Universität Regensburg mit der Arbeit Erlesene Erlebnisse. Formen der Partizihttps://doi.org/10.1515/9783110757811-015

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pation des Rezipienten an narrativen Texten (Bielefeld 2014) promoviert und habilitierte sich an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen mit dem Werk Tiere der Arena – Arena der Tiere. Neuverhandlungen der Interspezies-Relationen in den aristokratischen Kampfspielen des siglo de oro (Würzburg 2019). Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der kulturellen Inszenierung und Instrumentalisierung gesellschaftlicher Einheit und Diversität in den Gegenwartskulturen und an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Aktuell verfolgt sie ein Projekt zu den sozialen und edukativen Utopien in der Frühphase des französischen und spanischen Anarchismus. Sara Izzo studierte Romanistik/Französische Philologie, Kunstgeschichte und Neuere Geschichte an der Universität Bonn und der Université libre de Bruxelles und wurde 2016 mit der Arbeit Jean Genet und der revolutionäre Diskurs in seinem historischen Kontext (Tübingen 2016) an der Universität Bonn promoviert. Derzeit arbeitet sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für Romanistik der Universität Bonn mit einem Habilitationsprojekt zum Thema „Das Mittelmeer als identitäres Spannungsfeld in der französischen und italienischen Literatur der Moderne“. Zu ihren weiteren Forschungsinteressen zählen die Kriegsberichterstattung im Spannungsfeld von Journalismus und Literatur, Formen engagierter Literatur sowie das Zusammenspiel von Literatur und Gedächtniskultur. Giulia Lombardi ist Akademische Rätin a. Z. am Institut für Italienische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie hat in Lyon und Berlin studiert und wurde in München mit einer Arbeit zum italienischen Verismus promoviert (Dai “Documenti umani” alle novelle di guerra. La poetica delle contraddizioni in De Roberto novelliere. Catania 2019). Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen der sizilianische Verismus, das Epos der Renaissance und italienische sowie französische Erzählliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts. Aktuell arbeitet sie an der Ästhetik der Grausamkeit im italienischen, französischen und spanischen Epos des 16. Jahrhunderts. Benjamin Loy ist seit 2020 Universitätsassistent am Institut für Romanistik der Universität Wien. Ab 2013 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Romanische Literaturwissenschaft (Französisch/ Spanisch) an der Universität zu Köln, wo er zusätzlich von 2015 bis 2020 wissenschaftlicher Koordinator des ERC-Forschungsprojekts Reading Global. Constructions of World Literature and Latin America war. 2018 wurde er an der Universität Potsdam mit einer Arbeit zur Intertextualität im Werk Roberto Bolaños promoviert (Roberto Bolaños wilde Bibliothek. Eine Ästhetik und Politik der Lektüre. Berlin/Boston 2019). Zu seinen Forschungsgebieten gehören ästhetische und soziologische Diskurse der Moderne, Konservatismus und Re-

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aktion in Literatur- und Ideengeschichte sowie Weltliteratur und globale Buchmärkte. Simona Oberto ist Akademische Rätin a. Z. am Romanischen Seminar der AlbertLudwigs-Universität Freiburg. Sie wurde an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen und an der Freien Universität Berlin im Rahmen eines DFG-Forschungsprojekts mit einer Arbeit zur Auflösung des Renaissance-Petrarkismus in den italienischen Akademien promoviert (Poetik und Programmatik der akademischen Lyrik des Cinquecento. Heidelberg 2016). Anschließend war sie Arbeitskreiskoordinatorin an der Fritz-Thyssen-Stiftung (Köln) sowie Lehrstuhlkoordinatorin des Petrarca-Instituts der Universität zu Köln. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der italienischen Literatur der Frühen Neuzeit sowie in der französischen Literaturund Kulturwissenschaft der Moderne, wo sie sich mit dem Spätwerk von JorisKarl-Huysmans im Spannungsfeld von Ästhetizismus und Katholizismus befasst. Angela Oster ist Akademische Oberrätin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo sie italienische, französische und komparatistische Literatur- und Kulturwissenschaft unterrichtet. Seit dem Wintersemester 2017 ist sie Gastdozentin an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Überdies ist sie Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Horizonte. Italianistische Zeitschrift für Kulturwissenschaft und Gegenwartsliteratur sowie Mitglied des DFG-Netzwerks Antiklassizismen im Cinquecento und Vizepräsidentin der Deutschen Leopardi-Gesellschaft. Ihre Dissertation Ästhetik der Atopie. Roland Barthes und Pier Paolo Pasolini erschien 2006 im Winter Verlag (Heidelberg). Sie habilitierte sich mit einer Arbeit zum Wahnsinn in der Renaissance. Angelika Rieger ist seit 2005 Professorin für Romanistik an der RWTH Aachen. Sie wurde 1989 mit einer Arbeit zur altokzitanischen Dichtung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz promoviert (Trobairitz. Der Beitrag der Frau in der altokzitanischen höfischen Lyrik. Tübingen 1991). 1998 folgte die Habilitation an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main mit der Studie Alter Ego. Der Maler als Schatten des Schriftstellers in der französischen Erzählliteratur von der Romantik bis zum Fin de siècle (Köln/Wien 2000). Es folgten zahlreiche Gastprofessuren an den Universitäten Konstanz, Potsdam, Düsseldorf, Graz, Osnabrück und Siegen. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die romanischen Literaturen des Mittelalters, die Okzitanistik, Gender-Studien und Intermedialität. Lars Schneider ist seit 2020 Vertretungsprofessor am Institut für Romanische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2006 erfolgte seine Promotion an der LMU München mit der Arbeit Medienvielfalt und Medienwechsel in

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Rabelais’ Lyon (Münster 2008). 2013 habilitierte er sich an der LMU München (Die page blanche in der Literatur und bildenden Kunst der Moderne. Paderborn 2016). Von 2017 bis 2019 war er Vertretungsprofessor für Romanistische Literaturwissenschaft an der Universität Erfurt, 2016 Gastprofessor an der University of California, Berkeley. Zu seinen Arbeitsgebieten gehören die Medialität von Literatur und Film, Kulturwissenschaft, Poetiken der Moderne, Stadt/Architektur in Literatur und Film, Neue Medien in der Romanistik. Hannah Steurer ist Postdoktorandin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Fachrichtung Romanistik der Universität des Saarlandes. Sie wurde dort mit einer Arbeit zum Thema Tableaux de Berlin. Der französische Blick auf Berlin vom 19. bis ins 21. Jahrhundert (Heidelberg 2021) promoviert. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte liegen in der französischen und italienischen Literatur und umfassen insbesondere literarische Schreibweisen der Stadt, den nouveau roman, Literatur im digitalen Raum sowie Figurationen von Menge(n) im Rahmen des DFG-Netzwerks Dispositiv der Menge. Paul Strohmaier ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Romanistische Literaturwissenschaft an der Universität Trier. Nach einem Studium der Komparatistik, Romanistik und Anglistik in Tübingen, Maynooth (Irland) und Paris (Sorbonne) promovierte er 2016 an der Universität Trier mit einer Arbeit zu Paul Valéry, Eugenio Montale und Fernando Pessoa (erschienen als Diesseits der Sprache. Immanenz als Paradigma in der Lyrik der Moderne (Valéry, Montale, Pessoa). Frankfurt a. M. 2017). Zu seinen weiteren Forschungsgebieten zählen u. a. Traumdiskurse und Traumpoetiken in der Frühen Neuzeit und die Poetik des Anthropozäns in der jüngeren Lyrik Frankreichs und Italiens.  



Autorenindex Abensour, Léon 236–238 Alberti, Leon Battista 3, 23 Albertus Magnus 51 Alighieri, Dante 25, 31, 33, 35, 45, 58–63, 139, 183 Altdorfer, Albrecht 4 Anchieta, José de 17, 71–78, 81, 83–84, 89–92 Apollinaire, Guillaume 10, 20, 271, 273, 275, 277, 279–283, 285–292 Aristoteles 52, 119, 138 Audisio, Gabriel 294–296, 301–304, 306–307 Augustinus 53, 58 Azorín, (José Martínez Ruiz) 248, 254–255, 258, 260, 269 Balla, Giacomo 277 Barbieri, Francesco 171, 183 Barthes, Roland 175, 182, 342, 355 Baudelaire, Charles 10, 157–158, 165, 175, 183, 187, 194, 203, 205, 210–214, 217, 219–220, 222, 313, 319, 343, 346, 355 Benjamin, Walter 12, 17, 21, 23, 32–33, 44, 58, 88, 128, 139, 311 Billy, André 283, 291 Bloy, Léon 185, 188–190, 219, 221 Boccioni, Umberto 277–278, 280, 291 Boileau, Nicolas 98 Bon, François 339 Bonaparte, Napoléon 293 Bracciolini, Poggio 2, 122 Breton, André 185, 219, 221 Buonarroti, Michelangelo 120 Burke, Edmund 111, 115, 117 Burnet, Thomas 132 Camus, Albert 294–296, 303–307 Caro, Rodrigo 5 Carrà, Carlo 277, 291 Castiglione, Baldassare 4–5 Certeau, Michel de 89–90 Charlot, Edmond 294, 296–297 Chassériau, Théodore 18, 141–161, 164–168

https://doi.org/10.1515/9783110757811-016

Chateaubriand, François-René de 7, 18, 117– 118, 130–135, 137–140, 206, 296, 300, 306, 342 Cicero 2, 54, 57, 61 Cola di Rienzo 122 Colonna, Giovanni 15, 30–31, 34, 122 Curtius, Ernst Robert 170, 182 d’Alembert, Jean Baptiste le Rond 94–95, 98–99, 114, 124, 138 David, Jacques-Louis 18, 148–149, 156, 158 Del Marle, Aimé Félix Mac 273 Delaunay, Robert 280, 287 della Valle, Pietro 98 Diderot, Denis 5–6, 12, 17–18, 21, 93–116, 124, 134, 136, 138–139, 313 Diodor von Sizilien 299 Doré, Gustave 110, 196, 223 Du Bellay, Joachim 4–5, 21–22, 24, 63, 166, 221, 258 Ercilla, Alonso de 17, 65, 68–71, 73, 76–92 Esther, Buch Esther 19, 214–217, 220 Flaubert, Gustave 8–9, 21–22, 204, 220, 222 Foucault, Michel 170, 174–175, 182 Frémiet, Emmanuel 318, 331 Franklin, Albert 21, 309–310, 312, 314–319, 327–331 Friedrich, Caspar David 10, 50, 108, 295, 311, 332, 339, 355 Gérôme, Jean-Léon 18, 148, 150–156, 158, 160, 168 Gaius Gracchus 300 Gaius Marius 300 Gallone, Carmine 303 Ganivet, Ángel 20, 241, 244, 249–255, 258, 260, 262, 268–269 Gautier, Théophile 9, 13, 19, 22, 144, 150, 152, 155–158, 160, 162, 165–166, 187–188, 195, 197–198, 200–201, 204, 210, 215, 217–218, 220, 223

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Autorenindex

Gibbon, Edward 18, 99, 117–124, 130, 137–140 Gorki, Maxim 232, 238 Gourmand, Pablo 233, 238 Grainville, Jean-Baptiste Cousin de 6, 123, 137 Grenier, Jean 294–300, 303, 306 Grimm, Friedrich Melchior 101, 108 Guibert, Armand 294–296, 299–300, 306– 307 Hadrian 297–298 Hannibal 300 Haraucourt, Edmond 310 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 12, 14, 22, 226 Heine, Heinrich 352 Heinse, Wilhelm 113 Heredia, José-Maria de 18, 141, 143, 159–165, 167–168 Hoffmann, E.T.A. 352 Hugo, Victor 7, 22–23, 115, 130, 139, 169, 192–193, 203, 206–207, 210, 215, 217, 220–222, 292, 312–313, 332 Humboldt, Alexander von 350, 352 Hume, David 121, 127, 138 Huysmans, Joris-Karl 8, 19, 185–190, 193– 194, 196–201, 203–204, 206, 210–211, 213–215, 217–222 Ingres, Jean-Auguste-Dominique 18, 142–144, 148–151, 155–156, 158, 168 Jaucourt, Louis de 94–95, 98 Jean Paul 113 Kafka, Franz 352 Kierkegaard, Søren 350–352, 355 Kropotkin, Peter Alexejewitsch 232, 234, 238 Léry, Jean de 73, 89–90, 92 Lévi-Strauss, Claude 17, 65–69, 71, 75–76, 88–92 Lamartine, Alphonse de 130, 169, 192, 206, 220 Las Casas, Bartolomé de 17, 71–79, 81, 83– 84, 87, 89–91, 245

Le Bas, Philippe 94–95 Le Roy, Julien-David 94–95 Leconte de Lisle, Charles Marie René 161–162, 165 Leopardi, Giacomo 163 Lessing, Gotthold Ephraim 97 Lorrain, Claude 97, 329 Luben, Donato 233, 238 Lucan 71, 92 Métail, Michèle 338–339, 355–357 Machado, Antonio 20, 241, 244, 249, 255– 260, 267–268, 270 Maeztu, Ramiro de 20, 241, 244, 249, 253, 261–270 Mallarmé, Stéphane 185, 215, 220, 285, 291 Marinetti, Filippo Tommaso 10, 20, 181, 265, 271–283, 286–287, 289–292 Martinez Rizo, Alfonso 226–227 Martini, Simone 48 Mazois, Charles François 144, 146–147, 153, 167 Medrano, Francisco de 5 Menéndez Pidal, Ramón 256 Menéndez y Pelayo, Marcelino 256, 270 Mercier, Louis-Sébastien 6, 313–314 Modiano, Patrick 311, 331 Montaigne, Michel de 295, 307 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat 98, 128, 181 Montseny, Federica 233, 235–236, 238 Moritz, Karl Philipp 113 Mortier, Roland 9, 23, 95–96, 100, 107, 110, 115, 131, 135, 137, 139, 206–207, 222, 282, 292, 310–312, 330, 332 Mussato, Albertino 30 Musset, Alfred de 7, 22, 162–163, 165 Mussolini, Benito 265, 302, 306 Nero 81 Neruda, Pablo 16, 22 Ortega y Gasset, José 248, 255 Palmier, Jean-Michel 337, 339, 355 Pannini, Giovanni Paolo 5, 95–96

Autorenindex

Pausanias 2 Petrarca, Francesco 2–3, 15–17, 24–63, 68, 116, 120, 122, 139, 183 Piranesi, Giovanni Battista 5, 95–96, 100 Poe, Edgar Allan 19, 187, 195, 210–214, 218, 220–222, 354 Polybios 117, 140 Poussin, Nicolas 97, 171–172, 183, 345 Praz, Mario 187, 208, 222 Proust, Marcel 313, 329 Quevedo, Francisco de 5 Réda, Jacques 21, 309, 312, 314, 319–322, 324–332 Raulet, Gérard 5, 12, 23, 100, 104, 111, 115, 236, 239, 283, 292, 311, 332 Ravoisié, Amable 294, 307 Rimbaud, Arthur 19, 169, 171–174, 176–177, 180–183 Robbe-Grillet, Alain 21, 335–336, 340, 344, 346–357 Robert, Hubert 5–6, 18, 95–96, 100–105, 107– 116, 123, 126, 136, 312–313, 318, 333 Robin, Régine 339 Rosenkranz, Karl 102, 202–203, 210, 220, 222 Rousseau, Jean-Jacques 91, 112, 329 Russolo, Luigi 277, 291 Saint-Pierre, Bernardin de 6, 21 Schlegel, Friedrich 117, 138 Senancour, Étienne Pivert de 130 Severini, Gino 277 Shelley, Percy Bysshe 125

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Simmel, Georg 12, 22, 104, 116, 134, 138, 140, 144–145, 168, 303, 307, 311 Simon, Claude 21, 335–336, 340–346, 348– 349, 351, 354–357 Soffici, Ardengo 280 Speer, Albert 10, 24, 116, 123, 140 Staël, Germaine de 113, 336–337, 355 Sterne, Lawrence 109 Theokrit 170 Thomas von Aquin 28, 51, 61 Thukydides 1–2, 22 Trier, Lars von 10, 22 Unamuno, Miguel de 228, 251, 254–255 Valéry, Paul 297, 306 Vasi, Giuseppe 96 Vergil 35, 48, 71, 80, 163, 170 Verlaine, Paul 185, 322 Vernet, Joseph 96, 100, 106, 111–112 Vico, Giambattista 117, 139 Villiers de l’Isle-Adam, Auguste 185, 194, 208, 219–221 Volney, Constantin François 14, 16, 18, 110, 115, 117–118, 124–131, 133, 136–139 Voltaire 134, 140, 321–322, 352 Wajsbrot, Cécile 339, 355 Wood, Robert 98, 116, 137 Zola, Émile 9, 19, 22, 169–171, 175–183, 185– 186, 189–190, 204–205, 220, 313, 322