Ästhetik des Chaos in der Karibik: »Créolisation« und »Neobarroco« in franko- und hispanophonen Literaturen [1. Aufl.] 9783839425084

Caribbean literature undermines the narrative of the knowing (white, colonial) subject. Natasha Ueckmann's literary

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German Pages 584 Year 2014

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Table of contents :
Meinen Söhnen Dion und Noa gewidmet.
Inhalt
I. Einleitende Überlegungen
1. »Le Monde revient«
II. TRANSDISZIPLINÄRES THEORIENETZ
1. Hybriditätstheorien im anglo-, hispanound frankophonen Diskurs
2. Barock, Neobarock und (Post-)Moderne
3. Dekolonialisierung des Imaginären: Kontrapunktische Produktion von Kreolisierung und Neobarock
III. ÄSTHETISCHE HYBRIDISIERUNGEN
1. Neobarock und Geschichtstrauma
2. Neobarock und Ellipse
3. Spiralisme und Chaos
4. Créolisation und Geschichtstrauma
5. Créolisation und Migritude
IV RESÜMEE: CHAOS-MONDE – VOM CHAOS ZUR WELT
1. Ausuferndes Erzählen und barockes Netz
2. Narrative Herausforderungen
Worte des Dankes
Literatur
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Ästhetik des Chaos in der Karibik: »Créolisation« und »Neobarroco« in franko- und hispanophonen Literaturen [1. Aufl.]
 9783839425084

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Natascha Ueckmann Ästhetik des Chaos in der Karibik

Lettre

2014-07-30 14-49-47 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03ae373140770816|(S.

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4) TIT2508.p 373140770824

Natascha Ueckmann lehrt Romanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Bremen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Karibik- und Diasporaforschung, Gedächtnisforschung und Transmedialität, aktuelle Literatur- und Kulturtheorien, Gender Studies sowie die Rezeption der Aufklärung im transatlantischen Raum. Sie ist eine der Sprecherinnen des Instituts für Postkoloniale und Transkulturelle Studien (INPUTS).

2014-07-30 14-49-47 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03ae373140770816|(S.

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Natascha Ueckmann

Ästhetik des Chaos in der Karibik »Créolisation« und »Neobarroco« in franko- und hispanophonen Literaturen

2014-07-30 14-49-47 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03ae373140770816|(S.

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4) TIT2508.p 373140770824

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universität Bremen und des Instituts für Postkoloniale und Transkulturelle Studien. Die Studie wurde ausgezeichnet mit dem Elise Richter-Forschungspreis des Deutschen Romanistenverbandes.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Christopherblack30, Wikimedia Commons, lizensiert unter CreativeCommons-Lizenz by-sa-3.0-de, URL: http://commons.wikimedia.org/wiki/File:The_monument_staircase.jpg Lektorat: Natascha Ueckmann Satz: Marc Dauen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2508-0 PDF-ISBN 978-3-8394-2508-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2014-07-30 14-49-47 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03ae373140770816|(S.

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Meinen Söhnen Dion und Noa gewidmet.

»Tout est à partager et rien n’est partageable.« EDMOND JABÈS: LE LIVRE DU PARTAGE, 1987

»Et si nous voulons partager la beauté du monde, si nous voulons être solidaires de ses souffrances, nous devenons apprendre à nous souvenir ensemble.« ÉDOUARD GLISSANT: UNE NOUVELLE RÉGION DU MONDE. ESTHÉTIQUE I, 2006

»Slavery broke the world in half, it broke it in every way. It broke Europe. It made them into something else, it made them slave masters, it made them crazy. You can’t do that for hundreds of years and not take a toll. They had to dehumanize, not just the slaves but themselves.« TONI MORRISON: LIVING MEMORY, 1993

»Wer die seelische Innenansicht der Versklavung in Worte fassen will, darf die Grenzen der Sprache nicht achten.« TONI MORRISON: »VORWORT« ZU MENSCHENKIND, 2007

Inhalt I EINLEITENDE ÜBERLEGUNGEN »Le Monde revient« | 13 1.1 »L’humanité-à-venir«: Postkoloniale/Postmoderne Weltliteraturen, Kanon und Ethik | 13 1.2 Karibik als Wissensproduzent | 29 1.3 »La querelle avec l’Histoire« | 50 1.4 Wissensvernetzung und nomadisierende Begriffe als Methode | 56 1

II TRANSDISZIPLINÄRES THEORIENETZ 1

Hybriditätstheorien im anglo-, hispanound frankophonen Diskurs | 69

1.1 Transitorische Identitäten: »[…] toutes les ›bâtardises possibles‹« | 71 1.2 Etymologischer Aufriss: Hybride und Mestizen | 74 1.3 Ansätze einer dekolonialen Science-monde | 76 1.4 Tout-monde und Transozeanität: Von der Peripherie zur Peripherie | 133 Barock, Neobarock und (Post-)Moderne | 147 2.1 Barock: ein konzeptuelles Babel? | 147 2.2 Go-Between: Barock, Neobarock – EuropAmerika | 152 2.3 Europäische Barockkonstruktionen | 159 2.4 Neobarocke Strategien | 167 2

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Dekolonialisierung des Imaginären: Kontrapunktische Produktion von Kreolisierung und Neobarock | 193

III ÄSTHETISCHE HYBRIDISIERUNGEN – 1

Reinaldo Arenas: Neobarock und Geschichtstrauma | 209

1.1 Aufklärung der Aufklärung: El mundo alucinante | 211 1.2 Reescritura eines Nationalmythos: La loma del ángel | 230 2

Edgardo Rodríguez Juliá: Neobarock und Ellipse | 253

2.1 Puerto Rico: »postcolonial colony« und Nación postmortem | 253 2.2 Zur nueva historiografía des Edgardo Rodríguez Juliá | 256 2.3 Crónica de Nueva Venecia: Die apokryphe Geschichte Puerto Ricos | 264

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Jean-Claude Fignolé: Spiralisme und Chaos | 311

3.1

Haiti – von der ersten ›schwarzen Republik‹ zum »pays naufragé« | 311 3.2 »esthétique du délabrement«: zum haitianischen champ littéraire | 324 3.3 Verflüssigte Narration bei Jean-Claude Fignolé | 337

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Édouard Glissant: Créolisation und Geschichtstrauma | 357

Sich einschreiben in eine littérature-monde | 357 Literatur als Anamnese der karibischen Gesellschaft | 363 »Une œuvre en archipel«: Narrative Strategien | 366 Doppelungen und Supplementarität in La Case du commandeur, Sartorius und Ormerod | 401 4.5 Chaos-monde oder »une unité explosée« | 446

4.1 4.2 4.3 4.4

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Gisèle Pineau: Créolisation und Migritude | 451

Wanderin zwischen den Welten | 451 Créolisation au féminin und kreolisches Exil | 452 »De la blessure à sa cicatrisation, du cyclone à la reconstruction«: Weibliche Beziehungsnetze und Heilungsnarrative | 459 5.4 Weiblicher Körper, Gewalt und Sprache | 486

5.1 5.2 5.3

IV RESÜMEE : CHAOS -MONDE – VOM CHAOS ZUR WELT 1

Ausuferndes Erzählen und barockes Netz | 495

1.1 Von Spuren und Narben | 495 1.2 Postkoloniale Strategien der Erinnerung: Kreolisierung und Neobarock | 502 1.3 In der Schwebe – zwischen Insel und Tout-monde | 504 1.4 Gender und Gewalt | 507 2

Narrative Herausforderungen | 511

2.1 2.2

Trauma und Narration | 511 Zersplitterte Welten und Familiengenealogien | 514

Worte des Dankes | 519 Literatur | 521

I Einleitende Überlegungen

1 »Le Monde revient« »J’ai pris conscience de l’importance du phénomène du chaos […], que le chaos était une constante et non une exception, que les lueurs de rationalité étaient des exceptions.« FRANKÉTIENNE IN EINEM INTERVIEW, 1998

1.1 »L’ HUMANITÉ - À - VENIR «: P OSTKOLONIALE /P OSTMODERNE W ELTLITERATUREN , K ANON UND E THIK Wirft man einen Blick in das Feuilleton oder den Wissenschaftsbetrieb, gewinnt man den Eindruck, dass Postkoloniale Studien als Querschnittsthema nicht mehr wegzudenken sind.1 Mit ihnen ist eine Weltliteratur im Kanon der Philologien angekommen und die Kanondiskussion wendet sich vermehrt außereuropäischen Literaturen zu, wobei sich die westliche Literaturkritik von Theorien inspirieren lässt, die von Geisteswissenschaftler/innen in und aus den so genannten ›Rändern‹ entworfen werden.2 Die Literatur- und Kulturwissenschaften sind zunehmend einer Migrationsbewegung ausgesetzt, die sie von Grund auf verändern. Die Schreibweisen der Migration sind transkulturell, denn Kultur wird in einem kritischen Sinn transzendiert, sprich Zwänge jeglicher kultureller Repräsentation werden aufgegriffen und unterlaufen.3 Eine postkoloniale Perspektive ist keine einheitliche Theorieschule – es besteht weder Einigkeit in Bezug auf ihren Gegenstand noch auf ihre Methoden –, dennoch ist ihr gemein, dass sie über die Dekonstruktion von Essentialismen und Ordnungsmustern einen kritischen Kontrapunkt zu dominierenden europäischen Modernitäts-

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Vgl. Döring: 2009 und z.B. Schlüsselwerke der Postcolonial Studies (2012) von Reuter/ Karentzos. Exemplarisch sei auf die multimedialen Zeitschriften Les Périphériques vous parlent (http://www.lesperipheriques.org) oder multitude. revue politique, artistique, philosophique (http://multitudes.samizdat.net) hingewiesen. Vgl. den Band Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur (2009) von Ezli/Kimmich/Werberger.

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konzepten setzt und von einer kontextsensiblen Literaturkonzeption ausgeht.4 Postkoloniale Studien entwickeln durch ihre kritisch-dekonstruktivistische Analyse westlicher Strukturen der Macht und des Wissens eine neue Form der Gesellschaftsanalyse. Der Begriff hat zunächst eine heuristische Funktion, insofern er unterschiedliche Analyseverfahren zusammenfasst. Wie Françoise Vergès schreibt, referieren postkoloniale Theorien nicht auf eine »nouvelle espérance ou la promesse d’une explication totalisante«5, es handle sich vielmehr um ein Werkzeug unter anderen, die es dem ›Werkzeugkasten‹ hinzuzufügen gelte. Achille Mbembe spricht von einer »pensée à plusieurs entrées«6, denn postkoloniales Denken verdanke sich gleichermaßen antikolonialen, anti-imperialen Kämpfen sowie okzidentaler Philosophie und europäischen Humanities. Mbembe betont die innovative epistemologische Kraft dieses Denkens: »[…] le courant postcolonial est parvenu à décentrer le questionnaire des humanités. Grâce à son insistance sur le pluralisme culturel et épistémologique, son syncrétisme antisystématique, ses synthèses créatives, son recours à des méthodes hybrides, voire ses contresens généralement intelligents et féconds, il a permis l’installation, au cœur même de l’académie, d’autres questions et d’autres savoirs.«7

Dank ihrer anvisierten Standortbestimmung sind Postkoloniale Studien mit ethischmoralischen Fragen verknüpft, insofern »la pensée postcoloniale insiste sur l’humanité-à-venir«8: »la pensée postcoloniale est également une pensée du rêve: le rêve d’une nouvelle forme d’humanisme – un humanisme critique qui serait fondé avant tout sur le partage de ce qui nous différencie, en deçà des absolus. C’est le rêve d’une polis universelle parce que métisse.«9 Wir haben es mit einem »Denken auf einer mentalen Grenze«10, einem Epistemische[n] Ungehorsam11 zu tun. Im Falle der Literatur- und Kulturwissenschaft zielt dies auf eine ästhetische Überwindung kultureller Inferiorisierung und einer absoluten Alterität, wie sie der koloniale Diskurs instauriert hatte. Die Verschränkung von ökonomischer und diskursiver Macht wird verstärkt in den Blick genommen. Bestehende Ordnungen wie Zentrum/Peripherie werden als ein Ergebnis machtgestützter Textarbeit wie textgestützter Machtarbeit entlarvt.12 Postkoloniale Studien überschreiten postmoderne Ansätze, sofern Letztere die konstitutive Rolle von Kolonialismus, Imperialismus und den damit einhergehenden Rassismen für das Zustandekommen der hegemonialen Moderne nicht erkennen und

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Zu den gedanklichen Grundlagen und zum Methodenpluralismus der postkolonialen (romanistischen) Literaturwissenschaft vgl. Febel: 2012. 5 Vergès: 2008, 278. 6 Mbembe: 2008, 1. 7 Ebd., 7. 8 Ebd., 2. 9 Ebd., 12. 10 Broeck: 2012, 174. 11 Mignolo: 2012. 12 Vgl. Döring: 2009.

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in der ›kolonialen Bibliothek‹ gefangen bleiben. Aber wie sind Postmoderne/Postkoloniale Theorie und Ethik überhaupt vereinbar? Wie kann radikale Pluralität, Widersprüchlichkeit und Ambivalenz mit ethischem, also eindeutigem Handeln zusammen gedacht werden? Postmoderne/Postkoloniale Theorie rechtfertigt sich als Kritik der Monologisierung der Geschichte der westlichen Moderne und ist nicht unbedingt als Postulat einer positiven Ethik zu verstehen, auch wenn die Idee eines solidarischen Buen vivir als sozio-ökonomische Alternative gerade in lateinamerikanischen dekolonialen Ansätzen stark gemacht wird.13 Vergleichbar sind auch jene humanistischen Entwürfe und Anerkennungsforderungen im Kontext eines Vivre ensemble,14 eines ZusammenLebensWissen[s] 15 oder einer pluralen, postnationalen Convivial Culture, die jenseits der üblichen Zuschreibungen wie Hautfarbe, Herkunft oder Geschlecht operieren.16 Les Convivialistes haben 2013 das Manifeste convivialiste herausgegeben, welches sich für eine neue Kunst des Zusammenlebens (con-vivere) stark macht. Bereits das Anliegen, andere, plurale Geschichten der Moderne zu erzählen, enthält m.E. den notwendigen moralischen Impuls der Kritik. Die Öffnung neuer Äußerungsorte in der Literatur durch Kreolisierung, Hybridisierung und Dekolonialisierung markieren »une véritable éthique de l’écriture«17. Es geht um nichts weniger als um eine »radikale Loslösung vom westlichen Denken«; ein Prozess, der, so Sabine Broeck, nur denkbar sei in Form einer »Zusammenballung […] radikaler pluriversaler Bewegungen von den sogenannten Rändern […], die dadurch zum Motor und Ausgangspunkt programmatischer Formationen gesellschaftlicher Alternativen jenseits der immanent westlich-modernen Fantasie der Aufklärung, der ›Kritischen Theorie‹ und der postmodernen Reflektionen werden.«18

In der vorliegenden Studie, die sich der Literatur der Franko- und Hispanokaribik widmet, werden Formen der Zugriffe auf Vergangenheit in der Postmoderne und unter komplexen kulturellen und ästhetischen Bedingungen der postkolonialen Situationen hinterfragt, hat doch die Postmoderne mit ihrer radikalen Infragestellung dichotomer Denk- und Diskursmuster die Voraussetzungen eines postkolonialen Blicks

13 Vgl. Marañon: 2012. 14 Vergès/Marimoutou: 2005, 7, 14, 21f, 54f., Vergès: 2013b und Marimoutou: 2012, 8. Ferner für den maghrebinischen Kontext vgl. Triki: 1998 und 2011. 15 Ette: 2010. 16 Vgl. Gilroy: 2004. 17 Simon: 1999, 59. Das Manifeste pour les ›produits‹ de haute nécessité (2009), ausgelöst durch den Generalstreik auf Guadeloupe und Martinique, und zu dessen Unterzeichnern auch Glissant und Chamoiseau gehören, wendet sich gegen jede Form einer »épuration éthique (entendre: désenchantement, désacralisation, désymbolisation, déconstruction même) de tout le fait humain«. 18 Broeck: 2012, 172.

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mitbefördert.20 Die ausgewählten Romane weisen formale wie thematische Merkmale des postmodernen Romans auf. Die Autoren sind mit poststrukturalistischer Theorie vertraut, kommen aber nicht unbedingt zu den gleichen radikalen bzw. relativistischen Schlussfolgerungen. Dennoch lassen sich die Romane vor dem Hintergrund dieser Theorien interpretieren, da sie diese aktiv aufgreifen und dezentrieren. Nicht zufällig rekurrieren karibische Schriftsteller auf diejenige postmoderne Philosophie, »die als eine der extremsten Ausformulierungen der Kritik an den Gründungsmythen der westlichen Wissenschaftstradition gesehen werden kann«21. Insbesondere die Konzeption der Differenz innerhalb des Postkolonialismus leitet sich vom Poststrukturalismus ab. Derridas Theorem der différance impliziert eine Erschütterung und Irritation des Diskurses, der nicht in Polaritäten wie Eigenes/Anderes, Subjekt/Objekt, Mann/Frau, Schwarz/Weiß, Zentrum/Peripherie komplett aufteilbar ist.22 Die besondere Beziehungsfähigkeit der karibischen Kulturen verweise, so Schwieger Hiepko, nicht auf ein territorial verankertes Subjekt; dieses westliche Modell könne die Entfremdung des verschleppten Subjekts nicht kurieren.23 In meiner Untersuchung geht es um die ästhetische und ethische Suche nach einer multiplen différance sowie um Berührungspunkte zwischen klassen- und geschlechtsspezifischen, ethnischen und sprachlichen Differenzen. Différance wird demnach, wie an anderer Stelle formuliert, »zu einer immanenten Kategorie, die Kulturen als in sich different denkt und Kulturkontakte als querende Prozesse von Dynamik, Verhandlung und Resistenz beschreibbar macht«.24 Différance ist somit jeder Identität vorgängig und begründet sie erst. Die Fremdheit im eigenen Ich lässt uns,

20 In Schlüsselwerke der Postcolonial Studies tauchen als theoretischer Bezugsrahmen u.a. maßgebliche französischsprachige Denker wie Derrida, Deleuze/Guattari, Foucault und Lacan auf, vgl. Reuter/Karentzos: 2012. 21 Schwieger Hiepko: 2009, 26. 22 Derrida entwickelt in La Dissémination (1972) eine Logik der »Supplementarität«, d.h. der Ergänzung, die für das Fehlen des Ursprungs oder Zentrums eintritt: »La reconnaissance d’un moi pluriel, issu d’une négociation permanente entre l’origine et la culture dominante et l’examen de son expression littéraire, constitueraient une nouvelle direction des études postcoloniales« (Moura: 1999, 155). Derridas différance bricht mit der Idee einer präexistenten, ontologischen und essentiellen Welt, die diskursiv dargestellt werden kann. Die Unvollständigkeit der Repräsentationen liegt in der Sprache selbst begründet, da Signifikant und Signifikat niemals vollständig übereinstimmen. Die différance bezieht sich auf den Rest, die Sinnlücken, den Bedeutungsüberschuss, der mittels binärer Differenzierungen nicht erfasst werden kann. Die soziale Realität wird erst durch Sprache konstituiert. Eine Essenz hinter dem Zeichen, die aktualisiert und innerhalb der Sprache präsent gemacht werden kann, bezweifelt Derrida, vgl. Derrida: 2004. Hier trifft man erneut auf die zwei Reflexionsachsen, die zugleich auf zwei Typen von Geisteswissenschaften rekurrieren. Der Erste sucht nach einem Ursprung, nach der Wahrheit hinter den Repräsentationen, der Zweite ist dekonstruktivistisch und spricht lieber von Identifizierungen als von Identität. 23 Vgl. Schwieger Hiepko: 2009, 203. 24 Febel/Struve/Ueckmann: 2007, 10.

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wie Julia Kristeva es formuliert hat, zu »étrangers à nous-mêmes« werden, »et c’est à partir de ce seul appui que nous pouvons essayer de vivre avec les autres« 25. Grundlage des Vergleichs ist die allen Romanen gemeinsame postmoderne Ausrichtung, bei der deutlich wird, dass die Erfahrung von Unbestimmtheit, Fragmentierung und Mehrsinnigkeit zu einem neuen Selbstverständnis geführt hat. Die postmoderne Vorstellung einer Pluralisierung von Lebenswelten und Identitäten bietet gerade bislang marginalisierten Gruppen neue Spielräume. Wobei postkoloniale Autorinnen und Autoren in einem anderen Funktionszusammenhang stehen, denn ihre Skepsis bezüglich der Tragfähigkeit des Subjektbegriffs ist anders zu verorten. Die postmoderne Krise des Subjekts und der Geschichte, sprich die Infragestellung der aufklärerischen Vorstellung von Einheit und Abgeschlossenheit, ist keine postkoloniale Krise. Postkoloniale Autoren müssen sich erst die ihnen vorenthaltene Geschichte und Subjektivität aneignen, bevor ihnen diese Begriffe unter epistemologischen Gesichtspunkten kritisch werden können. Erfahrungsgemäß tun sie beides gleichzeitig. Die Werke von Schriftsteller/innen aus den kulturellen ›Rändern‹ markieren das Eindringen bislang marginaler Kulturen in die westliche Erfahrung und es entstehen widerständige »littératures de l’intranquillité«26. Zahlreich sind die Konzepte: »poétique du décentrement«27, »poétique de l’hétérogène«28, »poétique de l’errance«29 oder »poétique de renversement«30. Der expatriierte Haitianer Joël Des Rosiers begründet ein »Manifeste pour une poésie impure, même l’ex-île«31. Stuart Hall spricht von einer diasporischen Ästhetik des »cross-over« und »cut-and-mix«.32 Diese Begriffe beschreiben in emphatischer Weise das Originelle an einer neuen, postkolonialen Weltliteratur; in kritischer Fortführung dessen, was Deleuze und Guattari mit ihrem Begriff der littérature mineure bereits 1975 zu fassen versuchten: »Une littérature mineure n’est pas celle d’une langue mineure, plutôt celle qu’une minorité fait dans une langue majeure. […] Les trois caractères de la littérature mineure sont la déterritorialisation de la langue, le branchement de l’individuel sur l’immédiat-politique, l’agencement collectif d’énonciation. Autant dire que ›mineur‹ ne qualifie plus certaines littératures, mais les

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Kristeva: 1989, 250. Fonkoué: 2006, 149. Grassin: 1999, 306. Ebd., 303. Gauvin: 1999. Hess: 2006. Des Rosiers: 1996, 65-69. Er definiert sich selbst wie folgt: »Je suis un homme de déracinement comme valeur de la modernité. Le déracinement autorise l’hybridation, le métissage et l’ouverture aux autres. Mais si je suis un homme de déracinement, je suis en revanche tout à fait enraciné dans les traces et dans la mythologie de la culture. Mon déracinement est un bel exil: j’ai dans la tête une île errante et c’est un dé qui roule vers sa chance.« (Ebd., 165f.) 32 Hall: 1994, 402.

18 | I E INLEITENDE Ü BERLEGUNGEN conditions révolutionnaires de toute littérature au sein de celle qu’on appelle grande (ou établie).«33

Bei Deleuze/Guattari bedeutet das Auftauchen »kleiner Literaturen« sich für die Stimme des Anderen und die identitäre Zerplitterung zu öffnen: »Wörterflucht. Se servir du polylinguisme dans sa propre langue, faire de celle-ci un usage mineur ou intensif, opposer le caractère opprimé de cette langue à son caractère oppresseur, trouver les points de non-culture et de sous-développement, les zones de tiers monde linguistiques par où une langue s’échappe […].«34 Eine derartige littérature mineure geht von De- und Reterritorialisierungen von Sprachen und Literaturen aus: »savoir créer un devenir-mineur«.35 Es geht auch um Hybridisierungen, Zerstreuungstendenzen, sich überlagernde Referenzsysteme und querlaufende Kräfte innerhalb einer idealtypischen Modernevorstellung. Nicht nur Reformation, Aufklärung und Französische Revolution sind freilich konstitutiv für moderne Subjektivität. Die ›Entdeckung‹ Amerikas muss in den Moderneprozess mit einbezogen werden, denn gerade Lateinamerika und die Karibik seien »the ›other-face‹ [teixtli, in Aztec], the essential alterity of modernity«, so der in Argentinien geborene und in Mexiko lehrende Philosoph Enrique Dussel: »the experience not only of ›discovery‹ but especially of ›conquest‹ is essential in the constitution of the modern ego, not only as subjectivity per se but as subjectivity that is the ›center‹ and ›end‹ of history.«36 Kleine Literaturen markieren am Ende keine Randposition, sondern eine Art Avantgarde.37 Deleuze/Guattari formulieren gegenüber der Kanonbildung subversive Strategien, Foucault entwickelt ein strategisch-produktives Machtverständnis,38 welches García Canclini mit dem Begriff der »schrägen Mächte« für Lateinamerika weiterdenkt.39 Und Derrida macht die Sinnstreuung in einem binären und hierarchischen Denken sichtbar.

33 Deleuze/Guattari: 1975, 29-33. Zu den Unterschieden in der Bedeutung des Begriffs der »kleinen Literatur« bei Kafka und der »littérature mineure« bei Deleuze/Guattari vgl. Kamecke: 2002. 34 Deleuze/Guattari: 1975, 49. 35 Ebd., 50. 36 Dussel 1995: 74. 37 Dabei darf man nicht aus den Augen verlieren, dass aufgrund einer starken Diskrepanz von Produktion und Rezeption von frankokaribischer Literatur – bedenkt man, dass der Literaturbetrieb ohne den Umweg über Paris meist nicht funktioniert; dort muss ihre literarische Kleinheit in literarisches Kapital umgemünzt werden – vor Ort selbst nicht unbedingt ein kollektives Aussagegefüge entsteht, was dem literarischen Text eine noch stärkere politische Bedeutung verleihen könnte. Gernot Kamecke weist darauf hin, dass für Deleuze/Guattari die Beziehung zwischen der Produktion der kleinen Literatur und ihrer unmittelbaren Rezeption einer der wesentlichen Berührungspunkte zwischen dem Literarischen und Politischen war, vgl. Kamecke: 2002, 269. 38 Vgl. Foucault: 1978. 39 Vgl. Canclini: 2001b. Hier ließe sich auch der Begriff der Multitude diskutieren. Gemeint sind damit Formen globaler Subpolitik, wie sie den Einflussmöglichkeiten (inter)-

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Aufgrund der engen Verbindung zwischen Stimme und Selbstbestimmung beginnt die kulturelle Dekolonialisierung nicht selten mit der Entwicklung und Behauptung eigener ›indigener‹ Sprachvarietäten. So bietet z.B. das Kreol in der Frankokaribik – Territorien, deren nationale Identität von hegemonialen Nationen wie Frankreich oder den USA fremdbestimmt wird – als Sprache des Alltags und der oralen Memorialkultur, einen möglichen Zielpunkt der Reterritorialisierung für die kreolische Sprachgemeinschaft und zugleich Möglichkeiten subversiver Verweigerung und kreativer Modifizierung des dominanten Diskurses.40 Mittels der so etablierten Hybridisierung und Heteroglossie im Sinne Bachtins wird die monologisch ausgerichtete Sprache der dominanten Kultur dialogisiert und letztlich dehierarchisiert. Wobei nicht vergessen werden darf, dass die kreolische Sprache als eine Sprache der Sklaverei selbst ein Produkt des Kolonialismus ist. Die Verwendung des Kreols als Ausdruck der Wiedererlangung eigener Kultur – welche sich mit der Plantagenwirtschaft entwickelt hat – ist somit durchaus problematisch. Sowohl das mündlich gesprochene Kreol als auch das Französische sind zwei von außen herangetragene, aufgezwungene Sprachen, wie Glissant resümiert: »Je suis d’un pays où se fait le passage d’une littérature orale traditionnelle, contrainte, à une littérature écrite, non traditionnelle, tout aussi contrainte. Mon langage tente de se construire à la limite de l’écrire et du parler […].«41 Zwar wird in den Romanen in der Regel die ehemalige Kolonialsprache verwendet, doch unterlaufen die Schriftsteller/innen sie zugleich, indem sie sie durch den gezielten Einsatz afrikanischer oder kreolischer Elemente modifizieren. Durch kreative Sabotage der fremden Sprache versuchen sie der Entfremdung des Sprechens zu begegnen.42 Versteht man Sprache und literarische Tradition als Machtinstrumente, mit der im Zuge der Kolonisation Konzepte von ›Wahrheit‹, ›Ordnung‹ und ›Realität‹ etabliert wurden, so sehen es gerade viele frankokaribische Literaten als ihre Aufgabe, die privilegierte französische Sprache in Frage zu stellen und sie für neue

nationaler »Liliputorganisationen« (Beck: 1997, 127) zukommen. Dazu gehören zivilgesellschaftliche, transnationale Initiativen bzw. NGOs, die Bewegung der Sans papiers oder die globalisierungskritische Organisation um Attac. Es handelt sich um weltumspannende Bürgerinitiativen, die auf eine Globalisierung von unten abzielen. Die Multitude konstituiert aktuell eine nicht-staatliche Öffentlichkeit, aus der mannigfache Formen der Selbstbestimmung und -organisation hervorgehen können. 40 Vgl. z.B. Éloge de la créolité (1989) von Bernabé/Chamoiseau/Confiant. 41 Glissant, zitiert als Motto in: Chamoiseau: 1988, 11. Aimé Césaire stufte Kreol als ungeeignet ein, um abstrakte Ideen auszudrücken, denn es sei nur eine mündliche Sprache (vgl. Kundera: 1991, 58). Die Verfasser des Éloge de la créolité bezichtigen Césaire auch der »hostilité à la langue créole« (Bernabé/Chamoiseau/Confiant: 1989, 17). 42 Chamoiseau versucht bspw. in Solibo magnifique an die Stelle des aussterbenden traditionellen conteur (einer der letzten Geschichtenerzähler, der an seinem eigenen Wort erstickt) den marqueur de paroles zu setzen, einen Schreiber, der die Gedächtnisspuren sammelt. Oder Simone Schwarz-Bart inszeniert in ihrem Roman Pluie et vent sur Télumée Miracle die letzte Repräsentantin einer ›königlichen‹ Dynastie von Frauen. Télumée Miracle oder der Chamoiseau’sche conteur verkörpern die im Verschwinden befindlichen kreolischen Traditionen.

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Funktionen umzugestalten. Das »français chamoisisé«43, ein aus der Reibung zwischen zwei Sprachen geborenes Idiom, ist ein Beispiel für eine neue Ausdrucksform. Alle hier behandelten Romane spielen zudem mit unterschiedlichen zeitgenössischen Erzählformen. Dieses Verfahren ist längst kein Unbekanntes mehr. Es ist zum Inbegriff einer postmodernen Kultur geworden, der es um die Grenzverwischung traditioneller Wertigkeiten, um ein Plädoyer für Pluralität geht. Statt mit métarécits – deren Destabilisierung und Zerfall Lyotard als Kennzeichen der Postmoderne bereits 1979 diagnostiziert und als Gewinn gewertet hat, da das Ende der jeweils einen großen Erzählung eine Vielfalt heterogener Wissensformen und Lebensweisen freisetzt44 – hat es die Transkulturalitätsforschung und das postkoloniale Theoriebild mit ›Erzählungen‹ oder ›Anekdoten‹ zu tun. Diese haben die gemeinsame Stoßrichtung, die master narratives der kolonisierenden westlichen Gesellschaften durch eine Praxis des writing back und anderer gegendiskursiver Praktiken infrage zu stellen und durch sichtbare Darstellungen auf ein Nicht-Sichtbares anzuspielen. Writing back meint nicht eine harmonische Synthese aus These (Eigenem) und Antithese (Fremdem), sondern, wie Jochen Dubiel treffend formuliert, »die Analyse der These durch die Antithese, welche die verleugnete ›Differenz‹ ersterer zutage fördert«45. Präfixe wie ›trans‹ und ›post‹ signalisieren ein Unbehagen an dem, was wir als Moderne qualifizieren, an der Idee einer Einheit der Geschichte und der Vorstellung einer Fortschrittsgeschichte, die zunehmend durch die ›dunkle Unterseite der Moderne‹ wie Sklaverei und Kolonialismus in Frage gestellt wird. Walter Mignolo spricht von drei Theoriezugängen, die auf ganz unterschiedliche Orte der enunciation verweisen: die Postmoderne, der Postkolonialismus und der Postokzidentalismus. Während postmoderne Theorien die Krise des Projekts der Moderne im Herzen Europas diagnostizieren (Foucault, Lyotard, Derrida u.a.), tun postkoloniale Theorien (Said, Bhabha, Spivak) dasselbe, aber aus der Perspektive eines ›Dazwischen‹.46 Bei aller Scharfsinnigkeit ist m.E. Mignolos weitgehende Ausblendung frankophoner Theoriebildung dennoch erstaunlich, spricht der Romanist Mignolo doch nur wenig, wenn überhaupt, über die afrikanischen bzw. frankokaribischen Intellektuellen wie Césaire, Damas, Senghor, Fanon, Memmi, Khatibi oder

43 Vgl. Kundera: 1991, 58f. 44 Vgl. Lyotard: 1999, 54. Lyotard schreibt: »Die Postmoderne ist keine neue Epoche, sondern das Redigieren einiger Charakterzüge, die die Moderne für sich in Anspruch genommen hat, vor allem aber ihre Anmaßung, ihre Legitimation auf das Projekt zu gründen, die ganze Menschheit durch die Wissenschaft und die Technik zu emanzipieren.« (Lyotard: 1988, 213) Sein Verständnis von Postmoderne steht im Kontext von Widerstreit statt großer Erzählungen: »Es sollte endlich Klarheit darüber bestehen, dass es uns nicht zukommt, Wirklichkeit zu liefern, sondern Anspielungen auf ein Denkbares zu erfinden, das nicht dargestellt werden kann [...] zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Widerstreite [...].« (Lyotard: 1999, 203) 45 Dubiel: 2007, 169. 46 Mignolos Unterscheidung zwischen ›Zentrum‹ und ›Peripherie‹ ist problematisch, denn geht nicht z.B. Derridas besondere Art zu denken auch auf seine maghrebinischen Erfahrungen zurück? Vgl. Derridas Essay Le Monolinguisme de l’autre.

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auch Glissant.47 Einen dritten Ort der enunciation verortet Mignolo schließlich in Lateinamerika; hier lasse sich ein dem Postkolonialismus vorgängiger ›postokzidentaler‹ Diskurs ausgehend, durch und für Lateinamerika vernehmen (Mariátegui, O’Gormann, Ortiz, Zea, Dussel, Retamar u.a.), der gerade ›indigenes‹ Wissen, welches nicht erst durch die ›weiße‹ Moderne gegangen ist, in den Vordergrund stellt.48 Dafür führt er den Begriff des Posoccidentalismo ein. Gerade die karibische Literatur ist hier aufschlussreich, formuliert sie doch eine Kulturtheorie, die sich aus mehrkulturellen Kontexten speist und als Schnittpunkt diverser lateinamerikanischer, franko-, hispano- oder anglophoner Diskurse fungiert, so dass sich ein transdisziplinäres Theorienetz entfaltet, dem in dieser Studie Rechnung getragen werden soll. Aber anders als in Mignolos Posoccidentalismo geht es im karibischen Raum nicht um ›Indiginität‹, denn karibische Kultur ist immer Ausdruck einer multiethnischen Gesellschaft kolonialen Ursprungs. Daher hält der aus La Réunion stammende und dort lehrende Intellektuelle Carpanin Marimoutou für die weltweiten »littératures des aires créoles« fest: »Les îles créoles […] sont Out of Place, un espace de rencontres asymétriques et violentes, mais aussi de production conflictuelle et négociée d’une culture commune créole habitée ou hantée par des traces multiples; d’un espace aussi où les ancêtres de chacun sont multiples et leurs descendants métis.«49 Wie Karen Struve für die littérature beur festgehalten hat, so lässt sich vergleichbar für die karibische Literatur konstatieren: Die transkulturelle Thematik und die Hybridität der Subjekte geht mit einer transkulturellen Schreibweise und einer fiktiven Subjektivität einher.50 Kulturelle Hybridität drückt sich mittels einer ästhetischen Hybridität, sprich mit der Überlagerung von Diskursen, Genres, Schreibweisen und Epistemologien aus. Wir haben dazu an anderer Stelle die Begriffe der écritures transculturelles oder der littératures transversales für den frankophonen Gegenwartsroman vorgeschlagen;51 Begriffe, die die Transgressionen und Dynamisierungen zwischen den Literaturen der Welt von den ›Rändern‹ her aufzeigen: »Die Metapher der ›querenden Literaturen‹ oder der ›littératures transversales‹ vermag diese Aspekte zu akzentuieren: Es geht um Literaturen, die sich nicht mehr in Nationalliteraturen

47 Gefunden habe ich nur einen Hinweis bei Mignolo, dass sein »border thinking« von Khatibis Konzepten »Pensée-autre« und »Double critique« inspiriert sei (Mignolo: 2000, 67), vgl. ferner Sieber: 2005, 164f. 48 Vgl. Mignolo: 1996. 49 Marimoutou: 2012, 15. 50 Der Begriff der diskursiven Identität bzw. Identitätsfiktion betont den performativen Aspekt und vermeidet problematische Implikationen von Dauer, Beständigkeit oder vermeintlicher Essenz. Dies ist auch eine der Grundannahmen zur Beur-Literatur, vgl. Struve: 2009, 283-315. Ein zentrales Ergebnis ihrer Studie, welches sich partiell auf den karibischen Kontext übertragen lässt, besteht darin, »dass das Schreiben wie ein Experimentierfeld und Versuchsraum der Identifikationen in der transkulturellen Situation der Beurs genutzt wird« (ebd., 311). 51 Vgl. unseren gemeinsamen Band Ecritures transculturelles, Febel/Struve/Ueckmann: 2007.

22 | I E INLEITENDE Ü BERLEGUNGEN einordnen lassen, genauso wenig aber im traditionellen Modell der klassischen Weltliteratur aufgehen, die also quer zum literarischen Kanon stehen. Es sind zudem Literaturen, die oft selbst über Grenzen hinweg wirken und rezipiert werden und gleichzeitig Bewegungen, also Überquerungen und Übersetzungen zum Thema haben. Nicht selten wirken sie als etwas Widerständiges: Sie verweigern sich einer Kategorisierung, sie verstören, befragen vermeintlich homogene Kulturen, Nationalsprachen, Kanonbildungen und schlichte Weltanschauungen und sind insofern oftmals ›unbequem‹. In der deutschen Lesart mag auch die Assoziation zu 52 ›queer‹, also das Moment der Geschlechterkonstruktion, hinzugedacht werden […].«

Das Konzept der écriture transculturelle verbindet das Konzept der Schrift im Sinne Derridas mit dem Diskurs der Transkulturalität und des Postkolonialismus. Es arbeitet die in der Literatur angesiedelten Mechanismen ästhetischer Brechung heraus, die in ihrer hybriden Mehrdeutigkeit schließlich zur Überwindung des kolonialen Blicks führen. Bei Romanen, die sich gegen (post-)koloniale Strategien der Ausbeutung und Unterdrückung wenden, haben wir es häufig mit einem ästhetischen Widerstand zu tun. Die écriture transculturelle fungiert als engagierte Schreibweise, die nicht abgekoppelt von ihrem historischen Erbe gedacht, geschrieben und gelesen werden kann. Karen Struve schlägt als Analysekategorie gerade für postkoloniale Literaturen das Derrida’sche Bild der Spuren vor: »Die [...] verwendete Metapher der Spur verweist nicht nur auf die Sehnsucht nach einer ›Geschichte‹, die den literarischen Subjekten einen (vermeintlichen) stabilen Platz, einen Ort, zuweist. Es reflektiert darüber hinaus die Unmöglichkeit des Zugriffs auf ein vorgängiges ›Original‹ und berücksichtigt Einflüsse anderer, simultan existierender Selbst- und Fremdbilder.«53

Wie andere Begriffe Derridas (z.B. différance, supplément) destabilisiert »Spur« die Ordnung der Oppositionen. Doch die Spuren dürfen nur nicht der Beliebigkeit durch völlige Dekontextualisierung anheimfallen wie Struve betont: »Die feministischen und (post-)kolonialen kritischen Erweiterungen des écriture-Begriffs sind als Reaktion auf den Vorwurf der Vernachlässigung des Politischen oder Ethischen im Schreiben zu verstehen […].«54 Als zentrale Strategie wird die genuin politische Widerstandskraft der Bachtin’schen Dialogizität in ihrer Hybridisierung des Sinns gesetzt, um einen Weg zwischen dem Schweigen der Opfer und der Sprache der Sieger in der Konzeption des Dritten zu eröffnen. So entdeckt man den in der postkolo-

52 Ebd., 26f. 53 Struve: 2009, 287. Das Konzept der Spur vertiefe ich insbesondere in dem Kapitel zu Glissant. Die Spur wird hier als eine »Verbindung zwischen heterogenen Welten und unterschiedlichen Zeiten […] als ›stummer Bote‹« (Krämer: 2007b, 162) gewertet. Interessant für meinen Kontext, der einen zurückliegenden mit einem zeitgenössischen Epochenbegriff (Barock und Neobarock) verbindet und der das Fortwirken der (gewaltvollen) Geschichte in der Gegenwart analysiert, ist der dem Spur-Begriff inhärente »Zeitenbruch zwischen dem Spurenhinterlassen […] und dem Spurenentziffern. Zwei Zeitregime kreuzen sich also in der Spur.« (Ebd., 164, Herv. i.O.) 54 Struve: 2009, 288f. Struve verbindet den Derrida’schen écriture-Begriff mit Barthes’ Konzept einer »éthique de l’écriture« (als Replik auf den Sartre’schen Engagement-Begriff).

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nialen Literatur manifestierten Doppelblick, die Bezugnahme auf mindestens zwei ›Archive‹. Die Studie macht sichtbar, in was für einer besonderen Weise hybride Geschichts- und Identitätskonstruktionen sowie spezifische ästhetische Verfahren im transkulturellen Raum der Karibik miteinander verschränkt sind.55 Es geht um literarische Formen der kreativen, ›querenden‹ Aneignung und Transformation von kulturellen Artefakten aus anderen Sprach- und Kulturräumen, um transkulturelle Rezeptionen und neu entstehenden Produktionen (recyclage culturel): »Die literarische Kreolisierung materialisiert (bzw. textualisiert) die Idee einer ins Produktive gewendeten Hybridität.«56 Es geht weniger um die Wiederentdeckung als vielmehr um die Produktion von Identität. Auf dem Feld der Postkolonialen Studien wird der Blick von den anglophonen Gebieten ab und auf die karibischen und lateinamerikanischen Regionen hingerichtet. Gerade in der frankophonen Theoriebildung, besonders im Diskurs des Hexagons, ist festzustellen, dass sich die postkoloniale Theorie erst langsam und insbesondere über den Umweg der postkolonialen feministischen Theorie57 zu einem zentralen Paradigma entwickelt. Hargreaves/McKinney entsprechend lässt sich eine deutlich verlangsamte Theoriebildung im Bereich der Transkulturalität und Postkolonialen Studien in Frankreich mit der anhaltenden neokolonialen ökonomischen und kulturellen Haltung erklären.58 Dabei gehen schon lange viele wichtige Literaturpreise an

55 Ottmar Ette betont in diesem Kontext, dass Identitätskonzepte durch Einbeziehung postkolonialer, gendersensibler und transkultureller Problematiken enorm intensiviert wurden: »Die Wucherungen des Identitätsbegriffes innerhalb eines längst nicht mehr überschaubaren semantischen Feldes zeigen an, um welchen Preis Identität noch zu haben ist: um den Preis einer unendlichen Verkettung von Begriffen, deren Wachstum nicht mehr linear und hierarchisch, sondern mehrdimensional und rhizomatisch ist.« (Ette: 2001, 474) Gerade die Intersektionalitätsforschung rückt die Interdependenzen sozialer Kategorien wie Klasse, Geschlecht, ›Rasse‹/Ethnizität, Familienstand, Alter u.a. in den Fokus der Forschung, um herauszufinden wie diese Kategorien sich wechselseitig verstärken, abschwächen oder verändern. Katharina Walgenbach hält fest: »Im Gegensatz zu Begriffen wie Diversity oder Heterogenität ist Intersektionalität allerdings weniger deutungsoffen angelegt, denn das Paradigma bezieht sich ausschließlich auf die Analyse von sozialen Ungleichheiten bzw. Machtverhältnissen« (Walgenbach: 2012, 2). Bezüglich der Auswahl von relevant gesetzten bzw. marginalisierten Analysekategorien ist der Vorschlag interessant, explizit »et_cet_era« zu schreiben, um mittels Unterstrich auf die »Leerstellen bzw. ausgeschlossenen Subjekte« (ebd., 22) hinzuweisen. Vgl. ferner Kerner: 2009. Für eine intersektionale Analyse zu Testimonios aus Kuba und Brasilien vgl. Ueckmann: 2014. 56 Kamecke: 2005, 37. 57 Die Tatsache, dass Frauen in vielen Gesellschaften marginalisiert und dominiert werden, hat die feministische Theorie insgesamt sensibel gemacht für Unterdrückungsstrukturen, vgl. Moura: 1999, 150; Donadey/Murdoch: 2005, 8. 58 Vgl. Hargreaves/McKinney: 1997, Moura: 1999 (2. Aufl. 2006), Joubert: 2002, Forsdick/Murphy: 2003 und 2009, Burtscher-Bechter/Mertz-Baumgartner: 2003, Murdoch/ Donadey: 2005, Louviot: 2005, Lüsebrink: 2006a, Fernandes: 2007, insb. 51-68, Coquio: 2008, Forsdick/Hargreaves/Murphy: 2010, Clavaron: 2011, Bazié/Lüsebrink: 2011,

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Schriftsteller der so genannten Peripherie.59 Spätestens mit der Verleihung des Literatur-Nobelpreises an Derek Walcott60 und des Prix Goncourt an Patrick Chamoiseau, beide im Jahr 1992, hat gerade die karibische Region an Bedeutung gewonnen. Kritisch ließe sich hier einwenden, postkoloniale Literaturen geben den Metropolen neue Nahrung. So prangerte die Romanistin Celia Britton schon 1996 in »Eating their words« die Verbindung von ›Dritte-Welt‹-Kreativität und westlicher Theoriebildung an: »the main exports to metropolitain France are now pineapples, avocadoes, rum, bananas – and more recently, novels.«61 Ähnlich argumentiert auch Mimi Sheller in

Thomas: 2011. Speziell zu Literatur und Sklaverei vgl. Moussa: 2010. Frankreich hat versucht, die Behandlung der ›positiven Seiten‹ der Kolonialzeit im Schulunterricht und öffentlichen Diskurs per Dekret zu verordnen. So sollten nach einem am 23.2.2005 erlassenen – und 2006 modifizierten Gesetz – Lehrpläne in einer Weise umformuliert werden, dass der folgenden Generation die Kolonialzeit als vorrangig positiv im Sinne einer französischen Nationalidentität vermittelt wird (Artikel 4 besagte: »Les programmes scolaires reconnaissent en particulier le rôle positif de la présence française outre-mer, notamment en Afrique du Nord […]«). Faktisch wird hier die kolonialistische Ideologie des 19. Jahrhunderts fortgeschrieben, vgl. Eckert: 2008. Eine regelrechte Abrechnung mit der Postkolonialen Theorie hat Jean-François Bayart mit Les Études postcoloniales. Un carnaval académique (2010) vorgelegt. Postkolonialität als neues Paradigma setzt sich zunehmend auch in der Germanistik durch wie bspw. das DFG-Netzwerk »Postkoloniale Studien in der Germanistik« zeigt, vgl. dazu Febel: 2012, 231-238. Wichtige frühe Studien, welche die verhältnismäßig kurze Periode des deutschen Kolonialismus (1884-1919) thematisieren und dabei konsequent Rassismus und Gender miteinander verzahnen, wären z.B. Martha Mamozais Untersuchung Schwarze Frau. Weiße Herrin (1982) über die Verflechtung weißer Frauen in den deutschen Kolonialismus. Sozialpsychologische Interventionen wie Christa Thürmer-Rohrs MittäterinnenModell (1981) und Birgit Rommelspachers Dominanzkultur (1995) wirkten weit über ihre eigenen Disziplinen hinaus. Aktuell siehe Bronfen/Marius/Steffen: 1997, Gutiérrez Rodríguez: 1999, Honold/Simons: 2002, Gutiérrez Rodríguez/Steyerl: 2003, Kundrus: 2003, Honold/Scherpe: 2004, Walgenbach: 2005, Lützeler: 2005, Castro Varela/Dhawan: 2005, Dietrich: 2007, Dunker: 2005 und 2008, Albrecht: 2008, Uerlings/Patrut: 2012. 59 Diese Tendenz zeigt sich schon länger sowohl im französischsprachigen Raum (wie die Verleihung des Prix Goncourt 1987 an den Marokkaner Tahar Ben Jelloun oder der Prix Renaudot 1988 an den Haitianer René Depestre bis hin zur Verleihung des Goncourt 2008 an den afghanischen Schriftsteller Atiq Rahimi oder des Renaudot 2008 an den in Guinea geborenen Tierno Monénembo) als auch im englischsprachigen Raum. So verweist Moura (1999, 141) darauf, dass der Booker Prize in Folge an Autoren wie Rushdie, Hulme, Okri, Ishiguro, Ondaatje oder Roy verliehen wurde, die Englisch bloß als eine ihrer Sprachen, teils als Zweitsprache, ansehen. 60 Walcott ist 1930 auf der karibischen Insel St. Lucia geboren, wo mehr als 80 % der Bevölkerung Nachfahren afrikanischer Sklaven sind. Die Mehrheit ist römisch-katholisch und spricht Kreol. Walcott hingegen entstammt der Minderheit englischsprachiger ›Mischlinge‹, der kleinen gebildeten Mittelschicht. 61 Britton: 1996, 15, Herv. i.O. Auch Christopher L. Miller (2004) verweist auf den bestehenden Machtdiskurs, der das Verhältnis zwischen Afrika und dem hochindustrialisierten

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ihrer für die Karibikforschung so zentralen Studie Consuming the Caribbean (2008). Sie hinterfragt die ›Erfindung‹ der Karibik in der euro-amerikanischen Kultur und die aktuelle Dehistorisierung und Dekontextualisierung des Begriffs Kreolisierung.62 Mit Referenz auf bell hooks spricht sie von »›eating the other‹ (hooks 1992), not only eating their words but taking in and cannibalising their literary imagery, cultural dynamics, and theoretical concepts«63. Die »Erweiterung des dominanten Selbst durch die Aneignung des marginalisierten Anderen«64 gipfelt nicht selten in einem unkritischen Hybriditätsbegriff, der schlicht einer »spätkapitalistischen Verwertungslogik«65 folgt, so diagnostiziert Kien Nghi Ha. Auch Ella Shohat warnt mit Blick auf den Begriff ›Hybridität‹ vor einem allzu feierlichen Umgang: »A celebration of syncretism and hybridity per se, if not articulated in conjunction with questions of hegemony and neo-colonial power relations, runs the risk of appearing to sanctify the fait accompli of colonial violence […]. As a descriptive catch-all term, hybridity per se fails to discriminate between the diverse modalities of hybridity, for example, forced assimilation, internalized self-rejection, political cooptation, social conformism, cultural mimicry, and creative transcendence.«66

Neben Geschichtsvergessenheit und Revisionismus ist ein »réel partage du savoir«67 nahezu unmöglich, so der afrikanische Philosoph Paulin J. Hountondji. Das vorhandene geopolitische Ungleichgewicht verhindere ein wirkliches »savoir mondialisé«, indem es eine Einteilung intellektueller Tätigkeit, wie sie der Kolonialismus vorgegeben hatte, »qui réservait au Centre le monopole de l’invention et réduisait la périphérie à fournir des aliments pour cette invention et à en appliquer, à l’occasion, les résultats«, fortführe.68 Hountondji fasst diese Zweiteilung in Wissen und Wissenschaft, in Feld und Forschung, in der die »post-colonie importe du nord ses équipements de laboratoire« unter dem Begriff der »extraversion«.69

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Westen bestimmt. Die ehemaligen Kolonien liefern, laut Miller, nach wie vor Rohstoffe (wie Erdöl oder Texte), die von den europäischen und amerikanischen Ländern verarbeitet würden. Auch Graham Huggan kritisiert in The Postcolonial Exotic. Marketing the Margins (2001) diese Art von ›Vampirisimus‹. »In linking together the practices of seventeenth-century exploration, eighteenth-century scientific collection, nineteenth-century travel writing, and twentieth-century cultural representation and ›area studies‹, this book demonstrates how the Caribbean became an object of study produced in Northern academic centres and an object of desire in popular cultures of consumption.« (Sheller: 2008, 7f.) Sheller: 2008, 193. Nghi Ha: 2010, 216. Ebd., 213. Shohat: 1992, 109f. Hountondji: 2001/02, 1. Ebd., 5. Ebd., 4. Hierfür zeichnet er den üblichen Karriereweg eines afrikanischen Wissenschaftlers nach: »La dépendance massive par rapport aux équipements, à la documentation, aux paradigmes scientifiques produits au Centre entraîne pour le chercheur du Tiers-Monde, et sin-

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Die vorliegende Arbeit geht hingegen von einem Kultur- und Literaturverständnis aus, welches nicht die westliche Wissenschaftstradition durch gefräßige Addition anderer (Text-)Welten weiter schreibt, sondern das die epistemologische Agenz jenseits des westlichen Wissenschaftssystems anerkennt. Im Vordergrund steht dabei der kulturelle Eigensinn der postkolonialen Subalterne und deren subversive Versuche, eigene Stimmen zu Gehör zu bringen, jenseits von Hip Hybridity-Schick und der derzeitig modischen Attraktivität alles Grenzüberschreitenden. Nghi Ha warnt eindringlich davor, Hybridität als »ahistorisches Gebilde mit technologischen Sinnbezügen« wahrzunehmen, um es so zu einem Metadiskurs »erfolgversprechender Modelle und Technologien und als Hoffnungsträger des technisch-zivilisatorischen Fortschritts«70 zu stilisieren. Es geht um eine maßgebliche Diskursverschiebung, die ausdrücklich auf den Abbau von Hierarchie und Hegemonie zielt und einen Dialog auf Augenhöhe zwischen ehemals dominant und dominé anstrebt.71 Hybridität, konkret Kreolisierung, ist keine spielerische, positiv umgedeutete Kondition der Postmoderne, sondern wird von mir im Kontext der europäischen Kolonialisierung der Welt und ihrer Expansionslogik gesehen. 2007 forderte eine beeindruckende Reihe prominenter Autorinnen und Autoren wie Ben Jelloun, Le Clézio, Condé, Laferrière, Glissant, Pineau, Mabanckou, Maalouf, Rouaud, Sansal, Waberi die Anerkennung der Stimmen von vielen Teilen der französischsprachigen Welt als eine neue ›ortlose‹ littérature-monde. Sie definieren diese Bewegung in ihrem Manifest als eine

gulièrement d’Afrique, l’obligation de ›partir‹. Le voyage vers l’Europe ou l’Amérique, le tourisme scientifique Sud/Nord est désormais partie intégrante d’une carrière normale de chercheur. Ce voyage Sud/Nord n’a ni le même sens, ni le même degré de nécessité que le voyage traditionnel Nord/Sud, nécessaire pour le chercheur occidental pour faire du ›terrain‹ lorsqu’il se spécialise, par exemple, dans les études africaines ou orientales. […] Le chercheur du Sud […] ne va pas au Nord chercher des données empiriques, mais des paradigmes, des modèles théoriques et méthodologiques, des livres, des articles, des équipements de laboratoire, des équipes de recherche nécessaires pour traiter ses données.« (Ebd., 5f.) 70 Nghi Ha: 2010, 196f. 71 Die Aktualität dieses polyzentristischen Ansatzes zeigt sich im Kontext der Bildenden Kunst. Als Plattform 3 der Kasseler Documenta fand 2002 ein vorgeschaltetes Symposium zum Thema Créolité and Creolization auf der karibischen Insel St. Lucia statt. St. Lucia wurde als Tagungsort ausgewählt, da sie einerseits Entstehungsort des grundlegenden Manifestes Éloge de la Créolité ist, andererseits ein exemplarischer Raum, in dem Fragen der Sprache, der Identität, der Kultur und deren Repräsentationen und Konstruktionen in der Kunst direkt erlebt und diskutiert werden, vgl. Enwezor: 2003; Hall: 2003. Unter dem Titel The Diaspora Strikes Back: Das transkulturelle Kapital der Migration fand im Haus der Kulturen im Juni 2009 in Berlin eine Sound Lecture statt. »Cultural Remittances« nennt Juan Flores den kulturellen Austausch zwischen Puerto Rico und den USA – analog zu den »Cash Remittances«, den Geldüberweisungen der Auswanderer an die in der Heimat Verbliebenen. Wie die Nuyoricans Musik und Popkultur auf der Karibikinsel und in den USA stark verändert haben, zeigt Flores in seinem neuen Buch The Diaspora Strikes Back. Caribeño Tales of Learning and Turning (2009).

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»[…] révolution copernicienne. Copernicienne, parce qu’elle révèle ce que le milieu littéraire savait déjà sans l’admettre: le centre, ce point depuis lequel était supposée rayonner une littérature franco-française, n’est plus le centre. […] le centre […] est désormais partout, aux quatre coins du monde. Fin de la francophonie. Et naissance d’une littérature-monde en français. Le 72 monde revient. […] N’aura-t-il pas été longtemps le grand absent de la littérature française?«

»Le monde revient« meint, dass die zugleich biographisch als auch diskursiv verortete Stimme an einen Körper zurückgebunden wird. Diese Stimme ist sowohl Verfasser als auch Opfer kultureller Prozesse. Begriffe wie Geschichte, Subjekt, Sinn tauchen als Referenten »par des voies de traverse, des sentiers vagabonds«73 wieder auf und eröffnen neue Erzählweisen »où la langue libérée de son pacte exclusif avec la nation, libre désormais de tout pouvoir autre que ceux de la poésie et de l’imaginaire, n’aura pour frontières que celles de l’esprit«74. Das Manifest ist ein Aufruf gegen das Denken in Kategorien von zentralen Nationalliteraturen und gewissermaßen politisch korrekt anerkannten Rändern der ›frankophonen‹ Literaturen, gegen die problematische Unterscheidung einer littérature française und den littératures francophones: »Personne ne parle le francophone, ni n’écrit en francophone. La francophonie est de la lumière d’étoile morte.«75 Es ist ein selbstbewusstes Bekenntnis zu einer Literatur im globalen und lokalen Austausch, die sich keiner hegemonialen Kultur zuordnen lassen will. Wir haben es hier mit einem Modernisierungsschub der besonderen Art zu tun, der eindringlich vor Augen führt, dass die nationalstaatliche Einteilung von Literatur nicht mehr überzeugt. Weltliteratur meint eine durch Migration und Diaspora sich auflösende Einheit von Territorium und Kultur. Das ›allgemein Menschliche‹ basiert dann auf Marginalität, Bewegung, Verwandlung und Mischung oder in den Worten von Deleuze und Guattari: Es geht um eine Poetik der

72 Manifeste pour une »littérature-monde« en français, 2007 (http://www.lianes.org/ Manifeste-pour-une-litterature-monde-en-francais_a128.html). Vgl. auch den im Anschluss im renommierten Pariser Verlag Gallimard erschienenen Sammelband Pour une littérature-monde (2007), hg. von Michel Le Bris und Jean Rouaud. Der 2008 mit dem Nobelpreis geehrte Schriftsteller Jean-Marie Le Clézio, bekannt durch seine Weltreiseliteratur, pointiert ebenfalls in seiner Festrede: »Aujourd’hui, au lendemain de la décolonisation, la littérature est un des moyens pour les hommes et les femmes de notre temps d’exprimer leur identité, de revendiquer leur droit à la parole, et d’être entendus dans leur diversité. Sans leur voix, sans leur appel, nous vivrions dans un monde silencieux.« Er wertet Literatur als »merveilleux moyen de se connaître soi-même, de découvrir l’autre, d’entendre dans toute la richesse de ses thèmes et ses modulations le concert de l’humanité« (Le Clézio: 2008, 7f.). Schon 1999 publizierte Pascale Casanova La République mondiale des lettres und wagte damit den Versuch, Literatur ›planetarisch‹ zu studieren; leider unter weitgehender Auslassung von Autorinnen. Problematisch ist außerdem, dass sie von einer ›Weltliteratur‹ spricht, jedoch nahezu ausschließlich den von den westlichen Großsprachen erfassten literarischen Raum mit einer Tendenz zum Frankozentrismus abhandelt, vgl. dazu die Kritik Pohls: 2000. 73 Manifeste pour une »littérature-monde« en français, 2007. 74 Ebd. 75 Ebd.

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Deterritorialisierungen. Die poetologische Gemeinsamkeit der karibischen Literatur besteht gerade darin, Ausdruck einer sprachlich und kulturell hochgradig hybridisierten Region zu sein. Die Forderung nach Akzeptanz des Vorhandenseins einer französischsprachigen littérature-monde – jenseits eines neokolonialen Verständnisses von Frankophonie – ist zudem sehr bewusst mit der Emphase eines postkolonialen, emanzipatorischen Gestus formuliert; im Manifest heißt es: »Le centre, ce point depuis lequel était supposé rayonner une littérature franco-française, n’est plus le centre. Le centre jusqu’ici, même si de moins en moins, avait eu cette capacité d’absorption qui contraignait les auteurs venus d’ailleurs à se dépouiller de leurs bagages avant de se fondre dans le creuset de la langue et de son histoire nationale: le centre […] est désormais partout, aux quatre coins du monde. Et naissance d’une littérature-monde en français.«76

Der haitianische Autor Lyonel Trouillot evoziert die unterschiedlichen Realitäten und Imaginationen, die in einer écriture-monde en français ihren Ausdruck finden: »L’idée d’une écriture-monde en français ne peut tenir sa subversion que du principe de la transcription et de l’interpellation des multiples réalités, des multiples rêves des humains tels que façonnés par l’histoire, tels qu’en révolte contre l’histoire. Et de la pluralité des genres et des formes.«77 Französisch ist dabei eine Sprache unter anderen, von Millionen von Menschen gesprochen, »qui, appartenant à une même humanité, ne vivent cependant pas les mêmes âges historiques. […] Une écriture-monde en français, ce sont des littératures qui expriment ces multiples âges historiques.«78 Um diese vielfältigen zeit- und raumübergreifenden Echo- und Wechselwirkungen multipler Geschichte(n) geht es in der vorliegenden Arbeit. Karibische Gesellschaften verfügen aufgrund der traumatischen Erfahrung von Verschleppung und Sklaverei, der »inflicted wound«79, über keine gesicherte, verbürgte Geschichte, statt dessen eher über ein Geflecht von tradierten Erzählungen, über vielfältige und ungeordnete histoires – in Abgrenzung zur eurozentrischen Histoire. Nach dem bisher Gesagten lässt sich die programmatische Klammer der vorliegenden Studie wie folgt zusammenfassen: Die konstruktivistische Interpretation und Repräsentation von Geschichte(n) und Identitäten eröffnet eine neue Form der Auseinandersetzung um Narrativität von Wirklichkeitserfahrung. Die Kraft der fiktionalen Repräsentation hat weite Bereiche historischer Erfahrung der Moderne überhaupt in den letzten Jahren erst sichtbar gemacht. Die literarische Vergangenheitsaneignung avanciert zu einer Art Avantgarde der Geschichtsschreibung, insofern sie neue Erfah-

76 Ebd. 77 Trouillot: 2007, 202, Herv. i.O. 78 Ebd., 200f., Herv. i.O. Das Französische als Literatursprache bildet dabei einen Raum, der mit Kontexten unterschiedlichster Herkunft angefüllt wird. Die französische Sprache fungiert als Werkzeug wie einer der Mitunterzeichner, der kongolesische Autor Alain Mabanckou, schreibt: »La littérature-monde en langue française est la reconnaissance et la prise de conscience de notre apport à l’intelligence humaine, avec cet outil qu’est la langue française« (Mabanckou: 2007, 65). 79 Loichot: 2007, 2.

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rungswelten erschließt und die daraus entstehenden Erinnerungskulturen überhaupt erst zum Gegenstand historischer Reflexion macht. Die Romane stiften ein postkoloniales Subjekt, strukturieren literarische Erinnerungsprozesse und produzieren punktuell eigene Geschichte(n). Literatur verfügt über das Potential, andere Formen des kulturellen Gedächtnisses bereitzustellen, denn »literarische Texte [können] sich auf das Zusammenspiel von Trauma und Erinnerung einlassen und ein solches Zusammenspiel zu ihrem Strukturprinzip machen«80. Gerade für Europa ist das wichtig, denn transnationale Erinnerung und europäische Identität ist ohne die Erinnerung an den europäischen Kolonialismus nicht möglich.81 Freilich sind die Literaturen der Karibik nicht bloß Mahnmal, sondern zugleich Laboratorium neuer Kulturkonzepte.

1.2 K ARIBIK

ALS

W ISSENSPRODUZENT

1.2.1 Exkurs: Karibik und Diaspora Im Zentrum der Analyse stehen Romane des 20. und 21. Jahrhunderts der romanischsprachigen Antillen (Kuba, Puerto Rico, Haiti, Guadeloupe, Martinique), die trotz der unterschiedlichen kolonialgeschichtlichen Kontexte das Vermächtnis der Verschleppung und Versklavung als gemeinsame historische Erfahrung teilen. Jenseits davon sind die einzelnen Staaten der Karibik alles andere als ein egalitärer Raum. Jede Insel für sich variiert außerordentlich aufgrund ihrer ethnischen und sprachlichen Zusammensetzung, ihres Alphabetisierungsgrades, ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und politischen Ausrichtung. Gerade die romanischsprachigen Antillen markieren soziale und politische Extreme. Die zwei zusammenhängenden französischen Sprachräume verorten sich in ganz unterschiedlichen politischen Kontexten: von der frühesten Revolution und Unabhängigkeit wie im Falle Haitis82 bis hin zur anhaltenden Zugehörigkeit zum französischen Herrschaftsbereich (Martinique und Guadeloupe). Haiti hat eher eine Verbindung zu Kuba als zu den anderen frankophonen

80 Weinberg: 1999, 206. Slavoy Žižek lehnt eine »vulgarisierte Version der narrativistischdekonstruktivistischen Psychoanalyse« (Žižek: 2005, 13) grundsätzlich ab; eine Überlegung, die sich für meinen Kontext fruchtbar machen lässt. In Die politische Suspension des Ethischen hinterfragt er, ob der Ausweg aus einer psychischen Sackgasse in einem kreativen ›positiven‹ Umschreiben der Erzählung unserer Vergangenheit liegen könne. Bei allem Verständnis gerade für ethnische, sexuelle u.a. Minderheiten, die ihre Vergangenheit in einem positiveren, selbstbewussteren Ton umschreiben, verschwindet nach Žižek bei einer totalen Verfügbarkeit der Vergangenheit etwas Wesentliches aus dem Blickfeld: »[...] das sind nicht in erster Linie die ›harten Fakten‹, sondern es ist das Reale einer traumatischen Begegnung, deren strukturierende Rolle in der psychischen Ökonomie des Subjekts jeden Versuch symbolischen Umschreibens auf immer widersteht« (Ebd., 14). Wie soll das Reale eingeholt und erzählbar gemacht werden? Was ist mit der Asymmetrie der Verantwortung? 81 Vgl. Leggewie: 2009, 6. 82 Zur Haitianischen Revolution in der Literatur des 19. Jahrhunderts vgl. Biloa Onana (2010) und in der Literatur zwischen 1810 bis 2000 vgl. Lahaye (2002).

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DOMs, denn beide Inseln verfügen über ein ausgeprägt revolutionäres Potential: »deux pays un peu rebelles de caractère, de culture.«83 Jenseits dieser Parallele gibt es innerhalb der Franko- und Hispoanokaribik viele diskontinuierliche Entwicklungen: Kämpften die Versklavten auf Haiti schon 1804 für die Abolition und gründeten die erste ›schwarze‹ Republik der Welt; regiert von ehemaligen Sklaven und den wirtschaftlich erfolgreichen gens de couleur,84 so wurde die Sklaverei auf Puerto Rico 1873 und auf Kuba erst 1886 abgeschafft. Haitis Plantagenwirtschaft beruhte bis zur Revolution vollständig auf Sklavenarbeit und beherrschte im späten 18. Jahrhundert die Zucker- und Kaffeemärkte Kontinentaleuropas. Unsere Kaffeehauskultur – ein wichtiger Resonanzboden der Aufklärung – verdankte ihre Existenz u.a. karibischen Importen. Mit bis zu neun Millionen Einwohnern gehört der Staat Haiti heute zu den größeren Staaten der Karibik und zu den ärmsten Ländern der Erde.85 Die Mehrheit der Bevölkerung spricht ausschließlich Kreol, d.h. die breite Masse partizipiert kaum am öffentlichen Geschehen, in dem das Französische dominiert.86 Die Sonderrolle Haitis zeigt sich bis in aktuelle Diskurse um ästhetische Kreolisierungen. Das spezifisch-haitianische Spiralisme-Konzept hat längst nicht in gleichem Maße wie bspw. Glissants Créolisation Eingang in den akademischen Diskurs gefunden.87 Haitianische Autoren wie der hier vorgestellte JeanClaude Fignolé avancierten erstaunlicherweise nicht, aus noch näher zu beleuchtenden Gründen, zu den »figureheads of francophonie« oder »rule makers«.88 Über Haiti hinaus zählen zur frankophonen Karibik, wie erwähnt, die Départements d’Outre-Mer Martinique und Guadeloupe (ebenfalls Französisch-Guyana), die mit weniger als eine Million Einwohnern wirtschaftlich und politisch eng mit Frankreich verbunden sind. Sie gehören zu den reichsten und politisch stabilsten Regionen des südlichen Amerika und sind als EU-Mitglieder anerkannt.89 Für kritische Stim-

83 Ette/Lahens: 2002, 235. 84 Vgl. Osterhammel: 2006, 31. Für Osterhammel ist der Sonderfall Haiti damit zu erklären, »weil hier und nur hier eine Kraft von außen, die Französische Revolution, die weiße Herrenkaste politisch in Loyalisten und Sezessionisten spaltete, weil es hier und nur hier eine wohlhabende und oft auch selbst sklavenbesitzende Zwischenschicht freier Farbiger (gens de couleur) gab, die die Verwirrung der Weißen zu einer eigenen Erhebung nutzte, und weil hier und nur hier ein internationaler Konflikt um eine Zuckerinsel geführt wurde, bei dem die beteiligten Mächte – Frankreich, Spanien und Großbritannien – Sklavensöldner bewaffneten« (Osterhammel: 2000, 51). 85 Laut Spiegel kamen durch das Erdbeben bis zu 300.000 Menschen ums Leben, etwa dreihunderttausend weitere Personen wurden verletzt und 1,2 Millionen obdachlos, vgl. Spiegel online, 22. Februar 2010. 86 In Haiti liegt die Analphabetenrate bei 70%, vgl. Fleischmann: 2002, 816. 87 In der Amerikanistik haben gerade die Studien von Michael Dash (1995 und 1998b) zur intensiven Rezeption von Edouard Glissant beigetragen. 88 Glover: 2004, 235-238; vgl. ausführlich Glover: 2010. 89 Vgl. Fleischmann: 2002, 815f. 1946 wurde die Loi d’assimilation verabschiedet: Guadeloupe, Martinique und Französisch-Guyana werden zusammen mit La Réunion im Indischen Ozean zu Übersee-Départments. Für Aimé Césaire, der maßgeblich an diesem Pro-

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men sind die DOM/TOM’s »eine unterentwickelte Region mit einem überentwickelten Lebensstil«90. In den DOM’s erfasst die Zweisprachigkeit FranzösischKreolisch nahezu die ganze Bevölkerung.91 Den frankophonen Antillen wie Martinique und Guadeloupe ist ihre Genese von der Sklavenplantage zum pays dominé oder domtomisé gemeinsam. Aufgrund ihres besonderen Status lassen sie sich als neokoloniale Räume erfassen.92 Bei den beiden hispanophonen Ländern, Puerto Rico und Kuba, haben wir eine ähnliche spannungsreiche Situation wie bei der Frankokaribik. Während des 19. Jahrhunderts bildeten Puerto Rico und Kuba die beiden letzten spanischen Kolonien in der Neuen Welt. 1898, im Zuge des Spanisch-Amerikanischen Krieges, besetzten die USA beide Inseln und beanspruchten sie für sich. Insbesondere aber der politische Status Puerto Ricos bleibt auch mehr als 500 Jahre nach der ersten Besiedlung durch die Europäer umstritten. Seit 1952 hat Puerto Rico einen zwiespältigen Status als Estado Libre Asociado. Die Insel orientiert sich einerseits an den USA, andererseits ist dort die spanische Sprache neben afrikanischen Elementen maßgeblich. Kuba erlangte nach dem Ende des Spanisch-Amerikanischen Krieges 1902 die formale Unabhängigkeit, wobei die USA bei Beeinträchtigung ihrer Interessen über ein Interventionsrecht in Kuba verfügten.93 Seit der Kubanischen Revolution 1959 ist die Insel ein sozialistischer Staat, welcher bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion Unterstützung bei den sozialistischen Staaten Osteuropas fand und seinen Blick eher auf Lateinamerika als nach Europa richtet. Weitere Differenzierungen tun sich auf, wenn man die Antillaner nicht nur als Bewohner der Antillen, sondern auch als diasporische Existenzen in anderen Teilen der Welt sieht. Schriftsteller wie Gisèle Pineau, Emile Ollivier, René Depestre, Ivan de la Nuéz, Reinaldo Arenas u.v.a., die nicht anhaltend in Auseinandersetzung mit der antillanischen Gesellschaft leb(t)en, können dennoch der antillanischen Kulturund Sprachgemeinschaft zugerechnet werden. Kriterium der Zuschreibung zum antillanischen champ littéraire ist für mich der Text und das Literatursystem, in das er sich einschreibt. Zahlreiche karibische Autorinnen und Autoren leben im Exil wie die

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zess mitgewirkt hat, lag dabei das Gewicht auf dem Begriff der départementalisation als Gegenbegriff zur assimilation, vgl. Ludwig: 2008, 57. Gewecke: 2007, 119. Ludwig betont die großen Kompetenzunterschiede, sei es, dass die Kreolkompetenz zurückgehe, sei es, dass das Schriftfranzösische nicht vollständig beherrscht würde, vgl. Ludwig: 2008, 89. Die anhaltenden neokolonialen Verhältnisse zeigten sich bspw. während des Generalstreiks auf Guadeloupe und Martinique Ende 2008/Anfang 2009, angeführt von Gewerkschaften, politischen Parteien oder Vereinigungen sowie dem Kollektif Liyannaj kont pwofitasyon (LKP) – Rassemblement contre les profits abusifs et l’exploitation. In Le Monde diplomatique war zu lesen: »[…] le clan des békés – descendants des anciens planteurs et esclavagistes – imposent leurs marges exorbitantes […]. Huit familles békés contrôlent des chaînes de supermarchés et l’import-export« (Doriac: 2009, 23). Ein Überrest dieser us-amerikanischen Sonderrechte ist der gegen den erklärten kubanischen Willen noch heute von den USA aufrechterhaltene Marinestützpunkt Guantánamo Bay.

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in Miami lebende, englisch schreibende Haitianerin Edwidge Danticat, deren Romane weltweite Beachtung finden oder der Haitianer Dany Laferrière, der aus Protest gegen Baby Docs Regime nach Montreal emigrierte und mit provozierenden Titeln wie Comment faire l’amour avec un nègre sans se fatiguer von sich reden machte. Die aus Kuba stammende und in Puerto Rico lebende Autorin Mayra Montero knüpft in Tú, la oscuridad (1995) an den haitianischen real maravilloso eines Alejo Carpentier an. Yanick Lahens unterstreicht in L’exil: entre l’ancrage et la fuite, l’écrivain haïtien (1990) die transterritoriale Perspektive karibischer Literatur. Die Markierung ›drinnen‹ vs. ›draußen‹ ist mittlerweile obsolet. Der Entstehungsort von Texten verliert seine scheinbare Selbstverständlichkeit, denn die Festlegung auf Nationalitäten, Nationalstaaten und Nationalliteraturen ist gerade hier brüchig geworden. Postkoloniale Literatur ist häufig eine Literatur der Migrant/innen zwischen den Welten. An die Stelle der Sicherheit der antikolonialen Selbstbehauptung und Selbsterfahrung scheint die Unsicherheit der Diaspora und der provisorischen Positionierung getreten zu sein. Parallele Inhalte und Strukturen innerhalb der Franko- und Hispanokaribik mit Blick auf den lateinamerikanischen Raum zu untersuchen, ist wichtiges Ziel dieser Untersuchung, um so der von Antillanité und Créolisation angenommenen rhizomatischen Verästelung verschiedener Kulturen Rechnung zu tragen. Dennoch wird im Aufbau folgende methodische Vorgehensweise angewendet: Autoren und Autorinnen einzelner Inseln werden getrennt behandelt. Dies ist geboten, weil die historische Entwicklung schon während der Kolonialzeit sehr unterschiedlich war. Insbesondere der höchst unterschiedliche Verlauf von Unabhängigkeitsbewegungen »[verwandelte] die gesamte Karibik bis zum heutigen Tag in die politisch sicherlich heterogenste Weltregion«, so dass jede »Insel über ihren Eigen-Sinn [verfügt]«.94 Diesem Eigensinn soll trotz aller DissemiNation (Homi Bhabha) nachgegangen werden. Festhalten lässt sich mit Mimi Sheller, dass in der Karibik exemplarische Prozesse von Globalisierung im Sinne einer Komplexitätssteigerung sichtbar werden. Sie definiert die Karibik als einen antagonistisch codierten Raum zwischen Verheißung und Verbrechen, in der die ›Erste‹ auf die ›Dritte Welt‹ stoße: »symbolically the Caribbean as a whole acts at once as a place of promising possibility (whether for profit or for pleasure) and as a risky and ›dangerous crossroads‹ (the trope of cannibals, pirates, and gunmen). […] The Caribbean, figured as a dangerous crossroads, is the place where East and West, North and South, Third World und First World, capitalism and communism, global high tech and local poverty, tourists and drug runners, all collide.«95

94 Ette: 2005, 144-150. Dennoch gibt es diese innerkaribischen Verbindungen, verwiesen sei hier auf die politischen und wirtschaftlichen Bündnisse der karibischen Gemeinschaft, der anglophonen Inseln CARICOM (gegründet 1973) und der Vereinigung karibischer Staaten ACS/AEC (1994). 95 Sheller: 2008, 174.

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1.2.2 (Post-)Sklavenhaltergesellschaften: Vom laboratoire du colonialisme zum laboratoire humain Wie skizziert, weisen die verschiedenen Inselstaaten große Unterschiede in Bezug auf Größe, Sprache, Zeitpunkt der Unabhängigkeit sowie wirtschaftliche und politische Situation auf, andererseits unterstreicht der Begriff Karibische Literatur die Gemeinsamkeiten, die sich vor allem durch die Erfahrungen der Middle Passage, der Deportation, der Sklaverei und des Kolonialismus und dem damit zusammenhängenden Prozess der Kreolisierung begründen lassen. Der Historiker Michael Zeuske benennt das Verbindende der Karibik ihre »›afroatlantische‹ Kultur, in Afrika erschaffen und in Amerika neu erfunden, in atlantischen Passagen transkulturiert«96. Trotz ihrer ethnischen, sprachlichen, kulturellen, politischen und ökonomischen Heterogenität, ist allen Inseln gemeinsam, dass sie aus Plantagenwirtschaft (Zuckerrohr, Tabak, Kaffee, Kakao, Baumwolle, Bananen) hervorgingen – die für das karibische Archipel rund drei Jahrhunderte bestimmende ökonomische Organisationsform –, in denen der größte Teil der Bevölkerung afrikanische Sklaven und deren Nachkommen sind.97 Daher kommt der Kubaner Antonio Benítez Rojo zu dem Schluss: »las sociedades caribeñas son de las más represivas del mundo«98 und der puertoricanische Autor Edgardo Rodríguez Juliá resümiert: »el conflicto fundamental de toda la sociedad caribeña […] en última instancia es la esclavitud.«99 Die ausschließlich auf die Bedürfnisse der Metropole ausgerichtete Wirtschaftsweise der »New World plantation society«100 entstand mit den entsprechenden Konsequenzen: monokulturale Bodenausnutzung, die Ausrottung der Kariben- und Arawak-Indianer101 und die massenhafte Einfuhr afrikanischer Sklavinnen und Sklaven. Bei der Beschäftigung mit der Karibik hat man es nicht nur mit Entdeckern und Entdeckten, sondern mit einer dritten Kategorie zu tun, den Deportierten. Damit sei, so Glissant, ein gewaltiges historisches Verschleppungstrauma verbunden: »Les Antilles sont le lieu d’une histoire faite de ruptures et dont le commencement est un arrachement brutal, la Traite.«102 Die Middle Passage markiert für die deportierten

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Zeuske: 2006, 19. Länder des mittel- und südamerikanischen Festlands, die an das Karibische Meer grenzen, von der Halbinsel Yucatán bis nach Guyana – die Karibische See nannte man im 16. und 17. Jahrhundert noch das ›Mittelmeer der Neuen Welt‹ – lasse ich unberücksichtigt. 98 Benítez Rojo: 1989, 287. 99 Sancholuz/Rodríguez Juliá: 2007, 169. Raphaël Confiant spricht von den »voies souterraines de communication« und einer »similarité sous-jacente«, die den karibischen Raum auf historischer und kultureller Basis verbindet (Chamoiseau/Confiant/Ette/Ludwig: 1992, 11f.). 100 Fick: 1990, 10. 101 Fuentes nennt folgende Zahlen: »Zwischen 1492 und 1550 sank die Bevölkerung in Mexiko und den Inseln der Karibik von fünfundzwanzig Millionen auf eine Million und in den Andenregionen zwischen 1530 und 1750 von sechs Millionen auf eine halbe Million.« (1982, 3) 102 Glissant: 1997a, 223. Vergleichbar schätzt die antillanische Psychoanalytikerin Jeanne Wiltord die Situation ein: »Situation traumatique car les rapports symboliques identifica-

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Afrikaner und Afrikanerinnen eine radikale Diskontinuität der eigenen Geschichte, einen Bruch zwischen einem Leben ›davor‹ und einem ›danach‹. Rodríguez Juliá spricht von einer »katastrophalen Kulturbegegnung«: »Se trata de una colisión, o encuentro catastrófico, de fuertes cosmogonías como la europea, la indoamericana, la africana.«103 Die Sklavengesellschaft ist die »spektakulärste Form von Kolonialgesellschaft«, so Jürgen Osterhammel, im Sinne von »untypisch, da hier europäische Gewalt nicht über eine indigene Bevölkerung ausgeübt wurde«,104 sondern zunächst ent- und dann neu bevölkert wurde. Die einheimische Bevölkerung war bereits im 16. Jahrhundert der Brutalität der Europäer und vor allem den aggressiven Krankheitserregern der Alten Welt zum Opfer gefallen, so dass die »Kolonisierten erst von weither herbeigeschafft werden [mussten]«105. Nicht nur ein spezifisches Herrschafts- und Ausbeutungssystem, die Plantagenökonomie, breitete sich in der Karibik aus, sondern mit dem afrikanischen Sklaven betritt auch »ein anderer Anderer den kolonialen Schauplatz«106, denn er ist weder der gute Wilde noch der grausame Kannibale, zwei Figuren des sauvage, die bis dahin das Bild des Kariben maßgeblich prägten. Die Konstruktion des karibisch Anderen erweitert sich um den esclave nègre,107 dessen Anderssein sich erheblich von der Alteritätskonstruktion der bisherigen sauvages unterscheidet. Die deportierten Afrikaner, die migrants nus wie Glissant sie nennt,108 sind nicht durch ihre Zugehörigkeit zu einer anderen, fremden Kultur gekennzeichnet, sondern werden ausschließlich als Ware und Arbeitskraft, als ›Nicht-Personen‹ wahrgenommen.109 »Die Figur des ›esclave nègre‹ wird sich in der Folge fest etablieren und in den gelehrten Diskursen der Metropole ihren Platz finden: In verschiedenen Nachschlagewerken des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts werden ›nègre‹ und ›esclave‹ ebenfalls als Synonyme gehandelt.«110 Schwarz-Sein und Sklave-Sein, Hautfarbe und sozialer Status decken sich fortan. Den versklavten Afrikaner/innen wird keine Vergangenheit mehr zugestanden; ihr Sein konstituiert sich gewissermaßen durch die Plantagenwirtschaft. Ludwig schreibt dazu: »Afrikanische Sprachen, Religionen und Kulturen bleiben nur

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toires essentiels aux humains ou dire leur humanité (organisation des relations entre les hommes et les femmes, systèmes d’alliance, modalités d’inscription dans une filiation, nomination, modalités de passage d’une génération à une autre, rituels de la mort, langue), ont été détruits chez les esclaves.« (Zit. n. Chancé: 2009, 10) Ortega/ Rodríguez Juliá: 1991, 156. Osterhammel: 2006, 25. Ebd., 30. Hofmann: 2001, 43. Vgl. ebd., 47ff. Vgl. Glissant: 1997a, 111. Vgl. Hofmann: 2001, 80ff. Broeck spricht von der epistemischen Abjekt-Position schwarzer Menschen: »›Abjekt‹ meint hier den Ausschluss der Versklavten vom System menschlicher Binarisierung und erfüllte die Funktion, Menschen afrikanischer Herkunft als nicht-menschliches Ding, als ›Fleisch‹ zu positionieren.« (Broeck: 2013a, 53) Eine Kritik der Kritischen Theorie und ›weißer‹ Gender Studies gibt Broeck in ihrem Manifest (2013b). Hofmann: 2001, 87.

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als Spuren erhalten, als Ganze jedoch gehen sie verloren. Der Sklave wird im konkreten wie symbolischen Sinne nackt auf den Antillen angelandet: er besitzt nichts mehr, kein materielles und symbolisches Gut, stattdessen ist er selber Besitztum.«111 Die im 16. und 17. Jahrhundert kreierten Sklavengesellschaften in der Neuen Welt zeichneten sich zusammenfassend durch folgende Charakteristika aus: Erstens wurden sie an die koloniale Peripherie verdrängt, zweitens spielte das Kriterium der ›rassischen Zugehörigkeit‹ eine große Rolle und drittens war die Rückkehr der Verschleppten aufgrund der geographischen Entfernung nahezu unmöglich.112 Auf den Stellenwert multipler traumatischer Erfahrungen für das kollektive antillanische Gedächtnis zu Beginn des 21. Jahrhunderts hinzuweisen, ist wichtiges Anliegen dieser Arbeit. Die mit der Eroberung der Neuen Welt einhergehende Gewalt entfaltet sich in der Literatur in exzessiver, maßloser, hyperbolischer Weise; längst nicht nur in den hier behandelten Romanen, sondern auch in anderen großen Romanen Lateinamerikas oder der Karibik, von Os Sertões von Euclides da Cunha über Carpentiers El reino de este mundo bis hin zu Cien años de soledad von García Márquez. Zugleich repräsentiert die Karibik nicht nur den ersten Ort des Zusammentreffens zwischen Europäern und indigener bzw. afrikanischer Bevölkerung, sondern auch schon Ende des 18. Jahrhunderts, im Zuge der Haitianischen Revolution, und erneut im 20. Jahrhundert, im Zuge der Kubanischen Revolution, einen Ort der Selbstbefreiung113 und dient gegenwärtig als Laboratorium für soziale Praktiken, die eine neue Form von Humanität postulieren.114 Daniel Maximin knüpft in seinem Essayband Les fruits du cyclone. Une géopoétique de la Caraïbe emphatisch an das Postulat einer »humanité neuve« an: »Ma Caraïbe est telle: un archipel d’îles-roseaux nées de la résistance aux chaînes, brûlant les racines absentes en un feu sans foyer posé fier sur trois roches pour bricoler une humanité neuve et se forger des cœurs aux quatre sangs dispersés: l’Europe par erreur sans son humanité, l’Afrique en friche

111 Ludwig: 2008, 18. 112 Vgl. Osterhammel: 2000, 28. 113 Neben den offiziellen Revolutions- und Befreiungsdiskursen, ob Haiti oder Kuba, darf natürlich nicht unerwähnt bleiben, dass auf beiden Inseln totalitäre, repressive Verhältnisse herrschen, dass politische Dissidenten systematisch verfolgt werden und Intellektuelle nicht selten im inneren oder äußeren Exil leben. Und trotz avantgardistischer Kulturtheorie wirken auf Kuba oder Haiti rassistische Denkmuster fort. Zur kritischen Bestandsaufnahme von Haiti und zu den Konsequenzen einer ›verknöcherten‹ Revolution in Kuba siehe die jeweiligen Kapitel zu Fignolé (Haiti) und Arenas (Kuba). 114 Vgl. dazu die Sektion Négritude und Negrismo. Afrokaribische Literatur und neue Humanismen von den Anfängen bis heute auf dem Romanistentag 2013, die der Rezeption schwarzer Anerkennungsforderungen in beiden afro-karibischen Sprachräumen nachgeht; Tagungsakten (Febel/Ueckmann) erscheinen 2015.

36 | I E INLEITENDE Ü BERLEGUNGEN d’échardes et de rayons, l’Asie plus tard migrée, l’Amérique par et pour nous-mêmes recou115 vrée: quatre continents pour édifier une île.«

Mag die Karibik ökonomisch als ›unterentwickelt‹ gelten, was den Austausch kultureller Werte angeht, ist sie avantgardistisch, denn sie fungiert als innovativer Wissensproduzent. In dem bekannten Manifest Éloge de la créolité lesen wir: »De plus en plus émergera une nouvelle humanité qui aura les caractéristiques de notre humanité créole: toute la complexité de la Créolité […], l’ambiguïté torrentielle d’une identité mosaïque.«116 Die Herausgeber des Éloge sehen in den postkolonialen Räumen der Karibik »de véritables forgeries d’une humanité nouvelle«117. Der kanadisch-haitianische Autor Joël Des Rosiers greift die Metapher der Labors auf: »[…] si le labeur d’écriture commande une quelconque raison d’être, c’est dans sa capacité de déterritorialiser la langue, de modifier l’imaginaire collectif.«118 Die Karibik ist weit mehr als ein touristisches ›Naherholungsgebiet‹ für Nordamerikaner und Westeuropäer, auch wenn sie zumeist als ein solches gehandelt wird.119 Die Karibik, das ehemalige »laboratoire du colonialisme«120 wie Aimé

115 Maximin: 2006, 13. Mit Blick auf die Coolitude muss die Karibik nicht nur triangulär, sondern auch mit Asien ›verlinkt‹ werden. Dies ist aber in dieser Studie nicht der Fall. Das Konzept der Coolitude des aus Mauritius stammenden Khal Torabully baut auf den Gedanken Glissants auf, kritisiert gleichzeitig daran aber das Fehlen einer indischen Perspektive. Denn der Import indischer Kontraktarbeiter, als Alternative zur Sklaverei, schuf ab 1830 eine weltweite indische Diaspora, die ganz eigene Akkulturations- und Transkulturationsmechanismen an den Tag legte, denn diese »Bevölkerung mit alteingesessener Kultur« sind gleichzeitig »Kreolen und Inder« (Glissant: 2005b, 41). Die Coolies kamen nicht als nackte Migranten mit weitgehend ausradiertem Gedächtnis wie die deportierten Afrikaner, da sie in die Kreolgesellschaft mit einem Wissen um ihre eigene Religion und Kultur eintraten, vgl. Ludwig: 2008, 50. Vertiefend zur Coolitude vgl. Bragard: 2008 und die verschiedenen Beiträge in unserem Band Kreolisierung revisited (Müller/Ueckmann: 2013). 116 Bernabé/Chamoiseau/Confiant: 1989, 53. Insgesamt werden in der Karibik fünf verschiedene europäische Sprachen gesprochen (neben Spanisch und Französisch noch Englisch, Holländisch und Portugiesisch), ganz abgesehen davon, dass es noch zahlreiche lokale Sprachen wie Kreol oder Papiamento gibt. 117 Ebd., 26. 118 Des Rosiers: 1996, 28. Serge Gruzinski bedient sich ebenfalls für Lateinamerika der Labormetapher: »Laboratoire de la modernité et de la postmodernité, prodigieux chaos de doubles et de ›répliquants‹ culturels, gigantesque ›entrepôt de résidus‹ où s’amoncellent les images et les mémoires mutilées de trois continents – Europe, Afrique, Amérique – où s’accrochent des projets et des fictions plus authentiques que l’histoire, l’Amérique latine recèle dans son passé de quoi mieux affronter le monde postmoderne où nous nous engouffrons.« (Gruzinski: 1990, 336) 119 Der haitianische Schriftsteller, Jacques Stéphen Alexis, kritisiert nicht unbegründet: »la Caraïbe tout entière, livrée au plaisir des autres, qui vit de son corps, stérile et exploité (touristiquement, puisque c’est quasiment tout ce qu’il reste à dévorer).« (Alexis: 1983, ix)

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Césaire sie nennt oder das europäische »laboratorio mercantilista«121 wie Antonio Benítez Rojo festhält, gilt aktuell als privilegierter Raum zur Wahrnehmung von Hybridisierungsprozessen.122 Dieser Raum repräsentiert ein seit Jahrhunderten gewachsenes soziokulturelles »laboratoire humain«123, der eine kreolische Humanität postuliert. Von einer neuen Etappe der »hominisation des humanités«124 ist bei dem haitianischen Autor René Depestre die Rede. Für ihn stellt die Karibik seit 1492 das »laboratoire historique«125 des weltweiten Kreolisierungsprozesses dar. Die Ränder der ehemaligen Hegemonialkultur verwandeln sich im postkolonialen Kontext in die dynamischen Zentren fundamentaler Entwicklungen. Die Karibik ist mit ihrer »Pluralität importierter Traditionsausschnitte von afrikanischen, indischen, europäischen und amerikanischen ›Einwanderern‹«126 im Bereich kulturtheoretischer Entwürfe einer der produktivsten Räume. Programmatisch wertet Edouard Glissant die Kreolisierungsprozesse in Zentralamerika und in der Karibik als »une préface à un Monde nouveau«127. Für Ottmar Ette, gehört der karibische Raum gar zu den »wichtigsten Exporteuren von Kultur- und Literaturtheorie«128 , der über Ausfuhrprodukte verfügt, die nicht unbedingt extern diktierten Marktbedingungen entsprechen. Die dortige »Erfahrung heterotoper Pluralität« erfordere die Fertigkeit »in verschiedenen Logiken mehr oder minder gleichzeitig zu leben«129: 1940 führte der Kubaner Fernando Ortiz bereits seinen Begriff der Transculturación ein. Die Karibik ist La isla que se

120 Césaire: 1973, 224. 121 Benítez Rojo: 1989, vi. 122 Die Karibik war seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert und bis weit ins 20. Jahrhundert vielfach die Projektionsfläche europäischer Utopien und ein kolonialer Topos. Die Insel als »Idealraum des Experiments und ›Laboratorium der Moderne‹« zu instrumentalisieren, »in dem europäische Missionare, Ärzte, Erfinder und Erzieher ohne die bürgerlichen Zwänge ihrer Mutterländer experimentieren, testen, auswerten, ausprobieren können«, soll nicht näher untersucht werden. Dafür verweise ich auf die Untersuchung Küste und Text von Erika Müller, die die Instrumentalisierung von Inseln für westliche Utopien und Sehnsüchte exemplarisch an Defoes Robinson Crusoe, Shakespeares The Tempest und Bacons Neu Atlantis nachzeichnet und auch auf die gegenwärtige Praxis hinweist, wo noch immer Inseln als vermeintlich leere Räume als Labors insbesondere für Atomtests des Zentrums missbraucht werden (vgl. Müller: 2002, 31). Statt Inseln als Laboratorium für naturwissenschaftliche Forschung und ihre technische Anwendung zu sehen, stehen hier die Stimmen im Vordergrund, die Amerika ein Recht auf seine eigenen Utopien einräumen. 123 Chamoiseau/Confiant/Ette/Ludwig: 1992, 10. Bei Glissant treffen wir schon 1956 auf den Labor-Begriff (Glissant: 1956, 15). 124 Depestre: 2000, 7 125 Ebd., 8. 126 Schulte: 1997, 251. 127 Glissant: 2005a, 80. 128 Ette: 2005b, 176. 129 Ebd., 176.

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repite,130 ein Mikrokosmos, der qua seiner Geschichte Teile aus aller Welt in sich trägt. »Der Vernetzungsraum der Karibik«, so Ette, »[stellt] die vielleicht größte Herausforderung für die zukünftige Weltgesellschaft dar«131, denn die neuen Kultur- und Identitätsformen lassen sich vor dem Horizont unseres herkömmlichen Kulturverständnisses nicht adäquat erfassen: »Nicht die befürchtete Balkanisierung mit dem Alptraum ethnischer Säuberungen, sondern die Karibisierung im Zeichen transkultureller Relationalität hält jenseits aller Illusionen manche Grundelemente für zukünftige Entwicklungen im Weltmaßstab bereit.«132 Von Ortiz’ Transculturación bis hin zu den jüngsten Diskussionen um Cultural Agency in the Americas133 wird hier Identität und Kultur in einer neuen, ›debalkanisierenden‹ Weise gedacht. Den literarischen, medialen, künstlerischen und wissenschaftlichen Konstruktionen wird hierbei eine hohe Verantwortung für kulturelle Verhandlungen einer ›neuen Weltordnung‹ beigemessen.134 Ettes erster Band seiner vielbeachteten Lebenswissen-Trilogie, ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, endet mit dem Aufruf: »Für das 21. Jahrhundert dürfte es keine Frage geben, die wichtiger und von größerer Tragweite wäre als jene nach möglichst vielfältigen und vielverbundenen Formen des Zusammenlebens unter Wahrung und Achtung von Differenz.«135 Auch seine breit rezipierte Programmschrift »Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft« unterstreicht die Bedeutung der Humanities, da sie ein Lebens-, Überlebens- und Zusammenlebenswissen anbieten, welches dem Bereich der Ethik eng verbunden sei.136 Literatur begreift Ette dabei als ein »sich wandelndes Speichermedium von Lebenswissen, das […] Modelle von Lebensführung simuliert und aneignet, entwirft und verdichtet und dabei auf die unterschiedlichsten Wissenssegmente und wissenschaftlichen Diskurse zurückgreift«137 . Der Literatur sei die Fähigkeit inhärent, »Lebensformen […] ästhetisch erfahrbar zu machen«, sie zeichne sich als »verdichtete und hochgradig dynamische Zirkulationsform von Wissen« aus.138 Literarische Texte inszenieren als Medium der aktiven Weltaneignung und -erzeugung mit fiktionalen Darstellungsmitteln eigenständige Wirklichkeitsmodelle. In ihren Fragestellungen sei die Literatur im Anschluss an Barthes und Iser stets dem voraus, was die anderen Wissenschaften sich erst noch erarbeiten müssten.139 Zudem

130 So der Titel von Antonio Benítez Rojos Studie zur Karibik und ihrem Verhältnis zur Postmoderne (1989). 131 Ette: 2001b, 22. 132 Ebd., vgl. ferner Gyssels: 2008b. 133 Sommer: 2006. 134 Vgl. Febel: 2006, 3. 135 Ette: 2004, 277. 136 Vgl. Ette: 2008, 114. Ette geht weit über den Realismus hinaus, wenn er konstatiert: »Das Leben scheint philologisch so selbstverständlich zu sein, daß es schlicht verschwindet oder im Diskurs zu Begriffen wie ›Realität‹ oder ›Gesellschaft‹ mutiert.« (Ebd., 116) 137 Ette: 2007b, 13. 138 Ebd., 14-16. 139 Vgl. ebd., 28. Die Überlegung, Literatur als Ethnographie, als Erkundungsmuster einer Kultur und ihrer Zeichen zu begreifen, findet sich bereits bei Barthes: »Sie ist ein wesentliches kulturelles Erkundungsorgan für das dreifach Fremde in der Gesellschaft: das eige-

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vermag sie »unterschiedliche Sprachen und verschiedenartige Logiken gleichzeitig zu Gehör zu bringen und miteinander zu verschränken«140, insofern in ihr die von Bachtin beschworene Redevielfalt und Dialogizität zum Tragen komme.141 Ette sieht diese Selbstreferentialität und Selbstreflexivität in besonderer Weise »in jenen translingualen literarischen Ausdrucksformen, die man als Literaturen ohne festen Wohnsitz«142 begreifen kann, gegeben. Lokales Lebenswissen gehe dort mit translokalisierten Lebenspraktiken einher. Durch die weltweite Rezeption und Aneignung von Literatur in unterschiedlich kulturellen Umfeldern kann sie neue Verbindungen zwischen diesen Kulturen schaffen, insofern sie die Machtabhängigkeit von Kulturbeschreibungen und das Dilemma der Repräsentationsautorität mitreflektiert. So kann eine neue Weltliteratur zu einer transkulturellen Kulturanthropologie beitragen.143 Der Heterogenität der Karibik begegnet diese Studie durch einen komparatistischen Blick auf die aktuelle franko- und hispanophone Literaturproduktion innerund außerhalb des Archipels. Bislang wurde die literarische Produktion der verschiedenen Inseln zumeist isoliert betrachtet, entweder aus dem Blickwinkel der Latin American Studies (Kuba, Puerto Rico und Dominikanische Republik) oder der Études francophones (Haiti, Guadeloupe, Martinique). Verläuft die Karibikforschung innerhalb der bestehenden Sprachgrenzen, werden parallel stattfindende Diskurse jedoch nicht wirklich wahrgenommen. Die vorliegende Studie versucht einen anderen Zugang zu finden, einen, der die romanischsprachigen Antillen im Kontext internationaler Karibik- und Diasporaforschung als Post-Sklavenhaltergesellschaften herausstellt. 1.2.3 Schlaglichter der Forschung 144 Da die Karibik als Laboratorium der Kreolisierung auf dem Sklavenschiff und der Plantage ihren Ausgang nahm, muss sie in einem erweiterten Diskursrahmen, der über den Atlantik nach Afrika, Amerika und Europa reicht, diskutiert und ›verlinkt‹ werden. Die dahinter stehende Frage ist, welche aktuellen kulturellen Globalisierungsbewegungen sich hier zeigen, die im Plantagensystem und im Atlantischen Dreieck, in der Simultanität von zerstörerischen und produktiven Kräften, ihren Ausgang genommen haben.

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ne Ich, die Differenz der Geschlechter und die andere, unbekannte Kultur« (Neumann: 1999, 34). Neumann sieht vor allem in Barthes’ Text L’Empire des signes eine Art New Historicism avant la lettre (ebd., 38). Ette: 2008, 117. Vgl. Bachtin: 2005. Ette: 2007b, 24. Vgl. Bachmann-Medick: 2003, 94. In den letzten Jahren sind wichtige Forschungsarbeiten zu den franko- und hispanokaribischen Literaturen erschienen, die mir als Ausgangsbasis dienen. Es ist aber nicht mein Ziel im Folgenden einen erschöpfenden Überblick des Forschungsstandes zu geben. Vielmehr behalte ich mir vor, einige für meine Fragestellung bedeutsame Studien zu nennen mit Blick auf Anschluss- und Abgrenzungsmöglichkeiten. Darüber hinaus verweise

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Eine der wenigen die Amerikanistik und Romanistik verbindenden Studien ist Valérie Loichots Untersuchung Orphan Narratives. The Postplantation Literature of Faulkner, Glissant, Morrison, and Saint-John Perse (2007).145 Die von Loichot beschriebene cultural orphanage der Postplantagen-Literatur ermöglicht ein Heraustreten aus dem kolonialen Herr/Knecht-Verhältnis, das bekanntlich häufig als ›Eltern/Kind-Beziehung‹ daherkam. Valérie Loichot löst dieses problematische ›Verwandtschaftsverhältnis‹ auf, indem sie die beiden Begriffe Orphan und Narrative produktiv miteinander verbindet: »Family and narrative transmission come to each other’s rescue, the one palliating missing links in the other. Where the actual family is dismembered, narrative accounts invent new familial links. […] An ›orphan narrative‹ is thus not only a narrative without a parent but, more important, a narrative initiated by the orphan.«146 Die rhizomatische, narrative Gemeinschaftsbildung ersetzt bei den Mitgliedern der »wounded community«147 die gesicherte familiäre Genealogie. Dahinter steht Loichots Frage: »How could human beings controlled by

ich auf die zahlreichen Anmerkungen in den einzelnen Kapiteln. Zu den Pionieren in der deutschsprachigen Romanistik, die sich schon seit den 1990er Jahren in der internationalen Karibikforschung verdient gemacht haben, gehören – neben dem Historiker Michael Zeuske – zweifellos Ralph Ludwig, Ottmar Ette, Ulrich Fleischmann, Frauke Gewecke und Hans-Jürgen Lüsebrink; und auch Gesine Müller mit ihrer Emmy NoetherForschungsgruppe zur Transkolonialen Karibik ebenso wie Anne Brüske mit ihrer Nachwuchsgruppe Karibik-Nordamerika und zurück an der Universität Heidelberg. Gerade Ralph Ludwigs in erster Auflage 1994 beim Pariser Gallimard-Verlag erschienener Sammelband Écrire la ›parole de nuit‹ – la nouvelle littérature antillaise, der mittlerweile seine vierte Auflage erlebt, hat die Rezeption der neueren antillanischen Literatur – in Anbetracht der mehr als 12.000 verkauften Exemplare – maßgeblich beeinflusst. Ferner ist sein Überblickswerk Frankokaribische Literatur (2008; die französische Ausgabe ist in Planung) zu nennen, in der er in chronologischer Weise sozialhistorisch kontextualisierte Darstellungen der wichtigsten Autoren und Autorinnen und Themen bis zum Jahr 2000 präsentiert; diese Studie gilt ebenfalls als Referenzwerk. Das innovative Konzept der Tout-Monde von Edouard Glissant im Kontext der Globalisierungstheorien wird erstmals im deutschen Forschungsraum diskutiert in Tout-Monde: Interkulturalität, Hybridisierung, Kreolisierung (Ludwig/Röseberg 2010). 145 Der »imperfect term« der Postplantation Literature dient ihr nur als heuristischer Begriff, um dem Präfix ›post‹ auszuweichen; eigentlich müsse die Untersuchung heißen: »Fiction-and-poems-from-the-postslavery-plantation-world-of-the-United-States-and-theFrench-lesser-Antilles-writen-by-female-and-male-black-and-white-authors« (Loichot: 2007, 7f.). In ihrer Schlussbetrachtung fordert sie den Leser auf, sowohl das ›post‹ als auch die ›plantation‹ als Analysekategorie zu verabschieden, denn auch die Plantage sei nur einer von vielen »ventres du monde«. Karibische Literatur sei langfristig im Kontext von Globalisierung zu denken: »[...] literatures of the U.S. South and the Caribbean need to be extracted from the Plantation academic ghetto and recast as active agents of these other bellies of the world […]. More precisely, I want to start thinking about how they contribute to the discourse of globalization.« (Ebd., 198) 146 Loichot: 2007, 2f. 147 Ebd., 19.

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the socioeconomic structure of slavery, which systematically attempted to orphan them from family cohesion, timelines, and organized narrative, produce empowering and innovative epistemological, literary, and political structures?«148 Der doppelte Mangel an Ursprung – historisch und familiär – lädt zu einer innovativen Epistemologie ein. Loichot spricht von »orphaned forms of expression«149 und einer ganz neuen »community-building«150 . Statt Mutter- oder Vaterschaft steht eine symbolische Geschwisterschaft im Sinne von »fictive kinships«151 im Zentrum der narrativen Gemeinschaft. Christine Duff widmet sich in Univers intimes. Pour une poétique de l’intériorité au féminin dans la littérature caribéenne (2008) ebenfalls Literaturen des karibischen und us-amerikanischen Raumes, die sich mit dem Erbe der Sklaverei für die (Post-)Plantagengesellschaften auseinandersetzen. Ihre Verknüpfung der Südstaaten mit den anglo- und frankophonen Antillen steht im Kontext eines transamerikanischen Wissenschaftsverständnisses. Ihr geht es konkret um die Frage, wie die Romantexte durch eine Poetik der Interiorität eine contre-Poétique entstehen lassen, denn eine »subjectivité fictive«152 von Menschen zu ›erfinden‹, die, laut Code noir, über Jahrhunderte den Status von Möbeln inne hatten, ist für Duff eine subversive und heilsame erzählerische Praxis: »La poétique de l’intériorité, c’est une poétique de revendication de son humanité, donc c’est une poétique de lutte.« 153 Vergleichende Arbeiten von franko- und hispanophonen Literaturen der Karibik liegen nur vereinzelt vor.154 Insbesondere das nachrevolutionäre 19. Jahrhundert, welches die Schwellensituation zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit in der Karibik zeigt und damit die »Bruchstellen kolonialer Systeme, die letztlich in kulturelle (und politische) Emanzipation münden«155, findet in verschiedenen Analysen Beachtung: Zum einen in Gudrun Wogatzkes umfassender imagologischer Studie Identitätsentwürfe. Selbst- und Fremdbilder in der spanisch- und französischsprachigen Prosa der Antillen im 19. Jahrhundert (2006), zum anderen in Janett Reinstädlers (unveröffentlichter) Habilitationsschrift Die Theatralisierung der Karibik: (post)koloniale Inszenierungen auf den spanisch- und französischsprachigen Antillen im 19. Jahrhundert. Hierbei handelt es sich um eine literatur- wie kulturwissenschaftlich ausgerichtete Theatergeschichte der romanischsprachigen Antillen. Reinstädler verortet das karibische Theater im 19. Jahrhundert in einem Spannungsfeld zwischen

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Loichot: 2007, 1. Ebd., 1. Ebd., 11, Herv. i.O. Ebd., 3. Sie entlehnt diesen Begriff von Orlando Patterson. Duff: 2008, 1. Ebd., 191. Zum Artikel 44 – »Déclarons les esclaves être meubles, et comme tels entrer en la communauté« im Code noir vgl. Sala-Molins: 1987, 178 und Ludwig: 2008, 37. 154 Eine sprachübergreifende Analyse franko-, anglo-, hispano- und kreolophoner Literaturen ist mir nicht bekannt. Ein erste komparatistische Annäherung von Daniel Graziadei ist im Erscheinen: Insel(n) im Archipel. Zur Verwendung einer Raumfigur in zeitgenössischen anglo-, franko-und hispanophonen Literaturen der Karibik (Dissertation an der Universität München, eingereicht 2013). 155 Müller: 2012, 3.

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kolonialen Konzepten eurozentristischen Zuschnitts und frühen anti- bzw. postkolonialen Entwürfen eines hybriden Kulturraums. Sie wertet das damalige Theater als »Vermittler zwischen den divergierenden Sinnsystemen europäischer, lateinamerikanischer und afrikanischer Kulturen« und als »privilegierten Ort, an dem über ästhetische Fragen hinaus ethnische, geschlechtliche und nationale Sinnsetzungen verhandelt werden«.156 Literarischen und außerliterarischen Repräsentationsformen wendet sich Gesine Müller in ihrer Schrift Koloniale Karibik. Transferprozesse in hispanophonen und frankophonen Literaturen (2012) zu. Ihr innerkaribischer Vergleich – angelehnt an die Methoden einer Histoire croisée – zielt auf die unterschiedliche Rezeption und Transkulturation mutterländischer Diskurse sowie deren Rückwirkungen auf die Fremdbilder in der Metropole im Zeitraum 1789-1886. Diese frühen »Positionierungen zum kolonialen Status Quo«157 sind aufschlussreich für die aktuelle Karibikforschung, denn sie zeigen diverse Kreolisierungsprozesse avant la lettre. Eine erste vergleichende psychoanalytisch argumentierende Monographie zur aktuellen romanischen Literatur der Antillen (Haiti und Kuba), in deren Zentrum das Chaos-Konzept diskutiert wird, hat Dominique Chancé mit Écritures du chaos. Lecture des œuvres de Frankétienne, Reinaldo Arenas, Joël Des Rosiers (2009) vorgelegt.158 Indem Chancé ausschließlich Autoren in den Blick nimmt, bleibt die Studie bei der Frage nach Vaterschaft und Autorschaft stehen; die Korrelation von Trauma, Genealogie und Gender bleibt ausgespart. Ebenfalls den Fokus auf die französischund spanischsprachige Karibik setzt die neue antillanische Zeitschrift Archipélies (La revue des mondes pluriculturels) mit ihrer ersten Ausgabe zu »Écriture et marginalité dans la Caraïbe: de Saint John-Perse à Reinaldo Arenas« (2010). Die Studie Le roman antillais, personnages, espace et histoire. Fils du chaos (2004) von Françoise Simasotchi-Bronès nimmt – wie Chancés erwähnte Studie – Glissants produktiven Chaosbegriff auf und wendet sie auf die frankokaribische Literatur an. Auf dem Feld der Cultural Studies ist Andrea Schwieger Hiepkos Studie Rhythm ›n‹ Creole. Antonio Benítez Rojo und Edouard Glissant. Postkoloniale Poetiken der kulturellen Globalisierung (2009)159 innovativ, da sie aktuelle kulturelle Globalisierungskonzepte für die Romanistik erschließt, auf die ich im folgenden Kapitel genauer eingehe. 1.2.4 Kulturelle Chaosforschung: Chaos-monde, polirritmo und Rhizomatik Alle hier behandelten Texte antillanischer Autoren und Autorinnen kreisen um die Frage: Wie kann nach Deportation und Sklaverei und dem damit einhergegangenen

156 Reinstädler: 2010, 9-13. 157 Müller: 2012, 266. 158 Chancé legt den Schwerpunkt bei Arenas vor allem auf seine fünfbändige Pentagonie, die bei mir keine große Rolle spielt. 159 Zum Vergleich von Glissant und Benítez Rojo mit Blick auf poststrukturalistische Modelle im Zusammenhang mit der Plantage siehe auch Hofmann: 1994, Campa: 1997; Sprouse: 1997.

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genealogischen Chaos, diesem »cataclysme anthropologique initial«160 eine neue Genese entstehen? Wie ist aus diskontinuierlichen Lebensgeschichten und zersplitterten Geschichtsverläufen ein identitäres und kulturelles Bewusstsein zu gewinnen? Das Besondere an dieser Literatur ist der anthropologische Umschwung über das ästhetische Sublimieren von der Apokalypse zu einer neuen Genese (»cette mutation douloureuse de la pensée humaine«161). Patrick Chamoiseau spricht in einer Table Ronde zum Thema »De l’Esclavage au Tout-Monde« von einer Gründungsalchimie: »Cette production anthropologique nouvelle est entachée par le crime fondateur et, d’une certaine manière, liée avec le crime fondateur. […] Ce processus, cette alchimie anthropologique a produit l’identité créole et, finalement, la poétique du monde actuel. […] Si nous parvenions à repenser le lieu de l’esclavage comme un lieu de matrice fondatrice, si nous parvenions à comprendre que, dans cette horreur, dans ce crime, malgré le déni fondamental qui s’est produit là, la vie, les humanités ont réussi à produire du nouveau et que ce nouveau est […] valable pour tous, parce que ce nouveau s’est produit dans la relativisation et dans la mobilisation du divers, à ce moment-là l’esclavage est une terrible leçon qui nous a été donnée. […] Si nous parvenons à penser en ces termes, à dénoncer le crime et à en considérer l’alchimie fondatrice, nous serons mieux à même d’entrer et à parachever le processus d’humanisation […].«162

Vernichtung und Überleben gehören zu den Grundmerkmalen antillanischer Existenz. Wie schon an anderer Stelle erwähnt, verweisen viele karibische Autoren, trotz der kolonial erzwungenen multiethnischen Gesellschaft, auf die Möglichkeit einer neuen Menschlichkeit: »N’avons-nous pas droit et moyen de vivre une autre dimension d’humanité? Mais comment?«, fragt Edouard Glissant.163 Valérie Loichots Gedanke, »how humans maintain humanity in spite of their forced animalization in colonization and slavery«164 zielt in dieselbe Richtung. Da die ›Apokalypse‹ bereits stattgefunden hat, folgen die Romane aber keiner traditionellen Genesis und lückenlosen, legitimen Stammlinie wie es für atavistische Kulturen der Fall ist. Glissant bspw. erzählt in Form einer digenèse brüchige, plurale Geschichten, deren aktuelle Raum-Zeitverortung immer mit der »Temps d’Avant« in Relation gesetzt wird, ausgehend von einem »trou noir du passé«, einer »antiorigine«.165 Diese Geschichten dienen Glissant als Fluchtlinie, um das daraus entstandene Chaos zu situieren. In seinem Essay »Culture et identité« aus dem Band Introduction à une Poétique du Divers postuliert er emphatisch: 160 Simasotchi-Bronès: 2004, 261. Sie konkretisiert: »Le plus grand traumatisme n’a pas été tant dans l’esclavage, qui existait déjà en Afrique occidentale, mais dans cette mort sociale et ontologique qui faisait que l’esclave néo-américain passait de l’état d’homme à celui de marchandise, d’objet, qu’il n’était plus considéré comme appartenant à l’espèce humaine. La Traite fut, pour l’Africain, un véritable cataclysme anthropologique.« (Ebd., 20) 161 Glissant: 1996a, 16. 162 Chamoiseau in Chevrier: 1999b, 61-63, Herv. N.U. 163 Glissant: 1997b, 21. 164 Loichot: 2007, 32. 165 Chancé: 2001, 214-216.

44 | I E INLEITENDE Ü BERLEGUNGEN »Dans la rencontre planétaire des cultures, que nous vivons comme un chaos, il semble que nous n’ayons plus de repères. […] Nous désespérons du chaos-monde. Mais c’est parce que nous essayons encore d’y mesurer un ordre souverain qui voudrait ramener une fois de plus la totalité-monde à une unité réductrice. […] C’est pourquoi je réclame pour tous le droit à l’opacité. Il ne m’est plus nécessaire de ›comprendre‹ l’autre, c’est-à-dire de le réduire au modèle de ma propre transparence […].«166

Und in seinem Essay »Le chaos-monde: pour une esthétique de la Relation« fügt er hinzu: »J’appelle chaos-monde […] le choc, l’intrication, les répulsions, les attirances, les connivences, les oppositions, les conflits entre les cultures des peuples dans la totalité-monde contemporaine. […] il s’agit du mélange culturel, qui n’est pas un simple melting-pot, par lequel la totalité-monde se trouve aujourd’hui réalisée.«167 Doch wie kann Kreolisierung, entstanden im Kontext massiver Gewalterfahrung der Plantagenökonomie, als Modell einer neuen Kulturbegegnung im globalen Zeitalter dienen? Gibt es eine spezifische transhistorische Gewaltsublimierung im Raum der Karibik, die globale Anwendung finden kann? Für den karibischen Raum ist die etymologische Herleitung des Wortes Chaos aufschlussreich. Chaos hängt mit dem griechischen Verb  (»klaffen, gähnen«) zusammen, bedeutet also ursprünglich etwa »klaffender Raum«, »Leere«, »Kluft«.168 In der ersten Schöpfungsgeschichte der Bibel (Genesis 1,1-5) können die Worte »wüst und leer« auch als ein anderer Ausdruck für Chaos gedeutet werden. In der Bibel geht es um den Weg vom Chaos zur Ordnung, denn aus dem Nichts habe Gott die Welt geordnet, habe er Licht, Landschaft, Menschen und Tiere geschaffen. Versuchen karibische Autoren wie Glissant oder Rodríguez Juliá nicht aus der vernichtenden Erfahrung der Sklaverei eine neue Ordnung herzuleiten? Die Bibel ist intertextuell in vielen karibischen Romanen weithin präsent, ob nun bei Glissant durch die an Kain und Abel erinnernde Bruderthematik, die Namen einzelner Figuren (z.B. Melchior Longoué) oder bei Rodríguez Juliá durch den dämonischen Messias Niño Avilés oder die biblische Namensgebung der Sklaven wie Marcos und Simón, um nur einige Beispiele zu nennen.169 Glissant spricht Literatur die Fähigkeit der prophetischen Erinnerung zu, sprich die Vergangenheit in die Zukunft zu projizieren und fehlende Geschichte zu substituieren, um kollektive Erinnerungen zu schaffen.170 Das Zusammenwirken der offiziel-

166 Glissant: 1996a, 71. 167 Ebd., 82. In Traité du tout-monde schreibt er vergleichbar: »J’appelle Chaos-monde le choc actuel de tant de cultures qui s’embrasent, se repoussent, disparaissent, subsistent pourtant, s’endorment ou se transforment, lentement ou à vitesse foudroyante: ces éclats, ces éclatements dont nous n’avons pas commencé de saisir le principe ni l’économie et dont nous ne pouvons pas prévoir l’emportement« (Glissant: 1997b, 22). 168 Im Online Etymology Dictionary findet sich folgende Erläuterung: »abyss, that which gapes wide open, is vast and empty«, http://www.etymonline.com/index.php?term= chaos. 169 Diese Liste ließe sich reichhaltig weiterführen. Chamoiseaus Roman Biblique des derniers gestes (2002) referiert schon im Titel auf die Bibel. 170 Zu seiner »vision prophétique du passé« vgl. Ueckmann: 2010b.

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len Histoire und den histoires bildet die Matrix für ein antillanisches imaginaire und ermöglicht damit die Entwicklung eines kollektiven Gedächtnisses für die Region. Die große Geschichtsschreibung des Kolonialismus wird durch andere narrative Modelle, namentlich den Mythos und den Roman ersetzt, um somit den Mangel an kollektivem Gedächtnis zu kompensieren. Die konstruktive Interpretation und Repräsentation von Geschichte(n), die »anecdotas infinitas«171 fungieren als geschichtliche Selbstvergewisserung. Die Vorstellung, dem historisch erlebten Chaos und Leid, den seelischen und körperlichen Verletzungen, mittels Kreativität zu begegnen, teilen viele karibische Schriftsteller und Schriftstellerinnen.172 Der expatriierte kubanische Schriftsteller Antonio Benítez Rojo überträgt in La isla que se repite. El Caribe y la perspectiva posmoderna Erkenntnisse der Chaostheorie und des Poststrukturalismus auf die spezifische Situation der Karibik.173 Vergleichbar mit Glissants chaos-monde hebt Benítez Rojo neben dem System der Plantagenwirtschaft als bestimmende ökonomische Größe den für die Karibik charakteristischen »polirritmo« hervor.174 Er meint damit einen Wissensdiskurs jenseits von Linearität, Kohärenz und Kausalität, der Modernitätsgeschichte postkolonial umzuschreiben vermag. Benítez Rojo verfolgt dieses Ziel über die Wiedereinschreibung marginalisierter Kulturtechniken wie Rhythmus, Gesang und Tanz. Er spricht von einem karibischen »supersincretismo«175 , konkret vom »caos espiral de la Vía Láctea, el impredecible flujo de plasma transformativo que gira con parsimonia en la bóveda de nuestro globo, que dibuja sobre éste un contorno ›otro‹ que se modifica a sí mismo a cada instante [...] cambio, tránsito, retorno, flujos de materia estelar«176 . Die Karibik funktioniere wie eine »máquina feed-back de agua, nubes o materias estelar«177. Die Begriffe Rhythmus, Wasser, Wolken und Galaxien markieren die dauernde Bewegung und das Prozess-

171 Sánchez: 1994, 15. 172 Dies ist nicht unbedingt nur ein Charakteristikum karibischer Literatur. Bereits Maurice Blanchot, in dessen Werk Erfahrungen des Verlustes und des Todes im Zusammenhang mit der Shoa, die Frage von Genozid und Gedächtnis eine wesentliche Rolle spielen, spricht von einer Écriture du désastre (1980). 173 Der Text wurde 1989 zuerst in Hanover/USA publiziert. Zusammen mit dem Übersetzer James Maraniss erarbeitete Benítez Rojo die englische Ausgabe The Repeating Island. A Postmodern Approach to Sameness and Difference in the Caribbean (1992), die die amerikanisch geprägte Lateinamerikanistik entscheidend beeinflusst. La isla que se repite/Repeating Island ist der zweite Teil einer Trilogie zur Karibik, in der verschiedene narrative Formen aufgeboten werden. Die Trilogie setzte 1979 mit dem Roman El mar de las lentejas ein und wurde mit dem Erzählband A View from the Mangrove/Paso de los vientos (1998/1999) beschlossen. Wie Glissant benutzt Benítez Rojo verschiedene narrative Formen (Erzählung, theoretisches Essay und Roman). Für eine ausführliche Analyse von Benítez Rojos Studie vgl. Sieber: 2005, 133-137 und Schwieger Hiepko: 2009, 127-197. 174 Benítez Rojo: 1989, xxii-xxix. 175 Ebd., xv. 176 Ebd., v. 177 Ebd., xv.

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hafte bei den Konstruktionen zur Erfassung der Karibik. Gegen den Begriff der Apokalypse setzt Benítez Rojo die produktiven Turbulenzen eines »caos que retorna«: »[…] el Caribe no es un mundo apocalíptico. La noción del apocalipsis no ocupa un espacio importante de su cultura. Las opciones de crimen y castigo, de todo o nada, de patria o muerte, de a favor o en contra, de querer es poder, de honor o sangre, tienen poco que ver con la cultura del Caribe; se trata de proposiciones ideológicas articuladas en Europa que el Caribe sólo comparte en términos declamatorios, mejor, en términos de primera lectura. [...] El Caribe es el reino natural e impredecible de las corrientes marinas, de las ondas, de los pliegues y repliegues, de la fluidez y las sinuosidades. Es, a fin de cuentas, una cultura de meta-archipiélago: un caos que retorna, un detour sin propósito, un continuo fluir de paradojas; es una máquina feedback de procesos asimétricos, como es el mar, el viento y las nubes, la Vía Láctea, la novela uncanny, la cadena biológica, la música malaya, el teorema de Gödel y la matemática fractal.«178

Das von ihm diagnostizierte »polyrhythmische Chaos«179 mache ein systematisch geordnetes Erfassen der Karibik mit herkömmlichen Hierarchien und Kategorien unmöglich und verweise auf den kulturellen Eigensinn trotz des kolonialen Stempels. Doch wie inszenieren karibische Autoren und Autorinnen dieses Chaos? Welche Techniken setzen sie ein, um Geschichtsschreibung zu einer kreativen Tätigkeit werden zu lassen?180 Insbesondere Glissants karibische Saga bildet eine Art Gründungsgeschichte der Vernichtung und dem damit verknüpften Chaos. Im Discours antillais beschreibt er seine Techniken, die alle dem Ziel dienen: »[…] détrousser le chaos de l’histoire subie. Là aussi les techniques d’expression ne sont pas innocentes. Explorer ce chaos de la mémoire (offusquée, aliénée, ou réduite à un répertoire de repères naturels) ne peut se faire dans la ›clarté‹ de l’exposé consécutif. La production de textes doit être à son tour productrice d’histoire, non en tant qu’elle déclenche un événement mais en tant qu’elle ressuscite à la conscience un pan tombé. L’exploration n’est pas analytique mais

178 Ebd., xiii-xiv, Herv. i.O. 179 Schwieger Hipko: 2009, 200. Für Karin S. Wozonig gehören nichtlineares Erzählen, ebenso wie ein »Denkmodus, der von der Komplexität der zu untersuchenden Systeme ausgeht« sowie eine »Vorstellung der Moderne als nichtlineares System« (Wozonig: 2013, 235ff.) als Charakteristika zu einer chaostheoretischen Literaturwissenschaft, die gerade in den Postkolonialen Studien Anwendung fände. Wozonig kommt zu dem Schluss: »Eine chaostheoretische Literaturwissenschaft kann mit ihrer Kernkompetenz der Erzählforschung die für komplexe Gesellschaften nötige Geschichtserzählung leisten« (ebd., 242, Herv. i.O.). Vgl. ferner das Kapitel »Literatur als chaotisches System« in Chris von Gagerns Studie Ernüchterndes Europa (2002) zu karibischen Migranten in Europa. 180 Zum transmedialen Gedächtnis in der Karibik vgl. Febel/Ueckmann: 2014, zum Zusammenhang von Hermeneutik und Gedächtnis in der frankokaribischen Literatur vgl. Ludwig: 2014b.

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créatrice. L’exposé est tremblant de cette création, opaque de ce contenu contradictoire dont la convergence n’est pas donnée d’emblée.«181

Das netzartige Wandern und textuelle Wuchern zeigt sich exemplarisch in Glissants Werk, welches maßgeblich in Auseinandersetzung mit Überlegungen von Segalen, Faulkner oder poststrukturalistischen Konzepten entstanden ist. Glissants offenes, polyzentrisches Œuvre bietet augenzwinkernd eine postkolonial-ästhetische Übersetzung von Mille Plateaux an: »C’est là un choix poétique de Deleuze et de Guattari, et peut-être qu’en ce qui me concerne je m’arrêterais à penser Mille Jungles ou Mille Cyclones, mais le fondement est le même: là où les géographies des idées, des désirs, des créativités, échappent au Territoire, aux systèmes continentaux, et entrent dans les Archipels. Les barques nues naviguent sur les savanes, la canne à sucre pousse au plein des vagues de la mer.«182

Es ist kein Zufall, dass Glissant die Mille Plateaux durch Mille Jungles/Mille Cyclones ersetzt und in direkte Beziehung zur Plantage setzt; er ›erdet‹ und lokalisiert poststrukturalistisches Denken. Philosophische Konzepte wie Nomadologie, Rhizom, littérature mineure oder Deterritorialisierung führt Glissant auf einen konkreten lokalen, geschichtlichen Hintergrund zurück, denn »nomadologie [...] has a history in colonialism«183. In Poétique de la Relation fragt er kritisch: »Mais le nomade ne serait-il pas surdéterminé par ses conditions d’existence? Et le nomadisme, non pas une jouissance de liberté mais une obéissance à des contingences contraignantes? […] Nomadisme des peuples qui se déplacent dans les forêts, des communautés arawaks qui naviguaient d’île en île dans la Caraïbe […].«184 Die multiplen kulturellen Kontexte,185 eine inter- und intratextuelle Netzwerkarbeit auf inhaltlicher und formaler Ebene – ich würde hier von einer Barockheit des Denkens sprechen –, kennzeichnen nicht nur Glissants Werk grundlegend. Das Umformulieren der Moderne, der Bruch mit den Großnarrativen, die im Wesentlichen im Rahmen der europäischen Parameter erzählt wurden,186 geht in der karibischen Literatur mit einer bestimmten Rezeptionsweise einher. Den Autor/innen geht es um eine Revision des von europäischer Seite etablierten Kanons. Indem bekannte Schlüsseltexte oder ›Gründungsmythen‹ bspw. von Arenas, Rodríguez Juliá oder Glissant auf

181 Glissant: 1997, 345. 182 Glissant: 2005a, 137. 183 Miller: 2003, 133. Christa Stevens kritisiert die ahistorische Sicht der französischen Denker: »d’un côté il y a le penseur martiniquais qui se donne le devoir de se situer devant l’Histoire et dans le monde; et de l’autre il y a le philosophe français qui, par sa position au Centre, se paie le luxe d’élaborer un système philosophique certes dérivé du réel et de l’empirique, mais le met explicitement au service d’un univers virtuel, libre de tout contexte socio-historique« (Stevens: 2008, 219). 184 Glissant: 1990, 24. 185 Milan Kundera spricht für die Antillen von einer »multiplicité des contextes médians« (Kundera: 1991, 57). 186 Vgl. Hall: 1997, 232.

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kreative Art neu- bzw. umgeschrieben werden, entstehen alternative Geschichten, in denen die bisher abwesenden Stimmen und Perspektiven der Kolonisierten eingeschrieben sind. Ergebnis davon ist eine Ansammlung erzählter Erinnerungen und Erfahrungen. Gerade bei den hispanokaribischen Autoren wird die dargestellte Welt durch groteske Verzerrung in ihrem Wahrheitsanspruch in Frage gestellt. Im dekonstruktivistischen Sinne handelt es sich um ein ›doppeltes Einschreiben‹: Die Autoren privilegieren koloniale Narrative und distanzieren sich zugleich davon, so dass man über sie hinausgelangt.187 Die chaotische und polyrhythmische Schreibweise lässt rhizomatische Texte entstehen, die eine wuchernde Netzstruktur aufweisen, statt auf eine gesicherte Herkunft hinzuweisen wie es der Stammbaum nahe legt. Deleuze/Guattari greifen das rhizomatische Modell aus dem Bereich der biologischen Metaphorik, der Netzwurzelwerke auf, und stellen es dem hierarchischen Modell der Baumverzweigung gegenüber.188 Sie beschreiben damit Beziehungsgefüge in jeglicher Hinsicht, welche auch übertragbar auf die Schreibweise von Texten ist.189 Ein Rhizom ist, so wie Deleuze/ Guattari es in der Einleitung zu Mille plateaux als neue epistemologische Kategorie vorschlagen, produktiv und nicht reproduktiv: »Un plateau est toujours au milieu, ni début ni fin. Un rhizome est fait de plateaux. […] Un rhizome ne commence et n’aboutit pas, il est toujours au milieu, entre les choses, inter-être, intermezzo. L’arbre est filiation, mais le rhizome est alliance, uniquement d’alliance. L’arbre impose le verbe ›être‹, mais le rhizome a pour tissu la conjonction ›et… et… et…‹. Il y a dans 190 cette conjonction assez de force pour secouer et déraciner le verbe être.«

In einem Rhizom gibt es keine Hierarchie und kein Zentrum, sondern Fluchtlinien und Verbindungen (Allianzen), die offen und unerwartet sind und in jede Richtung wuchern. Deleuze/Guattari sprechen von sich überkreuzenden Segmentierungs- und Deterritorialisierungslinien; jeder Punkt eines Rhizoms kann mit jedem anderen verbunden werden:

187 Vgl. ebd., 238. 188 Vgl. Deleuze/Guattari: 1980, 13-19. Das Rhizom ist ein Strukturmerkmal, das der Botanik entlehnt ist. In der Biologie ist ein Rhizom ein Wurzelstock, das meist unterirdisch oder dicht über dem Boden wächst. Auffallend ist die Dynamik und Unberechenbarkeit des Wurzelstocks. Ein Text-Rhizom ist ein verflochtenes System, das nicht in Dichotomien zu denken ist. 189 So trägt z.B. der Romanerstling des aus Trinidad kommenden Autors Lawrence Scott den Titel Witchbroom (1992), was soviel heißt wie Hexen- oder Donnerbesen. Es handelt sich dabei um ›Missbildungen‹ in Baumkronen, eine Art ungeregeltes Auswachsen normalerweise ruhender Seitenknospen, die an einen ausgefransten Besen erinnern. Scotts titelgebender Verweis auf ›parasitäres Wachstum‹ und ›Missbildungen‹ innerhalb seiner romanesken Familiengeschichte markiert die Problematik einer eindeutigen karibischen Genealogie. 190 Deleuze/Guattari: 1980, 32ff, Herv. i.O.

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»Un rhizome peut être rompu, brisé en un endroit quelconque, il reprend suivant telle ou telle de ses lignes et suivant d’autres lignes. […] Tout rhizome comprend des lignés de segmentarité d’après lesquelles il est stratifié, territorialisé, organisé, signifié, attribué, etc.; mais aussi des lignes de déterritorialisation par lesquelles il fuit sans cesse. Il y a rupture dans le rhizome chaque fois que des lignes segmentaires explosent dans une ligne de fuite, mais la ligne de fuite fait partie du rhizome. Ces lignes ne cessent de se renvoyer les unes aux autres.«191

Ein Rhizom bietet immer vielfältige Zugangsmöglichkeiten analog zum Prinzip der Kartographie. Statt einer Verwurzelung in Raum und Zeit stehen das Rhizom und die Karte für eine Oberflächenstruktur, deren Punkte beliebig miteinander vernetzt werden können. Kartographisch lassen sich also verschiedene Ebenen aus dem Chaos ziehen und sichtbar machen. So haben Glissants oder Fignolés Romane keinen Anfang, sondern Zugänge. Ein Rhizom ist zudem nicht abschließbar, so verfügen diese Romane nicht unbedingt über ein Ende, sondern eher über Ausgänge bzw. Weiterleitungen. Innerhalb der ineinander verschachtelten Geschichten werden häufig Strukturen favorisiert, die vom Kreis- und Spiralförmigen statt von Linearität geprägt sind. Es gibt häufig keinen Hauptstrang der Geschichte mehr, die Figuren befinden sich eher im Strudel der Geschichte. Bilder des Chaos und der errances durchziehen die Romane. Nomadisches und rhizomatisches Wissen, »le contraire d’une histoire«192, sind die neuen azentrischen Strategien. Rhizom, Plateau, Spirale, Chaos, Ellipse, Archipel fungieren als epistemologische Begriffsmetaphern, die konzeptuell postmoderne/postkoloniale Erzählstrategien zu fassen suchen. Wir haben es mit barocken, ausufernden Romanen zu tun. Statt auf mesure treffen wir auf démesure in Kombination mit magischen Elementen, denn wie Glissant festhält: »les processus de répétition, de redondance, de rupture et de circularité de récit, d’assonance qui sont tous à l’encontre de l’économie de la langue française telle qu’elle ressort de son histoire poétique européenne« stehen im Dienste der »éléments magiques.«193 Patrick Sultan wählt für die Literaturen der Karibik das Bild der »beaux monstres romanesques«: »›Foisonnante‹, ›débordante‹, ›transgressive‹, tels sont les qualificatifs que l’on attribue invariablement à cette propension au baroque qui semble caractériser l’écriture antillaise.«194 Viele karibische Autoren legen einen ausgeprägten ›Totalitätsanspruch‹ an den Tag, exemplarisch dafür sei ein Zitat von Chamoiseau angeführt: »J’essaie de fonder une littérature qui tend vers la totalité, qui essaie d’associer les langues dominées et les langues dominantes, qui essaie de mélanger un monde oral et un monde écrit, qui essaie de se projeter dans la modernité de l’expression qui est une tension vers la totalité.«195 Mit der Wahl der Gattung – in der Regel haben wir es mit groß angelegten Romanprojekten, wie Trilogien, Tetralogien oder einer Art karibischen Comédie humaine zu tun – vertreten die Autoren implizit die Auffassung, dass trotz der fragmentierten Geschichte die antillanische Lebenswelt in epischer Breite erzählt werden soll

191 192 193 194 195

Ebd., 16. Ebd., 34. Glissant: 1997e, 69f. Patrick Sultan, zit. n.: Chancé: 2003, 867. McCusker/Chamoiseau: 2000, 727.

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– gleichsam eine detaillierte Rekonstruktion des Verlusts. Selbst wenn wir es nur mit einem einzelnen Roman zu tun haben, so müssen wir immer die konkreten Hypotexte mitberücksichtigen. Die Neuschreibung bereits vorhandener Texte als ästhetisch motiviertes Schreibverfahren findet sich sehr häufig in den von mir ausgewählten Romanen, insbesondere bei Arenas und Rodríguez Juliá. Die Geschichten nehmen Raum ein und beanspruchen Zeit, sowohl auf der Ebene der Erzählzeit als auch hinsichtlich der erzählten Zeit. Sie sind mit Wiederholung und Verdichtung auf allen sprachlichen Ebenen ausgestattet. Die Texte verfügen häufig über zahlreiche Öffnungen, sie verweisen gerade durch ihre vielfältigen Paratexte wie Annex, Glossar, Vorwort, Motti, Widmungen etc. immer wieder auf andere Texte. Es entsteht eine wuchernde Netzstruktur, ein texte infini, so dass die extreme Amplifikation »peut être le fantasme du sujet dominé«196.

1.3 »L A

QUERELLE AVEC L ’H ISTOIRE «

1.3.1 Historiographie und Narrativität Nicht nur die radikale Kritik der philosophischen Tradition des Rationalismus wie ihn bspw. Deleuze/Guattari in Mille plateaux zum Ausdruck bringen, hat einen umfassenden cultural turn der Geisteswissenschaften befördert. Insbesondere der in den 1990er Jahren ausgerufene narrativist turn in den Geisteswissenschaften initiierte eine kritische Reflexion der narrativen Konstruktion von Kultur(en) und sensibilisierte für die performative und konstruktivistische Funktion des Erzählens.197 Im Zeichen der Postmoderne wird die entschiedene Trennung zwischen facts und fiction perforiert. Das Bewusstsein von der Textualität und damit Konstruiertheit der Geschichte, wie es der New Historicism nahe legt, durchzieht die ganze Arbeit. Die dem New Historicism inhärente engagierte, politische Haltung und seine Analyse von Machtstrukturen lässt ihn besonders für postkoloniale Lektüren in Anschlag bringen.198 Das poetische Verfahren bei der Konstruktion von Geschichte und Referenzialität wird von zahlreichen Historikern hervorgehoben, so z.B. von Hayden White in Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe.199 Für ihn ist Geschichtsschreibung ebenso eine Form der sprachlichen Fiktion (verbal fictions) wie der Roman eine Form historischer Darstellung ist; die Fiktion avanciert gewissermaßen zum Quellentext, denn jede Form der Geschichtsschreibung bedient sich der dar-

196 Lagarde: 2001, 160. 197 Vgl. Kreiswirth: 1992, Bachmann-Medick: 1996/2004, Strohmaier: 2013. 198 Vgl. Kaes: 2001, 255. Der Begriff des New Historicism wurde zum Sammelbegriff einer kontextorientierten, sich zunehmend kulturwissenschaftlich begründenden Literaturwissenschaft, vgl. Baßler: 1995/2000, insbesondere seine Einleitung »New Historicism – Literaturgeschichte als Poetik der Kultur«. 199 Ich stütze mich vor allem auf die Einleitung »The Poetics of History« (1973, dt. 1991) und den auf Deutsch erschienenen Aufsatz »Der historische Text als literarisches Kunstwerk« (White: 1994, 123-157).

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stellerischen Mittel der Narration. White betont die erzählerischen und interpretatorischen Elemente und den vorläufigen Charakter sowie die potentielle Revidierbarkeit und Unvollständigkeit aller Beschreibungen, die jeder Geschichtsschreibung innewohnen.200 Anders formuliert: Es gibt keine Geschichte vor der Interpretation, Fakt und Fiktion bedürfen immer der Deutung. Interessant ist dabei, dass White vom allegorischen Charakter der Historiographie spricht: »Und insoweit, als die historische Erzählung reale Ereignisreihen mit jener Art von Sinn ausstattet, die ansonsten nur im Mythos und in der Literatur zu finden ist, können wir sie zu Recht als das Produkt von Allegorese bezeichnen. Statt daher jede historische Erzählung als ›mythisch‹ oder ›ideologisch‹ zu beargwöhnen, wäre es richtiger sie als Allegorie zu verstehen, das heißt: sie sagt etwas und meint etwas anderes.«201

Geschichtsschreibung bedient sich demnach ebenso narrativer, rhetorischer oder allegorischer Muster wie es die hier vorgestellten literarischen Texte tun. Die Schriftsteller/innen treten an die Stelle von Historikern, um die verdrängte Vergangenheit zu erinnern, um einen Gegendiskurs zu etablieren und um eine Tradition zu erfinden; Toni Morrison nennt es »literary archeology« oder »re-memory«.202 In der karibischen Literatur geht es dabei auch um die Neubewertung kultureller Ausdrucksformen wie mündliche Erzählungen, Märchen, Mythen, Legenden. Sie stellen jene Vergangenheit dar, die im autorisierten kolonialen Geschichtsdiskurs keine Berücksichtigung findet. In Sémiologie des apparences charakterisiert der Haitianer Maximilien Laroche »Littérature et folklore dans la Caraïbe francophone« als alternativen Geschichtsdiskurs: »Hier, Price-Mars se demandait: que faire de nos contes? Aujourd’hui Chamoiseau en fait des romans et déjà Michel-Rolph Trouillot y trouve même le modèle pour une nouvelle narration de notre Histoire nationale. Le savoir du peuple n’est plus fictif. Il est une réalité fondatrice de nos discours. Folk-lore: savoir du peuple!«203

Der spezifische Ort karibischer Literatur zwischen Fiktion und Geschichtsschreibung zeigt sich anhand der Hinweise auf literarische Gattungen und Traditionen, auf ande-

200 Die Zuverlässigkeit schriftlicher Quellen und den ihnen eigenen Darstellungsverfahren stellte bereits 1830 der Historiker Thomas Carlyle konsequent in Frage. Neben der Lesbarkeit und damit Sichtbarkeit kanonisierter und kommentierter Vergangenheit bleibt für Carlyle der weit größere Teil der Geschichte unzugänglich bzw. liegt bloß als schwer entzifferbares Palimpsest oder »Prophetic Manuscript« (Carlyle: 1900, 89f.), als Fetzen oder Spur vor, die von einem nicht einholbaren »Whole« (ebd., 90) zeugen: »Well may we say that of our History the more important part is lost without recovery; and [...] look with reference into the dark untenanted places of the Past, [...].« (Ebd., 87) 201 White: 1990, 62, Herv. i.O. 202 Vgl. Morrison: 1987. Für sie besteht die schriftstellerische Aufgabe darin, »looking to find and expose a truth about the interior life of people who didn’t write it (which doesn’t mean they didn’t have it)« (ebd., 113). 203 Laroche: 1994, 68.

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re Werke und Autoren. In den von mir untersuchten Romanen kommt häufig dem paratextuellen Bereich eine besondere Funktion zu. Speziell die beiden Autoren Reinaldo Arenas und Edgardo Rodríguez Juliá nehmen eine verfremdende Relektüre bereits vorhandener Texte bzw. Bilder vor. Spätestens seit Borges – eigentlich schon seit Cervantes – ist der Modus des Wieder- oder Nacherzählens von Geschichten, seine Metaphorik des Labyrinths und der Bibliothek, in der jedes Buch verfügbar ist, um es mit jedem anderen in Bezug zu setzen, seine Konfusion von Autornamen, Original, Kopie und Fälschung Teil (post)modernen Erzählens.204 Ziel postkolonialer Literatur ist es, durch Wi(e)derschreiben eine Gegen-Geschichte (counter-history, contre-histoire)205 zu konstruieren. Aufschlussreich sind in diesem Kontext die Überlegungen von Stephan Greenblatt, der anstelle von New Historicism von einer Poetik der Kultur spricht. Ihn interessiert das dynamische kulturelle Feld, die »Spuren der sozialen Zirkulation«206 zwischen ästhetischen und sozialen Zonen und der »kollektive Charakter literarischer Produktion«207, in dem ein Text entsteht. Er versucht den Text wieder mit der »sozialen Energie« und der »Stimme der Toten«208 aufzuladen, die ursprünglich in ihm codiert waren und die als Textspuren überlebt haben. Die Verhandlungen zu verstehen, dank derer bestimmte Texte eine wirkungsvolle Energie weit über ihren Entstehungskontext hinaus beibehalten, ist sein Anliegen. Er nennt dieses Vorgehen »die Rekonstruktion der Verhandlungen«209. Greenblatt verortet Text und Kontext auf derselben interpretativen Ebene, so werde der »Hintergrund notwendigerweise selbst zum Interpretandum, er kann darum keine privilegierte Autorität haben […]: Der background eines Textes ist selbst ein Komplex von Texten, ein Teil dessen, was Derrida ›le texte général‹ nennt.«210 An die Stelle von Metanarrationen, also großen übergreifenden Geschichtskonstruktionen, tritt bei Greenblatt die Anekdote. Dieses Geschichtsverständnis knüpft an Clifford Geertz’ Kulturanthropologie an. In einer von Geertz als Thick Description (1973)211 bezeichneten Methode werden anekdotische Alltagserlebnisse und eher Abseitiges aus dem »Unterfutter der Geschichte«212 als Zeichen herangezogen, die Aufschluss über vergangene Motive und Verhaltens-

204 Borges stellte erfolgreich in Frage, dass allein Europa einen Verfügungsanspruch über die europäische Kulturgeschichte hätte. Auf diese Weise war es ihm möglich, die europäischen Kulturtraditionen zu dezentrieren, ohne mit ihnen brechen zu müssen. Auch Carlos Fuentes betont den Zugriff der lateinamerikanischen Literatur auf die gesamte Weltliteratur: »Wir sind Zeitgenossen Homers und Cervantes’, so wie wir Zeitgenossen Bernal del Castillos sind« (Fuentes: 1979, III). 205 Der Terminus Gegengedächtnis (counter-memory) ist von Foucault hergeleitet, vgl. Hutton: 1993, 106-123. 206 Greenblatt: 1994, 226. 207 Ebd., 224. 208 Ebd., 227. 209 Ebd., 228. 210 Kaes: 2001, 255. 211 Die deutsche Auswahl erschien erst 1983 unter dem Titel Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. 212 Ebd., 260.

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codes geben sollen. Im Gegensatz zur ›dünnen Beschreibung‹, die sich auf das Sammeln von Daten beschränkt, heißt Dichte Beschreibung die komplexen, oft ineinander verwobenen Vorstellungsstrukturen herauszuarbeiten. Solche Ergebnisse verdanken sich in der Regel einer intensiven Archivarbeit (dies erinnert nicht zufällig an Foucaults Diskursanalyse). Statt auf lineare, chronologische und vereinheitlichende Erklärungsmodelle setzt der New Historicism auf Diskontinuität, Brüche, Heterogenität und Eklektizismus.213 Er überschreitet traditionelle Epochenschwellen und vernetzt in scheinbar unsystematischer Weise Konstruktionen von Vergangenheit. Dabei geht es nicht nur um hochkulturelle Texte, sondern die Kulturen selbst werden als komplexe textuelle Geflechte interpretiert. Leerstellen und Spuren – »ces traces de nos histoires offusquées«214 – sollen weiterverfolgt werden, um so ein kollektives Erinnern über ein Wiederaufladen von Elementen überlieferter Geschichte mit Bedeutung (De- und Resemiotisierung von Zeichen) zu versehen, wie dies in der postkolonialen Literatur durch inter- und intratextuelle Bezüge geschieht. Doch inwiefern ist eine Narrativierung der Sklaverei- und Kolonialgeschichte überhaupt möglich? Wie sollen die Opfer der Geschichte zu Wort kommen, wenn sie großteils ausgelöscht oder nur über einen sehr prekären Subjektstatus verfügen? Wie begegnet man einer »mémoire historique [...] raturée«215? Wie kann Verdrängtes in Erinnerung verwandelt werden? Anselm Haverkamp schreibt dazu: »Geschichte im Klartext gibt es nicht, denn der Klartext ist nicht Geschichte, sondern ihre Verneinung. Historisch und das heißt nichtvergangen ist Geschichte allein in der anagrammatischen Latenz der Traumata, die als solche – latent – lesbar sind in den Fugen, dem ›Unfug‹ der Codes. Ihre Referenz steht ebenso außer Frage wie ihre Darstellbarkeit in Frage steht. […] Was einmal ›ver-gessen‹, und das heißt falsch verschluckt ist, bleibt unverdaulich erinnert, inkorpo216 riert in einer Falte des Innern, andauernde Implikation.«

Von Falten, Fugen und dem ›Unfug‹ der Geschichte ist in der vorliegenden Arbeit in besonderer Weise die Rede. Das Erzählen einer Geschichte ist eben das, was in der Karibik in Ermangelung eigener Gründungsmythen und schriftlicher Aufzeichnungen nichts Selbstverständliches ist und deshalb ›erfunden‹ werden muss. Die Daten der Kolonisierung – bspw. 1635 als Jahr der Koloniegründungen auf Martinique und Guadeloupe – sind für die Nachfahren der schwarzen Sklaven kein Grund zum Feiern. Aber welche dokumentierten Erinnerungspunkte jenseits der Daten der Sklaven-

213 Zum Zusammenhang von Feminist History und New Historicism vgl. Lowder Newton: 1989. Der italienische Historiker Carlo Ginzburg begründete Ende der 1970er Jahre die Microstoria, die heute einen festen Platz in der Geschichtswissenschaft einnimmt. Die Mikrogeschichte wirft einen intensiven analytischen Blick auf die Detailebene von Phänomenen, was nicht zwangsläufig gleichzusetzen ist mit einer Beschäftigung mit kleinen Themen, vielmehr gelingt es ihr, Ideen, Mentalitäten oder kulturelle Muster durch die intensive Analyse einer Person, eines Ereignisses oder eines Ortes zu erhellen. 214 Glissant: 1997b, 19, Herv. i.O. 215 Glissant: 1997a, 227. 216 Haverkamp: 1995, 171f.

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befreiung (variierend von 1804 bis 1886) gibt es für sie? Angesichts dieser weitreichenden »non-histoire«217 und der damit verbundenen Auslöschung eines kollektiven Gedächtnisses spricht Glissant von einer »querelle avec l’Histoire«218. Antillanische Geschichte(n) schreiben, heißt vor allem Geschichte(n) imaginieren. 1.3.2 Poetische Zeugenschaft: Zur Narrativierung von Gewalt und Traumata Die Verschleppungs- und Versklavungserfahrung und deren Folgen für die Identitätsproblematik der Individuen ist ein zentrales Thema der hier behandelten Romane. Es geht um Formen der Verhandlung von Sinnstiftung in einem solch gewaltträchtigen Szenario. Die Narrativierung von Gewalt und Traumatisierung zielt auf die Frage, inwiefern sich durch diese eine besondere transkulturelle Ästhetik entwickelt. Gibt es wiederkehrende spezifische narrative oder anti-narrative Strategien in der literarischen Verarbeitung solcher Gewalterfahrung? Wann stößt die narrative Form in der Repräsentation solcher Erfahrungen an ihre Grenzen bzw. welche narrativen Formen werden gefunden, diese Grenzen auszudehnen oder zu überschreiten? Die ungenauen Spuren der Gewalt werden häufig mit Metaphern umschrieben, so wie Lyotard Auschwitz mit einem Erdbeben verglich, das alle seismographischen Geräte zerstörte und deshalb nicht in einem brauchbaren Zeichensystem dargestellt und validiert werden kann.219 Er postuliert eine Unvereinbarkeit von Wirklichkeit und Darstellung und doch insistiert Lyotard auf der »Wirklichkeit des Unrechts«220. Das Erzählen von Gewalt stellt eine besondere Herausforderung dar, denn es birgt die Gefahr der Reproduktion von Gewalt. Es gilt eine Sprache zu finden, die den Erfahrungen der Opfer bzw. den Überlebenden gerecht wird. In der fiktionalen Literatur ergibt sich eine Reihe von Möglichkeiten, die weniger am Ereignis selbst als an seinen Repräsentationsformen ansetzen. Die Arbeit ist somit auch gelenkt von einem narrationsbezogenen Forschungsinteresse. Denn das Moment der Selbst(er)findung erfolgt maßgeblich durch die narrative Konstruktion.221 Ansgar Nünning betont in seinem Aufsatz »Wie Erzählungen Kulturen erzeugen«, in der er sich für eine kulturwissenschaftliche Narratologie ausspricht, die Semantisierung literarischer Texte: »Aus kulturwissenschaftlicher Sicht sind Erzähltechniken nicht bloß erzähltechnische oder strukturelle Merkmale von Texten, sondern hochgradig semantisierte narrative Modi, die aktiv an der Konstruktion von kollektiven Identitäten und Normen beteiligt sind. […] Gesellschafts-

217 Glissant: 1997a, 224. 218 Ebd., 222. 219 Vgl. Lyotard: 1989, 105. Wenn ›Zeuge‹ jemand ist, so fragt Lyotard, der tatsächlich etwas mit eigenen Augen gesehen hat, wie kann es dann einen Zeugen für die Endlösung und für den Tod in der Gaskammer geben (das rechtssemiotische Problem von Auschwitz): »Da es den Zeugen nur als Opfer gibt, das Opfer nur als Toten, so kann keine Räumlichkeit als Gaskammer identifiziert werden.« (Ebd., 20) 220 Lyotard: 1989, 105. 221 Vgl. Struve: 2009, 44.

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politische oder ethische Fragen, wie sie z.B. die Gender Studies oder die postkoloniale Literaturkritik stellen, schlagen sich nämlich nicht nur in den erzählten Inhalten und Themen nieder, sondern auch und gerade in der Art und Weise, wie diese literarisch dargestellt werden, in Fragen der Repräsentation also. Wer spricht bzw. repräsentiert wen? Wer fungiert als sprechendes oder wahrnehmendes Subjekt und wer als wahrgenommenes und sprachloses Objekt?«222

Die imaginative Kohärenzstiftung als Ersatz für den verlorenen, zerstörten Zugang zur Vergangenheit ebenso wie die damit eng verbundene Frage der Repräsentation sind somit von zentraler Bedeutung für die hier zu untersuchende Literatur. Gisela Febel spricht in ihrer Untersuchung »Poetische Zeugenschaft und Gewalt der Sprache« anhand der Werke von Assia Djebar, Nina Bouraoui und Edmond Jabès von den drei Gaben der Autor/innen, die darin bestehen, durch die poetische Praxis der Sprache das Schweigen in der Geschichte hörbar zu machen. Diese transkulturelle Praxis markiert die Teilhabe am Diskurs, um »eine andere Weise der Auseinandersetzung mit dem Problem des Unsagbaren und Inhumanen in der Sprache«223 zu initiieren: »Das Unaussprechliche und Tabuisierte nicht nur auszusprechen, sondern intensiv zu empfinden (und dadurch zu erzählen) – darin liegt die Gabe dieser Dichterinnen [Djebar und Bouraoui, N.U.]. […] Der Körper der Erzählerin und vieler weiblicher Figuren wird zum geopferten Träger für die nicht geschriebene Geschichte; ihre Körper werden zum allegorischen Ort des exemplarischen Gedächtnisses einer Exklusion, die nicht mehr gänzlich aufhebbar ist, [...] und daher durch Fiktionen der Zeugenschaft ergänzt werden müssen [...].«224 »Durch die Schrift hindurch auf die abwesenden Stimmen zu lauschen und sie zum Klingen zu bringen, das ist die zweite Gabe der Dichter.«225 »Zu zeigen, dass das Schweigen belebt, die Abwesenheit anwesend und die Welt ein EchoRaum sein können, das ist die dritte Gabe der Dichter.«226

Ziel solcher »Fiktionen der Zeugenschaft« ist es, durch kritisches (Neu-)Erzählen eine gewisse Enttraumatisierung anzustreben: Der vergangenen Geschichte wird ein alternativer, vorstellbarer Plot (to reemplot) verliehen.227 So können traumatische Erinnerungsspuren wieder zugänglich gemacht werden. Für James Arnold ist es »une

222 223 224 225 226

Nünning: 2013, 27f. Febel: 2004, 156. Ebd., 164. Ebd., 169. Ebd., 174. Im unveröffentlichten Vortragsmanuskript, welches auch noch die Schriften von Edouard Glissant zum Gegenstand hat, spricht Febel insgesamt sogar von fünf Gaben, so dass ich hier die zwei fehlenden, die sich insbesondere auf Glissant beziehen, nennen möchte: »Voilà le quatrième don du poète, […], don de l’acceptation et de la pratique du dialogisme et de la pensée mouvante, […] don de l’affirmation radicale des différences dans leur valeur dissolutrice et déstabilisante. […] Offrir le monde à travers les paroles inaudibles, donner un sens allégorique et même salvateur aux voix inidentifiables, voilà le cinquième don du poète« (Febel: 2002, 9ff.). 227 Vgl. White: 1994, 143.

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tentative collective pour exorciser les maux coloniaux«228. Diese impliziten Erinnerungsspuren zeigen sich z.B. in Form von Wiederholungen und Reinszenierungen der Gewalt oder in einer narrativen Herstellung von Chaos. Die Arbeit nimmt die im Zuge des narrativist turn erzielten Ergebnisse zum Ausgangspunkt einer kritischen Revision und kulturtheoretischen Weiterentwicklung narratologischer Ansätze. Es geht um die Problematik, wie die Romantexte die Brüche und Risse in den vergewaltigten und bedrohten Geschichten der Versklavten erzählen. Als Analysekategorien, mit deren Hilfe sich kulturelle Hybridisierungsprozesse narratologisch beschreiben lassen, ist neben Figurenkonstellation und Perspektivenstruktur gerade auch die Raum- und Zeitdarstellung. Dazu gehört die gezielte Auswahl und Ausgestaltung der Schauplätze sowie letztlich der spezifische Umgang mit Zeitstruktur und Erinnerung.229 Die Wiederaneignung von Raum und Zeit verläuft konkret über Sprache und Poetik. Zudem wird die Literatur – gerade in den Texten von Rodríguez Juliá – in ihrer Medialität selbst hinterfragt. Angesichts dieser Erkenntnisse wird von den Wissenschaften ein ständiger Metadiskurs über ihre Darstellungsstrategien verlangt, denn Ereignisse werden erst durch ihre Darstellungsweise zu ›historischen Fakten‹ gemacht.

1.4 W ISSENSVERNETZUNG ALS M ETHODE

UND NOMADISIERENDE

B EGRIFFE

Verschiedene Methoden der Literatur-, Kultur- und Geschichtswissenschaft werden in ihren Schnittstellen angewendet, denn die ästhetische Diversität karibischdiasporischer Literatur lässt sich nur mit einer disziplinübergreifenden Methodologie erfassen. Meine literaturwissenschaftliche Analyse lässt sich am eingängigsten mit Begriffen wie Teorías sin disciplina230oder Miscegenated Theory231, eben mit dem Paradigma einer interdisziplinären Wissensvernetzung fassen. Methodologisch basiert das Projekt auf dem kulturnarratologischen Ansatz Mieke Bals, die dafür den Begriff der Travelling Concepts (2002) einführt,232 eine Methodologie, welche »wandernde Begriffe, sich kreuzende Theorien«233 in den Vordergrund rückt. Die Reflexion über die Migration der Begriffe durch Raum, Zeit und Disziplinen steht bei Bals Kulturanalyse im Fokus. Bals Wissenszirkulation führt Fragen von Ästhetik und

228 229 230 231 232

Arnold: 2006, 644. Vgl. Ludwig: 2008, 77-88. Castro-Gómez/Mendieta: 1998. Loichot: 2007, 10. Bereits 1983 formulierte Edward Said seine »Travelling Theory«, vgl. Said: 1997, 263292. 233 Bal: 2006, 7. Für Bal ist Kulturwissenschaft anti-elitär, da sie bekanntlich Grenzen zwischen Elite- und Gesamtkultur gewillt ist zu überwinden. Trotz ihrer expliziten Transdisziplinarität fordert sie eine breite Fundierung der Humanities. Unter der Überschrift »Für eine Poetik der Bewegung« plädiert auch Ottmar Ette für einen Wissenschaftsbetrieb, der neben disziplinären auch »transdisziplinäre Strukturierungen« zulässt, um so eine »beständige Querung unterschiedlicher Disziplinen« zu erreichen (Ette: 2005, 20).

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Ethik, von Kunst-, Film-, Literatur-, Medien und Geschichtswissenschaft mit sozialen Fragestellungen zusammen.234 Die Pluralisierung von disziplinübergreifenden, rhizomatischen und auch subalternen Denkweisen basiert, folgt man Bal, gerade auf spezifischen ›wandernden‹ Konzepten, die durch ihre ›Reise‹ ihren operativen Wert und ihre Reichweite ändern. So ist Saids Konzept der »Kontrapunktischen Lektüre« bspw. von der Musik- in die Literaturwissenschaft, der Rhizom-Begriff von der Biologie zur Philosophie und das Konzept der Kreolisierung von der Linguistik in die Kulturwissenschaften ›gewandert‹. Ich werte das Nomadisieren analytischer Begriffe zwischen verschiedenen Kontexten und Wissenschaftstraditionen dabei nicht als Unschärfe. Im Gegenteil: Es gilt die Dynamisierung der Begriffe, grundsätzlich die Hybridität von Wissenschaften im Sinne einer Diskursproliferation anzuerkennen, die Widerstreit erst möglich macht. Begriffe, die verschiedene Disziplinen durchqueren, laden sich mit neuen Bedeutungen auf. Für die Literatur bietet sich Bals Kulturanalyse besonders an, denn Literatur ist unentwegt verwoben mit anderen Diskursen und damit Objekt multiplen Wissens. Vor allem ist eine »Grenzsicht zwischen verschieden mächtigen Diskursen«235 nötig, wie sie eurozentrismuskritische Theorieansätze nahe legen. In diesem Sinne situiert sich meine Arbeit einerseits im Kontext eines poststrukturalistischen Textualitätskonzepts wie Derridas Dekonstruktion. Die Analyse erfolgt andererseits unter Rückgriff auf Transkulturationstheorien, die mehrheitlich aus den Herkunftsländern der Autoren und Autorinnen kommen (wie Fernando Ortiz, García Canclini, Sarduy, Lezama Lima, Carpentier, Glissant, Benítez Rojo, u.a.) mit Blick auf Ausprägungen der Oral History bzw. Oraliture im karibischen Raum und der Diaspora Studies.236 Mein Fokus liegt dabei weniger auf den angloamerikanischen Theorien von Kulturkontakt, sondern auf Schlüsselkategorien des franko- und hispanophonen Raumes, die unter dem Zeichen der Créolité, Créolisation, Migritude, Transculturación, Heterogenidad oder Hibridación gelesen werden können. Ferner verortet sich die Analyse im Kontext einschlägiger Literaturtheorien (Bachtins karnevalistisches Literaturverständnis, Benjamins Allegoriebegriff, Saids kontrapunktische Lektüre, Genettes Transtextualität, Foucaults Konzept der Heterotopie), erweitert um Aspekte der psychoanalytischen Gewalt- und Traumaforschung (Assmann, Weigel), um Ansätze zu einer Ästhetik des Undarstellbaren (Lyotard, Derrida) sowie um Kultur- und Genderperspektivik verbindende Studien.237 Im Anschluss an Bals Travelling Concepts möchte ich drei für die vorliegende Arbeit zentrale Begriffsfelder vorstellen: Barock, Hybridität/Kreolisierung und Trauma. Sie sind alle durch Raum und Zeit, vor allem durch unterschiedliche Diszi-

234 Vgl. Bal: 2006, 34. Vgl. auch McPherson/Paul/Pritsch u.a.: 2013. 235 Sieber: 2005, 166. 236 Vgl. Hall: 1990, Cohen: 2001, Mayer: 2005, Evans Braziel/Mannur: 2003, Manning: 2007. 237 Vgl. Hölz: 1998, Hölz/Baltes-Löhr: 2004, Febel/Struve/Ueckmann: 2007. Sigrid Weigel verwies bereits in Topographien der Geschlechter (1990) auf die Überlagerung von kultureller und geschlechtlicher Alterität, auf das spezifische Verhältnis von ›Wilden‹ und ›Frauen‹.

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plinen gewandert. Eine Zusammenführung dieser sich kreuzenden Begriffsfelder beschließt die einleitenden Überlegungen. 1.4.1 Barock in der Postmoderne »Baroque is back« konstatieren Massimo Ciavolella und Patrick Coleman in ihrem Band Culture and Authority in the Baroque,238 in dem sie auf einen neuen übergreifenden Diskurs in geisteswissenschaftlichen Disziplinen hinweisen. Auch Gregg Lambert diagnostiziert The Return of the Baroque in Modern Culture (2004), wobei er unterscheidet zwischen »Baroque and Postmodern« entlang europäischer Denker wie Foucault, Genette, Lotman und Derrida und zwischen »Baroque and Postcolonial« entlang lateinamerikanischer Autoren wie Borges, Sarduy und Carpentier. Wir haben es hier mit einem Diskurs zu tun, der aktuell von der Deleuze’schen Philosophie zur »Falte« bis hin zu Angela Ndalianis’ Forschung zur Unterhaltungstheorie reicht.239 Barock wird als »metaphorischer Gedächtnisort« für eine kollektive, transkulturelle Erinnerungskultur gesehen, das sich als »Interpretament der Moderne und Postmoderne« anbietet.240 Wir stoßen auf eine Parallele zwischen der barocken und der postmodernen Epoche an, die sich in ihrem selbstreflexiven Wahrnehmungsund Präsentationsmodus zeigt. Durch verschiedene Mittel, wie diverse Formen des Spiels, wird der Widerspruch zwischen Schein und Sein hervorgehoben. Dieser erweist sich als Ausdruck einer ontologischen Ungewissheit, die sowohl für die barocke als auch für die postmoderne/postkoloniale Epoche charakteristisch ist. Barockes Schreiben sagt uns möglicherweise gerade deshalb etwas, weil sich an ihm der Widerstand gegen eine rationale, vereinheitlichende Ästhetik ablesen lässt, die mit der gegenwärtigen Infragestellung linearer, teleologischer Narrationen – nach dem Ende der großen Erzählungen – korrespondiert. Essentialistische Bestimmungen des Barock vermeidend, plädiere ich für eine Strategie der »efficience historique du baroque«, die sich in der Metapher der »résurgences baroques« ausdrückt und die m.E. eine kulturelle Energie darstellt.241 Aus diesem Grund bietet es sich an, der »Zirkulation der sozialen Energie«242 am Beispiel des Barock nachzugehen und Transformationen vom 17. bis zum 21. Jahrhundert aufzudecken. Das von Religion und Autoritarismus durchdrungene Barock des 17. Jahrhunderts wandert zum Neobarock unserer Zeit, die um Befreiung von beidem bemüht ist;243 soviel lässt sich an dieser Stelle bereits anmerken. Der Barockbegriff wird in seiner Variationsbreite vorgeführt, beginnend im Kontext der deutschen Kunstgeschichte über die französische und spanische Literaturgeschichte bis hin zu lateinamerikanischen und karibischen Kulturtheorien. Spätestens seit Eugenio D’Ors Studie Lo Barroco (1935) dient der Barockbegriff als Mittel zur

238 Ciavolella/Coleman: 2005, 3. 239 Le Pli. Leibniz et le Baroque (1988); Neo-Baroque. Aesthetics and Contemporary Entertainment (2005). 240 Csáky/Celestini/Tragatschnig: 2007. 241 Moser: 2000, 677. 242 Greenblatt: 1994, 219. 243 Vgl. Bal: 2006, 226.

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Beschreibung von wiederkehrenden Phänomenen, wie Krise, Umbruch, Widerstand, aber auch von Restauration. Barock changiert in schillernder Weise zwischen katholischer Gegenreformation und lateinamerikanischer Gegenconquista. In einer heterogenen, auf Transkulturalität beruhenden Modernität bietet sich das hybride Konzept des Neobarock für eine karibische bzw. lateinamerikanische Literaturgeschichte in besonderer Weise an. Der Begriff Neobarock denkt postkoloniale Identitäten und Kulturen bewusst als Konstrukt, als Ergebnis einer Geschichte aus Zuschreibungen, Kontaminationen, Proliferationen, Interferenzen, Projektionen, Vorurteilen und Selbstinszenierungen. Neobarock nimmt gerade die Konstruiertheit und Künstlichkeit der Kategorien wie ›Rasse‹, Geschlecht, Ethnizität zum Ausgangspunkt für ein Denken komplexer und ambivalenter postkolonialer Identitäten. Neobarock ist somit ein literarästhetischer Ausdruck dieser ›Fiktionen‹.244 Das Barock lässt eine extrem hohe Fiktionalität zu. Dies ist wichtig im Zusammenhang mit der ungeschriebenen bzw. undokumentierten Geschichte der Antillen, denn das historische Ereignis, allem voran die Deportation und Sklaverei, hat bereits stattgefunden, doch sie kann oft nur in elliptischer oder wirbelsturmartiger, transtemporaler Weise dargestellt werden. Die Romane kreisen sehr häufig um eine Leerstelle und füllen die Lücken des historischen Diskurses narrativ auf. Der so genannte Neobarock wird einerseits als Theorie und andererseits als écriture, als proliferierende und ironisierende Poetik anhand ausgewählter literarischer Beispiele überprüft. Zu erforschen ist insbesondere, welche barocken Erzählverfahren besonders häufig und mit welchem Erfolg zur Dekonstruktion tradierter Identitäts- und Kulturkonzepte eingesetzt werden. Dazu werden exemplarische und zeitlich gestreute Romane frankokaribischer Autoren wie Édouard Glissant aus Martinique, Gisèle Pineau aus Guadeloupe, Jean-Claude Fignolé aus Haiti245 und hispanokaribischer Autoren wie Reinaldo Arenas aus Kuba und Edgardo Rodríguez Juliá aus Puerto Rico zugrunde gelegt. Darüber hinaus werden theoretisch-essayistische Schriften einzelner Autoren einbezogen, so dass sich insgesamt ein Untersuchungszeitraum von über 60 Jahren auftut, beginnend mit Fernando Ortiz’ Studie Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar (1940) und Alejo Carpentiers Essay »De lo real maravilloso americano« (1949)246, Lezama Limas Expresión americana (1958) über Severo Sarduys vieldiskutierte literaturkritische Schrift Barroco (1974)247 bis zu

244 Um die literarischen Techniken Chamoiseaus zu beschreiben, verwendet Gernot Kamecke den Begriff der »Identitätsfiktion«, konkret die »Arbeit am Mythos der kreolischen Gemeinschaft« (Kamecke: 2005, 49). 245 Die frankokaribische Literatur in kreolischer Sprache bleibt hier unberücksichtigt. Erste Ansätze einer Kanonbildung einer solchen Literatur bietet Ludwig: 2008, 145ff. 246 Als Vorwort zu der Erzählung El reino de este mundo publiziert. 247 Ich habe bewusst keine Analyse neobarocker ›Klassiker‹ wie Carpentiers Concierto barroco (1974), Lezama Limas Roman Paradiso (1966) oder/und von Severo Sarduys Roman De donde son los cantantes (1967) integriert. Carpentier und Lezama Lima sind mittlerweile stark rezipiert. Sarduys De donde son los cantantes wäre im Kontext von Arenas gewinnbringend gewesen, verbindet er doch gekonnt Erzählverfahren von Tel Quel mit dem lateinamerikanischen Kontext. Seine radikale Kritik der ›Hochkultur‹ – einschließlich der Dekonstruktion der ›machtvollen‹ Diskurse von Lezama Lima und

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Glissants jüngsten poetologischen Essays (2006, 2009). Eine mehrere Jahrzehnte umspannende Analyse, die Literatur und Literaturtheorie seit Mitte des letzten Jahrhunderts bis ins beginnende 21. Jahrhundert umfasst, erlaubt Veränderungen, Brüche und Genealogien herauszustellen. Die Textauswahl begründet sich zeitlich mit dem Abschied seit den 1950er Jahren von linearen realistischen Erzähltraditionen248 zugunsten von neuen narrativen Formen, in denen der Aspekt des Performativen sich vor den Aspekt der Repräsentation schiebt. Dafür ist es wichtig, die Subversion klassischer Episteme durch das Barock, sozusagen narrative Verfahren der Auflösung und Verschiebung, zu beschreiben. Gerade Glissant versucht den Begriff des Barock für seine kulturtheoretischen und zugleich ästhetischen Reflexionen fruchtbar zu machen. Um die Wiedereinschreibung der Peripherie ins Zentrum literaturästhetisch zu fassen, greift er auf Begriffe wie baroque und opacité zurück. Seine méthode opaque dient ihm zur Beschreibung seines Anliegens, durch ein zirkuläres und ungeordnetes Herantasten die aus der Kolonialisierung übernommene ›fremde‹ Sprache und Denkweise zu unterlaufen, um innerhalb eines discours éclaté Verschüttetes und Zerstörtes sichtbar werden zu lassen. Glissant appelliert an die Bereitschaft, die »parole baroque, inspirée de toutes les paroles possibles«249 als ästhetisches Konzept der Kreolisierung zu lesen. Die Übernahme des zunächst im karibisch-lateinamerikanischen Raumes entwickelten Begriffs des Neobarroco im weltweiten frankophonen Räumen beweist u.a. die Studie Nouvelles écritures francophones. Vers un nouveau baroque? (2001) von

Carpentier –, seine deformierten Figuren, seine Transvestiten, Zwerge, Monster und Zwitterwesen erinnern eindringlich an Arenas’ avantgardistische und karnevaleske Schreibweise. Leider war dies im Rahmen der ohnehin schon sehr breit angelegten Studie nicht mehr zu realisieren. Verwiesen sei auf die 2013 erschienene Dissertation Severo Sarduys Zeichenkosmos. Theorie und Praxis einer Romanpoetik des ›neobarroco cubano‹ von Nina Preyer. Ziel der Studie ist es, die »Lücke zwischen Arbeiten zu Tel Quel, dem Poststrukturalismsus und der Psychoanalyse Lacans, in denen Sarduy nur marginal erwähnt wird und solchen über das literarische Werk von Sarduy, in denen Tel Quel, der Poststrukturalismus und die Psychoanalyse Lacans wiederum nur eine untergeordnete Rolle spielen, zu schließen« (Preyer: 2013, 11). Neben der spezifischen Romanpoetik Sarduys widmet sie sich auch ausgewählten Romanen von Arenas, Cabrera Infante, Piñera und Lezama Lima. 248 Die Literatur der antikolonialen Phase bediente sich vorzugsweise der realistischen Schreibweise und einer linearen, von einem auktorialen Erzähler zusammengehaltenen Struktur. Dies entsprach dem anti-kolonialen Paradigma, das von klaren Gegenüberstellungen, definierbaren Identitäten, eindeutigen Wahrheiten ausging, ohne den eigenen epistemologischen Status kritisch zu hinterfragen. Sowohl die koloniale als auch die antikoloniale Epistemologie verdunkelten längst vorhandene kulturelle Hybriditäten und konstruierten dichotome Kategorisierungen. In der postkolonialen Sicht tritt an die Stelle fest umrissener Erklärungsmuster eine fragmentierte, grundsätzlich skeptische Perspektive. 249 Glissant: 1990, 89, Herv. i.O.

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Jean-Cléo Godin.250 Andersherum scheint es nicht üblich im hispanophonen Bereich den vor allem von Glissant geprägten Begriff der Créolisation zu verwenden. Isabel Exner verortet die hispanokaribische Gegenwartsliteratur vielmehr im Kontext einer »kontaminierten Poetik« und basurización (Vermüllung) der Peripherie.251 Sie weist zu Recht auf die doppelte Konnotation von ›Unreinheit‹ hin, die die aus der Karibik und Lateinamerika hervorgegangenen kulturtheoretischen Entwürfe seit den 1990er Jahren begleitet, denn Vermischung und Heterogenität als ästhetische Praxis könne auch mit Abfall, Schmutz, Abjektion, Exklusion und Kontamination, eben mit skandalisierenden und negativen Vorstellungswelten einhergehen. Die hier angesprochene ›Unreinheit‹ ist ein Aspekt der viel beschworenen Hybridität wie ich im Folgenden kurz darlege. 1.4.2 Hybridität/Kreolisierung Anders als das Barock ist der Begriff der Hybridität weniger durch Jahrhunderte und Epochen gereist als durch verschiedene Disziplinen. Er hat seine Wurzeln in einer puristischen und rassistischen Biologie und Genetik. Hybridität galt lange als ›Bastardisierung‹, als ›unreine‹ Vermischung. Mittlerweile verweist er – dabei über Bachtins Polyphonie-Konzept ›gewandert‹252 – nicht selten auf ein idealisiertes Identitätskonzept im Kontext postkolonialer Diversität.253 Wesentlich sind in dieser Studie jedoch die mit Gewalt und Macht verwobenen Migrationsphänomene. Hybridität, verstanden als identitätstheoretische und transmediale Kategorie, trifft sich konsequenterweise mit Hybridität, verstanden als epistemologische Kategorie im Sinne von entgrenzten und wissensvernetzenden Theoriestrategien. Dies trägt dem Anspruch Rechnung, dass ›sinnstreuende‹ Theorie eine explizite Brückenfunktion hat, sprich vielfältige kulturelle Erscheinungen verbinden soll, um keine weiteren Metadiskurse zu produzieren.254 Inwiefern wir es mit einer neuen Meta-Narration im Namen der Hybridität zu tun haben, bleibt zu untersuchen. Alfonso de Toro betrachtet Hybridität als »eine ethnisch-ethnologische Komponente einer nicht allein durch das abendländische Denken geprägten Kultur, die von anderen Vernunfts-, Realitätsund Geschichtskategorien ausgeht«255. Ein solches »Konzept der transversalen Vernunft«256 entspricht in besonderer Weise den hier zu untersuchenden neobarocken, ausufernden und palimpsestartigen Schreibweisen. Gemeinsam sind den Romanen

250 Besondere Poetiken entwickelten sich »plus proche de la fête carnavalesque et de l’esthétique baroque que des rigueurs du classicisme« (Gauvin: 1999, 17f.). 251 Vgl. Exner: 2012 und ihr Dissertationsprojekt »Poéticas contaminadas. Zur Ästhetik von Abfall und Schmutz in den Literaturen der Karibik« unter http://www.uni-konstanz.de/ figur3/iexner.htm. 252 Bachtin denkt den Roman als grundsätzlich hybrid, als »Mikrokosmos der Redevielfalt« (Bachtin: 2006, 290), da innerhalb eines Textes eine Vielzahl konvergierender oder konkurrierender, divergierender Stimmen festzustellen ist. 253 Vgl. Bal: 2002, 24f. 254 Vgl. Toro: 2004, 4. 255 Toro: 2002, 38. 256 Welsch: 1996.

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die Fächerung verschiedener Erzählstränge, die Multiplizierung der Erzählerstimmen, die Einbeziehung mythisch-magischer Weltsicht und mündlich tradierten Wissens, die Aufhebung chronologischer oder kausaler Zusammenhänge und die Grenzüberschreitung der (fiktionalen) Realität. Dieses erzählerische Vorgehen erschafft ein komplexes, zuweilen von Phantastik und Absurdität geprägtes Universum. Gerade für den frankokaribischen Raum bietet sich besonders das Hybriditätskonzept der Kreolisierung im Sinne Glissants an. Er rekonzeptualisiert den von Anthropologie und Linguistik geprägten Begriff der Kreolisierung, indem er ihn mit poststrukturalen Theorien verknüpft, um ihn dann in den Bereich des Kulturellen zu übertragen. Glissant weitet ihn gar auf globale kulturelle Transformationsprozesse aus und schlägt Kreolisierung als Denkfigur zur Integration differenter Kulturen vor: »Die Kreolisierung, die in Neo-Amerika stattfindet und die auf die anderen Anteile Amerikas übergreift, wirkt auch überall auf der ganzen Welt. Ich behaupte also, daß die Welt sich kreolisiert. Schlagartig und dabei in vollem Bewusstsein, werden die Kulturen der Welt miteinander in Kontakt gebracht, verändern sich in ihrem Austausch, was häufig zu unabwendbaren Zusammenstößen, erbarmungslosen Kriegen führt, aber es sind auch Vorposten des Bewusstseins und der Hoffnung erkennbar. […] Kreolisierung bedeutet, daß die in Kontakt gebrachten kulturellen Elemente unbedingt als ›gleichrangig‹ gelten müssen, sonst kann die Kreolisierung nicht wirklich stattfinden.«257

Glissant bedient sich zunächst einer systematisierenden Wissenschaft wie der Linguistik und dem von ihr entwickelten Begriff der Kreolisierung, um anschließend die Systematik zu subvertieren, denn angesichts einer von Traumata und Leerstellen durchzogenen Geschichte ist Systematik nur sehr bedingt möglich. 1.4.3 Kreolisierung und Trauma Aufgrund der spezifischen traumatischen Verschleppungs- und Versklavungserfahrung ist ein weiteres für meine Arbeit zentrales Konzept im Sinne Bals jenes des Traumas und seine Übertragung von einem klinischen Konzept auf die Kulturgeschichte und den Geschichtsbegriff. Die literarische Umwandlung des Traumas in Strukturen narrativer Erinnerung, analog zum Verbalisieren traumatischer Erlebnisse im therapeutischen Prozess (das ›Bezeugen‹), ist für jegliche Heilung oder Linderung unerlässlich. Die Anwendung psychoanalytischer Erkenntnisse auf konkrete Erzählverfahren – bspw. die von Pineau oder Fignolé inszenierte familiäre Übertragungsdynamik von verschwiegenen Gewalterlebnissen oder die von Glissant diagnostizierte transgenerationelle Traumatisierung und das Fortwirken der Deportation und Sklaverei im kollektiven Unbewussten der antillanischen Gesellschaft, seine zahlreichen Wiederholungsfiguren und Umarbeitungen, in denen sich eine verausgabende, unabschließbare Anamnese des historisch Verdrängten in Form eines literarästhetischen Reinszenierungszwangs manifestiert – rechtfertigt einmal mehr, bei den Texten von einer literarischen Therapie oder Katharsis zu sprechen. Die Kolonialzeit wird damit nicht als abgeschlossene Epoche zwischen Eroberung und politischer

257 Glissant: 2005b, 11-13, Herv. i.O.

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Unabhängigkeit gewertet, sondern im Sinne von Aníbal Quijano gehe ich von einer Kolonialität der Macht258 aus, die zwar die Zäsur durch die Befreiung von der Kolonialherrschaft anerkennt, aber auch das Fortwirken kolonialer und rassistischer Mechanismen in den Blick nimmt.259 Die erzählerische Arbeit am Trauma der Deportation, Enteignung und erzwungenen Diaspora dient der Entwicklung neuer Formen von emanzipierten Subjektivitäten. Denn antillanische Identität ist ambivalent, einerseits kreolisierte, multiple Identität, andererseits verbunden mit einer konkreten traumatischen Geschichte. Beide Identitätsfaktoren sind eng miteinander verknüpft, so dass ich Créolisation eben in diesem historischen Kontext verorte. Der Kreolisierungsbegriff umfasst nicht bloß in euphemistischer Weise kulturelle Mischung, sondern eben auch Prozesse der Spaltung, so dass eine intensive Beschäftigung mit Trauma-Narrativen naheliegt. Das Dilemma der Kreolen in der Karibik ist ferner, dass sie Nachfahren von weißen und schwarzen Vorfahren, von Täter/innen, Mittäter/innen und Opfern sind und so gewissermaßen dauernden Loyalitätskonflikten ausgesetzt sind. René Marqués’ Essay »El puertorriqueño dócil« (1960) thematisiert in sehr selbstkritischer Weise die angebliche docilidad der Puertoricaner, deren Mangel an Selbstvertrauen als kollektiv-psychische Störung innerhalb einer irreversiblen Entwicklung.260 Glissant fasst unter dem Begriff der Selbstbesitzlosigkeit (dépossession) das Ergebnis einer Reihe kontinuierlicher Entfremdungsprozesse zusammen, die die gesamte antillanische Gesellschaft betreffen.261 Ein so genanntes délire verbal – ein Symptom dieser kollektiven Störung und analog zur »morbidité du social« bzw. »société morbide«262 gedacht – ist Ausdruck für den Verlust und die Zerstörung eines identitätsbildenden kollektiven Gedächtnisses. Glissant spricht angesichts der traumatischen Geschichte, die massive identitäre Fragmentierungen hervorruft, von einer kulturellen Neurose: »Serait-il dérisoire ou odieux de considérer notre histoire subie comme cheminement d’une névrose? La Traite comme choc traumatique, l’installation (dans le nouveau pays) comme

258 Zu Quijanos Anfang der 1990er Jahre eingeführtem Konzept der Kolonialität der Macht, welches vor allem von DenkerInnen aus Lateinamerika aufgenommen wurde, vgl. die Einführung von Quintero/Garbe (2013), die sich speziell an ein deutschsprachiges Publikum wendet. 259 Vgl. auch Mignolo: 2000. 260 Im lateinamerikanischen Identitätsdiskurs wurde bereits um die letzte Jahrhundertwende die biologistische Metapher der Krankheit diskutiert, vgl. César Zumente: El continente enfermo (1899), Alcides Arguedas: Pueblo enfermo (1909). 261 Glissant: 1997a, 95-139. Er mahnt in Le Discours antillais: »la dépossession risque d’être mortelle. Scruter cette dépossession, c’est contribuer à lutter contre la déperdition collective« (ebd., 33). Glissant schlägt für Martinique bspw. folgende alternative Periodisierung in Form von »tranches historiques« vor: »La Traite, le peuplement. L’univers servile. Le système des Plantations. L’apparition de l’élite, les bourgs. La victoire de la betterave sur la canne à sucre. L’assimilation légiférée-légiférante. La menace de néantisation.« (Ebd., 273) 262 Ebd., 286.

64 | I E INLEITENDE Ü BERLEGUNGEN phase de refoulement, la période servile comme latence, la ›libération‹ de 1848 comme réactivation, les délires coutumiers comme symptômes et jusqu’à la répugnance à ›revenir sur ces 263 choses du passé‹ qui serait une manifestation du retour du refoulé?«

Wir treffen immer wieder auf eine Identität durch Negation. Lorna Milne nennt es in Anlehnung an Fanon den »complexe d’infériorité engendré par le processus d’imitation et d’intériorisation de valeurs européennes«264 . 1.4.4 Neobarock und Kreolisierung Die beiden Konzepte Neobarock und Kreolisierung in den Mittelpunkt meiner Untersuchung zu stellen, ist dem Umstand geschuldet, dass es sich hierbei um selbst gewählte, genuin karibische bzw. lateinamerikanische Begrifflichkeiten handelt, obgleich sie ihre Bezüge zur europäischen Geschichte nicht leugnen. Neobarocke und kreolisierte Schreibverfahren stehen beide im Kontext von kannibalistischen Kulturund Identitätsentwürfen265 innerhalb postkolonialer Räume, was sie auch von anderen postmodernen, poststrukturalistischen Schreibverfahren unterscheidet. Die untersuchten Texte sind häufig poststrukturalistisch inspiriert, verfügen aber über einen kulturellen, postkolonialen Hintergrund. Das Verschlingen und Verwandeln des europäischen Erbes kommt einer, wie Maryse Condé es formuliert, »poetical self-birth or parthogenesis«266 gleich. Neobarroco und Créolisation stehen in enger Verbindung mit dem historisch erlebten Chaos von Sklaverei und Plantagenwirtschaft, das den karibischen Raum zutiefst geprägt hat. In Form einer heuristischen Annäherung wird das gemeinsame Auftauchen von neobarocken Schreibweisen im Kontext neuer Kulturkonzepte wie hibridación und créolisation untersucht. Zentral ist dabei die Frage, inwiefern durch den Neobarock eine poetologische Umsetzung von kultureller Kreolisierung erfolgt, oder anders formuliert, inwiefern »le métissage esthétique rejoint le métissage anthropologique«267. Da die Mehrzahl der ausgewählten Autoren sowohl im Bereich der Poetik als auch der Essayistik tätig ist, ist zu untersuchen, inwiefern es den Autoren gelingt, ihre Aussagen zum metaphorischen Neobarock in die literarische Praxis umzusetzen. Es bleibt ferner zu ermitteln, ob und in welcher Form aktuelle hispanound frankophone Schriftsteller Rezipienten barocker Texte sind oder ob es beim Neo-

263 Glissant: 1997a, 229. 264 Milne: 2006, 27. Bereits Fanon hatte in Peau noire, masques blancs darauf hingewiesen, dass die fremde Sprache die eigentlich waltende Kraft im System der kolonialen Psychopathologie sei: »Tout peuple colonisé – c’est-à-dire tout peuple au sein duquel a pris naissance un complexe d’infériorité, du fait de la mise au tombeau de l’originalité culturelle locale – se situe vis-à-vis du langage de la nation civilisatrice, c’est-à-dire de la culture métropolitaine« (Fanon: 1971, 14). 265 Vgl. dazu das Kap. II. 3 »Dekolonialisierung des Imaginären: Kontrapunktische Produktion von Kreolisierung und Neobarock«. 266 Condé: 1998, 64. 267 Laplantine/Nouss: 1997, 102.

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barock nicht um ganz andere Zielsetzungen als um konkrete historische Anschlüsse geht. Die Studie rückt die Prozesse der kulturellen Aneignungen und Aushandlungen in den Blick, die mit den Begriffen Neobarroco, Recycling und kulturelle Anthropophagie verbunden sind. Jede neue Benennungsarbeit muss sich quasi kannibalistisch durch den bestehenden Diskurs hindurcharbeiten. Dabei steht der Bezug auf den europäischen historischen Barock als eine exemplarische Figur der Auseinandersetzung mit westlicher Kultur und kolonialer Vergangenheit im Vordergrund. Die Ausprägung neobarocker Schreibweisen bei Autoren der Karibik fungiert nicht als literarische Mode, sondern ist der Auseinandersetzung mit Fremdprägung und Selbstbild, mit kolonialer Geschichte und eigener ›Geschichtslosigkeit‹ und hybrider Existenz geschuldet. Diese identitäre Hybridität lässt sich besonders anschaulich mit ästhetischen Mitteln des Barocken fassen, denn dem Barock ist ein hoher Grad an Fiktionalisierung und opacité zu eigen. Die karibische Literatur, die neben europäischen, asiatischen auch afrikanische bzw. kreolische Traditionen beinhaltet, steht vor einem komplexen Dilemma: Zum einen muss sie schriftlich festhalten, was als orale Tradition nicht unbedingt dazu gedacht war, Buch zu werden: »identity is lost for identity’s sake«,268 so formulieren es die Herausgeberinnen des Bandes Caribbean writers between orality and writing (1994) den problematischen Prozess der Transformation von mündlich Überliefertem in Schriftsprache. Zum anderen muss sie in den Sprachen der ehemaligen europäischen Kolonisatoren und aus einer okzidental geprägten Tradition über das NichtEuropäische schreiben. Britta van Kempen hält in Das antillanische imaginaire ›im Spiegel‹ der Erzählung zwei Arten des Erzählens in frankokaribischen Texten fest: »Balzac auf der einen, Gide, Proust oder Robbe-Grillet auf der anderen Seite. In ihrer narrativen Technik finden sich sowohl eine deutliche Konstruktion wie auch ein extradiegetisches, von Kontingenzen geprägtes Chaos wieder.«269 Sie spricht auch von einer »bewussten Unruhestiftung im Roman«270 . Dieses gleichzeitige Anknüpfen und Aufsprengen des ›klassischen‹ literatursprachlichen Erbes der Gattungstraditionen zeigt sich auch in den von mir ausgewählten Romanen; die barocke Antithese setzt die klassische These also durchaus voraus. Der erste Teil, das transdisziplinäre Theorienetz, entwirft den theoretischen Bezugsrahmen für die nachfolgenden Analysen. Hybriditätstheorien insbesondere aus Lateinamerika und der Karibik stehen am Beginn der Arbeit (Fernando Ortiz, Glissant, Benítez Rojo, García Canclini, u.a.). Begriffe wie Subjekt und Geschichte nutze ich konstruktivistisch und verknüpfe sie mit transkulturellen Kulturkonzepten. Dahinter steht die Frage: Inwiefern spiegeln sich kulturtheoretische Konzepte von Kreolisierung, Hybridisierung und Neobarock in der textuellen Form wider? Aufgrund der vielen Kontaktstellen in einer ›überhitzten‹ Gegenwart und Topographie bedarf es scheinbar einer besonderen Schreibweise. Dafür wähle ich Neobarock und Kreolisierung als systematische Begriffe. Die Textanalysen zielen darauf ab, die äs-

268 Glaser/Pausch: 1994, xii. 269 van Kempen: 2006, 107f. 270 Ebd., 109.

66 | I E INLEITENDE Ü BERLEGUNGEN

thetische Bandbreite der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit (post-)kolonialer Vergangenheit zu zeigen, ohne typologische Vollständigkeit zu behaupten.

II Transdisziplinäres Theorienetz

1 Hybriditätstheorien im anglo-, hispanound frankophonen Diskurs1 »[…] identity is not just ›being‹ but also ›becoming‹ – always continuing to emerge in response to different historical circumstances.« STUART HALL: CREOLIZATION, DIASPORA, AND HYBRIDITY IN THE CONTEXT OF GLOBALIZATION, 2003 »[…] l’imaginaire de la migration peut nous offrir une intelligence du Monde. Il peut surtout nous permettre la traversée des enracinements sans nullement y adhérer.« JOËL DES ROSIERS: THÉORIES CARAÏBES, 1996

Kaum ein Begriff wie jener der Hybridität kann auf eine so »rasante Begriffskarriere im gesellschaftlichen Diskurs«2 zurückblicken. Er fungiere mittlerweile als »episteme regnant of Postcolonial Studies«3 konstatiert Shalini Puri. Ich wende mich jedoch nicht dem postmodernen Hype um Hybridität4 zu, sondern jenen Hybriditätsmodellen, die die gewaltvollen Erfahrungen des Kolonialismus und die Machtbeziehungen innerhalb des Hybriditätsdiskurses konsequent mitreflektieren, denn im Widerstreit postkolonialer Positionen darf die koloniale Dimension nicht aus dem Blick geraten. Hybriditätstheorien haben Hochkonjunktur, weil ein Unbehagen an klar konturierten Identitäts- und Kulturbegriffen unbestreitbar ist. Man trifft auf unterschiedlichste Begriffsschöpfungen, die alle darauf abzielen, die Prozessualität von Kulturen jenseits von Reinheitsgeboten zu beschreiben. Häufig werden die diversen Konzepte analog verwendet wie Jeroen Dewulf schreibt, der schlagwortartig zentrale Konzepte unter dem Begriff des »Kreolismus« subsumiert:

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2 3 4

Teile dieses Kapitels sind bereits unter den Titeln »Mestizaje-Hibridación-CréolisationTransculturación: Kontroversen zur Kulturmoderne« (2005) und »Hybriditätskonzepte und Modernekritik in Lateinamerika« (2009) erschienen. Nghi Ha: 2010, 17. Puri: 2004, xi, Herv. i.O. Nghi Ha: 2005. Gerade in der deutschsprachigen Rezeption kultureller Hybridität spielt die kritische Reflexion der kolonialen Dimensionen eine untergeordnete Rolle.

70 | II T RANSDISZIPLINÄRES T HEORIENETZ »Während es einem Aimé Césaire eigentlich noch darum ging, das Recht auf eigene Wurzeln zu fordern, betrachtet heute Édouard Glissant die Nicht-Existenz von Wurzeln geradezu als Befreiung. Der Kreolismus bemüht sich nicht mehr um übliche Wurzeln […] wenn schon Wurzeln, dann tropische Luftwurzeln, die kreuz und quer über den Boden schleichen, auf der Suche nach einem Ort, um sich zeitweilig niederzulassen. Diese Art von Kreolismus hat heute Hochkonjunktur, man findet ihn unter den verschiedensten Namen, als ›Culturas Híbridas‹ bei Néstor García Canclini, ›La pensée métisse‹ bei Serge Gruzinski, ›Deterritorialization‹ bei Arjun Appadurai, ›Créolisation‹ bei Édouard Glissant, ›Ortspolygamie‹ bei Ulrich Beck, ›CrossCulturality‹ bei Wilson Harris, ›Transnational Connections‹ bei Ulf Hannerz, ›Mulattisierung‹ bei Hugo Loetscher, ›Sycretism‹ bei Roger Bromley oder ›Transkulturalität‹ bei Wolfgang Welsch.«5

Ohne auf Vollständigkeit zu insistieren, ließe sich die Liste mühelos erweitern: Bernabé, Chamoiseau und Confiant feiern die Éloge de la Créolité, Heidemann und de Toro sehen New Hybridities und die Kulturwissenschaftler Breinig, Lösch und Gebhardt diagnostizieren eine »Transdifference« mit Blick auf Multiculturalism in Contemporary Societies (2002).6 Ottmar Ette führt programmatische Begriffe wie Literatur in Bewegung7 oder ZwischenWeltenSchreiben der Literaturen ohne festen Wohnsitz8 ein. Folgt man Glissant, so kann man sagen: »Le monde entier, donc, se créolise et la résultante, c’est que notre imaginaire de l’identité change.«9 Glissant postuliert gar ein neues Zeitalter der kulturellen Entdeckungen: »[…] c’est une des fonctions de la poésie et de la littérature que de changer cet imaginaire des humanités, et que de faire comprendre que ces humanités entrent dans un nouveau cycle qui n’est plus celui de la découverte des terres, mais qui est celui de la découverte des cultures.« 10

Neue Differenzierungsphänomene seien davon geprägt, so Ette, dass »[n]eben ein multikulturelles Nebeneinander und ein interkulturelles Zwischen- und Untereinander [...] ein transkulturelles Durcheinander getreten ist, in dem sich die verschiedenen Kulturen wechselseitig durchdringen und verändern.«11 Nicht nur verschiedene Perspektiven vermischen sich, die Theoriebildung selbst wird hybrid, indem sie traditionelle Grenzen zwischen verschiedenen Diskursfeldern durchbricht, denn die diversen Hybriditätskonzepte speisen sich aus verschiedensten Disziplinen wie Biologie, Soziologie, Kulturwissenschaften, Literatur- und Sprachwissenschaft. Eine gründliche Klärung und Differenzierung dieser Konzepte scheint daher geboten, will man verhindern, dass sie der Beliebigkeit anheimfallen und sich

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Dewulf: 2002. Breinig/Gebhardt/Lösch: 2002. Ette: 2001a. Ette: 2005a. Glissant: 1999b, 52. An anderer Stelle unterstreicht er den Zusammenhang von Prophetie und Vergangenheit: »on peut avoir une vision prophétique du passé, de son propre passé: c’est cela l’imaginaire« (Glissant: 1997e, 69). 10 Glissant: 1999b, 52. 11 Ette: 2001a, 13.

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so ihre spezifischen Erklärungsqualitäten auflösen wie Andreas Ackermann einwendet: »Wenn man also von der Annahme ausgehen muss, dass alle Kulturen immer schon hybrid waren, folgt daraus zugleich, dass der Begriff der Hybridbildung letztlich tautologisch ist: Die gegenwärtige Globalisierung wäre dann nichts anderes als eine Hybridbildung aus bereits hybriden Kulturen, eine Feststellung, deren Wert nicht sehr hoch zu veranschlagen sein dürfte (wiewohl ihr impliziter Anti-Essentialismus politisch bedeutsam bleibt).«12

Um einem inflationären Gebrauch von Hybridität entgegen zu wirken, ist es unbedingt notwendig, Konzepte von Hybridisierung in ihrer historischen Genese und im Hinblick auf ihren konkreten Gegenstand zu untersuchen. Im Folgenden geht es konkret um kulturtheoretische Auseinandersetzungen mit dem Begriffsfeld der Hybridität im anglo,- hispano- und frankophonen Raum. Das sich mit den Begriffen der Synkretisierung, Kreolisierung und Hybridisierung eröffnende weite kulturtheoretische Reflexionsfeld kann nicht in seiner ganzen Extension erschöpfend ausgemessen werden. Es ist vielmehr der Versuch, eine begriffsgeschichtliche Skizze der unterschiedlich entstandenen Kulturkonzepte zu entwerfen, welche die zentralen Bedeutungsverschiebungen, Gewichtungen und Überschneidungen aufzeigt, die sich aktuell zwischen den verschiedenen Termini ergeben.

1.1 T RANSITORISCHE I DENTITÄTEN : »[] TOUTES LES › BÂTARDISES

POSSIBLES ‹«

Bevor zentrale Begriffe etymologisch hergeleitet werden, soll kurz – anhand von exemplarischen Zitaten – das grundsätzlich Neue am Zusammenhang von Identität und Hybridität gezeigt werden. Die Regisseurin Zaïda Ghorab-Volta, die in ihrem Hip-Hop-Film Souviens-toi de moi (1995/96) aus der Perspektive einer jungen Beure über das Leben in der Pariser banlieue berichtet, erklärt in einem Interview: »Il faut stopper le discours négatif et destructeur, que j’ai entendu pratiquement toute ma vie, d’un ton condescendant, comme à un animal blessé: ›Vous avez le cul entre deux chaises, entre deux cultures, vous ne savez pas qui vous êtes vraiment, vous êtes partagés, coupés entre les deux.‹ [...] Je n’ai pas le cul entre deux chaises, entre deux cultures: j’ai deux cultures. […] J’ai donc deux fois plus de possibilité pour la vie… je suis deux fois plus riche.«13

Das Zitat trifft den Kern der komplexen Problematik um transitorische Identitäten. Statt Defizit-Orientierung wird das Potential einer solchen Doppel-Identität hervorgehoben. Hybriditätskonzepte gehen jedoch über den Zustand des entre-deux hinaus und verweisen auf einen Dritten Raum. Der marokkanische Schriftsteller Tahar Ben Jelloun formuliert es in Les yeux baissés wie folgt: »Je pensais que tu étais entre deux cultures, entre deux mondes, en fait tu es dans un troisième lieu qui n’est ni ta terre

12 Ackermann: 2004, 152, Herv. i.O. 13 Zit. n. Bluher: 2002, 93.

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natale ni ton pays d’adoption.«14 Die martinikanische Autorin Fabienne Kanor sagt auf die Frage nach ihrer Selbstpositionierung im Kontext einer littérature-monde: »Héritière de Césaire. Petite-fille de Glissant. Parente – pauvre – du couple Confiant et Chamoiseau. […] Diaspora seconde génération, c’est à ce ›drôle‹ de groupe que j’appartiens. […] Suis-je un auteur créolofrancophone qui s’ignore? Une écrivaine négropolitanophone? Francopériphérico-phone? Négroparigophone? Francophone?… Ou ne suis-je pas plutôt un auteur tout court qui, à l’instar de Maryse Condé, rêve d’une littérature sans épithète mais avec toutes les ›bâtardises possibles‹.«15

Der franko-haitianische Autor René Depestre der lange in Kuba lebte, spricht von den »racines aériennes« seiner baumartigen »identité banian, c’est-à-dire démultipliante« 16: »J’ai le sentiment d’avoir acquis, du fait d’un exil qui a duré toute la vie, ce que j’appelle une identité-banian (du nom d’un Arbre de l’Asie aux racines multiples qui ont l’originalité, après leur montée à la lumière, de redescendre dans la terre pour de successives remontées). Mon identité multiple se nourrit à la fois du chez-soi insulaire de Jacmel (Haïti) et du chez-l’autre hexagonal de Lézignan-Corbières (France), après une longue aventure existentielle qui m’a permis d’être tchèque à Prague, Italien à Milan, Brésilien à Sao Paulo, Cubain à La Havane.«17

Statt mit eindeutigen Identifikationen jonglieren die Autorinnen und Autoren mit Mehrfachzugehörigkeiten. Dies erinnert an Homi Bhabhas Bild des »Treppenhauses als Schwellenraum«18: »Das Treppenhaus als Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen wird zum Prozeß symbolischer Interaktion, zum Verbindungsgefüge, das den Unterschied zwischen Oben und Unten, Schwarz und Weiß konstruiert. Das Hin und Her des Treppenhauses […] verhindern, dass sich Identitäten an seinem oberen oder unteren Ende zu ursprünglichen Polaritäten festsetzen. Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie gibt.«19

Differenzialität manifestiere sich somit nicht zwischen den Kulturen, sondern sei jeder Kultur inhärent und repräsentiere eine Quelle der Prozessualität und Verhand-

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Ben Jelloun: 1991, 295-296. Kanor: 2007, 239-241. Depestre: 2000, 4. Depestre: 1998, 210. Typisch für den tropischen Banyanbaum ist seine Mehrstämmigkeit. Er sendet Luftwurzeln aus, die sich mit der Zeit zu einem dichten Netz entwickeln. Haben die Wurzeln den Boden erreicht, kommt es zu einem Wachstumsschub. 18 Bhabha: 2000, 5 und Struve: 2013, 123. 19 Ebd., 5.

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lungsfähigkeit.20 Was Bhabha mit Treppenhaus oder Drittem Raum zu fassen versucht, charakterisiert der haitianische Autor Emile Ollivier als »bon usage de la migrance«, ein Begriff, der sowohl Verlust und Schmerz als auch das kreative Potential einer migratorischen Existenz markiert. Ollivier unterstreicht insbesondere die produktive Unruhe, die Migranten in die Einwanderungskulturen einführen: »J’ai forgé le mot migrance pour indiquer que la migration est une douleur, une souffrance (la perte des racines, d’une certaine ›naturalité‹) et, en même temps, une posture de distance, un lieu de vigilance. Je vois très bien les pertes que cette situation inflige: le bain utérin, la langue maternelle, le sol, l’éclatement de l’identité, mais dans le même temps, il y a une contrepartie à cette violence et à cette brutalité, celle d’une individualité polyphonique, celle de naître à un univers décloisonné qui est irisation, rhizome, foisonnement, bourgeonnement de vie et de liberté. […] je dirais que le migrant est la chance des sociétés d’accueil, du fait qu’il est à la fois protagoniste et otage.«21

Neben den zahlreichen heterotopischen Begriffen bzw. Bildern wie ZwischenWeltenSchreiben, Third space oder Migrance taucht bei Jean-Claude Charles das Oxymoron Enracinerrance auf, welcher neben der transkulturellen Bewegung auch einen »ancrage d’origine«22 mitdenkt. Der aus Haiti stammende und seit mehreren Jahrzehnten in der Diaspora lebende Autor verortet sich »dans un triangle dont Haïti serait le sommet fuyant, les Etats-Unis et la France les angles de base... et l’on voit tout de suite les limites de la métaphore. Car ici, les racines sont au ciel et à la base il y a des branches et d’infinies possibilités de greffes.« 23 Die Rückkehr zu ethnisch geschlossenen, originären Vorgeschichten scheint versperrt, wenn es sie denn überhaupt je gab. Postkoloniale Theorien kultureller Hybridität wenden sich entschieden gegen Vorstellungen einer autochthonen und homogenen nationalen Kultur und fragen konsequent nach der Beziehung zwischen kultureller Hybridität und sozialer Egalität.24 Das Konzept polyphoner und hybrider Kulturen ermögliche vielmehr, so Elisabeth Bronfen, »über die Utopie kultureller Vielfalt hinauszugehen, in der die jeweils andere Kultur immer noch ein Objekt möglichen Wissens und abschließenden Verstehens ist«25. Was mit der Auflösung der Bindung von Gemeinschaften an geographische Territorien gewonnen bzw. verloren wird, werde ich später noch genauer zeigen. Doch zunächst geht es einen Schritt zurück und meine begriffsgeschichtliche Skizze beginnt mit einem Abstecher in die Etymologie.

20 Eine sehr differenzierte Einleitung in sein Werk ist Karen Struves Buch Zur Aktualität von Homi K. Bhabha (2013), besonders das Kapitel zur Rezeption Bhabhas »Jubel und Kritik. »Don’t mess with Mister In-Between« (151-189). 21 Ollivier: 2000, 25, Herv. i.O. 22 Charles: 2001, 39. 23 Ebd., 39. 24 Vgl. Puri: 2004. 25 Bronfen/Marius: 1997, 12.

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1.2 E TYMOLOGISCHER A UFRISS : H YBRIDE

UND

M ESTIZEN

Hybrid bedeutet zunächst als Adjektiv schlicht ›zusammengesetzt‹, ›gemischt‹. In der Linguistik im Bereich der Wortbildung bezeichnet es, so der Larousse de la Langue Française, ein »mot formé de radicaux provenant de langues différentes«. Laut Duden ist allerdings mit dem aus dem lateinischen hybrida ein ›Bastard‹ von unsicherer Herkunft gemeint. Es diente vom 19. bis ins 20. Jahrhundert hinein als diskriminierende und rassistisch gefärbte Argumentationsfigur für einen Menschen ›von zweierlei Herkunft‹, einen ›Mischling‹, stets mit der pejorativen Konnotation des Unreinen. Hybridität taucht in der modernen Wissenschaft zunächst im Bereich der Genetik und Botanik auf, rekurrierend auf die Mendel’schen Gesetze in der Pflanzenzucht und somit auf binäres Denken und Reinheitsgebote.26 Hybridität ist anfänglich ein Biologismus; ihm ist damit eine problematische Bedeutungsgeschichte inhärent. Doch seit den 1980er Jahren wird der Begriff weg von der Devianz und hin zu einem kulturtheoretischen, rassismusfeindlichen Schlüsselbegriff positiv umgedeutet.27 Aktuell umfasst der Begriff »[…] einen vielfältigen Problemkomplex kultureller Mischformen, der auch als ›Synkretismus‹ bezeichnet worden ist und häufig in Zusammenhang mit den Begriffen Pastiche, Kontamination, Interkulturalität und Multikulturalismus sowie Dialogizität, Heteroglossie und dem Karnevalesken (M. Bachtin), der Nomadologie von G. Deleuze und P.F. Guattari und M. Foucaults heterotopischen Räumen gebraucht wird«28 .

Diese Wandlungsfähigkeit – von einer biologistisch-diskriminierenden zu einer kulturell-subversiven Argumentationsfigur – deutet eine der zentralen Spannbreiten an, mit der wir es heute theoretisch und politisch zu tun haben. Im lateinamerikanischen Raum hat das Konzept der mestizaje eine zentrale Bedeutung und unterliegt einem vergleichbaren Paradigmenwechsel.29 Das Imaginarium der Mischung, der impureza, der contaminación,30 allgemein der Verunreinigung, ist einer der Metadiskurse zu Lateinamerika. Innerhalb der Karibik konnte sich der homogenisierende Diskurs um Mestizaje aber nicht durchsetzen, hier stehen vielmehr fraktale, archipelisierte Kulturtheorien im Vordergrund.

26 Nghi Ha weist darauf hin, dass die »Mendelschen Versuche über Pflanzenhybride (1866) ein bis heute gültiges Wissenschaftsparadigma begründet, das als Gründungsurkunde der Genetik und Molekularbiologie die Arbeitsgrundlage der Biotechnologien bildet« (Nghi Ha: 2010, 198). 27 Vgl. Ackermann: 2004, 148. 28 Griem: 1998, 221. 29 Gerade in Lateinamerika werden die beiden Konzepte, mestizaje und sincretismo, häufig als Synonym verwendet, »mestizaje takes precedence in studies devoted to the mix of races or ethnic groups, and syncretism to refer to religious fusion or traditional symbolic movements« (García Canclini: 2001a, 7096). 30 Vgl. Exner: 2012.

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Mestizo leitet sich aus dem lateinischen mixtitius = vermischt ab und hat keine äquivalente Entsprechung im Englischen, Französischen oder Deutschen.31 Es konkretisiert sich in dem Konzept des Mestizen, also dem Nachkommen von Eltern unterschiedlicher ethnokultureller Herkunft; in der Regel handelte es sich dabei um ›illegitime Mischlinge‹, um ›minderwertige Bastarde‹. Von lateinamerikanischer Seite her gesehen, ist der »Topos der illegitimen Geburt Sinnbild der Gewalt der spanischen Konquistadoren gegen die (mütterlichen) indianischen Kulturen«32. Néstor García Canclini weist darauf hin, dass weniger als zehn Prozent der lateinamerikanischen Bevölkerung auf indigene Kulturen zurückgehen: »The mix of Spanish and Portuguese colonizers first, then the English and French, with American Indians, to which the African slaves were added, made mestizaje the prevailing process within the societies of the so-called New World.«33 Spätestens seit José Vasconcelos’ Versuch den Mestizen als raza cósmica (1925),34 sozusagen als Nationalsubjekt, zu konstituieren, setzt sich ein affirmativer Gebrauch des biologistischen mestizaje-Konzepts durch. Vasconcelos sieht in der Rassenmischung einen neuen, fünften Menschentypus, zusammengesetzt aus Indios, Asiaten, Europäern und Afrikanern. Mestizaje erinnert somit einerseits »au viol de la femme indienne par le mâle espagnol«35, also an die Geschichte der Gewaltakte, die das Verhältnis von Identität und Alterität in Lateinamerika bestimmt haben. Die Eroberung Amerikas vollzog sich dabei in besonderer Weise über die Gleichsetzung von Raum und Frau, denn bereits mit dem Beginn des ›Zeitalters der Entdeckungen‹ bildete sich eine europäische Tradition heraus, in der sich die Vorstellungen vom fremden Raum und vom fremden weiblichen Körper überlagern und in welcher der Reisende zumeist ein sexualisiertes Verhältnis zum Raum hat. Der sexualisierte Raum, die entdeckte Landschaft, soll den Eroberern wie eine Frau zur Verfügung stehen: »En un sentido, la conquista española de América fue una conquista de mujeres.«36 Und andererseits steht mestizaje im Kontext eines utopischen Gründungsgedankens von Latinität. Die Fähigkeit zur Symbiose des vermeintlich NichtZusammengehörenden, um daraus einen kulturellen Synkretismus – »un tercer estilo: el estilo de las cosas que no tienen estilo«37 zu kreieren –, der das kolonial Herangetragene zu inkorporieren und zu transformieren, d.h. es in anderen Konfigurationen neu zu entwerfen vermag, wird dabei konstitutiv gesetzt.38 Cécile Leclercq beschreibt in ihrer Studie El lagarto en busca de una identidad. Cuba: identidad nacional y

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Vgl. Hermann: 1992, 516. Schumm: 1994, 63. García Canclini: 2001a, 7095. Kritisch zu Vasconcelos’ Identitätsdiskussion siehe Krämer: 2000, 56-64. Laplantine/Nouss: 1997, 31. Herren: 1992, 11. Vertiefend zur Überlagerung von Raum und Frau vgl. Pelz: 1993; Schülting: 1997; Ueckmann: 2001. 37 Carpentier: 1990a, 21, Herv. i.O. 38 Auf den Barock-Diskurs übertragen, böte es sich an, Alejo Carpentier zu zitieren: »Ni el románico ni el gótico entraron en América. Lo que sí entró fue el plateresco, que es une forma del barroco, acaso con más atmósfera, con más aire, diríamos, que el barroco de Churriguera.« (Carpentier: 1990b, 181).

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mestizaje (2004) außerdem die Notwendigkeit einer ›mestizischen‹ Identitätskonstruktion im Anschluss an die kubanische Revolution, um sich auf nationaler Ebene dem Neokolonialismus zu widersetzen: »La teoría mestiza respondía a una urgente necesidad de homogeneización de la sociedad cubana otrora dividida social y racialmente.«39

1.3 A NSÄTZE

EINER DEKOLONIALEN

S CIENCE - MONDE

Nicht nur auf der diachronen Achse dienen Konzepte von Hybridität und mestizaje unterschiedlichen Zielsetzungen, darüber hinaus variieren sie auf der synchronen Achse je nach Sprachraum und historisch-kulturellem Erbe. Es gibt gewissermaßen eine anglophon, eine frankophon und eine lateinamerikanisch geprägte Kontroverse über verschiedene Formen kultureller Vermischung, denen eines weitestgehend gemeinsam ist, nämlich ihre wechselseitige Nichtbeachtung. So erwähnt Bhabha in The Location of culture (1994) weder Glissants archipelisches Denken noch García Canclinis vorangegangenen Überlegungen zu den Culturas híbridas (1989) und Bhabhas genannte Studie wurde erst 2007 – mit 13 Jahren Verzögerung – ins Französische übersetzt. Vornehmliches Ziel soll daher sein, die anglophone Postkolonialismustheorie mit der lateinamerikanischen sowie der frankophonen zusammenzudenken bzw. sie aneinander zu spiegeln. Noch immer werden hauptsächlich anglo-amerikanische Ansätze in den Postcolonial Studies diskutiert; insbesondere Arbeiten von in den USA oder Großbritannien lehrenden Wissenschaftlern mehrheitlich südostasiatischer Herkunft, eben die »holy trinity«40 wie Said, Bhabha, Spivak prägen nachhaltig den aktuellen Diskurs. So ist kaum eine der relevanten Studien zur Kultur aus lateinamerikanischer Sicht bislang ins Deutsche übersetzt.41 Dabei zeigt sich gerade in Studien

39 Leclercq: 2004, 12. 40 Donadey/Murdoch: 2005, 7. Vgl. z.B. die Einführung zur postkolonialen Theorie von Castro Varela/Dhawan: 2005. Edward W. Said (1935-2003) führte es von Kairo bzw. Jerusalem, wo er geboren wurde, nach New York, Gayatri Chakravorti Spivak (geb. 1942) von Kalkutta ebenfalls nach New York und Homi K. Bhabha (geb. 1949) von Bombay über Oxford nach Chicago. Dies zeigt bereits, dass nationale Kulturen unter den Bedingungen der Migration in zunehmendem Maße aus der Perspektive von Minderheiten mitproduziert werden. 41 Die Rezeption lateinamerikanischer Theorie in Deutschland verläuft nicht selten über den anglo-amerikanischen Raum, so liegen in englischer Übersetzung einige zentrale Texte vor: Jesus Martín-Barbero: Communication, culture, and hegemony: from the media to the mediations (1993), Nestor García Canclini: Hybrid cultures: strategies for entering and leaving modernity (1995), Consumers and Citizens: Globalization and Multicultural Conflicts (2001), Guillermo Bonfil Batalla: México profundo: reclaiming a civilisation (1996). Auch der anschauliche Überblick zum Begriff der Hybridität von Andreas Ackermann (2004) verzichtet leider gänzlich darauf, die lateinamerikanische und karibische Debatte zu integrieren. Er verwendet bspw. die Begriffe der Kreolisierung oder Métissage synonym zur Hybridität, ohne deren konkreten Entstehungskonzepte zu nennen (mit Ausnahme der

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zu neueren Lateinamerikadiskursen wie Cornelia Sieberts Studie Die Gegenwart im Plural (2005) oder der Überblick Die Moderne in Lateinamerika. Zentren und Peripherien des Wandels (2009) von Scheuzger und Fleer, dass Postmoderne und Postkolonialität weit mehr als anglo-amerikanische postkoloniale Theorieimporte in den literatur- und kulturtheoretischen Kanon umfasst. Eine einseitige englischsprachige Theorieproduktion und -rezeption verweist auf die geopolitisch asymmetrische Ressourcenverteilung und fordert uns auf, die mit den Postcolonial Studies einhergehende Frage der Repräsentation und Interpretation von Welt zu hinterfragen. Die NichtRepräsentation anderer Wissenskulturen ist ein (ungewollter) Kommentar zu Peripherie-Zentrums-Relationen; hier ist er konkret einer anglophonen ›Blindheit‹ geschuldet. Zum Austausch zwischen den verschiedenen sprachlichen und kulturellen Diskursen beizutragen und vielfältige postkoloniale Theoriebildung wahrzunehmen und wertzuschätzen, sind wesentliche Ziele dieses Buches, gilt es doch die Historisierung und Revision des westlich geprägten Modernedenkens zu bilanzieren und westlich definierte Parameter zur Definition moderner Gesellschaften zu hinterfragen, um so die historische »Polarität West/Rest«42 konsequent zu dezentrieren. Das immer noch recht stabile Konstrukt eines progressiven Europas als Maker of History gegenüber einem in befremdenden Traditionen stagnierenden und Führung bedürftigen anderen Teil der Welt wird konsequent in Frage gestellt. Eine Wissenschaft, die die Erkenntnisse der Kontinente des Südens konsequent miteinbezieht, eine gleichberechtigte Globalisierung in Form einer »science-monde«43 oder eines »savoir mondialisé«44 angesichts globaler Ungleichheiten bleibt noch zu etablieren. Der Begriff science-monde zielt auf eine Wissenschaft, die im globalen und lokalen Austausch steht und sich keiner hegemonialen Kultur mehr zuordnen lässt. Eine Dekolonialisierung des Wissens, der Sprachen, des Imaginären, der Humanities – eine solche Dekonstruktion des Westens steht noch aus. Ob Dipesh Chakrabarty, der von

Erwähnung von Stuart Hall). In deutscher Übersetzung sind zuletzt erschienen: Mignolo: 2012, Dussel: 2013, Quintero/Garbe: 2013. 42 Hall, zit. n. Sérgio Costa: 2007, 96, Herv. i.O. In dieser Antinomie kann der Rest nur als Mangel oder Unzulänglichkeit gedeutet werden, den es durch Interventionen wie koloniale Unterwerfung, Entwicklungshilfe oder humanitäre Interventionen etc. zu kompensieren gilt. Andere Ausrichtungen und Schwerpunktsetzungen finden sich auch im frankoarabischen Sprachraum (z.B. Abdelkébir Khatibi), auf die ich später im Kontext mit Glissant noch eingehen werde. 43 Polanco: 1990. In Anlehnung an Fernand Braudels économie-monde fasst Polanco zunächst die Entwicklung und weltweite Ausbreitung der modernen Wissenschaft seit dem 16. Jahrhundert als Welt-Wissenschaft. Ihr Entstehungszentrum lag in Europa: »Une économie-monde est une somme des espaces individualisés, économiques et non-économiques, regroupés par elle« (ebd., 12). In einem zweiten Schritt behandelt er die Herausbildung wissenschaftlicher Gemeinschaften außerhalb Europas als Teil der so entstandenen WeltWissenschaft. Dabei unterscheidet er grundsätzlich die Situation in Europa, wo die moderne Wissenschaft eine indigene war (was m.E. durchaus zu bezweifeln ist), von der in Lateinamerika, wo die historische Entwicklung und Integration in die Welt-Wissenschaft abhängig verlief. 44 Hountondji: 2001/02.

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Provincializing Europe (2000) spricht45 oder Patrice Nganang, der eine République de l’imagination (2009) entwirft; beide haben Recht, wenn sie sagen, westliches Denken sei heute jedermanns Erbe und es gehe nicht darum, es pauschal zurückzuweisen als vielmehr, es von den ›Rändern‹ her neu zu lesen und zu relativieren. 1.3.1 Risse im dominanten Diskurs: Orientalism, Third Space und Subalterne Bereits ein Jahrzehnt vor dem postkolonialen Gründungstext The Empire writes back (1989) war es zunächst der besondere Verdienst des palästinensisch-amerikanischen Kritikers Edward W. Said als einer der ersten den Zusammenhang von Wissen und Macht im kolonialen Diskurs über den ›Orient‹ thematisiert zu haben. Saids besondere Leistung war es, die Verbindung von Macht und Wissen, die die Foucault’sche Diskurstheorie zu fassen versucht, in Orientalism (1978) auf das Problem des Anderen hin auszudehnen.46 Said betont, dass kulturelle Beschreibungssysteme des Westens und deren Repräsentationspraktiken (Wissenschaft, Ausstellung, Museum, Literatur, Kunst etc.) zutiefst mit Strategien der Macht, sprich Imperialismus verbunden sind; materielle und diskursive Aneignung des Anderen gehen stets Hand in Hand. Freilich wendet Osterhammel ein, dass Saids Orientalism auf unterschiedliche Situationen unterschiedlich gut anwendbar sei, denn »[w]issenschaftliche Kolonisierung durch messende Kartographen, sammelnde Botaniker und notierende Ethnologen ist nicht dasselbe wie militärische Unterwerfung«47. Said gab zweifellos mit seiner an Auerbach und Foucault geschulter Studie Orientalism wirkmächtige Impulse für den Prozess der Dekolonialisierung der Humanities. Es ging ihm um den Eurozentrismus und Rassismus im Kern einer europäischen Wissenskultur. Sein Buch ist – auch aufgrund seiner weltweiten Rezeption – ein bemerkenswertes Zeugnis europäischer Selbstkritik.48 Said leitete eine kritische

45 Provincializing Europe meint, »dass die Modernitätskonzepte, die im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert aus Europa kamen und universelle Gültigkeit beanspruchten, nur zum Teil universell waren; gleichzeitig waren sie auch provinziell. [...] Ich denke, wir brauchen universelle Kategorien als regulative Vorstellungen. In dieser Hinsicht bin ich kein Relativist. In Provincializing Europe wollte ich zeigen, dass zwar jeder Anspruch auf Allgemeingültigkeit problematisch, die Vorstellung des Universellen jedoch trotzdem erforderlich ist,« so Chakrabarty in einem Interview mit Catherine Halpern (2008). Häufig unerwähnt bleibt Decolonising the Mind: The Politics of Language in African Literature des kenianischen Intellektuellen Ngg wa Thiong’o, welcher schon 1986 zentrale Thesen der Dekolonialisierung formulierte. 46 Eine umfassende Werkeinführung und intellektuelle Biographie in deutscher Sprache liegt seit 2008 von Markus Schmitz unter dem Titel Kulturkritik ohne Zentrum. Edward W. Said und die Kontrapunkte kritischer Dekolonisation vor. 47 Osterhammel: 2006, 35. 48 In diesem Sinne plädiert Markus Messling für eine kritische Geschichte der Philologie, um die Resistenzen und Heterogenitäten des wissenschaftlich-philologischen Orientdiskurses vorzunehmen, vgl. Messling: 2008. Von Anfang an war in der Moderne das Vermögen an-

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und nachhaltige Revision von Geschichtsschreibung ein, obgleich er auf Konzepte früherer Kritiker wie Césaire und Fanon zurückgreifen konnte. Da Said jedoch (insbesondere in Orientalism) weitestgehend in der binären Struktur des Kolonialismus des 19. Jahrhunderts und der Vorstellung kultureller Einheiten verhaftet blieb – ihm wird häufig eine Homogenisierung und damit Essentialisierung des Orients wie auch des Okzidents vorgeworfen49 –, werden Diskontinuitäten und Ambivalenzen des imperialen Diskurses von ihm kaum wahrgenommen.50 So wirkt bei ihm die westliche Kultur insgesamt hegemonial; mögliche Gegenkulturen, das Denken von Widerständen und Heterogenitäten, finden zunächst kein Gehör. Saids Interesse gilt primär der europäischen Wissenskultur und den so genannten atavistischen Kulturen, gänzlich abwesend sind Kreolisierungskonzepte. Er interessiert sich nicht für kreol geprägte Kulturen, die auf Sklaverei basieren und damit weitgehend ohne präkoloniale Vergangenheit existieren; dabei ähneln gerade kreolische Kulturen Saids autobiographischem Out of place.51 Kritisiert wird an Said zudem, dass der us-amerikanische Orientalismus des 20. Jahrhunderts mit dem britischen und französischen des 19. Jahrhunderts nahezu parallel gesetzt wird, so dass die drei Formen wie ein ›Diskurs-Block‹ erscheinen.52 Dieser monolithische Zugriff zeigt sich auch in Saids Vernachlässigung der Genderperspektive.53 Er hat zwar erkannt, dass die koloniale Beziehung zumeist als heterosexuelle gedacht wurde, die den Orient als Frau attribuiert, der vom männlichen Westen beherrscht und ›penetriert‹ wird, dennoch gestaltet sich von einer queertheoretischen Perspektive aus sein Konzept als auffällig heterosexistisch. Zudem bleibt bei ihm offen, welche Widerstände und Allianzen bei europäischen Frauen gegen bzw. für die dominanten Diskurse eines maskulinisierten Imperialismus zu finden sind.54 Erst in Culture and Imperialism (1993) widmet sich Said stärker gegenhegemonialen und widerständigen Positionen, wobei er eben nicht mehr nur auf den Bildungskanon der Metropolen, sondern ebenso auf nicht-westliche Kulturproduktionen zurückgreift. Die sich überlappenden Geschichte(n) zwischen imperialer Erzählung und postkolonialer Perspektive und die damit verbundene Hybridität versucht Said

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gelegt, sich selbst zu reflektieren. So stellten Karl Marx, Max Weber oder Sigmund Freud bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert Prämissen der Aufklärung grundlegend in Frage. Vgl. Castro Varela/Dhawan: 2005, 38. Problematisch sei seine Gegenüberstellung eines durch die Orientalisten konstruierten und eines realen Orients, vgl. Young: 2004, 168f. Auch hier lässt sich ein Zusammenhang von epistemischer Gewalt und der Durchsetzung eines bestimmten Geschichtsnarrativs, nämlich im postkolonialen Kontext, jenes des Imperialismus nachweisen. Said hat seine essentialistischen und generalisierenden Überlegungen in späteren Publikationen selbst in Frage gestellt. In »Representing the Colonized. Anthropology’s Interlocutors« spricht er von »cultures as permeable« (Said: 1989, 225) und in Culture and Imperialism: »Partly because of empire, all cultures are involved in one another; none is single and pure, all are hybrid, heterogeneous, extraordinarily differentiated, and unmonolithic« (Said: 1993, xxix). Vgl. Marimoutou: 2012, 14. Vgl. Castro Varela/Dhawan: 2005, 39. Ebd., 43. Vgl. Ueckmann: 2001.

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mit dem Konzept des kontrapunktischen und nomadischen Lesens zu fassen, worauf ich am Ende des theoretischen Teils (in der Zusammenschau) genauer eingehe.55 Neben Said gilt gerade das Hybriditätskonzept Homi Bhabhas als wichtige Referenz im Kontext postkolonialer Theorie. Bhabha, stark beeinflusst von poststrukturalistischen und psychoanalytischen Ansätzen, distanziert sich von Saids frühen Polarisierungen ebenso von einem Multikulturalismus mit dem Ziel einer Festlegung von kultureller Vielfalt. Stattdessen betont er in seiner Studie The Location of Culture (1994) die Mehrfachcodierung von personaler und kollektiver Identität. Er betont die psychodynamische Komplexität des wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnisses von kolonisierendem und kolonisiertem Subjekt und deren »gegenseitige Kontaminierung«56. Bhabha ist daran gelegen, Saids Vorstellung einer ›totalen Herrschaft‹ zu korrigieren und das komplexe Abhängigkeitsverhältnis zwischen Kolonialmacht und Kolonisierten, insbesondere die Handlungsmacht und Widerstandsformen der Kolonisierten in den Blick zu nehmen. »In den Rissen der dominanten Diskurse sei es dem kolonisierten Subjekt möglich, Verhandlungen und Befragungen zu initiieren und damit den kolonialen Prozess zu irritieren«, resümieren Castro Varela/Dhawan.57 Bhabhas Konzept der (inneren) kulturellen Differenz basiert auf dem Schlüsselbegriff der liminality, welcher eine labile Balance des Auf-der-Schwelle-Lebens beschreibt, sich manifestierend in Momenten des Übergangs und des Bruches.58 Von Freud übernimmt Bhabha das Modell des Unheimlichen, d.h. den Gedanken an etwas Fremdes inmitten des eigenen psychischen Apparates. Bhabha bestimmt das Andere niemals als außerhalb des Eigenen, Alterität wird zum konstitutiven Moment von Identität. Es sind »Migranten und Randständige mit ihrem multiplen historischen Wissen«,59 die aus einer Grenzzonenperspektive agieren und sich folglich in einem Third Space bewegen und darin in-between-identities bilden. Im Raum dieser ›dritten Kultur‹ wird der Kanon, die Stimme der Autorität, des Patriarchats und des Okzidents verschoben, so wird es möglich innerhalb von Machtbeziehungen auch jene Stimmen wahrzunehmen, die den hegemonialen Diskurs unterlaufen. Der Dritte Raum ist derjenige, von dem aus das kolonisierte Subjekt in Form einer Mimikry, also des Nachahmens bzw. -äffens der kolonialen Kultur spricht und sie so von innen her transformiert.60 Strategien des Schutzes durch Tarnung in einer feindlichen Umgebung – Anpassung durch Täuschung – ist im postkolonialen Diskurs eine Metapher

55 Vgl. Said: 1993, xxix und 59. Eine kritische Weiterentwicklung der Said’schen Argumentation unternahmen in besonderer Weise Clifford:1988, Ahmad: 1992, Porter: 1993, Behdad: 1994, Moore-Gilbert: 1998, Young: 2004, Schmitz: 2008, Schwerpunktthema »Edward Said, théoricien critique« der Zeitschrift Tumultes: 2010. 56 Fludernik/Nandi: o. J., 11. 57 Castro Varela/Dhawan: 2005, 85. 58 Bhabha verwendet diesen Begriff u. a. in dem Aufsatz »DissemiNation: Zeit, narrative Geschichte und die Ränder der modernen Nation«, vgl. Bhabha: 2000, 207-253. 59 Kreutzer: 1998, 47f. 60 Siehe dazu Bhabhas Analyse »Von Mimikry und Menschen: Die Ambivalenz des kolonialen Diskurses« (2000, 125-136). Mimikry stammt eigentlich aus der Biologie und bezeichnet die Möglichkeit bestimmter Tiere, sich zu schützen, indem sie sich der Gestalt oder Farbe solcher Tiere anpassen, die von ihren Feinden gefürchtet werden.

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für das Verhalten von Minderheiten, die sich innerhalb einer Ordnung äußern, die entscheidend vom Diskurs der dominanten Kultur geprägt ist. Die Kolonisierten greifen – bewusst und unbewusst – Zeichen und Symbole der kolonisierenden Kultur auf und integrieren sie in ihr eigenes kulturelles Zeichensystem. Durch diese Aneignung entsteht ein hybrides Drittes, das nicht ganz der kolonisierenden und nicht ganz der kolonisierten Kultur entspricht. Jeder Versuch der Nachahmung des Kolonisators kann als eine geringe Abweichung vom Nachzuahmenden im Sinne eines almost the same but not quite […] almost the same but not white gelesen werden, womit jedes ›Original‹ potentiell in seiner Einzigartigkeit gestört werden kann.61 Struve erläutert pointiert: »›Die Mimikry verbirgt keine Präsenz oder Identität hinter ihrer Maske‹, greift Bhabha das Bild Fanons auf und macht damit das Moment der verfremdenden Mimesis, der ironisierienden Wiederholung des kolonialen Vorbilds deutlich. Bhabha sieht gemäß Fanon in der Mimikry eine dritte Möglichkeit, sich der weißen Mehrheitskultur zu stellen, nicht nur selbst weiß werden oder verschwinden, sondern eben sich zu tarnen, eine weiße Maske auf einer ›schwarzen‹ Haut zu tragen.«62

Bhabhas Sicht ermöglicht, die Hierarchien von Sozialgeschichte nicht mehr als unveränderliche Fakten, sondern als ein kulturelles Feld zu sehen, in dem die Kräfte der Macht einer kulturellen Gegendynamik gegenüberstehen.63 Bhabha unterstellt ein durchgängig oppositionelle Haltung der Kolonisierten und geht davon aus, dass jegliche Äußerung der Kolonisierten potentiell oppositionelle Elemente enthält, die sich dem herrschenden Diskurs widersetzen, parodieren oder sich dessen Begriffe aneignen, um sie subversiv zu wenden. Mit Hilfe solch ambivalenter Strategien, welche die Aneignung des kolonialen Diskurses und zugleich den Widerstand dagegen darstellen, wird die Peripherie wieder in den Prozess der Moderne hineingeschrieben bzw. von innen her transformiert. Die randständige Position, die sich zwischen erzwungener Anpassung und explizitem Widerstand situiert, wird so zum Ort eines anderen, dezentrierten Wissens: »Hybridität, selbst ein Zustand, der als ›Affekt‹ des kolonialen Diskurses hervorgebracht wurde, bricht eben diesen Affekt und wirft ihn auf die Quelle seiner eigenen Spaltung zurück. Dadurch wird der herrschende Diskurs selber hybridisiert und/oder die Spaltung aufgedeckt, die der Stimme der Autorität immer schon innewohnt, die Spaltung, die ursprünglich die Hybridität des Anderen produziert hatte.«64

61 Vgl. Struve: 2013, 143-149. 62 Ebd., 146. 63 So hält Steven Hahn beispielsweise für den transatlantischen Sklavenhandel fest: »Die Studien befassen sich nicht mehr so sehr mit dem erlittenen Unrecht, der kulturellen Entwurzelung und den zerstörerischen ökonomischen Auswirkungen als vielmehr mit den beteiligten Agenturen, dem Widerstand der Sklaven und der kulturellen Kommunikation innerhalb einer unstabilen Kräftebalance« (2006, 18). 64 Fludernik/Nandi: o. J., 16.

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Kritisiert wird an Bhabhas Hybriditätskonzept, dass es sich als ästhetisches Verfahren vor allem an eine kosmopolitische, intellektuelle Elite im Exil wende und dabei die subalterne Mehrheit der ehemaligen Kolonien vernachlässige, von der Spivak spricht.65 Seine Untersuchungsgegenstände seien allesamt der Hochkultur entnommen und damit elitistisch und realitätsfern, fasst Struve die Kritik zusammen.66 Die Gefahr bei Bhabha liegt ferner darin, dass er den Eindruck weckt, innerhalb des Zwischenraumes die minoritären Diskurse diasporischer Migrantengemeinden im Westen zu privilegieren, welche nicht automatisch progressiv sind.67 Die Ränder der westlichen Gesellschaft sollen quasi als postkolonialer Ort innerhalb des westlichen Diskurses subversiv wirken, vergleichbar mit den Widerstandsbewegungen Subalterner im kolonialen System. Doch die Subalternität dieser Migrant/innen ist mit der kosmopolitischen kulturellen Elite des Westens verbunden; innerhalb ihres Heimatlandes haben sie keine subalterne Position.68 Zudem ist ein frei gewählter Migrationsort als Positionierung des Subjekts nicht vergleichbar mit demselben Ort, wenn er Resultat eines erzwungenen Exils ist. Spivak als Kritikerin der postkolonialen Theorie markiert im Gegensatz zu Said und Bhabha ausdrücklich die Unterschiede zwischen der Elite und der subalternen Mehrheit kolonisierter Völker sowie zwischen der kosmopolitischen Diaspora und der einheimischen (ländlichen) Bevölkerung der ›Dritte- und Vierte-Welt-Länder‹.69 Angehörige der Kolonialbevölkerung haben in unterschiedlicher Weise Zugang zu Möglichkeiten der Äußerung, insbesondere zum lieu discursif schriftlicher Äußerungen. In Anlehnung an das Projekt der South Asian Subaltern Studies, das von einer Gruppe indischer HistorikerInnen um Ranajit Guha an einer Revision der Kolonialgeschichte von unten arbeitet, fragt Spivak nach dem kulturellen Eigensinn der kolonisierten Subalterne und deren Versuche, eigene Stimmen zu Gehör zu bringen, um

65 In Anlehnung an den von Antonio Gramsci geprägten Begriff der Subalterne; er soll in seinen Gefängnistagebüchern (1934-35) den Begriff des Proletariats wegen der Gefängniszensur durch den der Subalterne ersetzt haben, vgl. Steyerl: 2008, 8. Die begriffliche Neuschöpfung der Subalternität für die ökonomisch Besitzlosen, die strukturell Ausgeschlossenen fand ab den frühen 1980er Jahren erst in Indien und danach in Lateinamerika statt. Im Gegensatz zum Proletariat, das durch die Arbeiterbewegung ein politisches Subjekt konstituierte, bleibt die Subalterne verstreut. Hier setzt Steyerls Kritik ein, wenn er die vereinzelten »strategischen Essenzialismen« als »autistische Monaden« oder als ein »Panoptikum verschiedenster Ego-Modelle, die sich weitgehend harmonisch in die Produktionsweisen eines neuen, Differenz verwertenden Kapitalismus einpassten« (ebd., 12f.) kritisiert. Eine solche Politik vernachlässige Gleichheit und Solidarität und führt zu Sprachlosigkeit: »Es ist die Solidarität als solche, die heute subaltern geworden ist, da es keine Sprache gibt, in der sie vernehmbar artikuliert werden kann« (ebd., 15). 66 Vgl. Struve: 2013, 157. 67 So ist bekannt, dass ultrarechte Hindu-Organisationen in Indien mit großen Geldsummen einer bürgerlich-konservativen Diaspora der Immigranten unterstützt werden, vgl. Castro Varela/Dhawan: 2005, 134; Mayer: 2005, 19. 68 Vgl. Fludernik/Nandi: o. J., 21. 69 Neben ihrer akademischen Tätigkeit an der Columbia Universität unterrichtet Spivak in Bangladesh Schüler mit geringen Bildungschancen.

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so als diskursmächtige Subjekte hervorzutreten.70 Den Raum der Subalternen definiert Spivak in Anlehnung an Guha »[…]... als Raum, der in einem kolonisierten Land von den Mobilitätslinien abgeschnitten ist. Es gibt eine fremde Elite und eine indigene Elite. Unterhalb dieser finden wir die Vektoren einer Aufwärts-, Abwärts-, Seitwärts- und Rückwärtsmobilität vor. Aber dann gibt es auch einen Raum, der praktisch außerhalb jeder dieser Linien liegt« 71.

Ein solcher Raum des Schweigens und der Ohnmacht stellt Foucaults Machtvorstellung grundsätzlich in Frage, denn sein Ansatz zielt auf einen netzartigen Machtbegriff, d.h. es gibt nicht auf der einen Seite die, die Macht haben und auf der anderen Seite die, die jenseits der Macht stehen. Für ihn ist Macht das organisierende Prinzip von Beziehungen und Kräfteverhältnissen und wird unter Mitwirkung aller dieser Verbindungen reproduziert und modifiziert.72 Für Spivak »sehen wir [niemals] die reinen Subalternen. Es gibt folglich etwas von einem Nicht-Sprechen, das im Begriff der Subalternität selbst liegt«; in Anlehnung an Derrida nennt sie diesen Bereich die »Nacht des Nicht-Wissens«.73 Dessen ungeachtet, verteidigt Spivak die Konstruktion einer ›nativen Identität‹. Die Profilierung einer positiven Ethnizität im Sinne eines »strategischen Essentialismus«74 sei unerlässlich, um selbstbewusst und subversiv in den herrschenden Diskurs einzugreifen, handelt es sich doch um »prekäre Subjektivitäten«75, die am Rande der epistemischen Gewalt entstanden sind.76 Ein abrufbares, authentisches prä- oder postkoloniales Bewusstsein gibt es für Spivak nicht. Sie spricht auch ausdrücklich von der Heterogenität der Subalternen. Weiterhin lehnt sie eine Verherrlichung eines ›Migranten-Hybridismus‹ in der ›Ersten Welt‹ à la Bhabha

70 Vgl. Spivak: 1988. Inspiriert durch die indischen Subaltern Studies entstand Mitte der 1990er Jahre in den USA die Grupo Latinoamericano de Estudios Subalternos (John Beverley, Walter Mignolo, Alberto Moreiras, Ilena Rodríguez, Norma Alarcón u.a.), die jeden offiziellen ›Lateinamerikanismus‹ wie América mágica, lo real-maravilloso, raza cósmica als »la otredad« und »exterioridad moral frente a Occidente« in Frage stellt und einer Metakritik unterzieht (vgl. Castro-Gómez: 1998b, 3f). Latinoamericanismo wird wie Orientalism als epistemische, imperiale Gewalt angesehen. Die Gruppe verweist selbstkritisch auf das Paradox, dass die Wissensproduktion der postkolonialen Intellektuellen koloniale sowie postkoloniale Subalternitäten reproduziert (vgl. dazu ihr »Manifiesto inaugural« in: Grupo Latinoamericano de Estudios Subalternos: 1998). Dennoch wurde auch dieser Gruppe ›theoretischer Handel‹ von der ›Dritten‹ in die ›Erste Welt‹ und die erneute Dominierung Lateinamerikas durch us-amerikanische Hochschulen vorgeworfen. Aufgrund der heftigen Kritik löste sich die Gruppe im Jahre 2001 auf, vgl. Castro Varela/Dhawan: 2005, 26, Sieber: 2005, 161f. und Garbe: 2013, 32. 71 Spivak im Gespräch mit Landry/Maclean: 2008, 121. 72 Vgl. genauer zu Foucault das Kap. zu Glissants Werk. 73 Spivak im Gespräch mit Landry/Maclean: 2008, 122. 74 Vgl. Steyerl: 2008, 13, Castro Varela/Dhawan: 2005, 127. 75 Costa: 2007, 99. 76 Vgl. zur Einschätzung von Spivak die Überlegungen von Costa: 2007, 99.

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ab,77 denn Spivak definiert Postkolonialität nicht primär als Verfasstheit der aus ehemaligen Kolonialstaaten stammenden Intellektuellen in den ökonomischen Metropolen, sondern als Verfasstheit von ganz Europa. Postkolonialität umfasst »ein Bewusstsein und einen Zustand, die weiterhin über Spuren und Effekte kolonialer Geschichte den Alltag im Norden und im Süden bestimmen.«78 Die Kolonisation nimmt hier den Rang eines welthistorischen Ereignisses ein, dessen Auswirkungen bis heute fortbestehen. Der Begriff ›postkolonial‹ beschreibt also in welcher Weise sich koloniale Prozesse in die Menschen der kolonisierten wie auch kolonisierenden Kulturen eingeschrieben haben; wenn auch für beide Seiten auf fundamental unterschiedliche Weise. Nicht zuletzt verweist Spivak explizit auf die Differenzen, die sich aus der Geschlechterrollenverteilung ergeben, denn postkoloniale Theorien werden gemeinhin entlang der Genealogien männlicher Theoretiker wie Said, Bhabha u.a. diskutiert.79 Spivak insistiert auf der Tatsache, dass nicht jede Stimme gleichberechtigt sei und als gleichbedeutend wahrgenommen werde; Mitglieder aus subalternen Gruppen haben nicht den gleichen Zugang zur Interpretation der Welt wie ›offizielle‹ Intellektuelle, die in westliche Wissenstraditionen eingebunden sind.80 Eine Rekonstruktion der Stimme der Subalternen ist Spivak zufolge nicht möglich, insbesondere wenn diese Subalternen weiblich sind. Diese Nicht-Repräsentation von Welt ist es, was Spivak mit der Feststellung umschreibt: The Subaltern cannot speak. Die Ordnung der Diskurse erlaubt die Artikulation bestimmter Sachverhalte nicht, weil sie selbst auf diesem Schweigen beruht. Der Interpretationsrahmen »of existing macro-narratives«81 durch die Wissensproduktion von Intellektuellen verhindere gar, dass die Subalterne spreche:

77 Vgl. Castro Varela/Dhawan: 2005, 128. 78 Gutiérrez Rodríguez: 1999. 79 Diesem Desiderat wirkt der Reader Feminist Postcolonial Theory (2003) von Reina Lewis und Sara Mills entgegen. Siehe für den frankophonen Raum auch den Band Écritures transculturelles. Geschlechterdifferenz und kulturelle Differenz im französischsprachigen Gegenwartsroman (2007) von Febel/Struve/Ueckmann. Der komplexen Verflechtung von Rassismus und Gender, der Ethnisierung von Sexismus und insbesondere aber der Frage, warum ist das Subjekt der abendländischen Geistes- und Sozialwissenschaften weiß, geht die Critical Whiteness Theory nach. Die Konstruktion des okzidentalen Selbst und die Logiken der Hegemonieproduktion durch Prozesse des Othering werden dabei kritisch hinterfragt. Mit der Kategorie Kritischer Okzidentalismus liegt ein Ergänzungsvorschlag für eine Whiteness-ähnliche Figur der Hegemoniekritik vor, die Gabriele Dietze insbesondere zur Analyse deutscher und europäischer Verhältnisse als dienlich erachtet: »1. weil die Grundbinarität Weiß-Schwarz in Deutschland weniger kulturell Unbewusstes mobilisieren kann als in Ex-Sklavenhaltergesellschaften wie den USA und auch in Ex-Kolonialgesellschaften, die eine Erinnerungs- und Schuldkontinuität mit dem Kolonialismus verbinden. Und 2. weil der Begriff ›Okzidentalismus‹ auf die Neu-Konstruktion und Schließung einer ›europäischen Identität‹ gegenüber dem ›orientalisch Anderen aufmerksam macht.« Dietze: 2006, 239. 80 Vgl. Gutiérrez Rodríguez: 1999. 81 Mignolo: 2000, 9.

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»Die anderen ›für sich selbst sprechen‹ zu lassen ist [...] eine uneingestandene Geste der Selbsterhöhung, [...] [eine] verdeckte Rehabilitation des Subjekts (der westlichen Mittelklasse). Dieser versteckte Essenzialismus sei dem offen eingestandenen und daher altmodisch wirkenden Essenzialismus der Subaltern Studies Group mit ihrem Projekt der Rekonstruktion eines subalternen politischen Subjekts diametral entgegengesetzt. Während Ersterer das Subjekt zwar leugnet, aber lebt, bejaht Letzterer es zunächst, aber nur als in sich heterogenes und gebrochenes. Es werde nur durch Zerstreutheit und Unfassbarkeit definiert und bestehe letztendlich aus reiner Differenz.«82

Obwohl insbesondere Spivak bemüht ist, die subalterne Bevölkerung zum Sprechen zu bringen, charakterisiert Mark Stein auch sie, neben Said und Bhabha, als »jet-sethybrids«83. Es sei paradox, so Stein, »to conflate jet-set-hybridity and academic cosmopolitanism with the hardship of expatriates, exiles, undocumented migrants, displaced persons, and refugees, who make their way to the Northern metropoles«84. Nichtsdestotrotz verstehen sich die Interventionen der Trias Said-Bhabha-Spivak als Herausforderung an eine liberale europäische Moderne, die sich weiterhin positiv universalisiert, z.B. in Habermas’ Projekt der Moderne, welches der Tradition der Aufklärung folgt, wenn auch im Wissen um ihre Aporien.85 1.3.2 Modernidad vs. Postkolonialität: Hibridación in Lateinamerika Worin besteht indessen die Fruchtbarkeit einer Annäherung an die Ansätze der Postcolonial Studies aus der Richtung wie sie sich in den letzten Jahren in Lateinamerika entwickelt hat, statt vornehmlich der angloamerikanischen Variante zu folgen? Lateinamerika ist per se mestizajisiert oder anders formuliert: per se kommensurabel. Es ist ein Raum, in dem sich kulturelle Hybridität als Folge der Eroberung und Kolonialisierung seit mehr als 500 Jahren entwickelt hat und zur exklusiven Kultur geworden ist. Der religiöse Synkretismus, der in den Kolonialzeiten den christlichen Glauben und die präkolumbischen Kulturen verbindet, ist Grundlage lateinamerikanischer Kultur, um nur ein Beispiel zu nennen. Aktuell lässt sich eine zunehmende Attributierung des Begriffs der Moderne konstatieren: Ist bei Beck u.a. noch von einer reflexiven Modernisierung86 die Rede, so

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Steyerl: 2008, 11. Stein: 1996, 43. Ebd., 43. Zur europäischen Idee der Moderne vgl. Sieber: 2005, 16ff. Said attackiert ein solches Vorgehen als eine Politik der Weltmachtansprüche: »Heute werden die arabischen und muslimischen Gesellschaften wegen ihrer Rückständigkeit, ihres demokratischen Defizits und ihrer Missachtung der Frauenrechte so heftig attackiert, dass darüber etwas ganz Einfaches in Vergessenheit gerät: Begriffe wie Modernität, Aufklärung und Demokratie sind eben keine simplen und von allen geteilten Konzepte, auf die jedermann früher oder später stoßen wird, wenn er es nur richtig anstellt« (Said: 2003). 86 Beck/Giddens/Lash: 1996.

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sprechen andere Theoretiker schon von einer alternativen87, einer multiplen88, einer kolonialen89 oder auch einer liquiden90 Moderne. Spezifische Moderneerfahrungen außerhalb des nordatlantisch-europäischen Kontextes fordern unser Denken zunehmend heraus. Lateinamerika nimmt dabei als »Erstgeborene der Moderne«91 eine Sonderstellung ein, war es doch der erste Erdteil, mit dessen Geschichte sich die Moderne von Europa aus nachhaltig verband. Enrique Dussel spricht von einer »Transmoderne«, die damit beginnt, »[…] den Wert, dessen zu bejahen, was von der Moderne zur zurückgewiesenen, ungeachteten und nutzlosen Exteriorität der Kulturen erklärt wurde (›Abfälle‹, unter denen sich die peripheren oder kolonialen Philosophien finden), um die Potentiale […] dieser Kulturen und dieser unbeachteten Philosophien zu entwickeln. […] An einen transmodernen Dialog der postkolonialen Literaturen Kulturen stellt Dussel eine dreifache Bedingung: die Kontinuität einer Tradition, die kritische Haltung zu dieser und eine wiederum kritische Auseinandersetzung mit der Moderne.«92

Außerdem erlangten die meisten lateinamerikanischen Staaten ihre Unabhängigkeit in einer Zeit, in der die Modernisierung der europäischen Gesellschaften bereits Rückschläge hinnehmen musste.93 Die Moderne weicht zunehmend multiplen Modernen. Das mit der Zeitenwende um 1500 für »Indianer und Afrikaner Jahrhunderte der Leiden [begannen]« und »mit dem Segen von Krone und Kirche ganze Völker und Kulturen ausgerottet [wurden]«, ist mittlerweile selbst im Feuilleton angekommen.94 Anders lassen sich Reportagen wie »Gold und Sklaven«, »Menschenhandel mit päpstlichem Segen« oder »Massaker in Gottes Namen« zum Schwerpunktthema »Die Geburt der Moderne« in Der Spiegel Geschichte (2009) nicht erklären. Wenn ich hier von Moderne spreche, beziehe ich mich zunächst als Ausgangsund Abgrenzungspunkt auf den bereits erwähnten Diskurs der Moderne von Jürgen Habermas.95 Habermas’ philosophische Moderne umfasst die europäische Modernisierung der Neuzeit, konkret die zunehmende Selbstbegründung des Subjekts mittels Vernunft, gekoppelt an das Versprechen menschlicher Emanzipation. Insbesondere referiert der Begriff auf das Zeitalter der Aufklärung, denn die Aufklärungsbewegung hatte bzw. hat eine facettenreiche und anhaltende Wirkung in der Welt. Sie schuf einen normativ-ethischen Diskurs mit universalistischen Dimensionen, der auf Prinzipien wie Progrès, Civilisation, Droits de l’Homme, Égalité und Liberté beruht. Doch wie ist das Phänomen der Kolonialisierung, das Eroberung, Genozid, Ausbeutung

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Gaonkar: 2001. Eisenstadt: 2007. Dube/Mignolo/Dube: 2004. Bauman: 2000. In Anlehung an Ashcroft: Modernity first Born, vgl. Scheuzger/Fleer: 2009, 32. Dussel, Pour un dialogue mondial, zit. n. Dittrich: 2013, 16. Vgl. Scheuzger/Fleer: 2009, 23. Der Spiegel Geschichte »Die Geburt der Moderne«: 2009, 8 und 55. Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, Rede anlässlich der Verleihung des Adornopreises im Jahre 1980, vgl. Habermas: 1988 und 1985.

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von Menschen und Ressourcen, Gewalt und Unterwerfung impliziert, mit der europäischen Moderne, die Freiheit, Fortschritt, Emanzipation, Vernunft, Wissen und Erkenntnis meint, verknüpft? Inwiefern, so fragt Sabine Broeck, »[ist] die Moderne durch ihren Subtext der kolonialen Täterschaft kompromittiert«96? Der aus Réunion kommende Intellektuelle Carpanin Marimoutou betont die unvollendete Trauerarbeit: »L’esclavage colonial hante le présent, en raison d’un travail de deuil qui n’a jamais pu être accompli.«97 Und Mimi Sheller entlarvt »the myth of emancipation as a progressive project that originated in European humanism without reference to the ideologies and political projects of those who were enslaved by European ›democratic‹ states«98. Zugespitzt formuliert: Wie lässt sich außereuropäische Sklaverei und der Code Noir mit europäischem Humanismus zusammen denken? Der Philosoph Louis Sala-Molins hat in Les Misères des Lumières (1992) eine Geschichte der Aufklärung durch die Lupe des Code noir geschrieben hat.99 Der Reader Race and the Enlightenment (1997) von Emmanuel Chukwudi Eze, Postmodernism and the Enlightenment (2001) von Daniel Gordan oder Jennifer Greesons American Enlightenment (2013) zielen darauf, die Geographie des Wissens zu erweitern sowie Hybridisierungen und querlaufende Kräfte in einer idealtypischen Modernevorstellung aufzudecken. Gerade auch die lateinamerikanischen und karibischen Konzepte der Moderne tragen zu diesem komplexen Prozess bei, der pluralisierte und diversifizierte Konzepte in die Ideenzirkulation einspeist.100 Neuere Perspektiven verweisen konsequent auf die Auseinandersetzung der europäischen Moderne mit dem außereuropäischen Anderen.101

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Broeck: 2012, 169. Marimoutou: 2012, 4. Sheller: 2008, 3. Der Code noir ist jenes Gesetzeswerk, das 1685 in Kraft trat und erst nach 163 Jahren, 1848, endgültig abgeschafft wurde. Es handelt sich um ein Regelwerk, das für schwarze Sklaven in den Kolonien galt und das die Beziehungen zwischen Sklaven und Plantagenbesitzern regeln sollte. Er definiert den rechtlichen Status der Sklaven und schreibt vor, wie die Bestrafung, die religiöse Unterweisung, der Verkauf und die Verpfändung der Sklaven vonstatten gehen sollen. Mit dem Code noir beabsichtigte die Metropole, eine Rechtsgrundlage für die Behandlung der Sklaven zu schaffen und die Sklaverei juristisch zu regeln. Der Code noir ist ein Regelwerk des Unrechts, denn er legitimierte nicht nur den Besitz und Tausch von Menschen, sondern auch das Brandmarken, Foltern, die physische Verstümmelung und das Töten von Sklaven. Eine Erzählstimme in Glissants Roman Mahagony formuliert seine Absurdität: »ils avaient établi un code pour ça, qu’ils appelaient le Code noir, qu’il faudrait dire le Code blanc. Comme si on pouvait imaginer un code pour la sauvagerie« (Glissant: 1997f, 176). Vgl. ferner Vergès: 2006 und 2011, Ghachem: 2001, Reinhardt: 2006, Ehrard: 2008, Miller: 2008. 100 Vgl. Mignolo: 1995 u. 2012, Dube/Mignolo/Dube: 2004, Fischer: 2004, García Canclini 1989, Sarlo: 1988, Herlinghaus/Walter 1994, Sieber: 2005, Lander: 2005, Trouillot: 2004, Buck-Morss: 2009, Mascareño: 2012, Dussel: 2013, Quintero/Garbe: 2013. 101 Vgl. Lüsebrink: 2006b, Wallerstein: 2007, Kraus/Renner: 2008, Osterhammel: 2000 und 2006, Broeck: 2004, Eckert: 2010, Carey/Festa: 2009, zur gegenderten Modernekritik vgl. Broeck: 2006a und 2013b.

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Um die aktuelle Diskussion um eine pluralisierte Moderne in Lateinamerika nachzuvollziehen, ist es hilfreich sich mit den dortigen Konzepten vertraut zu machen. Wie Cornelia Sieber in ihrer Zusammenstellung lateinamerikanischer Positionen mit dem Titel Die Gegenwart im Plural (2005) herausgearbeitet hat, wurde der stark homogenisierende Mestizaje-Identitätsdiskurs spätestens seit den 1980er Jahren zunehmend abgelöst von Konzepten wie Heterogeneidad (Antonio Cornejo Polar, José Joaquín Brunner, Martín Barbero) und Hibridación (Nestor García Canclini), eben von Begriffen, die offene, prozessuale, querlaufende Strukturen bevorzugen. Wichtiger Vordenker dafür ist zweifellos Fernando Ortiz mit seinem Werk Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar (1940), welches das soziale und wirtschaftliche Umfeld der Transculturación ausleuchtet; in Abgrenzung zur Akkulturation (Anpassung an dominante Kulturmodelle) und zur unproduktiven Dekulturation (Entwurzelung und Verlust der eigenen Kultur). Die Ernte und Produktion von Tabak und Zucker ist symptomatisch für die gesellschaftliche Situation Kubas: Tabak steht für das Ursprüngliche, das bereits von der indigenen Bevölkerung gepflanzt wurde. Die Vorgehensweise bei der Zuckerernte hingegen ist hochmaschinell und entpersonalisiert. Zudem steht das Dunkle für das Indigene sowie das afrikanische Element und weiß für das kolonial Herangetragene, was sich im Prozess der Kolonisation vermischt: »Todo cambio de cultura, o como diremos desde ahora en lo adelante, toda transculturación, es un proceso en el cual siempre se da algo a cambio de lo que se recibe. […] Es un proceso en el cual ambas partes de la ecuación resultan modificadas. Un proceso en el cual emerge una nueva realidad, compuesta y compleja; una realidad que no es una aglomeración mecánica de caracteres, ni siquiera un mosaico, sino un fenómeno nuevo, original e independiente.«102

Zucker steht zudem symbolisch für eine aus Europa kommende importierte ›Kultur‹, Tabak hingegen repräsentiert ein Exportprodukt in europäische Länder; hier zeigt sich anschaulich der doppelte Prozess von Transkulturation.103 Ángel Rama hat mit Transculturación narrativa en América Latina (1982) Ortiz’ Transcultración zu Beginn der 1980er Jahre für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht. Rama betont gerade die Fähigkeit, das Herangetragene gekonnt als »plasticidad cultural« und »ars combinatorio« in die lateinamerikanische Literatur einzufügen104 und erweitert Ortiz’ Konzept um die Aspekte Selektivität und Erfindungsreichtum. Rama fasst das Phänomen in vier Punkten zusammen:

102 Ortiz: 1978, 5. 103 Ludwig wendet ein, dass es trotz der unleugbaren Verdrängung und Vernichtung von Arawak und Kariben so etwas wie ein transkultureller Prozess – besonders in der Frühphase der Eroberung und Besiedlung – stattgefunden habe. Es gab bis zum Ende des 17. Jahrhunderts Phasen kooperativ geregelter Koexistenz zwischen Kolonisatoren und indianischer Inselbevölkerung, da Erstere unbedingt auf Handel und Interaktion mit den Indianern angewiesen waren, genauso wie auf die Imitation ihrer Praktiken. Man könnte hier von einer umgedrehten Bhabha’schen Mimikry sprechen, vgl. Ludwig: 2008, 24ff. 104 Rama: 1982, 33.

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Verlust Selektivität und Erfindungsreichtum Wiederentdeckung Einfügung

»Estas cuatro operaciones son concomitantes y se resuelven todas dentro de una reestructuración general del sistema cultural, que es la función creadora más alta que se cumple en un proceso transculturante.«105 Rama akzentuiert den Prozess der Selektion, der die Möglichkeit des Zurückweisens und der De- und Rekontextualisierung beinhaltet. Bereits 1928 appellierte der Brasilianer Oswald de Andrade in seinem Manifesto antropófago an eine »[a]bsorção do inimigo sacro«106 und zielt damit auf eine kreativ-subversive Neokulturation durch ›kannibalistische‹ Einverleibung der dominanten europäischen Kultur unter Ausscheidung des Überflüssigen und schließlich der erfindungsreichen Neugestaltung des Bekömmlich-Verwertbaren. Die subversive Aneignung und Transformation europäischer Kultur- und Identitätsmuster und ihre produktive Verbindung mit lateinamerikanischen Sprach- und Kulturformen ist für ihn eine wichtige Dimension des kulturellen Widerstandes. Grundsätzlich geht es lateinamerikanischen Intellektuellen darum, eine Modernitätstheorie zu entwickeln, die einerseits den »westlichen Monopolanspruch zur Bestimmung ›der Moderne‹«107 hinterfragt und die andererseits die konkrete Realität Lateinamerikas im »Zeitenmix« in den Blick nimmt. Mit »Zeitenmix« ist zum einen »das Zusammentreffen verschiedener Zeitlichkeiten in den von Massenmigration betroffenen Zentren«108 gemeint, zum anderen die Gleichzeitigkeit vormoderner, moderner und postmoderner Erfahrungen, wie sie sich beispielsweise im spezifischen Zusammentreffen von Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Digitalisierung bzw. Computerisierung manifestiert: »Kulturmoderne von einer solchen konkreten heterogeneidad multitemporal vom archaischen Ritual bis zum postmodernen Videoclip aus zu denken, ist der grundlegende epistemologische Neuansatz, mit dem einige der Aporien lateinamerikanischen Modernedenkens überwunden werden konnten.«109 Antonio Cornejo Polar beschreibt ein Konzept der »literaturas heterogéneas«, das sich durch »duplicidad o pluralidad de los signos socio-culturales de su proceso productivo« auszeichnet.110 Die im lateinamerikanischen Raum entwickelten Begriffe versuchen dieser multitemporalen Heterogenität, diesem »mosaico híbrido de diversas memorias culturales descontextualidades y sobrepuestas, de configuraciones polidimensionales e inestables«111 gerecht zu werden, negierte und verdrängte Teile zu berücksichtigen und gleichzeitig die vermeintliche Peripherie nicht eindimensional als passives Opfer des Kolonialismus und kolonialer Wissenschaft zu sehen, sondern

105 Ebd., 39. 106 Andrade: 1967, 102. Das Manifest erscheint zum ersten Mal in der eigens dafür geschaffenen Revista de Antropofagia, Mai 1928, São Paulo. 107 Sieber: 2005, 104. 108 Ebd., 111. 109 Walter: 1994, 44, Herv. i.O. 110 Vgl. Schumm: 1994: 67. 111 Schumm: 1998, 16.

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den Blick auf gegenseitige Transkulturationen freizugeben. Nicht Theorien des Entweder-Oder (Tradition oder Moderne, endogene Entwicklung oder Modernisierung nach westlichem Vorbild), sondern Hybridisierungsprozesse des Dazwischen werden in den Blick genommen.112 Im Sinne dieses dynamischen Konzepts verändern sich alle Beteiligten beim Kulturkontakt. Das ausgediente Andere lässt sich so in vielfältiger Weise neu benennen. Was passiert also, [w]enn Ränder Mitte werden?113 Zu fragen bleibt auch: Welche Modifikationen erfährt die europäische Literatur durch den Kontakt mit außereuropäischen Literaturen?114 Der in Mexiko lebende argentinische Kulturtheoretiker Néstor García Canclini sieht gerade in Lateinamerika einen Raum, in dem sich durch die kulturelle Vermischung hibridación seit langem entwickelt hat und sozusagen den Normzustand darstellt. Latinität zielt hier auf eine multiethnische Weltsicht, basierend auf einem afrikanischen, indianischen und europäischen Erbe – »Indo-Afro-Ibero-América«115. Der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes resümiert diese Vermischung in einem Interview anhand der lateinamerikanischen Literatur: »[…] im 20. Jahrhundert erklärt der Kubaner Alejo Carpentier, dass wir [die Lateinamerikaner, N.U.] eine schwarze Tradition haben und der Gualtemalteke Miguel Angel Asturias erklärt, dass wir eine indianische Tradition haben. Und der Argentinier Jorge Luis Borges erklärt außerdem, dass wir auch eine islamische und eine jüdische Tradition haben.«116

Im spezifisch georteten lateinamerikanischen Kontext (von Grund auf ›bastardisierte‹, hybride Kultur, die ›illegitimer Erbe‹ einer anderen Kultur ist) erhalten die ursprünglich für die französischen oder britischen Ex-Kolonien entwickelten Ansätze von Edward Said, Homi Bhabha oder Gayatri Spivak ein neue und komplexere Form. Das Verhältnis von Peripherie und Zentrum wird von Autor/innen wie Néstor García Canclini (Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad, 1989), Jesús Martín-Barbero (De los medios a las mediaciones, 1987), Beatriz Sarlo (Una modernidad periférica, 1988 bis zu La máquina cultural, 1998), Santiago CastroGómez (Crítica de la razón latinoamericana, 1996), Carlos Monsiváis (Aires de familia: Cultura y sociedad en América Latina, 2000), Enrique Dussel (Ética de la Liberación en la edad de la globalización y de la exclusión, 1998; Von der Erfindung Amerikas zur Entdeckung des Anderen. Ein Projekt der Transmoderne, 1993; Der Gegendiskurs der Moderne, 2013) oder auch Guillermo Bonfil Batalla mit seinem Konzept des Postindigenismus und einer indianischen Differenzkultur (México profundo. Una civilización negada, 1989) grundlegend hinterfragt. Den genannten Auto-

112 Vgl. Sieber: 2005, 96 und 111. 113 Adobati: 2001. 114 Die Bedeutung Lateinamerikas für Europa und vice versa wären da genauer zu untersuchen (vgl. Ette: 1994a). Um nur ein Beispiel zu nennen: Im 16. Jahrhundert war Spanisch-Amerika das Utopia Europas, seit dem Zeitalter der Aufklärung geschah das Gleiche mit umgekehrtem Vorzeichen: Das nichtspanische Europa wurde zum Utopia von Spanisch-Amerika. 115 Fuentes: 1990, 12. 116 Barloewen/Fuentes: 2003, 268.

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ren und Autorinnen ist gemein, dass sie alle aus der Position der lateinamerikanischen ›Peripherie‹ schreiben (und nicht unbedingt wie die o.g. Begründer/innen der Postcolonial Studies an hochrenommierten nordamerikanischen und britischen Universitäten lehren). Sie sind auch nicht primär Literaturwissenschaftler wie Said, Bhabha oder Spivak, sondern als Philosophen, Soziologen, Anthropologen und Kommunikationswissenschaftler tätig. García Canclini, Dussel, Castro-Gómez u.a. versuchen eine kontrapunktische Modernitätstheorie zu entwickeln, die sich an der peripheren und hybriden Modernität Lateinamerikas orientiert; postkoloniale Vernunft erscheint hier als Ausdrucksort der Differenz. 117 Lateinamerikanische Kulturtheorien implizieren jedoch nicht nur alteritätsphilosophische, sondern insbesondere medientheoretische Fragestellungen und massenmediale Strategien der Populärkultur. Das dortige Hybriditätsbewusstsein wird durch die Zugehörigkeit zu einer globalen Massenkommunikationsgesellschaft weiter gefördert. Markt und Massenmedien werden als neue Organisationsformen angesehen, die neben den traditionellen bestehen. So geht es nicht vornehmlich um eine akademische Revision des Literatur- und Kunstkanons, sondern lateinamerikanische Kulturtheorie orientiert sich – insbesondere auf der synchronen Ebene der Gegenwart – an den konkreten Auswirkungen gesellschaftlicher Umbrüche im Kontext visueller Kommunikationstechnologien und Urbanisierungsprozessen. Kulturen sind durch die Massenmedien international vernetzt und somit – wenn auch nicht auf ökonomischer und politischer Basis, doch zumindest was das Imaginäre und die kulturelle Kreativität betrifft, – gleichgestellt. Für Carlos Monsiváis ist dies ein gangbarer Weg zur Demokratisierung der Kunst durch die Kulturindustrie. So skizziert er in seinem Buch Aires de familia eine andere Art der Literaturgeschichte, eine, die sich zwischen Literatur und Medien, zwischen Gelehrtenkanon und Massenkultur verortet. Der Text wird zum Raum der Passagen zwischen Gattungen, Sprachregistern und Medien jenseits der Hierarchien zwischen Elite und Massenkultur. Diese Schwellen zwischen konträren Ordnungen, zwischen cultura alta und cultura popular, beschreibt Monsiváis als cultura híbrida.118 Außerdem durchzieht die postkoloniale Kulturdebatte die lateinamerikanischen Länder nicht erst seit Verbreitung dieses Terminus, denn postkoloniale Theorieansätze haben unterschiedliche Lokalitäten und sind für diese Länder anders zu historisieren als im Falle vieler ehemaliger englischer oder französischer Kolonien Asiens, Afrikas und der Karibik. Der postkoloniale Ansatz ehemaliger britischer bzw. französischer Kolonien ist nur schwer mit der Situation in Lateinamerika vergleichbar. So ist bereits die ungleichmäßige Zeitwahrnehmung und Geschichtlichkeit problematisch, also die Periodisierung des Postkolonialismus.119 Lateinamerikanische Denker wie Néstor García Canclini grenzen sich von dem Begriff der Postkolonialität

117 Dies verweist auf ein grundlegendes Problem, das mit dem Begriff »postkolonial« verbunden ist, so als hätte der Kolonialismus auf einer tabula rasa stattgefunden. Gewissermaßen verleugnet der Begriff die reichen präkolonialen Traditionen und Geschichten und legt nahe, dass die heutigen ›postkolonialen Länder‹ erst mit dem Kolonialismus entstanden seien, vgl. Castro Varela/Dhawan: 2005, 23. 118 Vgl. Monsiváis: 2000, 13-50. 119 Vgl. Hall: 1997; Sandten: 2006, 27-30.

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ab und favorisieren modernidad zur Benennung der Aktualität, denn »las disputas culturales por el poder no pueden analizarse en América Latina como problemas ›poscoloniales‹, a manera de Homi Bhabha y de algunos latinoamericanistas, porque nuestro continente dejó de ser colonia hace casi dos siglos«120. Lateinamerikas Unabhängigkeitskriege wurden im 19. Jahrhundert ausgefochten, weit vor der jüngsten Phase der britischen und französischen Dekolonialisierung.121 Die Kolonialherrschaft in Afrika in Form von Besiedlung begann ›erst‹ 1830 mit der französischen Eroberung Algeriens.122 Afrika wurde als letzter Kontinent kolonisiert und zuletzt dekolonisiert.123 Zuvor aber hatte sich europäische Gewalt bereits durch einen dreihundert Jahre anhaltenden Menschenhandel von Westafrika in die Neue Welt gezeigt; 5000 Küstenkilometer von Senegal bis Angola waren mit Sklavenhandelsstationen besetzt.124 Friedrich von Krosigk spricht von einem ersten französischen Empire colonial im 16. und 17. Jahrhundert, welches sich vorwiegend auf Nordamerika bis hin zu den Besitzungen in der Karibik erstreckte und von einem zweiten großen imperialistischen Aufbruch im 19. Jahrhundert, welches auf Afrika und Indonesien ausgerichtet war.125 Während Haiti seit 1804 die erste postkoloniale ›schwarze‹ Republik darstellt, standen große Teile Afrikas noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts unter Kolonialherrschaft; umso erstaunlicher ist es, dass Haiti die große Leerstelle in der Geschichte Frankreichs darstellt.126 Das ursprünglich britische und französische Konzept einer postkolonialen Literatur – Indien ist z.B. erst seit 1947 unabhängig und Algerien gar erst seit 1962 – kann also nur sehr bedingt auf Lateinamerika übertragen werden. Denn der spanisch-portugiesische Kolonialismus liegt zum einen weiter zurück und dauerte mehrere Jahrhunderte, zum anderen ist Lateinamerika bereits seit zwei Jahrhunderten unabhängig, sprich postkolonial. Obgleich hier einzuwenden ist, dass die Loslösung aus der spanischen Kolonialherrschaft für Kuba und Puerto Rico erst für das Jahr 1898 zu datieren ist. Angesichts dieser historischen und geopolitischen Differenzen richtet sich Ania Loombas Kritik gegen die Gleichsetzung unterschiedlicher Kolonialerfahrungen: »By the 1930s, colonies and ex-colonies covered 84.6 per cent of the land surface. Only parts of Arabia, Persia, Afghanistan, Mongolia, Tibet, China, Siam and Japan had never been under formal European government […]. Such a geographical and historical sweep makes summaries impossible. It also makes it very difficult to ›theorise‹ colonialism […].«127

120 García Canclini: 1997, 44f., Dussel: 2013, 147, ferner Sieber: 2005. 121 Vgl. Hall: 1997, 224. Zudem hatten die europäischstämmigen Einwanderer den Genozid an den Eingeborenen zu verantworten, vgl. Sieber: 2005, 61. 122 Vgl. Osterhammel: 2006, 27. 123 Vgl. Reinhard: 1996, 229. 124 Vgl. ebd., 231. 125 Vgl. Krosigk: 2002, 419f. 126 Vgl. Arnold: 2006, 647, Trouillot: 1995. 127 Loomba: 1998, S. xiii.

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Der Aspekt, dass die hispanoamerikanische Karibik schon weitaus länger nicht mehr im direkten Kolonialsystem eingebunden ist als die frankophone Karibik (mit Ausnahme von Haiti), und damit über einen anderen sujet d’énonciation und lieu d’énonciation verfügt, darf nicht vergessen werden. Diese Ungleichzeitigkeit erklärt auch, so García Canclini, warum in Lateinamerika viel intensiver der Modernebegriff als jener der Postkolonialität zur Disposition steht: »Quiero decir que las teorías más importantes que se han desarrollado a lo largo del siglo XX tienen que ver con la modernización, no con la colonialidad o la postcolonialidad.«128 Die europäische Moderne, welche sich auf eine binäre Logik gestützt und somit Ausschlüsse und Abwertungen vorgenommen hat, wird wieder in Bewegung gebracht und kritisch gegengelesen.129 Andere Sicht- und Denkweisen, die Lücken, das ›Dazwischen‹ im herkömmlichen binären Diskurs aufzuzeigen sowie die Mechanismen der Abwertung des Anderen wahrnehmbar zu machen, ist zentrales Ziel postkolonialer Theorie. Es ist problematisch, den Kolonialismus für Lateinamerika als Teil einer lange abgeschlossenen Geschichtsperiode zu begreifen. Stuart Hall verweist in seinem breit rezipierten Aufsatz »Wann war ›der Postkolonialismus‹?« darauf, dass ›post‹ nicht in gewohnten Kategorien einer Chronologie, eines ›danach‹ zu interpretieren sei, sondern den heutigen Zustand der Welt als eine Folge der Kolonisierung zu verstehen. Es ist gerade nicht periodisierend gemeint, sondern in gezielter Anlehnung an ›Poststrukturalismus‹ gebildet, was ebenfalls eine kritische Einlassung auf ein Begriffssystem meint. Kennzeichen des ›Postkolonialen‹ sei es, einen differenzierten Blick auf bestandene und noch immer bestehende Herrschafts- und Widerstandsbeziehungen freizugeben.130 Die europäische Expansion ist keine abgeschlossene Vergangenheit. Das ›post‹ entlarvt vielmehr den Prozess der Herausbildung westlicher Herrschaftspraktiken, indem es das europäische Wissens- und Repräsentationssystem gegen den Strich liest.131 Zudem geschieht es häufig, dass die Peripherie von einer diachronen Ebene aus an einer idealtypischen Moderne der Zentren gemessen wird. Die »einfache Vorstellung von ›der Moderne‹ als großem Vernunfts- und Rationalisierungsprojekt«132 hat es so auch nicht in den Zentren gegeben; eine solch verklärte Zuschreibung verstärkt in der Peripherie bloß die Einschätzung eigener Mangelhaftigkeit und Marginalisierung.133 Der Prozess der Moderne umfasst immer widersprüchliche, dialektische Be-

128 García Canclini: 2005, 273. 129 Interessant ist die Überlegung von Müller zum Beginn der Moderne mit Kolumbus und dem Prozess der Entdeckung und Eroberung von Amerika: »Als sich Lateinamerika als die Gegenseite der Moderne entpuppt, kann das unmündige Mittelalter-Subjekt, bis dahin selbst Peripherie der islamischen Welt, ab der Entdeckung seinen ›Willen zur Macht‹ entwickeln. Das bedeutet, dass die Moderne kein rein europäisches Phänomen ist, sondern das Nicht-Europa, das Andere, die Peripherie, als ein unerlässlicher Teil der europäischen Eigendefinition fungiert« (Müller: 2002, 43). 130 Vgl. Hall: 1997. 131 Vgl. Sieber: 2005, 64. 132 Ebd., 117. 133 Vgl. Sieber: 2005, 106. Daher wird auch der Faktor ›Zeit‹ von ›atroso‹ zu ›multitemporal‹ umgedeutet (ebd., 121).

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wegungen, vor allem ist es nicht ein Prozess, sondern es sind viele einzelne, zerstreute Prozesse. Neben emanzipatorischen und egalitären vollziehen sich im (unvollendeten) Projekt der Moderne zeitgleich rückschrittliche und barbarische Prozesse; einerseits Demokratisierung, Säkularisierung, Erkenntnis und Modernisierung nach innen und andererseits Imperialismus, Kolonialherrschaft und Sklaverei nach außen. Dennoch wird westliche Geschichte in der Regel als zusammenhängende Schilderungen menschlicher Freiheit konstruiert. Dabei etablierte sich die »hochentwickelte kapitalistische Versklavung von Nicht-Europäern als Arbeitskraft in den Kolonien«134 zeitgleich mit der Verbreitung der Ideale der Aufklärung. Wie kann außereuropäische Sklaverei also mit europäischem Humanismus zusammen bzw. gegeneinander gedacht werden? Wie konnte das Korpus humanistischer Ideen so einträchtig mit dem Imperialismus koexistieren?135 Oder anders gefragt: Was haben »Hegel und Haiti« miteinander zu tun?136 Der Historiker Jürgen Osterhammel schreibt: »In der von Europa geprägten atlantischen Welt verbreiten sich im Zeitalter von Descartes und Leibniz Formen atavistischen Arbeitszwanges, die sich mit einer der – formal gesehen – rationalsten Unternehmensformen der Epoche, der Plantage, verbinden. Diese erreicht den Höhepunkt ihrer Ausbeutungseffizienz zur Zeit der europäischen Spätaufklärung, [...]: in einer Epoche, die in den Geschichtswerken als die Blütezeit des Liberalismus gilt.«137

134 Buck-Morss: 2004, 69. 135 Dies ist die maßgebliche Forschungsfrage in Saids Studie Kultur und Imperialismus (1994). Die Ermittlung einer Moderne, die Sklaverei und ›Zivilisation‹ des Westens zusammendenkt, betrifft nicht nur den lateinamerikanischen Kontinent. So beklagt auch der nigerianische Literaturnobelpreisträger Wole Soyinka »das Scheitern des europäischen Humanismus schon Jahrhunderte vor dem Holocaust«. Er verlangt als Wiedergutmachung und »Beweis für eine innere moralische Reinigung« (Soyinka: 2000) der Europäer zumindest die Rückgabe der einst in Afrika erbeuteten Kunstschätze, wenn nicht sogar weitergehende Reparationen. 136 Susan Buck-Morss’Aufsatz über »Hegel und Haiti« (2004) erschien zuerst 2000 in der Zeitschrift Critical Inquiry und wurde im Anschluss in zahlreichen Ausstellungskatalogen und Sammelbänden nachgedruckt. 2009 erschien dieser Text erweitert um eine Einleitung und einen zweiten Essay, der auf die Rezeption ihres Aufsatzes eingeht und darüber hinaus neuere Arbeiten über die Haitianische Revolution auswertet, unter dem Titel Hegel, Haiti, and Universal History als Buch. Buck-Morss’ These ist, dass die Haitianische Revolution, die zur ersten freien schwarzen Republik führte, für Hegel bei seiner Konzeption des Kapitels über Herrschaft und Knechtschaft zentral war. Sie weist Hegels ambivalente Position nach, der einerseits die welthistorische Rolle der schwarzen Sklaven auf Saint-Domingue erkannte, nichtsdestoweniger aber in rassistischen Denkmustern verhaftet blieb. 137 Osterhammel: 2000, 36. Michel-Rolph Trouillot fügt hinzu: »Das Zeitalter der Aufklärung war eine Epoche, in der die Sklaventreiber von Nantes Adelstitel kauften, um mit Philosophen umherzustolzieren, und in der Freiheitskämpfer wie Thomas Jefferson zugleich Sklavenhalter sein konnten, ohne unter dem Gewicht ihrer intellektuellen und moralischen Widersprüche zusammenzubrechen« (Trouillot: 2004, 185).

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Normativen Fortschritten folgten nicht selten praktische Rückschritte. Sklavenlose Metropolen standen vollkommen von Sklaverei durchdrungene Peripherien gegenüber. Und nach dem Ende der von Weißen geführten Sklavenhaltersystemen im atlantischen Raum im 19. Jahrhundert begann die koloniale Invasion Afrikas und ein neuer post-emanzipatorischer Rassismus machte die Errungenschaften der Emanzipationszeit teilweise wieder zunichte.138 Die europäischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts sind unleugbare weitere Zäsuren bzw. Zivilisationsbrüche im Prozess der Moderne. Resümierend lässt sich festhalten: Das Konzept der Moderne, welches Befreiung und Fortschritt von Individuen vorsieht, wurde weitestgehend mit der materiellen und kulturellen Kolonisierung fremder Erdteile erkauft. Auch Todorov unterstreicht, dass der Kolonialismus sich in pervertierter Form mit den Insignien der Macht geschmückt habe, um seine Eroberungen zu rechtfertigen.139 Erst mit der Bemächtigung und Ausbeutung Amerikas rückte Europa ins Zentrum des Modern World-System (Immanuel Wallerstein) wie Walter Mignolo in seiner zentralen Studie The Darker Side of the Renaissance: Literacy, Territoriality and Colonization (1995) oder Nelson Maldonado-Torres in Against War. Views from the Underside of Modernity (2008) hervorheben. Nicht nur Wirtschaftsformen, sondern auch Wissenschaft mit ihren Denk- und Argumentationsformen, eben ein eurozentrisches Weltbild seien im Zuge der Kolonialisierung weltweit etabliert worden. Mignolo fordert daher eine neue Epistemologie, »a kind of thinking that moves along the diversity of historical processes […] from the interior exteriority of the border«140. Ihm kommt es darauf an, mit subalternem Wissen und Grenzdenken (»border thinking from the perspective of subalternity«141) einen dritten epistemologischen Raum zu etablieren, der eine Vernunft jenseits des Okzidentalismus, eine Neufassung des Begriffs der Modernität für sich in Anspruch nimmt und der seinen wesentlichen Bezugspunkt in Kolonialismus und Hegemonie sieht. In diesem Zusammenhang führte Mignolo den Begriff der Colonial Semiosis ein, der das Mit- und Gegeneinander semiotischer Praktiken unterschiedlicher Provenienz hervorhebt.142 Modernidad und Colonialidad sind für Mignolo in Anlehnung an den Soziologen Aníbal Quijano zwei Seiten derselben Medaille.143 Für die außereuropäische Perspektive hält auch Castro-Gómez entschieden fest: »[…] la modernidad fue un proyecto intrínsecamente colonialista y genocida. De hecho, la ciencia moderna ha sido cómplice directo de […] los ›tres grandes genocidios de la modernidad‹: la destrucción de las culturas amerindias, la esclavización de los negros en África y la matanza de los judíos en Europa.«144 Daher

138 Vgl. Osterhammel: 2000, 33ff. 139 Vgl. Todorov: 2006. 140 Mignolo: 2000, 9-11. Auf Deutsch liegt seit 2012 von Mignolo vor: Epistemischer Ungehorsam. 141 Ebd., 10. 142 Mignolo: 1989. 143 Vgl. Mignolo: 2000. Einführend in Mignolos Ansatz der Dekolonialität vgl. Broeck: 2012. 144 Castro-Gómez: 1998b, 7. Carlos Fuentes konstatierte schon in den 1980er Jahren: »Die Kolonialzeit hat aus der Utopie ein Lazarett gemacht. [...] der gute Wilde wurde in Eisen

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insistieren lateinamerikanische Gesellschaftswissenschaftler, mehrheitlich Soziologen, auf einer ›querenden‹, transversalen Re-Lektüre von europäischer Moderne und europäischer Kolonialherrschaft. Will man der postkolonialen holy trinity (SaidBhabha-Spivak) eine lateinamerikanische ›dekoloniale Dreifaltigkeit‹ zur Seite stellen, komme man um Enrique Dussel, Aníbal Quinjano und Walter Mignolo nicht herum.145 Der koloniale Expansionsprozess ist somit kein für die ›europäische Moderne‹ untergeordneter Nebenschauplatz eines ansonsten innereuropäischen Erfolgsprozesses,146 sondern ein Gegendiskurs der Moderne (2013) wie Dussel konstatiert; er schreibt: »Das moderne Europa wird zum Zentrum, nachdem es ›modern‹ ist.«147 Christoph Dittrich kommentiert Dussels Gegendiskurs einleitend mit dem Hinweis: »Die vorherrschende europäische Sicht auf die Moderne gilt ihm als provinzielle Illusion, als Träumerei der deutschen Romantik. Im Zuge der industriellen Revolution zum Zentrum des mit der Eroberung errichteten Welt-Systems geworden, erklärt Europa sich zum Mittelpunkt und Ziel einer vernünftigen Fortschrittsgeschichte, die Moderne zu einem intra-kontinentalen Phänomen und die eigene Philosophie zur Philosophie tout court.«148

Gisela Febel spricht in Anlehnung an Bruno Latour von »doppelten Modernisierungsschüben« bzw. von einer »hybriden Moderne«, die zwischen progressiven und restaurativen Momenten alterniere.149 Die Ambivalenzen der Moderne zeigen sich insbesondere bei Gesellschaften, die an die Moderne als Kolonien und Sklavenhaltergesellschaften angeschlossen waren.150 So gerät nicht nur die Ausbreitung westlicher Kulturmuster in den Blick, sondern auch deren Rückkoppelungen im Kontext von Hybridisierungsprozessen. Eine Revision der Theorie der Moderne zielt darauf ab, Prozesse der Verunreinigung und Hybridisierung ebenso als Moderneprojekt wahrzunehmen wie jene der Spezialisierung (z.B. Autonomiebestrebungen). García Canclini leistet mit seiner Strategie des ›inhabit‹ (im Sinne von ›bewohnen‹ aber auch ›aus der Gewohnheit reißen‹) – er ›bewohnt‹ die westliche Moderne und er ›zerstreut‹/›disseminiert‹ sie zugleich – eine nachhaltige Aufwertung hybrider kultureller Prozesse.151 Diese neue Argumentation erfordert, Modernität nicht mehr als

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und Ketten gelegt, das Goldene Zeitalter eingeschmolzen und in Barren nach Spanien verschickt [...]. Das spanische und das portugiesische Amerika wurden all dessen beraubt, was die europäische Moderne repräsentierte. Stattdessen musste es drei Jahrhundert lang all das ertragen, was die europäische Moderne für unerträglich hielt« (Fuentes: 1982, 2). Vgl. Garbe: 2013, 26. Eine zentrale Publikation des Projekts Modernidad/Colonialidad (vgl. Quintero/Garbe 2013) sind auch die beiden Aufsatzsammlungen La Colonialidad del Saber (2000, hg. von Edgardo Lander) und El giro decolonial (2007, hg. von Santiago Castro-Gómez und Ramón Grosfoguel), die leider nicht in Übersetzungen vorliegen. Vgl. Sieber: 2005, 63. Ebd., 165. Dittrich: 2013, 12. Febel: 2006a, 6. Zur Definition von Moderne über den Humanismus vgl. Latour: 1998, 22. Vgl. Costa: 2007, 260. Vgl. Sieber: 2005, 107.

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Abfolge von ›traditionell‹ zu ›modern‹ zu denken, sondern auf einer synchronen Ebene die Hybridisierungen traditioneller und moderner Ausdrucksformen als Modernidad zu deuten. Und auf einer diachronen Ebene geht es darum, Moderne als ambivalenten Prozess mit seinen Ausblendungen und Abwertungen wahrzunehmen. Vergleicht man García Canclini mit Bhabha, fällt auf, dass es Bhabha vornehmlich um ein psychoanalytisches Überdenken des westlichen Ich aus Sicht der Randposition von Minoritäten geht.152 Sein Diskurs richtet sich, so auch Sieber, an eine westliche Mehrheitskultur, die sich der Herausforderung stellen soll, das eigene Selbstverständnis durch Minderheiten und Migrant/innen zu hinterfragen.153 Eine solche Selbstkonstitution über die Funktionalisierung des Anderen ist problematisch, bleibt doch das Interesse zuvorderst die eigene Identität. Dennoch führt die Erfahrung des Fremden zur Erfahrung der inneren eigenen Differenz.154 »Das Begehren nach dem Anderen«, so Febel, »erscheint [...] als Begehren nach sich selbst, das einem im selben Moment auch schon wieder entgleitet.«155 Glissant und Chamoiseau nennen es »penser l’autre, à se penser avec l’autre, à penser l’autre en soi«156. García Canclini hingegen geht es »weniger um ein die Machtpraxis der Zentren entlarvendes koloniales Unbewusstes, sondern um eine Selbstentzauberung der ›Peripherie‹ von ihren eigenen Voraussetzungen her«157. Die Trauer um den verlorenen präkolumbischen oder afrikanischen Ursprung wird dabei abgelöst durch die Akzeptanz kultureller Hybridität. García Canclini versteht sich nicht als Schöpfer kultureller Identitäten oder als Träger von Utopien. Es geht ihm wie Zygmunt Bauman in seiner Soziologie der Postmoderne um eine »Modernität ohne Illusionen«158. Postmoderne wird hier nicht in einem zeitlichen Sinn begriffen, sondern derart, dass sie die Schwierigkeit bezeichnet, die modernen Wege der Herstellung von Eindeutigkeit – auch in ethischen und moralischen Fragen – weiter zu begehen.159 Lateinamerika soll sich selbst als einen Teil der Moderne begreifen, statt die Moderne als ein europäisches, fremdes Phänomen zu betrachten, um sie pauschal zu verurteilen oder zu idealisieren. Die Vorstellung, dass sich Lateinamerika ein von der Moderne unberührtes Wesen erhalten habe, erscheint nicht nur García Canclini hinderlich auf dem Weg zu einer emanzipativen Identitätsdiskussion.160 Er will nicht nur an alten Tradi-

152 Arif Dirlik wirft Bhabha gar vor, politische Mystifizierung zu betreiben, denn sein Hybriditätskonzept sei »a reduction of social and political problems to psychological ones, and […] the substitution of poststructuralist linguistic manipulation for historical and social explanation« (Dirlik, zit. n. Struve: 2013, 157). 153 Vgl. Sieber: 2005, 77. 154 Julia Kristeva geht vergleichbar vor, wenn sie beispielsweise in Étrangers à nous même das Thema der Alterität im eigenen Ich in Verbindung setzt zum Thema des Kulturkontaktes. 155 Febel: 2006b, 75. 156 Glissant/Chamoiseau: 2007, 7. 157 Herlinghaus: 1999, 24. 158 Bauman: 1995, 55. Vgl. ferner Ortiz: 1994 und Castro-Gómez: 1998b, 14. 159 Vgl. Bauman: 1995, 22. 160 Der Kolumbianer Santiago Castro-Gómez (1996) bezweifelt, dass es in Lateinamerika alternative philosophische oder volkstümliche Stimmen gebe, die eine Enklave des Wi-

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tionen anknüpfen (wie z. B. vormoderne Oralität und Volkskultur), sondern mit einer »revisión de la teoría de la modernidad«161 das Denken im Kern aufrütteln, wobei er sich sowohl von der Defizit- und Dependenztheorie (›hängt hinterher‹ und ›postkolonial‹) als auch von Alteritätsdiskursen (die grundsätzliche Andersheit Lateinamerikas) distanziert.162 Santiago Castro-Gómez plädiert in diesem Sinne für eine prozesshafte, anti-essentialistische Selbstbestimmung. Er bezweifelt die Existenz unberührter Enklaven jenseits der Moderne. Eine solche Auffassung beruhe auf dem Fehlschluss, dass die Moderne, ausgelöst durch Humanismus, Protestantismus und industrielle Revolution, sich im Zuge der Kolonialisierung von Europa aus über die Welt verbreitet habe. Nach Dussel und Castro-Gómez verhalte es sich genau umgekehrt: Die Moderne sei nicht der Ursprung, sondern eine Konsequenz der europäischen Expansion. Die Globalisierung folgt also nicht auf die Moderne, sondern ruft sie hervor: »[…] la modernidad no es un proceso regional, que acaece fundamentalmente en la sociedades europeas y luego se extiende (o impone) hacia el resto del mundo, sino que es un fenómeno intrínsecamente mundial. […] no es que la modernidad sea el motor de la expansión europea sino, todo lo contrario, es la constitución de un sistema-mundo, en donde Europa asume la función de centro.«163

derstandes gegen die schädlichen Einflüsse der Moderne bilden. In der Verteidigung der kulturellen Andersheit gegen die homogenisierende Tendenz der westlichen Moderne konstruiere die Befreiungsphilosophie eine lateinamerikanische Identität, in der in typisch ›moderner‹ Weise Differenzen zugunsten einer einheitlichen cultura popular, mestizaje, pueblo, nación unterdrückt würden. Diese Einschätzung beruhe auf dem Fehlschluss, dass die Moderne ihrem Wesen nach ein (west-)europäisches Phänomen darstelle. Wie auch Enrique Dussel (1992) erkannt hat, verhalte es sich genau umgekehrt: Die Moderne sei nicht der Ursprung, sondern eine Konsequenz aus der europäischen Expansion und der Globalisierung. Vielmehr erlaubt erst das der Moderne inheränte Potential einer Autokorrektur den Subalternen, politisch Einfluss auszuüben. Vgl. zur Globalisierung avant la lettre: Pinheiro/Ueckmann: 2005. 161 García Canclini: 1989, 22. 162 Bereits der Venezolaner Arturo Uslar Pietri wendete sich in den 1950er Jahren gegen die These des Defizienz als auch der Dependenz der lateinamerikanischen gegenüber der europäischen Kultur. Sein Konzept des Criollismo (Lo criollo en la literatura, 1950) favorisiert – in Abgrenzung zum Indigenismo der 1930er Jahre, der die Aufwertung und Idealisierung des Indios bezweckt – die Mestizaje. Der Créolité-Gedanke im frankophonen Raum entwickelte sich ein halbes Jahrhundert nach den Criollismo-Debatten in der hispanophonen Karibik, aber in einem Umfeld, was schon von den Postcolonial Studies gekennzeichnet war. Dennoch wird hier deutlich, dass sich gerade in Lateinamerika und der Karibik Konzepte der Hybridisierung oft bereits weit vor der Entwicklung und dem Re-Import amerikanischer postkolonialer Positionen entwickelt haben, vgl. Febel: 2006a, 4. 163 Castro-Gómez: 1998b, 12, Herv. i.O.

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Es geht darum, Moderne im Plural zu denken. So könne man »von modernities mit unterschiedlichen Tempi und Inhalten«164 sprechen, was auch eine Revision der eigenen europäischen Konzepte von Moderne impliziere. Damit rücke die Bedingtheit der eigenen modernen Errungenschaften durch Ausgrenzung und Ausbeutung des Anderen während der langen Phase der Kolonialgeschichte stärker in den Blick.165 Theoretiker wie Dussel, García Canclini oder Castro-Gómez versuchen zu vermeiden, Lateinamerika in einem verklärten Objektstatus, als subversive Gegenidentität zu konservieren. Die Verteidigung der kulturellen Andersheit gegen die homogenisierende Tendenz der westlichen Moderne, wie es die Idee einer einheitlichen Cultura popular, Mestizaje oder Nación impliziert, ist problematisch, denn es reproduziert genau jenen Identitätszwang, der an der westlichen Moderne kritisiert wird. Gerade Castro-Gómez moniert zudem die von Leopoldo Zea bestimmte Richtung der historia de la ideas,166 welche die lateinamerikanische Geschichte als linearen, kontinuierlichen Prozess der fortschreitenden Bewusstwerdung charakterisiert (angefangen von den kreolischen Aufklärern des 18. Jahrhunderts, über Bolívars panamerikanische Vision, Martís Nuestra América bis hin zu den aktuellen Befreiungskämpfen). Denn dabei entstehe eine neue Metaerzählung der lateinamerikanischen Vernunft, in der Brüche und Diskontinuitäten systematisch getilgt würden.167 Insgesamt wird Kritik an essentialistischen und geschichtsvereinfachenden Neigungen auf beiden Seiten der postkolonialen Situation geübt, d.h. es gilt gleichermaßen den Objektcharakter Lateinamerikas für den Westen wie einen Rückfall in einen Romantizismus prämoderner Lebensformen, welcher in Ethnozentrik verhaftet bleibt, zu kritisieren: »Ni el ›paradigma‹ de la imitación, ni el de la originalidad, ni la ›teoría‹ que todo lo atribuye a la dependencia, ni la que perezosamente quiere explicarnos por ›lo real maravilloso‹ o un surrealismo latinoamericano, logran dar cuenta de nuestras culturas híbridas.«168 García Canclini geht über das problematische Konzept der Mestizaje hinaus. Er entwirft eine Form von Hybridität, die eine dezentrierende Vielzahl von Relationalitäten ins Spiel bringt, und diese nicht zu einer neuen R/Einheit zusammenführt. Deshalb verwirft er auch Begriffe wie Sincretismo, Mestizaje oder Fusión (aus der Musik), weil sie dieses Aufgehen in der Synthese, den Verschmelzungsgedanken beinhalten.169 Er argumentiert wie folgt: »Se encontrarán ocasionales menciones de los términos sincretismo, mestizaje y otros empleados para designar procesos de hibridación. Prefiero este último porque abarca diversas mezclas interculturales – no sólo las raciales a las que suele limitarse ›mestizaje‹ – y porque permite incluir las formas modernas de hibridación mejor que ›sincretismo‹, fórmula referida casi siempre a fusiones religiosas o de movimientos simbólicos tradicionales.«170

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Febel: 2006a, 10. Vgl. ebd., 8. Vgl. Zea: 1996. Vgl. Castro-Gómez: 1996, 117. García Canclini: 1989, 19. Vgl. García Canclini: 2003, 1. García Canclini: 1989, 14-15. Laplantine/Nouss argumentieren ähnlich: »[…] le syncrétisme procède à l’abolition des différances par addition, adjonction et greffe […]. Le mul-

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García Canclini will der konfliktiven Vielfalt lateinamerikanischer Gesellschaften im Spannungsfeld prä- bis postmoderner, ländlicher und städtischer sowie massenmedialer und elitärer Kulturformen gerecht werden: »La palabra hibridación aparece más dúctil para nombrar esas mezclas en las que no sólo se combinan elementos étnicos o religiosos, sino que se intersectan con productos de las tecnologías avanzadas y procesos sociales modernos o posmodernos.«171 Entscheidend ist die Offenheit des Hibridación-Konzepts, welches den Blick auf plurale Raum- und Zeitvorstellungen freigibt, entgegen dem normativen anthropologischen Mestizaje-Modell im Sinne einer einheitlichen und national verbindlichen Auffassung von kultureller Identität. García Canclini sieht in der globalen (Post-)Modernisierung die Chance zu einer demokratischen Integration der indianischen und anderer marginalisierter Kulturformen. So mündet García Canclinis Analyse der Hybridität zeitgenössischer lateinamerikanischer Kultur in der Vorstellung einer als barock imaginierbaren »copresencia tumultuosa«172 aller Stile und Perspektiven. Den Theoretikern einer lateinamerikanischen »modernidad periférica«173 geht es um weit mehr als um eine primär ethnisch akzentuierte Mestizaje. Volkskultur (culturas populares/subalternas) und ›borderline culture‹ (gerade auch die interamerikanischen Kontaktzonen) stehen in den neuen Kulturtheorien im Zentrum des Interesses. Kulturmoderne wird in Lateinamerika, wie bereits gesagt, von den Bedingungen der Massenkommunikation und der Popularkultur her definiert.174 Kultur wird nicht länger von Literatur und Kunst dominiert, sondern definiert sich in Verbindung mit Transmedialität und unterschiedlichen Repräsentationsformen als eine Mischung von • •



lo culto = dem Hochkulturellen, also die vorbildgebende iberische Kultur; lo popular = dem Popularen, der Volkskultur: die verschiedenen indianischen und schwarzen Kulturen als auch die iberischen Volkskulturen, welche die Eroberer mitgebracht haben;175 lo masivo = dem Massenhaften, das in Verbindung mit verschiedenen Medien und der Medienindustrie steht.

Längst steht die Hochkultur der Volkskultur nicht mehr unvermittelt gegenüber, sondern konkurriert auf dem Feld einer medialisierten Massenkultur und kulturindustriellen Verwertbarkeit. Die Vielfalt der Kulturpraktiken basiert auf massenhaft

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tiple se trouve vaincu, car absorbé dans l’un.« (1997: 10) Wobei nicht vergessen werden darf, das sowohl der religiöse Synkretismus als auch der ethnische Mestizismus in Lateinamerika eine Strategie darstell(t)en, hierarchische Oppositionen des europäischen binären Denkens subversiv zu hintergehen. García Canclini: 2003, 6. García Canclini: 1989, 307. Sarlo: 1988. Vittoria Borsò nimmt in ihrer Studie »Hybrid perceptions. A phenomenological approach to the relationship between mass media and hybridity« (2006) insbesondere die lateinamerikanische Theoriebildung und ihre Nähe zu Walter Benjamins Überlegungen zur Dissemination (»Zerstreuung«) in den Blick. Vgl. Ette: 1994a, 300.

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gelebten Alltagserfahrungen, es geht um eine »[…] bricolage der Literaturen und Künste, von vormoderner Oralität, Ritualen, Ikonographie und urbaner Populärkultur des Melodrams, Feuilletons, des Zirkus, der performances, der Musik von Tango, cumbia, chicha, bis zu den Massenmedien Radio, Kino, Fernsehen, Video«176. Die periphere Modernität Lateinamerikas und der Karibik ist als Differenzbegriff zu dem Habermas’schen universalistischen Moderne-Projekt konzipiert, mit dem Ziel der Aufwertung des theoretischen Status’ der Peripherie: »Der neue Denkansatz, die Modernität der culturas híbridas/populares vom Kulturgebrauch der Marginalität einer schweigenden Mehrheit her zu bestimmen, bedeutet weitaus mehr, als den Paradigmenwechsel der Rezeptionsästhetik auf außerliterarische Kulturbereiche auszuweiten.«177 Spezifisch für Lateinamerika ist sicherlich, dass es keine mit Europa vergleichbare Ausbildung und »Autonomie verschiedener kultureller Sphären«178 gab (Habermas’ Aufgliederung in Wissenschaft, Moral, Kunst und Bourdieus Rede vom literarischen Feld und kulturellen Kapital). Die Analphabetenrate liegt in den lateinamerikanischen Ländern insgesamt relativ hoch, besonders in ländlichen Gegenden.179 Und selbst bei erfolgter Alphabetisierung stellen die Buchhandelspreise eine weitere ökonomische Hürde dar, die das literarische Publikum stark begrenzen. Dennoch gab und gibt es eine Autonomisierung dieser Sphären und eine, wenn auch verspätete, so doch sehr beschleunigte Modernisierung. Die so genannte Subalterne, die von der »Schriftkultur ausgeschlossenen urbanen Massen, die in die Moderne über die visuell orientierte, telekommunikative Kultur«180 und über Mündlichkeit eintreten, stellen unseren von der Aufklärung geprägten Kulturbegriff – wie beispielsweise die ontologische Hierarchie zwischen großer Literatur und Alltagskultur – grundlegend in Frage.181 Kultur ist keine Gegebenheit metaphysischer Art, sondern eine Praxis, angebunden an die materiellen Bedingungen medialer und sozialpolitischer Kontexte. Literatur, Theater und Malerei sind innerhalb eines solchen kulturellen Feldes minoritär, partikuläre Konkretisationen einer Kultur. Sie lassen sich aus wissenschaftlicher Sicht auch nicht weiter als separates Universum betrachten: »[…] die Kunstgeschichte und die Literaturgeschichte beschäftigen sich mit dem Gebiet der Hochkultur; die Folklore und die Anthropologie stecken einen angeblichen Bereich der Popularkultur ab; und die Kommunikationswissenschaft definiert auch einen an-

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Walter: 1994, 40. Ebd., 46, Herv. i.O. Sieber: 2005, 106. Angel Rama spricht von La ciudad letrada (1984), welche sich an iberischen Vorbildern orientiert, im Gegensatz zu dem Nicht-Urbanen. La ciudad letrada ist ein Bild für die verschriftlichte, gebildete Stadt. Die Schrift sieht er als Grundlage der kolonialen Macht. Im Gegensatz dazu diagnostiziert Rama die anhaltende Schriftferne der Bevölkerung in Spanisch-Amerika. 180 Rincón: 1994a, 28-29. 181 Vgl. Beverley: 1996a, 145-148; Borsò: 2006, 58. Bereits der afroamerikanische Intellektuelle W.E.B. DuBois wies darauf hin, dass das wichtigste Transportmittel für das kulturelle Gedächtnis der Afro-Amerikaner nicht die Schrift, sondern die Musik war, vgl. Mayer: 2005, 80.

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geblich eigenen, davon sich unterscheidenden Raum.«182 Eine solche »Dreiteilung des Sozialen«183, die Fragmentierung und Segmentierung spezifischer Disziplinen, wird in Lateinamerika radikal in Frage gestellt. Anstelle einer klaren Differenzierung von Hoch- und Popularkultur gibt es in dort seit langem eine starke Durchmischung. García Canclini untersucht, inwiefern gerade der Bereich der Kultur- und Medienindustrie (lo masivo) daran mitwirkt, dass Hoch- und Populärkultur (lo culto y lo popular) sich weiter vermischen.184 Dieser Zusammenhang wird nachhaltig von lateinamerikanischen Kulturtheoretikern analysiert: »Die Protagonisten der cultura popular sind trotz defizienter sozioökonomischer Entwicklungen in Lateinamerika an der Hybridisierung der Kultur in einem komplexen Interaktionsprozess beteiligt; das heißt, sie sind nicht nur passiv ›Unterdrückte‹ (Konsumenten, Publikum, Rezeptoren und Hörer), sondern entwickeln im Gegenteil aktiv und kreativ neue, noch unzulänglich erforschte Strategien bei der Aneignung symbolischer Güter und bei ihrer Integration in den Kulturindustrialisierungsprozess.«185

Kulturmoderne wird nicht bloß mit Schriftkultur der Literatur unter Ausschluss von Mündlichkeit, nicht-alphabetischer Schriftsysteme186 und modernen visuellen Medien gleichgesetzt; gerade die popularen als auch die medial vermittelten Kulturen (Kino, Radio, Fernsehen, Videoclip, Internet etc.) geben Lateinamerika ein eigenes Profil. Sie eröffnen Räume von Demokratisierung187 und haben eine Relativierung der Dichotomie zwischen Kunst und Massenkultur zur Folge, wie Carlos Rincón nahe legt: »Las hibridaciones son igualmente resultado de la reconversión del capital cultural de los grupos emigrantes que se incorporan a la modernidad a través de los medios masivos audiovisuales y no de la cultura letrada [...].«188 Der in Kolumbien lehrende Kommunikationswissenschaftler und Philosoph Jesús Martín-Barbero sieht gerade in den Schnittstellen (mediaciones) zwischen lo masivo und lo popular historische Zeichen einer anachronistischen, »nicht-zeitgenössischen Moderne« (modernidad no contemporánea).189 Er lehnt es ab, die Massen auf eine manipulierte Passivität zu reduzieren und wertet die Massenmedien eher als Mittel der Sichtbarmachung der Massen. So hält auch Carlos Rincón fest: »El rebasamiento en la discusión latinoamericana de los esquemas dualistas dentro de los que se pensaron hasta hace poco los conceptos de lo masivo y lo popular, permite determinar lo popular urbano como incluido en procesos de descentramiento, desterritorialización, reestructuración e hibri-

182 García Canclini: 2001b, 49. 183 Ebd., 58. 184 Hermann Herlinghaus nennt dies die »mediale Konstitution des Hybriden« (Herlinghaus: 1999, 25). 185 Buche: 1994, 128, Herv. i.O. 186 Ottmar Ette weist darauf hin, dass die Gleichsetzung von Buchstabenschrift, historischer Tradierfähigkeit und Wahrheitsanspruch auf der jüdisch-christlichen Religion beruhe (vgl. Ette: 1994a, 299). 187 Vgl. Borsò: 2006, 43. 188 Rincón: 1994b, 379. 189 Vgl. Martín-Barbero: 1998, 10-11.

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dación [...].«190 Statt Tradition als zu überwindenden Ausgangspunkt und Moderne als Zielpunkt kultureller und ökonomischer Entwicklung zu sehen, gehen Jesús Martín-Barbero, Néstor García Canclini u.a. von ständigen Überschneidungen von Tradition und Moderne in Lateinamerika im Sinne einer schon genannten »heterogeneidad multitemporal«191 aus, die sie insbesondere im Kontext von zunehmenden Verstädterungstendenzen und Massenmedien beobachten. Massenmedien werden hierbei als kultureller Anachronismus aufgefasst, in dem die Moderne sich zu ihrer Etablierung verbündet mit Formen traditioneller Popularkultur, die sie vorgibt zu ersetzen. Bei Hybridisierungen im Bereich der Massenmedien handelt es sich um Verflechtungen verschiedener Medien, Gattungen, Codes und Traditionen. Lateinamerikanische Denker wie García Canclini oder Martín-Barbero betonen, dass mit den neuen technischen Mitteln ehemals bürgerliche Privilegien und Abgrenzungsmöglichkeiten im Bereich der Kunst eingeebnet werden können.192 Scheinbar hat die lateinamerikanische Entwicklung die moderne/postmoderne Diskussion der vermeintlichen Zentren vorweggenommen. Der chilenische Soziologe José Joaquín Brunner spricht mit Blick auf den lateinamerikanischen Kontinent von »una suerte de posmodernismo regional avant la lettre que, sin embargo, es plenamente constitutivo de nuestra modernidad«193. Das Zusammentreffen verschiedener Zeitlichkeiten in den von Massenmigration betroffenen Zentren wurde zeitversetzt auch durch die postkoloniale Kritik à la Bhabha ins Blickfeld gerückt, so dass deutlich wird, die multitemporale Heterogenität ist kein genuin lateinamerikanisches Phänomen. Dennoch kritisiert John Beverley aus der Grupo Latinoamericano de Estudios Subalternos die einseitig positive Einschätzung von García Canclini, Brunner, Martín-Barbero und Sarlo hinsichtlich des Einflusses der Massenmedien, da sie das Destruktive eines verspäteten Kapitalismus und seiner Technologie unterschätzten. Die homogenisierende Wirkung der Massenmedien dürfte nicht verharmlost werden.194 Bislang habe ich besonders die anglo-amerikanische und lateinamerikanische Perspektive exemplarisch aneinander zu spiegeln versucht. Die Unterschiede innerhalb der lateinamerikanischen Kulturtheorie wie bspw. zwischen dem Argentinier García Canclini und dem Mexikaner Bonfil Batalla sollen dabei aber nicht vergessen werden. Zu fragen wäre im Anschluss an Beverleys oben genannter Kritik, ob es nicht auch kulturelle Differenzen gibt, die weder darstellbar noch überwindbar sind. Inwiefern gibt es unintegrierbare Volkskultur, die nicht im Hybriditätskonzept bzw. im postmodernen Pluralitäts-Projekt aufgehen will? Néstor García Canclini bringt Hybridität stets in Verbindung mit transkulturellen Praktiken: »Hybrid thought will not look forward to working with radically different, homogenous, compact units as much as with intersections, transitions and multiple senses of belonging.«195

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Rincón: 1994b, 378f. García Canclini: 1989, 15. Vgl. Sieber: 2005, 91. Brunner: 1992, 35. Vgl. Beverley: 1996b, 89f. García Canclini: 2001a, 7098, Herv. N.U.

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Guillermo Bonfil Batalla setzt gegen das Konzept der Cultura popular das Konzept einer indianischen Cultura diferente (»México diferente«196), zwar seien beide beherrschte Kulturen, doch könne letztere als »pueblo colonizado«197 gegen das okzidentale ein eigenes Zivilisationsprojekt setzen, um so zu einer Befreiung des kolonisierten Denkens beizutragen.198 Dieser Widerstand gegen westliche städtischindustrielle Zivilisation, diese Antiglobalisation, gründe auf der inneren Kohärenz indianischer Kultur und einer Matrix vorkolonialer Indianität. In diesem Sinne fordert Bonfil Batalla die Anerkennung des verleugneten México profundo (1987).199 Eine solche Form kulturellen Eigensinns kann es gleichwohl nur geben, wo noch eine vorkoloniale Identität abrufbar ist. Bonfil Batalla spricht konkret von einem indianischen Zivilisationsprojekt, das nicht mit dem westlich geprägten Industrialisierungsprojekt kompatibel und daher auch nicht in das postmoderne Pluralitäts-Projekt integrierbar sei, denn durch die Expansion der Märkte werden indianische Gemeinschaften marginalisiert und dekulturiert. Vergleichbar verteidigt der Philosoph Enrique Dussel in Ética de la liberación en la edad de la globalización y de la exclusión, sich an der Befreiungsphilosophie und am Marxismus orientierend, ausdrücklich die Ziele der zapatistischen Befreiungsarmee, denn sie habe versucht, einer neoliberalen Welt kulturelle Selbstbestimmung und politische Handlungsfähigkeit entgegenzusetzen. Die Kategorie der Exteriorität, die Dussel von Emmanuel Levinas übernimmt und modifiziert, soll dabei den positiven Ausgangspunkt konkreter Befreiung, nämlich die schöpferische Freiheit und kulturelle Differenz der Unterdrückten markieren. Nur so kann, folgt man Dussel, ein eigener Entwicklungspfad eingeschlagen werden, der nicht ausschließlich von ökonomischen Interessen bestimmt ist.200 Das Konzept der Hybridität – bei aller berechtigten Kritik an einer ethnologischen Reklamation von Authentizität – laufe Gefahr, letztlich eine gewisse Unübersetzbarkeit von kultureller Erfahrung, also die Eigenständigkeit ethnischer Identität, zu neutralisieren. Außerdem verbirgt ein romantisierender Diskurs um Mestizaje und Hibridación die ökonomischen, politischen und sozialen Konflikte und damit die Schmerzhaftigkeit des Transkulturationsprozesses, sprich die Dominanz der westlichen und die Diskriminierung der indianischen Kulturen. Fragen von Macht, Recht und der Verteilung materieller Ressourcen dürfen nicht unterschätzt werden. Indiani-

196 Bonfil Batalla: 1994, II. 197 Vgl. Bonfil Batalla: 1991, 62f. Er spricht ausdrücklich von zwei Zivilisationen, die mesoamerikanische und die okzidentale (Bonfil Batalla: 1994, 9). Siehe auch Buche: 1994, 126. 198 Vgl. Bonfil Batalla: 1994, IV. 199 Der indigene Ursprung spielt im kollektiven Gedächtnis Mexikos eine besonders wichtige Rolle, denn dort gibt es noch einen großen Anteil indigener Bevölkerung. Das Instituto Indigenista Intermaericano schätzt den Anteil indigener Bevölkerung für ganz Lateinamerika zwischen 33 und 41 Millionen von insgesamt 515 Millionen Einwohnern; das entspricht zwischen 12 - 15 % der Gesamtbevölkerung. 90 % der indigenen Bevölkerung verteilt sich dabei auf folgende Länder: Peru 27 %, Mexiko 26 %, Guatemala 15 %, Bolivien 12 %, Ecuador 8 %. Vgl. Subercaseaux: 2002, 45f. 200 Vgl. Dussel: 1998, 359-368.

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sche Kultur ist für Bonfil Batalla schlicht unvereinbar mit industrieller (Post-) Moderne und daher kommt er zu einer weit weniger optimistischen Sicht auf die Möglichkeiten der Hybridisierung und auf ihren Charakter der Avantgarde. García Canclinis Kritik an der Indianität ist insofern problematisch, als er sich ausschließlich auf die von Indianern zu Markte getragenen Kulturgüter bezieht oder deren monumentalización und ritualización im Kontext nationalstaatlicher Museen kritisiert.201 Das Museo Nacional de Antropología in Mexiko verkörpert für ihn eine monumentale Inszenierung einer fragwürdigen Mexicanidad. Allerdings zieht García Canclini kaum Studien von mexikanischen Ethnologen heran, die eine Definition von Indianität geben könnten, die sich jenseits des (inter-)nationalen Marktes oder der historisch-musealen Idealisierung bewegt.202 Resistente Kulturen verweigern sich gegenüber dem Versuch eines abschließenden Verstehens. Auf die Literatur übertragen, gilt es zu bedenken, »dass wir uns der angeblichen Verstehbarkeit minoritärer Texte so sicher sind, dass wir deren ungewohnte Widerstandsformen, die auf die Unübersetzbarkeit von kulturellen Codes abheben, prompt übersehen«203. Dies markiert zudem die Position des partiell inkompetenten Lesers. Nimmt man die postmoderne Verabschiedung der Wahrheit ernst, läuft die Kontroverse zwischen García Canclini und Bonfil Batalla auf unterschiedliche Zugänge zum Lateinamerika denken204 hinaus. Es geht nicht um eine Entweder-OderEntscheidung zugunsten des einen oder anderen Ansatzes (Verwestlichung oder Indigenismus), sondern darum, dass es sich um verschiedene Aspekte einer komplexen Gegenwart handelt und dass mehrere Sichtweisen nebeneinander existieren können. Wir haben es jedenfalls mit einem Paradox zu tun, das die Frage aufwirft: Wie kann kulturelle Differenz bei zunehmender kultureller Vernetzung erhalten bleiben? Gisela Febel weist darauf hin, dass bereits Claude Lévis-Strauss diesen Widerspruch erkannt und benannt habe, wenn er den Kulturkontakt einerseits als fruchtbar und notwendig charakterisiert und andererseits darin eine wachsende »Entropie« wahrnimmt.205 So kommt Febel in Anlehnung an Glissant zu dem Schluss, dass der Prozess des Austauschs und der Kreolisierung gerade über eine Pflicht zur Differenz lebendig erhalten werden kann. Kulturelle Differenz ist wesentliche Voraussetzung jedes Kreolisierungskonzeptes.206 Glissant schreibt in seinem Traité du Tout-monde: »La créolisation n’est pas une fusion, elle requiert que chaque composante persiste, même alors qu’elle change déjà. L’intégration est un rêve centraliste et autocratique. […] Un pays qui se

201 Vgl. García Canclini: 1989, 164-177. Sein Fazit lautet, dass die Ausweitung des Marktes zur Ausweitung der Folklore beiträgt. Er belegt diese Überlegung damit, dass in Mexiko 28 % der Arbeitskräfte im traditionellen Kunsthandwerk mit Unterstützung des Staates arbeiten, obwohl es insgesamt eine äußerst geringe ökonomische Bedeutung hat, vgl. García Canclini, zit. n. Sieber: 2005, 85. 202 Vgl. Bonfil Batalla: 1991 und 1994. 203 Düsdieker: 1999, 227. 204 Scharlau: 1994. 205 Lévis-Strauss, zit. n.: Febel: 2006a, 7. 206 Vgl. Febel: 2006a, 7.

106 | II T RANSDISZIPLINÄRES T HEORIENETZ créolise n’est pas un pays qui s’uniformise. La cadence bariolée des populations convient à la diversité-monde. La beauté d’un pays grandit de sa multiplicité.«207

Das Konzept der Hybridität kann nur durch die Annahme, dass es etwas NichtHybrides gibt, konzeptuelle Kraft im Sinne von Empowerment entwickeln.208 Die Denkfigur des Dritten oszilliert stets zwischen den Oppositionen, die sie durchkreuzt und bezeichnet einen Versuch, binäre Denkstrukturen zu überwinden, während sie doch unweigerlich auf sie bezogen bleibt. Das Präfix ›trans‹ setzt ein Netz von Parametern voraus. Deleuze/Guattari sprechen von der »formule magique«, die wir alle suchen: »PLURALISME = MONISME, en passant par tous les dualismes qui sont l’ennemi, mais l’ennemi tout à fait nécessaire, le meuble que nous ne cessons pas de déplacer.«209 Im Zentrum des Interesses stehen daher jene Strategien, die durch die Dualismen hindurchgehen, und denen es darum geht, »kulturelle Partikularität in einer produktiven Spannung zu halten. [...] dank dieser Inkommensurabilität von Geschichte [...] öffnete sich ein Freiraum für eine wirklich universale, nicht-normative Öffentlichkeit [...]. Das ist die postmoderne Antwort auf die Dialektik der Modernisierung«210. Über das schwierige Problem der Resistenzen und der potentiellen Homogenisierung hinaus, bleibt weiterhin hinsichtlich der begriffsgeschichtlichen Skizze zu hinterfragen, wie sich die lateinamerikanischen Varianten von Kulturmoderne, die sich über Konzepte von Mestizaje, Hibridación, Heterogeneidad multitemporal, Modernidad periférica oder einer Cultura diferente zu definieren versuchen, gegenüber den konkurrierenden Konzepten Métissage, Antillanité, Créolité und Créolisation verhalten, die sich vor allem in der frankophonen Debatte um Kulturmischung durchgesetzt haben.211

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Glissant: 1997b, 210. Vgl. Castro Varela/Dhawan: 2005, 126. Deleuze/Guattari: 1980, 31, Großschreibung i.O. Sommer: 2000, 59. Glissant setzt sich gegen den Begriff Métissage mit der Begründung ab, dass die Kreolisierung immer unerwartete Resultate böte, während man bei Métissage von vornherein das Ergebnis kenne: »La créolisation est la mise en contact de plusieurs cultures ou au moins de plusieurs éléments de cultures distinctes, [...] avec pour résultante une donnée nouvelle, totalement imprévisible par rapport à la somme ou à la simple synthèse de ces éléments. On prévoirait ce que donnera un métissage, mais non pas une créolisation« (Glissant: 1997b, 37). Laplantine/ Nouss (1997, 8) gelangen zu einer ähnlichen Einschätzung: »Le métissage est une composition dont les composantes gardent leur intégrité.« Ursprünglich bezeichnete Métissage interkulturelle Identität im Kontext des Kolonialismus, nämlich »die anvisierte assimilationistische Verschmelzung der Kulturen des Mutterlandes und der Kolonien unter der Hegemonie der französischen Sprache und Kultur zu einer Nation de 100 millions d’habitants [...] auf fünf Kontinenten« (Lüsebrink: 2003, 322). Der damit zusammenhängenden kolonialen Ideologie setzte die NégritudeBewegung ein neues Paradigma entgegen.

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1.3.3 Négritude, Antillanité, Créolité, Créolisation und Migritude Im Folgenden geht es vornehmlich um die Genese des Begriffs der Créolisation, welcher im Kontext antillanischer Theoriebildung entstanden ist.212 Gerade die »absence d’un arrière-pays culturel préexistant [...] et l’absence d’un arrière-pays physique étendu«213 hat in der Karibik zur Folge, dass das kollektive antillanische Gedächtnis »baigne dans un temps immémorial qui s’inscrit à contretemps de l’historicité«214. Der Weg zu einer reterritorialisierten Vergangenheit durch Anknüpfung an vorkoloniale Strukturen ist in einer kreolisierten Gesellschaft wie der karibischen versperrt. Der Mangel einer noch bestehenden Matrix vorkolonialer ›Indigenität‹ hat dazu beigetragen, dass sich das lateinamerikanische Konzept der Mestizaje nicht durchsetzte und dass ein »Wiederauftauchen des Ethnischen«215, eine Rückbesinnung auf tradiertes Wissen, eine besondere Problematik darstellt. Darüber hinaus hat der Mangel an konkretem Raum und damit auch an Widerstandsraum, aufgrund der insulären Geographie, den »processus de fragilisation«216 noch verstärkt. Das Wort créole unterliegt in etymologischer Hinsicht einem wechselvollen und eher undurchsichtigen Prozess.217 Es gibt zwei maßgebliche Bedeutungskomponenten: einerseits bezeichnet es die in den Kolonien lebenden Menschen oder es steht im Sinne von ›vermischt‹.218 Etymologisch geht der spanische Begriff criollo auf das lateinische Verb creare (aufwachsen, erziehen) zurück und bezeichnet auf den Antillen seit dem 18. Jahrhundert sowohl die Sprache, die aus dem kolonialen Kulturkontakt zwischen Pflanzern und Sklaven entstanden ist, als auch alle auf den Inseln ge-

212 Leider ist es mir nicht möglich auch noch die anglokaribische Debatte zur Kreolisierung detailliert zu berücksichtigen. Impulsgebend sind hier Edward Kamau Brathwaites Studien zur Entwicklung der Kreolgesellschaft in Jamaica (1971, 1974) und Orlando Patterson (1975). Vgl. Schwieger Hiepko: 2009, 104f., Ludwig: 2010, 106f. und Sheller: 2008, 188f. Nach Fertigstellung des Manuskripts erschien die Studie La créolité dans le contexte international et postcolonial du métissage et de l'hybridité (Tauchnitz: 2014), die aber nicht mehr berücksichtigt werden konnte. 213 Glissant: 1997a, 325, auch 225 oder 306. Der demographische Anteil von Menschen indigener Herkunft seit dem Ende der Conquista ist in der Karibik verschwindend gering. Verschärft ist diese Absenz vorkolonialer Matrix auf den kreolischen Inseln im Indischen Ozean, denn jene seien »pays sans peuple autochtone, nés de l’expansion européenne et, par conséquent, de la traite et de l’esclavage« (Marimoutou:2012, 3). 214 Chevrier: 1999a, 10. Glissant spricht daher von »le temps éperdu« (ebd. 9). 215 Erdheim: 1988, 359. 216 Glissant: 1997a, 325. Gerade für die kleinen Inseln konstatiert Glissant, dass sie aufgrund ihrer geographischen Enge keine anhaltenden antikolonialen Siege davontrugen, dafür aber frühzeitiger als die größeren Inseln »la pensée globale de la Caraïbe« (Glissant: 2005a, 81, Herv. i.O.) entwickelten. 217 Vgl. Gallagher: 2007, 225f. Den vielfältigen sozialen und sprachlichen Bedeutungen der »Kreolisierung« und des Terminus »kreolisch« geht intensiv Ludwig (2010) nach. 218 Vgl. Ludwig: 2008, 70; Ludwig: 2010, 98. Mimi Sheller erläutert die Variationsbreite des criollo-Begriffs für die franko- hispano- und anglophone Karibik und bringt ihn auf den gemeinsamen Nenner einer »achieved indigeneity« (Sheller: 2008, 181f.).

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borenen Personen, ungeachtet ihrer Hautfarbe. Criollo bezeichnete damit auch Abkömmlinge der weißen, europäischen Siedler.219 Hier wird schon deutlich, dass es sich etymologisch betrachtet alles andere als um einen ›autochthonen‹ Begriff handelt. Mary Gallagher wirft daher der Créolité-Bewegung vor, ein Verständnis von Créolité zu favorisieren, welches vornehmlich auf déplacement jenseits jeder Referenz auf die Hautfarbe rekurriert. Wie Gallagher nachweist, vernachlässigt das Autoren-Kollektiv des Éloge de la créolité die portugiesische Herleitung des Begriffs, nach dem créole über das spanische criollo vom portugiesischen crioulo abstammt, »meaning a slave born in his master’s house, from the Portuguese verb criar (›to bread‹, but also ›to bring up‹)«220. Für sie besteht ein zentrales Paradoxon darin, visionäre Forderungen und revisionistische Perspektiven zugleich zu postulieren: »the creoleness [...] is resolutely rooted, unambiguously located in a specific, mourned past, and the relation between that past, on the one hand, and the celebration of the present and future of creoleness on the other hand.«221 Das historische Modell einer auf Sklaverei basierenden Kreolisierung steht innerhalb der Éloge unbestreitbar im Widerspruch zum idealisierten, interaktionalen Zukunftsmodell. Da Kreolisierung eben als Paradigma im Kontext eines bestimmten historischen Prozesses entstanden ist, schlägt Stuart Hall vor, diesen Begriff nur mit besonderer Vorsicht zu verwenden: »Creolization is, as it were, forced transculturation under the circumstances peculiar to transportation, slavery, and colonization. [...] the process of ›fusion‹ occurs in circumstances of massive disparities of power and the exercise of a brutal cultural dominance and incorporation between the different cultural elements.«222 Kreolisierung

219 Nur in französischen Wörterbüchern ist das Epitheton ausschließlich für Weiße reserviert. Wie im Larousse nachzulesen ist, bedeutet créole u.a. »personne de race blanche née dans une des anciennes colonies«, also ein Nachkomme europäischer Einwanderer, der in den Kolonien heimisch geworden ist, vgl. Larousse de la Langue Française (1977). Der Larousse des 19. Jahrhunderts gibt eine geographisch konkretere Angabe: »Individu de race blanche né aux Antilles, en Louisiane, au Brésil, à la Réunion et à l’île Maurice.« Kreolen sind also schon geographisch nicht zwangsläufig Antillaner, der Begriff charakterisiert ebenfalls Menschen aus Lateinamerika oder dem Indischen Ozean, vgl. Numa: 2005, 78f. Chaudenson vertritt die Auffassung, dass créole bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts gleichermaßen die in den Kolonien geborenen Europäer und Schwarze bezeichnete, erst dann bezeichnete es ausschließlich die in den Kolonien geborenen Weißen, vgl. Chaudenson: 1992, 8. Gallagher verweist darauf, dass der Begriff créole in FranzösischGuyana vornehmlich den Grad der kulturellen Assimilation bezeichnet; aus solch einem Verständnis heraus würden Marron-Gemeinschaften gar nicht als créole wahrgenommen werden, vgl. Gallagher: 2007, 227. 220 Gallagher: 2007, 226. 221 Ebd., 228. 222 Hall: 2003, 186. García Canclini (2003, 6) verortet den Begriff ebenfalls im Kontext des Sklavenhandels. Kreolisierung bezieht sich zudem eher auf afrikanische Subjekte der Kolonisierung, vgl. Fludernik/Nandi: o. J., 11. Auch für Glissant steht Créolisation im Kontext von Gewalterfahrung: »De ce crime fondateur [l’esclavage] est né une créolisation en Amérique, qui a préfiguré la créolisation du monde actuel. […] Le Tout-Monde n’a pas de morale. Le Tout-Monde est aussi le Tout-Monde de l’oppression, de l’esclavage et du

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ist auch für Mimi Sheller ein gewaltvoller Prozess von erzwungener Migration und Re-Indigenisierung223 und somit klar historisch definiert: »creolization is not simply about moving and mixing elements, but is more precisely about processes of cultural ›regrounding‹ following experiences of violent uprooting from one’s culture of origin.«224 Der Begriff ist räumlich und zeitlich gebunden, was seine Anwendung als allgemeinen Begriff für transkulturelle Prozesse erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht. Umso mehr wundert man sich, »[h]ow has the concept of creolization moved from the periphery to the centre?«225 Sheller befürchtet, dass mit der Mobilisierung und Universalisierung des Konzepts die Gefahr einer massiven Dekontextualisierung subalterner Agenz durch den Mainstream einhergehe.226 Diese Vereinnahmung von Kreolisierung charakterisiert sie als »theoretical piracy on the high seas of global culture«227 , denn »Creolization was originally theorised not only in terms of mixture and mobility, but also in terms of conflict, trauma, rupture, and the violence of uprooting«228. Stuart Hall spricht aufgrund des Genozids an der indigenen Bevölkerung der Karibik und der darauffolgenden millionenfachen Deportation afrikanischer Sklavinnen und Sklaven sogar von einer »doppelten Diasporisierung«: »The Caribbean [...] departs from the classical model of the diaspora in that Caribbean migrants [...] are twice diasporized. Apart from a handful of places among the islands, traces of the indigenous inhabitants no longer exist: everybody who is there already came from somewhere else.«229 Hall betont, dass die karibische Diaspora nicht von der Zerstreuung eines Volkes von einem Ursprungsland ausgeht, denn ein Zentrum ist nicht klar zu definieren. Identität nur mit Bezug auf ein Heimatland zu bestimmen, ist für Hall eine imperialisierende, hegemonisierende Form von ›Ethnizität‹. Auch Patrick Chamoiseau problematisiert an dem gängigen Diaspora-Begriff, dass er vermuten lässt, es gäbe ein originäres Zentrum: »L’idée de diaspora laisse supposer qu’il y a un centre irradiant qui resterait, […] qui serait encore opérationnel et qui déterminerait comme cela l’existence au monde de populations qui se sont éloignées du centre originel.«230 Nach Édouard Glissant ist zudem für die karibischen Inseln charakteristisch, dass es kein Außerhalb jenseits der Sklaven-Plantage gab. Die Plantage repräsentierte einen repressiven, geschlossenen Ort, wo sich kulturelle Praktiken nur in einer codierten Kunst des Umgehens und der Unterwanderung (Strategien des détour231 in Opposition zum Négritude-Paradigma des retour) herausbil-

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génocide, des massacres, des purifications ethniques, etc, […].« Table Ronde zu »De l’Esclavage au Tout-Monde«: 1999, 79. Vgl. Sheller: 2008, 183. Ebd., 189. Ebd., 188. Vgl. ebd., 192. Ebd., 188. Ebd., 194f. Hall: 2003, 189. Die Zerstörung und Enteignung indigener Völker im Zuge des Kolonialismus wird auch als Indigenocide beschrieben, vgl. Evans/Thorpe: 2001. Chamoiseau in Chevrier: 1999, 72. Vgl. Glissant schreibt: »Le Retour est l’obsession de l’Un: il ne faut pas changer l’être. Revenir, c’est consacrer la permanence, la non-relation. […] la communauté [en Marti-

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den konnten; die kreolischen Sprachen als diskursive Strategie sind dafür beispielhaft. Glissant definiert (s)eine »poétique de la créole« als »un exercice permanent de détournement de la transcendance qui y est impliquée: celle de la source française«232. Die unterdrückte Sprache schreibe sich in das Innere des Französischen ein. Sie lebt als Palimpsest weiter, der sprachliche Ausdruck wird somit gespalten, verdoppelt. In der Anverwandlung der fremden Sprache liegt Provokation und Kreativität: »Tu veux me réduire au bégaiement, je vais systématiser le bégaiement, nous verrons si tu t’y retrouveras«, schreibt Glissant im Discours antillais.233 Dieses spezifische »territoire de la créolité« repräsentiere also ein Paradox – »lieu clos, parole ouverte«234. Unbestreitbar ist aber auch, dass sich das Kreol aufgrund einer gewaltsamen Isolation von den afrikanischen Erstsprachen und im Kontakt mit den békés herausbildete und somit nicht nur subversive Strategie, sondern ebenso eine Anpassungsleistung an die Plantagengesellschaft darstellte. Der Linguist Klaus Zimmermann spricht hier von einer »sprachlichen Notsituation«, einer »spezifische[n] Anti-Lerndisposition« und einer »Antimotivation der Aneignung«235 : »Die Situation der gewaltsamen Gefangennahme, die Zwangsverschleppung, schlechte (unmenschliche) körperliche Behandlung, das Herausreißen aus der Familie und Gemeinschaft, die Angst in den Sammellagern und auf den Schiffen, die Bedingungen später in den Plantagen und vieles andere mehr dürften nicht geeignet gewesen sein, eine positive emotionale Beziehung zu den Sklavenfängern, -händlern, -aufsehern und -haltern und damit zu deren Lebensweise und 236 Sprache entstehen zu lassen.«

Kreol wird als langue de compromis zwischen allen Plantagenbewohnern definiert, wie Daniel Maximin in Les Fruits du cyclone. Une géopoétique de la Caraïbe ausführt: »tantôt comme une langue de la connivence nègre et du marronnage, tantôt comme une langue de l’aliénation et de la compromission.«237 Die Tatsache, dass die

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nique] a tenté d’exorciser le Retour impossible par ce que j’appelle une pratique du Détour« (1997a, 44-47). Glissant: 1997a, 49. Ebd., 49. Glissant: 1990, 77. Das kreolische Imaginäre wird nicht unbedingt von den Stimmen der radikalen Revolte wachgehalten, sondern von denjenigen, die in scheinbarer Unterordnung das System mitgetragen haben. Dies ist ein wesentlicher Unterschied zwischen der Bewegung der Créolité und jener der Négritude, denn der conteur oder quimboiseur kann seine Wirkung nur erzielen, wenn er in Kontakt mit der Habitation bleibt. Maximin charakterisiert den conteur antillais als »héritier du griot et du troubadour, mais griot sans généalogie, rhapsode sans épopée, troubadour sans château fort« (Maximin: 2006, 18). Zimmermann: 2005, 29-40, Herv. i.O. Ebd., 33. Maximin: 2006, 30. Glissant spricht vom Kreol als »langue façonnée par l’acte de colonisation, maintenue dans un statut inférieur, contrainte à la stagnation, contaminée par la pratique valorisante de la langue française, et en fin de compte menacée de disparition« (Glissant: 1997a, 541). Das Kreol soll zum Ende des 17. Jahrhunderts als Kommunikati-

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kreolische Kultur, Sprache und Oralität auf den Sklavenstatus verweist, hat zunächst zu ihrer kollektiven Verleugnung geführt. Mit dem Kreol ist zum einen die Entfremdung von afrikanischen Sprachen einhergegangen,238 zum anderen mussten die Sklaven eine reduzierte Form der dominierenden europäischen Sprache als Verkehrssprache (lingua franca) konstruieren, die zunächst zur Bildung einer Pidgin-Sprache und in der Folge erst zu einer Kreol-Sprache führte.239 Doch zunächst ein kurzer Rückblick: Das koloniale Modell mit seinem verklärenden Exotismus wurde zunächst in den 1930er Jahren von der literarischen Bewegung der Négritude in Frage gestellt. Die Ursprünge dieser besonderen Reflexion über Identität und Alterität liegen geographisch in der Metropole. Diese Bewegung ging bekanntlich von der so genannten trinité noire aus: Aimé Césaire (Martinique), Léon-Gontran Damas (Französisch-Guyana) und Léopold Sédar Senghor (Senegal), drei Studenten, die aus verschiedenen französischen Kolonien der Karibik und Afrika nach Paris gekommen waren. Die Négritude mit ihrer Rückbesinnung, Affirmation und Aufwertung kultureller Werte des afrikanischen Kontinents und ihren ontologisch geprägten Identitätsdiskursen – programmatisch steht dafür Césaires Prosagedicht Cahier d’un retour au pays natal (1939) – wird oft als der erste Akt der Wiedererlangung von Würde und als nachträgliche ›Indigenisierung‹ gewertet, nicht zuletzt, um sich so auch politisch im antikolonialen Kampf zu repräsentieren.240 Der Philosoph Enrique Dussel spricht hier von der »Affirmation der missachteten Exteriorität«241:

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onsmedium auf den französischen Antillen etabliert gewesen sein (vgl. Ludwig: 2008, 88). Maryse Condé verweist hier auf den Zusammenhang von Deportation, sprachlicher Enteignung und dem daraus resultierenden Schweigen: »La descente aux enfers dans les cales des vaisseaux négriers s’accompagnait de l’effacement des langues africaines. Puisque le Bambara voisinait avec le Nago, le Wolof avec le Kongo, il ne pouvait en résulter d’abord qu’un douloureux silence« (Condé: 2007, 206). Sie postuliert daher für sich: »J’aime à répéter que je n’écris ni en français ni en créole. Mais en Maryse Condé.« (Ebd., 205) Vgl. Krüger/Hillebrand/Struve: 2006. Zimmermann hält in Anlehnung an Peter Mühlhäusler fest, dass es sich bei sprachlicher Kreolisierung um zwei Prozesse handelt: »zunächst eine Vereinfachung und Reduktion und danach eine Expansion und Restrukturierung« (Zimmermann: 2005, 31). Schulte konkretisiert: »Kreolsprachen repräsentieren (relativ) autonom gewordene sprachkulturelle Hybridität; sie beerben ihre multikulturellen polyphonen Eltern, bilden eine neue Ausgangsbasis für lokale Ausdifferenzierungen ihrer selbst und dokumentieren ein eigenes (pluralistisches) Medienbewußtsein der ›post‹-kolonialen Literaturen« (Schulte: 1997, 250). Karen Struve weist in ihrer Untersuchung zur littérature beur interessanterweise darauf hin, dass es den Beurs, den Kindern der maghrebinischen Immigranten in Frankreich, nicht um die Reaktivierung der Erinnerungen und der Geschichte der Eltern geht, dass also nicht versucht wird, die Immigrationsgeschichte der Eltern zu rekonstruieren und deshalb gäbe es auch nicht den Begriff der Beuritude analog zur Négritude, vgl. Struve: 2009, 264. Dussel: 2013, 170.

112 | II T RANSDISZIPLINÄRES T HEORIENETZ »Alles beginnt mit einer Affirmation. Die Negation der Negation bildet das zweite Moment. Wie wird man die Missachtung des Eigenen negieren können, wenn man nicht zunächst selbst entdeckt, dass man wertvoll ist. […] Die postkolonialen Kulturen müssen tatsächlich entkolonialisiert werden, doch dazu müssen sie damit beginnen, sich selbst Werte beizumessen.«242

Dussels Überlegungen aus dem Kontext lateinamerikanischer Befreiungsphilosophie lassen sich gleichwohl auf die Négritude übertragen. Dem verinnerlichten verachtenden Blick des Kolonisators soll ein Ende bereitet werden. Césaires poetische Voyage à l’envers243 enthielt schon den Keim der zukünftigen afrikanischen und afroamerikanischen Unabhängigkeits- und Bürgerbewegungen ab Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Négritude ging es darum, ein aufgezwungenes Selbstbild aktiv zu unterlaufen. Es war der Versuch, die Genese einer kollektiven, panafrikanischen Identität zu rekonstruieren, die mit den kulturellen, okzidentalen Werten bricht, um ein neues projet humain auf den Weg zu bringen.244 Négritude entstand als Gegenbegriff zu Rassismus und Eurozentrismus der europäischen Diskurse über die Menschen schwarzer Hautfarbe und »als Akt der Bewusstwerdung der Opferrolle, die mit dem Auf-sich-nehmen dieser Fremdzuschreibungen verbunden wurde«245.

242 Ebd. 243 Vgl. den Tagungsband Voyages à l’envers (2009) von Silke Segler-Messner, insbes. den Beitrag »Caraïbe – Afrique: aller et retour« von Roland Spiller. Kathleen Gyssels (2010) geht der interessanten Frage nach, warum gerade Césaires Cahier und nicht LéonGontran Damas’ auf Césaire vorausweisender Gedichtband Pigments (1937) durchschlagender Ausgangspunkt der Négritude-Rezeption wurde. 244 Der in Kamerun geborene Gelehrte Achille Mbembe führt in Abgrenzung zur Négritude und zum Panafrikanismus den Begriff des »Afropolitanismus« ein. Letzterer betont, dass Afrika schon immer ein Kontinent in Bewegung war und somit eine Offenheit für das Hybride mitbringt. Afrika war nicht nur Ziel vieler Bevölkerungsbewegungen, sondern auch Aufbruchsort. Ein Ergebnis dieser Streuung und des Eintauchens in andere Kulturen war die Entstehung der schwarzafrikanischen Diaspora in der Neuen Welt: »Die Kulturgeschichte des Kontinents ist ohne das Paradigma des Umherziehens, der Mobilität und der Ortsveränderung kaum zu verstehen. Gerade diese Kultur der Mobilität wurde zur Kolonialzeit durch die moderne Institution der Grenzziehung zum Erstarren gebracht.« Mbembe versucht mit seinem Konzept den erstarrten ›afrikanischen Nationalismus‹ zu überwinden; nicht zufällig erinnert sein Vorgehen an Glissants Begriff der Créolisation: »Afropolitanismus ist eine Stilistik, eine Ästhetik und eine gewisse Poetik der Welt: ein In-der-Welt-Sein, das aus Prinzip jegliche Form der Opferidentität ablehnt – auch wenn wir deshalb die Ungerechtigkeiten sowie die Gewalt, die unser Kontinent und seine Menschen durch den von der Weltgeschichte aufgezwungenen Lauf der Zeit erlitten haben, durchaus nicht ignorieren. Afropolitanismus ist außerdem eine politische und kulturelle Haltung zu Fragen der Nation, der ›Rasse‹ und der Differenz überhaupt« (Mbembe: 2006, 3). Als Afropolitin bezeichnet sich auch die vielgefeierte Autorin Taiye Selasi von Ghana must go (2013) und meint damit die neueste Generation afrikanischer Auswanderer, vgl. Selasi: 2005. 245 Ortner-Buchberger: 2003, 278.

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Rückblickend betrachtet, scheiterte die Négritude als Identitätsmodell daran, dass sie auf der Ebene der Rezeption dem westlichen Wurzeldenken verhaftet blieb.246 Indessen Césaires poetisches Cahier weit entfernt ist von einem konkreten Return to Africa, einem tatsächlichen ›Rücktransport‹ der ehemals Versklavten. Césaires Wirklichkeitserfahrung ist eher ein zielsuchendes Hin- und Herpendeln zwischen Paris und Fort-de-France, das unter dem Wunschparadigma eines imaginierten Afrikas steht und im kulturellen Sinne nach Bindungen und Wurzeln in Afrika sucht. Ihm geht es darum, dass ein verdrängtes oder abgewertetes ›schwarzes‹ Bewusstsein in den poetischen Text – und damit in die Welt – Eingang findet. Bereits bei Césaire ist die Négritude ein »Signifikant mit Intentionalität aber ohne Signifikat«247; Afrika ist ein Geflecht von Mythemen.248 Die Realisierung von Humanität in der Welt von der Peripherie her – über die Wiederherstellung von Würde – war bereits Frantz Fanons Anliegen: »Pour l’Europe, pour nous-mêmes et pour l’humanité [...] il faut faire peau neuve, développer une pensée neuve, tenter de mettre sur pied un homme neuf.«249 Der Psychiater Fanon versuchte die moderne Welt aus Sicht eines Schwarzen bzw. des (Post-) Kolonisierten zu beschreiben, indem er die psychischen Folgen einer stereotypisierenden Konstruktion der Alterität für die kolonisierte Bevölkerung analysierte. Fanon zeigte die Folgen einer Internalisierung des Selbst als abgewerteter Anderer: Innere Enteignung und selbstentfremdete Assimilation an die herrschende Kultur sind die Konsequenz. Dem Anspruch, ein laboratoire humain für neue Kultur- und Identitätskonzepte darzustellen, kommen alle bisher vorgestellten Paradigmen nach. Der Blick auf die Martinikaner Aimé Césaire, Frantz Fanon oder Edouard Glissant zeigt eindringlich, wie viel die postkoloniale Theorie nicht-westlichen Traditionen verdankt, denn sie beginnt nicht erst mit Said, wie mancherorts behauptet.250 Gerade spanisch- und französischsprachige Vordenker waren an der Vorbereitung dieses Terrains maßgeblich beteiligt. Saids Orientalism ging nicht nur eine kritische Beschäftigung mit Foucaults Machttheorem voran, bereits in den 1950er Jahren hatten frankokaribische Autoren wie Césaire (Discours sur le Colonialisme), Fanon (Peau noire, masques blancs) oder der Tunesier Albert Memmi (Portrait du colonisé. Portrait du colonisateur) koloniale Repräsentationssysteme analysiert und kritisch herausgefordert, nur taten sie

246 Schon in den 1960er Jahren begegnete Wole Soyinka der Négritude mit der Replik der Tigritude, behauptend, dass »le tigre n’a pas besoin de crier sa tigritude, il la vit«, zit. n.: Lopès: 1999, 137. 247 Hausser: 1986, 31. 248 In der hispanophonen Karibik gab es zeitgleich zur Négritude den Negrismo. Mit diesem Konzept verbinden sich u.a. die bekannten Frühwerke der kubanischen Dichter Nicolás Guillén, Emilio Ballagas, Alejo Carpentier (Ecue-Yamba-Ó, 1933) und Lydia Cabrera (Contes nègres de Cuba, 1936). Vgl. die Tagungsakten Pluraler Humanismus? Négritude und Negrismo weiter gedacht (Febel/Ueckmann: 2014), die der Rezeption schwarzer Anerkennungsforderungen in beiden afro-karibischen Sprachräumen nachgeht. 249 Fanon: 1961, 238. Nicht zufällig war Fanon Schüler von Césaire in Fort-de-France. 250 Williams/Chrisman: 1993, 5.

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dies, als der koloniale Imperialismus noch ein faktischer war.251 Auch der an Foucault und Derrida geschulte marokkanische Soziologe und Literat Abdelkébir Khatibi ist mit seiner Essaysammlung Maghreb pluriel (1983), die mehrheitlich Texte aus den 1970er Jahren umfasst, ein postkolonialer Theoretiker avant la lettre; der noch immer außerhalb des frankophonen Raumes viel zu wenig gewürdigt wird.252 Insgesamt arbeitet ein Großteil postkolonialer Literatur- und Kulturtheorie mit Konzepten von Foucault, Derrida, Lacan, Deleuze/Guattari u.a., also gerade mit französischen poststrukturalistischen und psychoanalytischen Ansätzen, um eine Kritik an westlichen Epistemologien zu formulieren. Doch zurück zu den Antillen: Nach Edouard Glissant, Patrick Chamoiseau u.a. habe die Négritude mit ihrem mystifizierenden Rekurs auf ein vorkoloniales Afrika, mit ihrer Valorisierung des afrikanischen Mythos253 die Herausbildung einer Literatur behindert, die sich der spezifisch karibischen Realität stellt. Der Vorwurf, die Négritude vernachlässige die Erfahrung des Abgrunds, sprich die massive Dekonstruktion des Afrikaners durch den Sklavenhandel und die damit einhergehende Enteignung, trifft m.E. nur bedingt zu. Césaire verweist wiederholt auf den von Gewalt geprägten Bruch zwischen Afrika und den Antillen durch die Verschleppung. Chamoiseau

251 Vgl. Mbembe: 2008, 4. Ein paralleles, wenngleich sehr viel weniger euphemistisches Weiterdenken der Négritude-Bewegung, fand auch in Nordafrika statt. So prägte der algerische Autor Jean Amrouche 1960 den Begriff der bâtardise: »Le colonisé a reçu le bienfait de la langue de la civilisation dont il n’est pas l’héritier légitime. Et par conséquent il est une sorte de bâtard« (zit. n. Khatibi: 1979, 39). In einer späteren Phase wurde der Begriff der bâtardise in der franko-maghrebinischen Literatur durch einen weniger diskriminierenden Blick ersetzt, dem des orphelin, der Verwaisung, welcher die Bindung an einen Vater oder Mutter negiert und jegliche Abstammungsrelationen programmatisch ausschließt. So trägt ein Essay des marokkanischen Schriftstellers Abdallah Bounfour den Titel La raison orpheline (1977). 252 Vgl. Arend: 2009. Aus der Persepektive des maghrebinischen Intellektuellen analysierte Khatibi bereits 1976 in »L’Orientalisme désorienté« das Konzept des Orients als eurozentristisches Konstrukt und ging Saids Thesen voraus, vgl. Khatibi: 1983, 113-145. Aufschlussreiche Analysen zu Khatibi: Arend: 1998, Dubost: 2002, Djoufack: 2005, Ueckmann: 2012b. 253 Wobei hier anzumerken sei, dass es vielmehr den afrozentristischen Interpreten als Césaire selbst anzulasten ist, dass die Négritude so einseitig verstanden wurde. Césaire selbst sieht weder in den afrikanischen Mythen noch in den Huldigungen starker Wesensmerkmale, die der ›afrikanischen Rasse‹ angeblich innewohnen, eine adäquate Ausdrucksmöglichkeit, die versklavte Genealogie zu erfassen. Sein Cahier kompensiert vielmehr den traumatischen Ursprung durch den Transport auf den Sklavenschiffen und dreihundertjährige Sklaverei. Er selbst spricht von der Erfahrung des Abgrunds: »Ma mémoire est entourée de sang. Ma mémoire a sa ceinture de cadavres!« (Césaire: 1983, 35). Er thematisiert das zweifelhafte Privileg der négriers, welche nicht vollständig vom Schiffsbauch verdaut wurden, an Land gebracht worden zu sein, um dort in der Neuen Welt, bestehend aus Sklaverei und Plantagensystem, im Überlebensmodus zu existieren: »debout et libre / et le navire lustral s’avancer impavide sur les eaux écroulées. / Et maintenant pourrissent nos flocs d’ignominie!« (Césaire: 1983, 62).

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bspw. verzichtet aufgrund des durch die Versklavung vollzogenen Bruches weitgehend auf die Darstellung des afrikanischen Raumes. Für ihn ist der Laderaum des Sklavenschiffes ein realer und zugleich symbolischer Ort der Zerstörung: »Er [der Afrikaner, N.U.] wurde symbolisch und geistig vernichtet. So dass der wie durch ein Wunder Überlebende, der am Ende der Reise an Land ging, kein Afrikaner mehr war, ja nicht einmal mehr ein Mensch, sondern nur noch innervierte, sprachlose Materie, ein Zombie, den die Plantagenbesitzer spottbillig kauften und Tag und Nacht für sich arbeiten ließen, bis der Tod eintrat. Das Bild des Abgrunds ist wesentlich, denn es macht deutlich, was sich im weiteren Verlauf ereignen sollte.«254

Chamoiseau verwendet für den Abgrund das Bild des »tapis sous-marin de cadavres qui relierait les îles antillaises«255. Er erinnert damit an die vielen Gefangenen, die an Eisenkugeln gekettet über Bord geworfen wurden, wenn das Sklavenhandelsschiff von einem anderen, schnelleren Schiff bedroht wurde. Sofern die Gefangenen die Überfahrt überlebten, waren sie gezwungen, wie eine Frau in der Sammlung Femmes des Antilles. Traces et voix (1998) erinnert, »à sortir du bateau comme du ventre obscur d’une mère. Pour une nouvelle naissance«256. Glissant entwirft in seinem Roman Le Quatrième siècle den von Regen gekennzeichneten Ausstieg der Afrikaner aus dem Sklavenschiff als »un baptême pour la vie nouvelle«257. Das Schiff verkörpert in ambivalenter Weise Sarg und Wiege, Ende und Anfang. Zudem ist es für die deportierten Afrikaner das einzige konkrete Verbindungsglied zwischen dem afrikanischen Kontinent und den karibischen Inseln.258 Chamoiseau verwendet für diese nudité culturelle das Glissant’sche Bild der »›migrants nus‹ [...] avec pour seuls bagages, pour seules bibliothèques, les traces de ce qu’ils étaient auparavant conservées dans leur mémoire«259. Das Sklavenschiff ist die Antizipation des »paradis cauchemardesque«260, denn es bringt paradoxerweise okzidentale Modernität und AntiHumanismus in die Neue Welt: »Il a été le ventre monstrueux dont sont nées douloureusement les communautés noires d’Amérique et des Caraïbes en particulier.«261

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Chamoiseau: 2000, 5, Herv. i.O. Chamoiseau: 1997, 264f. Pineau/Abraham: 1998, 108. Glissant: 1997c, 26. Maryse Condé kommt ebenfalls zu dem Schluss: »Africa has been obscured by the Middle Passage and the plantation system« (Condé: 1998, 65). 259 Chamoiseau: 1997, 36. Vgl. zum »migrant nu« Glissant: 1997a, 111ff. Ferner die Studie Du ›Migrant nu‹ au Citoyen différé (2003) von Victorien Lavou Zoungbo. Carpanin Marimoutou bezeichnet die kreolische Kultur im Wesentlichen als eine immaterielle: »C’est à cette béance, à ce vide, à ce silence que s’affrontent les textes littéraires. […] Il n’y a aucune trace matérielle de la vie des esclaves et peu de celle des engagés et, d’une manière plus générale des pauvres et des opprimés« (Marimoutou: 2012, 5 und 12). 260 Koumba: 2006, 1. Koumba vergleicht es mit der Mine in Zolas Roman Germinal. Das Bergwerk ist Quelle der Akkumulation von Kapital und Ort der Entmenschlichung. 261 Ebd., 4.

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Nach dem Abgrund der Deportation wartet also die Plantage, die von Chamoiseau nicht nur als Ort der Knechtung, sondern auch als Ort des Wiederaufbaus charakterisiert wird, was nur scheinbar paradox klingt: »L’esclave devait tenter de reconstituer son être qui était perdu dans le gouffre, qui est le lieu de l’effondrement du monde ancien, de l’ordre ancien. La plantation esclavagiste, c’est le lieu de la reconstruction. Elle commence avec la résistance immédiate et brutale, avec le cri, […].«262 Diese Einschätzung seitens Chamoiseau erklärt die besondere Wertigkeit der Plantage im imaginaire antillais; denn das Überleben auf der Plantage steht mit Überlebenswissen und Widerstand in Zusammenhang. Der esclave-zombi Afoukal erklärt dem Protagonisten Pipi in Chamoiseaus Chronique des sept misères in einer seiner dix-huit paroles, dass der Ausstieg aus dem Sklavenschiff mit einem erzwungenen Neubeginn zusammenfällt: »Imagine cela: tu descends du bateau, non dans un monde nouveau, mais dans UNE AUTRE VIE. Ce que tu croyais essentiel se disperse, balance inutile. Une longue ravine creuse sa trace en toi. Tu n’es plus qu’abîme. Il fallait vraiment renaître pour survivre. Quelle impure gestation, quel enfer utérin, roye, roye, roye!«263 In dem Roman Sartorius beschreibt Glissant das apokalyptisch anmutende kulturelle Babel im Sklavenschiff: »Tout se fracassait là, l’origine, la langue, les dieux, les formes de la vie, ne restait que la suffocation, et la mention portée sur la liste du négrier, qui faisait foi.«264 Mit diesem Wissen um »le traumatisme du retour impossible à l’Afrique«265 auf die Antillen deportiert, »dans ce pays que nous ne nommions pas l’Afrique«, so Glissant in La Case du commandeur266, entwickelte sich Ende der 1960er Jahre das pluralistische Konzept der Antillanité.267 Die antillanische Wirklichkeit wird »von einer Verlusterfahrung – jener der nicht vorhandenen Identität – zu einer positiven umgewandt: Die Identität der Antillanität ist eben die der Diversität in sich selbst, der ursprunglosen Modernität des stets Hybriden«268. Die Antillanité markiert einen epistemologischen Bruch mit der Négritude, denn sie bemüht sich nicht mehr um territoriale Wurzeln, und wenn schon Wurzeln

262 263 264 265

Chamoiseau in Chevrier: 1999, 62. Chamoiseau: 1986, 153, Herv. i.O. Glissant: 1999a, 50. Glissant: 1997a, 183. Glissant geht davon aus, dass sich diese Sehnsucht verlagert hat: »le traumatisme de l’arrachement à la matrice originelle (l’Afrique) joue encore sourdement. Le rêve du retour à l’Afrique, qui a marqué les deux premières générations importées, a certes disparu de la conscience collective, mais il a été remplacé dans l’histoire subie par le mythe de la citoyenneté française« (Glissant: 1997a, 149). 266 Glissant: 1981, 16. 267 Wobei anzumerken ist, dass die ›geographische‹ Bezeichnung Antillen ebenfalls kein autochthoner Begriff ist, denn er geht auf die Eroberer zurück: Antilia (Ante-Isla, die ›vorgelagerte Insel‹). Vgl. Chamoiseau: »Les premiers Découvreurs, à l’abord des Antilles, […] les ont comme effacées d’une existence autonome en les appelant Antilles – c’est dire terres-d’avant-le-continent, sorte de paliers, marchepieds, cayes, poussières…« (Chamoiseau: 1997, 259). 268 Febel: 2006b, 75.

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dann Luftwurzeln bzw. »Flugwurzeln«269 oder submarine Wurzeln, die sich in einem offenen, ephemeren Raum bewegen: »Ce n’est pas cette Histoire qui a ronflé sur les bords de la Caraïbe mais bel et bien des conjonctions de nos histoires qui s’y sont faites souterrainement. […] Nous sommes les racines de la Relation. Des racines sous-marines: c’est-à-dire dérivées, non implantées d’un seul mât dans un seul limon, mais prolongées dans tous les sens de notre univers par leur réseau de branches.«270

Glissants Ansatz der Antillanité, welche er in den 1960er und 1970er Jahren entwickelt hat, stellt der Cesaire’schen Exteriorität eine Interiorisierung der antillanischen Realität gegenüber, welche sich in einer amalgamen, synkretistischen Kultur zeigt. Eine eigene Kultur, die keiner anderen gleicht, gilt es – in Einklang mit der eigenen Geschichte – wachsen zu lassen. Denn weder die Assimilation (an die Kultur der Kolonisierer) noch der Rückzug zur afrikanischen Ausgangskultur sind realisierbar. Der Antillanité-Diskurs ist in sich selbst zentral, so dass Europa letztlich in Übersee liegt. Ziel der Antillanité ist es, die unterschiedlichen Geschichten der Antillen in einen Zusammenhang zu bringen, den karibischen Kontext als Zentrum zu setzen und eine über die frankophonen Antillen hinausgehende karibische Föderation, also einen unabhängigen politischen Raum zu gründen, der sich an der konkreten insulären Realität orientieren und aus der euro-amerikanischen Abhängigkeit hinausführen soll: »En se faisant le chantre de la notion d’antillanité, il [Glissant, N.U.] ne regarde ni en arrière – l’Afrique –, ni de côté – la France, mais droit devant, en direction du reste des Antilles, certes divisées par la langue, mais héritières d’un bagage culturel commun.«271 Es ist eine in die Zukunft projizierte Einheit, die es im Innern der Karibik erst noch zu schaffen galt. Für die französischen Antillen lässt sich sagen, dass ein Frankophoniekonzept, das gerade in der Sprache eine kulturelle Identität verortet, eine solche Solidarität innerhalb der Region verhindert. Aber auch die ökonomischen, sozio-politischen und sprachlichen Unterschiede in dem zersplitterten Raum der Karibik machen eine solche Föderation schwierig. Die Möglichkeit einer karibischen Identität liegt hier in der gemeinsamen Kolonial- und Widerstandsgeschichte, jenseits einer nationalistisch motivierten Konstruktion karibischer Kultur.272 Für Glissant ist der Ursprung der Geschichte der Antillen verbunden mit der Entstehung der Plantagenwirtschaft oder wie Biermann es formuliert: »Die Antillaner sind trau-

269 So ist ein Artikel zur Garifuna-(Musik)kultur im mittelamerikanischen Zwergstaat Belize betitelt. Die Gründungsgeschichte dieser Kultur bezieht sich auf das Sinken eines Sklavenschiffes im Jahr 1635 vor der Karibikinsel St. Vincent. Einige der Afrikaner konnten sich retten und fanden dort Zuflucht, sie vermischten sich mit den Kariben, Europäern, Afrikanern und begannen ihre eigene Sprache, ein Gemisch aus Arahuaco, Französisch, Suaheli, Bantu, Spanisch und Englisch auszubilden, vgl. Miessgang: 2007. 270 Glissant: 1997a, 230f. 271 Ormerod: 1994, 194. 272 Nesbitt hat diesbezüglich in seiner Studie Caribbean Critique. Antillean Critical Theory from Toussaint to Glissant (2013, 1-26) den Begriff des »Caribbean Critical Imperative« eingeführt.

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matisiert durch eine Geschichte, die sie nicht beherrschen, nicht verwurzelt in einem Land, das sie nicht besitzen.«273 Das okzidentale Modell (Staat, Nation, Territorium) ersetzt Glissant durch eines der Relation und des Ortes (vs. Territorium).274 Aufgrund seiner extremen Fragmentierung ist der Ursprung der Antillen nur als ein pluraler, relationaler zu denken,275 der seinen Anfang im Bauch des Schiffes nahm: »La Genèse des sociétés créoles des Amériques se fond à une autre obscurité, celle du ventre du bateau négrier. C’est ce que j’appelle une digenèse.«276 Das Sklavenschiff als »cale-matrice-tombe«277 steht am Ausgangspunkt der ersten kollektiven, traumatischen Erfahrung der deportierten Afrikaner.278 Glissant geht davon aus, dass die karibischen Gesellschaften keinen anderen Ursprungsmythos kennen, der die Menschen in Raum und Zeit verortet.279 Stattdessen verfügen sie über eine Ursprungserzählung, die sich auf die traumatische Erfahrung der Verschleppung und Sklaverei begründet und die nur als Gewebe von histoires – in Abgrenzung zur eurozentrischen Histoire – rekonstruierbar sei: »Se battre contre l’un de l’Histoire, pour la Relation des histoires, c’est peut-être à la fois retrouver son temps vrai et son identité.«280 Vergleichbares formuliert Glissant in sei-

273 Biermann: 1999, 421. Chamoiseau spricht von den »locataires de cette terre«, denn »c’est toujours la terre du Béké, la terre du Maître, la terre du Blanc, on n’a jamais eu le désir d’inscription dans ce sol, dans cette histoire, dans cette culture« (Chamoiseau in einem Interview mit Lorna Milne, zit. n. Milne: 2006, 17). 274 Zur Glissant’schen Unterscheidung zwischen territoire und lieu/espace vgl. Chamoiseau: 1997, 43-46. Chamoiseau spricht von den Antillen als einem »archipel fluide« (1997, 289). Vgl. Milne: 2006, 91-99. 275 Chamoiseau knüpft daran an, wenn er sagt: »Nous sommes d’emblée dans un espace humain social où la racine est multiple dès le départ« (Chamoiseau: 1997, 33). 276 Glissant: 1997b, 36. Foucault charakterisiert das Schiff als eine Heterotopie par excellence: »un morceau flottant d’espace, un lieu sans lieu […] qui est fermé sur soi et qui est livré en même temps à l’infini de la mer« (Foucault: 1994, 762). 277 Milne: 2006, 51. 278 Vgl. Milne: 2006, 39-42. 279 Vgl. Glissant: 1997a, 147. 280 Ebd., 276. Er schlägt vor, die geschichtliche Periodisierung nach französischem Muster durch eine antillanische auszutauschen, denn eine geregelte Abfolge der uns vertrauten Epochen existiert nicht bzw. ist der der Permanenz kolonialer Beziehungen untergeordnet. Glissant bevorzugt statt période den Begriff der pan oder tranche, zwei Termini, welche die nicht-lineare, sich in Brüchen vollziehende und den nur am Rande selbstbestimmten Gang der Geschichte unterstreichen sollen. Seine vorgeschlagene Einteilung in eine Zeit der »traite« (1640-1685), des »univers servile« (1685-1840), des »système des Plantations« (1800-1930), der »apparition de l’élite, les bourgs«(1865-1902), der »victoire de la betterave sur la canne à succre« (1902-1950), der »assimilation« (1950-1965) und schließlich der drohenden »néantisation« stellt eine kollektivinterne Vision dar, vgl. Glissant: 1997a, 269-272. Wolfgang Bader bezeichnet daher die karibische Literaturgeschichte als eine »periphere«, da die »koloniale Situation als globaler Sinngeber« wirkt (Bader: 1986, 182), daher sei sie provokativ.

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nem Roman Ormerod: »Là où se rencontrent les histoires peuples, finit l’Histoire […].«281 Er entwirft in seinen Theorien ein Modell zweier basaler Kulturformen: die cultures ataviques und die cultures composites.282 Mit atavistischen Kulturen meint Glissant ein Kulturmodell, das auf einer Idee der Abstammung von einem mythischen oder religiösen Ursprung basiert und das den Anderen grundsätzlich ausschließt, »wo die Gemeinschaft sich in Bezug auf eine Genesis begreift, eine Erschaffung der Welt, mit der sie im Absoluten durch eine Stammlinie verbunden ist, eine Kontinuität von Vater zu Sohn, ohne Unterbrechung, das heißt ohne Illegitimes«283. Ein solches Filiationsmodell ist eng verbunden mit einem göttlichen Gründungsmythos und dem daraus abgeleiteten Anspruch auf Besitz der Welt und stellt somit eine Argumentationsgrundlage für Kolonisation und Eroberung dar. Im Gegensatz dazu evoziert Glissant die cultures composites: »Sprache und Identität sind hier nicht in einer Geschichte und in einem Boden verwurzelt.«284 Es handelt sich um deterritorialisierte Kulturen, die mit der Ausbreitung des Okzidents durch das Aufeinanderprallen und die Vermischung vieler einander widersprechender gewachsener (atavistischer) Kulturen entstanden seien: »des cultures hétérogènes, soit dominantes, soit dominés, sont entrées en phase de synthèse et ont enfanté une nouvelle sorte de réalité«285. Glissant kreiert für die zusammengesetzten Kulturen einen potentiellen Gegenmythos, denn, so Ralph Ludwig, »[…] le peuple antillais en quête d’identité ne peut s’appuyer sur le mythe d’une lointaine prise de possession de terres, comme par exemple le peuple d’Israël ou, comme certains peuples africains, sur celui des ancêtres anciens. La traite des esclaves, qui a donné naissance à la société antillaise, a non seulement arraché des Africains à leur terre natale, mais elle a détruit en même temps leurs attaches culturelles.«286

Glissant zufolge haben die Antillaner weder von ihrem Land Besitz ergriffen, noch eine Datierung an seine Entdeckung geknüpft. Er lehnt einen »mythe fondateur d’une Genèse«287 (Weltursprungsmythos) ab, wie beispielsweise jener, der im Alten Testament oder in der Ilias vorgeführt wird. Solche Gründungsmythen führen die europäische Kultur auf eindeutig zu bestimmende Stammlinien zurück und zielen auf »l’exclusion de l’autre, et qui ne comprend l’inclusion de l’autre que par sa domination«288.

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Glissant: 2003, 204. Vgl. Glissant: 1997b, 35ff. und 194ff. In sehr konziser Form auch in Glissant: 1999b. Glissant: 1997j, 143. Djoufack: 2005, 217. Glissant: 1999b, 48. Ludwig: 1994, 17. Glissant: 1997b, 195. Glissant: 1994, 119. Gründungsmythen sind nicht nur für den außereuropäischen Raum ein zweifelhaftes Konzept, selbst der Kontinent Europa ist, wie Ottmar Ette betont, aus einer Bewegung hervorgegangen, eine Migrantin: »Der [...] Mythos von der Entführung der am phönikischen Strand blumenpflückenden schönen Tochter des Agenor, des Kö-

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Mit Glissant lässt sich festhalten: Die Antillaner verfügen über eine kompositorische Kultur die keiner schlicht verfügbaren und klaren Genese zugänglich ist und die ihre Digenèse beispielsweise in literarischen Werken narrativ zu füllen suchen.289 Die Autoren setzen dem Konzept des mythe fondateur jenes des texte fondateur und der pluralen histoires entgegen. Ein wichtiges Beispiel dafür ist Césaires Cahier d’un retour au pays natal, auf den andere literarische Texte immer wieder rekurrieren. Im Akt des Schreibens wird so die intertextuelle Verflechtung und die Hybridität der Kulturen, aber kein eindeutiger Ursprung der Geschichte evoziert. Glissants Überlegungen zur Créolisation basieren maßgeblich auf dem Phänomen kreolischer Sprachen und leiteten auch eine Rehabilitierung des Kreols ein, obgleich er selbst nie auf Kreol publiziert hat: »Ma définition de la langue créole (qu’il s’agisse des créoles francophones de la Caraïbe, comme en Haïti, en Martinique ou en Guadeloupe, que ce soit le papiamento, le créole du CapVert ou les créoles de l’Océan Indien), c’est une langue dont les éléments syntaxiques ou lexicaux proviennent d’aires et de zones linguistiques absolument différenciées, avec une résultante qui est imprévisible […].«290

Er lehnt eine Standardisierung des Kreols als Versuch der Herstellung eines Gründungsmythos’ ab und favorisiert stattdessen ein »français pénétré par le créole«291. Für ihn repräsentiert weder Französisch noch Kreol ein geeignetes Ausdrucksmittel, welches die franko-karibische Konstitution zu artikulieren vermag. Während Franzö-

nigs von Sidon oder Tyros in Kleinasien, macht uns auf die bisweilen ein wenig in Vergessenheit geratene Tatsache aufmerksam, daß nicht nur der sogenannte ›amerikanische‹ Kontinent einen Namen trägt, der von außen, von Osten her auf ihn übertragen wurde. Denn der Herkunftsort (und vielleicht sogar der ›Strandungsort‹) der schönen Europa liegt nicht in jenem Raum, den wir nach heutigem territorialem Verständnis mit ihrem Namen schmücken. So steht der Name der Europa für eine Bewegung und Außerhalbbefindlichkeit, die von (freilich göttlich erzwungener) Deportation und Deterritorialisierung geprägt wird. Mag Europa auch später am Anfang eines neuen Geschlechts, einer neuen Genealogie stehen: Sie lebt nicht in ihrer Heimat, ist vielmehr eine Migrantin.« Ette: 2001a, 559-560. 289 Vgl. Glissant: 1997b: 35ff. 290 Glissant: 1999b, 50. 291 Jerman: 1994, 99. Lilian Pestre de Almeida spricht in Bezug auf Glissants Lyrik von einer »parole enroulée et déroulée« und vom »décentrement baroque de la langue française« (1999, 155), was sich in u.a. Neologismen, Archaismen oder ironischen Wendungen üblicher französischer Sprichwörter äußert. Glissant schreibt in Traité du Tout-monde zum Zusammenwirken von mündlichem und schriftlichem Erzählen sowie diverser Sprachen: »Les langues et les pratiques de l’oralité ont resurgi dans le panorama des littératures, elles ont commencé d’influer sur la sensibilité, avec une énergie et une présence flamboyantes. Il faut songer ardemment, non pas à ménager ce nouveau passage, qui serait maintenant de l’écrit à l’oral, mais à susciter des poétiques renouvelées, où l’oral se maintiendrait dans l’écrit, et inversement, et où flamberait l’échange entre les langues parlées du monde« (Glissant: 1997b, 109).

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sisch vor allem im Bereich sachbezogener, rationaler Diskurse Verwendung finde, gerate das Kreolische mehr und mehr zur »langue vide«, zum Instrument sinnentleerter Kommunikation, ein Phänomen, das Glissant mit dem Begriff des »délire verbal«292 umschreibt. Glissant bevorzugt einen kreativen Umgang mit dem Französischen, indem er die Oralität des Kreols einfließen lässt und es so modifiziert. Er betrachtet die verschiedenen Sprachen als Rhizom, als ein babylonisches Sprachchaos im positiven Sinne: »Je suis partisan du multilinguisme en écriture, la langue qu’on écrit fréquente toutes les autres. C’est-à-dire que j’écris en présence de toutes les langues du monde.«293 Der grundsätzliche Einwand scheint berechtigt, ob der Unterschied zwischen Kreolsprachen und Standardsprachen nicht auf einen westlichen Imperialismus und Rassismus innerhalb der Linguistik zurückzuführen sei und ob letzten Endes nicht alle Sprachen Kreolsprachen seien, wie Glissant 1996 in seiner Introduction à une Poétique du Divers nahelegt: »quand on étudie raisonnablement les origines de toutes langues données, y compris de la langue française, on s’aperçoit (ou on devine) que presque toute langue à ses origines est une langue créole.«294 Raphaël Confiant, der sowohl in Französisch als auch in Kreol publiziert, behauptet sogar, das Kreol gäbe dem heutigen Französisch eine Vitalität zurück, die es zu Zeiten von Rabelais noch hatte, denn für ihn ist Kreol eine Art »français arrêté (arrêté au début du XVIIe siècle)«295. Kreol dient hier der Kreation neuer Ausdrucksformen und zugleich als eine Art Gedächtnisspeicher. So wundert es nicht, dass 1989 die Autoren Patrick Chamoiseau und Raphaël Confiant zusammen mit dem Sprachwissenschaftler Jean Bernabé eine Éloge de la Créolité verfassen.296 Kulturelle Identität ist für sie nur

292 Glissant: 1997a, 623ff. Für Glissant beweist die Tatsache, dass die kreolische Sprache bis heute über keine einheitliche Grammatik verfügt, die Strukturlosigkeit der martinikanischen Gesellschaft; ihr Umgang mit Sprache drücke ihr gestörtes Verhältnis zu sich selbst aus. Die Annahme, das Kreol sei ursprünglichster Ausdruck des kollektiven Unbewussten, ist problematisch, denn es impliziert schon im Ursprung die Fremdgewalt der Kolonisierung. Zudem musste das Wissen der marronneurs, conteurs oder auch der quimboiseurs stark codiert werden, um nicht von den békés verstanden zu werden. Diese Übercodierung ist partiell in eine Unverständlichkeit umgeschlagen, die zu der besagten leeren Rede, dem kreolischen Sprachdelirium führte. 293 Glissant: 2006a, 10. Für manchen Kritiker führt eine solche écriture plurilingue bloß in »nirvâna libérationnel« und eine »créolité anti-créole« (Tontongi: 2003). 294 Glissant: 1996a, 21. Auch Klaus Zimmermann verweist darauf, daß nicht alle Menschen, Gruppen und Kulturen die gleichen Konstruktionen der Sprachtrennung vollziehen wie diejenigen, die sich im Laufe der Jahrhunderte in der westlichen Welt und in den Wissenschaften der Sprachen viabilisierend [….] durchgesetzt hat« (Zimmermann: 2005, 27), was den Schluss zulässt, dass beim Sprachkontakt eher die Trennung als die Mischung der Erklärung bedürfe. 295 Confiant: 1994a, 179. 296 Der Begriff der Créolité tauchte schon in René Depestres Essay Bonjour et adieu à la négritude (1980) auf, später vertiefend in Les Aventures de la Créolité (1994). Bereits die Surrealisten André Breton und André Masson führten einen »Dialogue Créole«, entstanden auf einer gemeinsamen Reise 1941 über Martinique nach New York ins Exil in den

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erreichbar über eine »vision intérieure«297 und diese Vision verläuft über die Akzeptanz der für den karibischen Raum charakteristischen Créolité. Der Éloge versteht sich als dessen offensive Nobilitierung, vergleichbar mit Joachim du Bellays berühmten Renaissance-Manifest Défense et illustration de la langue française (1549). Maeve McCusker hebt die Funktion der ›feierlichen‹ Rhetorik der Éloge hervor: »their celebratory tone marks a clear break with the images of the diseased or hideously wounded body which dominated the work of Césaire, and with the Glissantian trope of the infected mind.«298 Das Manifest signalisiert eine Ästhetik des Bruches zur Négritude und damit zu einem übertrieben klassischen und akademischen Französisch, indem sie eine spezifisch karibische Identität proklamieren. Aimé Césaire werfen sie vor, die Créolité zugunsten von Négritude und Francité vernachlässigt zu haben.299 Zudem definieren sie als Referenzpunkt der Karibik nicht Afrika, sondern genau wie Glissant die Plantage. Gleichwohl sieht sich diese Generation karibischer Autoren in der Filiation von Césaire und wertet die Négritude als zentralen historischen Akt: »La Négritude césairienne est un baptême, l’acte primal de notre dignité restituée. Nous sommes à jamais fils d’Aimé Césaire.«300 In Erweiterung zu Césaire definieren sie aber Kreolität als einen Identitätsdiskurs in der Negation: »Ni Européens, ni Africains, ni Asiatiques, nous nous proclamons Créoles!«301 Bei den beiden aus Guadeloupe kommenden Autoren Hector Poullet und Syviane Telchid liest man ebenfalls gleich zu Beginn ihres Essays »›Mi bèl pawòl mi!‹ ou Éléments d’une poétique de la langue créole«:

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USA; publiziert 1948. Dieser Dialog thematisiert zugleich die Schönheit der martinikanischen Natur und die soziale Trostlosigkeit. In der Reflexion des Traums und der Imagination nehmen sie erneut die Ästhetik des Surrealismus auf. Erwähnenswert ist ferner, dass bereits 1978 der aus Réunion kommende Bischof Gilbert Aubry seine programmatische Schrift Hymne à la Créolie publizierte, welche aber aufgrund seines stark christlich geprägten Duktus längst nicht so wahrgenommen wurde wie die antillanische Éloge. JeanLouis Joubert (1991) widmet ein Kapitel speziell dieser »Créolité réunionnaise«. Vgl. dazu auch die Studien von Françoise Vergès: 2005 und 2007. Musikalisch schuf Danyèl Waro aus La Réunion mit seiner CD Batarsité (1994) einen äquivalenten Begriff. Bernabé u.a.: 1989: 15. McCusker: 2003, 115. Mit Francité bezeichnet man die kulturelle Ausrichtung auf Frankreich (»car la France c’est la Révolution, c’est Schœlcher; c’est aussi Rimbaud, Lautréamont, Breton« [Césaire, zit. n. Kundera: 1991, 57]). Die Akkulturierung durch französische Sprache und Kultur ist auch heute noch der einzige Weg zu sozialem Aufstieg auf den Antillen. Glissant nennt einen solch unkritischen Assimilationismus an Frankreich auch »Schœlcherismus«. Trotz der Verdienste von Schœlcher zur Überwindung der Sklaverei kritisiert Glissant: »L’action inlassable et héroïque de Victor Schœlcher [...] a eu pour conséquence qu’il s’est ensouché dans les Antilles francophones la tradition d’un vrai schœlchérisme [...] tradition qui s’est transformée peu à peu en un engagement inconditionnel de fidélité envers la France« (Glissant: 2007b, 102). Bernabé u.a.: 1989: 18. Ebd., 13.

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»Par extraordinaire, l’Histoire a fait de nous, hommes et femmes de la créolité, des êtres de frontière. Ni Nègres ni Blancs ni Africains ni Européens ni Indiens et pas même Américains, notre hybridation culturelle et génétique, qui nous a longtemps encombrés, nous allons désormais l’utiliser pour explorer notre propre nébuleuse.«302

Ottmar Ette nennt diese Logik des Weder-Noch im Rückgriff auf Roland Barthes ninisme.303 Gemeint ist damit eine Praxis der Identitätsfindung, die nach außen auf Ausgrenzung und nach innen – markiert durch die Verwendung der ersten Person Plural – auf Homogenisierung setzt. Denn wie sie selbst sagen: »Nous sommes fondamentalement frappés d’extériorité.«304 Diese Exteriorität basiert auf europäischen Setzungen und auf jenen der Négritude: »Nous avons vu le monde à travers le filtre des valeurs occidentales. […] La Négritude ne remédia nullement à notre trouble esthétique. Il se peut même qu’elle ait, quelque temps, aggravé notre instabilité identitaire. Thérapeutique violente et paradoxale, la Négritude fit, à celle [l’aliénation] d’Europe, succéder l’illusion africaine […] Afrique mère, Afrique mythique, Afrique impossible.«305

Den Autoren der Éloge geht es wie Glissant um eine Interiorisierung der antillanischen Realität, aber – in Abgrenzung zu Glissant – insbesondere um den Zusammenhang von Raum und Sprache (Kreol und orale Traditionen).306 Konkret plädieren sie für eine Aufwertung und Wiederentdeckung der kreolischen Rhetorik, denn »[n]otre chronique est dessous les dates, dessous les faits répertoriés: nous sommes Paroles sous l’écriture«307. Sie erheben die Oraliture zum Programm, in der kreolische Volkssprache und französische Literatur – Oralität und Schrift – eine Symbiose bilden und damit eine Revolution der Literatursprache einleiten sollen.308 Die Bewegung der Créolité mündet in eine wichtige kulturelle Aufwertung des mündlichen

302 Poullet/Telchid: 1994, 181, Herv. N.U. 303 Vgl. Ette: 2001a, 469. Der Brasilianer Roberto Schwarz hat dafür den Begriff »nacional por substracción« (1986) geprägt. 304 Bernabé u.a.: 1989, 14. 305 Ebd., 20-24. 306 Befremdlicherweise ist aber die erste zweisprachige Ausgabe bei Gallimard eine französisch-englische und nicht – was naheliegender wäre – eine französisch-kreole Ausgabe ist. Gallagher kritisiert zudem die Zielsetzung des Pamphlets: »In suggesting that their vision and writing supersede Glissant’s antillanité in a teleology of Caribbean selfrealization, the créoliste pamphleteers can be seen – retrospectively at least – to distort the integrity of Glissant’s thinking« (Gallagher: 2007, 224). 307 Bernabé u.a.: 1989, 37f., Herv. i.O. 308 Dieser Bruch mit der Négritude durch die Verwendung einer anderen Literatursprache setzte bei schwarzafrikanischen Autoren bereits in den 1970er Jahren ein, als der Roman Les Soleils des indépendances (1970) von Ahmadou Kourouma von der Elfenbeinküste erschien. Dieser Roman revolutionierte die ganze afrikanische Literatur, indem er das Französische in Strukturen und Intonation der afrikanischen Sprache Malinké auszudrücken versuchte.

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kommunikativen Gedächtnisses als Teil der karibischen Identitätsbildung. Das kommunikative Gedächtnis erweitert und ergänzt die von Halbwachs beschriebene mémoire collective, welche sich vornehmlich auf schriftlich Fixiertes bezieht. Dabei ist von Bedeutung, dass dieser Akt nicht ausschließlich semantischer Art ist, sondern bis in die Makro- und Mikrostruktur der literarischen Texte hineinreicht; daraus leiten sie eine kreolische Rhetorik ab. So verkünden Confiant und Chamoiseau in einem Interview: »Nous n’avons plus peur […] d’habiter la langue française de manière créole; non pas de la décorer avec des petits mots créoles pour créer une espèce de français folklorique et régionaliste, il ne s’agit pas du tout de cela. Il s’agit de récupérer toute la rhétorique de la langue créole et d’essayer de la greffer à travers un matériau linguistique français.«309

Ralph Ludwig hat anschaulich herausgearbeitet, dass damit der Akt der Auflehnung gegen die kulturelle Assimilation, der ein wesentliches Stimulans für die literarische Debatte der Antillen darstellt, nicht an die Ebene der Semantik, sondern der Ästhetik gebunden ist.310 Auf linguistischer Ebene ist aufschlussreich, dass der Erfolg der beschriebenen literarischen Sprache möglicherweise Konsequenzen für die Orientierung des Standardfranzösischen haben kann. Gerade insofern literarische Texte in kreolisch-oral durchsetztem Französisch über den Weg der großen literarischen Preise – spätestens seit der Verleihung des Prix Goncourt an Chamoiseau für seinen Roman Texaco (1992) – in einen neu konturierten literarischen Kanon eingehen, der in seiner traditionellen Form immer Grundlage für das gute Schrift-Französisch, den bon usage war, erschüttert die mündlich beeinflusste frankophone Literatur auch die herkömmliche Prestigenorm.311 Trotz dieser Dezentrierungen des français standard scheint erscheint mir die der Créolité inhärente essentialistische Vorstellung einer identitätsstiftenden kreolischen Sprache und Kultur zur Memorierung von ›autochthoner‹ Kultur problematisch, denn das häufig gelobte nous ist keine abgeschlossene Einheit. Der Begriff Créolité scheint zunächst – im Vergleich zum Métissage – unbelasteter von der kolonialen Vergangenheit.312 Dennoch ist es bedenklich, dass die Autoren statt Heterogenität eine neue Homogenität aufzeigen, die in anachronistisch anmutender Weise an die Négritude erinnert und Glissants Überlegungen zurückschreiben. Glissant warnt davor, dass Créolité zu einer Créolitude erstarrt: »la ›créolité‹, dans son principe, régresserait vers des négritudes, des francités, des latinités, toutes généralisantes – plus ou moins innocemment.«313 In ähnlicher Weise kritisiert Chris Bongie die Affir-

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Chamoiseau/Confiant: 1992, 14. Vgl. Ludwig: 2008, 146 Vgl. ebd. Die Versuche der Rassenkunde der Kolonialzeit, die verschiedenen Mischungsverhältnisse des Mestizen zu kalkulieren und zu benennen, sind auch ein Grund für die Ablehnung des Begriffes der métissage. 313 Glissant: 1990, 103, Herv. i.O. Zur Problematik der widersprüchlichen Begrifflichkeiten vgl. Perret: 2001, Lewis: 2006, Stewart: 2007, Gallagher: 2007, Ludwig: 2008, 144ff, Ludwig/Röseberg: 2010, Knörr: 2008, Schwerpunktthema »De la créolisation culturelle«

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mation einer »New World identity that is logically equivalent to the Old World identities that are being denied«314. Eine versöhnlichere Sicht auf die Bewegung der Créolité wirft Ralph Ludwig, der sie interessanterweise zugleich im franko- und hispoanokaribischen Kontext verortet: »[…] literarische Antithesen [sind] häufig eigentlich Synthesen. Entsprechend kann man in der Créolité eine Fortführung sowohl der Négritude wie der Antillanité sehen, also eine Bewegung, die das Erbe beider vorangegangenen, in Opposition zueinander stehenden Konzepte konkretisiert; weiter besitzt die Créolité in mancher Hinsicht eine kulturelle Affinität zum magischen Realismus.«315

Die rigide Insularität des Konzepts – praktisch referiert es nur auf die Karibik und grenzt andere Gebiete wie Louisiana oder La Réunion aus – und auch die Ausblendung verwandter Kreolisierungs- und Hybriditätskonzepte bleibt problematisch.316 So distanziert sich Glissant zu Beginn der 1990er Jahre von dem in seinen Augen zu stark lokal eingegrenzten pankaribischen Gemeinschaftskonzept der Créolité (Relation des Selbst zu einem Gebiet) und plädiert für eine Philosophie der universalen Créolisation (Relation zur Totalität, die nicht über Ausschließungen, sondern über Beziehungen funktioniert). Seiner Auffassung nach umfasst die Créolisation mehr Möglichkeiten anthropologischer, sprachlicher und kultureller Mischung. Kreolisierung beruht für ihn weniger darauf, kreolisch zu schreiben als »kreolisch zu denken«317. So setzten sich seit der Jahrtausendwende neue Positionen durch, unter denen Glissants Introduction à une Poétique du Divers (1996) ein besonders starkes Echo fand. Darin nennt er sein neues alternatives Modell Archipelisierung: »Ce que je vois aujourd’hui, c’est que les continents ›s’archipélisent‹, du moins du point de vue d’un regard extérieur. Les Amériques s’archipélisent, elles se constituent en régions par-dessus les frontières nationales. Et je crois que c’est un terme qu’il faut rétablir dans sa dignité, le terme de région. L’Europe s’archipélise. Les régions linguistiques, les régions culturelles, par-delà les barrières des nations, sont des îles, mais des îles ouvertes, c’est leur principale condition de survie.«318

Die universell umfassendste Denkfigur ist bei Glissant jene des Tout-monde, die er in einem Interview mit Ralph Ludwig präzisiert: »Le Tout-monde, c’est le mouvement tourbillonnant par lequel changent perpétuellement – en se mettant en rapport les uns avec les autres – les cultures, les peuples, les individus, les notions, les esthétiques, les sensibilités etc. […] Le Tout-monde, c’est la conception du monde

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der Zeitschrift Archipélies, Nr. 3-4: 2012, und unseren Überblicksband Kreolisierung revisited (Müller/Ueckmann: 2013). Bongie: 1997, 165. Ludwig: 2008, 166. Vgl. Gallagher: 2007, 230f. Kamecke: 2005, 34. Glissant: 1996a, 44.

126 | II T RANSDISZIPLINÄRES T HEORIENETZ sans axe et sans visée, avec seulement l’idée de la prolifération tourbillonnante, nécessaire et irrépressible, de tous ces contacts, de tous ces changements, de tous ces échanges.«319

In besonderer Weise verweist Glissant auf den Begriff der Relation als Kondition unserer heutigen Welt. Das Denken der Relation ermögliche die Verknüpfung disparater Versatzstücke und die Herausbildung einer von Widersprüchen geprägten Identität. Statt auf einen Stammbaum, eine »identité racine-unique« zu verweisen, favorisiert Glissant eine relationale Netzstruktur, »cet imaginaire de l’identitérhizome«:320 »La pensée du rhizome serait au principe de ce que j’appelle une poétique de la Relation, selon laquelle toute identité s’étend dans un rapport à l’Autre.«321 »C’est bien là l’image du rhizome, qui porte à savoir que l’identité n’est plus toute dans la racine, mais aussi dans la Relation. C’est que la pensée de l’errance est aussi bien pensée du relatif, qui est le relayé mais aussi le relaté. La pensée de l’errance est une poétique, et qui sousentend qu’à un moment elle se dit. Le dit de l’errance est celui de la Relation.«322

Glissant gelingt so die Umbewertung einer vormals als pathologisch verstandenen multiplen, komplexen Identität. Das Rhizom ist nach Deleuze und Guattari eine AntiGenealogie, ein Geflecht ohne Tiefenstruktur und ohne Zentrum: »Es ist ein Kurzzeitgedächtnis oder ein Anti-Gedächtnis.«323 Glissant bevorzugt für ein solches Identitätsverständnis den Begriff der Kreolisierung: »La créolisation est la mise en contact de plusieurs cultures ou au moins de plusieurs éléments de cultures distinctes, dans un endroit du monde, avec pour résultante une donnée nouvelle, totalement imprévisible par rapport à la somme ou à la simple synthèse de ces éléments.«324 Kreolisierung ist nicht nur unvorhersehbar, sondern wahrt sogar die einzelnen Komponenten der Vermischung.325 Patrick Chamoiseau konkretisiert in diesem Kontext: »Kreolisierung bezeichnet die massive und sehr schnelle Kontaktaufnahme zwischen Völkern, Sprachen, Kulturen, Rassen, Weltanschauungen und Kosmogonien. Diese Kontaktaufnahme

319 Glissant, zit. n. Ludwig: 2008, 121. Vertiefend zum Tout-monde vgl. Ludwig/Röseberg: 2010. 320 Glissant: 1997b, 21. Deleuze/Guattari umschreiben in Tausend Plateaus das Rhizom wie folgt: »Es besteht nicht aus Einheiten, sondern aus Dimensionen, oder vielmehr aus beweglichen Richtungen. Es hat weder Anfang noch Ende, aber immer eine Mitte, von der aus es wächst und sich ausbreitet. […] das Rizom [bezieht sich] auf eine Karte, die produziert und konstruiert werden muß, die man immer zerlegen, verbinden, umkehren und modifizieren kann, die viele Fluchtlinien, Ein- und Ausgänge hat. […] das Rhizom [ist] ein azentrisches, nicht hierarchisches und asignifikantes System ohne General« (2002, 36). 321 Glissant: 1990, 23. 322 Ebd., 31. 323 Deleuze/ Guattari: 1997, 36. 324 Glissant: 1997b, 37. 325 Vgl. Glissant/Chamoiseau: 2009, 15.

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entstand auf Grund von Kräften, die dem Schock und der Deflagration unterliegen. Man muss sich den Afrikaner vorstellen, der beim Verlassen des Laderaums um jeden Preis lernen musste, wiedergeboren zu werden, nicht allein, [...] sondern der in einem überwältigenden Malstrom wiedergeboren werden musste. Diese anfängliche Vielfalt (an Göttern, Sprachen, Bräuchen) wurde plötzlich zerschmettert in einem menschlichen Brei tief unten im Laderaum des Sklavenschiffs. Und dieser Menschenbrei voll verschiedener, oft gegensätzlicher Erinnerungen führte den afrikanischen Aspekt der Kreolisierung auf dem amerikanischen Kontinent ein. [...] Diese afrikanische Vielfalt traf auf eine andere Vielfalt: die der amerikanischen Indianer, die auf den Inseln wohnten (Kariben, Arauak, Taínos...) sowie jene der amerikanischen Indianer auf dem Kontinent, die trotz der aktiven Völkermorde, denen sie zum Opfer fielen, eine aktive Rolle im Prozess der Kreolisierung spielten. [...] Diese aus allen Kontinenten anstürmenden Vielfalten trafen sich nun im geschlossensten Raum, den es gibt: der Sklavenplantage.«326

Eine solche Definition von Kreolisierung verweist konsequent auf die Antagonismen und Konflikte, die mit dem Prozess der Kreolisierung einhergehen. Édouard Glissant nimmt zur Erläuterung von Kreolisierung wiederholt Bezug auf Victor Segalens Begriff des Divers, welchen er in seinem unvollendeten Essai sur l’exotisme. Une Esthétique du Divers (postum 1978) einführte.327 Der französische Marinearzt Segalen gilt häufig als einer der Vorläufer postkolonialer Literaturtheorie und Ethnologie, da er schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts den eurozentristischen Beobachtungsstandpunkt dekonstruierte und Exotismus als »une esthétique du Divers«328 zu erfassen versuchte, als eine contre-estampe, eine Momentaufnahme, die in beide Richtungen wirkt – auf Seiten des Reisenden als auch des Bereisten –, und die den Begriff der Differenz mitdenkt.329 »Anverwandlung und Differenz bleiben dabei widersprüchliche Bewegungen«, betont Gisela Febel.330 Eine fundamentale Diversitätserfahrung, »die prinzipielle Unlesbarkeit des Anderen«331, die mit Erschütterung und einem choc de l’autre einhergeht, ist grundlegend für Segalens Exotismus-Begriff.

326 Chamoiseau: 2000, 6f. 327 Vgl. Glissant: 1997a, 236. Das knapp 2000 Seiten umfassende Œuvre des 1878 in Brest geborenen Arztes, Ethnologen, Dichter und Reisenden Victor Segalen entstand in den Jahren 1902 bis 1918. Bekannt waren seine Romane, Essays, Gedichte, Dramen und Reisetagebücher bis in die 1970er Jahre hinein auch in Frankreich lediglich einem sehr kleinen Kreis. 328 Segalen: 1978, 86. 329 Vgl. ebd., 35. Im Vorwort zu seinem Essay heißt es: »lorsque Segalen parle de l’exotisme, il se situe bien en marge du courant en vogue à son époque, bien loin des récits de voyages et de la littérature coloniale« (Manceron: 1978, 13). Vgl. den Beitrag von Silke Segler-Messner zu Alteritätskonzepten von Segalen, Khatibi und Glissant in dem von ihr hg. Band Voyages à l’envers (2009). 330 Febel: 2006b, 69. 331 Ebd., 73.

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Um Segalens Divers Raum zu geben, fordert Glissant »le droit à l’opacité«332. Clément Mbom nennt es: »le droit de garder son ombre épaisse, c’est-à-dire son épaisseur psycho-culturelle.«333 Opazität, welche sich auch in opaken Erzählstrukturen äußert, markiert für Glissant einen ethischen Wert und ein politisches Recht, um das westliche Transparenzideal des Alles-Durchschauens bewusst zu hinterfragen; »le refus de considérer l’autre comme une transparence«334. In postkolonialer Literatur geht es weniger um Transparenz als um das Durchscheinen einer anderen Relation zwischen »non-Western histories and European thought and its analytical categories«, wie es auch der Geschichtswissenschaftler Dipesh Chakrabarty hervorhebt, wobei er wie Glissant »the partly opaque relationship« betont: »[...] that what translation [for example ›rough‹ translations in the glossary, N.U.] produces out of seeming ›incommensurabilities‹ is neither an absence of relationship between dominant and dominating forms of knowledge nor equivalents that successfully mediate between differences, but precisely the partly opaque relationship we call ›difference‹.«335

Wie bereits der Wissenschaftstheoretiker, Mathematiker und Seefahrer Michel Serres darlegte, neigen neuzeitliche europäische Wissenschaftstraditionen dazu, mit ihren Begrifflichkeiten deutlich abgrenzbare und abgegrenzte Entitäten nach dem Modell isolierter, konstanter und konsistenter materieller Gegenstände herauszupräparieren: »Das Ideal der Erkenntnis ist der kristallene Festkörper. Kalt wie das Wachs, bevor es ins Feuer wandert. Das Ideal des klassischen Systems ist der Kristall. Wegen seiner Grenzen, wegen seiner optischen Eigenschaften, wegen seines Gleichgewichts, wegen seiner dauerhaften Stabilität. [...] Ausgeschlossen wird dagegen das Fließende, ausgeschlossen wird das Zusammengesetzte.«336

Mit Blick auf die karibische Literatur haben wir es aber mit beständigen Verflüssigungen und Überlagerungen zu tun, für die eher das Modell einer diffusen, denn einer klaren Erkenntnis entwickelt werden müsste. Glissant entwirft für dieses zersplitterte und zerbrechliche antillanische Wissen die Konzepte einer pensée archipélique und einer pensée de la trace. Er meint damit ein eher intuitives, bedrohtes, fragiles Denken.337 Auf unseren Kontext übertragen, schreibt Ralph Ludwig zum Verhältnis Europa und Afrika/Antillen: »L’Europe a voulu ›éclairer‹ l’Afrique ›noire‹ et les Antilles par la colonisation et l’alphabétisation. La lumière du jour était réservée au travail, à la culture et à la langue officielle. […] La nuit, au contraire, a

332 Glissant: 1997b, 29. Bereits in L’Intention poétique (1969) verwendet Glissant Opazität als epistemologischen Begriff im Kontext des Noir américain in Faulkners Literatur und am Beispiel von Malcom X, vgl. Glissant: 1997d, 168-175. 333 Mbom: 1999, 248. 334 Glissant: 1994, 127. Vergleichbar zu Glissant publiziert Toni Morrison 1992 ihre berühmten Essays Playing in the Dark. 335 Chakrabarty: 2000, 17. 336 Serres: 1994, 54. Vgl. ferner das Kapitel »Festes, Flüssiges, Flammen«, S. 49-84. 337 Vgl. Mbom: 1999, 246.

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toujours été le lieu de la parole créole.«338 Opazität meint dementsprechend »refuser le totalitarisme de la raison cartésienne, de la clarté«339. Das Moment der intensiv erlebten Differenz, welches nicht im eigenen Verstehen aufgeht, also eine Unvereinnehmbarkeit markiert (»le Divers, c’est la différence consentie«340), gipfelt für Glissant in ein widerständiges Recht auf Opazität: »Le droit à l’opacité n’établirait pas l’autisme, il fonderait réellement la Relation, en liberté.«341 Glissants Begriffe von chaos-monde und opacité stehen im Gegensatz zum Transparenz-Anspruch der Aufklärung, der auf ein erschöpfendes com-prendre abzielt, welches Glissant wie folgt analysiert: »[…] c’est-à-dire de la notion de compréhension, ›com-prendre‹, je prends avec moi, je comprends un être ou une notion, ou une culture […]. Et le génie de l’Occident a été de nous faire accepter sans révision que comprendre, c’était l’opération la plus élevée qui puisse exister pour l’esprit humain. Et moi, je dis que ce génie est un génie trompeur, parce que dans comprendre il y a l’intention de prendre, de soumettre ce que l’on comprend à l’aune, à l’échelle de sa propre mesure et de sa propre transparence.«342

Diesem westlichen Konzept des com-prendre steht das Konzept der opacité entgegen, das ein être-avec oder ein faire-avec beinhaltet. Solch ein Umgang mit dem Anderen erfordert ein Zulassen von neuen Erfahrungen und nicht ein Fortschreiben von althergebrachten Mustern. Auf die Frage »Votre éloge de l’obscur pourrait passer pour l’obscurantisme?« antwortet Glissant: »C’est vrai, on me dit toujours l’obscur, c’est le retour à la barbarie. Mais, je ne prône que le retour à la poésie.«343 Und in seinem Kapitel »Pour l’opacité« in seiner Poétique de la Relation konkretisiert er: »Accepter les différences, c’est bien sûr bouleverser la hiérarchie du barème. […] Des opacités peuvent coexister, confluer, tramant des tissus dont la véritable compréhension porterait sur la texture de cette trame et non pas sur la nature des composantes.«344 Glissant wertet insbesondere die Übersetzungstätigkeit als eine Form der Relation, da beide Texte ihre Opazität beibehalten: »Le langage du traducteur opère comme la créolisation et comme la Relation dans le monde. […] Art de la fugue d’une langue à l’autre, sans que la première s’efface, sans que la seconde renonce à se présenter. […] La traduction, art de l’effleurement et de l’approche, est une pratique de la trace«.345 Im Vergleich zu Spivaks Unmöglichkeit eines subalternen Sprechens markiert Glissants Opazität vielmehr die Unfähigkeit des dominanten Diskurses die Subalterne überhaupt zu verstehen. Sein Anliegen ist es, durch ein zir-

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Ludwig: 1994, 18. Ebd., 19. Glissant: 1997a, 328. Glissant: 1990, 204. Glissant zit. n.: Dionne/Mariniello/Moser: 1996, 14. Das lateinische Wort compre(he)ndere meint nicht nur verstehen, begreifen, sondern auch mit Beschlag belegen, dingfest machen, verhaften. 343 Anquetil/Glissant: 1993, 22. 344 Glissant: 1990, 204. 345 Glissant: 1996a, 45f.

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kuläres und ungeordnetes Herantasten die aus der Kolonialisierung übernommene fremde Sprache und Denkweise zu unterlaufen, um innerhalb eines discours éclaté Verschüttetes und Zerstörtes sichtbar werden zu lassen. Als letzte Konsequenz dieses Weltbildes steht nicht die Vorstellung von einer Menschheit (Humanité), sondern von verschiedenen Gruppen von Menschen (des humanités), die sich gegenseitig ihr Recht auf Verschiedenheit zugestehen. Ein solches Weltbild impliziert auch die wichtige Kontextualisierung der Machtstrukturen, basierend auf der historischen Asymmetrie zwischen den Kulturen. Nur so werden möglichen romantisierenden Tendenzen eines fluiden Kultur- und Identitätsverständnisses Einhalt geboten. Nicht unerwähnt bleiben soll schließlich der Soziologe Guy Numa, der mit seiner emphatischen Studie Antillanité. L’identité antillaise avec ses valeurs universelles, ouvre-t-elle un nouveau monde possible? (2005) konsequent an dem der Créolité und Créolisation vorangegangenen Begriff der Antillanité festhält. Ein entscheidender Grund für dieses Festhalten ist die Sprache und die Tatsache, dass nicht alle Antillaner Kreolen, hier im Sinne von Nachfahren europäischer Siedler, seien: »Nous désignons le langage parlé par les Antillais sous le vocable antillais et non sous l’appellation de créole, car nous ne considérons pas les Antillais au sens large comme des Créoles. Les Créoles étant une petite partie des habitants des Antilles. Ils sont des personnes d’origine européenne née aux Antilles. La langue antillaise a été bien sûr créée à partir des parlers des Créoles, mais on peut considérer qu’elle n’appartient pas à la famille des langues européennes car sa syntaxe et sa morphologie rappellent une structure africaine.« 346

Für Numa sind Kreolen »des Européens leucodermes d’origine esclavagiste et colonialiste«347: »La créolité [...] ressemble à une tentative visant à couper les Africaribéens de leurs racines et à un blanchiment de l’identité antillaise.«348 Eine solche Begrifflichkeit, so Numas Hauptargument für die Ablehnung der Créolité, basiere auf der Exklusion des afrikanischen Erbes. Er befürchtet, dass der Verzicht auf Wurzeln für die Antillaner eine Einbahnstraße offenbare: »S’ils le faisaient ils resteraient pour toujours des hommes et des femmes sans identité et sans mémoire, et Glissant luimême, continuerait de constater indéfiniment que les Antillais ont un problème d’identité […].«349 Aus diesem Grund beginnt Numas Studie auch mit der antillanischen Geschichte vor Ankunft der Europäer, mit dem Volk der Yoruba und der Ibo aus Westafrika (Golf von Benin), die wiederum Abkömmlinge ägyptischer Emigranten waren.350 Etwas sehr pathetisch spricht er den Antillanern daher ägyptisches Blut zu: »C’est ce qu’on appelle le sang hyperbolique.«351 Numa ist von einer

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Numa: 2005, 18, Herv. i.O. Ebd., 77. Ebd., 82, Herv. N.U. Ebd., 74. Vgl. ebd., 35ff. Diese Bevölkerungsbewegung zeigt, dass Afrika zu allen Zeiten ein Kontinent in Bewegung war und sogar Aufbruchsort, um in die verschiedensten Gegenden der Welt auszuziehen, vgl. dazu Mbembe: 2006, 2. 351 Numa: 2005, 29.

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»culture proprement antillaise« und einer »identité propre«352 der Karibik, die vor allem auf einem afrikanischen Erbe basiert, überzeugt. Das lässt ihn zu dem Schluss kommen: »L’Unité Africaine est déjà faite dans la conscience antillaise et aussi dans le fait biologique antillais.«353 Numas Versuch einer vorzugsweise afrikanischen Reterritorialisierung und Rekorporisierung der antillanischen Geschichte ist äußerst problematisch. Insbesondere seine biologistischen Begründungen für die Überlegenheit der ›Schwarzen‹ (wie der ›natürliche‹ Schutz vor Hautkrebs: »L’un des plus beaux cadeaux que l’Afrique a fait aux Antillais, c’est de les avoir dotés de l’abondante mélanine dont leur peau est constituée. [...] la peau noire paraît bien adaptée à l’écosystème terrestre, comme si la planète terre avait été organisée particulièrement pour la vie des personnes à peau noire«354), sein unkritisch verwendeter Rassenbegriff (»L’Antillais est avant tout une ›race psychologique‹.«355) sowie seine groben Verallgemeinerungen eines präkolonialen friedlichen, matrilinearen Afrikas (»La véritable Afrique, est celle de la Tradition, celle de l’Initiation, celle de la Spiritualité, celle du Consensus, celle de l’harmonie familiale et celle de l’harmonie avec la nature.«356 Oder: »Le matriarcat est l’un des grands traits des civilisations africaines, comme le Patriarcat est un trait caractéristique des civilisations leucodermes et sémitiques.«357) bedürfen einer differenzierten Sichtweise. Ebenso zweifelhaft scheint mir seine Behauptung, die Antillaner seien gewissermaßen die Aristokraten innerhalb der afrikanischen Diaspora, die dem selektiven Druck einer brutalen Geschichte Stand gehalten haben und dies sei »une raison supplémentaire à leur élection comme peuple modèle de l’humanité«358: »Beaucoup d’ancêtres des Antillais, étaient des Rois, des Princes et des hautes autorités traditionnelles des royaumes africains. Car ces derniers, étaient systématiquement déportés pour affaiblir les royaumes et les rendre plus vulnérables à la traite. […] Les Antillais d’aujourd’hui sont issus des meilleurs africains.«359 Numas Studie zeigt – und dies war mein Grund die Studie vorzustellen – auch das Ringen, angesichts zahlreicher konkurrierender Konzepte, um eine adäquate Epistemologie in der Karibik. Ich bevorzuge entschieden Glissants weitaus differenzierteres ›flächiges‹ Identitäts- und Kulturmodell, welches auf einem hybriden, d.h. afrikanisch-europäischasiatisch-karibischen Gedächtnis basiert, denn »[à] partir de quoi la terre antillaise ne pouvait devenir territoire, mais bien terre rhizomée«360. Um eine Identität zu besitzen und Subjekt der Geschichte zu sein, ist es nach Glissant nicht erforderlich, Teil eines Nationalstaats oder Territoriums zu sein.361 Sein Ziel ist es vielmehr, Ursprünge bzw.

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Ebd., 52f. Ebd., 53, Herv. i.O. Ebd., 135-139. Ebd., 81. Ebd., 89. Ebd., 109. Numa: 2005, 141, Herv. i.O. Ebd.. Glissant: 1990, 161. Chamoiseau unterscheidet Ort und Territorium folgendermaßen: »Der Ort ist Vielfalt, das Territorium mit Einzigartigkeiten bewehrt. Der Ort ist multi-inter-rassisch, multi-

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Zugehörigkeiten zu transzendieren und innerhalb eines konstruktivistischen imaginaire neue Identitätsräume aufzuzeigen. In einem Interview präzisiert Glissant: »C’est le besoin d’aller vers quelque chose d’impalpable qui pourrait nous libérer de toutes les horreurs identitaires, de tous les faux semblants de l’Ethnie ou de la race, de tous les enfermements de l’histoire, de tous les aveuglements nationalistes.«362 In diesem Sinne entwirft auch der haitianische Mediziner und Schriftsteller Joël Des Rosiers eine Poétique du déracinement: »A l’aube du troisième millénaire, le brouillage des identités décentrées et multiples, postmodernes et vengeresses, est accentué par la migration. Des millions de gens ne vivent pas où ils sont nés. Nous sommes des mutants culturels […].«363 In Anlehnung an Jean-François Lyotard entlarvt auch Dirk Hoerder das Konzept einer nationalen Identität als konstruiertes grand récit: »Die machtvolle, gewaltige Vereinfachung der Meistererzählung von der ›nationalen Identität‹ und der ›Nationalstaatgeschichte‹ verdeckt die longue durée Perspektive auf eine komplexe interaktive Vergangenheit, verhüllt insbesondere die Welten, die die Sklaven formten, die die Migranten aufbauten und die die Frauen erschufen.« 364

Folgen wir Édouard Glissants Überlegungen in seinem Buch Sartorius. Le roman des Batoutos (1999), so geht es ihm um ein neues notwendiges Denken des NichtDominierens. In diesem Roman, welcher um das mythisch-unsichtbare Volk der Batoutos kreist, formuliert Glissant eine Art »[…] anti-genèse, une digenèse. […] c’est une origine, mais une origine qui n’est pas essentialiste. Elle ne vous donne pas le droit de propriété sur votre terre ou sur celle des autres. Les genèses donnent le droit de conquérir. […] nous n’avons pas besoin d’un mythe mais plutôt d’un imaginaire nouveau dans notre manière de fréquenter le monde, ses divagations, ses errances et ses massacres.«365

Glissant steht damit im Kontext einer neuen Schriftstellergeneration, die in besonderer Weise von Migrations-, Reise- und Exilerfahrungen geprägt ist366 und deren Zugehörigkeiten raum- und generationsübergreifend vielfältig ausfallen. Es eröffnet

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inter-kulturell, multi-inter-sprachig, multi-inter-religiös; das Territorium pflegt nur eine Rasse, eine Kultur, eine Sprache, eine Religion. Der Ort vermischt Geschichten, das Territorium erlaubt nur eine Geschichte. Der Ort hat keine Grenzen, sondern ein Netzsystem, das sich je nach den Beziehungen und Begegnungen ausbreitet, das Territorium schafft ein Zentrum und Peripherien. Der Ort teilt und entwickelt sich nach den Zufälligkeiten des Teilens. Das Territorium zielt auf Eroberung ab, versucht zu dominieren...usw.« (Chamoiseau: 2000, 10f). Glissant: 1993, 122. Des Rosiers: 1996, XIII. Hoerder: 2005, 217. Glissant: 1999d, Herv. N.U. Abdourahman A. Waberi bezeichnet die frankophon-afrikanischen Schriftsteller, die seit den 1990er Jahren schreiben, in ähnlicher Weise als »Les Enfants de la postcolonie ou une génération transcontinentale«, vgl. Waberi: 1998.

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sich »un nouvel espace identitaire dont les frontières font éclater les cadres ordinaires«, ein dezentrierter »contre-discours identitaire«367 kommt zum Vorschein. Jacques Chevrier hat dafür in Fortführung der Négritude den Neologismus der Migritude geschaffen: »Contrairement à leurs aînés, la nouvelle génération d’écrivains africains est mue moins par la Négritude – le célèbre ›être-dans-le-monde-noir‹ – que par la ›migritude‹. Ce néologisme renvoie à la fois à la thématique de l’immigration, qui se trouve au cœur des récits africains contemporains, mais aussi au statut d’expatriés de la plupart de leurs producteurs [...].«368

An die Stelle von Herkunft und Hautfarbe ist die Dimension der Mobilität getreten. Die mit Migritude verbundenen Raum- und Bewegungsvorstellungen markieren einen deterritorialisierten Identitätsbegriff, erinnernd an Glissants einflussreiche identité-relation.

1.4 T OUT - MONDE UND T RANSOZEANITÄT : V ON DER P ERIPHERIE ZUR P ERIPHERIE Nach diesem Vergleich der oftmals analog verwendeten Konzepte lässt sich resümieren, dass es sich bei Mestizaje, Hibridación, Antillanité, Créolité, Créolisation und Transculturación trotz ähnlicher programmatischer Zielsetzung um graduell verschiedene Phänomenologien von kultureller Mischung handelt. Sowohl die historische Genese als auch die kontextuelle Einbettung sind unterschiedlich gelagert. Insgesamt fordern aber die Postulate der unterschiedlichen Hybriditäts- und Kreolisierungskonzepte auf, das Heterogene, Polyphone und Chaotische innerhalb von Identitätsprozessen anzuerkennen. Zudem wird der Diskurs über ›rassische Unreinheit‹ in produktiver und subversiver Form umgeschrieben. Lateinamerikanische Theoretiker/innen verwenden den Begriff der Hybridität schließlich auch, um Grenzen zwischen verschiedenen, vor allem visuellen Kommunikationsmedien im Kontext von Urbanisierungsprozessen aufzulösen. Zusammenfassend ist es wichtig festzuhalten, dass alle vorgestellten Konzepte gewissermaßen eine vorläufige Terminologie darstellen. Indem García Canclini beispielsweise den Begriff der hibridación dem der mestizaje vorzieht, enthistorisiert er letzteren Begriff gewissermaßen, erinnert doch die mestizische (mehr als die verdrängte ›wunderbare‹) Wirklichkeit sehr deutlich an die koloniale Vergewaltigung. Der jüngere Begriff hibridación glättet und hinterfragt dieses Erbe; in ihrer lexikalischen Bestimmung verweisen beide auf das Konzept des Bastarden in seiner biologistisch-rassistischen Verankerung und sind ähnlich vorbelastet. García Canclinis Präferenz von hibridación ist der Versuch, mestizaje als »offizielles Diktum und allein gültige Rahmenerzählung« abzulösen, eben von jenem Geschichtsnarrativ, in dem alle Lateinamerikaner »zu Bastarden des spanischen Eroberers Hernán Cortés

367 Chevrier: 2004, 99. 368 Chevrier: 2004, 96.

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und seiner indianischen Dolmetscherin La Malinche«369 erklärt wurden. Die Mittlergestalt der Malinche steht für zweierlei: Einerseits für die traumatische Gewalterfahrung, die der indigenen Bevölkerung zugefügt wurde und andererseits für den Verrat der indigenen Frau durch das Bündnis mit dem Eroberer, was zur Folge hat, dass die Mestizen ihre ›indianische‹ Mutter und damit indirekt sich selbst als »hijos de la chingada«370 verachten. Zudem ist mestizaje historisch mit einem homogenisierenden Verständnis von Nation bzw. von Latinoamericanidad verbunden. Die Kritik von Seiten indigenistischer Standpunkte bescheinigt jedoch beiden Begriffen (sowohl mestizaje als auch hibridación) – und in diesem Punkt treffen sie sich wieder – einen starken Hang zur Synthese, die heterogene Positionen, eben jene der indigenen Bevölkerung, marginalisiert und letztlich zum Verschwinden bringt. So wendet die haïtianische Schriftstellerin Yanick Lahens ein: »le métissage dans le contexte latinoaméricain hispanophone en particulier a toujours été une idéologie de blanchissement de la race.«371 Es ist anzuerkennen, dass die wissenschaftlich motivierte Neubewertung des Wortes Hybridität und seine subversiv-metaphorische Bedeutung der Entscheidung einer Anzahl Intellektueller geschuldet ist, die gerade die Marginalisierungen und Durchdringungen kultureller Praktiken betonen. Gleichzeitig wird damit die Utopie angezweifelt, »that cultural practices can return to some ›pure‹ and unsullied cultural condition«372. Hybridisierungskonzepte stehen konträr zu kulturessentialistischen Standpunkten und zu einer »alternative authenticity«373. Im Kontext von Hybriditätstheorien unterliegen Kulturen dauernder und multipler Transformationen. Für den Schriftsteller Ilja Trojanow ist »authentisch eigentlich nichts anderes als Hybridität, die vergessen wurde«374. Für die Verwendung des Begriffs Hybridität spricht zudem seine Exterritorialisierung: Referierte Bhabha mit seiner Theorie zunächst primär auf die indische Diasporaliteratur, so wird der Begriff mittlerweile »auf alle möglichen (farbigen) Subjekte ausgeweitet«375. Sowohl das kolonisierte ›Mutterland‹ als auch die Diaspora- und Migrantengemeinden in den westlichen Metropolen können im Zentrum postkolonia-

369 Gómez-Peña: 2003. 370 Paz: 1993, 90. Nicht selten werden diese ›Wesenszüge‹, die Schande der Eroberung, als charakteristisch für die lateinamerikanische Kultur (exemplarisch in Octavio Paz’ El laberinto de la soledad, 1950) dargestellt. Marisol Martín del Campo verteidigt in Amor y conquista (1999) die indianischen Geliebten der Spanier, allen voran die Malinche, gegen den Vorwurf des Verrats. Gerade die nueva novela histórica und die feministische Literaturwissenschaft hat eine reescritura der Rolle der Frauen innerhalb der Conquista dahingehend vorangetrieben, diese Frauen als Symbolfiguren kultureller Offenheit und Beweglichkeit zu deuten. Barbara Dröscher und Carlos Rincón haben mit ihrem Buch La Malinche – Übersetzung, Interkulturalität und Geschlecht (2001) weniger ihren angeblichen Verrat, als ihre Leistung als Kulturübersetzerin ins Licht gerückt. 371 Ette/Lahens: 2002, 230. 372 Ashcroft u.a.: 1989, 41-42. 373 Ebd., 41. 374 Trojanow: 2007, 14. 375 Fludernik/Nandi: o. J., 11.

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ler Analysen stehen. Bhabhas Verweis auf einen Third space und eine potentielle Location of culture in der Lücke zwischen den Dichotomien bleibt zu statisch, denn die Location of culture is always on the move, um es plakativ zu sagen. Der von dem Kubaner Fernando Ortiz geprägte Begriff der transculturación ist m.E. die beweglichere Denkfigur,376 denn sie ermöglicht eine Reflexion ›quer‹ durch unterschiedlichste Räume. Mir scheint der Begriff der Transkulturation im Sinne der Transformierung, Karnevalisierung, Parodierung dominanter Kulturmodelle insgesamt besser geeignet, um Prozesse zu beschreiben, welche die herrschende Kultur unterlaufen. Ortiz verwies schon 1940 auf die Möglichkeiten einer Neokulturation durch kreative Transkulturation: »Entendemos que el vocablo transculturación expresa mejor las diferentes fases del proceso transitivo de una cultura a otra, porque éste no consiste solamente en adquirir una distinta cultura, que es lo que en rigor indica la voz anglo-americana acculturation, sino que el proceso implica también necesariamente la pérdida o desarraigo de una cultura precedente, lo que pudiera decirse una parcial desculturación, y, además, significa la consiguiente creación de nuevos fenómenos culturales que pudieran denominarse de neoculturación.«377

Das Präfix trans markiert die Beidseitigkeit des kulturellen Prozesses, in dem sich sowohl die dominante als auch die dominierte Kultur verändern. Dieses TransMigratorische ist kein harmonischer, sondern ein hochkomplexer und spannungsvoller Prozess. In der langen Abfolge kulturtheoretischer Entwürfe des 20. Jahrhunderts, die speziell aus Kuba kommen, ist Ortiz’ Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar nur ein prominentes Beispiel.378 Ihm vorangegangen war José Martís Essay Nuestra América (1891) und in der Folge entstanden weitere wichtige Werke wie José Enrique Rodós Ariel (1900)379 oder Roberto Fernández Retamars Überlegungen Calibán y otros ensayos. Nuestra América y el mundo (1971)380.

376 Nicht zufällig erlebt dieser Begriff derzeit eine Art Renaissance. Für den deutschsprachigen Raum verweise ich exemplarisch auf Welsch (1997, 2002) für den anglophonen Raum exemplarisch auf den Aufsatz »Transcultural states, nations, and people« von Dirk Hoerder (2003), philologienübergreifend vgl. den Band Transkulturelle Begegnungen (2007), hg. von Sandten/Schrader-Kniffki/Starck. 377 Ortiz: 1978, 96, Herv. i.O. 378 Merkwürdigerweise unterlaufen zwei zentrale Texte von Ortiz (La africanía de la música folklórica de Cuba, 1950 und Los bailes y el teatro de los negros en el folklore de Cuba, 1951) seine Theorie der Transkulturation. Seiner dort geäußerte These, dass in Kuba alle von außen eindringenden Kulturelemente ihrer ursprünglichen Identität verlustig gehen, um in einer neuen, letztlich nationalen Kultur aufzugehen, wiederspricht er in seinen ethnographischen Texten, denn hier zählt weniger die vermischte Tradition der kubanischen ›Schwarzen‹ als jene – ›reine‹ – der Afrikaner selbst, vgl. Lienhard: 2001, 401-403. 379 In Ariel bewegt Lateinamerika sich zwischen zwei Welten: auf der einen Seite die klassische Welt, repräsentiert von der europäischen Kultur, welche in Verbindung mit Lateinamerika steht und auf der anderen Seite die nordamerikanische, pragmatischmaterialistische Kultur. Der später konstruierte Arielismo unterscheidet zwischen dem zweckgerichteten Handeln der Vereinigten Staaten, das als Caliban bezeichnet wird, und

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Der Frage nach einer pankaribischen Kultur, einer Caribbeanness, geht in innovativer Weise auch der vorgestellte kubanische Intellektuelle Antonio Benítez Rojo in seinem Essay La isla que se repite. El Caribe y la perspectiva posmoderna (1989) nach. Seinem Kultur- und Geschichtsmodell der Karibik liegt im Gegensatz zur sozialistischen Politik Kubas und deren Propagierung eines homogenen Kulturbegriffs, die in den Naturwissenschaften entstandene Chaosforschung, Erkenntnisse der kubanischen Musikologie und Anthropologie sowie des französischen Poststrukturalismus zu Grunde. Er stellt die Karibik als Land der azentrischen Strukturen dar: »en la cultura del Caribe la cosa en sí es el Viaje«381. Dynamische Hybridisierungsprozesse lassen sich, so Benítez Rojo, nicht auf einen Ursprung, einen Kern oder ein wesentliches Prinzip zurückführen. Stattdessen erfasst er die Geschichte der Karibik entlang zentraler Begriffe wie Plantage, Chaos, Polyrhythmus und Karneval. Die Plantage ist Inbegriff der sich immer wiederholenden Bewegung der Plantagenökonomie. Wiederholung wird aber nicht als ständige Produktion einer exakten Kopie verstanden. Vielmehr ähnelt sie einem kontinuierlichen und unendlichen Faltungsund Verzweigungsprozess. Chaos und Periodizität wechseln sich kontinuierlich ab, doch bei jeder Wiederholung verändert sich etwas und das Geschehen ist nicht reversibel. Benítez Rojos Idee der »sich wiederholenden Insel« steht im Kontext von Deleuzes früher Studie Differenz und Wiederholung, in der Deleuze Kritik an einer Vorstellung von einem originalen ›So-Seienden‹ übt, nach der die Wiederholung nur eine Art Kopie sein kann.382 Deleuze deutet Wiederholung vielmehr »als spezifische Macht der Differenz«383, als dynamischen Prozess, der über das ›So-Seiende‹ hinausgeht. »A l’Être qui se pose, montrant l’étant qui s’appose«384, so knüpft Glissant an Deleuze an. Die Anleihen aus der Chaostheorie dienen Benítez Rojo dazu, die allem Karibischen zu Grunde liegende Struktur der sugar islands (und speziell für Kuba auch die des Tabaks) zu illustrieren. Gerade die Tabakherstellung steht im Kontext einer nischenartigen cultura criolla, die Differenz signalisiert. Insgesamt zeigt sich, dass die Herausbildung einer kreolischen Kultur der dekulturierenden Zucker-Plantagenwirtschaft zuwider lief.

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dem idealistischem Süden Ariels. Rodós Ariel hingegen entwirft keinen absoluten, sondern einen dialektischen Gegensatz, denn »der Utilitarismus Calibans kann […] den Boden bereiten für Ariels Idealismus und Kultur« (Ette: 1994b, 225). Fernández Retamars Text wurde 1971 als Buch veröffentlicht, stammt jedoch aus dem Jahre 1969. Fredric Jameson sorgte nach 20 Jahren, 1991, in den Vereinigten Staaten für eine stark rezipierte Neuauflage dieses Werkes. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass in ein und demselben Jahr, 1969, der frankophone Teil der Karibik (durch Aimé Césaire), der anglophone (durch Kamau Brathwaite) und der spanische (durch Fernández Retamar) Caliban als lateinamerikanische und karibische Metapher in drei Sprachen neu gelesen haben. Benítez Rojo: 1989, 285. Vgl. Sieber: 2005, 137f. Deleuze: 1992, 372. Glissant: 1997b, 21.

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Neben dem Plantagensystem hebt Benítez Rojo als zweites Charakteristikum der Karibik ihren rhizomatischen »polirritmo«385 hervor. Er markiert damit einen Wissensdiskurs jenseits von Linearität, Kohärenz und Kausalität, der Globalisierungsgeschichte postkolonial umzuschreiben vermag. Benítez Rojo verfolgt dieses Ziel über die (Wieder-)Einschreibung marginalisierter Kulturtechniken wie Rhythmus, Gesang und Tanz. Rhythmus ist durchaus im materialistischen Sinne zu verstehen, wie Schwieger Hiepko betont: »Der Rhythmus der Zuckerrohrmühle, der Machete, der Peitsche des Aufsehers, der Sprache des Plantagenbesitzers, von Musik und Tanz der verschiedenen Einwanderer, sie alle bilden eine Symbiose vormals separater Elemente.«386 Rhythmus ist ein Werkzeug zur Unterstützung des Gedächtnisses. Benítez Rojo zeige auf, so Sieber, »[…] wie sehr Denken und Sichtweisen der karibischen Kultur durch diese Taktverläufe und Taktwechsel geprägt sind, die sich dem westlichen Denken und seiner Machtinstrumente Sprache und Schrift völlig entziehen. Man kann einen Polyrhythmus nicht in das Korsett einer Notenschrift zwängen.«387 Neben der depravierenden Funktion der Plantage betont Benítez Rojo ihre hohe Produktivität, mit der sie paradoxerweise durch die Destruktion verschiedenster Kulturen die Grundlage für die Créolisation gelegt hat, eine Kreolisierung, die zunehmend als globales Kulturmodell antizipiert wird. Ottmar Ette greift Benítez Rojos Charakteristik der Karibik als »un meta-archipiélago cultural sin centro y sin límites, un caos dentro del cual hay una isla que se repite incesantemente«388 auf und schlägt vor, aufgrund der Vielverbundenheit des karibischen Raumes von einer »gleichzeitigen Entgrenzung und Grenzvervielfachung«389 zu sprechen: »Denn längst wird die kubanische Literatur nicht mehr ›nur‹ auf Spanisch, die haitianische Literatur nicht mehr ›nur‹ auf Französisch oder français créole geschrieben. Die in den USA, aber auch andernorts geschriebene kubanische Literatur bedient sich ebenso mehrerer Sprachen wie die haitianische Literatur, die mit Kanada eine überaus produktive kontinentalamerikanische Gegenküste gefunden hat.«390

Die fragwürdige Aufspaltung in eine inner und outer community sowie einer insularen und einer kontinentalen Literatur betrifft nicht nur Kuba, auch Puerto Rico ist mit mehr als 40 % aller Puertoricaner in den Vereinigten Staaten ein weiteres Beispiel einer fragmentierten Nation.391 Diese Multirelationalität steht auch im Zentrum von

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Benítez Rojo: 1989, xxii-xxix. Schwieger Hiepko: 2009, 18. Sieber: 2005, 179. Benítez Rojo: 1989, xiii. Ette: 2005b, 173. Ebd., 173. Vgl. Gewecke: 1998a, 122. Ein literarisches Pendant zu Andradis oder Nuez’ Motiv des Floßes ist Luis Rafael Sánchez’ Text La guagua aérea (1994) – übersetzt etwa »Der fliegende Omnibus« –, in dem der Luftraum zwischen San Juan (Puerto Rico) und New York zum Raum der Begegnung, zur Kontaktzone über nationale Grenzen hinaus und zum Refugium oraler Kommunikation wird. Herlinghaus sieht darin eine Existenzweise, die sich »in Räumen einer zur Normalität gewordenen Entwurzelung« (1999, 37) vollzieht.

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Gustavo Pérez Firmats Buch Life on the hyphen. The cuban-american way (1994), welches die Latinisierung der us-amerikanischen Pop-Kultur zum Thema hat, wobei es sich in besonderer Weise der one-and-a-half-generation (Rubén Rumbaut) annimmt. Gemeint sind damit Menschen, die ihr Ursprungsland noch in sich aufgenommen haben, aber noch jung genug sind, um in den neuen Kulturräumen Fuß zu fassen. Besonders erwähnenswert unter den neueren Studien ist Iván de la Nuez’ Essay La balsa perpetua. Soledad y conexiones de la cultura cubana (1998), in dem er die Metapher des treibenden Floßes, konkret die Tragödie der balseros zum Anlass nimmt, um Konzepte wie diasporización und transterritorialidad für den karibischen Raum in Anschlag zu bringen.392 Das Floß ist bei Nuez das metaphorische Gegenstück zum Schiff, welches 500 Jahre zuvor das Zeitalter der Entdeckungen und Enteignungen eingeleitet hat. Der Bootsflüchtling ist für ihn ein »viajero que va hacia la nada y cuyas mayores probabilidades no apuntan a la flotación sino al hundimiento«393, wobei er immer wieder um die bereits von Adorno aufgeworfene Frage kreist, ob es möglich und zulässig sei, eine Tragödie zu ästhetisieren. In Fortführung von José Enrique Rodó und Roberto Fernández Retamar verwendet Nuez für sein transterritoriales Kulturkonzept die drei paradigmatischen Shakespeare’schen Figuren aus The Tempest, Prospero, Caliban und Ariel, als mythisch-geographische Allegorien.394 Caliban ist hier der exemplarische Rebell, die Verkörperung kubanischer, insgesamt lateinamerikanischer Identität, stets gezwungen, sich zwischen Prospero und Ariel zu entscheiden: »Como un Calibán – el arquetipo de la barbarie –, escogiendo siempre entre Próspero, el pragmático Estados Unidos y el espiritual Ariel, el maestro de la alta cultura europea. [...] entre Próspero y Ariel, entre el pragmatismo y la espiritualidad, entre la cultura de masas y la ›alta cultura‹, entre el surrealismo y el pop, entre el kitsch europeo del gusto oligárquico de los 30 y el kitsch americano de la cultura de clase media en los 50.«395

392 Nuez: 1998, 27ff. 393 Ebd., 163. 394 Eine anders gelagerte Einteilung nimmt Lüsebrink vor, wenn er diese drei Personen als Allegorien literaturgeschichtlicher Entwicklungsstufen, eben als Phasen der antillanischen Literaturgeschichte repräsentiert. Zunächst ist da »le regard de Prospero«, später folgt »l’assimilation et l’imitation des modèles européens« (Ariel) bis hin zur »négritude, indigénisme, révolte« (Caliban) und schließlich die »créolité« , vgl. Lüsebrink: 2000, 229ff. In Sylvie Kandés Band Discours sur le métissage, identités métisses: en quête d’Ariel (1999) wird Ariel als Ausgangsfigur im Césaire’schen Sinne genutzt (der sie in Une tempête als mulâtre générique markiert), um Fragen der kulturellen Vermischung zu diskutieren: »cet esprit aérien, doué de pouvoirs magiques, largement soporifiques d’ailleurs, tout entier dévoué au service de Prospéro – devient, sous la plume caustique de Césaire, ›ethniquement un mulâtre‹« (Kandé: 1999, 22f). 395 Nuez: 1998, 26.

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Nuez kritisiert an diesen Zuschreibungen, dass die Figuren wie Archetypen des Pragmatismus, der Rebellion und der Spiritualität daherkommen. Damit greift er die herkömmliche Interpretation von Shakespeares Stück als Basis des kulturellen Diskurses der lateinamerikanischen Linken vehement an: »Pilares irrecusables de un discurso binario e invariable: nosotros – los otros; colonización – independencia; centro – periferia; norte – sur.«396 Die Caliban-Figur wird von Nuez hingegen nicht bloß vom Wilden zum Revolutionär umgedeutet (wie wir es bereits kennen) – ein Revolutionär, der die Insel verteidigt (Socialismo o Muerte) –, sondern als eine dynamische, reisende bzw. flüchtende Figur gelesen, die die Vergeblichkeit ihres Kampfes einsieht, und die sich aus Gründen der Verbannung und des Überlebens über das Meer bewegt, um Raum zum Manövrieren zu haben.397 Das Meer liefert uns eine Hermeneutik »del exilio como espacio de destierro y, a la vez, como ámbito de transgresión«398. Wobei die Metapher des Meeres im karibischen Raum immer auch auf die Middle Passage verweist – »el mar es un recuerdo olvidado«399. Ästhetische Verarbeitungen dieser Erfahrung von Globalisierung nennt Nuez »el éxodo como poética«400: »Dominados por La Revolución, La República, La Patria, El Exilio o La Causa, los cubanos hemos vivido hasta la saturación demandados por los grandes problemas (los problemas con mayúscula). Es decir, se ha vivido de frente a la historia. Desde su transterritorialidad, los cubanos tienen ahora la posibilidad de vivir de frente a la geografía.«401

Und weiter: »Es la quiebra de la opción entre los extremos cubanos (Patria o Muerte) para entrar sin lo uno, ni lo otro, a jugarse el destino de las nuevas formas culturales en este fin de milenio.«402 Durch Nuez’ ästhetische Idee die Kehrseite der Geschichte des Inselbewohners Caliban, »el envés de la trama«403, also Flucht, Exodus, Reise und Verbannung (el destierro) anstelle des Ausharrens in den Vordergrund zu stellen, geraten die Peripherien der Moderne in Bewegung und die »dictadura de la historia [se desestabiliza] sobre la geografía«404. Eine »moralidad posmoderna«405, in der alles zum Objekt der Ästhetisierung, zur Theoriemetapher, werden kann, ist die Fol-

396 Ebd., 77. 397 Vgl. Nuez: 1998, 33. Christina Wegener (2011) dokumentiert in »La construcción de la figura de Calibán« den Wechsel von einer ideologischen Widerstandsfigur zur DiasporaFigur. 398 Nuez: 1998, 163 399 Benítez Rojo: 1989, xiv. Gisela Febel deutet das Meer in der Poesie von Saint-John Perse ebenfalls in vielfältiger Weise als »témoin et destinataire«, »mémoire coloniale«, »agent«, »espace de liberté et d’action et le nomadisme«, »matrice de la créolité et de l’humanisme universel de la créolisation« (Febel: 2005, 211-220). 400 Nuez: 1998, 157. 401 Ebd., 29, Herv. i.O. 402 Ebd., 33. 403 Ebd., 28, Herv. i.O. 404 Lyotard zit. n.: Nuez: 1998, 29. 405 Nuez: 1998, 30.

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ge. Der Abschied von den großen Meistererzählungen und totalisierenden Gesellschaftstheorien in der Tradition von Hegel und Marx geht mit dem Verlust eines einst hoffnungsvollen Horizontes einher. Das Motiv einer existence errante, die zur Transkulturation zwingt bzw. ermutigt, wird stattdessen zur prägenden conditio humana.406 Nationalität und Identität wird hier als Transiterfahrung erlebt. So nimmt es nicht wunder, dass aktuell »[a]nstelle von postkolonialen Identitäten« bevorzugt »von diasporischen Formationen«407 gesprochen wird. Diasporen lassen sich ebenso wie Nationalstaaten als »vorgestellte Gemeinschaften«408 begreifen, nur mit dem Unterschied, dass sie nicht länger territorial definiert sind. Anstelle einer Betonung auf eine potentielle Rückkehr gilt es die diasporische Bedingtheit anzunehmen und als Ausgangspunkt einer gesellschaftlichen Einflussnahme zu sehen. Von der negativen Erfahrung der meist unfreiwilligen Existenz in der Fremde aufgrund von Vertreibung und Emigration entwickelte sich der Begriff der Diaspora zu einem positiv besetzten Konzept mit utopischem und produktivem Verweischarakter.409 Ludwig nennt dies die Wende von der »Exil-Nostalgie hin zum kreativen Umgang mit historischer Trennung und Migration«410. Ruth Mayer hebt in ihrer kritischen Begriffsbestimmung zur Diaspora (2005) hervor, dass es immer wieder ›Wasserwelten‹ seien – Ozeane, Küstengebiete und Hafenstädte –, die sich als besonders attraktiv für diasporische Gemeinschaften erweisen;411 ein privilegierter Referenzpunkt auch für meine literarischen Analysen. Daniel Maximin spricht in seinem Essayband Les Fruits du cyclone. Une géopoétique de la Caraïbe (2006) von den Antillen als »ailes amerries«, »édifiant toute genèse sur des débris de mémoire arrachés aux exodes«412. Der britische Soziologe und Kulturwissenschaftler Paul Gilroy hat dafür den Chronotopos des Black Atlantic geprägt, der mehrfach in der Geschichte zum Verkehrsweg der schwarzen Diaspora wurde, von der Middle Passage des Sklavenhandels zu den Migrationen des 20. und 21. Jahrhunderts.413 Das Konzept bezeichnet die bis heute nachwirkende Verände-

406 Die argentinische Autorin Esther Andradi nimmt in ihrer Sammlung poetischer Miniaturen Sobre Vivientes (2001) ein ähnliches Bild wie Iván de la Nuez auf: eine weibliche Reisende, eine Nomadin, gebiert darin ein Floß, um sich in der Wüste – Symbol der Fremde – zu orientieren. Grenzen sollen nicht mehr überschritten werden, um Kriege zu führen und ein Imperium zu gründen, sondern um sich mit dem Anderen zu mischen, vgl. Andradi: 2001, 78. 407 Mayer: 2005, 7. 408 Anderson: 1998. 409 Vgl. Mayer: 2005, 12. 410 Ludwig: 2008, 61. 411 Vgl. Mayer: 2005, 22. 412 Maximin: 2006,13. 413 Neben dem transatlantischen Sklavenhandel mahnen Malek Chebel (L’esclavage en terre d’islam. Un tabou bien gardé, 2007) und Tidiane N’Diaye (Le Génocide voilée, 2008) an den arabisch-islamischen Sklavenhandel von Afrikanern: »Alors que la traite transatlantique a duré quatre siècles, c’est pendant treize siècles sans interruption que les Arabes ont razzié l’Afrique subsaharienne. La plupart des millions d’hommes qu’ils ont déportés ont disparu du fait des traitements inhumains et de la castration généralisée« (N’Diaye:

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rung der Zusammensetzung der Weltbevölkerung, die sich aus dem transatlantischen Dreieckshandel und der erzwungenen Massenmigration vornehmlich afrikanischer Menschen herleitet. Der Begriff impliziert eine transnationale und transkulturelle Perspektive auf rund fünf Jahrhunderte ökonomisch, politisch und kulturelle motivierter Bewegungen über den Atlantik. Der Black Atlantic steht als Ort für gespeicherte Deportations- und Migrationsbewegungen, als Bild für Überleben und Tod und als Bild für das Überwinden der Strukturen des Nationalstaates und der Schranken von Ethnizität; als ein imaginierter kultureller Raum des Dazwischen, in dem Afrika als ein Bezugspunkt unter anderen für das dynamische und dezentrale Netzwerk ›schwarzer‹ Beziehungen kreuz und quer über den Atlantik fungiert. Der Atlantik repräsentiert hier einen plurikulturellen Interaktionsraum. Identität definiert sich als Prozess, der sich eher über routes als über das Homonym roots fassen lässt.414 Die Geschichte des Black Atlantic, »der ständig durch die Bewegungen schwarzer Menschen durchzogen wird – nicht nur als Waren, sondern auch als Beteiligte an allen möglichen Kämpfen für Emanzipation, Autonomie und Staatsbürgerschaft«415, lässt sich als alternativer Geschichtsentwurf und Globalisierungsdiskurs lesen. Das Konzept des Black Atlantic repräsentiere eine »Counterculture of Modernity«416. Deshalb schlägt Gilroy vor, die Gegenkultur des Black Atlantic als philosophischen Diskurs aufzufassen, der die Moderne re-interpretiere und ihre Geschichte aus der Perspektive derer erzählt, die in den nationalen Narrativen mit ihren weißen Helden stets abwesend waren.417 Modernität ist demnach nichts Unschuldiges, im Gegenteil: Der Schrecken der Sklaverei ist der Anfangspunkt der Moderne und diese Überlegung verlangt nach einer vielschichtigen ›anderen‹ Modernität. Die überseeische Expansion ist kein Randphänomen der Geschichte Europas, sondern einer ihrer wesensbestimmenden Prozesse. Sklaverei und die Zivilisation des Westens sind für den Historiker Jürgen Osterhammel aufs Engste miteinander verknüpft: »In der atlantischen Welt des 16. bis 19. Jahrhunderts entstand in einem diskontinuierlichen und wider-

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2008, 10). Er fordert, dass der arabische Sklavenhandel innerhalb Afrikas vergleichbar wahrgenommen und verurteilt wird wie der transatlantische Sklavenhandel, denn, so N’Diaye, für das subsaharische Afrika sei er noch verheerender gewesen. Insbesondere durch die beabsichtigte ethnische Auslöschung der versklavten Afrikaner durch umfangreiche Kastrationen (ebd., 187ff) unterscheidet sich dieser jahrhundertlange Genozid von dem transatlantischen Skavenhandel. Die planmäßige Auslöschung erschwert eine nachträgliche Spurensuche. Einer der Einwände gegen Gilroys Black Atlantic ist, dass er Afrika als Kontinent negiere und der Chronotopos des Black Atlantic darauf abziele, Afrika zu ›karibisieren‹, vgl. Piper: 2004 und Hensel: 2007. Gilroy: 1993, 16. Ebd., 1. Ferner Sérgio Costas Studie Vom Nordatlantik zum ›Black Atlantic‹. Postkoloniale Konfigurationen und Paradoxien transnationaler Politik (2007, 129). Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch Ian Baucoms Untersuchung Specters of the Atlantic. Finance Capital, Slavery, and the Philosophy of History (2005). Vgl. Costa: 2007, 131.

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sprüchlichen Prozess die westliche Moderne.«418 Die von Kolonialismus und Sklavenhandel geprägte Ökonomie bildete somit eine zentrale Voraussetzung für die Kapitalakkumulation Europas. Die neuzeitlichen Sklavenplantagen waren »Produkte eines gigantischen social engineering«, sie waren das trikontinentale »Ergebnis zielstrebiger Projektemacherei, eines traditionslosen Kombinationsexperiments, bei dem Amerika den Produktionsfaktor Boden, Europa Startkapital und Organisationsmacht und Afrika die Arbeitskräfte bereitstellte«419. Auch der Journalist Clemens Höges hält fest: »Die geraubten Reichtümer Amerikas bescherten Europa nach Columbus eine ungeheure Blüte, durch ihn begann ein europäisches Zeitalter.«420 Das Sklavenschiff ist im Kontext der neu entstehenden Sklavengesellschaften im Westatlantik eines der wesentlichen Chronotopoi in der Geschichte der afrikanischen Diaspora. Die Bedeutung des Atlantiks misst sich dabei u.a. an den über Bord geworfenen, mit Sklavenkugeln beschwerten Afrikanern und Afrikanerinnen. Die Verbindungen, welche durch die passage du milieu gewaltsam geschaffen wurden, lassen sich, wie wir in Glissants Roman Mahagony lesen können, an den »signes de piste sous-marine, de la Côte-d’Or aux îles Sous-le-Vent«421 ablesen: »[C]es bas-fonds, ces profonds, ponctués de boulets qui rouillent à peine«422 stehen metaphorisch für das Verbrechen der Sklaverei und fungieren wie ein unsichtbares Mahnmal; das Meer legt gewissermaßen Zeugenschaft ab, denn über das Meer sind Täter und Opfer, Kolonisatoren und Sklaven, gekommen. Nicht zufällig hat Glissant folgende Zitate von zwei karibischen Schriftstellern epigraphisch seiner Poétique de la Relation vorangestellt: Sea is History von Derek Walcott und The unity is submarine von Edward Kamau Brathwaite. Außerdem initiierte Glissant zu Beginn des 21. Jahrhunderts ein radikal lebensnahes Projekt, das nicht nur die Essentialisierungsgefahr der Créolité unterläuft, sondern auch den karibischen Raum Richtung einer transozeanischen Tout-monde weiter denkt: Les peuples de l’eau. Zwölf Schriftsteller und Journalisten nahmen jeweils an einer von zwölf Expeditionen zu acht Völkern teil; Völker, die nur vom Wasser aus erreichbar sind, da sie auf abgeschiedenen Inseln, an Flussufern oder an Küsten le-

418 Osterhammel: 2000, 24. Auch Béatrice Ziegler verweist darauf, dass Sklaverei ein integraler Bestandteil der Moderne sei. Sie kritisiert Ulrich Becks »Container«-Moderne als zu kurzschlüssig, da er den ›transnationalen Arbeitsmarkt‹, die Sklaverei, nicht mitbedenkt, vgl. Ziegler: 2009, 149. Osterhammel beschreibe in der Tradition von David Brion Davis und Orlando Patterson Sklaverei als ein intellektuelles Problem des Westens und räumlich als eine vornationale und translokale »atlantische Sphäre« (vgl. Zeuske: 2006, 22). 419 Osterhammel: 2000, 28. Im Gegensatz zur gängigen Historiographie rücken auch die usamerikanischen Historiker Peter Linebaugh und Marcus Rediker in ihrer Studie Die vielköpfige Hydra. Die verborgene Geschichte des revolutionären Atlantiks (2008) die untergründige Geschichte der atlantischen Kolonisation in den Mittelpunkt ihrer Darstellung. Achille Mbembe wertet die ›Plantage‹, die ›Fabrik‹ und die ›Kolonie‹ als maßgebliche Laboratorien unserer heutigen Welt (vgl. Mbembe: 2008, 8). 420 Höges: 2009, 55. 421 Glissant: 1997f, 166. 422 Ebd.

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ben, also »Völker am Wasser«.423 Ihre literarischen und essayistischen Zeugnisse sind transkulturelle Reiseberichte par excellence. Sie inszenieren ein transozeanisches Kulturmodell, das auch die bisher unterrepräsentierte Pazifikregion mit einschließt. Eine solch transozeanische Dimension postuliert auch der aus Fidschi stammende und 2010 verstorbene Kulturtheoretiker Epeli Hau’ofa. Er nimmt die Ideen Glissants auf und plädiert für einen Paradigmenwechsel in der Sichtweise des Pazifiks, in dem er die relationale Dimension eines transozeanischen Raumes denkt. Er propagiert als neues Paradigma einen »sea of islands«, im Gegensatz zu einer Vision von »islands in a far sea«: »Continental men, namely Europeans, on entering the pacific after crossing huge expanses of ocean, introduced the view of ›islands in a far sea‹. From this perspective the islands are tiny, isolated doors in a vast ocean. Later on, continental men – Europeans and Americans – drew imaginary lines across the sea, making the colonial boundaries that confined ocean peoples to tiny spaces for the first time. These boundaries today define the island states and territories of the Pacific.«424

In seinem Manifest We are the Ocean (2008) plädiert Hau’ofa dafür, den Ozean als bedeutungsvollen Kulturraum neu einzufordern. Dieser Appell führt die Überlegungen von Gilroys Black Atlantic, Nuez’ Balsa perpetua oder Glissants Traité du Toutmonde konsequent weiter. Der argentinische Philosoph Enrique Dussel spricht von einer transversalen »wechselseitige[n] Befreiung der postkolonialen Kulturen der Welt«425, die »von einem anderen Ort ausgehen [muss] als von einem bloßen Dialog zwischen Gelehrten der akademischen oder institutionell herrschenden Welt«426 . »Transversal bezeichnet hier eine Bewegung, die von der Peripherie zur Peripherie geht. Von der feministischen Bewegung zu den antirassistischen und antikolonialistischen Kämpfen. […] Häufig haben die großen Megastädte U-Bahnen, die von den suburbanen Stadtvierteln ins Zentrum führen; aber es fehlt eine Verbindung der suburbanen Subzentren untereinander.«427

Die Einsicht, Identität von den Erfahrungen der Migration und der Exteriotität aus zu denken, zielt darauf das allgemein Menschliche im Kontext von Marginalität, Unterdrückung einerseits und Bewegung, Verwandlung und Mischung andererseits zu sehen. Dass ein solches Leben unter Umständen durchaus vorteilhafter sein kann – entgegen dem zumeist negativ konnotierten Konzept von Diaspora – steht bei Hall, Gilroy, Nuez, Glissant, Dussel u.a. gegen die einseitige Sichtweise von Versklavung,

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Konkreter dazu vgl. Müller/Ueckmann: 2013, 27. Hau’ofa: 2008, 22. Dussel: 2013, 164. Ebd., 168, Herv. i.O. Ebd. Vertiefend zu Dussels lateinamerikanischer Antwort auf Kolonialität, neoliberaler Globalisierung und Krieg vgl. Maldonado-Torres (2008).

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Exil und Verbannung.428 Auch Walter Mignolo sieht die Erfahrung von Exil, Migration und Diaspora mit der Möglichkeit verbunden ein »doppeltes Bewusstsein«, und »Grenzdenken« zu forcieren. Er postuliert die »location-in-mouvement« in Abgrenzung zur »location-in-land«429: »Exiles ›have‹ to leave the territory where they belonged and, consequently, are located in a particular kind of subaltern position, and that subaltern position creates the conditions for double consciousness and border thinking.«430 Alle hier vorgestellten Konzepte dienen mir als theoretische Hintergrundfolie und zum Verständnis, um die neu sich herausbildenden vielstimmigen kulturellen Konfigurationen zu begreifen, mit denen wir durch zunehmende kulturelle, soziale, ökonomische und technologische Verflechtungen in unserer Welt konfrontiert sind. Transnationale- und kontinentale Verbindungen sowie transdiasporische und transkulturelle Praktiken könnten ein von Hegemonie und Asymmetrie geprägtes Verständnis der Welt von Grund auf verändern. Kreolisierung und Hybridisierung könnten eine Art Lebens- und Zukunftsentwurf darstellen, welcher der Homogenisierung der Welt nach westlichem Vorbild entgegenwirkt. M.E. entwickeln wir uns auf ein Kulturkonzept hin, das transnationale Grenzgebiete ohne Zentrum vorsieht, also Gebiete, die nur mehr aus Rändern bestehen. Ein konkretes Beispiel soll diesen Teil abrunden: Néstor García Canclini bezeichnet Tijuana, diese an der Grenze zwischen den USA und Mexiko gelegene Stadt, als »uno de los mayores laboratorios de la posmodernidad«431 und der Chicano-Performance-Künstler Guillermo Gómez-Peña, der als Grenzgänger zwischen Mexiko und den USA lebt, schlug sie sogar als »capital of the World Culture«432 für 2006 vor. An dieser überdeterminierten Grenze treffen, wie Anja Bandau betont, in besonderer Weise Anglo- und Hispanoamerika, ›Erste und Dritte Welt‹, High Tech und indianische Rituale aufeinander.433 Gómez-Peña zufolge avanciert die Mischkultur zur dominanten Kultur und die Monokultur zur Minderheit (»mono-racial minorities«434), permanente bordercrossings bilden den Normalzustand: »My vision of the hybrid is crossracial, polylinguistic, and multicontextual.«435 Als Alternative zur neokolonialen Dichotomie von ›Erster‹ und ›Dritter Welt‹ schlägt er den Begriff der »Fourth World« vor.436 Gemeint ist damit »Amerindia, Afroamerica, Americamestiza-y-mulata, Hybridamerica, and Transamerica – the ›other‹ America that belongs to the homeless, and to nomads, migrants, and exiles«437. In einem Essay anlässlich des Berliner Mexartes-Festivals plädiert er für neue Kulturmodelle:

428 Vgl. dazu Robin Cohens eher optimistisches Diaspora-Konzept (1997), wonach das Judentum gerade im babylonischen Exil, im Austausch mit anderen religiösen und intellektuellen Traditionen, aufblühte. Vgl. auch Mayer: 2005, 31-72. 429 Mignolo: 2000, 15. 430 Ebd. 431 García Canclini: 1989, 293. 432 Kühl: 2002. 433 Vgl. Bandau: 2007, 29. 434 Gómez-Peña: 1996, 32. 435 Ebd., 11-12. 436 Ebd., 7. 437 Ebd., 6.

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»Ich erfand mein eigenes Konzept eines Heimatlandes. In der ›umgekehrten Kartographie‹ meiner Performances und Texte wurden Chicanos und US-Lateinamerikaner zum Mainstream. Spanglish wurde zur lingua franca, und die einsprachigen Anglos schrumpften zu einer immer unbedeutenderen Minderheit. Ich nannte sie ›Waspbacks‹ oder ›Waspanos‹, beides Wortschöpfungen aus der Abkürzung WASP für ›White Anglo-Saxon Protestant‹ und ›Wetback‹, einem alten Schimpfwort der Amerikaner für mexikanische Einwanderer, die angeblich nass waren vom Schwimmen über den Rio Grande. Weil diese Waspanos sich weigerten, Spanisch zu lernen, konnten sie am öffentlichen Leben meines Landes immer weniger teilnehmen. Bei Performances luden meine Kollegen und ich zuerst ›alle Einwanderer und Farbigen‹ zum Betreten des Theaters oder Museums ein. Danach kamen ›alle zweisprachigen Leute und gemischtrassigen Paare‹. Und zum Schluss ›alle einsprachigen Anglos‹. [...] Im Wesentlichen besetzten wir ein fiktives Zentrum und drängten die dominante Kultur von dort aus an den Rand.«438

Auch die Immigrantengesellschaft der USA ist das Ergebnis von kulturellen Mischungen und verfügt über eine indianische, afro-amerikanische und eine hispanoamerikanische Kultur. Schon jetzt sind die Latinos die zahlenmäßig stärkste ethnische Minderheit.439 Doch trotz aller multiethnischen Beschaffenheit wendet Glissant ein: »Pays du multiculturalisme, les États-Unis ne sont pas un pays de créolisation, pas encore,«440 denn das ›Amerindia‹ oder das ›Afro-America‹ – insgesamt das »Hybridamerica« bzw. »Transamerica«441 finde erst langsam die notwendige Beachtung. Anja Bandau spricht hier von dem neuen Blick des »Hemisphärischen« und hält fest »Was Amerika bedeutet, bleibt nach wie vor umkämpftes Terrain: Walter Mignolo sieht das ›alte Latein-Amerika‹ in seinem 2006 erschienenen The Idea of Latin America in eine Vielzahl politischer Projekte explodieren, die neue Kartografien hervorbringen.«442 Die kulturelle Durchmischung als einen wünschenswerten Prozess wahrzunehmen, dazu rät auch der französisch-tunesische Schriftsteller Abdelwahab Meddeb: »Die Welt wird viele Zentren haben, nicht nur eines. Sie wird heterogen sein. Die Vielzahl gemischter Identitäten jenseits der Identität tritt an die Stelle der Homogenität. Dies gilt es auch den Amerikanern zu vermitteln.«443 In diesem Sinne antwortet Glissant auf die Frage, welche Chancen er für die Frankophonie sieht: »Il s’agit du Tout-Monde, dont la francophonie doit participer.«444

438 Gómez-Peña: 2003. 439 Christian Wernicke gibt für 2005 folgende Verteilung der Bevölkerungsgruppen in den USA an: 66,9 % Weiße, 14,4 % Latinos/Latinas, 13,4 % Schwarze und 4,9 % Asiaten. Er weist ferner darauf hin, dass fast die Hälfte aller Neu-Bürger so genannte Hispanics seien, Menschen hispanoamerikanischer Herkunft, vorrangig aus Mexiko und der Karibik, vgl. Wernicke: 2006, 2. 440 Glissant: 1997b, 39; siehe zur These vom amerikanischen Multikulturalismus jenseits von Kreolisierung Glissant: 2006a, 10. 441 Bandau: 2007, 30. 442 Ebd., 31. 443 Meddeb: 2004, 58. 444 Glissant: 2006a, 10.

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Die Vielzahl der kursierenden Kulturbegriffe führt vor Augen, dass sich das Forschungsfeld ›Hybridität‹ nicht nur aus Beiträgen verschiedener Disziplinen, sondern auch aus unterschiedlichen Kultur- und Zeiträumen speist. Sowohl die Négritude als auch die Antillanité und die Créolité verkörpern jeweils zu ihrer Zeit einen literarischen Stil und parallel eine programmatische Philosophie. Jede versucht auf ihre Weise bestehende Identitätsmankos aufgrund von Verschleppung, Versklavung und Kolonialismus durch literarisches Handeln zu kompensieren. Gerade die Begriffe der Kreolisierung und Transkulturalität liefern uns eine Methode, um die sich neu herausbildenden Konfigurationen von Identität im Kontext vorangegangener und anhaltender Kulturkontakte (bzw. ›Kulturkämpfe‹) zu verstehen und eine Poetik und Politik der Vielheit zu begründen. Sie gehen von einer sozialen Genese transversaler Beziehungen aus, die ohne kulturelle und politische Dominanz, also ohne Zentrum auskäme und die nicht mehr dem Prinzip der universalité, sondern dem der diversalité folge. Neue, hybride Identitätsmodelle können – gerade durch Vorwegnahme in der literarischen Fiktion – Wirklichkeit werden. Kategorien des Rassischen, Ethnischen und der Nationalstaatlichkeit verschwänden zugunsten einer Beziehung zu dem Ort, an dem man lebt, sei es auch ›nur‹ ein Übergangsort. Glissant formuliert es wie folgt: »Mon lieu qui est incontournable, je le relie à tous les lieux du monde sans en excepter un seul, et dès ce moment-là, je sors de l’identité de racine unique et je commence à entrer dans l’identité rhizome, c’est-à-dire dans l’identité relation.«445 Reise, Bewegung, Exil, Migration, Transkulturalität erhalten damit eine universelle und existenzielle Dimension für die Prozessualität von Kulturen und eröffnen »a space of contact that changes both cultures«446. So gäbe es nicht nur eine Literatur in Bewegung, wie Ottmar Ette postuliert, sondern ebenso Kulturen in Bewegung, die vielfältige Grenzüberschreitungen in sich tragen. Mit den Mitteln des Ästhetischen wird ein politisches und ethisches Umdenken vorweggenommen. Kulturelle Hybridisierungen ohne Hierarchisierungen sind dabei als ideeller Horizont im Sinne sozialer und ethischer Postulate zu verstehen. Literatur und Literaturwissenschaft antizipieren und visualisieren somit eine Wirklichkeit, die es noch zu gestalten gilt.

445 Glissant: 1998. 446 Borsò: 2006, 59.

2 Barock, Neobarock und (Post-)Moderne

2.1 B AROCK :

EIN KONZEPTUELLES

B ABEL ?

»Wie barock ist das 21. Jahrhundert?«, so fragte 2004 ein Journalist in Die Zeit anlässlich verschiedener fulminanter Ausstellungen zu Rubens und Rembrandt in Europa.1 Das Barock besitzt zweifellos den Reiz des Fremdartigen, das auf geheimnisvolle Weise mit der Gegenwart in Verbindung steht.2 Der Soziologe Michel Maffesoli spricht gar von einer gegenwärtigen »baroquisation du monde«,3 einer neuerlich barocken Welt, welche die Details des täglichen Lebens in den Mittelpunkt rücke und so jedem Einzelnen die Möglichkeit gäbe, aus seinem Leben ein Kunstwerk zu machen, was aber zu einer Trivialisierung der Kunst führe: »Ce ›présentéisme‹ peut être comparé à la sensibilité baroque, mais un baroque se capillarisant dans la vie de tous les jours.«4 Omar Calabrese wertet Neo-Baroque (1992)5 ebenfalls als »a ›spirit of the age‹ that pervades many of today’s cultural phenomena in all fields of knowledge«6. Neobarock versteht er als eine transnational wirkende Ästhetik, als eine Aufwertung von Formen, »that display a loss of entirety, totality, and system in favor of instability, polydimensionality, and change«7. Der Kunsthistoriker Stephan Calloway spricht im Hinblick auf Mode und Filmkunst des 20. Jahrhunderts von einer »Kultur des Exzesses«, von einer »Palette der Extravaganz und des Barock, der

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Warnke: 2004, 51. Vgl. Weimar: 1997, 203, Roloff: 1997, 254. Maffesoli: 1990, 153, vgl. Kap. 5: »La baroquisation du monde«, 153-185. Ebd., 14 und 170. Im Original Età neobarroca (1987). A Sign of the Times ist der Untertitel der englischen Ausgabe von 1992, die ich im Folgenden verwende. So die Definition von Umberto Eco in seinem Vorwort zur englischen Ausgabe, Eco: 1992, xii. Eco: 1992, xii. Eine sinnvolle Erweiterung von Calabreses Konzept des Neobarock liefert Angela Ndalianis in ihrem Werk NeoBaroque Aesthetics and the Contemporary Entertainment (2004). Im Zentrum steht hier die vertikale Vernetzung von textueller und medialer Narration: Neben Miguel Cervantes selbstreflexivem Meisterwerk Don Quijote analysiert sie gleichberechtigt die Erzählstrategien der Star Wars-Trilogie und deren Vorgänger, Episode I-III.

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Überschwänglichkeit und des Retro-Schicks«8. Neobarocke Ästhetik wird hier dennoch nicht durch ›kultivierte‹ Erzeugnisse realisiert, sondern durch ›degenerierte‹ Produkte im Zeitalter der Massenmedien und technischen Reproduzierbarkeit. Auch das über Fachkreise hinaus wahrgenommene Magazine littéraire machte barocke Manifestationen unter dem Titel »L’Âge du Baroque: Littérature, Musique, Théâtre, Poésie, Architecture, Politique« 1992 zu einem seiner Schwerpunktthemen und stellte das Wiederauftauchen des Barock im 20. Jahrhundert in den Vordergrund.9 Der Musikwissenschaftler Philippe Beaussant legt darin eine aufschlussreiche Spur zur Aktualität des Barock. Er sieht die Renaissance des néo-baroquisme nicht als historischen Anachronismus, sondern im Kontext eines zyklischen Geschichtsverständnisses: »C’est dans la mesure où progressivement notre sensibilité s’éloigne de celle du XIXe siècle que nous nous rapprochons de celle du XVIIe et du XVIIIe.«10 Auch Jean-Pierre Chauveau vermutet, dass sich das 20. Jahrhundert mit seinen großen Unsicherheiten, Umwälzungen und Zweifeln von einer Epoche angezogen fühlt, die ähnlich markiert ist: Barockliteratur ist für ihn eine »littérature pour temps de crise«, gekennzeichnet vom »désordre du monde« und einer »poétique de la violence«.11 Patrice Bollon konstatiert in »Le néo-baroque, aujourd’hui« für den Bereich der Literatur gerade den retour esthète als maßgebliche Tendenz. Weiterhin beobachtet er die Rückkehr des Essays als literarisches Genre, bei dem sich literarische Ästhetik und Reflexion gegenseitig bedingen. Die Menschen im ausgehenden 20. Jahrhundert bezeichnet Bollon als »[o]rphelins de croyances«12 und erklärt die erneute Hinwendung zum Barock mit einer grundsätzlichen »Entzauberung der Welt« (Max Weber) durch systemisches Denken: »Allant plus loin, il est même permis de se demander si la période actuelle ne serait pas baroque en ce sens qu’elle partage avec les périodes historiquement baroques une même ›déception‹, contradictoire au demeurant, face au réel.«13 Impliziert Klassik die Vorstellung von Klarheit, Einfachheit, Dauer, Geschlossenheit, Geradlinigkeit, Harmonie, Regeleinhaltung, so verbindet sich mit Barock die der Vielschichtigkeit, des Flüchtigen, Offenen, Verschnörkelten, Bizzaren, Multiperspektivischen, Fragmentarischen, der Regellosigkeit, Proliferation und Überdehnung. Doch im Gegensatz zur klassischen Doktrin gäbe es keine »Internationale« des Barock und schon gar kein einheitliches Erscheinungsbild.14 Im Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Barock – sei es der historische Barock oder der Neobarock – steht, so lässt sich zunächst festhalten, konstant eine

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Calloway: 1997, 195. Armstrong/Zamudio-Taylor sprechen hinsichtlich der postlateinamerikanischen Kunst auch vom Ultrabaroque (2000). ›Der Barock‹ als Maskulinum wie ›das Barock‹ als Neutrum stehen in unvereinheitlichter Form in verschiedensten Publikationen nebeneinander. Ich habe mich in der Regel für Letzteres entschieden, immer dann, wenn es um einen Barockbegriff geht, der bewusst über die historische Epoche hinausweist. Beaussant/Brochier: 1992, 26. Chauveau: 1997, 23ff. Bollon: 1992, 36. Ebd. Vgl. Rössner: 2007, 53.

B AROCK , N EOBAROCK UND (P OST -)M ODERNE

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spezifische Wirklichkeitsauffassung. Das Kunstwerk verliert an mimetischer Kraft und gewinnt an Fiktionalität. Barocke Spiegelungen sollen Täuschungen und Illusionen bewusst machen. Eine solche Fiktionalisierung der Wirklichkeit durchzieht gerade das Siglo de Oro der spanischen Literatur im 16. und 17. Jahrhundert, die maßgebliche Epoche der europäischen Literatur nach der italienischen Renaissance und vor (und während) der französischen Klassik.15 Es ist eine Zeit großer wirtschaftlicher und sozialer Instabilität aufgrund von innenpolitischen Konflikten (wie andauernde Religionskriege) und außenpolitischen Weltherrschaftsansprüchen. Der barocke Leittopos von der verkehrten Welt, vom labyrinthischen theatrum mundi, ermöglicht eine Fiktionalisierung, Theatralisierung und Karnevalisierung der Wirklichkeit, eine gegenseitige Entgrenzung von Welt und Bühne. Der Mikrokosmos Bühne wird zum verzerrten, nicht mimetischen Spiegel des Makrokosmos Gesellschaft. So nimmt es nicht wunder, wenn man bei der Erfassung des Barock immer wieder auf spielerische Umschreibungen stößt wie »jeux de masques, de labyrinthes et d’effets de miroir«16 oder »le spectacle total«17. Das Barock ist per Definition »polymorphe et doué d’un potentiel puissant de métamorphose«18. So transformiert Calderón in seinem Schauspiel El gran teatro del mundo (1645) das Leben zur Komödie, in der die Menschen zu Schauspielern werden und deren Identitäten sich performativ herausbilden.19 Ein zeitgenössischer Autor wie Édouard Glissant knüpft mit seinem Romanwerk partiell an diese barocke Idee des theatrum mundi an, indem er eine dehierarchisierte, rhizomatische, fragmentierte und auf Bewegung ausgerichtete Welt entwirft. Solchen Spuren gilt es zu folgen, um das Epitheton Barock, diesem »Babel conceptuel«20, »signifiant flottant« oder »monstre linguistique«21 zu fassen, und um es als heuristische Figur zu verwenden. Ein »n’importe-quoi-isme«, so Pierre Charpentrat in seiner Studie Le Mirage baroque, sei dafür verantwortlich, dass Barock als »mot-passeport«, »mot-tampon« oder »mot-outil« seit den 1960 Jahren immer dann zur Bezeichnung herangezogen wird, wenn die Einordnung schwer falle und festste-

15 Die Gleichzeitigkeit von Klassik und Barock zeigt sich exemplarisch an Molières Stücken. Die barocke Ballettkomödie, »eine Art barockes Totaltheater« (Grimm: 1989, 161), und die Farce stehen bei ihm unmittelbar neben der regelmäßigen fünfaktigen Komödie. 16 Moser/Goyer: 2001, 12. 17 Ebd., 7. Bernardino Bravo Lira fasst für das hispanoamerikanische Barock »su predilección por temas como la muerte, el ocaso, la caída [...] la comparación del mundo con un teatro y de la vida con un sueño« (Bravo Lira: 1981a, 8) zusammen. 18 Moser/Goyer: 2001, 8. 19 Calderón überträgt den antiken Topos vom Leben als Spiel auf seine Zeit. Im Laufe des Stückes überreicht »die Welt« jedem Spieler, ob König oder Bettler, die Requisiten seines Standes. Der Spieler betritt die Bühne durch eine Tür, »die Wiege«, und verlässt sie durch eine zweite, ›das Grab‹. Dies ist der Moment, in dem den Schauspielern ihre Insignien wieder abgenommen werden und sie erkennen, ob sie ihre Rolle erfüllt haben. Bei Calderón sind es nur der Bettler und die Weisheit, die nicht der Eitelkeit erliegen und damit der Verdammnis entgehen. 20 Moser: 2000, 662. 21 Mignot: 1992, 42.

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he, dass es sich um etwas Nicht-Klassisches handle.22 Wladimir Krysinski konstatiert in »Les baroquismes de la modernité«: »Le baroque nous envahit. [...] il est partout.«23 Literaturhistoriker sind sich dennoch weder über eine einheitsstiftende Qualität noch über seine zeitliche und räumliche Anwendung einig. Bereits Theodor W. Adorno kritisierte in seinem Essay »Der mißbrauchte Barock« (1966) die Unverbindlichkeit des Begriffs, seine ihm inhärente »Ideologie für so Divergentes«24: »Barock ist ein Prestigebegriff. [...] Nur das Unspezifische und Vage, wozu der Barock dem gegenwärtigen Bewusstsein sich verdünnte, erlaubt den universalen Gebrauch des Namens.«25 Auch wenn sich Adornos Ausführungen auf die Musik und Architektur beziehen, lassen sie sich auch für die Literatur fruchtbar machen. Das Barock hat es so in seiner Ausschließlichkeit nicht gegeben, es bedarf stets einer konkreten zeitlichen und räumlichen Kontextualisierung: »le baroque n’a pas d’existence indépendante du corpus qui sert à le définir.«26 Walter Moser schlägt deshalb vor, mit einer »définition relationnelle du baroque«27 zu arbeiten, die es erlaubt, die dem Barock inhärente subversive und progressive Wirksamkeit freizusetzen. In der Tat, ist mit dem Barockbegriff eine einzigartige konzeptuelle Erfolgsgeschichte verbunden. Im Mittelpunkt meiner Untersuchung steht die Frage nach dem Barock als ein vorherrschendes Epistem innerhalb Postkolonialer Studien und seine seit den 1960er Jahren anhaltende Wiederentdeckung. So stehen im Zentrum des Iberoamerika betreffenden Überblicksbands Barrocos y modernos (1998) Erklärungsansätze, warum das Barock im 18. Jahrhundert nicht nur die Entchristianisierung und die politische Unabhängigkeit überdauert habe, sondern sogar bis in unsere Zeit, die von einer vuelta del barroco gekennzeichnet sei, fortdauere.28 Ferner geht es um die wichtige Frage, wie sich das außergewöhnliche Paradoxon erklärt, dass aus einem massiven Transfer der Barockkultur von Europa nach Amerika während der Kolonialzeit ein Paradigma entstehen konnte, welches seit dem 20. Jahrhundert zugleich eine arte de la contraconquista (Lezama Lima) begründet hat. Barock scheint in Lateinamerika eine doppelte Stimme zu verkörpern, »a la vez confirmatoria y transgresora del poder colonial«29. John Beverley sieht im Barock »something like an episteme or ›deep structure‹ of Latin American culture« und nennt es herausfordernd eine kulturelle Neurose: »Is not the Baroque also a component of the cultural neurosis of Latin America in its (still incomplete) stage of liberation struggle? The paradox of Spanish Baroque writing, both in the

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Vgl. Charpentrat: 1967, 119-126. Krysinski: 2007, 140. Adorno: 1967, 141. Ebd., 133f. Für Adorno zeichnet sich insbesondere der historische Barock durch die »Idee von Stil« (Adorno: 1967, 136) aus. Mignot: 1992, 42. Moser: 2000, 663. Vgl. Schumm: 1998, 18. Ähnlich argumentiert auch der Band Barroco y Neobarroco (1992), der von »El Barroco y su doble« spricht, vgl. Jarauta/Buci-Glucksmann: 1992, 11. Schumm: 1998, 23.

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metropolis and the colonies, is that it was, like postmodernism today, at once a technique of power of a dominant class in a period of reaction and a figuration of the consciousness of the limits of that power.«30

Auch Samuel Arriarán definiert in seiner Studie Barroco y neobarroco en América Latina: estudios sobre la otra modernidad (2007) den Neobarock als »otra posmodernidad, como mestizaje positivo entre las prácticas culturales, las imágenes y los símbolos de la modernidad occidental y las tradiciones culturales locales«31. Für Arriarán zielt Neobarock auf eine ›geerdete‹ (Post-) Moderne, weil lateinamerikanische anthropologische Kontexte Berücksichtigung finden. Zugleich bringt er ihn, wie Beverley, in Verbindung mit einer kulturellen Neurose und verweist auf die Problematik sich von der ›Peripherie‹ her in die Moderne einzuschreiben: »el neobarocco se puede definir como un intento frustrado de entrar a la modernidad. Como un proceso de neurosis en plena posmodernidad que condiciona a vivir un eterno presente, el neobarroco sólo sería una especie de crítica iróníca, paródica, carnavalesca, en cierta manera liberadora«32. Es scheint, als werden heute transformierte Modernekonzepte von Lateinamerika nach Europa ›re-importiert‹. Wenden wir den Blick in die Geschichte, so verlief diese Ideenzirkulation über Jahrhunderte zunächst von Europa nach Lateinamerika. Gerade die iberische Barockarchitektur hatte sich als ausgesprochen wirksamer Exportartikel erwiesen, denn sie fand in ganz Lateinamerika Aufnahme und bewährte sich dort als flexibles, äußerst vitales Modell.33 Neben der spanischen und portugiesischen Sprache hat besonders die barocke Baukunst den lateinamerikanischen Kontinent nachhaltig geprägt.34 Die katholische Kirche, der eigentliche Motor der Eroberungen, war darauf angewiesen, die ›Ungläubigen‹ in der Neuen Welt zu beeindrucken und zu überzeugen. Dabei ging es den Künsten (vor allem in der Architektur, Malerei und Skulptur) um die Verherrlichung Gottes und um die Verbreitung einer gegenreformatorischen Glaubenspropaganda, um eine Inszenierung gottähnlicher Macht- und Prachtentfaltung, sprich um eine symbolisch überhöhte Demonstration einer zentralistischen Ordnungsidee.35 Barock kann in Lateinamerika deshalb auch als ein

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Beverley: 1993, 63f. Arriarán: 2007, 94. Ebd., 107. Vgl. Borngässer: 1997a, 79. Der Kunsthistoriker Hector Velarde stellt in seinem Buch El barroco: arte de conquista (1980) die rhetorische Frage, ob eine andere Kunststilrichtung in Lateinamerika eine ebenso schnelle Aufnahme bei der autochthonen Bevölkerung gehabt hätte wie das Barock, ist doch der Barock prinzipiell bereit fremde Stilelemente aufzunehmen, vgl. Kaiserkern: 1990, 2. 35 Dennoch entstand bei dem Zusammentreffen verschiedener Kulturen zugleich etwas Neues, so integriert das Figuren- und Ornamentrepertoire nicht selten indianische Motive, Pflanzen und Tiere ein, vgl. Borngässer: 1997b, 121.

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»audio-visuelles Propagandainstrument«36 definiert werden, dessen sich die Eroberer zur Beeinflussung der analphabetischen Massen bedienten. Das Barock wäre dann ein Export-Produkt der Kulturkrise des gegenreformatorischen Zeitalters bzw. des Dreißigjährigen Krieges37 und zugleich eine Kunst des höfischen Absolutismus. Unbestreitbar sind die Echowirkungen Europas im außereuropäischen Raum seit dem 16. Jahrhundert. So hält Serge Gruzinski in seinem Buch La Guerre des images. De Christophe Colomb à ›Blade Runner‹ (1492-2019) fest: »›Chaos de doubles‹, l’Amérique coloniale duplique l’Occident par institutions, pratiques et croyances interposées. […] L’Amérique hispanique devient de la sorte la terre de tous les syncrétismes, le continent de l’hybride et de l’improvisé.«38 Sind es in Blade Runner die Replikanten, die der Unmenschlichkeit bezichtigt werden, so war es 500 Jahre zuvor die indigene Bevölkerung Amerikas, die angeblich über keine Seele verfügte. In beiden Epochen, so fasst Gruzinski zusammen, gehe es um Synkretismen und Hybridisierungen: In Blade Runner sei die Welt kontaminiert durch Nicht-Humanoides, seit der Zeit der Eroberung kontaminierte Europa gewissermaßen die außereuropäische Welt.39 Warum sich dabei gerade das Barock in Lateinamerika durchsetzen konnte, warum also gerade »l’expérience baroque coloniale« fähig gewesen sei, »le pluralisme ethnique et culturel sur le continent américain«40 auszuleuchten, welchen Transformationen es unterlag und warum es zugleich als originärer Ausdruck lateinamerikanischen Kulturgeschichte gilt, ist Gegenstand der folgenden Überlegungen. Zwangsläufig drängt sich die Frage auf: Was verbindet barocke Kolonialgeschichte mit neobarocker Revolutions- und Widerstandsgeschichte?

2.2 G O -B ETWEEN : B AROCK , N EOBAROCK – E UROP A MERIKA Die folgenden Überlegungen bewegen sich auf zwei Achsen: auf einer zeitlichen, die den historischen Barock mit dem Neobarock des 20./21. Jahrhunderts verknüpft und einer räumlichen, die Europa in Relation mit Amerika setzt. Diese zusammenfassende Perspektive, welche das breite zeitliche und räumliche Spektrum bündelt, unterliegt der von Walter Moser und Nicolas Goyer eingeführten Metaphorik der Résurgences baroques (2001):

36 Wogatzke-Luckow: 1997, 240. Diese These vertritt auch Serge Gruzinski: »l’image constitue avec l’écrit l’un des outils majeurs de la culture européenne, la gigantesque entreprise d’occidentalisation qui s’abattit sur le continent américain assuma« (Gruzinski: 1990, 13). 37 Buck hält fest, dass es stets um den ›richtigen‹ Gott und um die ›richtige‹ Staatsordnung ging sowie um die Vorherrschaft in Europa und der Neuen Welt: »Krieg wurde geradezu der Normalzustand, Friede die Ausnahme; im 17. Jahrhundert gab es nur sieben Friedensjahre in Europa.« (Buck: 1980, 33). 38 Gruzinski: 1990, 17f. 39 Vgl. Gruzinski: 1990, 335f. 40 Ebd., 336.

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»Nous prendrons plutôt le baroque à partir de l’évidence de ses transformations, comme un processus culturel, comme un modus operandi esthétique, capable de couvrir un espace-temps très étendu de manière erratique. C’est cette modalité erratique de sa phénoménalité que nous essayons de rendre par le terme de ›résurgence‹. Si ce volume est porté par une ambition, c’est celle de contribuer à explorer cette efficience historique et transculturelle du baroque, plutôt que de déterminer son être ou son essence.«41

Jenseits essentialistischer Definitionen, die vorgeben, ein vollständiges phänomenologisches Repertoire des Barocken nachzuzeichnen, charakterisiert Moser das Barock vielmehr als ein »terme à plusieurs entrées«42, der zwischenzeitlich verschwinde (»aller sous terre«), um regelmäßig in kulturellen Debatten unter negativem oder positivem Vorzeichen wieder aufzutauchen (»résurgir«)43 und der dabei wichtige kulturelle Debatten in Gang setze, die von historischer und transkultureller Effizienz seien.44 Spannend ist, dass mit dieser Bewegung des Verschwindens und Auftauchens Bilder einhergehen wie »le chaos«, »la cave«, »le sous-sol« oder »le terreau nourricier«,45 eine Metaphorik, die stark an Glissants Überlegungen zur Opazität erinnern. Das Zusammendenken und -führen des Barockbegriffs aus verschiedenen Zeiträumen und Kontinenten ermöglicht, die Gegenwart zu historisieren und die Historie zu aktualisieren. Barock und Neobarock sind Wiederholung und Neues in einem; aus diesem Grund sprechen Moser und Goyer auch nicht von einer nostalgischen »retour au baroque«, sondern von einer »retour du baroque«.46 Sie behaupten, dass erst die Entwicklung der modernen Medien und (Kommunikations-)Technologien eine völlige Realisierung des Potentials des historischen Barock ermögliche (sich verkörpernd in aktuellen Formen der multimedialen Visualität, Simulation oder Oralität).47 Sein volles Potential entwickelte das Barock nicht in der Moderne, sondern erst in der Postmoderne. So argumentiert auch Serge Gruzinski, wenn er die »imaginaires baroques« als »une préfiguration des imaginaires néobaroques ou postmodernes«48 deutet: »Si, pour qualifier ces temps qui voient la multiplication des canaux de communication (vidéo, câbles, satellites, ordinateurs, video-games etc. …) […] et la nouvelle latitude laissée au spectateur de composer ses images, on a pu retenir le terme de ›néobaroque‹, c’est que l’expérience

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Moser/Goyer: 2001, 9, Herv. i.O. Moser: 2001, 31. Moser: 2000, 655. Vgl. ebd., 662. Vgl. Brasseur-Legrand: 2001, 33. Moser/Goyer: 2001, 9, Herv. N.U. Die Autoren beziehen sich dabei auf Guy Scarpetta: »Je dirais que si le Baroque, aujourd’hui ›fait retour‹, c’est précisément dans la mesure où nous commençons seulement à sortir du XIXe siècle, et des grandes utopies et idéologies issues des Lumières« (Scarpetta: 1988, 22). 47 Vgl. Moser/Goyer: 2001, 17. 48 Gruzinski: 1990, 335.

154 | II T RANSDISZIPLINÄRES T HEORIENETZ individuelle et collective des consommateurs d’images de l’époque coloniale éclaire les initiatives qui s’ébauchent aujourd’hui […].«49

Mosers und Gruzinskis These, das Barock bekäme gewissermaßen eine neue historische Chance,50 deckt sich mit den Überlegungen von Volker Roloff, der im Barock ebenfalls eine »Vorform der aktuellen Medienwelt, der Bilderfluten, Simulationen und Traumfabriken unserer Gegenwart«51 erkennt. Die Darstellung nichtauthentischer Erinnerungsbilder durch die Medien arbeitet mit einem hohen Grad an Fiktionalität, welche dem Barock zu eigen ist. Weiter folgert Roloff, dass die Aktualisierung der Barockästhetik in Lateinamerika einer zunehmenden Distanz zum europäischen Rationalismus und Cartesianismus, einer Diskurskritik der Moderne, wie von Foucault oder Derrida formuliert, geschuldet sei und damit der entsprechenden Theoriebildung und künstlerischen Praxis der so genannten Postmoderne in den USA und Europa voraus sei.52 Sowohl der historische als auch der aktuelle Barockbegriff stehen quer zu jeder Form linearer Logik und Vollständigkeit. Moser bezeichnet das Barock aufgrund seiner Zurückweisung einer vernunftgeprägten, kausalistisch-deterministischen und fortschrittsgläubigen Moderne als prä- und postmodern zugleich: »[…] si, face au rationalisme montant du dix-septième siècle, le baroque représentait une force réactionnaire au service de pouvoirs totalitaires, au vingtième siècle, face à un monde figé dans un rationalisme institutionnalisé (étatique et bureaucratique) et devenu à son tour totalitaire, il représente une force subversive et critique.«53 Der Übergang von der Moderne zur Postmoderne ermögliche die Infragestellung einer geradlinigen Geschichtsschreibung – »on ne se satisfait pas d’une Histoire souveraine et linéraire«54 – und eines europäischen Rationalismus; beides Konzepte, die ihre Wurzeln in den Idealen der Aufklärung haben (wie Emanzipation des Subjekts durch Gebrauch der kritischen Vernunft und »dem Glauben an die vernunftgeleitete Optimierbarkeit der Welt«55). Für Javier Vilaltella ist die Postmoderne charakterisiert durch die Dekonstruktion des »›oculocentrisme‹, cette longue tradition de la pensée occidentale qui constitue la vision en un donné objectif«56. Eine solche theoretische Öffnung würde es ermöglichen, auch irrationale Erfahrungen zu integrieren, welche die alltägliche Realität überschreiten, »telles que la merveille, les visions mystiques, les exstases, les apothéoses, etc.«57; Phänomene, die im historischen Barock bereits gänzlich akzeptiert waren und die durch den Rationalismus der Aufklärung wieder zurückgedrängt wurden. So gesehen lässt sich der Barock, welcher der Aufklärung voranging, als Prä-Modernität situieren. Der aktuelle »retour du baroque« im Sinne der Postmoder-

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Ebd., 334f. Vgl. Moser: 2001, 28. Roloff: 1997, 254; zum Neobarock im Kino und in der Kunst vgl. Rincón: 1996, 205-260. Vgl. Roloff: 1997, 255. Moser: 2001, 34. Maffesoli: 1990, 185. Renner: 2008, 26. Vilaltella: 2001, 128. Ebd., 129.

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ne schließt an vormoderne Strömungen an.58 Moser formuliert es treffend mit den Worten: »le retour du baroque libère ce que la modernité utopique a dû refouler pour triompher.«59 Moser vergleicht zudem das utopisch geprägte Modernitätsparadigma mit dem melancholischen Modernitätsbegriff bei Walter Benjamin,60 was für unseren Kontext aufschlussreich ist. Das melancholische Modernitätsparadigma – sprich Benjamins kritische Position gegenüber dem Fortschrittsparadigma – steht nicht in Opposition zur Moderne, sondern ergänzt sie. So ist das Barock für Benjamin Teil einer melancholischen Moderne, die zwar ähnlich wie die utopische Moderne auf Säkularisierung und Immanenz basiert, aber die Verwirklichung des Menschen nicht in einer fernen Zukunft ansiedelt. Stattdessen ist der Benjamin’sche Mensch bereits geprägt von dem existenziellen Verlust transzendenter Totalität, von Welt- und Sinnentzug, von Substanzverlust, was ihn zu einem Leben zwingt »aux prises avec les fragments d’un passé en ruines«: »Cette totalité [...] est située dans un passé lointain dont l’humanité aurait été violemment et dont elle ne réussit pas à faire le deuil.«61 Dies erklärt, warum Barock bei Benjamin mit dem Prozess des Trauerns zusammenhängt.62 Eine solche Rückkehr des Barock korrespondiert – nach dem Niedergang der grands récits der Moderne – mit dem modernen melancholischen Bewusstsein um die verlorene Hoffnung auf zukünftige Totalisierungen. Moser charakterisiert dies als eine »modernité utopique en ruines«63: »Elle [la mélancolie, N.U.] s’installe dans les matériaux fragmentés de cette modernité, les réemploie, les retravaille, les réarticule, les recycle tout en les mettant à mort, c’est-à-dire en oubliant activement leur signification historique.«64 Diese Form des »retour du baroque« ist also nicht nur prä- und postmodern, wie bereits gesagt, sondern auch modern im Sinne Benjamins. Prämodern, da das Barock der Aufklärung ästhetisch voranging, modern, da es die Melancholie und die Trauer über den Prozess der Fragmentierung miteinbezieht und postmodern, da es durch seine Ästhetik des Recycling, seines kulturellen Kannibalismus und seinem »cannilinguisme«65 enthistorisiert, de- und rekontextualisiert. Problematisch ist bei dem wiederkehrenden Topos einer ›Rückkehr des Barock‹ die darin implizierte starke Gewichtung des historischen Barock. Ist die Anschlussfähigkeit (post-)moderner Diskurse, wie bspw. Benjamins melancholisches Modernitätspara-

58 Petra Schumm fragt in politischer Hinsicht: »¿El período colonial como un espejo de los procesos migratorios postcoloniales?«, Schumm: 1998, 18. 59 Moser: 2000, 670. Nach Iván de la Nuez ist ein lateinamerikanischer Kanon am Ehesten einer, der Barock mit Anti-Moderne identifiziert. Für ihn gehört neben Carpentier, Lezama Lima und Sarduy auch Octavio Paz zu den berühmtesten Vertretern. Allen ist gemeinsam, dass sie das Lateinamerikanische als ein Paradox interpretieren, nämlich außerhalb der Moderne und innerhalb des Barock zu leben. In diesem Sinne spricht er von »el barroco y su imposibilidad de modernidad« (Nuez: 1998, 108). Der Abfall der Moderne wird zum Kompost der Postmoderne (basurización), vgl. Exner: 2012. 60 Vgl. Benjamin: 1978. 61 Moser: 2000, 670. 62 Vgl. dazu die Analyse zu Edgardo Rodríguez Juliá. 63 Moser: 2000, 671. 64 Ebd. 65 Saint-Éloi: 1998, 92.

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digma, an den historischen Barock nicht bloße Modernismus-Projektion? Ist der lateinamerikanische/karibische Neobarock nicht ein ganz neuer Diskurs, weitgehend losgelöst von europäischen und historischen Setzungen? Die modern eingefärbte Perspektive auf den Barock verfälscht nicht unbedingt den historischen Gegenstand, sondern bietet eine Möglichkeit, bislang nicht Wahrgenommenes in den Blick zu nehmen. Barock und (Post-)Moderne sind somit nicht als strenge Dichotomie zu denken, sondern mit Blick auf Textwucherungen und Pluralisierung des Sinns ist die Verknüpfung von Barock und Post-Moderne äußerst gewinnbringend. Der Rückgriff vieler lateinamerikanischer und karibischer Autor/innen auf eine »esthétique baroque« steht im engen Zusammenhang mit dem, was Lise Gauvin das »babel apprivoisée«66 nennt, also der Versuch die Ko-Existenz verschiedener sprachlicher und kultureller imaginaires und Gedächtnisse in einem »contexte de décentrement ou de périphérie«67 zu fassen. Es ist aber nicht nur ein sprachliches Babel, sondern auch ein ästhetisches Babel, Stile und Gattungen betreffend. Bei den hier behandelten Literaturen fällt gerade der konstruktivistische, kreative Gebrauch ›unreiner‹ Sprache und das Erzählen fragmentierter postkolonialer Geschichten und heterogener Identitäten auf. Wir haben es mit einer Ästhetik des Zwiespalts diverser Erinnerungen und Sprachen zu tun. Das Trauma der Sprachverwirrung, des Babelismus, welcher Synonym für Unkommunizierbarkeit, Konfusion und Spaltung unter den Menschen ist, wird hier als ein Prozess des Go-Between, als ein Spiel unterschiedlicher Reibungskräfte produktiv weiter entwickelt. Sarlet resümiert: »baroque est associé à ce qui s’écarte de la norme« und führt zugleich den Begriff der »foisonnement«68 ein, was so viel wie Wimmeln oder Wuchern meint. Im Folgenden geht es nicht darum, »la narrativa hispanoamericana contemporánea a una simple actualización del siglo XVII«69 zu reduzieren – denn der Neobarock darf nicht als Kopie des historischen Barock verstanden werden –, als vielmehr um die Neuschöpfungen und Strategien des Neobarock und seine Verbindungen zu postmodernen und postkolonialen Schreibweisen und Theorien. Hier behandelte Autoren wie Reinaldo Arenas oder Edgardo Rodríguez Juliá scheuen nicht davor zurück, historisch kanonisierte Texte zu karnevalisieren, zu subalternieren oder apokryphe Bibeltexte zu erfinden. Solche Referenzen auf Bestehendes dienen jedoch keinesfalls der Fortschreibung eines ›propagandistischen‹ Barock wie im Siglo de Oro, der die Ziele des spanischen Imperialismus durchaus mystifizierte – bekanntlich haben die spanischen Komödien dieser Zeit in ihrer Mehrheit den Kolonialdiskurs zu stabilisieren versucht70 –, sondern es geht hier um gegenteilige und neue Funktionen. Zum einen stehen also die schriftstellerische Praxis und zum anderen der literaturtheoretische Diskurs über den Neobarock im Vordergrund. Dies geht mit dem dieser

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Gauvin: 1997, 10. Ebd., 13. Sarlet: 2001, 20-23. Carilla: 1972, 114. Genauso wenig können Kolonien als ›Kopien‹ des zum ›Original‹ erklärten Mutterlandes angesehen werden, auch wenn das ursprünglich von der dominanten Seite so angedacht war; das ›entdeckte‹ Land repräsentierte quasi eine terra nullius, geschichtslos, menschenleer, ›jungfräulich‹, vgl. Castro Varela/Dhawan: 2005, 13. 70 Vgl. zu dieser These u.a. Rings: 2005, 103.

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Arbeit zugrunde gelegten Hybriditätsverständnisses einher, bei dem das Original nur noch in Spuren zu erkennen ist bzw. nur als zusammengesetzter Ursprung (Digenese) denkbar ist wie bei Glissant. Aufgrund der hier bislang angedeuteten Definitionsmöglichkeiten des Barock wird deutlich, dass eine allgemeine Begriffsbestimmung so gut wie unmöglich ist; ein solcher Versuch kommt dem »schwindelerregenden Gefühl« nahe, so Michael Rössner, »über Treibsand zu laufen«71. Einerseits kann man versuchen, das Barock als »estilo de época« zu begreifen, der vom ausgehenden 16. bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts in Europa stilbildend in der Architektur, Literatur und Musik wirkte (als Ausdruck einer gegenreformatorischen Epoche der Kirchengeschichte oder einer feudal-absolutistischen Epoche der Sozialgeschichte). Andererseits lässt sich Barock als eine »constante metahistórica« erfassen, welche bis heute epochenund raumübergreifend verläuft:72 »Damit aber wäre Barock nicht einfach schillernder Reflex einer gegen-reformatorischen Epoche der Kirchengeschichte, einer feudal-absolutistischen Epoche der Sozialgeschichte oder einer analogiebesessenen Epoche der Diskursgeschichte, sondern barock wäre – in einem starken Sinne – die unheimliche Wiederkehr ästhetischer Subversion.«73

Zunächst gilt es, den europäischen mit dem außereuropäischen Barock zu kontrastieren mit Blick darauf, inwiefern sich letzterer überhaupt als »dependiente del arte barroco de una metrópoli europea«74 beurteilen lässt. Des Weiteren ist zu ermitteln, ob und warum hispano- und frankophone Schriftsteller/innen des 20. und 21. Jahrhunderts eine barocke »Überfunktion des Stils«75 aufgreifen. Es gilt zu hinterfragen, ob es möglich ist, einen mit der Geschichte verbundenen Barockbegriff und zugleich eine transhistorische Schreibweise zu formulieren.76 Die grundsätzliche Frage ist frei-

71 Rössner: 2007, 49. 72 Vgl. Figueroa Sánchez: 2008, 29-44. In diesem Spannungsfeld situiert sich die Mehrzahl der Studien zur Barockästhetik in Spanien und Hispano-Amerika: Hatzfeld: 1972; Maravall: 1975; Roggiano: 1978; Bravo Lira: 1981; Márquez Rodríguez: 1982; Zea: 1983; Sifontes/Guaura: 1983; Bustillo: 1988; Checa/Morán: 1989; Moraña: 1994; Varderi: 1996; Ruiz Pérez: 1996; Bosse/Stoll: 1997. Aktuell zum lateinamerikanischen barroco und neobarroco vgl. Figueroa Sánchez (2008). Er verwendet diese Konzepte für Romane von Cortázar, Lezama Lima, Carpentier und García Márquez. 73 Teuber: 2000, 652, Herv. i.O. 74 Bravo Lira: 1981a, 8. 75 »Die Distanzierung der poetischen Sprache des Barock von der Normalsprache, das, was Hugo Friedrich ›Überfunktion des Stils‹ genannt hat, findet so in der Anwendung auf Tasso und Góngora, auf Tesauro und Gracián eine bemerkenswerte und auf die moderne Literatur vorausweisende Deutung« (Neumeister: 1991, 853). 76 Vgl. Lüdtke: 1965, Buci-Glucksmann: 1984, Deleuze: 1988, Garber: 1991. Anstelle von Gattungstrennung durch Systematisierung und Hierarchisierung der Schreibweisen, wie es Schulz-Buschhaus für die literarische Renaissance und den europäischen Klassizismus konstatiert, lässt sich das dazwischenliegende Zeitalter des Barock definieren durch die experimentelle Egalisierungstendenzen, eben durch »entgegengesetzte Bewegung zur Mi-

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lich, ob es überhaupt nötig ist, detaillierte komparatistische Analysen von repräsentativen Werken des 16./17. und 20./21. Jahrhunderts vorzunehmen. Ich habe mich gegen ein solches Vorgehen entschieden, um mich nicht dauernd dem Zwang auszusetzen, begründete Verbindungen und Analogien zwischen historischen Ausformungen des Barock und der gegenwärtigen karibischen Literatur, zwischen beiden postulierten Ästhetiken, herzustellen. Arabella Pauly wirft es den »Apologeten des neobarroco«77 meines Erachtens zu Unrecht vor, dass sie sich immer weiter vom historischen europäischen Barock entfernen, um dafür »spekulativen Literaturtheorien«78 Raum zu geben, die mit »Willkür und Richtungslosigkeit«79 einhergehen. Sie empfiehlt von einer Erfassung moderner lateinamerikanischer Prosa und Lyrik mit den Begriffen barroco und neobarroco Abstand zu nehmen. Paulys Kritik geht davon aus, dass man den historischen Barock relativ eindeutig terminologisch definieren kann. Doch ist nicht auch der historische Barock eine nachträgliche Erfindung, eine Epochenkonstruktion, die wie der Neobarock erst im Laufe des 20. Jahrhunderts literaturgeschichtlich erfasst wurde? Die Überlegungen der Literatur- oder Kunstkritik zum europäischen Barock basieren auf Untersuchungen, die in der Mehrzahl zeitlich mit der Konstruktion des Neobarock zusammenfallen. Denn der literarische und kulturelle Kanon repräsentiert weniger ein abgeschlossenes Verständnis der Vergangenheit als vielmehr eine strategische Konstruktion; »une fiction dont le but rarement avoué est généralement la compréhension du présent«, wie Vuillemin konstatiert.80 Daher privilegiere ich einen »double regard«81, wie es auch Jean Rousset in seinem Buch mit dem ultimativen Titel Dernier regard sur le baroque (1998) unternimmt. Darin nimmt er deutlich Abstand von seinen vorher entwickelten Thesen, auf die ich später noch konkreter eingehe. Hier sei lediglich darauf verwiesen, dass seine früheren Studien in dem strukturalistischen Bemühen standen, dem 17. Jahrhundert seine Klassikdominanz abzusprechen, seine letzte Studie jedoch die Dialektik von Klassik und Barock zur strukturellen Dichotomie von Literarizität schlechthin erhebt. Weder barocke noch neobarocke Eigenheiten lassen sich demnach wirklich abschließend inventarisieren. Angesichts der kontroversen Interpretationen sowohl zum europäischen Barock als auch zum Neobarock verzichte ich auf eine für beide Ästhetiken allgemeingültige Nomenklatur. Vor allem verzichte ich auf die Möglichkeit, neobarocke Schreibweisen unter Zuhilfenahme europäischer Barock-Ästhetiken zu präzisieren und damit zu reduzieren. Meines Erachtens steht hinter einer bewusst

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schung der Gattungen« bzw. sogar durch »Ansätze zur völligen Auflösung der humanistischen Gattungshierarchie« (Schulz-Buschhaus: 1985, 224-229). Wobei es zu bedenken gilt, dass diese Epocheneinteilung vor allem der französischen Literaturgeschichte geschuldet ist, denn spanischer Barock bzw. das Siglo de Oro und französische Klassik verlaufen weitgehend parallel. Pauly: 1993, 246. Ebd. Ebd., 248. Vuillemin: 2007, 15. Rousset: 1998, 12. »À ce regard actuel répond l’hypothèse baroque, instrument du XXe siècle forgé pour questionner le XVIIe« (ebd., 13).

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vernachlässigten Verbindung des Neobarock zum historischen Barock der Wunsch und Wille, eine eigene Literaturgeschichte zu begründen. Der Verzicht darauf, traditionelle barocke Verfahren von nicht-traditionellen klar abzugrenzen, scheint mir dabei zwingend zu sein.

2.3 E UROPÄISCHE B AROCKKONSTRUKTIONEN 2.3.1 Ästhetik der Alterität und Diversität: Barock als Epochenbegriff in der Romanistik Da Original (historischer Barock) und Kopie (metaphorischer Barock) nicht wirklich voneinander unterscheidbar sind – denn selbst das Original ist eine nachträgliche Erfindung, und somit nicht objektiv zu bestimmen – wird auf eine ausführliche Darstellung des historischen Barock verzichtet. Es wird nur insofern auf die historische Epoche des Barock zurückgegriffen, wenn dieser Rückgriff aufschlussreich für die aktuelle Literatur- und Theorieproduktion ist. Die historischen Repräsentationen und Konstruktionen werden gleichwohl als geschichtliche Phänomene gewürdigt, denn gerade durch die rhizomatische Spannung zwischen Barock und Neobarock kann das postmoderne/postkoloniale Dekonstruktionsspiel in den Romanen und Essays besonders wirksam werden. Die Originalität der ›Kopie‹ ist mein wesentliches Thema. Die Unmöglichkeit der identischen Wiederholung hat Jorge-Luis Borges in seinem Pierre Menard, autor del Quijote schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eindrucksvoll vorgeführt. Mir geht es im Folgenden um die Variationen des Barock in den – zumeist essayistischen – Texten der kulturgeschichtlichen Diskussion und den damit zusammenhängenden kollektiven Identitätskonstruktionen. Vergleichbar mit der Konzeptmetapher Hybridität hat das Barock nachträglich eine deutliche Um- und Aufwertung erlebt. Als perlmutt- und opalfarbene Kette, deren »perles irrégulières entre le Nord et le Sud de l’Amérique«82 verlaufen, beschreibt der Haitianer Joël Des Rosiers die karibischen Inseln und liefert damit ein entscheidendes Stichwort. Das Wort »barock« stammt aus der Romania und lässt sich etymologisch auf dreifache Weise herleiten83: Erstens ist baroco seit dem 13. Jahrhundert ein in der Scholastik anzutreffender Memoriername für eine syllogistische Figur, die zu Trugschlüssen einlädt und als abstrus empfunden wird.84 Zweitens leitet es sich seit dem 16. Jahrhundert als eine Juweliersbezeichnung von dem portugiesischen perola barroca zur Bezeichnung einer Perle von unregelmäßiger, schiefrunder Form ab.85 Drittens, und dies ist kaum mehr bekannt, steht der Begriff im Kontext eines betrügerisch anmutenden Tauschhandels im ausgehenden Mittelalter, bei dem der

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Des Rosiers: 2001, 135. Vgl. Mugliori: 1962. Vgl. Hoffmeister: 1987, 2; Malcuzynski: 1987, 27. Gerhart Hoffmeister gibt als Erstbeleg für die aus der Juwelier-Sprache stammende Bezeichnung 1531 an, Hoffmeister: 1987, 2.

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Warenwert auf Kreditbasis künstlich (für den Rückkauf) erhöht wird. Er verortet sich also auch im ökonomischen Bereich.86 Die Bedeutung von Barock changiert zwischen »schiefe[m] Denken und exzentrische[r] Form«87 sowie Defiguration, Trugschluss und Betrug oder wie Moser es allgemeiner formuliert: »le concept ›baroque‹ a comme défaut de naissance sa négativité«88. Bevor sich der Barock also in Europa als Epochenbegriff vor allem für das 17. Jahrhundert in Opposition zur vorangegangenen Renaissance und zur späteren Klassik durchsetzen konnte, hatte es als Adjektiv im abwertenden Sinne von skurril, bizarr, überladen, verworren, schwülstig, denaturiert und gekünstelt schon reichlich Verwendung gefunden.89 Es blieb der deutschsprachigen Kunstgeschichtsschreibung, namentlich Heinrich Wölfflin mit seinen Studien Renaissance und Barock (1888) und Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (1915) überlassen, den Begriff neu zu bewerten – jenseits von Verfall, Niedergang und Künstelei – und damit die Barockforschung auf Jahrzehnte zu prägen. In seiner ›Gründungsstudie‹ Renaissance und Barock weist Wölfflin auf das Ende der Epoche der Renaissance und den Neubeginn von einem malerischen Stil in der Architektur hin – dem Barock. Für diesen Stil macht er in der Architektur folgende formale Kriterien aus: das Ornament, die Monumentalität und den Fokus auf Bewegung. Diesen Katalog ergänzt Wölfflin durch die Möglichkeit der intermedialen Übertragung auf andere Künste, wie die Malerei, aber auch die Literatur. Hegels Geschichtsverständnis folgend, welches jede neue historische Epoche unter einem bestimmten Konzept fasst, versucht Wölfflin in Gegensatzpaaren klassische vs. barocke Phänome zu klassifizieren. Klassische Formen galten als klar, linear, greifbar und endlich, barocke hingegen als unklar, malerisch, ungreifbar und unendlich. Essentiell an Wölfflins Gegenüberstellung ist die mögliche Multiplizierung der Standpunkte, mit der ein Objekt gesehen und definiert werden kann.90 Im Anschluss an Wölfflin ist es in der Zwischenkriegszeit freilich Walter Benjamins Arbeiten zum barocken Trauerspiel und dem katalanischen Kunstkritiker Eugenio D’Ors – neben Ortega y Gasset einer der Hauptverantwortlichen für die Popularisierung deutschsprachiger Barocktheorien (wie die von Nietzsche, Wölfflin, Worringer und Spengler) in Spanien, Portugal und Lateinamerika91 – zu verdanken, dass die Aufwertung des Barock umfassend Beachtung fand. In Frankreich fand erst in den 1960er Jahren eine Entdeckung des Barock statt, welche die inneren Widersprüche des siècle classique aufzeigt.92

86 Genaueres dazu: Malcuzynski: 1987, 27f. Malcuzynski verweist zudem auf den 2. Akt in Molières L’avare (1667), wo eine solche Transaktion eine Rolle spielt. 87 Hoffmeister: 1987, 2. 88 Moser: 2001, 32. 89 Eine detaillierte etymologische Herleitung findet sich bei Malcuzynski: 1987, 26-33. 90 Gemeint ist hier die Antizipation späterer Konzepte wie Polyphonie, Heteroglossie, Dialogizität statt Monologozität im Sinne Bachtins, wenngleich auch Bachtin noch antithetisch denkt, denn durch Karnevalisierung vertauschen sich die Rollen bloß temporär. 91 Vgl. Pauly: 1993, 24. 92 Vgl. Grimm: 1999, 136f. Jean-Pierre Chauveau setzt die verspätete Einführung des Begriffs in der französischen Literaturgeschichte bereits in den 1940er und 1950er Jahren an.

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Moser vermutet gar, dass Barock das okzidentale kulturelle Paradigma sei, welches die spektakulärsten Wiederaufwertungen in Raum und Zeit erfahren habe.93 Denn das Konzept vom Barock ist nicht nur eines a posteriori und verdankt sich eines Transfers von der Kunst- in die Literaturgeschichte, sondern beinhaltet auch stark differierende nationale Prägungen (nicht nur innerhalb Europas, sondern auch zwischen Europa und Amerika), die je nachdem entweder historisch, stilistisch oder essentialistisch ausfallen können.94 Die Barockrezeption verlief in den romanischen Ländern und der romanischen Literaturwissenschaft sehr heterogen, was Thema der folgenden Kapitel ist. 2.3.1.1 Baroque vs. Préclassicisme »L’art baroque, même passionnément admiré, reste avant tout, pour les Français, un art étranger«95, so Pierre Charpentrat in seinen Überlegungen zum französischen Barock. Die Beschäftigung mit Barock in der Galloromanistik ist besonders lohnend, hatte sie sich doch gegen die Existenz einer eigenständigen Barockepoche bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein gesperrt: »L’Europe du XVIIe siècle est baroque, mais la France de Louis XIV est classique«, räumt selbst das aktuelle Handbuch Lettres européennes (2007) noch ein.96 Das Periodisierungsschema Renaissance – Klassik – Aufklärung und der Mythos vom Siècle Classique sah lange Zeit keine Barockepoche vor, hatte man doch die Befürchtung, dass der Classicisme an Glanz verlöre, wenn man die bienséance und honnêteté durch das Barock relativiere. Die französische Klassik erscheine dann schlicht(er) als späte und moderate Variante von Barock – eine Art »post-baroque«97 –, die sich als exception française im europäischen Kontext völlig aufzulösen drohe.98 Man einigte sich lieber darauf, die inzwischen dem Barock zugeordneten Autoren als »post-renaissants« oder als »pré-classiques« wahrzunehmen.99 Insbesondere Jean Rousset konnte das abwertende Konzept des Préclassicisme durch den Nachweis einer eigenständigen Barockliteratur für den Zeitraum von 1580 bis 1665 ersetzen.100 Rousset gelang es, die Klassikdominanz des 17. Jahrhunderts durch den Nachweis einer parallel vorhandenen, barocken Literarizität anzufechten. Mittels der durch Kirke und Pfau verkörperten Leitvorstellungen der Metamorphose und der OsEr nennt als wichtige Barockforscher neben Jean Rousset ferner Victor-Lucien Tapié, Jacques Morel und Jean Tortel (vgl. Chauveau: 1997, 8 und 130ff). 93 Vgl. Moser: 2000, 661. 94 Historisch gesehen ist es zudem nicht leicht, das Barock von anderen verwandten Klassifizierungsbegriffen wie Rokoko oder Manierismus eindeutig zu differenzieren. 95 Charpentrat: 2001, 63. 96 Benoit-Dusausoy/Fontaine, zit. n.: Vuillemin: 2007, 14. 97 Chauveau: 1997, 14. 98 Vgl. Schulz-Buschhaus: 1995, 11. 99 Chauveau: 1997, 7. 100 Rincón (1996, 237) weist zudem auf den Einfluss von Lacan und Benjamin hin: »Es con Jacques Lacan y sus reflexiones sobre una subjectividad barroca, después de los trabajos sobre literatura de Jean Rousset y simultáneamente con la recepción de Benjamin, como será lanzada otra vez, con virulencia y notorias violencias, la cuestión del Baroque.«

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tentation interpretiert er den historischen Barock.101 Vorsichtig formuliert er in seiner Studie La Littérature de l’âge baroque en France (1954): »Si les conclusions de cette étude étaient acceptées, le XVIIe siècle ›classique‹ n’en serait nullement obscurci ou diminué; mais il apparaîtrait moins homogène et moins linéaire; au lieu d’un siècle en évolution progressive et monochrome, on verrait se dessiner plusieurs XVIIe siècles parallèles, alternés ou entremêlés, au sein desquels on reconnaîtrait au Baroque la valeur d’un ferment actif et d’une composante nécessaire.«102

Für Rousset und viele andere Barockforscher ist die Epoche einerseits »l’art des incertitudes«103 der politischen und sozialen Instabilität und andererseits Ostentation des Absolutismus. Diesen auf den ersten Blick paradox erscheinenden Charakter des Barock erklärt Claude-Gilbert Dubois: »L’imaginaire du baroque, qui est un gouvernement de l’imaginaire, offre aux gouvernements un renfort dans l’art de gouverner.«104 Für Dubois bedient sich Barock jener Fragen, welche die reine Vernunft nicht imstande gewesen sei zu beantworten und dieses Feld der Imagination setzt er analog mit ›Weiblichkeit‹. Für ihn schreibt sich das historische Barock in Abgrenzung zur Klassik »dans le registre de la féminité« ein, denn es multipliziere »[…] les volutes, les dômes, les courbes et les contre-courbes, les ellipses, les spirales et en littérature les périphrases, les paraphrases, les métaphores, les enjambements, toutes les figures de la dérivation et de l’enveloppement. […] La (sic) baroque définit en fait un moment de la civilisation européenne (France comprise), dans lequel le couple animus-anima exécute un ballet aux pas bien définis. Les attributs féminins de l’œuvre baroque sont donnés à voir en premier, […] Lorsqu’il [animus] reste dans l’ombre, on parle de baroque; lorsqu’il se fait voir, l’œuvre devient classique.«105

Eine solche Analogie von Barock und symbolischer Weiblichkeit ist überholt. Bereits Eugenio D’Ors verwies in Freud’scher Manier auf die zweifelhafte Feminisierung des Barock, darin das Ewig-Weibliche suchend, das nicht weiß, was es will.106 Nichtsdestotrotz leuchtet ein, warum Vertreter der französischen Avantgarde in Kritik107 und Poetik das Barocke aufgrund seines Verhältnis zum Irrationalen em-

101 In seinem letzten Buch Dernier regard sur le baroque (1998) relativiert er seine frühere Beschreibung des Barocken anhand der beiden Größen ›Metamorphose‹ und ›Ostentation‹. Stattdessen entwickelt er darin die These von der epochalen Dialektik von Klassik und Barock, die er zum Strukturprinzip eines jeden literarischen Werks erhebt. 102 Rousset: 1954, 9. Die Forschung kann sich nicht darüber einigen, ob man schon um 1550 La Pléiade als Vorstufe des Barock sehen kann, vgl. Hoffmeister: 1987, 24. 103 Vgl. Beaussant/Brochier: 1992, 22. 104 Dubois: 1992, 41. 105 Dubois: 1992, 37-38. 106 Vgl. D’Ors: 1964, 30. 107 Vgl. Vertreter der Nouvelle Critique wie Roland Barthes zum »baroque funèbre« (1993c) oder Gérard Genette: »Le baroque, s’il existe, n’est pas une île (et encore moins une chasse gardée), mais un carrefour, une ›étoile‹ et, comme on le voit bien à Rome, une

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phatisch bejahten, denn was »der Barockbegriff gerade in Frankreich leistete, war die Bereitstellung überzeugender ästhetischer Kategorien, welche eine in hohem Grad manieristische, ja experimentelle Literatur der Periode zwischen Malherbe und Corneille, die vorher als ›illisible‹ galt, allererst lesbar machten.«108 In der deutschsprachigen Romanistik schloss sich Wilfried Floeck dem Gattungsverständnis von Jean Rousset an und führte in Die Literarästhetik des französischen Barock: Entstehung, Entwicklung, Auflösung (1979) das Prinzip regelfeindlicher Diversität als Idealtyp barocker Ästhetik ein.109 Und Christine Buci-Glucksmann bewertet Barock als »une esthétique de l’altérité«110, die die Differenz des Anderen mitdenke und deshalb sei La raison baroque als ein barockes Paradigma auch bei nachfolgenden Denkern (bspw. Baudelaire, Benjamin, Barthes, Lacan) anzutreffen. Michel Foucault spricht von einer Kontinuität der Wissensformationen, der epistemischen Konfigurationen, konkret von der Ähnlichkeit des Mittelalters zum Barock,111 aber auch vom epistemischen Bruch in der Mitte des 17. Jahrhunderts, denn in dieser Epoche wird das Mimesis-Postulat der Renaissance in Frage gestellt, statt dessen stehen dafür Repräsentationsformen, die symbolische Präsenz, im Vordergrund.112 Joachim Küpper hat für diese doppelte Kontextualisierung des Barock den Begriff der »Diskurs-Renovatio« geprägt: »der Barock [ist] zugleich Wiederaufnahme (des Mittelalterlichen) und Bewältigungsversuch (des Rinascimentalen), er ist eine Epoche der Renovatio.«113 Literarischen Barock versteht Küpper als »Realisierung einer diskursiven Strategie, mit der im Zeichen einer alten, bereits in der Spätantike definierten Ordnung die Vielfalt der in Spätmittelalter, Renaissance und Humanismus entstandenen énoncés wieder in eine feste Struktur gefaßt werden sollte«114.

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place publique. Son génie est syncrétisme, son ordre est ouverture, son propre est de n’avoir rien en propre et de pousser à leur extrême des caractères qui sont, erratiquement, de tous les lieux et de tous les temps. Ce qui nous importe en lui n’est pas ce qu’il a d’exclusif, mais ce qu’il a, justement, de ›typique‹ – c’est-à-dire d’exemplaire.« (Genette: 1969, 222) Schulz-Buschhaus: 1995, 15. Vgl. Floeck: 1979, 17-36. Zwar konstatierte Claude-Gilbert Dubois bereits 1973 in Le Baroque. Profondeurs de l’apparence eine abflauende Modewelle des Barock, dennoch schlossen sich in den 1970er und 1980er Jahren zahlreiche nationale und internationale Kolloquien an, wie z.B. das Barockkolloquium 1976 in Cérisy-la-Salle, vgl. Benoist: 1983. Buci-Glucksmann: 1984, 163ff. Das fundamentale Thema der Alterität signalisiert die frühe Studie Der fremde Calderón (1955) von Hugo Friedrich bereits mit dem Titel. Die mittelalterlichen Kulturen bieten also einen Zugang zur indigenen Amerikanität, zum Wunderbaren, zumindest aus Sicht der Europäer. Vgl. bes. Kap. 2 von Michel Foucaults Studie Les Mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines (1966). Küpper: 1990, 25. Ebd., 456.

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Die Skepsis nicht nur vieler französischer Kritiker gegenüber dem Barockbegriff und die Frage nach einer Rechtfertigung der Epochenkategorie bleiben bestehen.115 Die zeitliche Eingrenzung der Barockphase ist schon innerhalb Europas problematisch,116 was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass verschiedene nationale Literaturwissenschaften, allen voran Frankreich und Italien, erst in den letzten Jahrzehnten den Begriff in ihre jeweilige Literaturgeschichte aufgenommen haben.117 2.3.1.2 Barroco im Siglo de Oro In der Hispanistik trifft man auf keine vergleichbare Rechtfertigung der Epochenkategorie wie in der Galloromanistik. Während die französische oder auch die italienische Literaturwissenschaft bis in jüngere Zeit daran zweifelten, ob es neben der Klassik – bzw. für Italien dem Manierismus – überhaupt Platz gäbe für den Barock, gilt Spaniens Siglo de Oro als Höhepunkt und Ausstrahlungszentrum des europäischen Barock. Es stand in besonderer Weise im Zeichen der Gegenreformation, aufbauend auf der Erfahrung der Reconquista. Die in Spanien besonders evidente Beziehung zwischen Barock und Gegenreformation hatte für die Kunst, Literatur und andere kulturelle Erscheinungen konstitutive Bedeutung.118 In Spanien etablierte sich der Begriff des Siglo de Oro bereits im 18. Jahrhundert zur Bezeichnung des kulturellen Schaffens des 16. und 17. Jahrhunderts, so dass mitunter auch von den Siglos de Oro die Rede ist. Eine Abgrenzung zwischen Barock in Abgrenzung zur Klassik hat es in Spanien nicht gegeben.119 Historisch-politisch wird das Siglo de Oro oft unterteilt in eine erste Phase, in der das Weltreich seine größte Machtausdehnung und Prosperität erfährt und eine zweite des Machtverfalls, einhergehend mit wirtschaftlichem Niedergang und politischer Isolierung im Verlauf des gesamten 17. Jahrhunderts. Ob das zeitlich schwer festlegbare Siglo de Oro mit dem Barock gleichgesetzt werden kann, ist fragwürdig. Die Mehrzahl der Studien über die Epoche des Siglo de

115 Marc Fumaroli (1979/1994) äußert sich sehr abwertend über den Barock und wirft ihm einen aggressiven Expansionsdrang vor. Siehe seine veränderte Position in L’école du silence (1994), wo er sagt, dass der Barockbegriff in Frankreich bis heute fruchtbar geblieben sei, aber stets auf stärkere Abwehrmaßnahmen gestoßen sei als in Italien, Spanien oder Deutschland. 116 Vgl. Hoffmeister: 1987, 1. Er datiert diese Phase von 1550 bis 1750. Ähnlich datiert auch Vuillemin das Barock-Epistem zwischen Kopernikus’ De Revolutionibus Orbium Coelestium (Von den Umdrehungen der Himmelskreise) von 1543 bis zu Newtons Opticks von 1704: »Le ›baroque‹ est la forme visible des interrogations de cette époque en proie à une extraordinaire mutation du savoir, prise entre des certitudes passées qui se délitent et un avenir imprévisible ouvert sur tous les possibles« (Vuillemin: 2007, 19).Walter Moser datiert den Barock hingegen grosso modo zwischen 1750 und 1850, also seinen Beginn 200 Jahre später als Hoffmeister und Vuillemin, vgl. Moser: 2001, 27. 117 Vgl. Buck: 1980, 18ff; Sarlet: 2001, 17. 118 Vgl. ebd., 17. 119 In der spanischen Literaturgeschichte findet der Begriff Barroco weit weniger Verwendung als Epochenbezeichnung Siglo de Oro. Alborgs zweiter Teil der Historia de la literatura española (1977) trägt zwar den Untertitel »época barroca«, doch letztlich definiert er das 17. Jahrhundert als Siglo de Oro.

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Oro vermeidet eine Periodisierung in Renaissance und Barock.120 Gleichwohl orientiert sich das iberoromanische Barockkonzept paradigmatisch an zentralen spanischen Autoren der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts: Luis de Góngora (1561-1627), Lope de Vega (1562-1635), Francisco de Quevedo (1580-1645), Baltasar Gracián (1601-1658), Pedro Calderón de la Barca (1600-1681).121 Außerdem lässt sich die Epochenbezeichnung Siglo de Oro nicht ohne weiteres auf Hispanoamerika anwenden, denn bis zur Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert fehlte dort eine mit Spanien vergleichbare kulturelle Infrastruktur. Festgehalten werden muss, dass sich die Barockforschung ebenfalls erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts formierte. So wurde beispielsweise der spanische Autor Luis de Góngora mit dreihundertjähriger Verspätung wiederentdeckt und rehabilitiert; zunächst durch den vielbeachteten Artikel »Góngora et le gongorisme« im Jahre 1911 von Rémy de Gourmont, dem Wortführer der französischen Symbolisten, später vor allem durch die Bewegung der Generación del 27 im Zusammenhang mit Góngoras 300. Todestag im Jahre 1927. Die spanische Literaturgeschichte kennt dem Barockbegriff inhärente Konzepte von Culteranismo (bisweilen auch Góngorismo genannt) und Conceptismo. Kulteranismus und Konzeptismus sind die sprachlichen Konzepte von barocker Lyrik und Prosa. Kulteranismus basiert auf einer extremen Metaphorik, auf Neologismen, einer komplizierten Syntax und Verklausulierung der Sprache. Die Kompliziertheit des Ausdrucks sollte den Leser zum Mitdenken anregen. Der Konzeptismus wiederum benennt die Technik der Schaffung von conceptos; hier dominieren neben anderen rhetorischen Figuren die Metapher und die Antithese.122 Ihnen gemeinsam ist ein artifizieller, komplizierter und hochrhetorischer Sprachstil des Barock, der sich bewusst von der Alltagssprache absetzt. Daher wurden diese Konzepte häufig mit dem Vorwurf der obscuritas und des Elitärismus attackiert. Desengaño, Vergänglichkeit, Traum, Tod, Schein und Illusion sind die dominanten Themen der neuen Weltsicht. Neben barocken Themen taucht bei vielen Autoren dieser Zeit ein Hang zu Satire, Parodie und Burleske auf. So bot sich der Barockbegriff als poetologisches Gegenkonzept zu den dominanten Rationalitätsidealen des französischen Classicisme an. Der Erfolg des Barockkonzepts stand gerade im iberoamerikanischen Raum im Kontext der Kolonisierung der Mundus Novus, welche das gesamte Siglo de Oro prägte. Spanien versuchte dabei in Lateinamerika seine Identität durch alternative Traditionen zum französisch geprägten cartesianischen Rationalismus zu legitimieren. Joachim Küpper definiert Spanien durch seine umfassende Restauration des Barock »als Zitadelle des rückwärtsgewandten Ordnungsversuchs«,

120 Vgl. Schulz-Buschhaus: 1995, 6; Krumpel: 2008, 68; Simson: 2005, 13. 121 Vgl. Küpper: 1991, 919f. Als Eingrenzung der Epochenbezeichnung Siglo de Oro gilt gemeinhin als Fernando de Rojas’ Drama La Celestina (1499) bzw. die Schriften von Garcilaso de la Vega (1501?-1536) und als Endpunkt wird das Calderóns Todesjahr 1681 genannt, vgl. Simson: 2005, 8. 122 Vgl. Simson: 2005, 95. Christopher Laferl bezweifelt die Dichotomie von Kulteranismus und Konzeptismus, da weder der Kulteranismus ohne Konzepte, noch der Konzeptismus ohne Ästhetik auskomme, vgl. Laferl: 2002, 63.

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so dass es mit seiner »Absage an den neuen, leistungsfähigeren Diskurs mit dem Verpassen der Moderne [zahlt], literarisch, philosophisch, politisch, ökonomisch«123. Im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Rückwärtsgewandtheit steht auch die Diskussion über die Aufklärung in der hispanischen Welt. Insbesondere die Frage nach der Reichweite eines spanischen Siglo de las Luces (oder Ilustración) ist bis heute ein strittiger Punkt, denn entschiedener als in anderen Ländern stellte sich hier die mächtige katholische Kirche dem neuen Gedankengut entgegen. Während sich die französische Aufklärung gegen die Institutionen der Monarchie und Kirche richtete, konnte sich die spanische Aufklärung nur unter ihrem Schutz und mit ihrem Einverständnis entfalten. Häufig wird von einer Spielart der Aufklärung in der hispanischen Welt gesprochen, die Religionskritik nicht notwendig eingeschlossen habe.124 In einer solchen Aufklärung mit Gott ging säkularisiertes Wissen und Glaube eine besondere Verbindung ein. Dabei wird beklagt, dass nach dem Humanismus und der Reformation abermals eine Modernisierungschance vertan worden sei.125 So resümiert die Journalistin Helene Zuber mit Bezugnahme auf Octavio Paz bereits für die Zeitenwende um 1500 für Spanien: »Auf dem Lorbeer der Conquista verschlief das Land hinter den Pyrenäen sozusagen den Anschluss an die europäische Neuzeit. Die Inquisition unterdrückte Wissensdurst als Ketzertum, um den Herrschaftsanspruch der katholischen Kirche zu verteidigen. [...] Während in Europa nach 1500 die Kritik zur Grundlage des neuen Zeitalters wurde, ›verschloss sich Spanien ihr‹, indem es ›seine besten Geister‹ zensierte und kritisches Denken verbot. Sein Fazit: Den hispanischen Völkern sei es nicht gelungen, wirklich modern zu werden, ›weil wir im Unterschied zu allen anderen Abendländern kein Aufklärungszeitalter erfahren haben‹. So rächte sich die blutige Eroberung der Neuen Welt.«126

In seiner Studie Identität der Aufklärung/Aufklärung der Identität. Literatur und Identitätsdiskurs im Spanien des 18. Jahrhunderts (2009) fragt Christian von Tschilschke nach der Spezifik und dem Potential der spanischen Aufklärung im europäischen Vergleich und kritisiert den »Anspruch der französischen Aufklärer auf die Diskurshoheit in Europa«127 . Die Aufklärungsfrage ist nämlich eng verbunden mit der Europazugehörigkeit Spaniens, insgesamt ist sie verknüpft mit dem Problem, was ein konfessionell gespaltenes, politisch zerstrittenes und wirtschaftlich so ungleich prosperierendes Europa überhaupt sei. Tschilschkes Studie zielt darauf, die spanische Abweichung vom angeblichen »französische[n] Regelfall«128 als eine his-

123 Küpper: 1990, 459. 124 Vgl. Sáez-Arance: 2008, 33 und Schütz: 2001, 185f. 125 Vgl. Sáez-Arance: 2008, 29 und Juliá: 2004, bes. 21-57. Andreas Renner weist darauf hin, dass der Antiklerikalismus außerhalb Frankreichs keine Schlüsselrolle einnahm; die Gleichsetzung von Säkularisierung und Religionsverdrängung habe sich gar als falsche Forschungsfährte erwiesen. Diese Diskussion kann hier nur angerissen werden, vgl. ausführlicher Renner: 2008, 26 und Sheehan: 2003. 126 Zuber: 2009, 96. 127 Tschilschke: 2009, 78. 128 Ebd., 14.

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torische Option neben anderen innerhalb der europäischen Aufklärung zu etablieren. Er definiert die spanische Aufklärung nicht als Abweichung von der Moderne, sondern als eine Ausprägung einer anderen Moderne, die gerade dadurch modernitätskritisch sei, indem sie kontextgebunden denkt und somit ethnozentristische und imperialistische Elemente angeblich universalistischer Ansprüche enthülle und korrigiere.129 Aufgrund der tabuisierten Kritik an Staat und Kirche sei die spanische Aufklärungsbewegung gerade für Forschung mit einem postmodernen Theoriehintergrund interessant, denn »Begrenzungen und Ambivalenzen der Vernunftkultur«130 sowie ein gesteigertes Identitäts- und Alteritätsbewusstsein kämen hier zum Vorschein. Zum Selbstverständnis der Aufklärung gehörte eben nicht nur zivilisatorisches Sendungsbewusstsein, sondern ebenso Zivilisationskritik.131 Überträgt man Tschilschkes Überlegungen – gipfelnd in der Denkfigur »Spanien als Afrika Europas«132 – auf Lateinamerika, darf nicht vergessen werden, dass die Aufklärung dort primär kolonialen Charakter besitzt. Europäisches Wissen, Glaube und Vernunftdenken traf hier auf ein mestizisches, indianisches und afroamerikanisches Wissen, und bildete so eine barocke Rationalität. Dies ist Thema der folgenden Überlegungen, die sich der Neukonstruktion des Barock im 20./21. Jahrhundert widmen.

2.4 N EOBAROCKE S TRATEGIEN 133 Unterschiedlich verwendete Begrifflichkeiten zeugen von der vielfältigen Bedeutung des Barocken für Lateinamerika: barroco colonial, barroco americano, barroco latinoamericano, barroco indiano, barroco criollo oder auch barroco tropical.134 In Anlehnung an The Empire writes back könnte man sagen, Stilmittel und Themen des Barocken tauchen transformiert wieder auf. Während der Begriff barroco epochenübergreifend für alles, was in irgendeinem Zusammenhang zur lateinamerikanischen Natur, Kunst, Architektur und Geschichte steht, verwendet wird, bezieht sich der Terminus neobarrocco zumeist auf die lateinamerikanische Literatur ab Mitte des 20. Jahrhunderts.135 Dies führt zu der Frage, wie sich dieser Begriff zu anderen in der Li-

129 Vgl. Tschilschke: 2009, 20ff und 99. Die französische Aufklärung bezeichnet Tschilschke als kontextungebunden, weil sie als europäisches Gemeingut betrachtet wird. 130 Gumbrecht, zit. n.: Tschilschke: 2009, 22. 131 Vgl. Renner: 2008, 21. 132 Tschilschke: 2009, 91. 133 Ein Extrakt dieses Kapitels ist in Cadernos de Literatura Comparada auf Spanisch erschienen, vgl. Ueckmann: 2008b. 134 Vgl. Kaiserkern: 1990, 3. Vertiefend siehe: Sifontes/Guaura: 1983, Manrique: 1983. 135 Wie bereits erwähnt, verorten Theoretiker wie Maffesoli mit seiner These von der »baroquisation de l’existence« oder Calabreses Studie Età neobarroca den Neobarock weitläufiger. So gehört bei Letzterem z.B. der gesamte Bereich des lifestyle, styling, (product-) design, look, networking des täglichen Lebens dazu; eine allgemeine Stilisierung des Alltags, die sonst nur den Künstlern vorbehalten war. Eine solche ausgedehnte Definition erachte ich für meine Untersuchung jedoch als unergiebig, da es mir konkret um ästhetische Schreibweisen geht.

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teraturkritik verbreiteten Etikettierungen wie realismo fantástico (Borges),136 real maravilloso (Carpentier), realismo mágico (García Márquez),137 boom,138 nueva novela histórica139 oder »hyperrealistischer Roman«140 verhält. Die terminologische

136 Bei Borges taucht zudem die Vorstellung der Welt als Labyrinth auf, das kein klar definierbares Zentrum mehr kennt und eine Zirkularität der Geschichte postuliert. 137 Der real maravilloso und der realismo mágico lassen sich nur schwer voneinander differenzieren, beide können als »un fantasma de la imaginación barroca« (Barella: 1990) interpretiert werden. Das Konzept des real maravilloso, das Carpentier in den 1940er Jahren zu entwickeln begann (der Begriff findet erstmals Erwähnung im 1948 formulierten Vorwort zu El reino de este mundo, Carpentiers Roman über den Sklavenaufstand und die Unabhängigkeitskriege auf Haiti), versucht sich jedenfalls abzugrenzen gegen das angeblich artifizielle und dekadente merveilleux der europäischen Surrealisten. In Amerika – in erster Linie die Karibik, dann Iberoamerika – sei die Wirklichkeit selbst wunderbar und zwar aufgrund der ethnischen und kulturellen Überlagerungen und Vermischungen. Der realismo mágico (oder macondismo) beinhaltet die Festlegung auf eine magischrealistische Weltsicht. 138 Boom verweist insbesondere auf die Rezeption lateinamerikanischer Literatur in Europa bis in die 1980er Jahre. Gustavo Pellón zählt neben den genannten Autoren noch Guillermo Cabrera Infante, Julio Cortázar, José Donoso, Carlos Fuentes, José Lezama Lima, Mario Vargas Llosa, Severo Sarduy und Luis Rafael Sánchez unter dem Oberbegriff des boom bzw. prä-boom oder post-boom auf, der für Pellón einzelne Konzepte wie marvellous real, magical realism oder baroque umfasst. Boom meint bei ihm generell jene literarische Bewegung, die die lateinamerikanische Literatur zur Weltliteratur machte: »Their fresh vision and innovative use of language and narrative techniques shifted the literature of Latin America from a peripheral position to the center of world literature« (Pellón: 1994, 209). Sarlet (2001, 24) wertet die starke Rezeption lateinamerikanischer boom-Literatur auch als Antwort auf den sehr theorielastigen Nouveau Roman und den späteren Minimalismus. Viele Schriftsteller des boom versuchen, Geschichte noch mittels einer mythologisch fundierten Kontrahistorie zu erklären und Gegenmodelle zu liefern; ein Vorgehen, das ihn deutlich von neobarocken Schreibweisen unterscheidet. 139 Die Gattung nueva novela histórica greift postkoloniales Gedankengut zur relectura und reescritura hispanoamerikanischer Geschichte auf, verzichtet dabei aber auf historische Wahrheitsansprüche. Seymour Menton hat sechs strukturelle Tendenzen dieser Gattung ausfindig gemacht, die sich nahezu alle auch zur Charakterisierung des Neobarock anbieten, was eine genaue Differenzierung der beiden Begriffe erschwert: 1) spiralförmigzyklischer Charakter der Geschichte, 2) »Geschichtsverzerrung«, 3) Fiktionalisierung historischer Figuren, 4) Metafiktion und Autoreflektion, 5) Intertextualität, 6) Karnevalisierung der Literatur, vgl. Menton: 1993, 42ff. Preyer unterscheidet den neobarroco cubano von der nueva novela histórica dahingehend, dass letzterer auf die Dekonstruktion und Pervertierung historiographischer Wahrheit beschränkt bleibe, vgl. Preyer: 2013, 45. 140 In bewusster Abhebung von neobarocken Tendenzen – dargestellt an Texten von Alejo Carpentier oder Juan José Armas Marcelo – entwickelt Guido Rings in seiner Studie Eroberte Eroberer den Terminus »hyperrealistisch«. Gemeint ist damit ein Stil, der eine neue Einfachheit postuliert und ausdrücklich auf dokumentarisch-realistische Erzähltechniken zurückgreift, er verweist dafür auf Romane von Giocando Belli oder Matilde

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Konfusion, die in der gleichzeitigen Verwendung der beiden Begriffe barroco und neobarroco besteht, wird durch die anderen Termini, die in der Literaturkritik ebenfalls analog verwendet werden, noch verstärkt. Gemeinsam ist ihnen sicherlich eine Erzählweise mit magischen oder fantastischen Praktiken, eine Multiplizierung der Erzählerstandpunkte, teils auch der Sprachen und vielfältige generische Interferenzen141 Wie im amerikanischen Barock geht es beim realismo mágico und real maravilloso auch um ontologische Aspekte, also um Ausdrucksformen der Kulturmischung und somit um einen Bezugspunkt für kollektive Identitätsmodelle. Die als barock erklärte Literaturproduktion Lateinamerikas überwindet jedenfalls einen Realismus europäischer Ausprägung. Bei all diesen Begriffen stehe die schöpferische Leistung von Transferprozessen im Vordergrund wie Anja Bandau für den Magischen Realismus als Ausdruck einer eigenständigen lateinamerikanischen Ästhetik festhält; gemeint sind: »Austauschprozesse zwischen Genres (Realismus und Phantastik), Weltsichten (Magie und Logik) und Traditionen (Schriftlichkeit und Mündlichkeit).«142 Eine Erklärung für aktuelles neobarockes Schreiben ist sicherlich der Gewinn plurikultureller Referenten, die einen wahren Sprach- und Geschichtenrausch erzeugen. Zur Schärfung des Neobarock ist es zunächst nötig, ihn in seiner Variationsbreite vorzuführen. Alejo Carpentier gehört zusammen mit José Lezama Lima, Severo Sarduy und Carlos Rincón zu den lateinamerikanischen Autoren, die sich im 20. Jahrhundert am Nachhaltigsten zum Neobarock geäußert haben.143 Ihre Überlegun-

Asensi, vgl. Rings: 2005, 16ff. Ich finde diese Unterscheidung fragwürdig und nicht wirklich überzeugend, wird doch in allen ausgewählten Texten mit ähnlichen diskursiven Mitteln gearbeitet wie z.B. zyklisches Geschichtsverständnis, starke Fiktionalisierung, Metafiktion, Intertextualität sowie häufig mit karnevalesken Konzepten. Dennoch ist Rings zentrale These, dass auch die Täter im Eroberungsrausch der eigenen Gewalt zum Opfer fallen – festgehalten im Bild des conquistador conquistado – interessant für meinen Kontext. 141 Vgl. Semujanga: 2001, 215; Onyeoziri: 2001, 410. Beide Beiträge befinden sich in dem Band Nouvelles écritures francophones: vers un nouveau baroque? (Godin: 2001), in dem alle erwähnten Termini auftauchen und unter dem Phänomen des Barock subsumiert werden. 142 Bandau: 2007, 27. Vgl. bspw. Chamoiseaus Zuordnung zum Magischen Realismus: »l’œuvre de Chamoiseau est aussi une autre contribution à un phénomène récurrent aussi bien dans la littérature antillaise francophone qu’hispanophone et anglophone: il s’agit de la représentation du phénomène magico-religieux dans l’œuvre littéraire (Jonassaint: 2005, 104f). 143 Erwähnenswert ist zudem der Schriftsteller und Literaturtheoretiker Haroldo de Campos. Er hat mit seiner Studie O seqüestro do barroco na formação da literaturea brasileira (1981) über den Luso-Brasilianer Gregório de Matos, einem Autor des 17. Jahrhunderts, maßgeblich die Diskussion zum Status der Barockliteratur in Brasilien angeregt. Haroldo de Campos weist nach, dass dieser Autor in einer der grundlegenden Literaturgeschichten Brasiliens (A formação da literaturea brasileira von Antonio Candido) abwesend ist, da er sich nicht in das utopisch-progressive Modernitätsparadigma situieren lässt.

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gen ergänze ich um poststrukturalistische/postkoloniale Positionen von Deleuze und Glissant. 2.4.1 Zwischen Konstantentheorie und tellurischem Barockverständnis (Alejo Carpentier) Arabella Pauly unterscheidet in ihrer Studie Neobarroco: Zur Wesensbestimmung Lateinamerikas und seiner Literatur (1993) zwischen drei paradigmatischen Argumentationsmodellen in der lateinamerikanischen Literaturkritik des 20. Jahrhunderts, mit deren Hilfe sich erste theoretische Grundlagen des Neobarroco fassen lassen. Es handelt sich zunächst um die Konstantentheorie in Anlehnung an Eugenio D’Ors, die das Barock als zyklische, epochenunabhängige, ahistorische Konstante des Geistes auffasst (constante del espíritu). Zweitens gibt es den tellurischen Barockbegriff, der das Barock essentiell in der lateinamerikanischen Natur und Geschichte als eine Art Urkraft verwurzelt sieht, dabei auf präkolumbische Kulturgeschichte und Mestizaje verweist und der eine Einheit von barocker Natur, amerikanischer Wesensart und barockem Kunstschaffen postuliert. Und drittens ist die unter dem Einfluss des französischen Poststrukturalismus stehende Neobarock-Poetik des kubanischen Schriftstellers und Essayisten Severo Sarduy zu erwähnen, die durch ein Höchstmaß an Künstlichkeit charakterisiert ist.144 Gerade die ersten beiden Erklärungsversuche lassen sich nicht immer deutlich voneinander trennen. Streng genommen allerdings sieht die Konstantentheorie den zyklischen Wechsel von zwei entgegengesetzten Wesenheiten – Barock und Klassik – vor, was zur Konsequenz hat, dass das ohnehin barocke Lateinamerika auch die Klassik nachweisen müsste. Diese Sichtweise ist grundlegend problematisch, da Lateinamerika als Kolonie an Spanien bzw. Portugal orientiert war, wo es keine der französischen Klassik vergleichbare Epoche gegeben hat. Dies kann die Konstantentheorie nur insofern, wenn man den Klassizismus als das von außen Herangetragene, als den imperial-klassizistischen Geist definiert. Klassizismus wäre dann Ausdruck von Rationalität, Nüchternheit und Cartesianismus, Barock hingegen Repräsentation von Sinnlichkeit, Sensualismus und Verschwendung; leere Flächen des Klassizismus stünden barocker Überfülle entgegen. Der im tellurischen Barockbegriff angelegte Determinismus sieht jedoch keine zyklische Abfolge von barocken und klassischen Ausdrucksformen vor.145 Die beiden Modelle korrespondieren also nur punktuell miteinander. Als ein Befürworter beider Modelle (atemporelle Konstantentheorie und tellurisches Barockverständnis) sei exemplarisch der kubanische Schriftstellers Alejo Carpentier zitiert: »América, continente de simbiosis, de mutaciones, de vibraciones, de mestizajes, fue barroca desde siempre [...]. El barroquismo americano se acrece con la criolledad, con el sentido del criollo, con la conciencia que cobra el hombre americano, sea hijo de blanco venido de Europa, sea hijo de negro africano, sea hijo de indio nacido en el continente – la conciencia de ser otra

144 Vgl. Pauly: 1993, 10. 145 Vgl. ebd., 44.

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cosa, de ser una cosa nueva, de ser una simbiosis, de ser un criollo; y el espíritu criollo de por sí es un espíritu barroco.«146

Und weiter: »Nuestro mundo es barroco por la arquitectura [...], por el enrevesamiento y la complejidad de su naturaleza y su vegetación, por la policromía de cuanto nos circunda, por la pulsión telúrica de los fenómenos a que estamos todavía sometidos.«147 Zu dieser Einschätzung, Barock als genuinen, identitätsstiftenden Nenner zur Kennzeichnung eines ganzen Kontinents zu verwenden (»América Latina, la tierra de elección del barroco«148), kommt Carpentier 1975 in seinem Essay »Lo barroco y lo real maravilloso«.149 Barock gehe einher mit »transformación, mutación, innovación«150. Carpentier interpretiert diese Stilrichtung nicht als historischen Stil, sondern in Anlehnung an Eugenio D’Ors’ Studie Lo Barroco (1935) als »una constante humana«151, die sich mittels Natur (»arte nuestro, nacido de árboles, de leños«152), Geschichte (»Nuestro arte siempre fue barroco: desde la espléndida escultura precolombina y el de los códices, hasta la mejor novelística actual de América, pasándose por las catedrales y monasterios coloniales de nuestro continente.«153) sowie kultureller und sprachlicher Vermischung in ontologischer Weise manifestiere. Carpentier charakterisiert diesen ewig wiederkehrenden »barroquismo« als »la culminación, la máxima expresión, el momento de mayor riqueza, de una civilización determinada«154 . Das Barock ist für ihn ein überzeitlicher, phänomenologischer Begriff eines »espíritu« und nicht bloß ein »estilo histórico«.155 Das Barock, das die Spanier nach Lateinamerika brachten, fügte sich mühelos in die Neue Welt ein, denn es war gewissermaßen die Fortsetzung der eigenen barocken Tradition, einhergehend mit den Überresten der präkolumbischen Kultur. Die Tropen produzieren, im Unterschied zu den gemäßigteren Zonen, in der Natur selber eine Art Vorbarock.156 Das

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Carpentier: 1990b, 179-183, Herv. N.U. Ebd., 188f., Herv. N.U. Carpentier: 1990b, 182. Bereits 1948 führte Carpentier in dem programmatischen Vorwort zu seinem Roman El reino de este mundo, das zuerst als Zeitungsartikel erschienen war, den Begriff des real maravilloso ein. Das Wunderbare sei im Surrealismus durch ein Übermaß an Reflexion unbrauchbar geworden, in Amerika hingegen wäre surrealistische Ästhetik auf natürliche Art und Weise vorhanden. Das Wunderbare entlehnt Carpentier jedoch von Ernst Robert Curtius, d.h. der Begriff wanderte zunächst von Europa nach Amerika und später zurück nach Europa, vgl. Rincón: 1996, 194; Nelle: 1996, 362. Carpentier: 1990b, 179. Eugenio D’Ors setzt Barock gar synonym mit der Suche nach dem verlorenen Paradies: »a saber, que el Barroco está secretamente animado por la nostalgia del Paraíso Perdido« (D’Ors: 1964, 31). Carpentier: 1990b, 170, Herv. i.O. Carpentier: 1990a, 41. Ebd. Carpentier: 1990b, 169. Ebd., 175. Vgl. Dill: 1993, 266. Diesem tropischen Barockverständnis schließt sich auch der venezolanische Kritiker Alexis Márquez Rodríguez in seinem Aufsatz »El barroco literario la-

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Barock ist somit nicht künstlich, sondern real. Im indianischen und iberischen Barock gelangte es in der idealistischen Geschichtsschreibung Carpentiers zu einer ersten Blüte, doch erst im mestizischen Barock verwirkliche er sich gänzlich.157 Die Naturalisierung des lateinamerikanischen Barock, also seine Wurzeln deterministisch geographisch jenseits von Europa zu sehen, ist als Anspruch verständlich und durchaus originell, denn so kann mit außereuropäischen Erzählperspektiven experimentiert werden. Das lateinamerikanische Barock erklärt Carpentier nicht nur mit den geographischen Gegebenheiten (tropische Vegetation und Fauna) und in der Tradition eines indigenen, präkolumbischern Barock, sondern insbesondere mit der direkten Verbindung dieses Begriffs zur dortigen sprachlichen, ethnischen und religiösen Mischung und dem daraus resultierenden mestizischen oder synkretistischen Weltbild. Kultureller und religiöser Synkretismus gilt als Bedingung für barockes bzw. neobarockes Schreiben. Gerade diese Transkulturalität sei charakteristisch für den lateinamerikanischen Barock in Abgrenzung zum europäischen Barock.158 War die Epoche des Barock für Europa nur eine (über lange Zeit zudem ignorierte oder abgewertete) Erscheinung, welche auf das gotische und romanische Mittelalter und die sich anschließende Renaissance folgte, so ist das Barock für Lateinamerika im Kontext von Indigenismo, Mestizaje und Sincretismo von herausragender Bedeutung, denn »toda simbiosis, todo mestizaje, engendra un barroquismo«159. Carpentier ist einerseits Befürworter eines genuin amerikanischen Barock, andererseits ist er auch Verfechter kultureller Symbiosen verschiedener, auch außeramerikanischer Kulturen; beides führe zu barocken Schreibweisen. Festhalten lässt sich, dass für Lateinamerika neben dem barroco europeo auch ein barroco indígena existiert.160

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tinoamericano« (1989) an, der barroco natural (»un paisaje essencialmente barroco«) parallel mit barroco cultural setzt (Márquez Rodríguez: 1989, 67). Er vermutet, »que la exuberancia de la naturaleza y el paisaje americanos pueden haber influido en la formación de un estilo barroco propio de nuestra cultura« (ebd., 68, Herv. i.O.). Umstritten ist, ob man überhaupt in so positiver Weise von einem mestizischen Kolonialbarock sprechen kann. Francisco Stastny widerspricht bereits in den 1970er Jahren dieser These von der Modifikation des spanischen Barock durch eingeborene oder mestizische Künstler. Er geht davon aus, dass das europäische Element bei allen Formen der städtischen Kunst und Architektur stets eindeutig dominierte und dass die Verwendung eingeborener Elemente lediglich pragmatischen Erwägungen gehorchte, vgl. Stastny: 1974, 159. Auch Leonardo Acosta (1974) bezweifelt die künstlerische Partizipation der Indianer und Mestizen am Kolonialbarock, mussten sie sich doch der spanischen Bevormundung unterwerfen. Der Barock symbolisiere in seinem Prunk vielmehr das Erstarken der Kolonialmacht und das Erlahmen des indianischen Widerstandes. Vgl. Roggiano: 1978, 44. Carpentier: 1990b, 182. Alfredo Roggiano konkretisiert diese Gegenüberstellung dahingehend, dass der europäische Barock »[e]s más un hacer que un ser: el parecer como resultado de la acción del sujeto. [...] el drama está en la historia«, wohingegen es im indigenen Barock eher um »ser en la esencia« geht, »el drama está en la vida misma, determinada por el dios, la naturaleza y el hombre« (Roggiano: 1978, 45ff.).

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Pierette Malcuzynski hat sicherlich Recht, wenn sie den Neobarock als »phénomène de syncrétisme en théorie littéraire«161 wertet. Dennoch bezweifelt sie eine tellurische Loslösung des Barock aus dem historischen europäischen Kontext: »[…] le Baroque est le produit d’un contexte économique, politique et socio-culturel centralisateur et absolutiste européen. […] Ainsi, les travaux qui cherchent à retrouver du ›baroque‹ au sens fort du terme dans les arts autochtones et précolombiens, par exemple, se précisent à mon sens dans un esprit malgré lui néo-colonisateur – un esprit hérité du conquistador qui juge toujours depuis son point de vue (européen) en imposant ses propres critères et modalités.«162

Das lateinamerikanische Barock steht auch im Kontext von Eroberung und Kolonisation: »la época del Barroco es para Hispanoamérica una etapa decisiva dentro de su historia, en cierto modo como lo fue la del Románico para Europa. En la época del Barroco culmina [...] la empresa fundacional iniciada por la conquista.«163 So skizziert der mexikanische Romancier Carlos Fuentes ein ambivalentes Bild der »lenguaje barroco«: sie sei zweifellos »la imagen de la derrota, de la separación, de la duda: de la tragedia«, doch Fuentes betont gleichermaßen den Sieg in der Niederlage, »la del reconocimiento, la humildad y la resistencia, la del awareness: saberse parte de una condición común a los hombres«164. Er verlagert damit den Akzent von einem formal-ästhetischen Ausgangspunkt auf die politische Problemstellung der Conquista. Trotz aller Kritik an Carpentiers tellurischem Barockverständnis, hat es freilich zu einer Aufwertung des lateinamerikanischen Barock beigetragen. Stellt das europäische Barock die Reaktion des Katholizismus auf die Schmucklosigkeit des Protestantismus und den Willen zur Transgression renaissancemäßiger Ordnung dar, so wird das Barock in Lateinamerika »das Refugium und der Nährboden einer neuen mestizischen Kultur, einer Kultur gemischten Ursprungs«165 . Auf der Suche nach Amerikanität und ihren Wurzeln wenden sich Kunsthistoriker und Philosophen (wie z.B. Leopoldo Zea) gezielt der barocken Kolonialarchitektur zu, die eindeutiger als die literarischen Zeugnisse jener Zeit präkolumbische Nachwirkungen erkennen lassen. So postuliert nicht nur Alejo Carpentier die Zusammengehörigkeit von Barock und Amerikanität. Auch Julio Cortázar kennzeichnet den Barock als »cifra y signo vital de Latinoamérica«166. Vergleichbar argumentierte schon 1940 der Dominikaner

161 Malcuzynski: 1987, 13. Wobei sie die synonyme Verwendung von Barock und Neobarock mit Konzepten wie razão antropofãgica (Haroldo do Campos), Intertextualität, Karnevalisierung, Polyphonie u.a., aufgrund des enthistorisierenden und dekontextualisierten Umgangs mit diesen Begriffen als sehr problematisch einschätzt (Malcuzynski: 1987, 26). 162 Ebd., 37. 163 Bravo Lira: 1981b, 14. 164 Fuentes: 1969, 3; Herv. i.O. 165 Constantin von Barloewen im Gespräch mit Carlos Fuentes: 2003, 267. 166 Cortázar: 1976, 78.

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Pedro Henríquez Ureña in seinem Essay »Barroco de América«167 und plädierte für eine Ausweitung des Geltungszeitraumes des Barock in Amerika bis in das 18. Jahrhundert hinein, denn »América persiste en su barroquismo cuando España lo abandona para adoptar las normas del clasicismo académico. En nuestro siglo XVIII, durante largo tiempo persiste el culto de los maestros del siglo anterior: Lope, Quevedo, Góngora, Calderón, […].168 Das Barock, welches im europäischen Kontext als Epoche der Abweichung von etablierten Normvorstellungen, als Stilrichtung mit Außenseitencharakter, gesehen wird, erweist sich für Lateinamerika als typologisches Konzept, die eigene kulturelle Existenz zu bestimmen.169 Für unseren Kontext sind gerade das dekonstruktive Element und die Rekonstruktion des Barocken interessant. ›Barock zu lesen‹ heißt, so Bernhard Teuber, ein ästhetisches Objekt »als énoncé eines ›verwilderten Dialekts‹, als absichtlich fehlerhafte Variante einer bereits kodifizierten, korrekten Hochsprache zu lesen und ihr polemisch entgegenzuhalten«170. Der Ohnmacht der Literatur vor der lateinamerikanischen Geschichte in Form des desengaño kann auf diese Weise etwas Produktives entgegengesetzt werden. 2.4.2 Die rebellische Ästhetik des amerikanischen Barock: Schrecken der Conquista und kreative Pathologie (José Lezama Lima) Als »kreative Pathologie« und »fröhliche Bejahung des Abjekten«171 , so charakterisiert der kubanische Literat José Lezama Lima in seinem Essay »La curiosidad barroca« (1957) den amerikanischen Barock. Barock ist für ihn weniger der künstlerisch-ästhetische Ausdruck einer Gegenreformation172 als jener der Contraconquista: »Repitiendo la frase de Weisbach, adaptándola a lo americano, podemos decir que entre nosotros el barroco fue un arte de la contraconquista.«173 Lezama Lima meint damit die Einverleibung der europäischen Kultur und die Rückeroberung der nur

167 Erstmalig erschienen in: La Nación, Buenos Aires, 23.06.1940. Pedro Henríquez Ureña betreute auch die Dissertation El gongorismo en América (1946) von Emilio Carilla. In der Folge publizierte Carilla El barroco hispánico (1969) und La literatura barroca en Hispanoamérica (1973), vgl. Roggiano: 1978, 41. 168 Henríquez Ureña: 1998, 354. Drei Namen stehen für das Echo auf den spanischen Gongorismus in Lateinamerika: der Kolumbianer Hernando Domínguez Camargo, der Mexikaner Luis de Sigüenza y Gongora (Neffe des span. Dichters und Professor an der Universität von Mexiko) und Sor Juana Inés de la Cruz. 169 Vgl. Neumeister: 2000, 605. 170 Teuber: 2000, 622. 171 Ebd., 636f. 172 Werner Weisbach antwortet mit seinem Buch Der Barock als Kunst der Gegenrefomation (1921) auf die These eines anderen deutschen Kunsthistorikers, Wilhelm Worringer, der in seinem Buch Formprobleme der Gotik (1911) den Barock als eine degenerierte Gotik charakterisiert. Für Lezama Lima stellt sich Worringers Dekadenztheorie schlicht als Teil einer ›germanischen Ausdruckswelt‹ dar. 173 Lezama Lima: 1993a, 80.

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partiell assimilierten indigenen Elemente. Er knüpft hier an eine charakteristische lateinamerikanische, aber für Europa neue Lesart des Barock an, indem er es euphemistisch als ersten eigenständigen, synkretistischen und damit revolutionären Stil Lateinamerikas konstituiert. Postkoloniale Hybridität ist in Lateinamerika schon während der Kolonialzeit sichtbar. Er stellt in seinem Geschichtsentwurf der europäischen Negativ-Ästhetik des Barock eine positive, ausufernde, formenreiche, mestizische expresión americana174 gegenüber, die den amerikanischen Barock wesentlich von seiner gemäßigteren europäischen Variante unterscheide. Der Kubaner rekonstruiert mit Hilfe einer kontrapunktischen Lektüre von Bildern eine amerikanische Kulturgeschichte, die weniger von rationalistischer Erkenntnissuche als von einer poetischen Methode geleitet wird: »Nuestra apreciación del barroco americano estará destinada a precisar: Primero, hay una tensión en el barroco; segundo, un plutonismo, fuego originario que rompe los fragmentos y los unifica; tercero, no es un estilo degenerescente, sino plenario, que en España y en la América española representa adquisiciones de lenguaje, tal vez únicas en el mundo, muebles para la vivienda, formas de vida y de curiosidad, misticismo que se ciñe a nuevos módulos para la plegaria, maneras del saboreo y del tratamiento de los manjares, que exhalan un vivir completo, refinado y misterioso, teocrático y ensimismado, errante en la forma y arraigadísimo en sus esencias. [...] El primer americano que va surgiendo dominador de sus caudales es nuestro señor barroco.«175

Zweierlei ist an diesem Zitat bemerkenswert: Zunächst Lezama Limas Abkehr von Europa und die Selbstbestimmung einer Identität innerhalb des (latein-)amerikanischen Raumes. Wie bei Carpentier avanciert Lateinamerika zum Ursprungsland eines eigenständigen Barock. So wertet er den Versuch der Jesuiten, in Paraguay ein Paradies zu schaffen, als Rückkehr zur Unschuld »que situaba nuestro barroco en un puro comenzar«176. Europa ist hier nicht der Ausgangspunkt für den amerikanischen Barock; letzterer ist kein »produit dérivé de l’Europe«177 , sondern Amerika ist eine Welt sui generis. Damit weist er auch den klischeehaften Dekadenzvorwurf des Verfalls zurück, der anhaltend auf dem Barock lastet. In seinem Essay »Sumas críticas del americano« deutet er Amerikas vielschichtigen Hybriditätserfahrungen gar als Ausweg für Europa: »Después de la Edad Media, tanto la contrareforma como el espíritu loyolista, eran formas del rencor, de la defensiva, de un cosmos que se desmoronaba y al que se quería apuntalar con la

174 La expresión americana (1958) ist der Titel einer Essaysammlung von Lezama Lima, in der »La curiosidad barroca« erstmals publiziert wurde; sie basiert auf einer 1957 gehaltenen Vortragsreihe Lezama Limas. Weiterhin zählen zu La expresión americana folgende Essays: »Mitos y cansancio clásico«, »El romanticismo y el hecho americano«, »Nacimiento de la expresión criolla« und »Sumas críticas del americano«. 175 Lezama Lima: 1993a, 80f. 176 Ebd., 85. Julio Cortázar spricht ebenfalls von der »ingenuidad americana« und »inocencia americana«, vgl. Cortázar: 1976, 78. 177 Vilaltella: 2001, 132.

176 | II T RANSDISZIPLINÄRES T HEORIENETZ más rígida tensión voluntariosa. Sólo en ese momento América instaura una afirmación y una salida al caos europeo. Pero un nuevo espacio que instaure un Renacimiento sólo lo americano lo pudo ofrecer en su pasado y lo brinda de nuevo a los contemporáneos. [...] En un escenario muy poblado como el de Europa, en los años de la contrarreforma, ofrecemos con la conquista y la colonización una salida al caos europeo, que comenzaba a desangrarse. Mientras el barroco europeo se convertía en un inerte juego de formas, entre nosotros el señor barroco domina su paisaje y regala otra solución cuando la escenografía occidental, tendía a trasudar escayolada.«178

Javier Vilaltella betont in Lezama Limas Kulturtheorie eben dieses eigenständige und revolutionäre Moment der produktiven (Wieder-)Aneignung, Anverwandlung und Neuschöpfung von Bildern durch Recyclage: »[…] il y a eu des processus de recyclage afin que le baroque s’établisse comme tel. [...] Pour un continent qui reçoit sans cesse des produits décontextualisés, l’idée de culture comme recyclage confère aux réalités culturelles une autre créativité.«179 Ferner ist Lezama Limas Kulturbild nicht das einer Folge von Brüchen, sondern das eines originären kulturellen Zusammenhangs, welches sich zwischen einem imaginären indigenen Potential – beginnend mit den prähispanischen Kulturen und deren barocken Kosmogonien und Mythen (also vorliterarischen Werken) – und der späteren afrikanischen Kulturen situiert: »las dos grandes síntesis que están en la raíz del barroco americano, la hispano incaica y la hispano negroide«180. Die präkolumbische Welt erfährt den Schock der Conquista, der durch das Barock gewissermaßen ästhetisch kompensiert wird. Carlos Fuentes nennt es in seinem Vorwort zu Lezama Limas Band Die amerikanische Ausdruckswelt die »barocke Rettung«181: »[...] die europäische Renaissance nimmt die Bruchstücke der zerfallenden indianischen Kultur auf und verwandelt sie in europäische Mythen, den des Goldenen Zeitalters und den des Guten Wilden. Dieser Wunsch nach den ›neuen Barbaren‹ und dem ›neuen Blut‹ befriedigt sich allzu wörtlich in der Umarmung der Konquista und Kolonisierung, die für die Besiegten nur den Tod kennt. Das aufkommende Barock füllt dann die Leere zwischen dem Bild vom amerikanischen Arkadien und seiner Zerstörung durch die koloniale Gewalt.«182

Auf die Frage: »Vanitas und Leere, sind das auch die Ursachen des ›Barocken‹ der lateinamerikanischen Literatur?« antwortet Fuentes in einem Interview: »Natürlich, das ›Barocke‹ ist der verzweifelte Versuch, die Leere nach der Niederlage zu füllen, [...] aus dem Gefühl der frustrierten Utopie der Neuen Welt heraus.«183 Gibt das Barocke also die Sicht auf eine essentielle Leere frei? Ist das das eigentliche Thema der vielen Barock-Variationen? Dem horror vacui, der Angst vor der leeren Fläche, wird mit ausufernder, proliferierender und dekorativer Fülle begegnet.

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Lezama Lima: 1993c, 180-182. Vilaltella: 2001, 133. Lezama Lima: 1993a, 106. Fuentes: 1992, 9. Ebd. Fuentes: 1979, S.III.

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Neobarock ist der Wille zu einem kulturellen Selbstverständnis einer zerrissenen Welt. Als Antwort auf eben diese Traumatisierung steht bei Lezama Lima der Versuch, neue Strategien der Rezeption, der Transformation und der Dissemination kultureller Phänomene beim Transfer von Europa nach Amerika zu finden. Lezama Lima spricht in »Mitos y cansancio clásico« auch vom Barock als »despertar americano para la acumulación y la saturación«184. Nicht das wissenschaftliche Wissen steht im Vordergrund, sondern die Imagination, der Versuch in Bildern zu denken, die Überschreitung der Grenze zwischen begrifflichem und poetischem Sprechen. Geschichtsschreibung ist bei Lezama Lima eine Technik der Fiktion: »Una técnica de la ficción tendrá que ser imprescindible cuando la técnica histórica no pueda establecer el dominio de sus precisiones. [...] Todo tendrá que ser reconstruido, invencionado de nuevo, y los viejos mitos, al reaparecer de nuevo, nos ofrecerán sus conjuros y sus enigmas con un rostro desconocido. La ficción de los mitos son nuevos mitos, con nuevos cansancios y terrores. [...] el imago se impuso como historia.«185

Die von Lezama Lima postulierte mestizische Barockkunst in Amerika ist gleichbedeutend mit dem ausufernden Wuchern von Formen und Bedeutungen (extensión186); es meint die synkretistische Kombination des schon Vorhandenen in stets anderen Konfigurationen. In Amerika habe sich – so hält Irlemar Chiampi zu Lezama Lima fest – eine transversale »era imaginaria« entwickelt, »que suma y transforma fragmentos de otros imaginarios«:187 »[…] una era imaginaria no coincide necesariamente con una cultura, menos todavía con una sociedad. Lezama sugiere que su interés es detectar, en el curso de una cultura o sociedad, los tipos de imaginación, los momentos en que se dio la ›potencialidad para crear imágenes‹ [...].«188 Lezama Limas Essays zentrieren sich wiederholt um den señor barroco americano, den gelehrten Höfling, eine Figur, welche die kulturelle amerikanische Macht der Gegeneroberung und Widerständigkeit symbolisiert: »Vemos así que el señor barroco americano, a quien hemos llamado auténtico primer instalado en lo nuestro, participa, vigila y cuida, las dos grandes síntesis que están en la raíz del barroco americano, la hispano incaica y la hispano negroide.«189 Diese Figur versteht sich einerseits als Replik auf Hegels vernunftgeprägte Philosophie der Weltgeschichte (1837), in der er dem schwarzen Kontinent die Fähigkeit zu Bildung und Entwicklung abspricht. Diesem Vorurteil begegnet Lezama Lima mit der barocken Synthese des Indigenen, Schwarzen und Spanischen in der Karibik und Lateinamerika. Andererseits steht der señor barroco als Postulat, welches sich in Anlehnung an Kolumbus’ »Reise in den offenen Raum«190 an Ausdehnung und Ausschweifung orientiert, in welchem sich das Amerikanische mit dem Hispanischen, Indigenen und Afrikanischen unendlich vervielfältigt.

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Lezama Lima: 1993b, 77. Ebd., 56-58. Ebd., 54. Chiampi: 1993, 21. Ebd. Lezama Lima: 1993b, 106. Poppenberg: 1992, 160.

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2.4.3 Barocke Physik: Elliptische Konstruktionen oder »Un retour – pervers – au pays natal« (Severo Sarduy) Der Kubaner Severo Sarduy verfasste sein Werk größtenteils im französischen Exil und im engen Kontakt zur Tel Quel-Gruppe. Sarduy, der sich stets gegen eine mit zu viel Ernst betriebene Literaturkritik aussprach – darin erinnert er an Roland Barthes oder Gérard Genette –, und der seine Denkweise zwischen Strukturalismus und guapachá, einem kubanischen Tanzschritt, ansiedelt, diskutiert einen Barockbegriff, der sich zwischen Lezama Limas revolutionärem Barockverständnis, Lacans Psychoanalyse und französischem Poststrukturalismus verortet.191 Nina Preyer fragt in ihrer Studie Severo Sarduys Zeichenkosmos, ob er sich als kubanischer Theoretiker des Poststrukturalismus identifizieren lasse.192 Für Iván de la Nuez ist Sarduy der erste, der eine Brücke zwischen Barock und Postmoderne schlägt: »Sarduy aparece en esa franja entre la alta cultura y el carneval, la ópera y el prostíbulo, la literatura y la orgía. Su mundo es un mundo exterior. Un mundo alejado de cualquier sustancia o alma interior – opresiva o revolucionaria – oculta tras la máscara barroca.«193 Hinter der »barocken Maske« ist eine Welt ohne Substanz bzw. verweist die »barocke Maske« im Sinne poststrukturalistischer Philosophie auf die unendliche Bedeutungsvielfalt des Zeichens. Sarduy erklärt infolgedessen das Moment der Dezentrierung und die rhetorischen Verfahren der sustitución (Metaphorisierung, Stellvertretung, Ersetzung), proliferación (Wucherung, Signifikant durch eine Signifikantenkette ersetzen) und condensación (Verdichtung, Umstellung, Vertauschung) von Signifikanten zu den wichtigsten Merkmalen einer neobarocken Kultur Lateinamerikas.194 Barocke Ästhetik assoziiert er mit überschüssigem Luxus und mit dem Bild von einem krankhaften Wildwuchs: »el quiste, lo que prolifera, al mismo tiempo libre y lítico, tumoral, verrugoso.«195 Die Multiplizität des Signifikanten, also die relative Unabhängigkeit des Signifikanten vom Signifikat, steht im Mittelpunkt seiner Überlegungen zur Künstlichkeit des Barock. In der Literatur entsprechen Stilmittel und rhetorische Figuren wie ausgeprägte Metaphorik, Schachtelsätze mit langen Reihungen, Worthäufung und Wiederholung von Schlüsselbegriffen, Periphrase, Anapher, Hyperbel, Hyperbaton, Alliterationen, anagrammatische Konstitutionen,196 Allegorie, Anamor-

191 Vgl. Sarduys Essays »El barroco y el neobarroco« (1972) sowie Barroco (1975). Preyer hat dankenswerterweise eine deutsche Übersetzung des Essays »El barroco y el neobarroco« vorgenommen und ihrer Studie angehängt (2013, 331-352). Pellón verortet ihn zwischen »Latin-American boom and French Structuralism« (Pellón: 1994, 217), wobei ich Sarduys Zugehörigkeit zum Boom nicht teilen kann, vgl. auch Preyer: 2013, 42. 192 Vgl. Preyer: 2013, 60. 193 Nuez: 1998, 109. 194 Vgl. Sarduy: 1998, 168-174. 195 Sarduy: 1998, 167. 196 Sarduys Roman Cobra verweist einerseits auf das Verb cobrar (beziehen, eintreiben, fordern), andererseits auf die Kobra (und damit auf die möglichen Metamorphosen der Schlange; auch auf eine der Gestalten aus dem Roman, die Namen und Identität ändert) und auf ihr Herkunftsland Indien, weiterhin kann er auch als Kombination der Anfangs-

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phose, Korrelation, Antithese, Oxymoron, Inter- und Intratextualität, Reminiszenzen, Collage oder Überlagerung, Pastiche, Verzerrung, Parodie und Karnevalisierung einem neobarocken Textverständnis. Es handelt sich um eine destabilisierende reescritura mit klarem Verweischarakter, dessen ästhetische Wirkung auf dem Spannungsverhältnis zu einem Vorbild und damit auf Simulation197 beruht. Sarduy zufolge handelt es sich gleichwohl um einen eigenwilligen Diskurs: »Pretendo leer los mecanismos característicos del barroco [...] no como derivación, agotamiento, perversión o clausura de otras formas [...], propongo que se lean esas formas como fundadoras de una nueva gramática.«198 Die von Sarduy diagnostizierte »nueva gramática« verknüpft er in Barroco, eine »Studie für Eingeweihte«199 , mit kosmologischen Theorien des 16. und 17. Jahrhunderts. Er konstatiert eine »solidaridad epistemológica entra la figura geométrica y la figura retórica«200 , also eine unmittelbare Verbindung zwischen Kosmologie und künstlerischen Ausdrucksformen. Der Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild zieht, so Sarduy, auch einen Paradigmenwechsel in der Kunst nach sich. Die Dezentrierung der Erde aus ihrem Mittelpunkt zieht eine Dezentrierung des Menschen und der Wissenschaft nach sich. Der kopernikanischen Wende folgt eine Dezentrierung der Planetenbahnen. In dem Moment, wo der Astronom und Mathematiker Johannes Kepler (1571-1630) entdeckt, dass die Umlaufbahn der Planeten nicht kreisförmig, sondern elliptisch mit unterschiedlich ausgeprägter Exzentrizität verläuft, habe sich im Bereich der Kunst eine Transformation von der Klassik zum Barock ereignet: Die Metapher der Ellipse spiegele sich in barocker Kunst wider, die eine epistemische Instabilität darstelle. Der weltanschauliche Wandel in Astronomie, Religion, Philosophie und Politik hatte die Entwicklung eines multiperspektivischen Denkens und eine daraus resultierende Relativierung tradierter Werte zur Folge. Die Verschiebung der Perspektive ermöglichte es, Widersprüche zu erkennen und eine durch Distanz, Entfremdung und Instabilität gekennzeichnete Betrachterposition einzunehmen.201 Severo Sarduy definiert barocke Metaphorik als Spiegelung des zweiten Kepler’schen Gesetzes, welches besagt, dass die Erde analog zur Ellipse um zwei Brennpunkte, um zwei Zentren – die Sonne und ein verdunkeltes Zentrum – kreise. Laut Kepler befindet sich die Sonne nicht in der Mitte der Umlaufbahn, sondern in einem Brennpunkt, der andere Brennpunkt ist verdunkelt bzw. leer, so dass sich der Abstand zur Sonne laufend verändert. Das hat für Sarduys Barockkonzeption, so

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buchstaben dreier Städte – Kopenhagen, Brüssel, Amsterdam – verstanden werden, aus denen die Gruppe abstrakter Maler COBRA hervorging, vgl. Pauly: 1993, 167. Zur Idee von Kopie und Simulation vgl. Sarduy: 1987 (Kap. »La simulación«, S. 53142). Sarduys Verständnis von Neobarock basiert u.a. auf Baudrillards Theorien zur postmodernen Massenkultur, Repräsentation und Simulation. Sarduy setzt Simulation in Analogie zu einem »deseo de barroco en la conducta humana« (ebd., 58). Nach Baudrillard – Simulacres et simulation (1981) – leben wir in einer totalen Welt der Simulakren, die er als Kopien definiert, zu denen es keine Originale gibt. Sarduy: 1979, 94; Herv. i.O. So die Rezeption von Wogatzke-Luckow: 1997, 251. Sarduy: 1979, 87. Ausführlicher zur Kosmologie und zu Kepler vgl. Preyer: 2013, 96-105.

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Dolores Koch, zur Folge: »En el centro del pensamiento y estilo barrocos hay un vacío, la conciencia de una ausencia. [...]. Sarduy reconoce con objetiva percepción que el gran mérito del barroco consiste en el modo novedoso con que encubre el horror al vacío.«202 Sarduy betrachtet Barroco und Neobarroco als zwei Darstellungs- bzw. Narrationsformen, die sich historisch unterschiedlich manifestieren: Barroco beschreibt ein dezentriertes Universum als Ausdruck des Menschen des 17. Jahrhunderts, denn sein vom christlichen Glauben bestimmtes Weltbild zerbrach, gleichwohl war die Welt noch von außen durch Gott und durch seine irdische Verkörperung, den König, also eine männlich dominierte Ordnung determiniert und verfügte so über ein einheitsschaffendes Moment. Die Abwesenheit eines festen, latent vorhandenen, wenngleich verdrängten Signifikanten (significante oculto), zeichnet die Kunstprodukte und literarischen Zeugnisse dieser Zeit aus, die trotz Komplexität und Verschlüsselung Sinn und Einheit ergeben.203 Neobarroco hingegen ist die radikalisierte Version des historischen Barock, denn im Rahmen postmoderner Fragestellungen geht es um die Auflösung vorgegebener master narratives. Gerade Sarduys Romanpoetik lässt sich nicht nur als postmoderne, sondern sehr spezifisch, so Nina Preyer, als »postrevolutionäre Strömung« 204 erfassen: »Mit dem Begriff neobarroco knüpft Sarduy in El barroco y el neobarroco an das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst an, um nachzuweisen, dass auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschiedene Disziplinen von Paradigmenwechseln geprägt sind – so etwa die Semiologie und die Psychoanalyse –, und sich die damit verbundene Ideologiekritik abermals 205 in der Kunst spiegelt, nun allerdings in der neobarocken Romanliteratur.«

In Analogie zur Urknall-Theorie zerfallen neobarocke Texte in unzählige, heterogene Fragmente und verweigern sich zugunsten eines Spiels mit den Signifikanten einer eindeutigen Sinnzuschreibung. Sarduy formuliert hier eine »Ästhetik des Pluralismus«206, die über ein dynamisches, sich ständig entziehendes Zentrum kreist (centro vacío).207 Die Unmöglichkeit der Zuschreibung von Zentrum und Peripherie bzw. die Postulierung von zwei Zentren (centro visible/centro obturado), von denen eines unsichtbar ist, weil aus dem Diskurs verdrängt, ist aufschlussreich für unseren Kontext. Sarduy erläutert dies in einem Interview mit dem programmatischen Titel »El barroco après la lettre«: »Ese surgimiento de lo plural y descentrado yo lo veo en un modelo puramente geométrico que es el paso del círculo a la elipse. Se trata de una figura con dos centros, de los cuales uno ha sido obturado, y en eso mi texto funciona tal y como la teoría planetaria lo describe, puesto

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Koch: 1990, 142. Vgl. Pauly: 1993, 151. Preyer: 2013, 46. Ebd., 24. Pauly: 1993, 179. Vgl. ebd., 145.

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que, por ejemplo, la Tierra traza una elipse alrededor del Sol, que ocupa uno de los centros, pero el otro, aunque invisible, es detectable magnéticamente.«208

Das dem Neobarroco vorausgegangene Krisenerlebnis ist das Zerbrechen eines von politischen Überzeugungen geleiteten Weltbildes. Schließlich führt dies zu literarischen Strategien, die über keinen zentralen Pol und kein eindeutiges Objekt mehr verfügen; Disharmonie, Fatalität und Absurdität sind die Folge: »Neobarroco del desequilibrio, reflejo estructural de un deseo que no puede alcanzar su objeto, deseo para el cual el logos no ha organizado más que una pantalla que esconde la carencia […] Arte del destronamiento y la discusión.«209 Die Erfahrung des Mangels, des desengaño und der Vergänglichkeit alles Irdischen steht am Anfang des Barock und des Neobarock, wobei es im 17. Jahrhundert noch den religiösen Trost gab, im 20. Jahrhundert hingegen bleibt als Kompensation für die Ent-Täuschung die Karnevalisierung und Karikierung der Verhältnisse, die bewusst negierte Sinnsuche im literarischen Schreiben.210 Für Sarduy stellt diese Parallele eine diskontinuierliche Isomorphie211 kosmologischer und wissenschaftlicher Revolutionen des 17. und 20. Jahrhunderts dar. Das Barock basiert für Sarduy auf dem Prinzip der retombée, welches er wie folgt definiert: »J’ai appelé retombée une causalité achronique: la cause et la conséquence d’un phénomène peuvent ne pas se succéder dans le temps, mais coexister; la ›conséquence‹ peut même précéder la ›cause‹: elles se battent comme les cartes d’un jeu. Retombée est aussi une similitude ou une ressemblance dans le discontinu: deux objets distants et sans communication ou interférence peuvent se révéler analogues; l’un peut fonctionner comme le double ou la doublure de l’autre: aucune hiérarchie de valeur entre un modèle et une copie.«212

Die retombée bezeichnet eine räumlich und zeitlich unabhängige Dynamik, die lediglich in einem fiktionalisierten Raum oder Spannungsfeld wirksam wird. Sowohl den Menschen des historischen als auch des gegenwärtigen Barock gehen jedenfalls Sicherheiten verloren, da er in besonderer Weise mit Exzentrizität konfrontiert ist: »L’homme du premier baroque […] est un homme qui se sent glisser; le monde de certitudes que lui avait assuré l’image d’un univers centré sur la Terre ou même encore – Copernic – sur le Soleil, a, tout d’un coup, basculé. […] tout s’est élargi, déformé, anamorphosé pour se reporter dans le tracé monstrueux des ellipses

208 Sarduy: 1979, 94, Herv. N.U. 209 Sarduy: 1998, 183. 210 Vgl. Wogatzke-Luckow: 1997, 245f. Auch Buck (1980, 44) hält fest, dass das barocke Lebensgefühl im Krisenbewusstsein wurzele und die Reflexion über die eigene Person und über ihre Beziehungen zur Welt im Zeichen der Dissonanz und Spannung stehe. 211 Eigenschaft bestimmter chemischer Stoffe, gemeinsam die gleichen Kristalle zu bilden. 212 Sarduy: 1975, 14. In seinem Essay »Nueva inestabilidad« definiert er den Begriff des retombée als »un arte sin emisor asignable, cuyo emisor no funcionaría más que como rumor inicial, bruitage: un arte repetitivo e irregular, numérico, roto, estallado. Huyendo hacia lo gris« (Sarduy: 1992, 79).

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[…].«213 Neobarock jenseits essenzialistischer Wesensbestimmungen zu fassen, wie Sarduy es vorschlägt, scheint mir der produktivste Umgang mit diesem Phänomen. Er will Neobarock als eine auf reine Textualität beschränkte Diskursform verstanden wissen. Eine solche Metatheorie, der ständige Wechsel von Fiktion und Kritik, scheint mir charakteristisch für die gegenwärtige lateinamerikanische und karibische Prosa und Essayistik. Im Gegensatz zu Alejo Carpentier verortet Sarduy Barock nicht innerhalb eines idealistischen amerikanischen Diskurses. Gegen Carpentiers Barockbegriff setzt Sarduy seine Auffassung eines artifiziellen, synkretistischen Barockbegriffs im Sinne der Vermischung ohne innere Einheit. Der durch die Tel Quel-Schule gegangene Sarduy charakterisiert Neobarock als Inbegriff von extremer Elaboriertheit, Künstlichkeit und Karnevalisierung – »la apoteosis del artificio, la ironía e irrisión de la naturaleza [...] la artificialización«214 – und widerspricht damit D’Ors oder Carpentiers Zelebrierung des Tellurischen als Vorbild für barockes Schreiben. Nicht das Natürliche, sondern die Verkünstlichung steht bei Sarduy im Vordergrund; Oberflächenphänomene, die über Inter- und Intratextualität, über die Polyphonie eines karnevalisierten Textes zustande kommen. Das moderne Barock präsentiert sich als »[…] [e]spacio del dialoguismo, de la polifonía, de la carnavalización, de la parodia y la intertextualidad, […] como una red de conexiones, de sucesivas filigranas, cuya expresión gráfica no sería lineal, bidimensional, plana, sino en volumen, espacial y dinámica. En la carnavalización del barroco se inserta [...] la mezcla de géneros, la intrusión de un tipo de discurso en otro [...] la palabra barroca no es sólo lo que figura, sino también lo que es figurado, que ésta es el material de la literatura.«215

213 Sarduy: 1975, 14f. Vergleichbar kommt Foucault zu der Überlegung, dass »[c]et espace de localisation s’est ouvert avec Galilée«, so dass sich ein unendlicher Raum konstituierte, in dem der mittelalterliche Ort sich auflöste: »Autrement dit, à partir de Galilée, à partir du XVIIe siècle, l’étendue se substitue à la localisation« (Foucault: 1994, 753). 214 Sarduy: 1998, 168, Herv. i.O. Sarduys poststrukturalistisches Konzept weist Parallelen zu Susan Sontags Camp-Ästhetik auf (vgl. das 58-Punkte-Programm Notes on ›Camp‹ von 1964, dt. Übersetzung 1995). Camp zeichnet sich durch eine gesteigerte Künstlichkeit und Stilisierung aus, es verweigert dem Pantheon der hohen Kultur die Achtung. Die zahlreichen Verfremdungsstrategien machen einen effet réel unmöglich. Im Gegensatz zur hohen Kunst, die für Sontag moralisch ist, interessiert sich Camp nicht für die Schaffung von Harmonien oder Sinn, da diese an die anachronistisch gewordenen großen Erzählungen gekoppelt seien: Camp hat einen ästhetischen Hang zur Massenkultur und zur Theatralisierung, ja zum Exzess des Gefühls. Es stellt den »Sieg des ›Stils‹ über den ›Inhalt‹ dar, des ›Ästhetischen‹ über das ›Moralische‹, der Ironie über die Tragödie« (ebd., 335). Camp geht es um die »Entthronung des Ernstes« (ebd., 336): »Die traditionellen Möglichkeiten, über den unverblümten Ernst hinauszulangen – Ironie, Satire –, scheinen heute erschöpft, dem kulturell übersättigten Medium, in dem die zeitgenössische Erlebnisweise geschult ist, nicht mehr angemessen. Camp führt eine neue Norm ein: das Kunstmäßige als Ideal, das Theatralische.« (Ebd.) 215 Sarduy: 1998, 175.

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Sarduy wertet Barock aufgrund seiner Verschwendung von Sprache und Symbolik als eine im ökonomischen Sinne unnötige Ausgabe. Verausgabung, Überfluss, Überschreitung und Exzess markieren ein entgrenztes Denken und stehen in Opposition zur Reformation, zur rationalistischen Logik des 18. Jahrhunderts, zur Säkularisierung und zur Ökonomie des bürgerlichen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts: »[…] être baroque aujourd’hui signifie menacer, juger et parodier l’économie bourgeoise, basée sur une administration radine des biens; la menacer, juger et parodier en son centre même et son fondement: l’espace des signes, le langage, support symbolique de la société et garantie de son fonctionnement par la communication.«216

Neobarock ähnelt darin der Erotik, die auf Spiel und Selbstzweck statt auf Zeugung, die auf Zielgerichtetheit und Schaffung von Dauerhaftem ausgerichtet ist.217 Sarduy geht es also um einen Akt, der immer schon die eigene Vorläufigkeit mitdenkt. Spannend ist, dass Sarduy in einem Essay von 1982, Pourquoi le roman?, sich sowohl als barocken und klassischen, d.h. naturalistischen Autor südamerikanischer Prägung entwirft: »[…] après un long séjour dans ce qu’on peut appeler pour aller vite l’avant-garde française – en fait, chez moi, il s’agissait plutôt d’une réactivation du baroque, d’une lecture actuelle gongorisme –, par lassitude ou par nostalgie, je suis revenu à des formes de narration plus enchaînées, sinon plus classiques; à une écriture qui récupère le fond du roman naturaliste sudaméricain: à un roman de la jungle, si l’on veut, même si parfois les lianes sont en polyester, et 218 la forêt reconstituée en studio. Un retour – pervers – au pays natal.«

In Anlehnung an Césaires retour au paysage natal finden wir bei Sarduy eine aus dem Exil heraus allein über Zeichen formulierte, artifizielle und damit ›perverse‹ Rückkehr in sein Heimatland. Sarduys Kuba komme in Form eines DschungelRomans daher, in dem die Lianen aus Polyester seien und der Wald eine Studiorequisite darstelle. Die Klassik bzw. der Naturalismus erfährt so eine Neudefinition, denn auch er ist vom Barocken, vom Artifiziellen durchdrungen. Eine Rückkehr zu einer originären authentischen Vorgeschichte, zu einem Ursprung, zu einer geschlossenen Kosmologie ist nicht nur versperrt, sondern wird von Sarduy als Täuschung entlarvt. Dafür eröffnet fiktionales Schreiben die Möglichkeit, die offizielle Historiographie subversiv zu unterlaufen und vielschichtige, neue, subjektive Geschichten zu schreiben.

216 Sarduy: 1975, 155. 217 Vgl. Pauly: 1993, 123ff. 218 Sarduy: 1999, 23, Herv. N.U.

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2.4.4 Barocke Metaphysik: »Pli selon pli« (Gilles Deleuze) »Le trait du Baroque, c’est le pli qui va à l’infini«, so Gilles Deleuze in Le Pli,219 seine Neuformulierung von Leibniz’ barocker Philosophie. Deleuze wendet sich mit seiner Leibniz-Interpretation gegen Descartes: »[I]l a cherché le secret du continu dans des parcours rectilignes, et celui de la liberté dans une rectitude de l’âme, ignorant l’inclinaison de l’âme autant que la courbe de la matière.«220 Deleuze erhofft sich von Leibniz eine »Kryptographie«, die uns ermöglicht, in den Falten der Seele und der Materie zu lesen. Die Falte als diskursive und philosophische Figur signalisiert einen Denktypus der Beweglichkeit und Unendlichkeit. Deleuze aktualisiert Leibniz: »Le perspectivisme chez Leibniz [...] est bien un relativisme, mais ce n’est pas le relativisme qu’on croit. Ce n’est pas une variation de la vérité d’après le sujet, mais la condition sous laquelle apparaît au sujet la vérité d’une variation. C’est l’idée même de la perspective baroque.«221 Deleuze’ Barockbegriff verortet sich jenseits historischer Eingrenzungen. Dieser ahistorische Blick lässt das Barock insgesamt zur Produktionsstätte von unendlicher Vervielfältigung und Variation werden. Das Barock bildet eine operative Plattform, um Prozesse von Hybridisierungen, eben nichthierarchisierte Text-Fältelungen (Überfülle von Sinn), Schichtungen, Auf- und Rückfaltungen, Richtungsänderungen, Kurven und Krümmungen zu ermöglichen: »Pour nous, en effet, le critère ou le concept opératoire du Baroque est le Pli, dans toute sa compréhension et son extension: pli selon pli. Si l’on peut étendre le Baroque hors de limites historiques précises, il nous semble que c’est toujours en vertu de ce critère, qui nous fait reconnaître Michaux quand il écrit ›Vivre dans les plis‹, ou Boulez quand il évoque Mallarmé et compose ›Pli selon pli‹, ou Hantaï quand il fait du pliage une méthode.«222

Selbst das Entfalten ähnelt dabei einer weiteren Verzweigung und Ausdehung: »Le dépli n’est donc pas le contraire du pli, mais suit le pli jusqu’à un autre pli.«223 Dieses Vorgehen findet seine Entsprechung in der Natur: »Les plissements solides de la ›géographie naturelle’ renvoient d’abord à l’action du feu, puis des eaux et des vents sur la terre, dans un système d’interactions complexes, [...].«224 Bei Leibniz entdeckt Deleuze die Wendungen vom ›Falten‹, vom ›Ein- und Auswickeln‹ und rekonstruiert daraus eine neobarocke Metaphysik. Zur Erinnerung: Einen zentralen Platz in Leibniz’ Lehre nimmt die Monade ein, die nichts aus sich heraus und nichts in sich hinein lässt. Die Monade ist jedoch von innen mit Falten (plis) ausgekleidet; die Materie ihrerseits ist in äußerlichen Faltungen (replis) organisiert.

219 Deleuze: 1988, 5. Bereits Michel Serres hat mit Le Système de Leibniz et ses modèles mathématiques (1968) eine Relektüre von Leibniz vorgelegt. Le pli (die Falte) und le décalage (die Verschiebung, Abweichung oder Entriegelung) gehören bei Serres zusammen. 220 Deleuze: 1988, 5. 221 Ebd., 27. 222 Ebd., 47. 223 Ebd., 9. 224 Ebd.

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Trotz dieser Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit ist die Monade ständigen, inneren Veränderungen unterworfen. Ein innerer Trieb zur Vervollkommnung bewirkt den kontinuierlichen Übergang von einem Zustand in den anderen. Diese Zustände nennt Leibniz »la perception dans les plis«225. Der Vorgang der Perzeption, das heißt der sinnlichen Wahrnehmung als erster Stufe der Erkenntnis, bildet »les plis dans l’âme«226 . In Deleuzes Allegorie vom zweigeschossigen barocken Haus als Beispiel einer Monade gibt es ein mit Fenstern ausgestattetes unteres Stockwerk und ein oberes Stockwerk ohne Fenster, »chambre ou cabinet obscur, seulement garni d’une toile ›diversifiée par des plis‹, comme un derme à vif«, das für die Schwingungen und Oszillationen von unten empfänglich ist: »C’est un grand montage baroque que Leibniz opère, entre l’étage d’en bas percé de fenêtres, et l’étage d’en haut, aveugle et clos, mais en revanche résonnant, comme un salon musical qui traduirait en sons les mouvements visibles d’en bas.«227 Deleuze interpretiert die Falte als Chiffre für eine Welt, die nur hinter Vorhängen existiere: »Le pli renvoie à l’enveloppe. Le pli c’est ce que vous mettez dans une enveloppe, en d’autres termes: l’enveloppe est la raison du pli. Vous ne plieriez pas si ce n’était pas pour mettre dans une enveloppe. L’enveloppe est la cause finale du pli. […] Ce qui est plié est nécessairement enveloppé dans quelque chose sinon ce ne serait pas plié.«228

Im Modell der Falte wird das Verhältnis von Zeichen und Bezeichnetem als ineinander verstrickt gedacht. Die Falte ist ein plastisches, jedoch schwer greifbares, kaum ab- und begrenzbares Phänomen: Ist sie eine Erhebung oder Einwölbung? Ein Außen oder ein Innen? Auf unseren Kontext übertragen, wäre z. B. zu formulieren: Die fremden Sprachen der ehemaligen Kolonialmächte verschleiern einen Teil der verdrängten, vergessenen Kultur, der eigenen Person, der eigenen Stimme. Die Falte markiert eine fließende Grenze zwischen Vorhang und Geschehen, Fassade und Innenraum, Repräsentation und Wirklichkeit, zwischen »l’autonomie de l’intérieur et l’indépendance de l’extérieur«229 . Für Deleuze taucht das Barock in einem erweiterten Neobarock gegenwärtig erneut auf: »La raison classique s’est écroulée sous le coup des divergences, incompossibilités, désaccords, dissonances. Mais le Baroque est l’ultime tentative de reconstituer une raison classique, en répartissant les divergences en autant de mondes possibles, et en faisant des incompossibilités autant de frontières entre les mondes. Les désaccords qui surgissent dans un même monde peuvent être violents, ils se résolvent en accords, parce que les seules dissonances irréductibles sont entre mondes différents. Bref, l’univers baroque voit s’estomper ses lignes mélodiques, mais ce qu’il semble perdre, il le regagne en harmonie, par l’harmonie. […] Cette reconstitution ne pouvait être que temporaire. Viendra le Néo-baroque, avec son déferlement de séries divergentes dans le même monde, son irruption d’incompossibilités sur la même scène, là où

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Ebd., 113. Ebd., 20. Ebd., 6. Deleuze: 1986, o. S. Deleuze: 1988, 40.

186 | II T RANSDISZIPLINÄRES T HEORIENETZ Sextus viole et ne viole pas Lucrèce, où César franchit et ne franchit pas le Rubicon, où Fang tue, est tué et ne tue pas ni n’est tué. L’harmonie traverse une crise à son tour, au profit d’un chromatisme élargi, d’une émancipation à la dissonance ou d’accords non résolus, non rapportés à une tonalité. Le modèle musical est le plus apte à faire comprendre la montée de l’harmonie dans le Baroque, puis la dissipation de la tonalité dans le Néo-baroque: de la clôture harmonique à l’ouverture sur une polytonalité, ou, comme dit Boulez, une ›polyphonie de polyphonies‹.«230

Wie viele andere Theoretiker bedient sich auch Deleuze zur Veranschaulichung des Neobarock zahlreicher Anleihen aus der Musikwissenschaft. Die mit dem Neobarock einhergehende »Emanzipation der Dissonanz« gipfelt in einer »Polytonalität« bzw. »Polyphonie der Polyphonien«. Deleuze macht eine Metaphysik der Unvereinbarkeiten für die Beschreibung der Gegenwart fruchtbar, denn Leibniz’ Philosophie führt statt zur Restriktion zur Multiplikation der Prinzipien. Wie schon in Mille plateaux (1980) werden rationalistische Philosophien, namentlich der Hegelianismus, einer radikalen Kritik unterzogen. Bereits im Begriff des Rhizoms erschien eine Alternative zum Strukturbaum, dem Paradigma der abendländischen Philosophie seit Platon, der das Modell für hierarchische Organisation abgibt. Mit dem Konzept der Falte, welches nach Deleuze charakteristisch für das Barock ist, wird dieses philosophisch vernetzte Denken weiterentwickelt: »il y a partout des plis, mais le pli n’est pas un universel. C’est un ›différenciant‹, un ›différentiel‹.«231 Deleuze bestimmt entsprechend die Falte als Denkmodell beständiger Re-Formierung und Re-Formulierung. Deleuze schreibt im Rekurs auf Heidegger: »Ainsi le pli idéal est-il Zwiefalt, pli qui differencie et se différencie.«232 Zwiefalt meint ein verzweigtes Spiel von Ver- und Enthüllung. Die Zwiefalt in Abgrenzung zum Zwiespalt ermöglicht unterschiedlichste, sich nicht gegenseitig ausschließende Bezüge des Seins, eine Differenz von Wahrnehmungen und Verhalten. Das barocke Modell der Falte exponiert eine Alterität zu etablierten Denk- und Wahrnehmungsweisen: ein performatives Verwiesensein von Subjekt und Objekt, von Vergangenheit und Gegenwart. Und Derrida geht noch einen Schritt weiter, wenn er in Le Monolinguisme de l’autre (1996) fordert, »d’engager le pli dans la dissémination comme dissémination. Car c’est comme une pensée de l’unique, justement, et non du pluriel […]«.233 Deleuze bestimmt Neobarock als eine Vervielfachung von Sinn. Dies erzeugt eine völlig neue, unkontrollierbare Dynamik. Folglich wäre eine philosophisch und moralisch völlig neue Welt offen, denn zwischen Wissen und Macht gibt es ein Denken – Falte auf Falte –, welches Widerstand und Subjektivierung bereithält.

230 231 232 233

Deleuze: 1988, 111f., Herv. i. O., Unterstreichungen N.U. Deleuze: 2003, 214. Deleuze: 1988, 42, Herv. i.O. Derrida: 1996, 49, Herv. i.O. Er unterscheidet klar zwischen einer »dissémination comme expérience de l’unicité« und einer »dissémination selon plis, ou pli sur pli« (ebd.).

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2.4.5 Neue kulturelle Kartographie: Neobarroco als Raumtheorie (Carlos Rincón) Der kolumbianische Kultur- und Literaturwissenschaftler Carlos Rincón entwirft in Mapas y pliegues. Ensayos de cartografía cultural y de lectura del neobarroco (1996) eine postkoloniale Theorie aus der Sicht Lateinamerikas. Anhand neobarocker Literaturen konzipiert er mit Blick auf Deleuzes Faltenkonzept eine neue Epistemologie des Raumes: »Landkarten und Falten«.234 Gemeint sind barocke Spiegelkabinette, in denen die Spiegel den Raum vielfach falten und damit eine zentrale Perspektivierung des Raums brüchig wird. Schon im Kolonialbarock entstanden durch die Übertragung der romanischen, barocken Kultur auf den südamerikanischen Kontinent neue, nicht eindimensionale Raumkonstellationen. Die indianischen Ornamente wertet Rincón als Falten, die den Raum der pompösen barocken Architektur veränderten. Neue kulturelle Räume entstanden, bei denen z.B. die indianischen Elemente die Dogmatik der katholischen Religion toleranter und kreativer gemacht haben. Der Raum wird bei Rincón zum zentralen epistemologischen Gegenstand. Infolge neobarocker Theorien gelten heute groteske, barocke Mischungen, besonders jene des Kolonialbarock, als Symptome indirekter Transgression gegen die scholastische, absolutistische und koloniale Hegemonie. Charakterisiert man den lateinamerikanischen Barock als allmähliche Anverwandlung des Importierten, welcher in der Ausbildung eines kreolischen Bewusstseins mündet, so schließe ich mich dem ecuadorianischen Philosophen Bolívar Echeverría an, der von einer »barocken Methode des Überlebens«235 spricht: »Diese Strategie, bei der die siegreichen Formen durch die Einverleibung der besiegten neu- und umgebildet werden, ist die Strategie der mestizaje, eine Strategie, bei der das barocke Formprinzip unverkennbar zu finden ist.«236 Echeverría leitet daraus für Lateinamerika die besondere Fähigkeit ab, die Moderne in barocker Weise gestalten zu können. Diese Aneignungsgeschichte verweist für Echeverría auf ein gemeinsames gesellschaftliches Ethos, eben auf ein spezifisches »ethos barroco«237. Er konzipiert eine Theorie des vierfachen Ethos der kapitalistischen Moderne. Dazu gehören, nach ihm, das realistische, romantische, klassische und das barocke Ethos. Den Begriff ›Ethos‹ wählt er zunächst aufgrund seiner Ambivalenz bzw. seines doppelten Sinns: passiver »refuguio« und aktive »arma«.238 Für ihn ist das »barocke Ethos« eine Lebensform, die in kreativer Weise auf die Herausforderungen der Moderne reagiert hat; eine Idee, die Modernität, barocke Ästhetik und kulturelle Mestizaje in besonderer Weise miteinander vernetzt.239 Statt sich mit den Ansprüchen der kapitalistischen Moderne vorbehaltlos zu identifizieren (»ethos realista«), sie schlicht abzulehnen (»ethos romántico«) oder sie distanziert zu transzendieren (»ethos clásico«), demonstriere gerade das »barocke Ethos« in der

234 235 236 237 238 239

Vgl. Rincón: 1996, 162-172. Vgl. Echeverría: o.J. Echeverría: o.J. Vgl. Echeverría: 1994. Vgl. ebd., 18. Vgl. ebd., 13.

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Geschichte der Menschheit die Überlegenheit der kulturellen, sprachlichen und ethnischen Mischung: »El ethos barroco no borra, como lo hace el realista, la contradicción propia del mundo de la vida en la modernidad capitalista, y tampoco la niega, como lo hace el romántico; la reconoce como inevitable, a la manera del clásico, pero, a diferencia de éste, se resiste a aceptarla, pretende convertir en ›bueno‹ al ›lado malo‹, por el que, según Hegel, avanza la historia.«240

Formen europäischer ›Zivilisation‹ wurden von der indigenen Bevölkerung und den später deportierten Afrikanern auf ihre eigene Weise transzendiert. Statt das unmöglich gewordene Unternehmen, ihre alten Welten wieder zu beleben und sie neuerlich an die Stelle der europäischen zu stellen, verwandelten sie die systematische Zerstörung ihrer zivilisatorischen Formen in einen Prozess der Erneuerung und Umwandlung der europäischen Formen. Kulturelle Einverleibung und Umbildung ermöglichen, die Weltkarte – wie Carlos Rincón vorschlägt – aus einer polyzentrischen Perspektive neu zu denken, zu falten und zu kartographieren, d.h. sowohl die außereuropäische Welt, aber vor allem Europa werden aus einer transkulturellen und dekolonialen Perspektive dezentriert, sprich provinzialisiert. Nimmt man eine Landkarte und faltet sie – grenzt Senegal plötzlich an Kuba. Migrationen und Bewegungen zwischen Kulturen ersetzen die antagonistische und konfliktreiche Topographie von Alterität und Identität und lassen eine neue Philosophie der Relationen, die sich auf Zwischenräume einlässt, entstehen. Mit Glissants Worten liest sich das wie folgt: »Les régions du monde deviennent des îles, des isthmes, des presqu’îles, des avancées, terres de mélange et de passage, et qui pourtant demeurent.«241 Oder »le monde entier s’archipélise et se créolise.« 242 2.4.6 »La créolisation est toujours une manifestation du baroque« (Édouard Glissant) Im frankophonen Raum nimmt Édouard Glissant den Barockbegriff in seinem Œuvre emphatisch auf. So spricht er in der Passage »D’un baroque mondialisé« innerhalb seiner Poétique de la Relation vom »concert baroque« und referiert auf »le métissage, dont la volonté baroque dévale le vertige: des styles, des langages, des cultures«243. Barock bedeutet »art de l’extension«244 und darüber hinaus »un être-dansle-monde«245 , »une manière de vivre l’unité-diversité du monde«246. Glissant definiert die Begriffe Klassik/Barock als zeitunabhängig:

240 Ebd., 21. Eine kritische Würdigung von Echeverrías Ethos barroco nimmt Samuel Arriarán vor, daran schließt sich eine direkte Erwiderung von Echeverría an (vgl. Arriarán: 2007, 81-97). 241 Glissant: 1997b, 181. 242 Ebd., 194. 243 Glissant: 1990, 92. 244 Ebd. 245 Ebd., 93.

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»Le classicisme pour une culture c’est le moment où cette culture est suffisamment sûre de ses propres valeurs pour les inscrire dans cette mesure de la mesure et les proposer au monde comme valeurs universelles. […] Le baroque dans les cultures occidentales […] introduit déjà cette démesure de la mesure qui vient prendre le contre-pied de l’ambition classique. […] Cette démesure-là, c’est une dénégation de la mesure métrée. […] Or la prétention classique, bien entendu, c’est la profondeur. […] Et, bien entendu, le baroque c’est l’étendue. Le baroque c’est l’étendue, c’est-à-dire le renoncement à la prétention de la profondeur.«247

Das Klassische repräsentiert für ihn die Tendenz, französisch-europäische Werte als universelle Werte zu setzen. In seiner Konzeption übernimmt die französische Kultur für die Karibik (besonders für die DOMs) die Rolle des »classicisme, une ère de certitude dogmatique«248, da sie vermeintlich universelle Werte vorgibt. Für Glissant steht das Barock demnach für alles, »ce qui s’oppose disons au classique«249. Im Gegenzug postuliert Glissant eine weltweite Ära der Barockisierung, die im 20. Jahrhundert eingesetzt hat und die auf dem Prinzip der Créolisation beruhe. »La créolisation est toujours une manifestation du baroque«250 schreibt er in Introduction à une Poétique du Divers und knüpft so an einen Barockbegriff an, wie er maßgeblich im lateinamerikanischen Kontext entwickelt wurde: »Pour l’art baroque, la connaissance pousse par l’étendue, l’accumulation, la prolifération, la répétition et non pas avant tout par les profonds de la révélation fulgurante. Le baroque est volontiers de l’ordre (ou du désordre) de l’oralité. Cela rencontre dans les Amériques la beauté toujours recommencée des métissages et des créolisations, où les anges sont indiens, la Vierge noire, les cathédrales comme des végétations de pierre, et cela fait écho à la parole du conteur qui elle aussi s’étend dans la nuit tropicale, accumule, répète. Le conteur est créole ou quechua, navajo ou cajun. Pour les Amériques, le baroque est naturalisé.«251

Dreierlei ist hier bemerkenswert: Erstens zielt Glissant mit den Begriffen wie étendue, accumulation, prolifération und répétition auf eine Privilegierung der Oberfläche. Das Barock bietet eine Ästhetik, die Prozesse der Hybridisierung begünstigt. Zweitens setzt Glissant den amerikanischen Barock in eine deutliche Verbindung zur Oralität. Er spricht im Kontext der Plantagenwirtschaft von der subversiven Entstehung einer »parole diversifiée« und einer »parole baroque, inspirée de toutes les paroles possibles, et qui nous hèle si fortement«252 . Den geschlossenen Ort der Plan-

246 Ebd., 93f. In ähnlicher Weise äußert sich auch der haïtianische Schriftsteller René Depestre, wobei er etwas undifferenziert Kreolität, Barock und Surrealismus in einem Atemzug nennt: »La Caraïbe doit sa vivacité culturelle, sa créolité foisonnante, son baroquisme et son surréalisme sui generis, au fait qu’elle est un carrefour où se croisent des êtres et des courants de pensée et de rêve les plus variés« (Gauvin/Depestre: 1997, 90). 247 Glissant: 1996a, 93f, Herv. i.O. 248 Glissant: 1990, 93. 249 Glissant: 1996a, 50f. 250 Ebd. 251 Glissant: 1997b, 116, Herv. N.U., zu Glissants Barockkozept vgl. Mossetto: 2001. 252 Glissant: 1990, 89.

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tage konnte die offene Rede in Form von Gesang, Musik und Sprache umgehen und ist mittlerweile zu einer »parole du monde« avanciert: »Elles [ces musiques nées du silence] sont le cri de la Plantation, transfiguré en parole du monde.«253 Ähnliche Überlegungen finden sich bei Dominique Chancé: »Seule la parole serait baroque, irrégulière, vivante et proliférante. L’écrit est conçu comme ce qui tue, arrête, suspend le flux.«254 Jean Perrot kommt in »Du Baroque, des Antilles au Maghreb« ebenfalls zu dem Schluss, dass sowohl Oralität als auch Intertextualität in postkolonialen Gegenwartstexten mit dem Wiederauftauchen einer barocken Ästhetik zusammenfällt: »[...] l’intertextualité du conte dans la littérature contemporaine, maghrébine, antillaise ou même africaine, correspond à une résurgence de l’esthétique baroque importée d’Europe dès les origines de la colonisation, esthétique censurée ensuite avec la voix du colonisé, mais demeurée vivante dans la culture orale imprégnée de religiosité par l’évangélisation. La prise en charge de cette oralité par les écrivains modernes signe autant un réinvestissement de la tradition ethnique ou nationale qu’une reprise des archétypes spécifiques du Baroque [...].«255

Hybridisierungen auf der Ebene von écriture-Prozessen scheinen mit dem operativen Barockbegriff fassbar zu werden. Drittens verknüpft Glissant lateinamerikanische Kulturalität mit barocker Naturalität, wie wir es von Carpentiers tellurischem Barockverständnis her kennen. Spuren der Geschichte lassen sich auch bei Glissant über die verschiedenen Landschaften rekonstruieren: »Notre paysage est son propre monument: la trace qu’il signifie est repérable par-dessous. C’est tout histoire.«256 Wald und Gebirge fungieren als Orte der Marronnage (Afrika), die Ebene und die Stadt sind Orte der Plantage und des Handels (Europa), das Meer ist Ort des Zusammentreffens dreier Kontinente und somit eine Art Laboratorium für neue Kulturkonzepte (Antillen). Glissant geht freilich mit seinem Konzept des Tout-Monde weit über Carpentier hinaus. Glissants Beziehungspoetik schöpft in besonderer Weise aus dem semantischen Feld der Natur und der Pflanzenwelt,257 dennoch basieren kreole Kulturen für Glissant nicht vornehmlich auf Naturalität, sprich auf Essentialismen, sondern auf spezifischen historischen Erfahrungen im Kontext von Verschleppung und gewaltvoller Transkulturation. Dominique Chancé unterstreicht: »L’écrivain créole se définit […] de manière plus culturelle que géographique. […] La créolité ne tient pas à un paysage, mais à une réalité anthropologique, historique. Le paysage n’est pas créole. […] Le peuple est créole, la langue, la culture sont créoles.«258 Glissant for-

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Ebd., 88. Chancé: 2003, 876. Perrot: o.J., 1. Glissant: 1997a, 32. Diese Auflistung ließe sich weiter fortführen, so symbolisieren Bäume wie Mahagony, Baobab oder Acoma unterschiedliche Ideen. Häufig fusionieren bei Glissant spezifische Figuren mit bestimmten Landschaften; Figur, Landschaft und Geschichte vermischen sich so zu einem Ganzen, vgl. dazu das Kapitel zu Glissant. 257 Vgl. insbesondere Blümigs Dissertation Retour au paysage natal. Zur Natur im postkolonialen Roman der frankophonen Antillen (2004). 258 Chancé: 2000, 139.

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dert ganz neue Lesarten für die von historischer Diskontinuität und Chaos geprägte antillanische Realität: »C’est en réinvestissant son passé que, dans nos pays, on échappe à l’ambigu traumatique des refus et des rejets inconscients. La mémoire historique, dans ces pays où l’histoire a été et continue d’être un combat sans témoins, arme de la collectivité d’une décision nouvelle et lui permet de dépasser les rejets inconscients de la structuration imposée, précisément en l’autorisant à réfléchir concrètement sur la nécessité des structures et à décider d’en susciter de nouvelles.«259

In diesem combat sans témoins nimmt die Marronnage eine Schlüsselposition ein. Eric Sellin vermutet gar eine spezifische Analogie zwischen historischer Marronnage und literarischer Ästhetik: »Marronnage, or fleeing to the rugged hills to escape slavery […], may have its analogy in aesthetics. The writer whose history has been obliterated may well seek – in the glyphs and symbols of nature – refuge (trees, forests, ravines, rugged impenetrable mountains), flight (rivers, swift phantom steed or birds of destiny), freedom and release (the sea, rivers flowing from the source in the hills to that infinite and ultimate sea).« 260

Geschichtsschreibung kann allenfalls ein Zusammenspiel einer Konstruktion von Geschichten und Diskursen sein, es gilt die eigene Vergangenheit zu erfinden. Diesen hohen Grad an Fiktionalität bietet das Barock in besonderer Weise an; dies ist vielversprechend für eine Geschichte mit vielen Leerstellen. Glissants barocke Strategie der Überproduktion zielt auf eine Überfülle von Sinn, auf einen semantischen Überschuss ab.261 Häufig ist dieser Überschuss versinnbildlicht in einer der Natur entlehnten Sprache. Literatur ist für Glissant ein Instrument zur Freilegung dieser démesure: »Cette démesure-là c’est l’ouverture totale et cette démesure-ci c’est le Toutmonde.«262 Die von Glissant diagnostizierte und postulierte Vielfalt ersetzt dabei die große Erzählung.263 Es ist Glissants spiralförmiges, barockes Erzählen, was Dominique Chancé als Wiederholung eines »cri inouï […] en absence d’un symbole clair«264 beschreibt. Das Barock erweist sich als ein Gegenstück, welches das von der klassischen Ordnung Verdrängte sichtbar macht. Glissant sieht dies in der »surabondance« und »surenchère« des kolonialen Barock gegeben, welcher für ihn »la réponse à un manque inconsciemment ressenti«265 darstellt. Das Barock ist zudem Ausdruck »d’un refus inconscient du processus d’assimilation«266. Diese Überlegungen treffen sich mit

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Glissant: 1997a, 156. Sellin: 1995, 497. Vgl. Glissant: 1997a, 264. Glissant: 1996a, 94. Vgl. Febel: 2006b, 80. Chancé: 1981, 218. Glissant: 1997a, 128. Ebd., 130.

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Glissants Kreolisierungs-Poetik, die maßgeblich von der Technik des détour geprägt ist, »une exercice permanent de détournement de la transcendance qui y est impliquée: celle de la source française«267. Das Konzept des Barocken und der Opazität sind somit eng miteinander verbunden. Ein generalisierter Barockstil als Ästhetik des Zusammenfügens von Heterogenem, als Ausdruck der Diglossie,268 also einer Polyphonie der Stimmen und als Strategie von Fülle dient Glissant als Metabegriff für eine Poetik, die »so etwas wie ein Parameter zur Annäherung an einen postmodernen Begriff von Weltliteratur bieten kann«269.

267 Ebd., 49. 268 Diglossie bedeutet die Kopräsenz von zwei Sprachen an einem Ort. In der kulturpolitischen Deutung bei Edouard Glissant, die nicht unbedingt von Linguisten mitgetragen wird, stehen diese Sprachen aber nicht gleichberechtigt nebeneinander: »J’appelle diglossie – notion apparue en linguistique mais déclarée non opératoire par les linguistes – la domination d’une langue sur une autre ou plusieurs autres, dans une même région« (Glissant: 1990, 132). 269 Ortner-Buchberger: 2004, 150.

3 Dekolonialisierung des Imaginären: Kontrapunktische Produktion von Kreolisierung und Neobarock

Die Überführung des Barockdiskurses in die Gegenwart ist ein komplexes Unterfangen, denn, wie ich gezeigt habe, der Diskurs selbst ist hochgradig ›barock‹. Es gibt weder den historischen Barock als homogene Stilepoche noch den aktuellen Neobarock als eindeutiges Konzept in der Literaturtheorie. Beiden Konzepten ist jedoch gemein, dass sie Konstruktionen des 20. Jahrhunderts sind. Insbesondere in der französischen Literaturgeschichte wurde erst ab den 1950er Jahren überhaupt eine Barockepoche neben dem Siècle classique in Erwägung gezogen: »le baroque est bien une invention [...] du XXe siècle.«1 Eine so späte und vergleichbare Rechtfertigung der Epochenkategorie wie in der Galloromanistik sucht man in der Hispanistik allerdings vergebens. Dort fällt die weitreichende und unbestreitbare Bedeutung des Barock mit dem Siglo de Oro zusammen. Lässt sich der historische Barock aufgrund seiner zeitlichen Distanz noch eher dokumentieren, so bleibt der Neobarock in seiner spezifischen Ästhetik besonders widersprüchlich: Barock und Neobarock werden von mir als transkulturelle (der gegenseitigen Durchdringung zwischen Europa und Amerika folgende) und transhistorische (zwischen dem 17. und 21. Jahrhundert verlaufende) Paradigmen behandelt. Ich werte sie als ästhetische Kategorien de longue durée, die weder einer historischen, schematischen Linearität noch einer einzigen Bedeutung unterliegen. Gebündelt werden kann die Frage nach dem Neobarock über das Konzept der Kreolisierung, wie Alejo Carpentier vorschlägt: »Et pourquoi l’Amérique latine est-elle la terre d’élection du baroque? Parce que toute symbiose, tout métissage, engendre un baroquisme. Le baroquisme américain s’accentue parallèlement à la créolité, à la conscience que développe l’homme américain, qu’il soit fils de blanc venu d’Europe ou fils de noir africain ou encore fils d’indien né sur le continent […] à la conscience d’être autre chose, une chose nouvelle, de provenir d’une symbiose et d’être ›créole‹. L’esprit ›créole‹, en soi, est déjà un esprit baroque […].«2

1 2

Chauveau: 1997, 6. Carpentier: 1992, 31, Herv. i.O.

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Das mestizische Element des Barock und die kreolische Zusammenkunft des Heterogenen in Lateinamerika und in der Karibik sind präfigurierend für die globalisierte Postmoderne. Eine neobarocke Ästhetik zielt auf eine Neuorganisation von Kräften, die nicht mehr nur um ein Zentrum kreisen, sondern maßgeblich von den Rändern her bestimmt werden. Ich plädiere dafür, Neobarock vor allem im Kontext aktueller disseminierender Konzepte wie Deleuzes Falte, Sarduys Ellipse, dem haitianischen Spiralisme – auf den ich im Kapitel zu Jean-Claude Fignolé genauer eingehen werde – oder Glissants Wiederholungskunst und seiner Idee der démesure zu situieren. Nach dem bisher Gesagten lässt sich zusammenfassen: Der Prozess der »recyclage culturel«3, also die produktive Transformation europäischer Kultur in Amerika, hat zu einer Fragmentierung der ohnehin diversen Gedächtnisse bzw. Gedächtnisspuren geführt, zu einem »signifiant flottant«, denn dieser Prozess verlief zunehmend »déconnecté de la mémoire culturelle européenne«4. Eine solche Fragmentierung und Diskontinuität der Gedächtnisse zugunsten des aktiven Vergessens (»imitar sem recordar«5) hatte für die amerikanische Seite eine Öffnung zur Konsequenz: »Du point de vue de l’indigène, la forme européenne est désormais disponible pour de nouvelles prises en charge, aussi est-elle exposée à l’investissement de nouveaux contenus. Elle est devenue un signifiant flottant, capable d’accueillir des signifiés divers et multiples […].«6 Das aus Europa herangetragene Barock hat eine Art Containerfunktion für Anderes eingenommen. Das war nur möglich durch die vorhergegangene Entleerung bzw. Transformierung des historischen europäischen Barock, so konnte es zum Zeichen für Anderes werden, gewissermaßen zu einer leeren Hülle, die kreativ und neu gefüllt werden konnte, »disponible pour des nouveaux usages«7. Dieser »réemploi passe donc par un moment de négation du contenu historique des matériaux«8. Genau diese Strategie »permet d’affirmer l’actualité du baroque, qui privilégie son efficacité actuelle au détriment de sa détermination historique«9. Da den indigenen Künstlern die kulturelle mémoire zu den herangetragenen barocken Formen fehlt, wird der Barock sozusagen imitierend erfunden.10 Barockkultur in ihrer Ambivalenz zu befürworten – sie einerseits als eine aus Europa importierte Kultur aufzufassen, sie andererseits als originären bzw. recycelten Ausdruck des lateinamerikanischen Kulturraumes wahrzunehmen –, eine solche Geisteshaltung findet sich häufig bei Schriftstellern und Theoretikern des 20. Jahrhunderts. Interessant ist, dass der Barockbegriff indessen von der außereuropäischen

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Moser: 2000, 666. Ebd., 668. Ebd. Ebd. Ebd., 669. Wladimir Krysinski charaktierisiert diskursives Recycling gleichwohl als ein »réemploi d’un objet qui a perdu sa première raison d’être, […]. Ayant déjà servi, l’objet qui a fait son temps peut être converti en un objet différent ou du moins destiné à un usage différent. C’est ainsi que le recyclage réduit l’oubli et le gaspillage« (Krysinski: 2007, 138). 8 Moser: 2000, 666. 9 Ebd., 669. 10 Rössner: 2007, 58.

D EKOLONIALISIERUNG DES I MAGINÄREN

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hispano- als auch frankophonen Welt an Europa neu herangetragen wird. Die Romanistik als ein genuin komparatives Fach unter den Philologien ist sicherlich in besonderer Weise geeignet, »ein so grenzüberschreitendes und alle künstlerischen und sogar theorieproduktiven Medien ergreifendes Phänomen wie das Barock zu beschreiben«11. Die Wiederentdeckung einer literaturhistorischen Epoche fällt mit der Wahrnehmung und Würdigung außereuropäischer Literaturen zusammen. Auf diese Weise gelange ich zu einem Barockbegriff, der sowohl die Peripherie aufwertet als auch die Epochengebundenheit aufhebt. Gerade das Barock, so Saúl Yurkievich, entspricht der Anthropophagie12 – gemeint ist jene ›Gefräßigkeit‹ gegenüber der europäischen Kultur – eines lateinamerikanischen Caliban: »Baroque de l’autre rive, de l’Outremer d’Occident, il concorde avec notre culture syncrétique […] capable d’absorber sans ethnocentrisme n’importe quel apport de n’importe quelle origine, capable d’intégrer polyphoniquement la multiplicité des sources en amalgames insolites […]. Il ingurgite tout avec une encyclopédique gourmandise. Culture avide, ouverte et mixte, il procède par hybridation.«13

Der Begriff der Anthropophagie, einhergehend mit der recyclage culturel, erfasst Phänomene, die auf die ökonomischen, materiellen und technologischen Aspekte des Kulturtransfers abzielt. Er markiert das Recht auf Aneignung von zirkulierender, internationaler Literatur, Kunst und wissenschaftlicher Theorie, da Kultur grundsätzlich transkulturell und nomadisch ist. Anthropophagie nimmt für sich das Recht in Anspruch, Konzepte nach Bedarf aktiv zu nutzen und keine Selbstmarginalisierung zu betreiben. Sie markiert Agenz, jenseits von Ethno-Fundamentalismus oder reiner Verwestlichung. Nicht mehr das ehemalige Zentrum ist Produzent des herrschenden Diskurses, stattdessen entfaltet sich ein transversaler Prozess, der die epistemische Gewalt dehierarchisiert und dezentriert und somit eine Dekolonialisierung des Imaginären vorantreibt. Die Peripherie verortet sich so selbst im diskursiven Zentrum, nach ihren eigenen Vorgaben. Modernidad im lateinamerikanischen Kontext macht spezifische Kriterien für sich geltend wie Urbanisierung, Alphabetisierung und Einfluss der Massenmedien. Recyclage culturel impliziert Dekontextualisierung und Einbindung in völlig neue kulturelle und mediale Zusammenhänge und Verwen-

11 Neumeister: 1991, 844. 12 Ich beziehe mich hier auf Oswaldo de Andrades Manifesto antropófago (1928), welches bereits kurz im Kapitel zur Hybridität skizziert wurde. 13 Yurkievich: 2001, 270. Zu diesem Thema ist zuletzt erschienen: Canibalia. Canibalismo, calibanismo, antropofagia cultural y consumo en América Latina (2008) von Carlos A. Jáuregui. Speziell zum karibischen Diskurs siehe das Kapitel »Caliban’s Dilemma: A Disabling Memory and Possible Hope« in Silvio Torres-Saillants Intellectual History of the Caribbean (2006).

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dungsformen, wie z.B. die Wiederverwendung von mündlichen Erzähltechniken in Schriftliteraturen wie es bspw. Patrick Chamoiseau vorführt.14 Iván de la Nuez deutet Anthropophagie (er nennt es schlicht Aneignung) als ein ästhetisches Phänomen am vorläufigen Ende lateinamerikanischer Kulturgeschichte, eine Geschichte, die ihren historischen Verlauf von der reproducción über die confrontación zur apropiación nahm.15 Neue Themen und Literaturen durch apropiación sind auch als ein Laboratorium unkonventioneller Schreib- und Denkweisen zu verstehen. Eine solche Poetik der Querenden Literaturen geht von einem (durchaus emphatischen) Literaturkonzept aus, wonach diese einen spezifischen eigenen symbolischen Raum zu konstruieren vermag und in Diskurse und Prozesse der (kolonialen) Macht zwar unauflöslich verstrickt ist, aber dennoch subversiv wirken kann und Widerständiges zu formulieren vermag.16 Bereits in den 1940er Jahren fordert Suzanne Césaire, die Ehefrau von Aimé Césaire, anstelle bereitwilliger Assimilation eine kulturrevolutionäre Erneuerung mittels Kannibalismus durch den herrschenden Diskurs: »Bambous, nous décrétons la mort de la littérature doudou. Et zut à l’hibiscus, à la frangipane, aux bougainvilliers. La poésie martiniquaise sera cannibale ou ne sera pas.«17 Für Maryse Condé ist Suzanne Césaire gar »the founding mother of all the postcolonial critics«.18 Kannibalistische/karibische Identität komme, so Condé, einer Selbstgeburt gleich: »she was the first Caribbean writer to acknowledge and rehabilitate the appellation ›cannibal‹, once a term of opprobrium, and transform it into a new, noncolonized self. The claim of a cannibal identity forms a part of any poetical self-birth or parthenogenesis.«19 Carlos Rincón behauptet in »El universo barroco« am Beispiel von Peter Greenaways Filmen ebenfalls: »la civilización actual es el canibalismo, autodestrucción en progresión que no se detiene.«20 Eigens für den karibischen Raum bietet sich die Neubewertung des Kannibalischen in besonderer Weise an. Bereits in Kolumbus’ Bordbuch fungiert »Caribe/Caníbal« als Bezeichnung einer – scheinbar indigenen – Menschengruppe, deren hervorstechendes Merkmal die Anthropophagie ist. »Ihren geographischen Ort haben die Kannibalen in der Karibik; auf den Karten des 16. Jahrhunderts liest sich die Bezeichnung ›les isles cannibales‹«, so Sabine Hofmann in ihrer Studie Die Konstruktion kolonialer Wirklichkeit.21 Selbst zwei Jahrhunderte später weist die Encyclopédie von Diderot und d’Alembert nur einen zusammenfas-

14 An anderer Stelle habe ich mich ausführlich zur Literatur von Chamoiseau geäußert, speziell zur Aufwertung des Kreol in seiner Kindheitsautobiographie Une Enfance créole, vgl. Ueckmann: 2008a, 2010a. 15 Vgl. Nuez: 1998, 21. 16 Vgl. zum Konzept der Écritures transculturelles bzw. Écritures de troubles: Febel/Struve/ Ueckmann: 2007. 17 Césaire: 1942, 50. 18 Condé: 1998, 66. 19 Ebd., 64. 20 Rincón: 1994b, 356. Kurnitzky (1994-95, 360f.) sieht in Greenaways Film ebenfalls eine Affinität zwischen Barock und Postmoderne realisiert. 21 Vgl. Hofmann: 2001, 52, insb. das Kap. »Koloniale Semantik: Kariben und Kannibalen« (ebd., 50-63) sowie Lestringants Studie Le Cannibale (1994).

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senden Eintrag zu »Caraïbes ou Cannibales«22 auf, die Referenz auf Kolumbus’ Namensgebung ist evident. Menschen der Karibik wurden folglich von Anfang an mit Kannibalen gleichgesetzt. Vermeintliche Ethnizität und Charakterisierung verschmolzen derart im Konstrukt »Karibe«, dass man selbst in ethnologischen Handbüchern des 20. Jahrhunderts noch auf die Unterscheidung »Karibe« und »Arawak« (letztere im Sinne ›friedliebender Indianer‹) trifft.23 Im Laufe der Jahrhunderte übertrug sich dieses Konstrukt des menschenfressenden Kariben/Wilden auch auf andere Weltgegenden des Südens. Zusammenfassend lohnt es sich, noch einmal Fernando Ortiz’ wegweisende Studie Contrapunteo cubano del tabaco y el azúcar in den Blick zu nehmen. Er bietet mit seinen Bildern des Tabaks und des Zuckers eine Metaphorik an, die das bislang erstellte bzw. noch zu erstellende Panorama an Allegorien, Simulationen und Metaphern wie Falte, Ellipse, tellurische Natur (Mangroven, Wald, Dschungel, Meer, Fluss vs. Plantage, Stadt) oder die Figur des señor barroco weiter ergänzt. Denn Tabak und Zucker verweisen in metaphorischer Weise »[…] al mito y a la historia, al negro y al blanco, al esclavo y al plantador, al arte y a la máquina, a la pequeña propiedad rural y al latifundio, al cultivo intensivo y al cultivo extensivo, a la calidad y a la cantidad, al capital nacional y al capital extranjero, a la criollez y al cosmopolitismo, a la independencia y a la dependencia, a la diversificación agrícola e industrial y al monocultivo y la monoproducción, a la soberanía y a la intervención, al discurso de poder y al discurso de resistencia, al deseo y a la represión, a lo revolucionario y a lo reaccionario, a la convivencia y a la violencia […]«24

Gerade der Tabak – steht Kuba doch bis heute in dem Ruf, den besten Tabak der Welt zu produzieren – repräsentiert für Ortiz in besonderer Weise »humo y humus, ceniza telúrica, palabra taína, aroma sagrado«25. Tabak gilt als »Außerhalb-desZuckers«26 und repräsentiert eine Wirtschaftsform der lokalen Praktiken, die einen Gegenpart zur repressiven Zuckerrohrmonokultur darstellen und somit karibische, vor allem kubanische Selbstbewusstwerdung ermöglicht. Denn mit der Tabakherstellung – Zuckerproduktion wurde auf Kuba erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts in großem Stil betrieben – standen nichtunterdrückte, genuin afro-kubanische Praktiken zur Verfügung, sprich: »je weniger plantación, desto mehr africanización«27. Für Ortiz verhalten sich diese beiden Bilder des Tabaks und des Zuckers jedoch nicht in dichotomer, sondern in kontrapunktischer Weise zueinander. Diese Idee des kontrapunktischen Lesens finden wir später in Edward Saids Studie Culture and Imperialism (1993) wieder. Seine so genannte contrapuntal analysis versucht verschiedene Geschichten (im Sinne von verschiedenen Geschichtskonstruktionen)

22 Diesen Hinweis verdanke ich Karen Struve, die aktuell auf der Basis der Encyclopédie zu »Barbaren im Archiv« arbeitet. 23 Vgl. Hofmann: 2001, 52. 24 Benítez Rojo: 1989, 178. 25 Ebd., 182. 26 Hofmann: 1994, 257. 27 Vgl. ebd.

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zusammenzubringen, um damit auch die Widersprüchlichkeiten in einem gemeinsamen Rahmen als ein atonales Ensemble untersuchen zu können. Kontrapunktik ist eigentlich ein Kompositionsprinzip der Polyphonie, wobei es darum geht, Zusammenklang und Unabhängigkeit von Einzelstimmen in der Mehrstimmigkeit zu organisieren. Das Wechselspiel von Stimmen wird erreicht, indem jede Stimme ein zeitweiliges Privileg, aber eben keine dauerhafte Dominanz zugesprochen bekommt. Die Vielstimmigkeit offen zu legen, ist das Ziel einer kontrapunktischen Lektüre. Die contrapuntal analysis bildet, wie Fethi Meskini erkennt, »la cellule méthodique de la pensée post-impériale«,28 denn sie fragt danach, wie das Korpus humanistischer Ideen, welches beispielsweise den realistischen Roman des 19. Jahrhunderts auszeichnet, so einträchtig mit dem Imperialismus koexistieren konnte: »As we look back at the cultural archive, we begin to reread it not univocally but contrapuntally, with a simultaneous awareness both of the metropolitan history that is narrated and of those other histories against which (and together with which) the dominating discourse acts.«29 In der Musikwissenschaft bezeichnet der Begriff Kontrapunkt die Gegeneinanderführung zweier oder mehrerer Stimmen »with only a provisional privilege being given to any particular one«30. Wichtig ist dabei, dass die Stimmen linear selbständig sind. Der Kontrapunkt steht damit im Gegensatz zur harmonischen Schreibweise, bei der eine Stimme Vorrang vor den anderen erhält. Said schlägt vor, Literatur in einer kontrapunktischen, d.h. polyphonen Weise zu lesen, so dass ein organisiertes Wechselspiel entsteht, in dem »alternative or new narratives emerge«31. In Saids Spätwerk sind Kulturproduktionen stets hybrid und das kontrapunktische Lesen (und Schreiben) ist in der Lage, diese Verbindung zwischen diskrepanten Erfahrungen herzustellen. Es ist einerseits eine Form des re-reading, welche fremdes Wissen und fremde Stimmen in den europäischen Diskurs einbezieht. Andererseits ist es eine Form des re-writing aus Sicht der Kolonialisierten, welche zwischen der imperialen Erzählung und der postkolonialen Perspektive verortet ist und somit eine Gegenerzählung herbeiführt: »Die Said’sche Kunst der ›Zurück-Schreibens‹ ermöglicht es den ›Entwürdigten‹ ihre Erfahrungen zu verwerfen und eine nicht-imperialistische Welt zu entwerfen.«32 Übertragen auf den karibischen Kontext folgert der kubanische Kulturtheoretiker Antonio Benítez Rojo: »[...] para Ortiz lo caribeño no reside exclusivamente en el tabaco o en el azúcar, sino en el ›contrapunteo‹ del tabaco y el azúcar [...] La voz A (Azúcar), la segunda que entra a cantar, intenta dominar sobre T (Tabaco), la que

28 Meskini: 2004, 11. 29 Said: 1993, 59. Bereits 1984 stellt Said Exilerfahrung und kontrapunktisches Bewusstsein in Analogie und betont die Chancen, die ein Leben im Exil trotz aller homelessness mit sich bringen kann: »Most people are principally aware of one culture, one setting, one home; exiles are aware of at least two, and this plurality of vision gives rise to an awareness of simultaneous dimensions, an awareness that – to borrow a phrase from music – is contrapuntal. […] Exile is life led outside habitual order. It is nomadic, decentered, contrapuntal« (Said: 1984, 55). 30 Said: 1993, 59. 31 Ebd., 60. 32 Castro Varela/Dhawan: 2005, 54.

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inició el tema.«33 Der Kontrapunkt verweist nicht nur auf ein gekonntes »interplay«34, sondern auch auf volltönende und ausschweifende barocke Musik. Wollen wir etwas über karibische Geschichte und Identität erfahren, so lohne es sich, »escuchar la fuga que propone el Contrapunteo«35. Die Fuge (lateinisch fuga: Flucht) ist eine musikalische Form, die insbesondere im historischen Barock Anwendung fand. Musikwissenschaftlich gesehen ist die Fuge ein Kompositionsprinzip, welches das Prinzip der Imitation zwischen verschiedenen Stimmen verfolgt. Sie gehört zu den strengeren Formen der Polyphonie und folgt den Regeln des Kontrapunkts. Besonderes Kennzeichen ist ihre komplexe Themenverarbeitung. Eine Fuge beginnt mit der Exposition der Stimmen: Die erste Stimme trägt das prägnante, kurze Thema vor, hierzu gesellt sich eine zweite Stimme, die das Thema auf einer anderen Tonstufe vorträgt. Die Fuge interpretiert dementsprechend die Stimmen des Tabaks und des Zuckers bzw. deren metaphorischen Effekte. Sich mit dem Prinzip der Fuge auseinander zu setzen, bedeutet Verweise auf die Vergangenheit zu respektieren und einzuarbeiten. Lezama Lima schreibt in »Mitos y cansancio clásico« ebenfalls von dem kontrapunktierten Raum: »Visión histórica, que es ese contrapunto o tejido entregado por la imago, por la imagen participando en la historia.«36 Ein von »imago y el sujeto metafórico« kontrapunktierter Raum ist ein Raum der Ausdehnung aufgrund von Verkettung und Schwerkraft. Lezama Lima gibt dazu ein erklärendes Bild: »Entidades como las expresiones, ›fábulas milesias‹ o ›ruinas de Pérgamo‹, adquieren en un espacio contrapunteado por lo imago y el sujeto metafórico, nueva vida, como la planta o el espacio dominado. De ese espacio contrapunteado depende la metamorfosis de una entidad natural en cultural imaginaria. Si digo piedra, estamos en los dominios de una entidad natural, pero si digo piedra donde lloró Mario, en las ruinas de Cartago, constituimos una entidad cultural de sólida gravitación. La fuerza de urdimbre y la gravitación caracterizan ese espacio contrapunteado por lo imago, que le presta la extensión hasta donde ese espacio tiene fuerza animista en relación con esas entidades.«37

33 Benítez Rojo: 1989, 180f. 34 Said: 1993, 59. 35 Benítez Rojo: 1989, 184. Auch für ihn erscheint die Karibik als Laboratorium, in dem ein ›Wissen der Differenz‹ gespeichert und abrufbar ist: »Uno de estos súbcodigos nos puede conducir a la Torre de Babel, otro a la versión arahuaca del Diluvio, otro a los secretos de Eleusis, otro al jardín del unicornio, otros a los libros sagrados de la India y la China y a los cauris adivinatorios del Africa Occidental. Las claves de este vasto laberinto hermético nos remiten a una sabiduría ›otra‹ que yace olvidada en los cimientos del mundo posindustrial, puesto que alguna vez fue allá la única forma de conocimiento« (ebd., xxiii). 36 Lezama Lima: 1993b, 49, Herv. i.O. 37 Vgl. Lezama Lima: 1993b, 54, Herv. i.O.

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Die Technik der Fiktion, la imago, dient dazu, wie es auch der New Historicism nahelegt, Geschichte(n) zu schreiben, buchstäbliche Re-Konstruktionen, »la imago se impuso como historia«38. Das Verfahren, Begriffe aus der Musikwissenschaft zu übernehmen – wie es Ortiz oder Lezama Lima (»contrapunteo«), Deleuze (»polytonalité«) oder Antonio Benítez Rojo (»fuga« und »PolyRhythmus«) tun –, um sie für die Literatur- und Kulturwissenschaft in Form eines Rhythm ›n‹ Creole39 fruchtbar zu machen, findet sich wiederkehrend in karibisch geprägter postkolonialer Kulturtheorie. Die bewusste Verwendung musikalischer Terminologie verstärkt freilich den synästhetischen Eindruck vieler Werke und markiert die musikbasierten Elemente populärer Kultur, sprich die Erosion der Grenzen zwischen Pop und Kultur, womit ich wieder bei der eingangs erwähnten aktuellen »baroquisation du monde« angelangt bin. Allen neobarocken Konstruktionen ist ihr Bestreben gemeinsam, der kulturellen Mischung des heutigen indianisch, afrikanisch, europäisch und gar asiatisch geprägten Amerika ein gemeinsames Fundament zu geben. Diese Plattform basiert teils auf präkolumbischen Traditionen und dem Tellurischen des Subkontinents, folglich einen »origen romántico« konstruierend (wie Carpentiers abgewandeltes, sprich um das Wunderbare erweiterte Mimesis-Prinzip) und teils auf seinem Gegenteil, nämlich »a ser estructurado«40 (wie Sarduys Lesart des Neobarock als arte del destronamiento). Carpentier geht es um ein ambitiöses Wiederentdecken lateinamerikanischer ›Authentizität‹. So entsteht bei Carpentier durch die synonyme Verwendung von barroco und real maravilloso eine Neuprägung der lateinamerikanischen Literaturtradition; beide Begriffe stehen im Kontext »to a non-European, primitive perception of reality grounded in an Afro-American and Amerindian acceptance of magic and the supernatural as part of human experience«.41 Der spezifisch lateinamerikanische Raum soll benannt werden und universale Geltung bekommen: »Nuestro ceiba, nuestros árboles, vestidos o no de flores, se tienen que hacer universales por la operación de palabras cabales, pertenecientes al vocabulario universal.«42 Lo real maravilloso kann als ein tellurischer Ausdruck dessen angesehen werden, was der Surrealismus künstlich herzustellen versucht habe. Das Wunderbare, was der Surrealismus quasi als poetische Kopfgeburt herzustellen suche, sei in Lateinamerika als real maravilloso allerorts präsent.43 Mit dem Kunstgriff/Rückgriff, Amerika als Quel-

38 Ebd., 58, Herv. i.O. Ausführlich zu Lezama Limas Konzept der imagen vgl. Preyer: 2013, 23f., 56. 39 Schwieger Hiepko: 2009. Auch bei der vietnamesischen Differenz-Theoretikerin, Komponistin und Filmemacherin Trinh T. Minh-ha ist wiederkehrend von Intervallen und Rhythmus die Rede, vgl. 1999, 2005. 40 Vgl. Rincón: 1996, 151. Auch der historische Barock bewegt sich zwischen binären Oppositionen: »arte de la Contrarreforma o del Absolutismo« (Rincón: 1996, 162) und der arte de Contraconquista à la Lezama Lima. 41 Pellón: 1994, 211. 42 Carpentier: 1990a, 40. 43 Carpentier kritisiert in seinem Vorwort zu El reino de este mundo (1949) den Surrealismus als »una artimaña literaria, tan aburrida, al prolongarse, como cierta literatura onírica ›arreglada‹, ciertos elogios de la locura, de los que estamos muy de vuelta« (1991, 15) und fragt

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le der Inspiration zu nehmen,44 grenzt Carpentier die lateinamerikanische Literatur bewusst von der europäischen surrealistischen Avantgarde und Dekadenzbewegung ab. Barock oder wunderbar sind Kunstwerke für Carpentier immer dann, wenn es um einen Vermittlungsprozess zwischen zwei Welten geht.45 Claudius Armbruster verweist jedoch zu Recht auf die Widersprüchlichkeit einer solchen Argumentation, denn wäre die lateinamerikanische Welt eine einmalige, der allein das Prädikat barock zustünde, so könne Barock kein universales Phänomen werden.46 Es war im Vorangegangenen immer wieder vom Chaos der Doppelungen oder, neutraler, von den europäischen Echowirkungen im lateinamerikanischen und karibischen Raum die Rede. Doch welche dynamischen Prozesse gab es vor den gewaltsamen Begegnungen zwischen Europa und Amerika? Hier setzt m.E. Carpentiers Konzept an, wenn er davon spricht, dass Amerika von jeher barock gewesen sei. Amerika war schon vor der Conquista qua Natur und präkolumbischer Kultur hybrid. Doch wie Walter Mignolo einschränkend festhält, »we cannot go back to other ›original‹ thinking traditions [...] because of the growing hegemony of the Western and modern/colonial world«47. Sarduy hingegen verhandelt Authentizität als Teil diskursiver Strategien. Der eigentliche Neobarroco ist hier eine intertextuelle bzw. interorale Semantik. Bei beiden Herangehensweisen handelt es sich um Literaturtheorien, die von der Peripherie und nicht vom Okzident ausgehen, ohne die europäische Kunst und Literatur auszuschließen. Es geht darum, sich ein Gedächtnis zu erfinden, um der kulturellen Auslöschung bzw. Überdeterminierung etwas entgegenzusetzen: »Les communautés indiennes survécurent à l’apocalypse démographique qui les décima et parvinrent à se forger des identités nouvelles, à s’inventer des mémoires et à se ménager un espace au sein de la société coloniale qui les cernait.«48 Wenn die Erzählbarkeit von traumatischer Geschichte selbst in Frage gestellt ist, schlägt Édouard Glissant die Technik die Vergangenheit wahrzusagen vor, eine »vision prophétique du passé«49. Karibische und lateinamerikanische Identität ist immer eine Identitätsfiktion, die den Sprachen und Kulturen aus mindestens drei Kontinenten entstammt. Selbst die geographische Einheit Lateinamerikas bzw. der Karibik ist angesichts der weitverstreuten Diaspora fragwürdig. Rincón bilanziert, dass das amerikanische (post)koloniale

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abschließend: »¿Pero qué es la historia de América toda sino una crónica de lo realmaravilloso?« (1991, 18). In Los pasos perdidos (1953) ist die Quelle die utopische Dschungelstadt und in La consagración de la primavera (1978) ist es der afro-kubanische Tanz. Vgl. Dill: 1993, 71. Vgl. Armbruster: 1982, 67. Mignolo: 2000, 11. Gruzinski: 1990, 18, Herv. N.U. Vgl. ferner: Edmundo O’Gormans Studie La invención de América: el universalismo de la cultura de Occidente (1958) und Uslar Pietri Arturos La invención de América mestiza (1996). Glissant: 1997e, 69, vertiefend zu dieser Form der Geschichtsschreibung vgl. Ueckmann: 2010b.

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Barock »en un momento en que las identidades se constituyen de modo desterritorializado«50 wiederkehre. Wobei es einer neobarocken Ästhetik à la Sarduy – und eine solche steht hier im Mittelpunkt – weniger um eine klar zu definierende andere Wirklichkeit geht als um die Spiele der Illusionierung und Desillusionierung, um Artifizialität und Referentialität. Neobarock dient Sarduy als ein chaotischer Begriff, um Prozesse der Destabilisierung und der Vermischung in den Blick zu bekommen, jenseits eines potentiellen retour au pays natal. Sarduys Konzept des Neobarock beschreibt die Diversität und das transitorische Moment der karibischen Gegenwartsliteraturen nach der Erfahrung des Kolonialismus und der Sklaverei. Inwiefern unterscheidet sich dann Neobarock von Kreolisierung? Ich behaupte, dass sich die beiden Begriffe vor allem in der jeweiligen Rezeption durch den anderen Kulturraum unterscheiden. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Neobarock mittlerweile nicht nur als Analysekategorie für karibische und lateinamerikanische Literaturen auftaucht, sondern teils auch für afrikanische, kanadische oder belgische Literaturen Verwendung findet. So fragt Jean-Cléo Godin in seinem Band Nouvelles écritures francophones. Vers un nouveau baroque? (2001) nach der Anwendung barocker Paradigmen auf die zeitgenössische Literatur. Dieser Band geht auf eine Tagung im Senegal im Jahr 1998 zurück, bei der die frankophonen Literaturen Afrikas51 im Vordergrund standen; indessen behandelt er auch die Texte von frankophonen Autoren und Autorinnen aus Kanada, Belgien und der Karibik. Diese »postmodernité baroque, foisonnante, faite d’accumulation de choses hétéroclites, d’un mélange de réalisme, de fantasmatique«52 kommt nicht zufällig aus der Peripherie. Sie zielt darauf ab, »faire entrer les littératures des marges de la francophonie littéraire dans un concert général des littératures du monde.«53 Neobarock hat also durchaus Eingang gefunden in das frankophone champ littéraire. Auch Abelin Fonkoué spricht von einer barocken Ästhetik in frankophonen Literaturen, denn »la quête […] d’une identité en métamorphose trouve dans l’esthétique baroque un moyen d’expression fécond«54. In einer heterogenen, auf Hybridität beruhenden und multitemporalen Modernität bietet sich gerade das Konzept des Neobarock für eine lateinamerikanische und karibische Literaturgeschichte – vielleicht sogar insgesamt für eine neue, postmoderne und postkoloniale littérature monde – unbedingt an, denn, so Julio Ortega, »esta práctica barroca […] deconstruye los códigos de Occidente en la heteroglosia latinoamericana«55. Die Analogie von Neobarock und Postmoderne, gerade in postkolonialen Räumen, drängt sich immer wieder auf. Und da es mehr als ein Verständnis von Moderne gibt, muss es auch »many baroques« 56 geben.

50 Rincón: 1996, 210. 51 Werner/Ranger (1996, 2) verweisen in Postcolonial Identities in Africa darauf, dass auch anglophone Autoren Afrika als »collapses into the baroque style of politicial improvisation in which everyone indulges« zu beschreiben versuchen. 52 Sarlet: 2001, 24. 53 Ebd., 25. 54 Fonkoué: 2006, 149. 55 Ortega: 1991, 31. 56 Lambert: 2004, 140.

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Barock als ein universelles Konzept zu favorisieren hängt m.E. mit seiner Anerkennung von globalen Interdependenzen und Urbanisierungsprozessen sowie mit seiner Einbindung multipler Kommunikationsformen der medialen Welt zusammen.57 Glissant spricht auch von dem »infiniment mouvant«58, welches im Kontext der neuen Informationstechnologien aufscheint. Ein solches Textverständnis hat eine starke Erweiterung des literarischen Feldes um mediale und (audio)visuelle Phänomene zur Folge. Rincón verweist, referierend auf Lateinamerikas »neue Kartographen«59, auf den Zusammenhang von lateinamerikanischer Modernität und Neobarock: »Lo que hoy es cultura [...] da lugar a que la determinación de la modernidad latinoamericana incluya las cuestiones del Barroco y del Neobarroco.«60 Im Neobarock verbindet sich Wissenschaft mit der Tradition des Mündlichen und die Vernunft mit dem Mythos. Rincón betont das Zusammenspiel von Wissenschaft, Religion, übernatürlichen oder magischen Beziehungen zur Welt in außereuropäischen Gesellschaften und den (post)modernen Möglichkeiten technischer Reproduzierbarkeit und Medialisierung: »Presupone […] la controversia […] acerca de la comprensión del pensamiento de las sociedades extra-europeos; de formas mágicas de relación con la realidad en términos de alteridad cultural; y la discusión moderna y postmoderna acerca de la reproductibilidad, la simulación medial y la proliferación electrónico-medial de los simulacra.«61

Mit den Worten von Glissant geht es dabei nicht bloß um den Übergang vom Mündlichen zum Schriftlichen, sondern vielmehr um eine neue Mündlichkeit. Hierfür unterscheidet er zwei Formen von Mündlichkeit: »Il y a l’oralité portée par les médias qui est l’oralité de la standardisation et l’oralité de la banalisation. Et puis il y a une autre forme d’oralité, celle-ci frémissante et créatrice, qui est celle de ces cultures qui surgissent aujourd’hui sur ›la grand’ scène du monde‹ et qui […] n’empruntent pas de préférence le chemin ni l’outil de l’écriture, mais qui empruntent aussi les

57 Vgl. Rincón: 1996, 151. 58 Glissant: 1997b, 160. Die mediale Welt mit ihrer visuell und auditiv orientierten, telekommunikativen Kultur und traditionelle Oralität müssen sich dabei keineswegs ausschließen. Postmoderne digitale Technik kann sogar nutzbar gemacht werden zur Aufwertung mündlich überlieferter Geschichte, vgl. bspw. das Neo-Griot Konzept in: Herr/Ueckmann: 2005. 59 Sieber: 2005, 70. 60 Rincón: 1996, 156. Zur engen Verbindung von (Neo-)Barock und Postmoderne vgl. ferner N’Da: 2001. Horst Kurnitzky (1994-95) unterscheidet jedoch die unterschiedliche Zielsetzung von Barock und Postmoderne: »mientras que en el barroco se expresa una forma explosiva de ampliación del espacio […] parece que el posmodernismo intenta producir una implosión de tiempo y espacio« (355), »mientras que el barroco intenta une mediación, que permite dominar y apropiarse el mundo a través de la diversión que ofrece el Theatrum mundi, en el posmodernismo parece que este mundo estuviese en aboluta y completa disposición« (361). 61 Rincón: 1996, 196.

204 | II T RANSDISZIPLINÄRES T HEORIENETZ moyens du cinéma, de la création plastique, etc., et qui n’en sont pas moins des cultures orales et des manifestations de l’oralité.«62

Glissants Kreolisierung und ein dekonstruktivistisch-poststrukturalistisch ausgerichteter Neobarock ähneln sich in ihrer universellen Bezugnahme auf Texte, Sprachen, Erzählweisen und Verweistechniken. Außerdem steht bei beiden Konzepten das Unsinnige, Chaotische, Absurde, Fragmentarische, Wuchernde oder auch Opake im Vordergrund. Kreolisierung hat sich indessen in der spanischsprachigen Karibik als Begriff nicht durchgesetzt, was sicherlich damit zu tun hat, dass es nur wenig Literatur gibt, die eine spanisch-basierte Kreolsprache in den Mittelpunkt rückt.63 Glissant vermutet bspw. für Kuba, dass »un système de production a permis d’ ›intérioriser‹ sans aliénation grave la langue d’importation«64. Die Verwendung von kreoloiden Strukturen in der Literatur scheint in der spanischsprachigen Karibik auf historische Romane bzw. solche aus dem 19. Jahrhundert und früher beschränkt. Im Unterschied zur frankophonen Karibik geht ein von der Norm abweichendes Sprechen meist mit Stigmatisierung der Figuren in der Literatur einher.65 Im Gegensatz zu den spanisch- bzw. englischsprachigen Antillen, welche insgesamt bereits stark ›kastillanisiert‹ bzw. ›anglisiert‹ zu sein scheinen, stellt sich die Lage für die »peuples ›francolonisés‹ des Caraïbes« gänzlich anders dar. Tontongi begründet dies mit der besonderen Widerstandsgeschichte Haitis: »[…] grâce en partie à leur continuelle résistance culturelle historique nourrie par leur parenté historico-linguistique avec l’Haïti rebelle – ou à cause de l’échec de la politique ou nonpolitique culturelle française – [ils] conservaient plutôt substantiellement leur langue propre, le créole, et leur culture à dominance africaine.«66

Haiti fungiert sozusagen als kulturelles Hinterland für die frankophone Karibik. Wertet man Kreolisierung nicht nur auf der Folie eines linguistischen Konzepts, sondern als Paradigma im Kontext eines bestimmten historischen Prozesses, nämlich einer erzwungenen Transkulturation, wäre das Konzept auch für die nicht-frankophone

62 Glissant: 1996a, 39. 63 Eine Ausnahme ist die kubanische Autorin Mary Cruz, die in Creto Gangá (1974) diese Problematik aufgreift: Creto Gangá war Pseudonym des Autors José Bartolomé Crespo Borbón (1811-1871). Genauer zu Crespo Borbón und darüber hinaus zum habla de negro, habla bozal (Bozal meint die behelfsmäßige Sprache der eben erst in Kuba eingetroffenen Afrikaner) vgl. History of Afro-Hispanic Language (2005) von Lipsky. 64 Glissant: 1997a, 334. 65 Vgl. Perl/Schwegler: 1998. Die Verwendung von kreoloiden Sprachvarietäten hat in der spanischsprachigen Karibik eine lange Tradition. Bereits im teatro bufo des 19. Jahrhunderts wurden Figuren aufgrund ihres eye dialect charakterisiert, so traten Galicier, Katalanen, negros bozales, negros ladinos u.a. auf; die Autoren dieser Theaterstücke waren selbst fast immer keine Afro-Antillaner, vgl. Lipski: 1998. Für diese Hinweise danke ich Matthias Perl. 66 Tontongi: 2003.

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Karibik von großem Nutzen. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass die gesamte Karibik aus Post-Sklavenhaltergesellschaften hervorgegangen ist. Daher bietet sich Loichots übergreifendes Konzept der Postplantation Literature in besonderer Weise an.67 Die Karibik als Laboratorium der Kreolisierung hat genau dort, zunächst auf dem Sklavenschiff und im Anschluss auf der Plantage, ihren Ausgang genommen und muss daher auch in diesem erweiterten Diskursrahmen zwischen Afrika, Amerika und Europa diskutiert und ›verlinkt‹ werden. Was bleibt, sind die Sprünge im Spiegel68 oder wie José Joaquin Brunner es bereits 1988 formulierte: Un espejo trizado.69 Man weiß nicht, was Original und was Nachahmung ist, das ›eigentlich Originäre‹ bleibt unerkannt, weil undefinierbar. Das Subjekt bleibt immer illusionär, von sich selbst abgetrennt, was bleibt, sind die unendlichen Reflektionen im Spiegel. Der Spiegel, der somit nicht abbildet, sondern abbaut, dekonstruiert, ist bezeichnend für das postmoderne Hinterfragen der eigenen Identität. Durch den zerbrochenen Spiegel eines zersprungenen, närrischen und vor allem metaphorischen Erzählens wird das alltägliche, hybride Chaos beschrieben: »Le baroque est à la fois le résultat d’un tel désordre et la réponse à celui-ci, [...]: c’est une manière subversive d’habiter le chaos.«70 Im postkolonialen Raum ermöglicht der Neobarock ein Ausweichen »à la quête de refondation«71, was ein befreiendes, labyrinthisches, spiralförmiges, wucherndes déparler zur Folge hat.

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Loichot: 2007. Herlinghaus/Riese: 1997. Brunner: 1988. Chancé: 2009, 12. Ebd.,13.

III Ästhetische Hybridisierungen

1 Reinaldo Arenas: Neobarock und Geschichtstrauma »Dos actitudes, dos personalidades, parecen siempre estar en contienda en nuestra historia: la de los incesantes rebeldes amantes de la libertad y, por tanto, de la creación y el experimento; y la de los oportunistas y demagogos, amantes siempre del poder y, por lo tanto, practicantes del dogma y del crimen y de las ambiciones más mezquinas.« REINALDO ARENAS: ANTES QUE ANOCHEZCA, 1992

Im Gesamtwerk des Kubaners Reinaldo Arenas (1943-1990) bilden die beiden mit der Geschichte spielenden Romane El mundo alucinante (1969) und La loma del ángel (1987) sowie seine postum erschienene Autobiographie Antes que anochezca (1992) den Beginn und Abschluss seiner schriftstellerischen Karriere im Ausland. Sein Debütroman Celestino antes del alba (1967) ist der einzige Text, der in Kuba in einer geringen Auflage erscheinen durfte. Bis heute wurde kein weiteres Buch mehr von ihm auf der Insel veröffentlicht. Nachdem der Roman El mundo alucinante in Kuba Ende der 1960er Jahre der Zensur zum Opfer fiel, ließ Arenas sein Manuskript im Ausland drucken. Es erschien zunächst in Frankreich, Mexiko und schließlich in den USA.1 Arenas wurde 1974 verhaftet und im Morro, Havannas berüchtigtem Gefängnis, eingekerkert und gezwungen, sein Werk zu widerrufen.2 Seine zahlreichen

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1969 erschien der Roman unter dem Titel Le monde hallucinant bei Seuil in Paris, vermutlich aufgrund einer Initiative seines im Pariser Exil lebenden Schriftstellerkollegen Sarduy. Zusammen mit Gabriel García Márquez’ Cien años de soledad wurde El mundo alucinante als bester ausländischer Roman ausgezeichnet. 1969 erschien El mundo alucinante erstmals auf Spanisch bei Diógenes in Mexiko und 1971 erschien er in englischer Übersetzung unter dem an den Subtext erinnernden Titel Hallucinations: Being an account of the life and adventures of Friar Servando Teresa de Mier bei Harper & Row in New York. Er wurde wegen ›Immoralität‹, ›konterrevolutionärem Verhalten‹ und der Veröffentlichung dreier Bücher im Ausland zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt. Der offizielle Vorwurf der Pornographie diente nur dazu, davon abzulenken, dass seine Literatur dem Regime Castros aufgrund ihrer systemkritischen und nonkonformistischen Grundhaltung

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Versuche daraufhin, Kuba zu verlassen, scheiterten zunächst; schließlich gelang ihm 1980 die Ausreise. Diskriminierung und Marginalisierung, Publikationsverbot, Verfolgung, Gefängnis- und Foltererfahrungen veranlassten Reinaldo Arenas in dem Massenexodus von Mariel, in dem 1980 mehr als 125 000 Kubaner die Insel verließen, ins us-amerikanische Exil zu fliehen, zunächst nach Miami, dann nach New York.3 Mit 12 Jahren Verzögerung erschien dort 1981 die erste von Arenas durchgesehene Fassung von El mundo alucinante, versehen mit einem Vorwort des Autors (»Fray Servando, víctima infatigable«), welches er 1980 in Caracas verfasste und welches grundsätzliche ideologische und literarische Überlegungen Arenas’ enthält. Einer seiner letzten Romane, La loma del ángel, entstand im us-amerikanischen Exil in den Jahren zwischen 1983 und 1985. Während der 1980er Jahre unternahm er mehrere Reisen nach Europa, vor allem nach Frankreich und Spanien. Der an AIDS erkrankte Autor setzte seinem Leben 1990 in New York ein Ende. Die beiden Romane El mundo alucinante und La loma del ángel wurden aus seinem vielfältigen Œuvre (Romane, Kurzgeschichten, Gedichte, Theatersequenzen)4 ausgewählt, weil sie sich als literarischer Gegenentwurf zu einer aufklärerischen Fortschrittslogik lesen lassen. Radikaler als Alejo Carpentier schreibt Arenas gegen den herkömmlichen Aufklärungs- und Revolutionsdiskurs an, denn er stellt die Autonomie des Subjekts und des Geschichtsprozesses konsequent in Frage. Arenas’ Werk illustriert insbesondere die Geschichtstraumata und das Versagen einer aufklärerischen Bildungsidee, die einzig auf Schriftlichkeit und Buchkultur zurückgreift.5 Folglich lassen sich seine Texte auch als Anti-Bildungsromane lesen. Geschichte wird bei Arenas nicht nur fiktionalisiert und karikierend reaktualisiert, sondern auch individualisiert. Für ihn zählen weniger die Manifestationen des Kollektivs, stattdessen steht das Einzelschicksal im Vordergrund. Er tritt für den Einzelnen als Opfer der ›großen‹ Geschichte ein. Arenas entwickelt zudem in beiden Romanen eine besondere Beziehung zum Autor/Erzähler/Protogonisten (Fray Servando) bzw. zum Autor (Cirilo Villaverde) des Hypotextes,6 deren Leben wie seines von Verfolgung, Gefängnis-, Flucht- und Exilerfahrungen geprägt waren und deren Widerstandsgeist ihn faszinieren. Für seine Dekonstruktion und Neuformulierung historischer Hypotexte bedient sich Arenas einer neobarocken Ästhetik. In beiden Romanen setzt Arenas eine karne-

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missfiel. Nach der Haftzeit wurde er in ein Rehabilitierungslager eingewiesen. Vgl. Ette: 2009, 1. Vgl. Ette: 2006, 187f. Arenas spricht gar von 135 000 Kubanern, vgl. Arenas: 1992, 304. Für Fidel Castro war der Massenexodus eine bewusst einkalkulierte Entlastung, entledigte man sich doch jener, die nicht in die Revolution integriert waren. Ein wichtiges Publikationsorgan schuf sich die Generación de Mariel unter der Federführung von Arenas mit der 1983 in New York gegründeten Zeitschrift Mariel. Eine »Bibliografía areniana« gibt Ette: 1992a, 177-202. Vgl. Lüsebrink: 1989. Hypertextualität nach Genette ist ein Text zweiten Grades, der von einem anderen, früheren Text narrativer oder dramatischer Form abgeleitet ist; Text B (Hypertext) überlagert Text A (Hypotext), aber nicht in Form eines Kommentars, sondern als ein Werk der Fiktion, vgl. Genette: 1993, 14ff.

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valeske und kannibalistische reescritura bereits vorhandener Texte als ästhetisch motiviertes Schreibverfahren in exemplarischer Weise um. Es sind literarische Verarbeitungen historischer Ereignisse anhand angeeigneter und eigener Texte, die im unaufhörlichen Dialog miteinander stehen und so eine originelle »recreación«7 erzeugen. Dem Genre der nueva novela histórica8 entsprechend montiert Arenas historische Elemente eigenwillig und eklektisch in seinen neuen Text, so dass sich die Romane zwischen Historiographie, Autobiographie und phantastischer Fiktion bewegen. Diese besondere Form des historischen Romans verfährt jenseits größtmög-licher historischer Nähe, epischer Breite, Chronologie und Logik der Ereignisse und setzt stattdessen auf eine zirkuläre, ahistorische und paradoxe Struktur, um die Absurdität, Anarchie und das Chaos der Weltgeschichte zu zeigen.

1.1 A UFKLÄRUNG DER A UFKLÄRUNG : E L MUNDO ALUCINANTE 1.1.1 Doppelbiographie: Autobiographie und Phantastik In El mundo alucinante erzählt Arenas in grotesk-fantastischer Weise die Lebensgeschichte des mexikanischen Mönchs Fray Servando Teresa de Mier (1763-1827).9 Arenas’ fingierter historiographischer Bericht basiert auf autobiographischen und historischen Texten des Fray Servando, vornehmlich auf seinen Memorias.10 Dieses »intertextuelle Spiel mit doppeltem und dreifachem Boden«11 verwandelt Autobio-

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Arenas: 1995, 9. Die neuen historischen Romane weisen eine Vielfalt unterschiedlicher narrativer Verfahren auf. Gemeinsam ist ihnen jedoch die Auseinandersetzung mit traditionellen Geschichtsbildern, die Autoreflexivität, eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Anspruch einer objektiven Geschichtsdarstellung und das Ziel, eine alternative Geschichte ›von unten‹ zu schreiben, vgl. Schütz: 2003, 14ff. Einführend zur nueva novela histórica siehe Galindo: 1999. 9 Der mexikanische Dominikanermönch wurde am 18.10.1763 in Monterrey, im damaligen Nuevo León, in Neu-Spanien geboren und starb nach zahlreichen Reisen u.a. auch durch Europa, am 17.11.1827. In einer berühmt gewordenen Predigt entzog er 1794 der spanischen Krone jegliche christlich-missionarische Legitimation zur Eroberung Amerikas, indem er behauptete, der Apostel Thomas habe in der Gestalt Quetzalcoatls bereits das Evangelium in Amerika vor Ankunft der Spanier gepredigt und außerdem den GuadalupeKult initiiert. Mit dieser These sprach der Mönch den Spaniern jeglicher Missionierung ihre Berechtigung ab, denn danach war Amerika bereits vor der Ankunft der Spanier ein christliches Land, vgl. Pagni: 1989, 143ff. und 1992b, 157f; Arenas: 1997, 64; WogatzkeLuckow: 1997, 237. 10 Weitere Prätexte sind seine Apología, die Historia de la revolución en la Nueva España und die Carta de despedida a los mexicanos escrita desde el Castillo de San Juan de Ulúa. Charlotte Lange erwähnt auch noch die beiden Biographien über Fray Servando von Vito Alessio Robles und Artemio de Valle-Arizpe, vgl. Lange: 2008, 96. 11 Ette: 2009, 4.

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graphik und Historiographie in Phantastik. El mundo alucinante ist phantastischer Lebensbericht, Gesellschafts- und Klerussatire sowie grotesker Reisebericht zugleich. Arenas nennt seinen Text eine novela de aventuras – so der Untertitel –, und referiert so auf ein Genre, welches eher ein zwangloses Verhältnis zur Historiographie hat. Bei Arenas impliziert der Untertitel freilich auch eine hyperbolische aventura de la escritura, denn er charakterisiert seinen Abenteuerroman als »esta suerte de poema informe y desesperado, esta mentira torrencial y galopante, irreverente y grotesca, desolada y amorosa, esta (de alguna forma hay que llamarla) novela«12. Arenas nimmt sich als impliziter Autor die Freiheit, die Schriften des Fray Servando parodistisch umzuschreiben, zu aktualisieren und übliche Genregrenzen (ob Autobiographie oder Abenteuerroman) zu überschreiten. Eine Zusammenfassung der Handlungs- und Bilderwelten des Romans ist angesichts der zahlreichen Verwicklungen, handelnden Personen und Szenen, des atemberaubenden Tempos – das Fehlen von Absätzen über Seiten hinweg sowie die Konstruktion komplizierter Schachtelsätze führen bereits auf formaler Ebene zu dem Eindruck dauernder Bewegung – und der vielfältigen literarischen Reminiszenzen kaum möglich. Die chronologische Grundlage bildet die Lebensgeschichte des mexikanischen Priesters und Schriftstellers Fray Servando, welche »von Dantes Inferno bis ins Paradies der Azteken«13 reicht. Der Mönch flieht zunächst vor den Nachstellungen seiner Mutter, Schwester und seines Lehrers in ein Dominikanerkloster, in dem unentwegt die Scheiterhaufen der Inquisition brennen. Sein Fluchtweg führt ihn von Mexiko über Spanien, quer durch Europa (Frankreich, Italien, Portugal, England), die USA, Mexiko, Kuba, wieder in die USA und zurück nach Mexiko. Selbst nach seinem Ableben hört er nicht auf zu reisen. Zunächst wird sein mumifizierter Leichnam nach Argentinien überführt, dort an einen Zirkusdirektor weiterverkauft, der ihn gegen Eintritt als »víctima de la inquisición«14 ausstellt und später wird er in einem »de los circos más fabulosos«15 in Belgien gezeigt. In El mundo alucinante erschafft Arenas eine zentrale Figur neu, die zur Befreiung Lateinamerikas von den Kolonialmächten beigetragen hat. Arenas verschmilzt dabei mit dieser historischen Figur zu einer Person, wie er im Prolog in Form eines fingierten Briefes an Fray Servando schreibt: »Lo más útil fue descubrir que tú y yo somos la misma persona.«16 Dieser Kunstgriff erlaubt es dem impliziten Autor zwei Zeitebenen – die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert sowie das postrevolutionäre Kuba – miteinander zu verweben und eine Doppelbiographie zu verfassen: eine revolutionäre Mönchs-Biographie und eine postrevolutionäre fiktive Autobiographie.17

12 Aus dem Vorwort aus der von Arenas durchgesehenen Ausgabe von 1981; Arenas: 1997, 21. 13 Ette: 2009, 4. Zur intertextuellen Parodie von Dantes La Divina Comedia und Lezama Limas Paradiso in Arenas’ Text, vgl. Lange: 2008, 128-135. 14 Arenas: 1997, 313. 15 Ebd. 16 Ebd., 11 17 Charlotte Lange spricht von einer »autobiografía ficticia« und einer »versión ficticia« von Fray Servandos Memorias, vgl. Lange: 2008, 99f. El mundo alucinante ist somit Autobio-

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Die Überlagerung der verschiedenen Zeitebenen zeigt, dass Unterdrückung und Machtmissbrauch nicht der Vergangenheit angehören, sondern zirkuläre Größen sind. Dieser Kunstgriff erlaubt ihm ferner seine eigenen nachrevolutionären Erfahrungen im Kuba der 1960er Jahre – anhaltende staatliche Gewaltverhältnisse und Ausgrenzungsmechanismen – verschlüsselt zu Papier zu bringen. Erstaunlich sind dabei die Parallelen zwischen der Mönchsvita und der des politischen Freidenkers und bekennenden Homosexuellen Reinaldo Arenas.18 Beiden Autoren ist gemein, dass sie ihre Werke verfassten »entre la soledad y el trajín de las ratas voraces, [...] entre la desolación y el arrebato, entre la justificada furia y el injustificado optimismo, entre la rebeldía y el escepticismo, entre el acoso y la huida, entre el destierro y la hoguera«19. 1.1.2 Hypertextualität und Autorenhybris in mündlichen Gesellschaften Fray Servandos bewegtes, paradoxes Leben weist Parallelen zum pícaro-Held eines barocken Schelmenromans auf, ohne dabei das Streben nach Ehre als Schlüsselthema der Pikareske aufzugreifen.20 Bei Arenas’ Schelm begegnet uns vielmehr ein ausgegrenzter Querdenker, der gesellschaftlich normierte Lebensentwürfe, ausdrücklich den Glauben an die Durchsetzungskraft aufklärerischer Ideen, zusehends entlarvt. Denn in der dominant oralen Kultur Lateinamerikas hatte Fray Servando die größte Wirkung freilich mit einer mündlichen Predigt, in der er die – als häretisch angesehene – Behauptung aufstellte, die Heilige Jungfrau von Guadalupe sei in Mexiko bereits weit vor der Ankunft der Spanier unter anderem Namen (Quetzalcóatl) verehrt worden. Durch die »Verknüpfung der kanonisierten christlichen Legende mit aztekischen Mythen der spanischen Eroberung«21 entzieht der Mönch der spanischen Eroberung jede Missionierungsberechtigung. Beim spanischen Klerus in Ungnade gefallen, wird er aufgrund dieser Predigt von der Inquisition verfolgt und inhaftiert; er beginnt im Kerker Pamphlete und seine Autobiographie zu verfassen. Fray Servandos ketzerischen, hybriden Ideen stehen keinesfalls im Kontext europäischer Aufklärungsphilosophie, sondern verdanken sich – in Arenas’ verfremdeter Biographie – den (unveröffentlichten) Manuskripten des Gelehrten Borunda. Borunda ist ein in einer Höhle wohnender Riese, ein Entdecker yukatekischer Bilderschriften, zapotekischer Inschriften, zakatekischer Stiche, chichimekischer Steine sowie Verfasser eines

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graphie und Biographie in einem, denn zwei der drei Erzähler sind die relativierenden Biographen des dritten Erzählers (yo Servando), vgl. ebd., 109. Auch in seiner Autobiographie vergleicht er seine Gefängniserfahrungen mit denen der historischen Figur Servando: »En El mundo alucinante yo hablaba de un fraile que había pasado por varias prisiones sórdidas (incluyendo el Morro). Yo, al entrar allí, decidí que en lo adelante tendría más cuidado con lo que escribiera, porque parecía estar condenado a vivir en mi propio cuerpo lo que escribía« (Arenas: 1992, 222). Arenas: 1997, 9. Vgl. Wogatzke-Luckow: 1997, 237. Vertiefend zur »novela picaresca« siehe MeyerMinnemann/Schlickers: 2008. Ette: 2009, 3.

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Código general de jeroglíficos americanos.22 Borundas Wissen basiert maßgeblich auf der Analyse amerikanischer Hieroglyphenschrift und präkolumbischer Religiosität und verweist auf die kulturelle Eigenständigkeit Lateinamerikas. Bislang war es ihm aber nicht gelungen Publikationsmöglichkeiten zu finden, daher wendet er sich an Fray Servando als möglichen Multiplikator. In einer historischen Perspektive hybridisiert Arenas mittels Borunda die Figur Fray Servandos und schließlich auch seine eigene Autorschaft. Die Autorinstanz wird wie bei Jorge Luis Borges zum Gegenstand unabschließbarer fiktionaler Experimente. Literarisches und (fiktiv) mündlich Tradiertes behandelt er gleichrangig. In einem Gespräch zwischen Borunda und Fray Servando geht es um diese Diskrepanz zwischen publizierten, übermittelten und zensierten Texten, denn »›¿cómo se iban a conservar tantas obras valiosas como se conservan?‹ ›¿Y acaso sabes tú las que se han perdido?‹«23 An anderer Stelle vermerkt Servando, dass seine besten Ideen stets die seien, die er nicht zu Papier gebracht habe: »Las mejores ideas son precisamente las que nunca logró llevar al papel, porque dicho y hecho ya les hace perder la magia de lo imaginado y porque el resquicio del pensamiento en que se alojan no permite que sean escudriñadas. [...].«24 Die Schrift ist somit nur unvollkommener Ersatz für das mündliche Wort. Indem Arenas als impliziter Autor das Reden und Schreiben von Fray Servando im Kontext apokrypher Texte und den begrenzten Wirkungsweisen des Gedruckten in dominant oralen Gesellschaften situiert, relativiert er seinen eigenen hypertextuell angelegten Roman. Seine ›durchlässige‹ Literatur verweist so augenzwinkernd auf einen Kanon der marginalisierten oder nie publizierten Werke. 1.1.3 Neobarocke Spieltriebe El mundo alucinante geht, wie wir gesehen haben, weit über die herkömmlichen Gattungen Autobiographik und Roman hinaus, denn es ist auch eine Auseinandersetzung über den Prozess der Produktion und Rezeption von Wissen in einer mündlich geprägten Gesellschaft. Das opake Wissen Borundas verweist auf unentdeckte, unpublizierte Wissensbestände, die ›ketzerische‹, subalterne Wirkungsweisen zu entfalten vermögen. Arenas’ Roman ist darüber hinaus auch eine metatextuelle Auseinandersetzung mit Werken der Weltliteratur, insbesondere des Siglo de Oro wie Cervantes’ Don Quijote (1605/1615) und Quevedos Schelmenroman Historia de la vida del Buscón (1626). Bereits in seinem Aufbau erinnert El mundo alucinante mit seinen häufigen Kapitelanfängen »De lo que...« oder »De cómo...« an den Buscón und Don Quijote.25 Aus letzterem zitiert eine der Erzählstimmen wortwörtlich zum Thema der Freiheit und legt damit eine deutliche Spur.26 Zur Erinnerung:

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Vgl. Arenas: 1997, 59. Ebd., 60f. Ebd., 72. In Rodríguez Juliás Roman La noche oscura findet sich dieselbe Struktur; die zahlreichen Kapitel beginnen meistens mit »De lo que...«, »Donde se cuentan...« oder »De cómo...«. 26 »La libertad, mi querido amigo, es uno de los más preciosos dones que a los hombres dieron los cielos« – y seguiste recitando el Quijote –; »con ella no pueden igualarse los tesoros que encierra la tierra, ni el mar encubre; por la libertad, así como por la honra, se puede y

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Cervantes übernahm die Episodenstruktur des klassischen Ritterromans und parodierte sie, indem es bei ihm nicht mehr um den Erwerb von Ehre und Ruhm, sondern gerade um den Nachweis des ewigen Scheiterns Don Quijotes geht. Außerdem kommentiert, analysiert und parodiert Cervantes mit seinem zweiten Teil den ersten Teil. Mit Hilfe dieses Kunstgriffs wird der erste Teil des Don Quijote Bestandteil der Fiktion des zweiten Teils.27 Eine vergleichbare parodistische Nachahmung liefert uns auch Arenas’ wahnwitzige Mönchsvita. Einen weiteren hypertextuellen Hinweis gibt Arenas mit der Erwähnung der Jacarandina im 11. Kapitel: »Así arribaron a Vallodolid siempre acompañados por los hombres de Chalflandín, gente muy fina que les hicieron aprender la jacarandina.«28 Umgeben ist der Mönch bei seiner Reise von der ›feinen Gesellschaft‹: »acompañado por guspateros, alcatiferos, cuatreros, cicateros, pededoreros, capeadores, enjibadores y gerifaltes de gran tomares y poco dares, que nunca faltan por estos lares y cunden a España de mil pesares.«29 Diese ungewöhnlichen Bezeichnungen entstammen alle dem Räuber-Jargon des Spaniens im 17. Jahrhundert, was den Bezug zum Siglo de Oro und speziell zu Quevedos Buscón verstärkt. Weitere intertextuelle Anspielungen finden sich im Kontext der bereisten Länder: In Frankreich trifft der Mönch im Salon von Madame Récamier auf europäische und lateinamerikanische Intellektuelle wie Benjamin Constant, Lucas Alamán, Simón Bolívar, Madame de Staël und Alexander von Humboldt; im textuellen Zentrum stehen die Werke von Rousseau und Voltaire. In England trifft er auf Orlando, konkret auf Virginia Woolfs literarische Figur (Orlando. A Biography, 1928), welche den Geschlechtertausch und das mühelose Überschreiten der Zeitlichkeit zum Thema hat.30 Sie ist insofern vergleichbar mit dem Mönch, als dass sie ebenfalls in Zeit und Raum ungebunden ist und eine suchende Figur repräsentiert. Orlando tritt wiederholt als »rara mujer«31 in El mundo alucinante auf. Sie/Er selbst stellt sich eindeutig als Woolf’sche Figur dar: »Siempre he descendido de reyes. Nací hace ya unos trescientos años. [...] Nací hombre... de ello solamente he conservado el nombre. [...] Mi vida no ha sido más que una constante búsqueda, sin ningún acierto.«32 Durch diesen Kunstgriff verknüpft Arenas erneut Historiographie mit Fiktion und lotet – genau wie Virginia Woolf in Orlando – die Grenzen des Biographischen aus. Bemerkenswert sind die zahlreichen Anspielungen im Roman auf die damalige, zeitgenössische kubanische Literatur, insbesondere auf Alejo Carpentiers Romane El

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debe aventurar la vida; y, por el contrario, el cautiverio es el mayor mal que puede venir a los hombres« (Arenas: 1997, 241). Arenas bevorzugt deshalb auch den zweiten Teil: »La segunda parte del ›Quijote‹ para mí es más genial que la primera porque en la segunda el Quijote se reescribe a sí mismo, empieza a comentar y a analizar y a reajustar, muchas veces incluso a arreglar, errores evidentes que había cometido en el texto anterior« (Ette/Arenas: 1986, 182). Arenas: 1997, 106. Bei Francisco de Quevedo lesen wir: »Estudié la jacarandina, y en pocos días era rabí de los otros rufianes« (Quevedo: 1998, 188). Arenas: 1997, 107. Vgl. Narváez: 1990, 182. Arenas: 1997, 221. Ebd., 224.

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reino de este mundo (1949) und El siglo de las luces (1962). Lüsebrink liest Arenas’ Roman als »Replik« und »Kontrafaktur« zu Carpentiers Romanen der 1950er Jahre.33 Vergleichbar kontrastiert Andrea Pagni in metaphorischer Hinsicht Arenas »mundo alucinante« mit Carpentiers »siglo de las luces«: »Frente al ›siglo de las luces‹ el ›mundo alucinante‹; frente al devenir y al progreso de la luz, de la razón, el espacio de las alucinaciones. […] frente al racionalismo iluminista, la alucinación paralógica que borra las fronteras entre lo real y lo irreal, lo verdadero y lo falso, trazadas por el discurso de la razón; la alucinación que cuestiona la lógica, el primado de la razón y sus coordenadas.«34

Carpentier interpretiert die Geschichte tendenziell noch eher im Prozess einer befreienden, wenn auch ambivalenten Revolutionsidee, die sich von der Französischen über die Haitianische bis hin zur Kubanischen Revolution sukzessiv verwirklicht. Arenas hingegen insistiert auf der Wiederholung des Scheiterns der Fortschrittsidee.35 Es ist nur ein vermeintliches Fortschreiten im Bewusstsein der Freiheit. So erzählt der gefangene Mönch in El mundo alucinante: »Pero ya con lo que conozco me es suficiente para comprender que todo está disparatado… – Lo he visto todo – repitió el fraile visitador y se dirigió a la puerta –. Por eso no pretendo arreglar nada, puesto que las consecuencias de esos arreglos también las conozco. Vengo de lugares donde se han aplicado los cambios más violentos y radicales. Y vengo huyendo. Yo, que luché con mis manos para poder llevar a cabo esos cambios.«36

Arenas bezweifelt Carpentiers Literaturbegriff als Instrument eines fortschreitenden Bewusstseins von Freiheit und kommt in seinem Roman zum Schluss, die wirkliche Revolution habe noch nicht stattgefunden bzw. die Aufklärung, gipfelnd in der Revolution, habe zu einseitig auf Vernunft und zu wenig auf Mündlichkeit und Leiblichkeit gesetzt. Auch wenn Carpentier – und darin sicherlich der Dialektik der Aufklärung vergleichbar – die Katastrophen und Barbareien dem Projekt der Aufklärung selbst als inhärent auffasst, so versucht er doch die Barbarei mit den Mitteln der Aufklärung zu bekämpfen. Arenas jedoch setzt der aufgeklärten Vernunft mit ihrem Fortschrittsdenken ein paralogisches Denken des Halluzinierens und eine spiralförmige Geschichtskonzeption entgegen.37 Arenas’ Schreibweise »s’abandonne au vide, au désêtre, à la littéralité du hors-sens«38. In seiner Literatur stellt gerade der nonsens einen neuen Sinnbezug her. Die Abwesenheit einer festen symbolischen Ordnung bedeutet absolute Freiheit, aber auch Grenzenlosigkeit und Chaos. Arenas lehnt jedenfalls den neobarock-magischen Stil Carpentiers ab, da er ihn als ein aktualisiertes Propagandainstrument zur Konsolidierung des Castro’schen Kubas betrachtet, so

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Lüsebrink: 1989, 67. Pagni: 1992a, 140. Vgl. Pagni: 1992b, 162. Arenas: 1997, 94. Vgl. Pagni: 1992b, 159. Chancé: 2009, 96.

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wie der historische Barock Propagandainstrument der katholischen Kirche war. Carpentier ist für ihn ein Schriftsteller, der mit seinen historischen Romanen einen Beitrag zur kubanischen historia oficial leistet, der die Fiktion in den Dienst der offiziellen, linearen Geschichtsschreibung stellt.39 Carpentiers tellurisch geprägten NeoBarock und seinen Optimismus hinsichtlich der lateinamerikanischen Kulturmischung nach der Eroberung durch die Europäer kann Arenas nicht teilen.40 Hatte Carpentier noch postuliert: »nuestro mundo es barroco«, so findet Arenas diesen homogenisierenden Zusammenschluss eines nuestro mundo äußerst fragwürdig, da er die Geschichte der Opfer nur ungenügend berücksichtige. Pagni spricht bei Arenas’ Text von einem postmodernen Roman, der mit einer Veränderung des historischen Standpunktes einhergehe, der die Opfer zu Wort kommen lasse, und der die Paralogie zur Grundlage des Erzählens mache.41 Grausamkeiten, Tod, Folter, Schmerz, Widerwärtigkeiten in potenzierter Form bestimmen bei Arenas das Dasein aller Lebewesen. Konfrontieren wir Arenas’ Schreibweise mit Einschätzungen zum historischen Barock, wird deutlich, warum er ein neobarocker Autor ist. Die von Gewalt, Tod und Prekarität geprägte barocke Poetik sowie die dem Barock inhärente Geschichtsauffassung, finden wir bei ihm par excellence: »La poésie baroque [...] multiplie souvent les images de violence et s’attarde à l’expression paroxystique de la souffrance, physique et morale. [...] La littérature du siècle baroque est souvent inspirée par une vision à la fois dramatique et tragique de l’histoire et de la destinée humaine. […] partout est présent le sentiment de l’inconstance et de la précarité de toutes choses: éléments et réalités naturelles, richesses, pouvoir, jeunesse, beauté, sentiments et passions.«42

39 Vgl. Pagni: 1992b, 163. 40 Auch wenn Arenas in seiner Autobiographie die Tradierung eines magischen Wissens, vermittelt durch die Großmutter, als eigentliche Quelle seiner Kreativität definiert. In dem Kapitel »La noche, mi abuela« setzt er die Großmutter analog zum Bild der Nacht: »¿Cuál fue la influencia literaria que tuve yo en mi infancia? Ningún libro, ninguna enseñanza, si se exceptúan las tertulias llamadas ›El Beso a la Patria‹. Desde el punto de vista de la escritura, apenas hubo influencia literaria en mi infancia; pero desde el punto de vista mágico, desde el punto de vista misterio, que es imprescindible para toda formación, mi infancia fue el momento más literario de toda mi vida. Y eso, se lo debo en gran medida a ese personaje mítico que fue mi abuela, quien interrumpía sus labores domésticas y tiraba el mazo de leña en el monte para ponerse a conversar con Dios. […] Mi abuela indiscutiblemente era sabia; tenía la sabiduría de una campesina que ha parido catorce hijos, de los cuales ninguno se había muerto; había soportado los golpes y las groserías de un marido borracho e infiel; se había levantado durante más de cincuenta años para preparar el desayuno y luego trabajar todo el día, mudando los animales de sitio para que el sol no los asfixiase y para que no se murieran de hambre, cargando leña para preparar la comida, sacando viandas de debajo de la tierra. Era sabia mi abuela; por eso conocía la noche y no me hacía muchas preguntas; sabía que nadie es perfecto« (Arenas: 1992, 45f.). 41 Vgl. Pagni: 1992b, 167f. 42 Chauveau: 1997, 25.

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Im barocken Spiegelkabinett der Doppelungen gibt es für Arenas die Wahl zwischen zwei Optionen: Entweder bleibt der Mensch sich treu und wird zum Opfer/Gejagten oder er verrät sich selbst und wird zum Verfolger. Die Doppelgängergestalt des Mönches in der Gefängniszelle, el fraile prisionero und el fraile visitante,43 welche schließlich wieder eins wird, verkörpert exemplarisch die beiden Haltungen. Der Gefängnismönch wird fast gefressen, der Besuchermönch hingegen frisst die Ratten, bevor sie ihn fressen: »No crea usted que mi hambre sea tanta como para llegar a esto –me dijo, después de haber engullido al animal–. Lo hago para demostrarles a estas bestias quién se come a quién. Haga usted lo mismo y verá como no lo molestarán más. Así cambiará su condición de víctima y se convertirá en agresor.«44

Insgesamt geht Arenas mit Carpentier hart zu Gericht, denn er verkörpert für ihn die Wandlung vom Rebellen zum Opportunisten. Arenas schreibt in seiner Autobiographie: »¿Qué fue de la obra de Alejo Carpentier, luego de haber escrito El siglo de las luces? Churros espantosos, imposibles de leer hasta el final.«45 Er kritisiert dessen übertriebene Rhetorik und minutiöse Detailtreue, die versucht, Realität durch Ausführlichkeit darzustellen. Im 34. Kapitel von El mundo alucinante findet sich eine aufschlussreiche Parodierung von Carpentiers Werk: »Aquel hombre (ya viejo), armado de compases, cartabones, reglas y un centenar de artefactos extrañísimos que fray Servando no pudo identificar, recitaba en forma de letanía el nombre de todas las columnas del palacio, los detalles de las mismas, el número y la posición de la pilastras y arquitrabes, la cantidad de frisos, la textura de las cornisas de relieve, la composición de la cal y el canto que formaban las paredes, la variedad de árboles que poblaban el jardín, su cantidad exacta de hojas, y finalmente hasta las distintas familias de hormigas que crecían en sus ramas. Luego hacía un descanso, y con gran parsimonia anotaba todas las palabras pronunciadas en un grueso cartapacio en cuya tapa se leía El Saco de las Lozas con letras tan grandes y brillantes.«46

El siglo de las luces wird bei Arenas zum profanen Saco de las Lozas. Während Carpentier versucht, die historische Figur des Victor Hugues in El siglo de las luces trotz weniger Quellen so genau wie möglich wiederzugeben, konstruiert Arenas bewusst eine novela, »una puesta en escena«47, obgleich Fray Servandos Biografie gründlich dokumentiert ist. Doch Arenas »no le interesa la fidelidad respecto de los datos de la historiografía«48; für ihn sind multiple Perspektiven auf Geschichte möglich. Keinesfalls will er eine authentisch wirkende Geschichte erzählen. Er verspottet eine vermeintlich wirklichkeitstreue Beschreibung. Arenas parodiert mit seiner Literatur die

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Arenas: 1992, 96ff. Ebd., 92. Ebd., 116. Arenas: 1992, 284f. Pagni: 1992a, 144, vgl. auch Koch: 1990, 143. Pagni: 1992a, 143.

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ihm vorangegangenen kubanischen neobarocken Autoren, insbesondere Carpentier, von dem er sagt: »en Carpentier la solemnidad es fundamental«49. Bereits im vorangestellten Epigraph von El mundo alucinante konkretisiert Arenas drei Wirklichkeitsebenen: »Esta es la vida de fray Servando Teresa de Mier, tal como fue, tal como pudo haber sido, tal como a mí me hubiese gustado que hubiera sido.«50 Arenas betont den künstlichen und provisorischen Charakter jeder Narration. In den 35 Kapiteln seines Romans bedient sich der Autor erzählstrategisch eines dauernden Perspektivenwechsels, der zu einer permanenten Brechung der erzählten Ereignisse führt: Die Ich-Stimme des Mönchs (yo) alterniert mit einer Erzählinstanz, der die Geschehnisse im vertraulichen, in einem das Unterbewusste spiegelnden DuTon (tú) oder distanzierten, unbeteiligten Er-Ton (él) sowohl parodiert als auch korrigierend ergänzt, oder objektivierend wie ein Chronist berichtet. Der Roman oszilliert fortwährend zwischen erster, zweiter und dritter Person, zwischen autodiegetischem (yo), homo-intradiegetischem (tú) und heterodiegetischem (él) Erzähler und ermöglicht verschiedene Versionen über das Leben des Mönchs. Der Roman setzt ein mit drei ersten und drei zweiten Kapiteln.51 Die jeweiligen Kapitel erzählen dieselbe Geschichte, aber jeweils aus unterschiedlichen Erzählinstanzen: yo-tú-él. Das 15. Kapitel »De la visita a la bruja« endet ebenfalls mit drei verschiedenen Versionen, die alle mit dem wirklichkeitsbeteuerndem Ausspruch enden: »Así fue.«52 Oder Servando stellt fünf verschiedene Möglichkeiten seines Daseins zur Disposition, die jeweils alle mit dem Ausspruch enden: »Eso dije« bzw. »Eso también dije«. Häufig widersprechen sich die verschiedenen Erzählinstanzen; selbst innerhalb eines Erzählmodus tauchen kontradiktorische Aussagen auf. Exemplarisch sei hier der Beginn des ersten Kapitels genannt: »Venimos del corojal. No venimos del corojal. Yo y las dos Josefas venimos del corojal. Vengo solo del corojal […].«53 Diese scheinbare Polyphonie erinnert an Bachtins Konzept der Dialogizität. Bemerkenswert ist allerdings, dass der heterodiegetische Erzähler, so Sabine Schlickers, nur ein pseudoheterodiegetischer Erzähler sei: »Mi hipótesis reza […] que el narrador heterodiegético, que habla ›en tercera persona‹ sin marcar su yo-aquí-ahora sino muy esporádicamente, correspondiendo con ello al tipo narrativo personal, y que oscila también, aunque menos, entre el nivel extradiegético (posición normal) e intradiegético (posición excepcional), es un narrador pseudo-heterodiegético. [...] En el fondo, la situación narrativa sería, no obstante, bien simple: existe un solo narrador homodiegético que

49 Ette/Arenas: 1986, 191. Dolores Koch unterscheidet prägnant Lezama Limas, Carpentiers und Arenas’ neobarocke Schreibweise: »Lezama Lima hace gala de un mayor ingrediente surrealista y Carpentier ofrece una visión masiva, casi arquitectónica. Arenas no toma el barroco tan en serio« (Koch: 1990, 143). 50 Arenas: 1997, 15. 51 »Capítulo I. De cómo transcurre mi infancia en Monterrey...«, »Capítulo I. De tu infancia en Monterrey...«, »Capítulo I. De cómo pasó su infancia en Monterrey...«. »Capítulo II. De mi salida de Monterrey«, »Capítulo II. De la salida de Monterrey«, »Capítulo II. De tu salida de Monterrey«, Arenas: 1997, 27-41, Herv. N.U. 52 Arenas: 1997, 144-145. 53 Ebd., 27.

220 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN habla en las tres modalidades yo-tú-él, oscilando constantemente entre las tres personas del singular y el nivel extra e intradiegético.«54

Dies hat zur Konsequenz, dass der Roman eine »novela pseudo-dialógico, o sea ›monológica‹« ist und demnach nicht mit dem Bachtin’schen Konzept der Polyphonie gelesen werden kann.55 Die Polyphonie ist bei Arenas nur Spiel, von Dialog kann keine Rede sein, auch nicht im Sinne eines inszenierten Dialogs. Schlickers schlussfolgert, El mundo alucinante entspreche mit seiner Pseudo-Dialogizität sowohl einer narrativen als auch einer ideologischen Pseudo-Rebellion.56 Außerdem ist fraglich, sofern man Arenas mit Bachtin liest, ob es Arenas’ Roman nicht grundsätzlich an einer »utopía ética«57 fehle, die laut Bachtin für ein groteskes Werk gegeben sein muss. Arenas’ Roman führt nicht in die »Welt der Ideale«58 oder »für einige Zeit ins utopische Reich der Universalität, der Freiheit, der Gleichheit und des Überflusses«59, eben zu einer utopischen Vision einer egalitären Gesellschaft oder zu einer Festlichkeit im Sinne von Bachtins Karneval. Bachtin charakterisiert das Lachen als gemeinschaftlichen, teils vulgär-obszönen und von einer Betonung der Leiblichkeit und Sinnlichkeit begleiteten Akt. Bei Arenas bedeutet Leiblichkeit aber primär Martyrium wie Schlickers nachweist: »Fray Servando tiene que sufrir tanta hambre, sed, violencia, oscuridad, frío, pobreza, etc. que su trayectoria se vuelve un martirio continuo. Si Bajtín revaloriza en su modelo de mundo de carnaval lo corpóreo y la materia, reivindicando una función liberadora en la cultura de la risa renacentista y en el humor carnavalesco de Rabelais, la representación de lo corpóreo en El mundo alucinante puede leerse como una parodia de esta visión carnavalesca.«60

Arenas’ von Karikatur, Verzerrung, Doppelung, Textwucherung und Intertextualität geprägte Schreibweise lassen ihn als neobarocken Autor im Sinne Severo Sarduys erscheinen. Gegen den Carpentier’schen Barockbegriff setzt Sarduy seine Auffassung eines genuin artifiziellen, synkretistischen Barockbegriffs im Sinne der Verschmelzung ohne innere Einheit. Genau wie im Siglo de Oro der Katholizismus angesichts von Inquisition und Vertreibung der Juden und Mauren nur vordergründig ein einheitsschaffendes Moment war,61 so wirkte für die neobarocke Gegenwart Arenas’ die Kubanische Revolution angesichts von Castrismus ebenso wenig integra-

54 Schlickers: 2003, 114f. 55 Anders gefragt, ist Bachtins Dialogizitätskonzept überhaupt so polyphon wie immer behauptet wird? Kritisch zu Bachtin siehe Schmid: 1984, 1999. 56 Vgl. Schlickers: 2003, 121. 57 Ebd., 115. 58 Bachtin: 1995, 57. 59 Ebd. 60 Schlickers: 2003, 116. 61 Mehr als drei Jahrhunderte, von 1480 bis 1820, war die Inquisition in Spanien aktiv. Aufgabe der Inquisition war es, so genannte Conversos und Moriscos aufzuspüren, die sich zwar nominell Christen nannten, in Wirklichkeit aber immer noch ihre alte Religion praktizierten, vgl. Roth: 2002.

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tiv. Die Revolution als zentralen Pol anzusehen, ist für Autoren wie Arenas aufgrund ihrer Marginalisierung nicht möglich. Arenas sieht nach dem »Absturz Gottes«62 in der kubanischen Stalinisierung des Marxismus eine Fortsetzung der Bevormundung der Menschen. Sarduys Auffassung entsprechend repräsentieren Arenas’ Werke das Aufbrechen geschlossener Systeme, anders formuliert: die dauernde Rebellion. Das amerikanische Barock »füllt die Leere der Konquista mit dem verzweifelten Überfluss der Gegenkonquista«, heißt es im Vorwort zu Lezama Limas La expresión americana.63 Arenas füllt die sinnliche Leere der Revolution mit einer neobarocken Gegenrevolution. Seine Stilmittel sind vielfältig: Groteske Metamorphosen,64 Spiel mit den Figuren und der historischen Vorlage, Reinkarnationen jenseits eines historischen Determinismus,65 visionäre Träume, Eklektizismus, hyperbolische Wendungen, Wortwiederholungen in Form von Anaphern66 und Epiphora67 sowie Antithesen, Metonymien, Synästhesien68 und Oxymora69 haben ein gewaltiges Anschwellen des Textes zur Folge. Exemplarisch sei der Beginn des 16. Kapitels mit seiner antithetischen Überschrift genannt: »De mi llegada y no llegada a Pamplona. De lo que allí me sucedió sin haberme sucedido«, um dann wie folgt fortzufahren: »Parto para Pamplona. Ahora parto para Pamplona. Voy rumbo a Pamplona. De modo que ahora voy para Pamplona ayudado por mis clérigos contrabandistas y a pie. [...] Rumbo a Pamplona voy. Hacia Pamplona voy. [...] Ya vamos rumbo a Pamplona. [...] ¡Rumbo a Pamplona! ¡Hacia Pamplona! ¡A Pamplona! [...]¡Hacia Pamplona! [...] y al paso de ese trotecillo continúa su rumbo a Pamplona. ¡Hacia Pamplona! ¡Con destino a Pamplona! Y ya estoy en Pamplona. Heme aquí, en Pamplona. [...] Heme aquí en Pamplona bañándome con vino y bebiendo vino.«70

Solche Worthäufungen, Paradoxien und Variationen entsprechen einer neobarocken Schreibweise der »Amplificatio, der Accumulatio, der Überdimensionierung und des

62 Vgl. Ette: 2009, 10. 63 Fuentes: 1992, 10. 64 »Y la mujer soltó una carcajada. Y la carcajada se convirtió en un bufido de furia. Y el bufido convirtió a la mujer en un hombre barrigón y mofletudo, de grandes colmillos y brazos como pilares« (Arenas: 1997, 142). 65 Verweis auf Simón Rodríguez, Samuel Robinson u.a., vgl. Arenas: 1997, 169. 66 »Y detrás de los árboles. Y detrás de los árboles la claridad« (ebd., 138). 67 »Y entonces: ya bien rajaditas yo las cojo y se las tiro en la cabeza a mis Hermanas Iguales. A mis hermanas. A mis hermanas.« (ebd., 27). 68 »pasaba la mano, que soltaba música« (ebd., 141). 69 »un mulo cantor« (ebd., 38), »infierno acuático« (edb., 71f). 70 Ebd., 146-148. Diese Textstelle erinnert an das Volkslied »Pobre de mí«, welches am Ende des alljährlichen Festes zu Ehren des Schutzheiligen San Fermín in Pamplona gesungen wird. Die nordspanische Stadt ist bekannt für ihren berühmten Stierlauf, der jedes Jahr im Juli im Zuge der Sanfermines stattfindet.

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Maskenspiels«71. Auch die Körper bzw. bestimmte Körperteile sind meist überproportioniert; so ist die Schlüsselfigur Borunda von grotesk-leiblichem Charakter. Er ist ein schwabbeliges Fleischgebirge (»como un gran pipa que se movía y hablaba, pero más gorda«72). Bei Arenas deutet seine Masse und Größe aber nicht bloß auf gesteigerte physische Kraft, sondern auf einen gesteigerten Intellekt und seinen Appetit von Wissen hin. Das Barock als Repräsentation von Sensualismus hat bei Arenas eine leitmotivische Funktion: Sinnliche Wahrnehmungen wie riechen, hören, sehen oder schmecken stehen im Vordergrund. Menschen und Tiere verbreiten ununterbrochen Gestank und Geschrei. Die häufige Erwähnung von Schreien aller Art ist besonders auffällig; exemplarisch seien hier verschiedene Beispiele genannt: »la voz fue multiplicándose«73 »las voces volvían a retumbar rompiendo tímpanos y rajando paredes«74 »[d]os monjas [...] rompieron en exclamaciones de miedo« 75 »[c]ada pedazo del fraile tenía sus propios gritos; de modo que por unos momentos en toda la celda se escuchó como una armonía de gritos, roncos, estridentes, desafinados y alucinantes. Pero el hambre hizo a los animales engullir aquella carne chillona, y sus estómagos se llenaron de resonancias« 76 • »volvieron [las ratas] otra vez a su idioma de chillidos, de gritos y también de gruñidos hambrientos«77 78 • »soltando un grito, que fue un aullido de terror« 79 • »clamando por una tabla para salvar mi vida« • • • •

Diese Aufzählung ließe sich mühelos fortsetzen. Jenseits der vielfältigen Schreie gibt es nur die Stille, die Leere und Ohnmacht widerspiegelt. Dies wird deutlich bei Servandos Vergleich von Madrid und Lissabon: »En Madrid la gente se alimenta de gritos, pero aquí parece que ya la miseria no los deja ni gritar. Tanta es el hambre en este sitio que la persona que habla la consideran acaudalada.«80 Schreien verweist auf ein intensives körperliches Erleben und ist entweder Ausdruck von Schmerz oder Leidenschaft. Und es kann als Ersatz für die öffentliche Kommunikation durch Sprache betrachtet werden. Der Schrei steht in der karibischen Literatur, vielleicht sogar

71 Wogatzke-Luckow: 1993, 350. Arenas’ Ästhetik entspricht nicht nur Sarduys Neobarock, sondern auch der Camp-Ästhetik, vgl. Susan Sontags 58-Punkte-Programm Notes on ›Camp‹ (1964). 72 Arenas: 1997, 57. 73 Ebd., 90. 74 Ebd. 75 Arenas: 1997, 97. 76 Ebd. 77 Ebd., 99. 78 Ebd., 155. 79 Ebd., 213. 80 Ebd., 217.

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insgesamt in der postkolonialen Literatur, stellvertretend als Metapher für das Unsagbare, für die subjektive Artikulation Geschichtstraumata.81 1.1.4 Karnevalisierung des Schreckens Arenas belässt es nicht bei der Darstellung des Schreckens, wie wir gesehen haben, sondern überzeichnet ihn grotesk. Dass das Groteske seit dem 16. Jahrhundert zu einem der zentralen narrativen Paradigmen der Neuzeit geworden ist und verstärkt in der Kultur der Gegenwart in den verschiedensten Ausprägungen in Erscheinung tritt, ist sicherlich unbestritten. Michail Bachtin hält fest: »Im 20. Jahrhundert erlebt die Groteske eine kräftige ›Renaissance‹ [...].«82 Zu den wichtigsten Merkmalen des grotesken Stils erklärt er »Übertreibung, Hyperbolik, Übermaß und Überfluß«83. Slavoy Žižek spricht gar davon, dass wir in einem Zeitalter leben, welches von dem Übergang von der Tragödie zur Komödie geprägt sei.84 Reinaldo Arenas’ Texte liefern uns für diese Thesen reichhaltiges Material, denn statt auf »dramatisierte Authentizität«85 setzt er auf eine karnevaleske, groteske Inszenierung. So kommt Arenas’ Mönch bei einem seiner zahlreichen Fluchtversuche zu der Überzeugung: »que aun en las cosas más dolorosas hay una mezcla de ironía y bestialidad, que hace de toda tragedia verdadera una sucesión de calamidades grotescas, capaces de desbordar la risa […]«86. Komik und Grauen sind eng miteinander verbunden. In einem totalitären System bleibt mit dem Lachen auch das Chaotische und Irrationale im Leben ausgespart. Arenas’ Angriff auf die Lachfeindlichkeit des kubanischen Systems87 erinnert an Bachtins Analyse der Lachkultur wie er sie in Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur vorführt; ein Buch, welches in den 1930er Jahren, in der Stalinära, entstand. Seine Beschreibungen des Marktplatzes und des Karnevals als Orte

81 Vgl. mein Kapitel zur écriture bei Glissant. Man könnte den Schrei ferner auch mittels Bibel interpretieren. Jesus starb am Kreuz mit einem Schrei, um seinem Leiden und seiner Hilflosigkeit Ausdruck zu verleihen. Und im Alten Testament steht geschrieben, dass Gott das Schreien seines unterdrückten Volkes erhörte und es dann aus Ägypten befreite. 82 Bachtin: 1995, 97. 83 Ebd., 345. 84 Wobei Žižek diese These in Did somebody say Totalitarism? mit Bezug auf aktuelle Darstellungsformen der Shoa formuliert: »If we try to present their predicament as tragic, the result is comic; if we treat them as comic, tragedy emerges. We enter the domain that is outside, or rather beneath, the elementary opposition of the dignified hierarchical structure of authority and its carnivalesque reverse, of the original and its parody, its mocking repetition.« Žižek: 2001, 29. 85 Vgl. Herr: 2007, 232. 86 Arenas: 1997, 166. 87 Arenas wirft den alten und neuen Machthabern in seiner Autobiographie vor, völlige Rationalität und eine lügnerische übergeordnete, zeitlose Wahrheit zu predigen und damit das Lachen und die Revolte erstickt zu haben: »Una de las cosas más lamentables de las tiranías es que todo lo toman en serio y hacen desaparecer el sentido del humor. Históricamente Cuba había escapado siempre de la realidad gracias a la sátira y la burla. […] Sí, las dictaduras son púdicas, engoladas y, absolutamente, aburridas.« (Arenas: 1992, 261f).

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des Hybriden gelten als Eckpfeiler der postkolonialen Theoriebildung. Das volkstümliche Lachen, welches in besonderer Weise bei Rabelais zum Vorschein komme, sei oppositionell, zuweilen utopisch und immer befreiend: »Das mittelalterliche Lachen wurde in der Renaissance zum Ausdruck eines neuen, freien und kritischen Sinns für Geschichte.«88 »Das Lachen legt [...] nahe, dass Angst überwindbar ist. Es erfindet keine Einschränkungen, und Verbote, Macht, Zwang und Autorität sprechen niemals seine Sprache. [...] Der Sieg über die Angst ist nicht deren abstrakte Beseitigung, sondern ihre Entlarvung und Erneuerung, der Übergang zu Heiterkeit [...].«89 »Das Lachen befreit nicht von der äußeren, sondern vor allem von der inneren Zensur, d.h. der in vielen Jahrhunderten im Menschen erzeugten Angst vor dem Heiligen, dem Verbot, der Vergangenheit und der Macht.«90

Doch im Laufe der Neuzeit sei die Lachkultur und das Karnevaleske nach und nach aus dem Alltag verschwunden und fände heute, so Bachtins These, nur noch in der Literatur statt: »Diesen Vorgang der Übertragung des Karnevals in die Sprache der Literatur nennen wir die Karnevalisierung der Literatur.«91 Für Bachtin war das 16. Jahrhundert das »Jahrhundert des Lachens, und dieses erlebt seinen größten Triumpf in Rabelais’ Roman«92: »Rabelais’ Motive haben etwas prinzipiell und unausrottbar ›Nichtoffizielles‹: kein Dogmatismus, nichts Autoritäres, keine engstirnige Seriosität kann sie besetzen; sie widersetzen sich jeder Vollendung und Starrheit, jeder ungetrübten Seriosität und Abgeschlossenheit des Gedankens und der Weltanschauung.«93

Das Lachen habe gar ein »neues, freies und kritisches Geschichtsbewusstsein«94 zu Tage befördert. Was Bachtin für Rabelais festhält, lässt sich auch auf Arenas Schreiben übertragen. Der Erzähler spricht in El mundo alucinante vom »veneno de la literatura« und von »ese pozo sin escapes que son las letras«95, also von einer der Literatur inhärenten subversiven Kraft. Arenas ist mit seinen hyperbolischen Ausgestaltungen sicherlich ein repräsentativer, in Rabelais’scher Tradition stehender Autor des 20. Jahrhunderts.96 Seine hier untersuchten Romane illustrieren Geschichte

88 89 90 91 92 93 94 95 96

Bachtin: 1995, 123, Herv. i.O. Ebd., 140f. Ebd., 143, Herv. i.O. Bachtin: 1990, 47. Bachtin: 1995, 149. Ebd., 50. Ebd., 146, Herv. i.O. Arenas: 1997, 52. Ganz in der Tradition von Arenas steht Abilio Estévez’ Roman Tuyo es el reino (1997), der ebenfalls ein halluzinatorisch anmutendes, extrem fragmentiertes Panorama von bizarren Gestalten und Lebensläufen aus einer Vielzahl von Erzählperspektiven enthüllt. Man könnte hier auch Autoren aus ganz anderen sprachlich-kulturellen, postkolonialen Räumen

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als Zyklus irrationaler, brutaler Fremdherrschaften bis in die kubanische Gegenwart hinein. Er zeichnet ein pessimistisches Bild von einer Revolution, die zwar Missstände der Vergangenheit behoben, aber dafür neue Deformationen hervorgebracht hat. Diesen Deformationen verleiht Arenas in grotesker Weise Ausdruck.97 Was Bachtin für den mittelalterlichen Karneval festhält: »man spielt mit dem Schrecklichen und lacht es aus, macht es zum ›heiteren Popanz‹«98, illustriert Arenas’ Literatur. Sie folgt der Logik der Karnevalsrede, einer Logik der ›Umkehrung‹, des ›Auf-den-KopfStellens‹.99 In Arenas’ Roman sprechen und singen bspw. Ratten. So wird eine Sicht von unten, die aus dem Schmutz heraus spricht und den herrschenden Diskurs entblößt, umgesetzt. Das Furchteinflößende wird der Lächerlichkeit preisgegeben. Bachtin sieht gerade in der Profanation eine wichtige Kategorie des Karnevals und meint damit konkret »die karnevalistischen Ruchlosigkeiten, das System der karnevalistischen Erniedrigungen und ›Erdungen‹, die unanständigen Reden und Gesten, die auf die Zeugungskraft der Erde und des Leibes hinweisen, die karnevalistischen Parodien heiliger Texte und Ansprüche«100 . Arenas beschreibt bspw. im 24. Kapitel über sechs Seiten die mühsame Einkettung und Einkerkerung seines Protagonisten, darin gipfelnd, dass die Wärter der Inquisition unfähig sind, ihn gedanklich gefangen zu nehmen, denn Servando lächelt in seinem Innersten über diese Behandlung: »Algo hacía que la prisión siempre fuera imperfecta, algo se estrellaba contra aquella red de cadenas y las hacía resultar mezquinas e inútiles. ›Incapaces de aprisionar...‹ Y es que el pensamiento del fraile era libre. Y, saltando las cadenas, salía, breve y sin traba, fuera de las paredes, y no dejaba ni un momento de maquinar escapes y de planear venganzas y liberaciones. [...] De modo que todo resultaba inútil. Y el fraile iba y venía más que nunca por donde se le antojaba, y repasaba el tiempo, y se adentraba en él y volvía a salir, libre, como nunca en días de agobio (como lo habían sido todos) lo había podido lograr. Y de no haber sido por aquellas odiosas cadenas que le apretaban las comisuras de los labios, introduciéndose por los intersticios de los dientes y atándole la lengua, se hubiera visto dentro de aquella armazón, semejante a un pájaro fantástico, la sonrisa de Servando, tranquila, agitada por una especie de ternura imperturbable […].«101

Sein unbeirrbares Lächeln und seine »audacia«102 vermögen die Ketten zu sprengen. Das Lachen ist hier eine Reaktion auf eine absurde Realität. Das Geflecht von Ketten

nennen, die ebenfalls ein Bachtin’sches karnevaleskes Konzept von Literatur in ihren Werken umsetzen wie z.B. den Kongolesen Sony Labou Tansi oder den Zimbabwianer Dambudzo Marechera. Ihre Werke werden nicht selten mit dem Begriff der »grotesque africain« bezeichnet (Daniel-Henri Pageaux, zit. nach Veit-Wild: 2005, 228) 97 Arenas nennt den Prozess des Schreibens eine Art individuelle Teufelsaustreibung: »Para mí, escribir es un exorcismo. [...] Escribir es también una comunicación. [...] escribir es una liberación« (Ette/Arenas: 1986, 194). 98 Bachtin: 1995, 141. 99 Vgl. ebd., 57. 100 Bachtin: 1990, 49. 101 Arenas: 1997, 209-210, Herv. N.U. 102 Ebd., 210.

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um seinen Leib ergibt ein solches Gewicht, dass es schließlich das ganze Zuchthaus niederreißt: »Y nuevas cadenas se agregaron a las nuevas cadenas. Y, por último, se le suprimió la comida al fraile y sólo se le abastecía de cadenas. La tarea era febril: día y noche no se oía más que aquel ascenso de cadenas que se arrojaban sobre un cuerpo ya remoto… Y los carceleros seguían temiendo… Hasta que llegó el momento: los aterrorizados guardianes oyeron el crujir y se refugiaron, abrazados, en las celdas más bajas. Luego oyeron de nuevo el nuevo crujir, y siguieron refugiándose. Y al momento se escuchó un estallido de las paredes, un estallido del piso y un estallido de toda la prisión. Era el peso de las cadenas del fraile que, al fin, había echado abajo toda la cárcel, que ya no resistía más.«103

Der in Ketten gelegte Mönch reißt nicht nur die eigenen Gefängnismauern ein, sondern verwüstet als entfesseltes Geschoss Sevilla, Madrid, Cádiz und die ganze Sierra de León, um schließlich von den Ketten befreit im Meer zu landen. Eine ähnliche Transformation von der Fesselung zur Entfesselung beschreibt Arenas bei der Überfahrt des Mönchs von Mexiko nach Spanien. Aus Hunger verleibt sich der Mönch seine Ketten ein, fällt wegen eines Gefechts von Bord, sinkt aufgrund seines Gewichts auf den Meeresboden, schluckt dabei so viel Wasser, dass es ihn wieder aufbläht und er an die Oberfläche kommt, wo er dann seine Ketten erbricht: »Y el hambre fue mucha, [...] y llegó un momento en que no pude más y empecé a comerme las cadenas con tal de echarle algo a mi estómago. Y me las comí. Y de esta manera quedé libre. [...] Yo traté de sujetarme a unas tablas, pero como tenía el estómago lleno de hierros, fui a dar sin remedio al mismo fondo. Allí pensé que había llegado mi fin y me dediqué a morir mientras tragaba agua y agua. Tanta, que inflado como un globo, vine a salir a flote. Y vomité las cadenas.«104

Viele Befreiungsversuche enden im Meer, so auch seine groteske Seereise von Europa nach Amerika: »No se me ocurrió otra cosa que lanzarme al mar. [...] Y cuando al fin emergí, sacando la cabeza, me vi frente a las costas de América.«105 Die Metaphern des Meeres und der Ketten sowie die Bewegung über den Atlantik von Europa nach Amerika verweisen immer auch auf die Middle Passage, auf Deportation, Exil und Flucht. Neben diesen grotesken Hybridisierungen zwischen Mensch und Umwelt (Ketten werden zu etwas Leiblichem, das man erbrechen kann) spielen Darstellungen von Chimären, bizarre Verbindungen von menschlichen, tierischen und pflanzlichen Formen – an Bachtins Karnevalisierungstheorie erinnernd – eine große Rolle. In handschriftlichen Sammlungen von Heiligenviten aus dem 13. und 14. Jahrhundert stehen karnevalesk-groteske Illustrationen unmittelbar neben andächtig-seriösen Abbildungen. Für Bachtin stellt die Chimäre die »Quintessenz der Groteske«106 dar. Bei

103 104 105 106

Arenas: 1997, 211. Ebd., 78. Ebd., 233f. Bachtin: 1995, 146.

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Arenas finden wir zahlreiche Chimären, sei es der geschlechtsdiffuse Orlando, der Rattenmönch oder Servandos Erzfeind León, der sich beliebig in einen Fisch, Vogel, Hexe oder Wasser verwandeln kann.107 Das Subjekt – der Stolz der Aufklärung – wird von Arenas in eine Sphäre sexueller Triebhaftigkeit geworfen. Arenas entlehnt in El mundo alucinante Gestalten, die wir eher aus Märchen oder Mythen kennen wie Hexen, Zauberer, mit Regenschirmen fliegende oder auf Besen reitende Menschen und sprechende Tiere (Ratten sprechen wie Menschen, Mönche verwandeln sich in Ratten). So wie fiktive und historische Gestalten aufeinander treffen, so alternieren auch imaginäre Räume (die Höhle Borundas, die Gärten des Königs) mit geographisch fixierbaren Orten, wobei alle Orte grotesk überzeichnet werden. Bspw. führt der Besuch in die Gärten des Königs zunächst durch den »lugar de los inconformes«108, dann durch die »tres Tierras del Amor«109 (Heterosexualität, weibliche und männliche Homosexualität), um im »País de la Desolación«110 und schließlich in »la tierra de los que buscan«111 anzukommen. All diese Orte eines allegorischen Gartens spiegeln die Welt als absurdes Irrenhaus. Das Über-sich-hinaus-Wachsende zeigt sich auch bei der grotesken Gestalt(ung) des Leibes. Die Hervorhebung der Körperöffnungen und Ausstülpungen, insbesondere von Mund und Phallus, sind, so Bachtin, die Hauptmerkmale des grotesken Körpers: »[…] der groteske Körper [ist] von der umgebenden Welt nicht abgegrenzt, in sich geschlossen und vollendet, sondern er wächst über sich hinaus und überschreitet seine Grenzen. Er betont diejenigen Körperteile, die entweder für die äußere Welt geöffnet sind, d.h. durch die die Welt in den Körper eindringen oder aus ihm heraustreten kann, oder mit denen er selbst in die Welt vordringt, also die Öffnungen, die Wölbungen, die Verzweigungen und Auswüchse. Der aufgesperrte Mund, die Scheide, die Brüste, der Phallus, der dicke Bauch, die Nase.«112

Die groteske Gestaltung religiöser (und revolutionärer) Herrschaft, denen man in Arenas’ Werk begegnet, entspricht sehr genau diesem Konzept. So beobachtet Fray Servando einen Pater dabei, wie er sein überdimensioniertes Glied, »su monumental artefacto«113 , einer Gruppe von Frauen in zeremonieller und ritueller Weise – »a manera de hostia« – in den Mund schiebt. Auf Seiten der Frauen ist die Fleischeslust von unersättlichem und ekstatischem Appetit. In der karnevalesken Vorstellung gibt sich der gierige, verschlingende Mund freudig dem von außen Kommendem hin, er ist es, »der die Welt verschluckt«114:

107 108 109 110 111 112 113 114

Vgl. Arenas: 1997, 142. Ebd., 127, Herv. i.O. Ebd. Ebd., 131. Ebd., 132. Bachtin: 1995, 76 und 358ff. Arenas: 1997, 113. Bachtin: 1995, 358.

228 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN »[…] y he aquí que estoy viendo al padre, completamente desnudo y sudoroso, con el miembro más tieso que una piedra y apuntando como una vara, paseándose entre aquellas señores arrodillados en corro, y sin dejar de recitar sus prédicas en latín. Así caminaba el padre por entre todo el ciclo de mujeres. Ellas lo miraban extasiadas y a cada momento sus rostros reflejaban la ansiedad y la lujuria, desatada ya en el cura, que seguía caminando rítmicamente, mientras su miembro adquiría proporciones increíbles, tanto que temí llegara hasta donde yo estaba, traspasando la puerta… Así pude comprender que todo aquello no era más que los preparativos para lo que luego se desataría en aquel lugar. De manera que la ceremonia avanzaba. Y las damas, desesperadas y con las manos muy unidas, rodeaban de rodillas al fraile. Y he aquí que el cura coge aquella parte tan desarrollada, y con las dos manos la empieza a introducir trabajosamente en la boca de cada dama arrodillada (a manera de hostia) que, en una actitud de plena adoración e idolatría besaba, engullendo gozosa toda su proporción, que el padre retiraba al instante para satisfacer las siguientes solicitudes.«115

Ein Übermaß an (männlichen) Triebregungen führt uns Arenas’ Roman vor. Körperteile wie hier der Phallus können sich sozusagen »vom Körper trennen, ein selbständiges Leben führen, denn sie verdrängen den Restkörper als etwas Zweitrangiges«116. Zudem fungiert der Phallus – als Ersatz für die Hostie, welche selbst wiederum in der Eucharistie als Ersatz für den Leib Christie dient – als Brücke zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen. Körperöffnungen und Körperauswüchse haben primäre Bedeutung und verweisen auf mögliche Hybridisierungen, oder auch auf Wachstum und ›Wucherungen‹ des Körperlichen. Im grotesken Leib dominiert Mehrdeutigkeit, Offenheit und Überschreitung. Leiblichkeit als soziale Energie taucht bei Arenas also entweder in Form von ekstatischer, ausschweifender, orgastischer Sexualität oder als Martyrium auf. Bachtin spricht von den »Akte[n] des Körperdramas,117 die auch Arenas’ Roman unentwegt in den Mittelpunkt rückt. Die Betonung phallisch akzentuierter Körpermotivik ist omnipräsent. Arenas’ groteske Körperkonzeptionen haben nahezu ausschließlich männliche Leiblichkeit und Sexualität zum Gegenstand. Unter genderspezifischen Gesichtspunkten ist augenfällig, dass es in El mundo alucinante zumeist um den ambivalenten maskulinen Körper geht, der entweder potenter Phallus oder gequälter Leib ist. Doch Arenas’ Roman El mundo alucinante kann, wie gezeigt wurde, nicht in allen Teilen mit Bachtins Theorien zur Polyphonie, zum Karneval und zur Groteske gelesen werden. Arenas’ Karnevalisierung des kolonialmissionarischen und postrevolutionären Schreckens mittels grotesker Kreatürlichkeit und unerhörter Phantastik entspricht zwar Bachtins Lachkultur, sprich seiner Aufwertung des Karnevalesken, der verkehrten Welt und der Signifikanz des Lachens, doch Arenas’ ›Abenteuerroman‹ fehlt Bachtins utopische Dimension, zumindest mit Blick auf einen abstrakten und rationalen Utopismus. El mundo alucinante ist ein nihilistischer Gegenentwurf zur Aufklärungslogik und ein Befund für die Irrsinnigkeit

115 Arenas: 1997, 113. 116 Bachtin: 1995, 358, Herv. i.O. 117 »Essen, Trinken, die Verdauung, [...] Beischlaf, Schwangerschaft, Entbindung, Wachstum, Alter, Krankheiten, Tod, Verwesung, Zerstückelung und Verschlungenwerden durch einen anderen Körper« (Ebd., 359).

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der Geschichte. Für den Dissidenten und ›Ketzer‹ Reinaldo Arenas hat die wahre Revolu-tion noch nicht stattgefunden; einzig in der Revolte gegen das von der kirchlichen oder revolutionären Hierarchie verordnete Gebot der Mäßigung entsteht sein utopisches Bild. 1.1.5 Revolte vs. Revolution Die Rolle eines Schriftstellers ist sowohl für den Mönch Servando als auch für Arenas die eines Dissidenten. »Arenas glaubt nicht mehr an die ›grands récits‹ von der ›Emanzipation der Menschheit‹ oder der ›arbeitenden Klasse‹«, resümiert Andrea Pagni und diagnostiziert Arenas’ Roman eine von desengaño geprägte Haltung.118 Lourdes Togores bezeichnet Servando als »una figura rigurosamente barroca«119: »Fray Servando es una de la figuras más desengañadas de nuestra historia cultural. [...] El fraile es un ser perseguido y acosado; es en palabras de Arenas, un ser que escogió ser víctima; […].«120 Der Enttäuschung durch die Wirklichkeit, die nicht mehr durch religiösen Trost kompensiert werden kann, folgt bei beiden Autoren das rebellische Aufbegehren gegen eine als unzulänglich empfundene Welt, was einhergeht mit der Aufwertung der schöpferischen Phantasie und des Traums bis hin zur Artikulation des Wahnsinns.121 Die zahlreichen Verurteilungen, Gefängnisaufenthalte und Fluchtversuche im Leben Servandos, seine Rebellion gegen Staat und Kirche, die Bedrohung durch totalitäre Ideologien und der Widerstand gegen das Regime, stehen im Mittelpunkt von Arenas reescritura. Er schrieb El mundo alucinante als ein politisch enttäuschter Mensch; sein Roman weist Parallelen zur Philosophie des Absurden Camus’scher Prägung auf.122 Albert Camus beschäftigte sich wie Reinaldo Arenas mit dem Menschen, der weder an Gott noch an die Macht der Vernunft glaubt, aber dennoch nach Sinn verlangt. Diesen findet er nicht mehr und revoltiert gegen die absurd erscheinende Welt, die ihm fremd bleibt – sei sie göttlich oder revolutionär. Diese Revolte ist nur begrenzt erfolgreich, aber dabei erfährt der Mensch, zumindest in Camus’

118 119 120 121 122

Pagni: 1992b, 168. Togores: 1986, 84. Ebd. Vgl. Wogatzke-Luckow: 1997, 238f. Arenas zeichnet in der fiktiven Biographie El mundo alucinante und in seiner Autobiographie Antes que anochezca Bilder eines existentialistischen Subjekts, eines Sisyphos, der jeden Tag den Stein von neuem rollen muss. Dies erinnert an Camus’ philosophischen Text Le Mythe de Sisyphe. Essai sur l’absurde (1942), in dem er die Absurdität allen menschlichen Seins als ontologischen Ausgangspunkt setzt. Der Protagonist von El mundo alucinante ist wie der Autor von Antes que anochezca durch einen leidvollen Lernprozess geprägt. Beide kämpfen und schrei(b)en zornig und leidenschaftlich gegen jedes doktrinär verhärtete Gesellschaftssystem an. Bei Camus eröffnet die Anerkennung des Absurden und der Endlichkeit dem Menschen jedoch eine gewisse Freiheit, das Leben zu gestalten. Die Anerkennung des Absurden ist unumgänglich, um zu dieser Bejahung zu gelangen, daher lehnt Camus den Existentialismus ab, der als philosophisches System dazu diene, dem Absurden auszuweichen.

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Roman La Peste (1947) oder seinem Essay L’Homme révolté (1951), Solidarität im Kampf für ein besseres Dasein und erkämpft sich ein gewisses Maß an Freiheit. Durch die Revolte gegen das Absurde, die offenkundige Sinnlosigkeit, erhält das eigene Leben Sinn. Im Zusammenhang mit dem Engagement für andere wird deutlich, dass dies einen Sinn voraussetzt, der ein allgemeingültiges Ideal enthält. Hinsichtlich dieses Ideals unterscheiden Camus und Arenas die Revolte von der Revolution im politischen und historischen Sinne. Die Revolution bringt im Zuge der Durchsetzung ihres Absolutheitsanspruchs Gewalt und Ungerechtigkeit mit sich, denn der Revolutionär steht im Dienste einer abstrakten Idee. Die Revolte ist demgegenüber keine soziale Revolution im sozialistischen Sinne. Vielmehr handelt es sich um eine bewusste Annahme der Absurdität. Doch anders als Arenas vertritt Camus Sinngebung durch kollektives Handeln. Eine vergleichbare Perspektive findet sich in El mundo alucinante nicht. Hier erscheint alles absurd und sinnentleert, es gibt keine kollektive Revolte. Einzig eine mit Michel Houellebecq vergleichbare befreite Moral wie ein ideologie- und tabuloses Überangebot der Orgasmen taucht als libertäre Perspektive auf.

1.2 R EESCRITURA EINES N ATIONALMYTHOS : L A LOMA DEL ÁNGEL Wie in El mundo alucinante setzt Arenas in La loma del ángel (1987) erneut auf Übertreibung, Groteske und Karnevalisierung, nur hat er sich diesmal keine in Vergessenheit geratenen autobiographischen Schriften als Palimpsest zur Vorlage genommen, sondern den kubanischen Klassiker. Arenas’ Roman ist eine sehr originelle und extrem parodistische, surrealistische und respektlose Neuschreibung von Cirilo Villaverdes symbolträchtigem Werk Cecilia Valdés o La loma del ángel (1839/1882), »jenem ersten ›großen‹ kubanischen Sklavenroman«123. Villaverdes Text gilt als das Nationalepos, als der »Gründungstext der kubanischen Erzählliteratur«124, »the canonical foundational novel of Cuban identity«125. Guillermo Cabrera Infante sieht in Cecilia Valdés den Text, der mehr noch als das Werk José Martís, die kubanische Idiosynkrasie verkörpere.126

123 Ingenschay: 2002a, 157. Cecilia Valdés erschien 1839 in einer ersten, kürzeren Fassung und erst 43 Jahre später, 1882, in New York in vollem Umfang. Der Autor musste Kuba aufgrund seiner Teilnahme an einem Aufstand gegen die spanische Kolonialmacht verlassen. Arenas hält in seiner Autobiographie fest: »Cirilo Villaverde es condenado a muerte en Cuba y tiene que escapar de la cárcel para salvar su vida; y en el exilio trata de reconstruir la Isla en su novela Cecilia Valdés« (Arenas: 1992, 115). Die Mischung von romantischen und realistischen Paradigmen geht auch mit der 40-jährigen Entstehungsgeschichte einher, sprich mit der unterbrochenen und langwierigen Publikationsgeschichte des Romans; gerade das melodramatische Ende des Textes ist ein romantischer Reflex. 124 Ette: 2006, 197. 125 Manzari: 2006, 45. 126 Vgl. Cabrera Infante: 1999, 79.

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Arenas’ Roman La loma del ángel ist ein Hypertext par excellence im Genette’schen Sinne. Nicht nur der Titel deklariert die Hypertextualität, bis hinein in die Imitation der äußeren Kapitelstruktur folgt Arenas dem Hypotext. Die außerliterarische Tatsache, dass Villaverdes endgültige Fassung erst nach jahrzehntelanger Unterbrechung und zuerst im Ausland publiziert wurde, verweist auf ihre politische Brisanz und auf eine bedeutsame Parallele zwischen Villaverde und Arenas sowie auf die Trennung des literarischen Feldes in einen insel- und einen exilkubanischen Bereich. Villaverdes Geschichte spielt in der spanisch-kubanischen Kolonialgesellschaft der 1830er Jahre und beleuchtet das Leben der so genannten freien Farbigen in Havanna. Villaverde erzählt die tragische Geschichte der sehr attraktiven Cecilia Valdés, die als uneheliches Kind einer Mulattin und eines Plantagenbesitzers in einem Waisenhaus und später bei ihrer Großmutter aufwächst und die sich in den ›weißen‹ Kreolen Leonardo Gamboa verliebt. Leonardo ist der Sohn von Cándido Gamboa, ein aus Andalusien stammender Sklavenhändler und kubanischer Zuckerproduzent. Cecilias Herkunft ist das explosive Geheimnis,127 denn die Liebenden wissen nicht, dass sie Halbgeschwister sind: sie die illegitime Tochter, er der legitime Sohn desselben Vaters. Schließlich verlobt Leonardo sich mit der Großgrundbesitzerin Isabel Ilincheta, einer jungen Frau aus seiner Gesellschaftsschicht. Aus Eifersucht stiftet Cecilia ihren Verehrer, den Mulatten José Dolores Pimienta an, Leonardo zu töten, woraufhin Isabel sich in ein Kloster zurückzieht. Cecilia wird als »cómplice en el asesinato de Leonardo«128 zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Wie ihre Mutter verfällt sie schließlich dem Wahnsinn und hinterlässt eine Tochter, die ebenfalls als Waise aufwächst. Der Mörder selbst wird nicht gefasst und bleibt flüchtig. Villaverdes Verknüpfung von rührselig anmutender Liebesgeschichte mit einer realistisch-moralischen Sicht auf die von Sklaverei korrumpierte Gesellschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird als »karibische Sozialromantik«129 charakterisiert. Einerseits bietet der Text ein sozialkritisches Repertoire, welches den Rassismus und die Willkür der Sklaverei anprangert und das Problem des Abolitionismus130 verhandelt, andererseits ist er mit altbekannten romantischen Motiven wie Rache, Wahnsinn, Inzest, Liebesdrama, Rückzug ins Kloster und dem Wiedertreffen verschollen geglaubter Familienmitglieder aufgeladen. Bekannt geworden ist Villaverdes Roman als ein um »Vollständigkeit bemühtes Bild der spanischen Kolonialgesellschaft«131 und als kostumbristisches Sittengemälde, welches ein Bild des volks-

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Vgl. Sommer: 1991, 129. Villaverde: 1980, 279. Ingenschay: 2002a, 157. Dröscher liest Villaverdes Roman nicht als abolitionistischen Roman, sondern als »una contribución a la construcción de la memoria cultural cubana que como posicionamiento respecto a la abolición. En un momento en el cual la nación cubana independiente es casi palpable, la novela de Villaverde negocia la repartición de la culpa de la precariedad de la identidad nacional y de la responsabilidad por el retrazo histórico respecto a la independencia entre los diferentes sectores de la anterior sociedad esclavista« (Dröscher: 2011, 96). 131 Ette: 1992b, 33.

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tümlichen Lebens, der Feste, des Treibens auf der Straße und zugleich der unwürdigen Lebensbedingungen der Sklaven auf den Kaffeeplantagen, in den Zuckerraffinerien und den Elendsbaracken vermittelt. Villaverde betont in seinem in New York verfassten »Prólogo« von 1879, dass er beim Schreiben ausschließlich »d’après nature« vorgegangen sei: »Lejos de inventar o de fingir caracteres y escenas fantasiosas e inverosímiles, he llevado el realismo, según entiendo [...].«132 Villaverde lässt historische Figuren im Roman auftauchen und untermauert seinen Text mit Fußnoten. Hier setzt Arenas’ respektlose Dekonstruktion der berühmten Vorlage an: Er verzichtet auf epische Breite oder mimetische Wiedergabe und setzt stattdessen auf Verknappung und rasante Überzeichnung. Ob Villaverdes Cecilia Valdés oder Arenas’ La loma del ángel, beide Romane zeigen die unüberwindbaren Hierarchien zwischen »los negros y los blancos« bzw. »los blancos y los negros«133 der kubanischen von Sklaverei geprägten Gesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Die titelgebende Mulattin heiratet nicht, es gibt keine bleibenden Verbindungen zwischen ›weißen‹ und ›schwarzen‹ Kreolen. Das erotische Begehren wirkt nur vorübergehend grenzüberschreitend. Stattdessen entfalte sich, so Georg Sütterlin, ein inzestuöses Beziehungsgeflecht, welches die Perversion einer menschenverachtenden Gesellschaft versinnbildlicht, die den Weißen absolute Verfügungsgewalt über die Schwarzen zubilligt und wo das institutionalisierte Gewissen der herrschenden Klasse, die Kirche, grundlegend korrumpiert sei.134 Villaverdes literarisches Projekt, die spanische Kolonie in eine zukünftige kubanische ›mulattische‹ Nation zu überführen, kann man angesichts der asymmetrischen Verhältnisse für gescheitert erklären, denn »Villaverdes Versuch die Widersprüche, Herr-Knecht, Sklave-Plantagenbesitzer, Schwarz-Weiß mit dem Ideal der Liebe und der Ehe zu überwinden, lässt sich für Arenas selbst auf dem Papier nicht einlösen.« 135 Für unseren Kontext erscheint interessant, in welcher Form Arenas dieses romantische »foundational fiction«136 umschreibt, denn in einem reescritura-Ansatz wird in der Regel genau das geändert, was der Ursprungstext als zentrale Idee dem Leser mitteilen wollte. Der postmodernen Hinterfragung von Welt und Sinn entsprechend ist der Leser bei Arenas aufgefordert, herkömmliche Motive oder Lesarten – hier insbesondere des Mythos eines mulattischen Kubas – völlig neu zu überdenken. 1.2.1 Postmoderne »traición« Auch wenn Arenas den zentralen Plot, die inzestuöse Beziehung zwischen Cecilia und ihrem Halbbruder Leonardo sowie dessen Tod durch den Mulatten José Pimienta, beibehält, erzählt sein Roman mittels unzähliger Transformationen eine gänzlich andere Geschichte. Augenfälligster Unterschied ist zunächst die starke Verknappung: Ist Villaverdes Roman noch 400 Seiten stark, so verdichtet Arenas den turbulenten

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Villaverde: 1980, 53. So die Titel der zwei Hauptteile in Arenas’ Text. Vgl. Sütterlin: 2006. Spielmann: 2006. Den Begriff der Foudational Fictions (1991) hat Doris Sommer für die National Romances of Latin America geprägt.

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Handlungsverlauf auf nur 140 Seiten. Arenas behält den groben Aufbau von partes und capítulos bei, aber die Einteilung variiert. Villaverde unterteilt in vier große Teile mit insgesamt 45 Kapiteln. Arenas gliedert seinen Roman in fünf Teile mit insgesamt 34 Kapiteln, die jeweils alle mit Titeln versehen werden, so dass ein Kapitel nie länger als fünf Seiten ist. Dieses Vorgehen hat einen schwindelerregenden Szenenwechsel zur Folge. Bemerkenswert ist ferner, dass Villaverdes Roman wie üblich mit einer »conclusión« schließt; Arenas Roman hingegen endet pluralistisch mit »conclusiones«. Arenas’ Texttransformation geht dahin, den von Villaverde betonten realistischen Anspruch in eine phantastische Dimension zu überführen.137 Und Carlos Narvárez ergänzt: »En el texto base se elabora una serie de símbolos gastados por la repetición mecánica, la tradición, la costumbre: símbolos sociales, morales, religiosos, que el texto receptor transgrede y pervierte.«138 Villaverdes Cecilia Valdès steht für literarischen Realismus, Arenas’ Roman hingegen ist ein »Ad-absurdum-Führen des Realitätseffektes«139. Er betont im Prolog »Sobre la obra« die ideologische, postmoderne Eigenständigkeit seiner »traición«: »La recreación de esa obra que aquí ofrezco dista mucho de ser una condensación o versión del texto primitivo. De aquel texto he tomado ciertas ideas generales, ciertas anécdotas, ciertas metáforas, dando luego rienda suelta a la imaginación. Así pues no presento al lector la novela que escribió Villaverde (lo cual obviamente es innecesario), sino aquella que yo hubiese escrito en su lugar. Traición, naturalmente. Pero precisamente es ésa una de las primeras condiciones de la creación artística. Ninguna obra de ficción puede ser copia o simple reflejo de un modelo dado, ni siquiera de una realidad, pues de hecho dejaría de ser obra de ficción.«140

Arenas’ vielfältige Übertreibungen, Verfremdungen und Spielereien implizieren erneut eine deutliche Absage an mimetische Erzähltechniken und an doktrinäre Verordnungen eines sozialistischen kubanischen Realismus im Sinne Castros. Die Unsicherheit von gesicherter Autorschaft und Historiographie zeigt sich an diversen Stellen: In selbstreflexiver, ironischer und metatextueller Weise schickt Arenas als impliziter Autor seine Romanfiguren auf eine Reise zu ihrem ursprünglichen Schöpfer Cirilo Villaverde, um mit ihm eine Textpassage zu klären. Jener lebt in Arenas’ Roman inkognito in der Sierra de los Órganos in Pinar del Río und bekämpft dort das Analphabetentum mit dem vorrangigen Ziel, Leser für seine eigenen Werke heranzuziehen; eine nicht zu übersehende Anspielung auf die Ziele der postrevolutionären Alphabetisierungskampagne in Kuba. Villaverde ist einigermaßen überrascht von seinem Besuch und empfängt ihn mit den belehrenden Worten: »Fue entonces cuando reparó en los visitantes. ›¿Qué se les ofrece?‹ dijo poniéndose de pie. ›¿Es posible que ya no nos reconozcas?‹ se quejó don Cándido familiarmente. ›Claro que los reconozco. Pero en ningún momento escribí que tenían que venir a verme, y mucho menos

137 138 139 140

Vgl. Ette: 1993, 266. Narvárez: 1990, 185. Ette: 2006, 194. Arenas: 1995, 9f.

234 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN aquí. ¡Estoy de incógnito, y no de ,incógnita‘ como dijo usted, bruto, unas páginas más arriba!‹ le reprochó al mozo del azúcar.«141

Doch Villaverdes Haltung entpuppt sich als wenig hilfreich, denn in postmoderner Manier überlässt er dem Leser die Deutung: »eso queda para el curioso lector...«, woraufhin Doña Rosa ärgerlich erwidert: »¡Nada de para el lector... […] Pues si no sabe escribir que se haga zapatero o que se vaya a cargar cañas a un trapiche! ¡Pero las cosas hay que aclararlas ahora mismo!«142 Nicht nur der historische Autor Villaverde gehört zur erzählten Welt von La loma del ángel, auch Arenas taucht als Figur im Roman auf, aber natürlich – um das Verwirrspiel auf die Spitze zu treiben –, indem er sich als ein Anderer ausgibt, als Schöpfer des Kolossalbildnisses Fernandos (auf das ich später noch genauer eingehe): »Sin duda algún curioso e impertinente lector (de ésos que nunca faltan) será capaz de interrumpirme precisamente en este momento tan tenso y difícil de mi narración, para preguntarme cómo entonces puedo yo hacer tan fidelísima y detallada descripción de ese cuadro. Muy sencillo, señor, soy su pintor y por lo tanto su creador: Francisco de Goya y Lucientes, más conocido como Tomasito, para servirle […].«143

Die metaleptische Einbeziehung der beiden realen Autoren in das fiktionale Geschehen, sprich die Hybridisierung zwischen extratextueller und intradiegetischer Position lässt sich als postmoderne Dekonstruktion des Erzählprozesses interpretieren.144 Die Distanzierung der Romanfiguren von ihren beiden ›Schöpfern‹ zeigt sich besonders bei der Figur Leonardo Gamboa, der sowohl Villaverde als auch Arenas als »los idiotas narradores«145 bezeichnet: »[…]así que nada tengo que ver con esas barrabasadas que el sifilítico y degenerado, quien piensa que es nada menos que el mismísimo Goya (me refiero naturalmente a Arenas), quiere adjudicarme o con las del otro viejo cretino [Villaverde, N.U.] quien tampoco dio pie con bola en lo que se refiere a mi carácter, ni en nada […].«146 Leonardo Gamboa greift Reinaldo Arenas als »imbécil narrador de esta novela, que ni siquiera es de él originalmente« sogar direkt an und beschwert sich über seine unzutreffende Charakterisierung als »un energúmeno, un vago, un perezoso y un mal estudiante«147. Arenas spielt unentwegt mit Erzählerpositionen, indem er sich und Villaverde als Romanfiguren ins Spiel bringt und sich zudem die Figuren autonomisieren. Die narrative Metalepse veranlasst eine Hybridisierung von Autoren- und Figurenschaft. Die Grenze zwischen zwei Welten, der

141 142 143 144

Ebd., 106. Ebd., 107. Ebd., 125. Vertiefend zum Konzept der »auto(r)ficción« vgl. de Toro/Schlickers/Luengo: 2010. Einen Überblick zur spanischsprachigen Autobiographie/Autofiktion gibt Alberca: 2007. 145 Arenas: 1995, 122. 146 Ebd., 121. 147 Ebd.

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Welt, in der man erzählt, und der Welt, von der erzählt wird, wird bewusst überschritten. 1.2.2 Ángel de la Jiribilla oder im intertextuellen europamerikanischen Netz Als Motto geht Arenas’ Roman nicht zufällig ein Zitat von Lezama Lima voraus: »Ángel de la jiribilla, ruega por nosotros. Y sonríe.«148 Der Kubanismus jiribilla erinnert einerseits an das Wahrzeichen der Stadt Havanna (La Giraldilla), welches selbst Nachbildung eines fremden Models ist,149 und andererseits bedeutet es entusiasmo por lo que otro hace o dice.150 Ette resümiert: »Im Angel de la Jiribilla tritt uns gleichsam der Engel der réécriture entgegen.«151 »C’est à une réécriture sans complexes que se livre Reinaldo Arenas, avec un manque de respect absolu et une irrévérence totale pour le modèle original«, schreibt Jacobo Machover im Magazine Littéraire.152 Arenas knappes, provokatives Vorwort »Sobre la obra« zeigt seine selbstbewusste poetologische Standortbestimmung. Seine Technik des Umschreibens und Parodierens sei »una actividad tan antigua que se remonta casi al nacimiento de la propia literatura«153. Die damit verübte respektlose »traición« sei Bedingung künstlerischen Schaffens: »La ostentación de tramas originales [...] es una falacia reciente.«154 Er reiht sein Schreiben provokativ in eine Reihe kanonisierter illustrer Autoren der Antike (dem berühmten ›Dreigestirn‹ Aischylos, Sophokles und Euripides), der Neuzeit (die Dramatiker Shakespeare und Racine) und stellt ihnen gleichberechtigt lateinamerikanische Vertreter wie Jorge Luis Borges, Alfonso Reyes mit seiner Ifigenia cruel, Virgilio Piñera mit seiner Electra Garrigó oder Mario Vargas Llosa mit La guerra del fin del mundo zur Seite. Cirilo Villaverde verortete seinen Roman ausschließlich im Kontext europäischer Autoren (wie die romantischen Vorbilder Walter Scott und Alessandro Manzoni155). Arenas’ Neufassung von Villaverdes Text unter Rückgriff auf Autoren wie Reyes, Piñera und Vargas Llosa stehen für einen kreativen lateinamerikanischen Umgang mit dem abendländischen und dem eigenen Erbe.156 Reyes und Piñera transformieren dabei griechische Mythologie; Vargas Llosa bedient sich in La guerra del fin del mundo hingegen einer Vorlage, die der Literatur Lateinamerikas entnommen ist, dem berühmt gewordenen Buch Os Sertões von Euclides da Cunha, welches eine geschichtliche Schlüsselphase innerhalb der

148 Ebd., 8. 149 La Giraldilla oder La Habana genannte Bronzefigur wurde 1631 als Wetterfahne für das Castillo de la Real Fuerza an der Hafeneinfahrt von Havanna erschaffen, welche ihrerseits eine Nachbildung des 1564 von Bartolomé Morel geschaffenen Engel des Glaubens ist. 150 Vgl. Ette: 1993, 270. 151 Ette: 1993, 270. 152 Machover: 1989, 72. 153 Arenas: 1995, 10. 154 Ebd. 155 Vgl. Villaverde: 1980, 53. 156 Näheres zum paratextuellen Geflecht bei Arenas siehe Ette: 1993, 260-264.

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Modernisierung Brasiliens bearbeitet. Arenas bedient sich einer karibischen Vorlage und hebt bewusst das kubanische ›Literaturdenkmal‹ Villaverde und den von ihm erschaffenen Mythos einer lateinamerikanischen femme fatale, einer »hembra telúrica«,157 aus den Angeln und stellt beides in karnevalesker Manier humorvoll zur Schau. Mit diesem Vorgehen fällt die Asymmetrie zwischen Europa und Lateinamerika zugunsten der Neuen Welt aus: »[…] Arenas [stellt] nicht nur die lateinamerikanischen Autoren ganz selbstverständlich auf eine Stufe mit denen des Abendlandes und [hebt] zugleich die transatlantischen Verbindungslinien zwischen ihnen hervor; ebenso macht der Autor deutlich, dass sich der Mythos Cecilia Valdés als Bezugstext nicht nur mit Iphigenie oder Elektra messen kann, sondern auch als Nationalfigur auf gleicher Augenhöhe mit anderen Prozessen nationaler Selbst(er)findung steht. Es geht folglich nicht um eine provinzielle Romanfigur einer peripheren Literatur: Mit Cecilia Valdés wagt sich Reinaldo Arenas an eine der schillerndsten Schöpfungen des 19. Jahrhunderts. [...] Einem kanonisierten Werk werden in einer ›ketzerischen Fassung‹ – so der im Manuskript noch vorhandene und später getilgte Untertitel von Arenas Roman – mit den Mitteln der Fiktion neue Bedeutungen und Deutungen abgetrotzt.«158

Anders als Reyes Ifigenia oder Piñeras Electra muss Cecilia Valdés, »esa mulata estupenda«159, jedoch nicht erst nach Lateinamerika transferiert werden, denn sie stammt bereits von dort. In der kubanischen Literaturgeschichte repräsentiert die titelgebende Mulattin Cecilia Valdés eine femme fatale innerhalb einer hierarchisch strukturierten mulatez, die über die Grenzen der Karibik hinaus zu einer – wenn auch höchstproblematischen – identitätsstiftenden Symbolfigur wurde.160 Edouard Glissant geht davon aus, dass die Figur der Mulattin als eine Art offizielle Mätresse anzuse-

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Álvarez García: 1980, 31. Ette: 2006, 192f. Arenas: 1995, 122. Vgl. Ette: 2006, 190f. In einem Interview mit Ottmar Ette wies Arenas darauf hin, dass er noch weitere Romane zu zeitgenössischen bzw. historischen Frauenfiguren, die zusammen gewissermaßen eine Allegorie Kubas repräsentieren, beabsichtigt. »No solamente con la reescritura de ›Cecilia Valdés‹ sino yo tengo un proyecto de tres noveletas que, unidas las tres, formarán una novela que será la historia de tres mujeres en la historia de Cuba. Una es la viuda de Lezama. Es un personaje muy interesante y fue la que salvó los manuscritos inéditos de Lezama. [...] Después hay una señora, una condesa del siglo XVIII, que pretendo hartó una visión de esa época a través de un personaje delirante que vivía en París y que fue a Cuba dos veces, la condesa de Merlín. A esos dos personajes de la realidad los quiero llevar a la ficción a mi manera. Y otra mujer muy al principio de la conquista de España en Cuba, durante la colonización, que era la mujer de Hernando de Soto y que se llama Isabel de Bobadilla. [...] A través de estos tres personajes femeninos yo quiero dar toda una historia de Cuba, desde el punto de vista de la ficción, desde luego, porque a mí la Historia en sí misma, con mayúscula, no me interesa; para eso están ya los libros de historia. Pero quiero decir que siempre va a haber argumentos si uno siente esa necesidad creadora« (Ette/Arenas: 1986, 186f; Herv. N.U.). Aufgrund seines frühen Todes konnte er dies nicht mehr umsetzen.

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hen und in der ganzen antillanischen Region vorzufinden ist: »Die erotische Literatur der Tropen, die in Santo Domingo (Haiti) und Martinique so reich war, hat dieses ›Geschöpf‹ genüßlich in Szene gesetzt.«161 Die kulturelle, ›rassische‹ Vermischung der kubanischen Bevölkerung findet hier ihren Ausdruck und genau diese »Modellierung des Nationalen mit Hilfe der Liebesverbindung zwischen einem Weißen und einer Mulattin, [ermöglicht] die Bedeutung von Cecilia Valdés als identitätsbegründenden Roman«162. Villaverdes Geschichte der Mulattin Cecilia Valdés liest sich als nationale Allegorie, als »Mythos eines mulattischen Kuba« 163. Abb. 1 Titelbild zu Cirilo Villaverdes »Cecilia Valdés« von Luis Vega164

Das ablehnende Heiratsverhalten Leonardos und der damit verwehrte soziale Aufstieg von Cecilia hingegen verweist auf das Scheitern einer neuen nationalen kubanischen Identität. Das Misslingen hängt mit der Aufrechterhaltung sozialer und ›rassisch‹ markierter Hierarchien seitens der ›weißen‹ Kreolen und mit der Leugnung der afrikanischen Herkunft seitens der ›schwarzen‹ Kreolen zusammen. Cecilias unbedingter Aufstiegswille verdeutlicht den verinnerlichten Rassismus, den u.a. Fanon in seinem Klassiker Peau noire, masques blancs zum Verhältnis »La femme de couleur et le Blanc« analysierte. Um dem eigenen Schicksal »un peu de blancheur«165 zu ver-

161 Glissant: 1997j, 103. 162 Ette: 1992b, 42. 163 Ebd., 43. Nicht nur Arenas weist auf die gleichen Initialen von Autor und Hauptfigur hin (C.V.), so dass man bei Villaverde in Anlehnung an Flaubert davon sprechen kann: »Cecilia Valdés, c’est moi«. Die diskriminierte Mulattin repräsentiert ebenfalls den diskriminierten Exilanten, vgl. Ette/Arenas: 1986, 178. 164 Luis Vega (o.J.): »Cecilia Valdes«, in: Luis Vega – fine art paintings. Online unter: http://luisvega-art.com/gallery/gallery-list/ (Letzter Zugriff am 12.01.2014). 165 Fanon: 1971, 34. Vgl. hierzu das gendersensible Kapitel »Créolisation und Migritude bei Gisèle Pineau«.

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leihen, griffen viele Frauen zu der Überlebensstrategie der äußeren Unterwerfung. In La loma del ángel übermalt Cecilia kurzerhand ihre schwarze Urgroßmutter Amalia Alarcón mit weißer Farbe, um ihren weißen Liebhaber Leonardo über ihre Herkunft zu täuschen: »¡Blanca! ¡Si, blanquísima!... Así es como tiene que verte él. Leonardo no sabrá nunca que eres una negra retinta. Si lo llega a saber no se casará conmigo. ¡Blanca! ¡Blanca! ¡Ni mulata siquiera!...«166 Cecilia hat für Männer ohne Geld und Einfluss keine Zeit. Doch ihr emanzipatorisches Anliegen schlägt fehl. Als Mulattin bleibt ihr der Zutritt zur weißen Gesellschaft verwehrt, denn sie ist nicht die passende Person für Heirat und Kinder, sprich für Erbfolge und Weitergabe von Kapital. In dem Motiv der Mulattin vereinen sich Rassismus, Sexismus und Klassenkonflikte in besonderer Weise. Die Abschaffung des Klassenbegriffs, so zeigt sich, reicht für ehemalige Sklavenhaltergesellschaften als Emanzipationsprojekt nicht aus. Die Mulattin besetzt eine historische Schlüsselfunktion zum Verständnis sowohl europäischer als auch karibischer Literatur. Darauf komme ich im abschließenden Teil noch einmal gesondert zurück. 1.2.3 Inzestuöse Verflechtungen und Doppelgänger Die Tatsache, dass die Figurenkonstellation auf einem Geschwisterpaar aufbaut, das in einer inzestuösen Beziehung lebt und aus dem ein gemeinsames Kind, das Enkelkind der Gamboas, hervorgeht, verleiht dem Ganzen eine endogame Grundstruktur. Indem sich, dem Bauprinzip der klassischen Tragödie gemäß, die Figuren der zweiten Generation in Unwissenheit ihrer gemeinsamen Ursprünge begegnen und aus dieser Begegnung die dritte Generation entsteht, gelingt es dem Roman, die fortschreitende, wenn auch inoffizielle Mulatizaje der kubanischen Gesellschaft zu beschreiben. Gedoppelt wird diese Konstellation durch die analoge Wiederholung innerhalb der nächsten Generation, wo wieder ein inzestuöses Geschwisterpaar auftaucht. Die illegitime Tochter von Cecilia und Leonardo bandelt mit dem jungen Leonardito, Sohn von Leonardo und Isabel, an. So generiert sich das inzestuöse Beziehungsgeflecht unaufhörlich weiter. La loma del ángel erzählt von der Unausweichlichkeit und von der Asymmetrie dieses Vermischungsprozesses. Der Roman zeigt auf, dass es eine über mehrere Generationen andauernde und alles in allem von Grausamkeit und Gewalt geprägte Entwicklung ist, die diese transculturación hat entstehen lassen. Insofern problematisieren beide Romane eine zu emphatische Sicht auf kulturelle Vermischungsprozesse in einer rassistisch fundierten Plantagengesellschaft. Den echten Halbgeschwistern Cecilia und Leonardo diametral entgegengesetzt ist bei Arenas das mulattische, außereheliche Geschwisterpaar Cecilia und José Dolores Pimienta. Cecilia ist wie erwähnt die uneheliche Tochter von Cándido Gamboa und einer Mulattin. José Dolores ist der Sohn aus der außerehelichen Verbindung zwischen Rosa de Gamboa, Cándidos Ehefrau, und dem Sklaven Dionisios, welcher als Chefkoch bei den Gamboas arbeitet. Nimmt man diese Stiefgeschwisterbeziehung hinzu, basiert Arenas’ Roman mindestens auf zwei zentralen Geschwisterpaaren: Cecilia Valdés/Leonardo Gamboa sowie Leonardo Gamboa/José Dolores Pimienta.

166 Arenas: 1995, 77.

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Alle drei Figuren, Cecilia, Leonardo und José Dolores, wurden vom Ehepaar Gamboa mit unterschiedlichen Geschlechtspartnern gezeugt und sind gewissermaßen Geschwister: Leonardo ist das einzig legitime Kind, Cecilia und José Dolores wurden jeweils vom Vater oder von der Mutter außerehelich gezeugt. So wundert es nicht, dass Arenas gerade dieser Dreiecksbeziehung jeweils spezifische Liebesdiskurse zukommen lässt. Es gibt insgesamt fünf Kapitel mit dem Titel »Del amor«, in denen zunächst nacheinander José Dolores, Cecilia Valdés und Leonardo Gamboa zu Wort kommen, und dann – nach dem Tod von Leonardo – spiegelbildlich wieder Cecilia Valdés und José Dolores. Bereits die Typographie, die Kursivsetzung, markiert, dass hier in einem anderen Modus erzählt wird. Dies sind die einzigen Kapitel, die aus der Innenperspektive der drei Figuren über »Del amor« berichten. Das erste und letzte »Liebeskapitel« ist von José Dolores Pimienta. Für ihn ist anfänglich eine große Liebe »un consuelo, un consigo compartido, una suerte de pequeño, modesto y mágico lugar imune al espanto y a las humillaciones que lo circundaban«167 . Nachdem er für Cecilia zum Mörder geworden ist, definiert er Liebe als etwas, das sich nicht verwirklicht, »porque un gran amor no es sosiego ni satisfacción, sino renuncia, lejanía, y sobre todo, persecución de que el objeto amado sea feliz«168. Für Cecilia ist Liebe zunächst »un triunfo«, »una victoria«, »una fuga« und »una leyenda materializada«169. Nach Leonardos Verrat und Tod definiert sie Liebe als »la escueta crónica de un autoengaño […] [p]orque un gran amor no es la historia de un gran amor, sino su invención«170. Leonardo schließlich definiert Liebe als »deseo satisfecho, violencia desatada, aventura y fugacidad disfrutadas […] es explosión o muerte«171. Alle drei Liebesmodelle enden entweder mit Tod, Verhaftung oder Flucht. Arenas zeigt hier, dass Liebe kein romantischer Ausweg aus einer asozialen, rassistischen Gesellschaftsordnung sein kann. Doch Arenas belässt es in seinem Roman nicht bei diesem Dreiecksverhältnis, sondern verwebt es mit anderen Beziehungsgeflechten. Ein weiteres Doppelgängerpaar sind die Halbschwestern Cecilia und Adela, die sich zum Verwechseln ähnlich sehen. Adela ist Leonardos Schwester und legitime Tochter Gamboas, der als Vater beider Mädchen beim Anblick von Cecilia eingestehen muss: »es el mismo retrato de mi hija Adela...«172 Cecilias Urgroßmutter war noch schwarz, doch die außerehelichen Verbindungen von Urgroßmutter, Großmutter und Mutter jeweils mit weißen Männern ließen Cecilia Valdés fast ›weiß‹ werden. Diese von Verfügbarkeit, Vaterlosigkeit und Illegitimität geprägte Geschichte wird von der Großmutter Doña Josefa als ein »Fluch« beschrieben: »Una vez más la misma maldición que había perseguido a toda la familia volvía a cumplirse. El bello, fugaz e inevitable hombre blanco que de pronto engendraba a otra mulata para que la

167 168 169 170 171 172

Arenas: 1995, 52. Ebd., 140. Ebd., 87. Ebd., 138. Ebd., 121. Ebd., 16.

240 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN fatídica tradición siguiese su curso. La historia había comenzado con su madre, doña Amalia, negra africana, que la había engendrado a ella, Josefa, mulata casi negra, y ella con otro hombre blanco había tenido a la parda Rosario Alarcón, quien a su vez con don Cándido Gamboa había engendrado a Cecilia, mulata casi blanca (o blanconaza, como le decían), y ahora Cecilia, con su propio hermano blanco, tenía una hija la que sin duda se enamoraría de algún blanco.«173

Bemerkenswert ist nicht nur in diesem Zitat der hervorgehobene Grad von Whitening bzw. mulatización. Dennoch bleibt ein Rest ›Schwarzheit‹, almost white but not quite. Die matrilineare Kette alleinstehender Mulattinnen mit den von weißen Männern gezeugten Kindern führt letztlich nicht zu stabilen Solidarbeziehungen, sondern zu prekären Grenzgängen, zu »una cadena matrilineal muy frágil«174 . Dröscher konkretisiert: »A pesar de que el ›whitening‹ resulta exitoso en cuanto a la piel, la aspiración a un estatus social más alto falla, […]. Una y otra vez, sus proyectos de vida fracasan. Ni les es posible fundar una familia nuclear de tipo burgués, ni la solidaridad entre las mujeres en el barrio resulta ser una red social estable y deseada, esta última no existe en el horizonte discursivo de Villaverde.«175

Cecilia wird in Arenas’ Roman nicht nur durch ihre Schwester Adela gedoppelt, sondern auch durch ihre eigene Tochter. In dem Kapitel »El milagro« wächst das uneheliche Kind von Cecilia und Leonardo in Cecilias Körper innerhalb von Sekunden, verwandelt sich vom Jungen zum Mädchen, kommt mit einem ohrenbetäubendem Geschrei auf die Welt und mutiert umgehend zur Fünfjährigen, um so allen Abtreibungsversuchen zu entgehen. Für Cecilia steht nach Leonardos Verrat fest: »Tener un hijo mulato y sin padre en este sitio es echar otro esclavo al mundo. ¡No, no quiero cargar con ese crimen!«176 Und weiter lesen wir: »Y en menos de cinco minutos, desarrollando una insólita energía, creció desmesuradamente, se abultó dentro de la placenta, tomó la forma ya de un niño de nueve meses, pataleó en el vientre de su madre, cambiándose, para mortificarla aún más el sexo, pues era, un varón; y de un cabezazo, soltando altísimos gritos, salió la niña del cuerpo de Cecilia quien atónita contemplaba aquel fenómeno. – ¡Mamá! – dijo la niña de inmediato, llegando en dos segundos a la edad de cinco años, donde se detuvo.«177

Die intendierte, aber vom Kind selbst vereitelte Kindstötung taucht hier als typisches Mittel auf, um ein Kind vor Wiederversklavung zu schützen. Das Verwerfliche des Inzests tritt hier hinter dem Ungeheuerlichen, nämlich der Sklaverei, zurück. Das eigentlich dramatische und bühnenwirksame Potential der ›Blutschande‹ löst sich in

173 174 175 176 177

Ebd., 117f, Herv. N.U. Dröscher: 2011, 100. Ebd. Arenas: 1995, 116. Ebd., 116f.

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der Groteske auf, da fast jede Figur in Unkenntnis ihrer Herkunft und so durchweg im potenziellen Inzest lebt.178 Allein die beiden Erzbischöfe Espada und Echerre, welche in Engelsgestalt Hunderte von Frauen beschlafen, sind Erzeuger einer gewaltigen Kinderschar.179 Selbst die Protagonistin lebt lange Zeit in Unklarheit über ihre Herkunft, denn ihr Name Valdés verweist auf keinerlei gesicherte Genealogie: »Y su historia, al menos para ella, eras un enigma. Sus referencias son sólo una abuela mulata que nadie sabe de qué vive, una bisabuela negra que, según dicen, es bruja, una cicatriz en el hombro derecho y un apellido, Valdés, con el que bautizan en la Casa Cuna a los niños de padres desconocidos. Los demás tienen hermanos, padres, madres, alguien a quien poder odiar o amar, parecerse o renegar. Ella tiene las calles, los portales y la claridad del día. Ella se tiene sólo a sí misma y por eso sabe (o intuye) que si deja de hacer ruido deja de ser.«180

La loma del ángel ist mit seinem zentralen Thema der Waisenschaft ein exemplarisches Beispiel für ein orphan narrative der Post-Plantagen-Literatur.181 Interessanterweise taucht noch ein weiteres mulattisches Geschwisterpaar bei Arenas auf: Nemesia Pimienta ist José Dolores Pimientas Adoptivschwester. Nemesia ist die Tochter eines »Engels« (namentlich des Obisbo Echerre) und der Sklavin Merced Pimienta, die als Ersatzmutter auch José Dolores aufzog. José Dolores’ eigentliche Mutter war Doña Rosa de Gamboa, die aus Rache an ihrem untreuen Ehemann ihrem Sklaven Dionisios befohlen hatte, sie zu schwängern, um wie ihr Mann ein Mulattenkind in die Welt zu setzen.182 Nemesia und José Dolores wachsen als Geschwister auf, sind aber in Wahrheit keine. Dafür sind aber bei Arenas – durch Doña Rosas Vergewaltigung eines Sklaven – José Dolores und Leonardo Halbbrüder, ohne jedoch davon Kenntnis zu haben. Am Ende wird Leonardo von seinem Halbbruder José Dolores ermordet. Arenas’ Inszenierung von José Dolores als Doña Rosas verheimlichter Sohn lässt diese Figur – im Gegensatz zu Villaverdes Roman – ins Zentrum rücken. Am Ende tötet José Dolores nicht nur seinen eigenen Bruder. Vo-

178 Vgl. Wogatzke-Luckow: 1993, 351. 179 In ihrer Studie Les enfants de la colonie. Les Métis de l’Empire français entre sujétion et citoyenneté (2007) weist Emmanuelle Saada nach, dass die Mehrzahl der Métis aus einer spezifischen Beziehungskonstellation hervorgegangen seien: französischer Vater und ›indigene‹ Mutter. Es handelt sich also um eine affaire d’homme. Der umgekehrte Fall tauche erst verstärkt mit dem Grande Guerre auf, vor allem in der Metropole. 180 Arenas: 1995, 18. 181 Vgl. Loichot: 2007. Barbara Dröscher hält für die von Frauen geschriebenen zentralamerikanischen Romanen des ausgehenden 20. Jahrhunderts ebenfalls fest, dass die Figur der Grenzgängerin auffällig oft mit Verwaisung einhergehe, vgl. Dröscher: 2007, 117. 182 Die Geschichte von Doña Rosa ist eine weitere exemplarische Transformation von Villaverdes Roman. In Arenas’ Roman befiehlt die Herrin ihrem Sklaven: »¡Recuerde que le he ordenado un negro!« woraufhin der Sklave erwidert: »Señora, no sé si mis luces alcanzarán para tanto.« Eine Beziehung zwischen weißer Frau und schwarzem Mann wäre bei Villaverde undenkbar gewesen, aber bei Arenas wird gerade durch diese Beziehung die ›Ehre‹ der betrogenen Ehefrau wieder hergestellt. Doña Rosa sagt nach vollzogenem Akt: »Que ya mi honor ha sido bien reparado« (Arenas: 1995, 22).

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rangegangen ist dem Brudermord eine Art Ödipustragödie, die in einem »duelo a muerte«183 zwischen Dionisios und José Dolores gipfelt und bei dem der Vater Dionisios tödlich verletzt wird (»herido de muerte«184). Somit treffen wir hier neben dem Trio Cecilia, Leonardo und Isabel auf eine weitere Dreierkonstellation, dessen Zentrum die Protagonistin Cecilia Valdés ist. Cecilia liebt Leonardo, José Dolores liebt Cecilia und Nemesia liebt zunächst Leonardo und später ihren vermeintlichen Halbbruder José Dolores.185 José Dolores und Nemesia sind überdies Mittlerfiguren zwischen Cecilia und Leonardo: José Dolores als späterer Auftragsmörder, Nemesia als Kupplerin: »Correveidile, recadera, Celestina entre Cecilia y Leonardo«186. Sowohl bei Villaverde als auch bei Arenas fungiert Nemesia als eine zweitrangige Doppelgängerfigur im Schatten von Cecilia Valdés, dennoch bekommt sie von Arenas ein eigenes Kapitel (Kap. X). Er rückt so eine sekundäre Figur durch Amplifikation in den Vordergrund. Cecilia und Nemesia unterscheiden sich bei Arenas durch ihr Äußeres (»Nemesia Pimienta, de talle y rasgos insignificantes, de pelo a aún más ensortijado y de color más oscuro«187) und durch ihre Lautstärke bzw. Stille. Cecilia vagabundiert umher und lärmt ununterbrochen, »entrar a plazas e iglesias atronando con su paso«188 , um ihrer selbst sicher zu sein. Nemesia hingegen beschreibt sich selbst für den Autor des Romans als so unwesentlich, dass es für ihr Leiden keinen sprachlichen Ausdruck gibt: »[…] pues ni el autor de la novela en la cual era ella una insignificante pieza le interesaba su tragedia. Más bien Nemesia Pimienta le era indiferente y (como el resto) sólo la utilizaba. Ni siquiera un amor como el suyo, tan vasto y desesperado como su propia vida, ocupaba un lugar (aunque fuese pequeño) en la pretenciosa serie de capítulos titulados precisamente »Del amor« que el susodicho escritor había redactado. Y a pesar de ello, su amor, protestaba Nemesia, era mucho más grande que el de todos los demás personajes reunidos. […] No sería ni siquiera un grito al final de un capítulo. Nada. De un momento a otro le taparían la boca y los demás ni cuenta se darían de que ella había sido vilmente amordazada, liquidada. Y toda su pasión, todo su furor, toda su ternura habrán quedado en […].«189

Wiederum taucht das Leitmotiv des (unterdrückten) Schreis auf als Ausdruck für menschliches Leid. Arenas verwendet eine Technik der Aufwertung des scheinbar Nebensächlichen durch die Konstruktion einer »secundariedad protagónica«190. Sein

183 Ebd., 50. 184 Ebd., 51. Für diesen Hinweis danke ich Barbara Dröscher (2009). In den »conclusiones« erfahren wir, dass Dionisios von Dolores Santa Cruz im Anschluss in die CimarrónSiedlung geführt und von ihr dort wieder gesund gepflegt worden war. 185 »Si su hermano, su hermoso hermano, tan distinto a ella, la amase no como a una hermana… José Dolores, José Dolores, ése era ahora el hombre de sus sueños« (Arenas: 1995, 43). 186 Ebd. 187 Ebd., 42. 188 Ebd., 17. 189 Ebd., 45, Herv. N.U. 190 Mastache: 2008, 46.

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Vorgehen, das Nebensächliche in den Vordergrund zu rücken, relativiert den von Villaverde zentralen Plot um die Protagonistin Cecilia Valdés. 1.2.4 Groteske Gestaltungen Neben diesem nahezu unüberschaubaren inzestuösen Beziehungsnetz weist Arenas’ Roman, trotz seiner massiver Verknappung des Hypotextes, eine Fülle weiterer origineller Ideen, bizarrer Handlungsverläufe und grotesker Maskeraden auf. Bischöfe verkleiden sich als Engel, um ihr sexuelles Begehren hemmungslos auszuleben. Oder die in Cecilia Valdés mehrmals erwähnte weiße Ikonographie der omnipotenten Mater Dolorosa taucht als schwarze Muttergottes auf.191 Die Muttergottes ist bei Arenas nicht in der Lage, Trost zu spenden, Erlösung zu prophezeien oder Wunder zu bewirken; sie ist weitestgehend ohne göttliche Macht: »Entonces la virgen traspasada por la espada de fuego se agitó levemente en el nicho y concediéndole a la mulata una mirada fría y pavorosa habló: – ¿Y cómo es posible que precisamente me hayas elegido a mí como consuelo? Con esta espada de fuego que perennemente me traspasa el pecho y con mi único hijo asesinado por la turba, ¿cómo puedo ser yo la encargada de reconfortante? ¿No te has dado cuenta (¡nadie se ha dado cuenta!) de que yo también estoy transida de dolor? [...] Pero si los amantes [Cecilia y Leonardo] hubiesen observado detenidamente [...] habrían comprobado que la virgen había sido sustituida por otra imagen. Tenía la piel completamente morena, el pelo ensortijado, en los brazos sostenía no a un niño rubio sino a un negrito, y una expresión de dolor aún más intensa ensombrecía su semblante. Expresión que aumentó aún más cuando los hermanos cayeron abrazados sobre el lecho.«192

Die Statue ist »starr vor Schreck« und »Inbegriff der Verzweiflung«, aber immerhin verfügt sie über eine eigene Stimme. Arenas belässt es nicht bei der sprechenden Statue, sondern er transformiert sie von weiß zu schwarz. Cecilias Großmutter, Doña Josefa, welche bei der Muttergottes Trost gesucht hatte, wird zu Stein und nimmt den Platz der Heiligen ein. Die Anbetende wird so zu einer potenziell Anzubetenden: »[…] la virgen había sido sustituida por otra imagen. Tenía la piel completamente morena, el pelo ensortijado, en los brazos sostenía no a un niño rubio sino a un negrito, y una expresión de dolor aún más intensa ensombrecía su semblante.«193

Repräsentierte bei Villaverde das titelgebende Loma del ángel noch ein Stadtviertel Alt-Havannas, so ist es bei Arenas eine Grabstätte. Der Engelshügel in Arenas’ Ro-

191 Diese Umschreibung gibt es nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Kunst. Viele Bilder und Wandmalereien stellen zwar die Christengeschichte dar, die Heiligen aber haben dunkle Hautfarbe und gleichen eher den Indios. Auch die Tierwelt ist eher die amerikanische und die Trauben gleichen mehr einer Ananas. Dieser Synkretismus wurde nicht nur so ausgeführt, um die Indios zu bekehren, sondern weil die Architekten und Maler meist Indios waren, vgl. Schwarzwald: 2005, 7. 192 Arenas: 1995, 118-119. 193 Ebd., 119.

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man war ursprünglich eine Senke, die als Grabstätte genutzt wurde und die mit der Zeit, aufgrund der vielen Toten während der Amtszeit Echerres, zu einem gewaltigen Grabhügel anwuchs. Der Bischof Echerre lässt sich demnach auch als ›Engelmacher‹ interpretieren, denn das Fundament der Kirche setzt sich aus Leichen zusammen und lässt die Kirche immer höher in den Himmel ragen: »Pero tantos fueron los muertos [...] que se enterraron en el cementerio que está bajo la misma iglesia que rápidamente el túmulo se fue convirtiendo en una gigantesca elevación sobre la cual el templo o nave religiosa, sobrecargado de columnas, agujas, cresterías, gárgolas, albacaras, volutas y archivoltas absolutamente innecesarias iba siempre subiendo. Así al llenarse de cadáveres una bóveda religiosa, la misma se convertía en enorme tumba y sobre aquel conglomerado de huesos seguía erigiéndose la iglesia que ahora se remontaba a veces a las mismas nubes.«194

Der Engelshügel fungiert als lieu de mémoire, als Topographie der Toten. Für Arenas gilt es Formen von Erinnerung zu finden für eine Geschichte, deren Zeugen und Zeuginnen ausgelöscht wurden. Arenas’ Poetik bezweifelt dabei das Sinnpotential vernunftmäßigen Denkens, zumal die Sklaverei rational keineswegs zu fassen ist. Eine rational argumentierende Disziplin scheint ihm unfähig, der Schockwirkung dieses Zivilisationsbruches gerecht zu werden. Seine Anlehnung an Sarduys Postulierung von zwei Zentren (centro visible/centro obturado), von denen eines unsichtbar ist, weil aus dem Diskurs verdrängt, leuchtet ein. Das permanente Schwanken zwischen diesen Polen führt schließlich zu einer inneren Haltung, die über keinen zentralen Pol, kein klares Objekt mehr verfügt; Disharmonie, Fatalität und Absurdität sind die Folge. Als Kompensation für die Ent-Täuschung bleibt scheinbar nur die zynische Karnevalisierung und Karikierung der Verhältnisse, die bewusst negierte Sinnsuche im literarischen Schreiben. Der Roman verfügt über unzählige weitere Profanierungen und Verfremdungseffekte. So wird ein Kunstwerk, Goyas Porträt des spanischen Monarchen Fernando VII, zur todbringenden Waffe. Der Anblick des Bildes lässt die Menschen auf der Stelle tot umfallen. Daher stehen beim großen Ball der Sociedad Filamónica alle mit dem Rücken zum Bild, bewegen sich maskiert auf das Bild zu oder haben sich, wie im Falle des zweihundertköpfigen schwarzen Orchesters, die Augen eigenhändig herausgerissen. Doch der Schrei eines Äffchens – »el más descomunal de los chillidos hasta entonces jamás oído retumbó«195 – veranlasst die Anwesenden sich umzudrehen und das Bildnis Fernandos VII. anzuschauen, was zur Konsequenz hat, dass sich der Festsaal augenblicklich in ein Leichenschauhaus verwandelt.196 Die grotesken Inszenierungen und Inversionen nehmen bei Arenas kein Ende: Exzessive Gaumenfreuden anlässlich eines opulenten Weihnachtsessens enden in einer haltlosen Völlerei, wobei sich die Anwesenden in menschliche Riesenkugeln verwandeln und schließlich zu Karsterhebungen werden:

194 Ebd., 23f. 195 Ebd., 128. 196 Vgl. ebd., 128.

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»Ya a media noche, cuando terminó la cena, todos se habían convertido en gigantescas y relucientes bolas o cuerpos completamente esféricos que los sirvientes cubrieron con enormes mantas y empujándolos suavemente los condujeron hasta sus respectivas habitaciones. No obstante, a pesar de la eficacia de estos esclavos domésticos, algunas de aquellas gigantescas esferas humanas perdieron el rumbo y abandonando la residencia cruzaron (y destruyeron) el jardín, dispersándose por la extensa campiña seguidas por la fiel servidumbre que inútilmente trataba de darles alcance. [. . .] Transformados pues en aquellos inmensos cuerpos rodantes iban el cura, doña Rosa y sus hijas […]. A otro día, don Cándido abandonó el ingenio en confortable volanta acompañado por Carmen y Leonardo. (Los dos únicos miembros de la familia con que ahora contaba). Al pasar por el Valle de Viñales reconoció la figura de su esposa petrificada y temiendo que aún pudiera formularle algún reproche, ordenó al calesero espolear los caballos.«197

Im ausufernden Essen und Trinken manifestiert sich bei Arenas der groteske Körper. Sein karnevaleskes Schreiben mittels Inversionen, Amplifikationen oder Hyperbeln entspricht seiner Definition des Barock als ein sich selbst karikierender Stil: »El barroco me parece mucho más inteligente cuando, como dijera Borges, el estilo linda con su propia caricatura.«198 In überdimensionierter Weise erscheint auch die Spazierfahrt der Condesa de Merlín auf dem Paseo del Prado, »copia inferior al original situado en Madrid«,199 welche exemplarisch das müßiggängerische Leben der Aristokratinnen, die aus Sklavenhalterfamilien kamen, auf Kuba im 19. Jahrhundert spiegelt. Zahlreich sind die Adjektive, die die Ausmaße ihrer Erscheinung beschreiben: »las gigantescas proporciones de la falda«, »la falda gigantesca«, »la gigantesca manta«, »un inmenso sombrero de altísima cúpula y alas aún más desproporcionadas«, »esta caballera descomunal«.200 Während dieses grandiosen Auftritts in Havanna kommt es zu einer rasanten Verfolgungsjagd, wobei sie in ihren zu Segeln aufgeblähten Kleidern nach Europa schwimmt: »Así, en pocos segundos, la regia señora adquirió la configuración y eficacia de un enorme y poderoso velero que impulsado por el viento abandonaba ya la bahía y atravesaba el Golfo de México internándose, a vela tensa, en el océano Atlántico.«201

197 Ebd., 111ff. 198 Arenas/Santí: 1980, 25. In einem Interview mit Ottmar Ette findet sich ein vergleichbares Zitat von Arenas: »Borges decía que el barroco era ese estilo que lindaba con su propia caricatura, [...]« (Ette/Arenas: 1986, 191). 199 Arenas: 1995, 63. María de las Mercedes Santa Cruz y Montalvo (1789-1852), besser bekannt unter den Namen La Condesa de Merlín oder Comtesse Merlin, war eine renommierte Sklaverei-Befürworterin und Schriftstellerin des 19. Jahrhunderts. Sie wurde im kolonialen Havanna in einer aristokratischen Familie geboren, lebte später in Spanien und Frankreich. Nur ein einziges Mal kehrte sie nach Kuba zurück, im Anschluss entstand ihr Reisebericht Viaje a La Habana (1840). Arenas montiert hier bewusst einen Anachronismus ein, denn ihr Besuch fand erst Ende der 1830er Jahre statt, Villaverdes Geschichte ist jedoch in den Jahren 1812 bis 1832 situiert, vgl. Manzari: 2006, 54. 200 Arenas: 1995, 64. 201 Ebd., 67.

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Eine weitere an Münchhausen auf der Kanonenkugel erinnernde Episode ist die mit der dampfbetriebenen Zuckerpresse. Die aus England importierte Dampfmaschine verwandelt sich für Tausende von Sklaven in einen Apparat, der sie nach Afrika in die Freiheit katapultieren soll: »En menos de un minuto cientos de ellos se treparon descalzos al gigantesco y candente lomo metálico y al grito de »¡A la Guinea!« se introducían por el tubo de escape, cruzando de inmediato, a veces por docenas, el horizonte. […] Vestidos con lo mejor que tenían – trapos rojos o azules – se introducían en el tubo de escape y una vez en el aire, sin duda enardecidos por la euforia y el goce de pensar que al fin volaban a su país, ejecutaban cantos y bailes típicos con tal colorido y movimiento que constituyó un espectáculo verdaderamente celestial, tanto en el sentido figurado como real de la expresión… […]. Espléndidos cantos y danzas yorubas y bantúes (congos y lucumíes) en agradecimiento a Changó, Ochún, Yemayá, Obatalá y demás divinidades africanas fueron ejecutados […].«202

Die vermeintliche Rückkehr nach Afrika durch die Dampfmaschine erinnert an einen entfesselten Volkskörper, um mit Bachtin zu sprechen, verweist aber auch auf die reale Hoffnung vieler Sklaven durch Selbstmord in Afrika wieder aufzuerstehen.203 Bei Arenas ›regnen‹ die Sklaven als Leichname am folgenden Tag auf die Erde hinab und ›verhageln‹ Leonardo und Isabel ihr Schäferstündchen, denn während ihrer »romance del palmar«204 säumen zahlreiche Tote ihren Weg. Dies dient Isabel als Anlass, um über die unterschiedlichen Todesarten der Sklaven zu dozieren: Selbsterstickung durch die eigene Zunge mangels tödlicher Waffen, Selbsterschlagung durch die am Fußgelenk befindliche Eisenkugel oder Selbststrangulation durch die eigenen Hände. Die verschiedenen Todesarten der versklavten Menschen, wie sie in zynischer Weise in La loma del ángel vorgestellt werden, repräsentieren das genaue Gegenstück zum Schrei, denn im ›Freitod‹ richtet der Sklave die Aggression gegen sich selbst. Der Schrei wird nicht selten durch Selbsterstickung unterdrückt. Jede Form von Gewalt und Bedrohung wird bei Arenas ins Groteske gekehrt, dabei sind es nicht die Todesarten, die absurd sind – sie gab es in der Geschichte der Sklaverei –, sondern Isabels Umgang mit dieser Realität ist grotesk. Das bewusste Fehlen von Tiefe ist Konsequenz von Arenas’ Roman. Gemeint ist damit, dass der Leser zu keiner der Figuren eine emphatische Beziehung aufbauen kann, denn der Konstruktionscharakter des Erzählten ist immer offensichtlich.205 Traumatisches wird im Modus des Komischen erzählt und bleibt so für den Leser nur mittelbar nachvollziehbar. Die offenkundige Inkongruenz von Thema und Erzählweise, von histoire und discours erzeugt einen überraschenden, grotesken Effekt. Den

202 Ebd., 95f. 203 Vgl. Schmieder: 2001. Françoise Lionnet weist darauf hin, das die Spirituals der AfroAmerikaner »glorifient souvent la mort comme forme de passage dans l’au-delà, vers une vie de liberté et de bonheur introuvable sur cette terre. Ce phénomène d’intériorisation d’une idéologie mortifère est commun à ceux qui ont été assujettis ou asservis« (Lionnet: 1992, 112). 204 Arenas: 1995, 98. 205 Vgl. Wogatzke-Luckow: 1993, 352.

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Schrecken der traumatischen Geschichte erfahren wir in Arenas’ Hypertext nur mittelbar über den Kunstgriff der Überzeichnung. Die von Arenas entworfene Welt voll Wahnsinn, Alpträumen und Gewalt ist Ausdruck für eine koloniale Gesellschaft, die ihre Grundwerte aus Rassismus und Sexismus bezieht und daran schließlich zu Grunde geht. 1.2.5 Reescritura der Isabel Ilincheta Speziell die Figur der Isabel Ilincheta erfährt in Arenas’ La loma del ángel eine Neuschöpfung durch Inversion. In Villaverdes Roman bringt der Autor gerade ihr die größten Sympathien entgegen, was Ette wie folgt erklärt: »Sie steht mit ihrer Mitmenschlichkeit gegenüber ihren Sklaven, aber auch mit der klugen Verwaltung ihrer Güter für eine Modernisierung und moralische Regenerierung der Insel, wie sie sich Villaverde und mit ihm die kreolische Elite erhofften. [...] Sie verkörpert doch den Fortschritt, die Zukunft einer Gesellschaft repräsentiert, die sich auf christliche Werte, vor allem aber auf die abendländische Rationalität verlassen kann.«206

Die Situation der Sklaven auf der Kaffeeplantage, die Isabel leitet, ist im Vergleich zu der Situation auf der Gamboas’schen Zuckerplantage geradezu ›human‹. Selbst wenn dieses Modernisierungs- und Humanisierungsprojekt im Roman scheitert, denn Isabel zieht sich nach der Ermordung ihres Gatten ins Kloster zurück, ruhe Villaverdes ganze Hoffnung auf den Isabels der Zukunft.207 Isabel ist in Villaverdes Roman eine »philanthropische, gütige, empfindsame, pflichtbewusste und paternalistische ›Mutter‹ ihrer Sklaven«208. Sie erscheint »als Engel innerhalb der spanischen Kolonialgesellschaft« und beschließt ihr Leben »folgerichtig nicht auf ihrer Kaffeeplantage, sondern im Kloster«209 . Wie erwähnt wird bei einem reescritura-Ansatz genau das verfremdet, was die zentrale Botschaft des Prätextes betrifft. Arenas kommt zu ganz anderen conclusiones als Villaverde. Er lässt es sich nicht nehmen, die Schattenseite abendländischer Rationalität aufzuzeigen. Isabel verkörpert bei ihm den Inbegriff einer menschenverachtenden, vernunftgesteuerten Haltung. Villaverdes Hoffnungsträgerin des Fortschritts und des Humanismus verkörpert nun den kalten Rationalismus. Sie ist stets auf ihren eigenen Vorteil bedacht und ihre Handlungen dienen ausschließlich utilitaristischen, pragmatischen Zielen. Buchführung, Kontrolle, Inspek-

206 207 208 209

Ette: 2006, 201. Vgl. ebd. Wogatzke-Luckow: 1993, 352. Ette: 1992b, 32. In europäischen Reiseberichten des 19. Jahrhunderts über Kuba findet sich die ganze Spannbreite weiblicher Mittäterschaft an der Sklaverei. Manche ›Herrinnen‹ ließen ihre Sklaven regelmäßig auspeitschen, andere verhielten sich eher wie Isabel Ilincheta. Auf der von der Schwedin Fredrika Bremer beschriebenen Kaffeepflanzung La Concordia – Die Heimath in der neuen Welt. Ein Tagebuch in Briefen, geschrieben auf zweijährigen Reisen in Nordamerika und auf Cuba (1854) – kümmerte sich die Frau oder Mutter des Besitzers oft um kranke Sklavinnen und Sklaven sowie um die Erziehung der verslavten Kinder, vgl. Schmieder: 2001.

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tion und Inventarisierung der Plantage sind ihre eigentliche Passion. Während Leonardo mit einem scheinheiligen Liebeswerben um die Gunst von Isabel buhlt, ist sie mit der Akkumulation ihrer Güter beschäftigt. So verbindet sie in ›vorbildlicher‹ Weise – wie wir in dem romantisch klingenden Kapitel »El romance del palmar« erfahren – jederzeit das Schöne mit dem Nützlichen: »Cogidos de las manos, Isabel y Leonardo se pasean por el inmenso palmar cercano a la residencia de los Gamboa. El vestido blanco de Isabel, con lazos sueltos y mangas caladas, barre con su larga cola todo el sendero. Tarea ésta que se propuso Isabel al ver aquellos caminos llenos de basura. Así mientras paseo realizo a la vez una labor útil – pensó la joven –. Después de todo. Luego de la boda con Leonardo, estas tierras también serán mías.«210

Um das Ausmaß von Arenas’ zynischer Interpretation und Neufassung der Figur der Isabel zu zeigen, sei hier eine weitere Stelle exemplarisch zitiert: »Con velocidad y disciplina realmente admirables y siempre seguida por Blás y Leonardo contó una por una las matas de café y todos sus granos; también, los granos arrancados que se oreaban en los secaderos, haciendo luego el cómputo general; así mismo contó también los jazmines del Cabo, que se abrían nacarados y olorosos, y cada planta del jardín y los frutos de esas plantas. Luego, con una cesta, recogío los huevos que habían puesto las gallinas durante su ausencia; inventarió cerdos, aves, carneros y demás animales domésticos, y metiéndose entre las colmenas contó uno por uno los panales de miel así como las abejas útiles destripando con los dedos a las inútiles. Finalmente, al mediodía, la cesta llena de huevos, se tiró bocarríba sobre el mullido césped para tomar su breve y programado descanso. Esa fue la oportunidad que aprovechó Leonardo para hacer su confesión amorosa.«211

Nachdem Isabel sich in Arenas Version mit dem sterbenden Leonardo vermählt und ihn in aller Öffentlichkeit auf dem Altar vergewaltigt, um über ein eheliches Kind an sein Erbe zu gelangen, geht sie – anders als bei Villaverde – am Ende als Siegerin hervor. Es gelingt ihr, ihren Reichtum mittels nüchterner Kalkulationen zu akkumulieren. Ette resümiert treffend, dass hier nicht der Schlaf, sondern der Traum der Vernunft es gewesen sei, der die Ungeheuer erzeuge: »Die bei Villaverde so vernünftige Isabel steht bei Arenas als wahre femme fatale für die Zukunft einer modernen Diktatur im Zeichen von Unmenschlichkeit, Unterdrückung und Ausbeutung.«212 Hier werden Arenas’ Zweifel am modernen Fortschrittskonzept deutlich. Er zeigt anschaulich, dass ein Korpus scheinbar vernünftiger Ideen durchaus mit der Ideologie von Kolonialismus und Sklaverei einhergehen konnte. Die komplizenhafte Beziehung zwischen Diskursen der Moderne wie der Aufklärung und der kolonialistischen Vereinnahmung wird hier überdeutlich. Als Folge von Knechtschaft und Sklaverei taucht in La loma del ángel wie schon in El Mundo alucinante das Motiv des Wahnsinns gleich zum Auftakt der Geschichte auf und nicht jenes des Verstandes. Rosario Alarcón, die Mutter von Cecilia Valdés,

210 Arenas: 1995, 98. 211 Ebd., 91f. 212 Ette: 2006, 202, Herv. i.O.

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verliert über die Abschiebung ihrer Tochter in ein Waisenhaus den Verstand, den sie erst wiedererlangt, als sie ihre Tochter im Kerker des Klosters Casa de las Recogidas de Paula wiedertrifft, wo Cecilia ihre Strafe verbüßt.213 Dolores Santa Cruz hingegen, deren Name den erlittenen Schmerz versinnbildlicht, und die als Bettlerin und Verrückte durch die Stadt geistert, simuliert ihren Wahnsinn nur, um der Sklaverei zu entgehen: »Así fue como pudo pasar inadvertida, ser libre, y conspirar. Porque lo cierto también era que día y noche, mientras cantaba aquellas tonadas al parecer desquiciadas o ingenuas, se reunía con negros cimarrones o sediciosos, incendiaba caballerizas y residencias, envenenaba banquetes señoriales, desataba plagas, contaminaba ríos y lagunas, llevaba y traía mensajes entre los palenques. Su mismo ›po, poó, pooó‹ era a veces una contraseña que de acuerdo con su entonación transmitía una orden o una advertencia. No la habían derrotado, no podrían derrotarla nunca.«214

Dolores Santa Cruz lässt gegenüber der Condesa de Merlín schließlich ihre »furia, acumulada durante 56 años« freien Lauf, indem sie ihr die Haartracht raubt, eine Handlung, die ihr zum ersten Mal »una especia de liberación absoluta«215 vermittelt. 1.2.6 Eine neue Cubanidad? Cimarrón vs. Mulattin Abschließend lohnt es sich, den Blick nochmals auf die literarische Figur der Mulattin und der damit zusammenhängenden kubanischen Identitäts- und Gründungsfiktion einer »cubanidad como mulatez«216 zu lenken. Cecilia Valdés ist, so Barbara Dröscher, zu einer Ikone im kulturellen Gedächtnis geworden: sei es in der Zarzuela, im Film, in der Wissenschaft oder in der Literatur bis hin zur Tourismusbranche.217 In Villaverdes Roman ist sie das titel- und strukturbildende Motiv. In Arenas’ Roman La loma del ángel erfährt sie schon durch die veränderte Titelgebung eine grundlegende Umdeutung. Von Villaverdes karibischer femme fatale bleibt am Ende von Arenas’ Roman nur wenig übrig: »Ha engordado demasiado, va mucho a la iglesia, rara vez aparece tras los balaustres de la ventana y cuando lo hace es sólo para llamar a gritos a su hija que por otra parte nunca le responde.«218 Aus der einst sehr reizvol-

213 214 215 216 217

Vgl. Arenas: 1995, 14 u. 135. Ebd., 75. Ebd., 76. Dröscher: 2011, 97. Die Zarzuela Cecilia Valdés (1932) des kubanischen Komponisten Gonzalo Roig wird als Musikgenre außerhalb von Spanien nur auf Kuba gepflegt. Cecilia (1981) des international bekannten Regisseurs Humberto Solás, Vertreter des »Neuen Kubanischen Kinos«, ist eine melodramatische Verfilmung von Villaverdes Roman. Hervorzuheben ist Solás’ Identifizierung von Cecilia mit Orisha (Göttin der Santería). Er insistiere so auf den Anteil der afrokubanischen Bevölkerung an der Revolution (vgl. Dröscher: 2011, 89 und 103). Solás begründete 2003 das Festival del Cine Pobre. 218 Arenas: 1995, 136.

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len und lärmenden Cecilia Valdés ist eine zurückgezogene und schweigende Matrone geworden. Die Mulattin als weibliche, primär ethnisch markierte Figur des Dazwischen lässt sich spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nachweisen; sie versinnbildlicht die Fusion der kubanischen Gesellschaft. Sie bewegt sich zwischen Spaniern, Kreolen, freien Farbigen und Sklaven, in ihr verschmelzen Elemente europäischer mit afrikanischer Herkunft miteinander. Phaf wertet sie als eine Art ›Aufsteigertyp‹, die insbesondere im Denken der Autoren (nicht der Autorinnen) fest verankert sei.219 Ihre Omnipräsenz lässt aufhorchen: Erotik und Konkubinat sind für sie Techniken des sozialen Aufstiegs. Sie ist Bewohnerin der kolonialen Stadt; keine Sklavin der ländlichen Kaffee- und Tabakanbaugebiete oder der Zuckerrohrplantagen. Man könnte Villaverde einen impliziten Rassismus vorwerfen, denn Cecilia Valdés repräsentiert gerade nicht die Gesellschaftsschicht der schwarzen Sklaven. Die Mulattin verkörpert vorherrschend europäische Wertvorstellungen. Das Motiv der karibischen Mulattin, so Phafs These, gehe mit der Idee der bürgerlichen Nationalgesellschaft seit Ende des 18. Jahrhunderts als Personifizierung des städtischen Lebens in eine Literatur ein, die sich auf die Ideen der Aufklärung besinnt.220 Die Mulattin avanciert zur »angebetete[n] Verkörperung der Stadt«221. Sie ist zwar Objekt der Begierde, doch der Aufstieg bleibt ihr verwehrt und aus der zunächst romantischen wird eine tragische Figur. Im Motiv der Mulattin überlagern sich nicht nur Vorstellungen vom außereuropäischen Raum und vom weiblichen ›rassischen Fremdkörper‹,222 sondern die Mulattin verweist überdies auf die Stilisierung des europäischen Lebensstils. Cirilo Villaverde hat den europäischen Traum für Kuba übernommen. Auch Manzari kommt zu dem Schluss: »In Villaverde’s version, the slave population was always viewed as a destabilizing factor in Cuba’s white society. Here, Arenas exhibits a concern for the ›other‹ and gives a voice to this sector of the Cuban population.«223 Ganz anders gestaltet sich Arenas’ narrativer Traum bzw. Alptraum. Am Ende seines Romans liegt die Sklavenhaltergesellschaft in Trümmern: Cándido Gamboa lässt sich nach dem Verlust seines Vermögens und der Entehrung durch seine Tochter Carmen, die mit dem Schwarzen Tondá eine Verbindung eingeht, von einem seiner Sklaven erschlagen. Da aus Cándido Gamboas Verbindungen mit zwei Frauen unterschiedlicher Hautfarbe Kinder entstehen, ist er das produktive und zugleich destruktive Zentrum des Romans, in dessen Verlauf dem fortschreitenden wirtschaftlichen Niedergang von Cándido Gamboa die Befreiung und Emanzipation der Sklaven

219 Vgl. Phaf: 1989, 86. »Die städtische Mulattin als Entertainerin für ein Publikum, das die Welt aus der Sicht der europäischen Stereotypen betrachten möchte, verschwindet seitdem nicht mehr aus der Literatur der Karibik.« (Ebd., 92) 220 Vgl. ebd., 87. Eingeführt wurde dieses Motiv mit den Reisebeschreibungen A Narrative of a five years expedition against the revolted negroes in Surinam, Guiana, on the wild coast of South America des schottischen Offiziers John Gabriel Stedman (1744-1797), ein Bericht, der auch Alejo Carpentier als Vorlage für seinen Roman El siglo de las luces gedient hat, vgl. ebd., 89. 221 Ebd., 95. 222 Vgl. ebd., 96. 223 Manzari: 2006, 55.

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gegenüber gestellt wird. Als abschließende Utopie – wenn man hier von Utopie sprechen kann – taucht bei Arenas die Figur des Cimarrón auf: Carmen lebt mit ihrem Geliebten Tondá und den gemeinsamen Kindern (»unos mulaticos insoportables«) en »un palenque de negros cimarrones«224 , in der wir wieder auf die ehemalige Sklavin Dolores Santa Cruz, die vermeintlich Wahnsinnige treffen, die sich zwischen Plantage und Cimarrón-Siedlung bewegt. Auch den Sklaven Dionisios, einst Koch der Gamboas, treffen wir am Ende in einer Palenque-Siedlung entflohener Sklaven an. Übertragen auf unsere geopolitische Situation entspricht eine solche Siedlung entweder Canudos225 oder einem Slum, jedenfalls einem rechtsfreien Raum an den Rändern der Gesellschaft. Hier sammeln sich die Entwurzelten und Enteigneten, diejenigen, die nichts mehr zu verlieren haben als ihre Ketten. Die entlaufenen Sklaven improvisieren eine Gemeinschaft wie jene von Canudos, ein befreites Territorium, welches ihnen Zuflucht bietet und wo sie ein selbstorganisiertes Kollektiv bilden können. Eine solche De- und Reterritorialisierung – um es in der Begrifflichkeit von Deleuze auszudrücken – käme einer Utopie gleich, wenn sie als universelles Konzept greift, wie es Glissant mit seinem Bild der Tout-monde vorschlägt, d.h. wenn sie auf einem bedingungslosen Verzicht auf Territorium als Maxime für alle basiert. Arenas zielt also nicht auf eine durch Gewaltverhältnisse hervorgerufene mulatización als nationale Idee, sondern setzt am Ende seiner reescritura bewusst schwarze Cimarrón-Figuren in Szene. Gemeinschaft wird hier ausgehend von den Opfern der Sklaverei hergestellt. Arenas’ Schluss, der den Figuren José Dolores Pimienta, Dionisios und Tondá gewidmet ist, verweist ausdrücklich auf eine Widerstandsgeschichte der Sklaven und eben nicht nur auf das Motiv der Mulattin und der damit verbundenen, unmöglichen Aufstiegsgeschichte. Auf doppelter Ebene taucht bei Arenas das Thema Widerstand auf, zum einen sein Widerstand gegenüber dem historischen Kanon, seine kritische und parodistische Befragung von Historiographie und zum anderen die Anerkennung des Widerstandes der Sklaven durch seine Inszenierung der Cimarrón-Siedlung. Arenas’ Roman, der im post-abolitionistischen Zeitalter geschrieben wurde, wendet sich von Villaverdes Propagierung der Mulattin als Integrationsfigur (»Mulattenfrage«) ab und stellt stattdessen die »Negerfrage« und die Befreiungsbewegungen ins Zentrum seines Romans.

224 Arenas: 1995, 135. In Villaverdes Roman geht Carmen eine Verbindung mit einem Offizier der spanischen Kolonialmacht ein und orientiert sich so an der Sicherung der Privilegien. 225 Canudos war ein im brasilianischen Hinterland gelegenes Gemeinwesen von Ausgegrenzten. Er wurde 1897 vom Militär der brasilianischen Regierung zerstört. Das Massaker an den Bewohnern von Canudos wurde überregional bekannt durch die literarische Verarbeitung in Euclides da Cunhas Werk Os Sertões (1902) sowie in Mario Vargas Llosas Roman El guerra al fin del mundo (1981). Vgl. ferner das Kapitel zu Edgardo Rodríguez Juliás entwickelter Heterotopie von Nueva Venecia.

2 Edgardo Rodríguez Juliá: Neobarock und Ellipse »Barroco, barroco por todos lados y sólo una Mont Blanc para escribir.« EDGARDO RODRÍGUEZ JULIÁ: EL ENTIERRO DE CORTIJO, 2004 [1983]

2.1 P UERTO R ICO : » POSTCOLONIAL UND N ACIÓN POSTMORTEM

COLONY «

Die puertoricanische Kolonisation verlief lange Zeit in etwa parallel zu der Kubas; bis 1898 blieben beide Inseln spanische Kolonien. Allerdings bildeten sich seit dem 19. Jahrhundert deutliche Unterschiede in der jeweiligen Haltung zur spanischen Kolonialmacht heraus. Zwar gab es auf beiden Inseln Unabhängigkeitsbewegungen, aber in Puerto Rico setzten sich diese weit weniger nachhaltig als in Kuba durch. Dieser versäumte Widerstand, verbunden mit einer systemaffirmativen Grundhaltung der Bevölkerung, wie Janett Reinstädler schreibt,1 steht auch im Zentrum von Edgardo Rodríguez Juliás Crónica de Nueva Venecia. Diese Crónica bildet den Fokus der folgenden Analyse. Dem Fehlen einer mit Haiti oder Kuba vergleichbaren identitätsbildenden Widerstandsgeschichte kommt Rodríguez Juliá nach durch nachträgliches Erfinden einer solchen Geschichte. Wie bei Reinaldo Arenas treffen wir bei Rodríguez Juliá auf eine Aufklärung mit Gott, auf eine von Männern, Gewalt und Krieg regierte Welt sowie auf diverse hyperbolische und absurde Narrationsverfahren. Die starken religiösen

1

Vgl. Reinstädler: 2010, 132. Der massivste Widerstand kam von den Sklaven, die Mitte des Jahrhunderts noch direkt aus Afrika stammten, aber trotz zahlreicher Aufstände vermochten die puertoricanischen Sklaven sich nicht, wie es 50 Jahre zuvor auf Hispaniola geschehen war, aus ihrer Lage zu befreien. Puerto Rico ergab sich 1898 in nur 19 Tagen den usamerikanischen Truppen. Für vertiefende kontextuelle Informationen zu Puerto Rico vgl. ebd., 131-137. Dass es weniger zu Aufständen kam, hatte auch mit der Tatsache zu tun, dass die Zuckerindustrie in Puerto Rico weniger ausgeprägt war als bspw. auf Kuba oder Haiti, so dass es schlicht weniger Sklav/innen und somit auch weniger Aufstände in Puerto Rico gab. Puerto Rico war eher ein kolonial-militärischer Stützpunkt.

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Referenzen durch die dauernde Thematisierung von Kirchenvätern, sowohl bei Arenas als auch bei Rodríguez Juliá, verdeutlichen die Eigenwilligkeit einer modernidad hispanoamericana. Doch um eine vertiefende Einordnung der Crónica zu gewährleisten, gebe ich vorab einen kurzen Einblick in die politischen und sozialen Kontexte Puerto Ricos. Folgen wir Edgardo Rodríguez Juliá, kommt Puerto Rico aktuell ein halbautonomer Zwitterstatus zu. Bis heute ist die Insel weder ein Staat der USA noch ein souveränes Land; die Insel sei vielmehr Peripherie der Peripherie: »Se ha dicho que el Caribe es el tercer mundo del tercer mundo. Si ello es así, Puerto Rico se sitúa en la marginalidad más extrema de estas tierras marginales, países a medio hacer, según Naipaul, donde el colonialismo no ha cesado a pesar de la independencia y sus variados disfraces.«2 Puerto Rico nimmt eine besondere Stellung unter den lateinamerikanischen und karibischen Ländern ein, denn es ist eine »colonia sucesiva de dos imperios«3. Die Insel stellt, laut Herlinghaus, noch immer eine der wenigen ›reinen‹ Neokolonien auf der Welt dar, die die Welle der Entkolonisierung um die Jahrhundertmitte überdauert haben, und scheint in ein Niemandsland der Moderne verbannt worden zu sein.4 Puerto Rico ist eine staatenlose Nation, die sich einer gänzlichen Assimilierung in den us-amerikanischen Mainstream anhaltend widersetzt, denn der Inselstaat ist eine »Spanish-speaking Afro-Hispanic-Caribbean nation«5. Die spezifisch neokoloniale Situation Puerto Ricos erklärt sich aus seiner Geschichte: Von 1493 bis 1898 war sie eine spanische Kolonie, 1898 folgte die us-amerikanische Invasion und Annexion; seit 1917 haben alle Puertoricaner die nordamerikanische Staatsbürgerschaft und seit 1952 hat Puerto Rico den Status als Estado Libre Asociado der Vereinigten Staaten. Im Referendum des Jahres 1998 entschieden sich die Bewohner Bürger der USA zu sein, allerdings haben sie bis heute kein Stimmrecht bei den Präsidentschaftswahlen und keinen stimmberechtigten Vertreter im usamerikanischen Kongress. Ineke Phaf bezeichnet Puerto Rico auch als »welfare state sin autoridad internacional«, denn der rasante ökonomische Aufstieg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging mit wachsender Abhängigkeit vom amerikanischen Wohlfahrtsstaat einher.6 Amerikanisierung und Industrialisierung haben Puerto Rico im 20. Jahrhundert maßgeblich geprägt. Den Übergang von einer spanischen Kolonie zur us-amerikanischen Neokolonie charakterisiert Rodríguez Juliá als nachhaltigen Kulturschock: »Pasamos del retraso histórico español, con sus escapularios, absolutismos y procesiones de Viernes Santo, a la sociedad del sportsman y el businessman, de las feministas, la higiene y el civismo.«7 Die doppelte historische Enteignung er-

2 3 4 5 6

7

Rodríguez Juliá: 2002b, 65, Herv. i.O. Perivolaris: 2005, 199. Vgl. Herlinghaus: 1999, 27. Duany: 2003, 425. Phaf: 1997, 156. Widersprüchlich, aber durchaus nachvollziehbar ist die Haltung der sozial Unterprivilegierten: Einerseits bilden sie das Wählerpotential für die Partei, die den vollen Anschluss an die USA befürwortet (PNP), denn sie sind großteils auf staatliche Fürsorge angewiesen, andererseits sprechen sie meistens kein Englisch. Siehe dazu Barthélemy: 1995. Rodríguez Juliá: 2002b, 70.

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klärt Puerto Ricos problematische Beziehung zu einem tragfähigen identitätsbildenden kollektiven Gedächtnis. Spanische Kolonialherrschaft und nordamerikanischer Kolonialismus folgten unmittelbar aufeinander. Juan Flores bezeichnet Puerto Rico daher als »postcolonial colony«8. Aber wie sieht Nationalität in diesem spezifischen subalternen Diskurs überhaupt aus? Der literarische Diskurs der Nation scheint im Fall von Puerto Rico eines gesellschaftlichen Referenten zu entbehren. Puertoricanische Geschichtsschreibung kann, so Rodríguez Juliá, keine nationale, sondern nur eine mythische sein: »Necesariamente tiene que ser mítica, porque sí es una búsqueda de unos orígenes siempre escamoteados por las potencias hegemónicas.«9 Die Insel Puerto Rico sei »a paramount instance of the present-day ›heterotopia‹«10. Insbesondere hat ein mit Haiti oder Kuba vergleichbarer revolutionärer Kampf für Unabhängigkeit nie konsequent stattgefunden. Edgardo Rodríguez Juliá spricht von der aufgeschobenen Rebellion11, John Perivolaris von einem »unfulfilled Puerto Rican nationalism«12 und Carlos Pabón nennt die Insel eine geisterhafte Nación postmortem13. Für Rodríguez Juliá ist puertoricanischer Nationalismus schlicht eine Fantasmagorie einer randständigen bürgerlichen Schicht, die dem Land durch die Ankunft der Nordamerikaner aufgezwungen wurde: »A diferencia de los cubanos, por ejemplo, los puertorriqueños nunca hemos sido nacionalistas, ni independentistas.«14 Er spricht sogar von einer ausgeprägten Aversion gegen eine ›nationale Unabhängigkeit‹: »El puertorriqueño es anarquizante por la naturaleza misma de su historia marginal, de su empobrecido papel como bastión militar. El estado nacional no nos cautivó porque en nuestra realidad histórica éste fue siempre muy débil, aun en los momentos de mayor opresión.«15 Puerto Rico ist mit den herkömmlichen Parametern eurozentrischer Sozialwissenschaften, die davon ausgehen, dass eine so genannte politische Unabhängigkeit sich in der Existenz eines autonomen nationalen Staates widerspiegelt, nicht wirklich zu fassen. Die internationale Arbeitsteilung in unserer globalisierten Welt lässt m.E. grundsätzlich an der Existenz einer nationalen Identität zweifeln. Puerto Ricos weitgehend fremdbestimmte und fragwürdige Nationenbildung zeigt sich jedenfalls bis heute in den starken wechselseitigen Migrationsbewegungen zwischen der Karibikinsel und den USA, denn fast vier Millionen leben auf Puerto Rico, eine vergleichbare Zahl lebt in den USA (vor allem in New York).16 Die Insel

8 9 10 11 12 13 14 15 16

Erstmals wurde dieser Begriff von Juan Flores (2000) eingeführt, um die us-amerikanische Dominanz nach Etablierung des Estado Libre Asociado im Jahr 1952 zu benennen. Ortega/Rodríguez Juliá: 1991, 157, Herv. i.O. Flores: 2000, 35. Vgl. Sancholuz/Rodríguez Juliá: 2007, 169. Perivolaris: 1999, 691. Pabón: 2003. Ortega/Rodríguez Juliá: 1991, 162. Ebd., 154. Vgl. Stand des CIA World Factbook, Juli 2009 (https://www.cia.gov/library/publications/ the-world-factbook/geos/rq.html#). Interessant ist die ethnische Differenzierung innerhalb des Factbook: »white (mostly Spanish origin) 76.2 %, black 6.9 %, Asian 0.3 %, Amerindian 0.2 %, mixed 4.4 %, other 12 % (2007)«. Die Nuyoricans, schreiben häufig in Eng-

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Puerto Rico kann nicht ohne seine us-amerikanische Diaspora gedacht werden und verortet sich daher beständig in einem transnationalen Raum. Ein »such dizzying nomadism«17 stellt die vermeintliche Analogie von Territorium, Staatlichkeit, Nation und Sprache grundlegend in Frage. Puertoricanische Identität vollzieht sich unter Bedingungen extremer sozialer Mobilität in Form einer »Kombinations- als Überlebenskunst«18. Dies bringt eine Ästhetik hervor, die ihren Platz im permanent kippenden, prozesshaften Zustand des paradoxen entre-los-dos sucht. »Werte des Eigenen und Vorzüge des dominanten Anderen«19 werden begehrt, herausgefordert und zurückgewiesen. Kulturell sind die Menschen Puertoricaner mit dem Erbe einer 400jährigen spanischen Kolonialzeit, in politischer Hinsicht sind sie US-Amerikaner. Gerade das Festhalten an der spanischen Sprache, diese »insoumission culturelle«20, unterläuft jedoch den traditionellen american way of life. Es ist ein »Leben auf dem Bindestrich«21 zwischen ethnisch, sprachlich, politisch und kulturell verschiedenen Gemeinschaften on the move. Das Potential solcher Bindestrich-Identitäten liegt offenbar im Bindestrich selbst begründet, denn er markiert die Differenz.

2.2 Z UR DES

NUEVA HISTORIOGRAFÍA

E DGARDO R ODRÍGUEZ J ULIÁ

Im Zentrum der folgenden Analyse steht das Werk eines der maßgeblichen puertoricanischen Gegenwartsautoren, des Romanciers, Essayisten und Literatur- und Kulturkritikers Edgardo Rodríguez Juliá (geb. 1946).22 Wie viele puertoricanische Autoren ist Rodríguez Juliá mit der Frage der geschichtlichen und kulturellen Entwicklung seines Landes im Kontext einer mehrhundertjährigen zunächst spanischen Kolonialherrschaft und anschließenden militärischen und ökonomischen Neokolonisierung Puerto Ricos durch die Vereinigten Staaten beschäftigt. Durch Rekonstruktion weit zurückliegender historischer Ereignisse oder auch durch biographische Chroniken herausragender Gestalten der jüngeren Geschichte Puerto Ricos versucht

17 18

19 20 21 22

lisch oder publizieren zweisprachig. Siehe die Studien Nuyoricans. Die Puertoricaner in New York und ihr Beitrag zur amerikanischen Literatur (2001) von Stefan Mansfeldt, Contested Belonging: Circular Migration and Puerto Rican Identity (2000) von Erna Kerkhof und The Puerto Rican Nation on the Move (2002) von Jorge Duany. Duany: 2003, 440. Herlinghaus: 1999, 35. Luis Rafael Sánchez charakterisiert die Puertoricaner in seinem Essay »La guagua aérea« (1986) als nomadische Luftgemeinschaft, denn der fliegende Omnibus pendelt unentwegt zwischen der Karibikinsel und der ›zweiten Insel‹ Manhattan. Migration wird hier in ihrer Zirkularität gezeigt und die angebliche Dichotomie von Insel und Diaspora löst sich auf: »Para parafrasear a Benítez Rojo [...] la díaspora puertorriqueña sería otra isla caribeña ›que se repite‹ en EE.UU.« (Van Haesendonck: 2008, 27). Herlinghaus: 1999, 35. Barthélemy: 1995. Life on the Hyphen ist ein Buchtitel von Gustavo Pérez Firmat. Ferner ist er seit 30 Jahren Universitätsdozent für Literatur an der Facultad de Estudios Generales de la Universidad de Puerto Rico, Río Piedras.

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Rodríguez Juliá Traumata der Geschichte und Fehlinterpretationen der kolonialen Geschichtsschreibung aufzudecken.23 Angesichts der stark fragmentierten Geschichte Puerto Ricos definiert Aníbal González nationale Kultur vor allem als »una dudosa entidad, un efecto – más que un ›producto‹ – de los roces, conflictos y alianzas entre los seres humanos que componen una sociedad«24. So avanciere jenseits des »besetzten Erinnerns«25 gerade die literarische Fiktion zur Projektionsfläche einer unsichtbaren Geschichte und ermögliche »la fabulación de la historia«26. Rodríguez Juliás Prosa imitiert dafür das Genre der Chronik, welches er als ein typisch lateinamerikanisches Genre definiert.27 Er nutzt dieses Genre als hybriden Raum zwischen Fiktion und Archiv, zwischen Literatur und Geschichte. Zentrale Leitfrage für sein Schreiben ist die Suche nach einer möglichen Puertorriqueñidad mittels Utopien bzw. Heterotopien: »Mis novelas del dieciocho están llenas de procesiones, marchas y comparsitas. Estas peregrinaciones son los intentos por fundar un espacio, quizás una imagen. Mis novelas padecen el trasiego, la inquietud de una sociedad a medio hacer, que está por definirse. Nuestras mejores ciudades son las utópicas; las otras son las encrucijadas de las incesantes comparsas y peregrinaciones del colonialismo, del exilio y la emigración.«28

Mit Hilfe seines romanesken Œuvre reflektiert er eine »nación ficticia«29, die Puerto Rico eben nicht primär als spanische oder us-amerikanische, sondern als eine afrokaribische Kultur erfasst. Die offizielle, kanonisierte Geschichtsschreibung wird dabei durch eine apokryphe Geschichtsschreibung in Frage gestellt. Ereignisse der Vergangenheit werden unter Meidung des hegemonialen Blicks re-imaginiert und als Korrektiv für die Gegenwart eingesetzt. Rodríguez Juliás nueva historiografía30 ist eine fiktive re-escritura, welche in eine »intrahistoria«31 mündet. Die Lücken des historischen Diskurses werden narrativ aufgefüllt. Die Kollision alternativer Chronologien, die Existenz verschiedener Zeitordnungen ist die Folge, wie ich mittels der Analyse der Crónica zeigen werde.

23 Vgl. Gewecke: 1998b, 251. 24 González, Aníbal: 1986, 589. 25 »Das besetzte Erinnern/vierundzwanzig Erzählungen aus Puerto Rico« war 1997 ein Schwerpunktthema der Zeitschrift die horen – Zeitschrift für Literatur, Kunst und Kritik. 26 González, Rubén: 1987, 121. 27 Vgl. Ortega/Rodríguez Juliá: 1991, 124f; Rodríguez Juliá: 2002b, 71; Ortega: 2002, vii. 28 Rodríguez Juliá: 2002b, 69f, Herv. N.U. 29 Muñoz Fernándes: o. J., 9. 30 Sancholuz/Rodríguez Juliá: 2007, 168. 31 Rodríguez Juliá: 2006, 49.

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2.2.1 Rococó criollo als Gründungsfiktion Innerhalb der literarischen Produktion von Rodríguez Juliá, welche sich durch Humor, generische Hybridität und starke Autoreflexivität auszeichnet, lassen sich zwei zeitliche Ausrichtungen seiner Werke ausmachen: Zunächst sind seine im 18. Jahrhundert angesiedelten metahistorischen, intermedialen Texte zu nennen: La renuncia del héroe Baltasar (1974), La noche oscura del Niño Avilés (1984), El camino de Yyaloide (1994) und José Campeche o los diablejos de la melancolía: Ensayos sobre el pintor colonial (1986). Verbindendes Leitmotiv für alle vier Texte ist die »pintura criolla«32 des puertoricanischen Malers José Campeche (1751-1809). José Campeche gilt als Gründer der puertoricanischen Malerei und als einer der begabtesten lateinamerikanischen Rokoko-Künstler.33 Rodríguez Juliá setzt Campeches Malerei, »este sorprendente rococó criollo«, als wesentliche Ursprungserzählung Puerto Ricos: »Antes de la literatura fue la pintura. La obra de Campeche le provee a nuestra nacionalidad una imagen que se adelanta al testimonio literario, tendremos que esperar hasta mediados del XIX para que nuestra cultura se convierta en verbo. En este sorprendente rococó criollo se manifiesta el primer mito fundador de la cultura puertorriqueña, arte mediante el cual aparece de manera insólita […] el anhelo de fundar un estado, el intento de convertir la incipiente nacionalidad puertorriqueña en organización de poder.«34

Unerwähnt, sprich ungemalt bleiben bei dem ›Mulatten‹ Campeche, dem Auftragsmaler des aufkommenden kreolischen Bürgertums, die clases populares. Ausschließlich sein Gemälde des Niño Avilés, auf das ich später detailliert eingehen werde, sei eine »metáfora del sufrimiento. […] Y ese sufrimiento está relacionado con el pueblo: La mirada del pintor – acostumbrada a captar la personalidad y función de la elite criolla y la casta administrativa colonial – se posa aquí en lo disforme, en un hijo del pueblo«35 wie Rodríguez Juliá in José Campeche o los diablejos de la melancolía hervorhebt. Rodríguez Juliá nimmt Campeches Malerei also zum Ausgangspunkt seiner Narration, insbesondere für seine historischen Romane. Die Lyrikerin und Essayistin Aurea María Sotomayor beschreibt Rodríguez Juliá daher auch als »ficcionalizador de imágenes«36. So war sein erster Roman, La renuncia del héroe Baltasar, bei seiner Ersterscheinung mit einem Portrait von Don Miguel Antonio de Ustáriz,

32 Rodríguez Juliá: 1986b, 7. 33 Soto-Crespo (2002, 457) beschreibt Campeche als freien Mulatten in einer kolonialen Sklavenhaltergesellschaft und als ersten offiziellen Maler Puerto Ricos. Der reale Maler Campeche und der Bischof Arizmendi (der erste ›native‹ Bischof Puerto Ricos von 1803 bis 1814, der auch den Auftrag für das Kinderbildnis gab) dienen Rodríguez Juliá als »historical founding fathers« (Soto-Crespo: 2002, 460). Neben Literatur repräsentieren somit Kunst und Religion maßgebliche Inhalte im Prozess puertoricanischer Nationenbildung. 34 Rodríguez Juliá: 1986b, 7, Herv. N.U. 35 Ebd., 118, Herv. N.U. Eduardo San José Vázquez (2008, 245) deutet Campeches Bild ebenfalls als »primer retrato simbólico del pueblo puertorriqueño«, »la primera concreción de su espíritu colectivo«. 36 Sotomayor: 1992, 127.

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Gouverneur von Puerto Rico von 1789-92, des Malers José Campeche auf dem Cover versehen. Und sein zweiter Roman, La noche oscura del Niño Avilés, nutzt Campeches Bild des Niño Avilés zur Covergestaltung. Dieses eindrückliche Bild dient ihm als Sinnbild des hijo del pueblo und damit als Erzählanlass, um die ›Rückseite der Geschichte‹ zu erzählen. Camayd-Freixas zufolge übernimmt Rodríguez Juliá gar Campeches eigenes, aber unterdrücktes Bedürfnis »to paint his own people«37. Abb. 2 José Campeche: El Niño Juan Pantaleón Avilés de Luna Alvarado (1808)

Abb. 3 José Campeche: Don Miguel Antonio de Ustáriz (1792)

37 Camayd-Freixas: 2001, 179.

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Nicht zufällig wählt Rodríguez Juliá für seine historischen Texte das 18. Jahrhundert als zeitliche Achse. Diese Zeit war geprägt von der europäischen Aufklärung, der Französischen Revolution und von Sklavenaufständen, von denen der erfolgreichste und sichtbarste jener auf Haiti war. Insgesamt zeitigt das aufgeklärte 18. Jahrhundert auch den Beginn der Unabhängigkeitskriege in Lateinamerika und markiert den Auftakt einer so genannten Puertorriqueñidad wie Erik Camayd-Freixas formuliert: »Its first administrative code (Muesas’s Directorio General, 1770); its first official painter (José Campeche, 1772); its first official survey (Miyares, 1779); its first official history (Fray Iñigo Abbad y Lasierra, 1782); [and the] consolidation of Church power (Trespalacios, 1784-89).«38 Rodríguez Juliá selbst charakterisiert diese Zeit in einem Interview mit Julio Ortega als widersprüchliche Epoche, oszillierend zwischen Rationalität und Irrationalität, zwischen Licht und Schatten: »El XVIII [...] por un lado es el siglo de la fundación de la nacionalidad puertorriqueña. […] Es el gran siglo donde se van definiendo ya nuestras nacionalidades. Ahí surgen nuestros pintores, nuestros literatos, y es el surgimiento de nuestra misma realidad; y es por eso que para mí resulta tan importante el XVIII. […] el siglo XVIII es esa mezcla tan fascinante, primero de la crítica al mundo trascendental, la crítica a la teología; es el siglo de la razón y es al mismo tiempo el siglo del Saturno de Goya, de los desastres de Goya; esa mezcla de racionalidad e irracionalidad, esa mezcla tan fascinante del siglo de las luces y los monstruos de Goya y de Piranesi […].«39

Rodríguez Juliás historischen Texte widmen sich der Wiedereinschreibung der marginalisierten Subjekte der Aufklärung, der hijos del pueblo. Sie unterlaufen die utopische Illusion durch die Sichtbarmachung der historischen Widersprüche. Der Autor nimmt die Malerei von José Campeche als Ausgangspunkt eines rococó criollo, welches er narrativ umzusetzen sucht. Problematisch ist dabei, dass Campeche fast ausschließlich das kreolische Bürgertum des frühen 18. Jahrhunderts porträtierte, und dass selbst das Ausnahmebild des Niño Avilés einen weißen Jungen abbildet. M.E. nimmt Rodríguez Juliá, trotz seines Versuchs den Subalternen eine Stimme zu geben, auf diese Weise neue, paternalistische Ausblendungen vor.40 2.2.2 Realismo sucio: Intermediale Chroniken zwischen Popularkultur und basurización Eine weitere Ausrichtung in seinem literarischen Schaffen bilden die »crónicas de actualidad«41, die puertoricanische Identität an afro-amerikanische Kultur rückbindet und im Kontext einer massenmedialen Moderne reflektiert. Diese Alltagschroniken zielen auf eine Popularisierung, gar Vulgarisierung herkömmlicher Heldengeschichten. Sie sind nicht nur einem spezifischen Realismus, dem so genannten realismo su-

38 Camayd-Freixas: 2001, 179. 39 Ortega/Rodríguez Juliá: 1991, 129f. 40 Zur kontroversen Rezeption seines Wirkens vgl. Exner: 2012, 182; Duchesne Winter: 1992; González Orozco: 1997. 41 Rodríguez Juliá: 2002b, 71, Herv. i.O.

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cio verpflichtet,42 sondern auch mittels zahlreicher Photos oder Gemälde intermedial ausgerichtet. Dazu zählen: Las tribulaciones de Jonás (1981),43 El entierro de Cortijo (1983),44 Una noche con Iris Chacón (1986),45 Puertorriqueños. Álbum de la Sagra-

42 Vgl. Fornet: 2006 und insbesondere Isabel Exners Dissertationsprojekt »Poéticas contaminadas. Zur Ästhetik von Abfall und Schmutz in den Literaturen der Karibik« (http://www.uni-konstanz.de/figur3/iexner.htm), sie spricht auch von den »Poéticas de la polución« (http://www.uni-leipzig.de/~iafsl/Kolloqu/ProgForschtr2007.pdf). Exner versteht diese Form von Realismus, die »heterogene, destrukturierende Dimension des Abjekten […] als das genaue Gegenteil eines konventionellen Realismus-Effekts […]: als Evokation eines Realen, das sich einer alltäglichen Wirklichkeitserfahrung widersetzt« (Exner: 2012, 190). Rodríguez Juliá nutzt, vorrangig in seinen neueren Krimis, die basurización als »Authentifizierungsmittel für den peripheren und provokanten Diskurs« (ebd., 189), als fragwürdige Möglichkeit zur Repräsentation von Subalternität. Exner gibt zu bedenken, ob damit nicht bloß das genaue Gegenteil zu den sonst üblichen Karibik-Klischees geliefert wird (ebd., 191). 43 Es handelt sich um eine kritische Würdigung des Journalisten und Politikers Luis Muñoz Marín (1898-1980), der 1938 die Partido Popular Democrático (PPD) gründete und später einer der Hauptverantwortlichen für die Bildung eines Freien Assoziativstaates im Jahre 1952 war. Rodríguez Juliá würdigt ihn als herausragende Persönlichkeit, dennoch kritisiert er, dass Muñoz Marín Puerto Rico – gleich dem biblischen Jonas, auf den der Titel verweist – nicht davor bewahren konnte, von der USA vereinnahmt zu werden. Siehe besonders Juan G. Gelpís Essay »Las tribulaciones de Jonás ante el paternalismo literario« in seiner Studie Literatura a paternalismo en Puerto Rico (1993, 45-60). 44 Es ist eine Art Testimonio über den berühmten afrodeszendenten Musiker Rafael Cortijo, der aus ärmlichsten Verhältnissen kam und der 1982 unter großer Anteilnahme beerdigt wurde. El entierro de Cortijo ist eine Literarisierung eines »afropuertoricanischen Helden der Populärkultur« (Exner: 2012, 182). Rodríguez Juliá sagt über ihn: »Cortijo inaugura una música que viene a dar el testimonio justamente de la transformación social realizada por Muñoz« (Ortega/Rodríguez Juliá: 1991, 138). Der Sänger als Geschichtenerzähler steht am Übergang zu audiovisuellen Kommunikationsformen und Kulturpraktiken. Gerade in El entierro de Cortijo beobachtet Exner wie »[s]tatt des ursprünglichen ›Beobachtungsgegenstands‹ […] der reziproke Blick (gegenseitiger Verkennung) ins Zentrum des Textes [rückt], mit dem sich die Teilnehmer an dem gesellschaftlichen Schauspiel, das sich aus Anlass der Beerdigung abspielt, gegenseitig kontaminieren. […] das einst selbstbewusste Auge einer domestizierenden Repräsentation [wird] entmachtet« (Exner: 2012, 184f.). Zu El entierro de Cortijo und einem seiner jüngeren Kriminalromane (Sol de medianoche) vgl. Exner: 2012. Zur These, dass in Las tribulaciones de Jonás und El entierro de Cortijo die Puertoricaner als gran familia imaginiert werden vgl. Román Medina: 2009, Exner: 2012, 183. 45 Titelgebende Figur ist die durch das Fernsehen populär gewordene Guaracha-Sängerin Iris Chacón, die Venus de Borinquen. Der ursprüngliche Name der Insel Puerto Rico lautet in Arawakisch Borikén. Es ist einer der wenigen Texte von Rodríguez-Juliá zu einer legendären Frauenfigur. Der Körper des Stars fungiert als Topographie; Körperlichkeit und Erotik werden der vermeintlichen puertoricanischen docilidad entgegengesetzt, ausführlicher Vera-Rojas: 2008.

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da Familia puertorriqueña a partir de 1898 (1988)46 und El cruce de la Bahía de Guánica (1989)47. Bei Peloteros (1997) oder San Juan, ciudad soñada (2005) verraten schon die Buchtitel die Themen seiner zeitgenössischen Chroniken. Sein grundsätzliches Ziel ist es »a través de las ›voces‹ y las ›poses‹ [...] recuperar nuestra intrahistoria sentimental«48. Rodríguez Juliás Interesse an audiovisuellen und populären Kulturformen ist beeindruckend. So hat er 1994 unter dem Titel Cámara secreta eine Reihe von Ensayos apócrifos y relatos verosímiles de la fotografía erótica vorgelegt.49 Caribeños (2002) und Musarañas de domingos (2004) sind Sammlungen von Rezensionen und Reportagen, darunter Porträts von bekannten Musikern wie Rafael Hernández, Bobby Capó oder auch Essays zur Malerei, Photographie oder zum Fernsehen. In seiner Mapa de una pasión literaria (2003) widmet sich Rodríguez Juliá Autoren wie Chandler, Borges oder Nabokov sowie puertoricanischen Gegenwartsautoren. Mittels dieser essayistischen Texte porträtiert er historische oder populäre Gestalten des täglichen Lebens: »Heroism persists in Rodríguez Juliá’s narrative, but it is transposed from stage of nationalist epic to the tragicomedy of everyday Puerto Rico.«50 Die Texte repräsentieren entweder einfache Leute aus dem Volk oder mythologisch aufgeladene Figuren, die im Kontext von Alltags- und Massenkultur auftauchen und ihre Popularität vor allem einer medial vermittelten Wirklichkeit verdanken. Die literarische Wiederbelebung populärer Figuren fungiert als karnevaleske Strategie, durch die hierarchische Positionen zwischen Hoch- und Populärkultur abgebaut werden. Vergangenheit und Gegenwart konzeptionalisiert er mit Hilfe von Bildern, Photographien, Texten und Musik, eben durch das vorhandene ›Archiv‹, welches in spannungsvolle Konfrontation mit fingierten Geschichten und Bildern gesetzt wird. Immer geht es ihm um die Rückseite der Geschichte mittels der Cámara secreta. Doch auch dem Chronisten bleibt aufgrund seines eigenen begrenzten Blicks und Wissens vieles verschlossen, nicht entschlüsselbar oder nicht wirklich übersetzbar.51 Rodríguez Juliá ist »cronista-reportero«, »›fotógrafo‹ del Puerto Rico actual«,52 Essayist und Romancier und sogar Krimiautor. Seine Romane Sol de medianoche (1999) und Mujer con sombrero panamá (2004) markieren typologisch weniger die traditionelle, erfolgreiche Detektivfigur als ihre postmoderne, vom Scheitern markierte Ausformung. Der Detektiv wird zum Anthropologen seiner ›vermüllten‹ Gesellschaft. Die Romane legen in sozialkritischer Weise Zeugnis von einer fragmen-

46 Interessant ist die biblische Anspielung im Titel auf die christliche Familie, die für den Okzident modellbildend wirkt. Ausführlicher vgl. Caballero Wangüemert: 1992; Perivolaris: 2005, Bianchi: 2006. 47 Diese Chronik verknüpft palimpsestartig die Ereignisse um einen Schwimmwettbewerb durch die Bucht von Guánica im Jahr 1983 mit der Historie; über diese Bucht kamen am 25. Juli 1898 die Nordamerikaner nach Puerto Rico und am selben Tag 1952 wurde Puerto Rico zum Estado Libre Asociado erklärt. Siehe dazu: Patruno: 2007. 48 Rodríguez Juliá: 1998, 9. 49 Vgl. zu Cámara secreta ausführlicher die Analyse von Cabranes-Grant: 2006. 50 Perivolaris: 1999, 698. 51 Vgl. Exner: 2012, 183. 52 Caballero Wangüemert: 1992, 369.

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tierten, schizophrenen und korrumpierten Wirklichkeit jenseits des realismo mágico ab. Der Autor benutzt Ironie nicht nur als Mittel politischer Analyse, sondern auch, um das stilistische Korsett des Krimigenres aufzubrechen, dessen konservatives Grundprinzip bekanntlich auf Wiederherstellung von Ordnung durch Aufklärung des Verbrechens ausgerichtet ist.53 Der nueva novela negra entsprechend spielt die Handlung seiner Krimis im großstädtischen, mafiös organisierten Verbrechermilieu und erhält durch einen authentischen Straßenjargon, gespickt mit spanglish nuyorikan, eine große Dynamik. Rodríguez Juliá betont so die Relevanz der gesprochenen Sprache, »ese lenguaje del desclasamiento, mitad lumpen y mitad balbuceante«54. Entsprechend antwortet er auf die Frage, ob er sich vorstellen könne an einem anderen Ort zu leben und zu arbeiten, dass er selbst in Spanien sich zu weit entfernt fühlen würde von seinen Wurzeln und seiner Sprache, »que no es el español peninsular sino el caribeño«55. Ein weiteres Beispiel für seinen ›schmutzigen Realismus‹ ist die mit Photographien angereicherte hyperrealistische Erzählung Cartagena (1997) über den midlife-crisis geprägten Protagonisten Alejandro. Innerhalb seines Werkes, welches Historiographie, Politik, Sport, Photographie, Musik, Literatur und Malerei in literarischer Weise in den Blick nimmt und »eine Art schmutziges Genrebild von der Rändern der puertoricanischen Wirklichkeit«56 zeigt, werde ich mich seinen historischen Chroniken, konkret der bislang unvollendeten Crónica de Nueva Venecia zuwenden. Dieser Textzyklus scheint in besonderer Weise Aufschluss über die ästhetische Narrativierung karibischer Geschichtstraumata zu geben.

53 Seine Krimis stehen in der Tradition der amerikanischen hard-boiled Schule, vgl. Garbatzky im Gespräch mit Rodríguez Juliá: 2005. Bereits der Epigraph (»They shoot horses, don’t they?«) von Sol de medianoche referiert auf den fast gleichnamigen Krimi von 1935 des us-amerikanischen hard-boiled Autors Horace McCoy. In seiner ausführlichen Analyse von Sol de medianoche untersucht Kristian Van Haesendonck (2008, 127-157) den intertextuellen Bezug zu Camus’ L’étranger und dem Existenzialismus, die Figur des Detektivs, die Ambivalenz zwischen Figur und Erzähler sowie die Repräsentation des Traumas puertoricanischer Modernität. Zu seinen Krimis siehe auch Amar Sánchez: 2006. 54 Ortega/Rodríguez Juliá: 1991, 160. 55 Ebd., 161. 56 Exner: 2012, 189.

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2.3 C RÓNICA DE N UEVA V ENECIA : D IE APOKRYPHE G ESCHICHTE P UERTO R ICOS Die Romane La noche oscura del Niño Avilés57 und El camino de Yyaloide (1994) sind vermutlich die beiden ersten Teile eines mehrteiligen Zyklus mit dem Titel Crónica de Nueva Venecia. Zumeist ist von einer Trilogie die Rede,58 in einem Interview von 1991 hingegen spricht der Autor von einer geplanten Tetralogie, die von verlegerischer Seite her nachstehende Titel umfassen soll: I. II. III. IV.

La noche oscura del Niño Avilés (metáfora originaria de todas las ciudades) El camino de Yyaloide (la ciudad arcádica) 1797 (la ciudad histórica) Pandemónium (la ciudad utópica)59

In einem Interview von 2007 erwähnt Rodríguez Juliá freilich, in Kürze den bereits geschriebenen dritten Teil seines Zyklusses Pandemónium zu veröffentlichen,60 in dessen Zentrum die Ausgestaltung des Palenque, »la ciudad de las Quimbambas«61 stehe. Gleichgültig, ob es ein Diptychon bleibt oder ob es schließlich doch noch eine Tri- oder Tetralogie wird: Bislang liegen nur die beiden Texte La noche oscura del Niño Avilés und El camino de Yyaloide der geplanten Chronik vor. In gattungstheoretischer Hinsicht wäre noch eine andere Kombination in Rodríguez Juliás Werk vorstellbar, die ich nicht unerwähnt lassen möchte. Es ist durchaus möglich, dass die Tetralogie längst existiert, nur dass der Leser bislang in die Irre geführt wurde, durch die Annahme, dass La noche oscura del Niño Avilés den Auftakt dazu bildet. Mir scheinen seine vier metahistorischen Romane bzw. Essays, die alle im »oscuro siglo XVIII«62 spielen und mit dem Werk des Malers José Campeche in Verbindung stehen, thematisch eng verknüpft. Die Reihenfolge der Tetralogie wäre dann folgende: La renuncia del héroe Baltasar (1974), La noche oscura del Ni-

57 Das Manuskript lag bereits 1976 vor, wurde aber erst 1984 publiziert. Ich verwende in der Folge die gekürzte Ausgabe von 1991, die mit weit über 400 Seiten nicht weniger ›barock‹ und ›enzyklopädisch‹ (im postmodernen Sinn) daher kommt, dafür aber lesbarer und leichter zugänglich ist. Zur Editionsgeschichte vgl. Rubén González Orozco: 1997, 78f. 58 Bspw. Benítez Rojo: 1989, 284; Muñoz Fernández: o.J., 2. 59 Vgl. Ortega/Rodríguez Juliá: 1991, 151. González Orozco (1997, 104) spricht auch von einer Tetralogie. Teil II sei die Ausführung der Episode um die Reina de Africa, Teil III sei die Wiedereroberung von San Juan durch den Bischof Trespalacios und Teil IV sei die Umsetzung der Freiheitsutopie, ausgehend von der Geschichte um la ciudad de las Quimbambas. 60 Vgl. Sancholuz/Rodríguez Juliá: 2007, 172. In einem Interview mit Eduardo San José Vázquez spricht der Autor ebenfalls von einer Trilogie, die er bereits 1978 vollständig beendet habe, aber für den gesamten Zyklus habe er damals keinen Verlegen gefunden, da es sich um eine sehr schwierige, komplexe Trilogie handle (San José Vázquez/Rodríguez Juliá: 2007, 16) 61 Ortega/Rodríguez Juliá: 1991, 152. 62 Rodríguez Juliá: 2006, 49.

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ño Avilés (1984), José Campeche o los diablejos de la melancolía (1986), El camino de Yyaloide (1994).63 Für eine solche Lesart spricht zudem der überaus aufschlussreiche Untertitel der ersten Chronik, der da heißt: La renuncia del héroe Baltasar. Conferencias pronunciadas por Alejandro Cadalso en el ateneo puertorriqueño, del 4 al 10 de enero de 1938. Der hier eingeführte fingierte Akademiker Alejandro Cadalso taucht ebenfalls als Herausgeber der Chronik La noche oscura del Niño Avilés auf. Rodríguez Juliá installiert auf diese Weise neben der inhaltlichen eine metanarrative Engführung, die die Texte intratextuell miteinander verschränkt. Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung stehen jedoch die beiden Texte La noche oscura del Niño Avilés und El camino de Yyaloide, die in der Regel unter dem Titel Crónica de Nueva Venecia zusammengefasst werden. Ich werte aber La renuncia del héroe Baltasar als eine Art Vorspann zur Trilogie, da er wesentliche Themen der Crónica vorwegnimmt. Daher sei an dieser Stelle ein kurzer Blick auf diesen Text erlaubt. La renuncia del héroe Baltasar erzählt die Geschichte des Bischofs Larra, dem Vorgänger von Trespalacios, und von dem Aufstieg des Schwarzen Baltasar Montañez – Sohn eines Anführers einer fiktiven Sklavenrevolte des Jahres 1734 –, in die Sklavenhaltergesellschaft Puerto Ricos des 18. Jahrhunderts. Sein gesellschaftlicher Aufstieg gelingt ihm durch die Heirat mit Josefina Prats, Tochter eines weißen Staatssekretärs.64 Die maßgeblich von Bischof Larra initiierte Ehe wird beschrieben als eine »mentira piadosa«65, denn Baltasar Montañez verzichtet als Assimilierter auf das rebellische ›Erbe‹ seines schwarzen Vaters – »aquel valeroso caudillo de los negros revoltosos de 1734«66 – und tritt in die Fußstapfen seines weißen Schwiegervaters: »¿A qué renunciaba Baltasar? En primer lugar, renunciaba a su propia raza, a su propio pueblo. Un negro se casa con la hija del primer dignatario colonial. Significa ello que este desclasado, este intruso tendría que renunciar a su negritud, a la cultura de los barracones – que es trasunto de las antiquísimas culturas de la costa occidental de África – y asumir todas las fórmulas sociales, culturales y religiosas de la ›buena sociedad‹ blanca del Puerto Rico colonial del siglo XVIII. Renunció también a la memoria de su padre, a la obra revolucionaria de aquel Ramón Montañez, capitán de la primera y más feroz revuelta de negros que conoció aquel convulso siglo. […] Baltasar Montañez crearía en los negros la falsa ilusión de la libertad y el tránsito social.«67

Es ist eine Geschichte um Vaterschaft und Genealogie. Vater und Sohn repräsentieren unterschiedliche Strategien des Umgangs mit Fremdherrschaft: Opposition oder Assimilation, Revolte oder Reformation. Sofern es der Untersuchung dient, nehme

63 Martell-Morales (2005, 34) stuft La renuncia del héroe Baltasar ebenfalls als ersten Band der Trilogie ein und La noche oscura del Niño Avilés sowie El camino de Yyaloide als Folgebände. 64 Die Triologie würde dann folgende Titel umfassen: La noche oscura del Niño Avilés, El camino de Yyaloide und den noch unveröffentlichten/apokryphen Band Pandemónium. 65 Rodríguez Juliá: 2006, 57. 66 Ebd., 49. 67 Ebd., 50f.

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ich Auszüge aus der Chronik La renuncia del héroe Baltasar oder des Essays José Campeche o los diablejos de la melancolía erläuternd hinzu. Gleichgültig, ob wir es mit einem zwei- oder mehrbändigen Text zu tun haben, Rodríguez Juliás Crónica ist ein fingierter historiographischer Bericht, eine testimoniale Pseudo-Chronik.68 Julio Ortega verortet den Text gattungsmäßig zwischen »la historiografía barroca, la crónica y el racionalismo utopista«69. Dieses Genre beziehe seine Aktualität aus dem ihm inhärenten »desplegado barroco de apropiaciones e inclusiones«70. Rodríguez Juliás Crónica de Nueva Venecia greift in besonderer Weise die Frage der nationalen Identität auf und thematisiert die Stadt im ausgehenden 18. Jahrhundert als kolonial-militärisch geprägten Raum und zugleich als widerständigen Entfaltungsraum. Die Crónica inszeniert puertoricanischen jíbarismo71 nur am Rande, stattdessen stehen Motive wie Inbesitznahme von Raum, Stadtgründung, Sklavenrevolte und Cimarronada im Vordergrund. Im Mittelpunkt meiner Überlegungen steht das von Rodríguez Juliá postulierte Nueva Venecia, »la anti-plantación«72 oder »la cimarrona«73, ein Palenque autarker Cimarrones mit eigenen Gesetzen, welches in direkter und zugleich nur schwer zu-

68 Camayd-Freixas: 2001. Aníbal González charakterisiert die Texte als »narraciones testimoniales« oder »narraciones pseudohistóricas« (González: 1986, 583 u. 589); Julio Ortega spricht auch von »esta suerte de ucronía« (Ortega: 1991, 65). 69 Ebd., 33. 70 Ortega: 2002, xi. 71 Jíbaro ist eventuell ein vom Taíno abgeleiteter Begriff zur Bezeichnung eines Puertoricaners. Insbesondere in den 1930er Jahren wurde diese kollektive Identitätsfiktion zunächst ausschließlich auf das spanische Erbe zurückgeführt und man stilisierte den jíbaro, den Kleinbauern des Landesinnern, der trotz schwieriger Lebensbedingungen eine im Wesentlichen spanisch tradierte Lebensform verkörpert. Rodríguez Juliá hält im Interview fest, dass es in Puerto Rico keine so großen Ressentiments gegen die spanische Welt gibt: »España prevaleció más en mi mundo que en otros mundos« (San José Vázquez: 2007, 16). Der jíbaro war Träger spanischer bzw. lateinamerikanischer Werte, die es gegen die angelsächsische ›Überfremdung‹ zu verteidigen galt. Eine kritische Erläuterung des jíbaro gibt Shalini Puri: »The symbol of the jíbaro or poor, rural white peasant nationalized a culturally hybrid but whithened Creole identity, symbolically erasing the troubled issues of slavery, black and white racial mixing, and the material claims of black and mulattoes upon the nation« (Puri: 2004, 60). Reinstädler betont die umstrittene ethnische Zugehörigkeit des jíbaro und die ungeklärte etymologische Herkunft des Wortes: »Aus heutiger Sicht erbringt die explizite Rekonstruktion der mestizaje des puertoricanischen Bauern keinen Erkenntnisgewinn, vielmehr muss nun gefragt werden, ob nicht die Bezeichnung jíbaro im 19. Jahrhundert gerade dazu entwickelt wurde, um seine ungewisse, beunruhigend hybride Herkunft zu synthetisieren und mit neuer – genuin puertoricanischer – Identität zu belegen« (Reinstädler: 2010, 154). Dieser Hinweis scheint mir entscheidend, denn mit dem jíbaro wird erstmalig ein harmonisierendes puertoricanisches Selbstbild – zumindest für den subalternen Mann – inszeniert, welches sich aus dem Bewusstsein der Unterlegenheit heraus artikuliert. 72 Benítez Rojo: 1989, 287. 73 Ebd., 295.

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gänglicher Nachbarschaft von San Juan, der ›weißen Stadt‹ mit ihrem Gouverneurssitz, entsteht. Dieses Nueva Venecia verdient eine genauere Untersuchung. 2.3.1 »Prólogo«: Eintritt ins unendliche Palimpsest Eine einheitliche Erzählinstanz wird schon im »Prólogo« der Crónica de Nueva Venecia grundlegend aufgelöst. Dem Topos des zufällig aufgefundenen Manuskripts folgend fingiert der Autor Edgardo Rodríguez Juliá, dass sein Buch von einem Historiker namens Alejandro Cadalso geschrieben sei. Cadalso gibt sich als Nachlassverwalter von zufällig entdeckten Papieren aus, die er in eine mögliche Ordnung gebracht habe. Der mit dem Datum des 9. Oktober 1946 versehene Prolog referiert nicht zufällig auf das Geburtsdatum des realen Autors. Durch die Zeitangabe verknüpft sich die Figur des Autors mit der des fingierten Historikers; die verifizierte Wahrheit koexistiert mit der erfundenen Wahrheit. Der Prolog informiert den Leser darüber, dass die Crónica auf einen Fund aus dem Jahre 1913 zurückgehe, in dem der Archivar Don José Pedreira Murillo zufällig auf diese Dokumente gestoßen sei und die er 1915 unter dem Titel Historia de un descubrimiento (San Juan: Editorial Antillana) herausgegeben habe. Diese Dokumente, die eigentlich alle 1820 absichtlich vernichtet wurden, habe Pedreira in Ruinen infolge der Bombardierung und Belagerung Puerto Ricos durch die Nordamerikaner von 1898 wiederentdeckt. Die von Pedreira entdeckte Crónica de Nueva Venecia werde jedoch von den Historikern als eine »historia apócrifa«74 abgetan, denn sie widerspreche der offiziellen Geschichtsschreibung.75 Der fingierte Historiker Alejandro Cadalso bürgt mittels dieser Verweise wiederkehrend für die Authentizität seiner Quellen. Er wird zum Berichterstatter, der vermeintlich dokumentarisch vorgeht und die Akteure des Geschichte selbst zu Wort kommen lässt. Die Autorinstanz wird auf diese Weise zum Gegenstand unabschließbarer fiktionaler Experimente: Rodríguez Juliá etabliert einen Herausgeber, den Historiker Alejandro Cadalso, der sich seinerseits auf eine Reihe von Chroniken des 18. Jahrhunderts (u.a. auf jene von Don Rafael González Campos) bezieht, die der Archivar Don José Pedreira Murillo 1913 entdeckt haben soll. Wichtig ist, dass der Autor mit dem fingierten Historiker und Archivar bereits gleich zu Beginn zwei Figuren einführt, deren Beruf darin besteht, nachzuforschen, zu sammeln und zu dokumentieren. Die Hervorhebung der historischen Faktizität des Erzählten verfolgt Rodríguez Juliá zudem mit einem besonderen paratextuellen Verfahren, der Einfügung von

74 Rodríguez Juliá: 1991, xi. Die Infragestellung der Authentizität des Berichteten wird wiederum mit einem bibliographischen Verweis dokumentiert. So verweist der Herausgeber, Alejandro Cadalso, auf Tomás Castello Pérez Moris’ fingiertes Buch Historia de un embeleco (San Juan: Editorial La Milagrosa 1920). 75 Das in der Bibel Niedergelegte wurde ebenfalls durch Legenden erweitert, die sich in apokryphen Texten aufgezeichnet finden; ähnlich verhält es sich hier mit der Crónica de Nueva Venecia.

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Fußnoten.76 Mit Hilfe dieser Imitation eines wissenschaftlichen Duktus’ versteht Rodríguez Juliá es, die Lektüre zu steuern und auf das Dokumentarische, ja Zeugnishafte zu lenken. Durch die Vielzahl der Figuren entsteht eine narrative Polyphonie und es entfaltet sich ein Vexierspiel zwischen realer und fiktionaler Welt. Ein uninformierter Leser wäre von der ›Echtheit‹ der Chronik schnell überzeugt. Edgardo Rodríguez Juliá befindet sich mit seinem Kunstgriff der fingierten Historiographie und Autorenhybris in bester Gesellschaft. Cervantes’ Don Quijote, José Cadalsos Cartas marruecas (1789) – das bekannteste fiktionale Prosawerk der spanischen Aufklärung77 –, Miguel de Unamunos Niebla oder Jorge Luis Borges’ Pierre Ménard verfahren in ähnlicher Manier. Untermauert wird die historische ›Faktizität‹ durch zahlreiche Nennungen konkreter historischer Personen: José Campeche (17511809), Luis Paret y Alcázar (1746-1799), Admiral Nelson (1758-1805), Trespalacios (Bischof von Puerto Rico von 1784-89, gest. 1799), Ramón de Castro y Gutiérrez (Gouverneur 1795-1804) sowie der Niño Avilés selbst (geb. 1806). Alle anderen Figuren sind fiktiv und haben allegorischen Charakter: Bischof Larra, die Cimarrones Obatal und Mitume, El Renegado, der Chronist Gracián, der fingierte Historiker Cadalso oder der Archivar Pedreira aus dem Prolog oder Campeches Neffe Silvestre Andino.78 Die im Prolog fingierten Quellen, die wiedergefundenen Chroniken und ein Triptychon der Stadt79 von Silvestre Andino, angeblicher Neffe des Malers José Campeche, erlauben die Rekonstruktion der Geschichte einer auf Wasser erbauten Stadt, die 1797 von einem »canónigo heterodoxo y protegido de los Obispos Larra y Trespalacios«80, eben dem Niño Avilés, errichtet wurde. Die doppelte Charakterisierung des Kindes Avilés als andersgläubiger Kanoniker ist von vorneherein ein Widerspruch und lässt vermuten, dass es sich um eine schizophrene Existenz handelt. Auf die Frage, warum die Erinnerung an diese Stadt getilgt wurde, erwidert der fingierte Historiker im Prolog:

76 Dazu wird z.B. der angebliche Augenzeugenbericht Great Naval Occasions of the Middle Seas des englischen Kommandanten Samuel Wright herangezogen, der an der Zerstörung von Nueva Venecia 1799 beteiligt gewesen sein soll. 77 Die Cartas marruecas stehen in der Tradition der Lettres persanes von Montesquieu (1721). Cadalso ging es in seiner spanischen Antwort auf die Lettres persanes auch darum, der »leyenda negra«, dem negativen Bild eines rückständigen und dekadenten Spaniens, entgegenzutreten. 78 Ich konnte keinen Neffen des Malers ausfindig machen. Auch Camayd-Freixas geht davon aus, dass diese Figur reine Fiktion ist, er schließt aber nicht ganz aus, dass Andino ein Sohn von Campeches Schwager gewesen sein könnte, vgl. Camayd-Freixas: 2001, 188. 79 Mit dem Hinweis, dass es sich um ein Triptychon handeln soll, legt Rodríguez Juliá eine Spur zu Boschs Triptychon Garten der Lüste. Denn die Interpretation von Boschs mittlerer Tafel ist genauso ambivalent wie die Einschätzung von Nueva Venecia. Für einige Exegeten ist es eine Darstellung des Paradieses, für andere eine der Unzucht. Beide Interpretationsansätze – Erlösung und Sünde, Traum und Alptraum, Verheißung und Apokalypse – schließen einander aus; womöglich ist die Darstellung unauflösbar ambivalent, vgl. Vandenbroeck: 2001, 102. 80 Rodríguez Juliá: 1991.

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»¿Por qué la historiografía oficial pretendió borrar de la memoria histórica el recuerdo de aquella ›muy maldita ciudad lacustre‹? Como partidario de esta ciudad invisible que redime nuestra historia y fundamenta nuestra esperanza, ofreceré una explicación que por evidente ha escapado a la ya notoria miopía de los colegas opositores. Nueva Venecia desaparece de la historiografía por decisión de las autoridades coloniales del siglo pasado. La presencia de aquella ciudad libertaria y utópica en la memoria colectiva, debió resultar inquietante para un régimen español amenazado por el esfuerzo libertador de Bolívar.«81

Bezeichnend ist, dass sich diese Gegen-Stadt im Dickicht der die Hauptstadt San Juan umgrenzenden Mangroven entwickelt. Nueva Venecia ist eine Stadt ohne Wurzeln; eine »ciudad trashumante«82, eine von Kanälen durchzogene Rhizom-Stadt. Das Bild der Randständigkeit ist in diesem Kontext wichtig, da Autonomie sich nur an den Rändern entwickeln konnte.83 Entgegen der Ankündigung im Prolog, vollzieht sich im ersten Teil des Zyklus’ jedoch keine Gründung von Nueva Venecia. Stattdessen handelt er von »el reino negro«84, von »el Reino de las Quimbambas«85 und von »el jardín de Yyaloide, tierra de dioses benignos«86. Nueva Venecia fungiert als aufgeschobenes Moment in der Geschichte Puerto Ricos. Der Prolog endet mit den Worten: »¿Existió Nueva Venecia? Ahora le corresponde al lector otorgar su fallo, resolver tan largo litigio, contemplar este tríptico infinito y desolado.«87 Nueva Venecia bleibt »a place of desire, a couldhave-been«88. Ein barockes Spiel zwischen Sein und Schein, Traum und Wirklichkeit, Ideal und Realität findet hier seinen literarischen Ausdruck. Nueva Venecia kommt von Anfang an als eine Art Ellipse daher, als Platzhalter des verpassten kollektiven Widerstands gegen die spanische (und us-amerikanische) Kolonialmacht. Der Prolog der Crónica de la Nueva Venecia mit seiner Anspielung auf das Triptychon, seinen zahlreichen Zitateinschüben, Datumsangaben und bibliographischen Verweisen im Text soll die Herkunft der Chroniken sowie deren problematische Rezeption darlegen und so die Authentizität des Berichteten bezeugen. Gleichzeitig verschiebt die Crónica unaufhörlich die postulierte revolutionäre Stadtgründung. Ein

81 Ebd., xii. 82 In einem Essay zu »Novela, crónica y ciudad« spricht Rodríguez Juliá von der »wandernden Stadt«: »En mi novela juvenil La noche oscura del Niño Avilés se gesticuló la metáfora de una ›ciudad trashumante‹, que transcurre a través de la calles de la ciudad histórica« (Rodríguez Juliá: o.J., 4). 83 Rodríguez Juliá sagt dazu in einem paratextuellen Text, in einem Interview: »Puerto Rico nació de la marginalidad del contrabando y de la debilidad del estado español sobre nuestro suelo. Esa visión autárquica y anarquizante […] – es lo que ha llamado Quintero Rivera […] la ›cimarronada blanca‹ – […] me sigue fascinando como explicación de nuestra historia, como comienzo de una historiografía que explique, ¡de verdad!, nuestra aversión a la ›independencia nacional‹« (Ortega/Rodríguez Juliá: 1991, 153). 84 Rodríguez Juliá: 1991, 43ff. 85 Ebd., 99ff. 86 Ebd., 193.. 87 Ebd., xvii. 88 Camayd-Freixas: 2001, 181.

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Kennzeichen von Nueva Venecia scheint im ständigen Aufschub zu liegen. Doch worum geht es dann? Was und wie wird erzählt? Um eine erste Idee vom weiteren Aufbau der Crónica zu bekommen, möchte ich an dieser Stelle einen kurzen Einblick geben. Der erste Teil der Chronik, La noche oscura del Niño Avilés, beginnt im Jahr 1797 mit einer Überfahrt des Malers José Campeche nach Nueva Venecia und geht retrospektiv bis in das Jahr 1772 zurück, in die Zeit, wo der Niño Avilés an der Küste Puerto Ricos aufgefunden wird. Das erste Kapitel der Chronik mit dem Titel »Un viaje a los caños« datiert die Gründung von Nueva Venecia auf den 3. August 1797. Durch Campeches fingiertes Diario de la muy apoteósica fundación de Nueve Venecia erfährt der Leser von der Überfahrt und der wundersamen Rettung des Niño Avilés, der als einziger das Schiffsunglück der Fregatte Felipe II in der Nähe des Strandes von Isla Verde überlebt. Das Kind kommt zunächst in die Obhut des Bischofs Larra. Im Anschluss wird aus der Sicht verschiedener Chronisten über einen Sklavenaufstand berichtet. Ziel des Aufstandes ist es den Plaza de San Juan (mit seinen Festungen El Morro und Castillo de San Cristóbal), also einen konkreten geographischen Raum zu besetzen, was mehrere kriegerische Auseinandersetzungen auslöst. Diese Aushandlungen verschiedener Gemeinschaften zeigen einen Augenblick puertoricanischer pre-nación. Der erste Kampf verläuft zwischen den Truppen des spanischen Bischofs Trespalacios und den Garden des ›dämonischen‹ Bischofs Larra unter der Führung des schwarzen Rebellen Obatal. Der zweite Kampf ereignet sich zwischen Obatals Truppen und denen seines schwarzen Konkurrenten Mitume. Mitume, ein ehemaliger »esclavo capataz«89 – als ›Vorarbeiter‹ nahm er schon früher eine Mittlerrolle zwischen Herr und Sklave ein –, war einst der zweite Mann nach Obatal, doch nach einem Zerwürfnis wurden sie zu Gegenspielern. Der letzte Kampf vollzieht sich dann zwischen den Truppen Mitumes und denen des Bischofs Trespalacios und endet in einem Massaker an den schwarzen Rebellen. Die Figur des Niño Avilés wird dabei fortwährend von allen Seiten instrumentalisiert: Den einen dient er als Dämon, den anderen als neuer Messias. In La noche oscura del Niño Avilés wandert er als eine Art Trophäe von Larra über Obatal zu Mitume und schließlich zu Trespalacios, der ihn am 24. Dezember taufen lässt und ihn damit in die Nachfolge Jesus’ setzt. Die fiktive Taufe des Niño Avilés steht im Kontext einer realen Begebenheit: 1808 wurde der Künstler José Campeche von der Kirche, konkret von dem ersten ›nativen‹ Bischof Puerto Ricos (Juan Alejo de Arizmendi de la Torre, 1803-1814) beauftragt, ein zweijähriges missgebildetes Kind zu porträtieren, was kurz zuvor getauft worden war: So entstand das eindrückliche Bild El Niño Juan Pantaleón Avilés de Luna Alvarado (1808), welches Rodríguez Juliá als Umschlagbild zu seinem Roman La noche oscura del Niño Avilés dient. In seiner Deutung des Bildes wird das Kind zur Allegorie des Leidens des Volkes: »Resulta curioso que el pueblo, casi ausente de la pintura de Campeche, estalle en el retrato de Avilés.«90 Die reale, bildlich festgehaltene Missbildung taucht in Rodríguez Juliás

89 Rodríguez Juliá: 1991, 120. 90 Rodríguez Juliá: 1986b, 123.

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Crónica91 nur als düstere Vision des Bischofs Trespalacios auf: »Anoche mismo soñé que el Niño Avilés crecía mucho hasta hacerse hombre; pero a medida que crecía sus miembros se achicaban, encogiéndose hasta desaparecer, quedando el pobre muy tullido, imposibilitado de caminar o coger cosas, pues era hombre que sólo tenía tronco.«92 Innerhalb des sehr heterogenen »tejido de crónicas«93 wechseln die Erzählperspektiven fortwährend. Es finden sich Auszüge aus den geheimen Tagebüchern der Bischöfe Larra und Trespalacios, apokryphe Manuskripte des Chronisten Julián Flores, »El Renegado«, Sympathisant der causa negra, und des Chronisten Gracián, Sekretär des Bischofs Trespalacios.94 Die Geschehnisse werden überwiegend aus Sicht der beiden antagonistischen Chronisten berichtet: Zum einen aus der Perspektive von Gracián, dem Sekretär des spanischen Bischofs Don Felipe José de Trespalacios y Verdeja. Gracián ist zum einen vergleichbar mit dem realen Fray Abbad y Lasierra, Autor der Historia geográfica, civil y natural de la isla de San Juan Bautista de Puerto Rico (1788). Dieser war 1771 nach Puerto Rico gereist und kommentierte in aufklärerischer Manier Geschehnisse zwischen 1493 und 1776.95 Und zum anderen verweist der Name Gracián auf Baltasar Gracián, dem Autor des kritisch-desillusionierenden, allegorischen Romans El Criticón (1651-57), der in El camino de Yyaloide explizit, wenn auch leicht modifiziert, zitiert wird: »Gracián está ausente; posiblemente estaría escribiendo en su Cronicón.«96 Gracián ist einer der großen Autoren der spanischen Barockliteratur. Sein Criticón behandelt ähnliche Themen wie Rodríguez Juliás Crónica: Schiffbruch, Suche nach Glück, Frau und Mutter, Vater-Sohn-Beziehung, ungeklärte Herkunft, (Bildungs-)Reise der männlichen Protagonisten, Beginn und Ende des Criticón spielen sich auf einer Insel ab. Aber anders als in der Crónica de Nueva Venecia verfolgt die elliptische Konstruktion des Criticón mit der Verzögerung spannungslösender Informationen ein klares Handlungsziel. Der Endpunkt dieser Lebens- und Euro-

91 Ramón Soto-Crespo nennt den Roman »one of the most outrageous narratives ever written about a classical painting« (Soto-Crespo: 2002, 451). 92 Rodríguez Juliá: 1991, 373. 93 González Orozco: 1987, 123. 94 Der argentinische Autor Abelardo Castillo fiktionalisiert in El Evangelio según Van Hutten (1999) ebenfalls ein von den bekannten Bibeltexten abweichendes apokryphes Evangelium. Doch statt seine Entdeckung bekannt zu machen, zieht sich der Forscher namens Van Hutten in die argentinische Provinz zurück und widmet sich dem Schachspiel. 95 Abbad y Lasierra (1745-1813) kam im Alter von 26 Jahren als persönlicher Sekretär des Bischofs Manuel Jiménez Pérez auf die Insel und blieb bis 1778. 1788, zehn Jahre nachdem er Puerto Rico verlassen hatte, veröffentlichte er die erste umfassende Geschichte Puerto Ricos unter dem o.g. Titel. Zu den Themen gehören die Festungen von San Juan, die ›Sitten‹ der Taínos sowie Geschichte, Gesellschaft, Kleidung, Flora, Fauna, sozioökonomischen Besonderheiten, Handel und Landwirtschaft Puerto Ricos. Abbads Buch gilt als vollständigste historische Darstellung der Zeit von 1493 bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. 96 Rodríguez Juliá: 1994a, 21. Der volle Titel heißt Cronicón Satírico, caprichos burlescos a lo criollo (ebd., 20).

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pareise zentriert sich im Criticón in der Stadt Rom – und eben nicht in Venedig; darauf komme ich später zurück. Zum anderen wird in La noche oscura del Niño Avilés aus der Sicht von Julián Flores, alias El Renegado, »cronista criollo simpatizante de la causa negra«97 erzählt. Während der zahlreichen Kämpfe wechselt die Perspektive des Chronisten El Renegado: Zunächst berichtet er aus der Sicht von Obatal, später aus der Sicht von Mitume, wobei immer wieder angedeutet wird, dass er sogar als Spion von Trespalacios bei Obatal eingesetzt worden sei.98 El Renegado ist neben dem Niño Avilés die ambivalenteste Figur, eine Art Doppelagent, der beide Seiten des Befreiungskrieges bespitzelt und der unentwegt neue Loyalitäten aufbaut (Obatals Bote, Mitumes Gefährte und Trespalacios’ Spion). El Renegado scheint mir eine männliche Version der Malinche zu sein, denn bei beiden Figuren geht es um die Frage von Verrat und Loyalität. Ferner tauchen zahlreiche weitere Chronisten auf und Auszüge aus deren Niederschriften. Diese Vielzahl der Stimmen kennzeichnet Rodríguez Juliás Erzähltechnik. Sie erlaubt eine mosaikförmige Perspektivierung des Geschehens und damit eine Dialogizität verschiedener Weltsichten. Im letzten Drittel des Buches, nach dem Tod von El Renegado, wird bspw. nahezu ausschließlich aus der Sicht des Chronisten Gracián berichtet. Diese offizielle Geschichtsschreibung wird jedoch gebrochen durch Auszüge aus dem inoffiziellen Tagebuch des Bischofs Trespalacios und durch apokryphe Manuskripte des El Renegado. Der Roman lässt Gleichzeitigkeiten im Erzählen zu und löst traditionelle chronologische Strukturen auf. Zudem unterstreicht die komplizierte Montage von unterschiedlichen Erzählinstanzen nicht nur einen spielerischen Umgang mit Geschichte, sondern auch eine experimentelle Schreibweise, die auch als »Reportagenstil«99 bezeichnet wird. So erfahren wir bspw. von der Rettung des Kindes nicht nur durch das Diario des Malers Campeche, sondern auch durch eine weitere Noticia: »Severino Pedrosa, primer cronista del Cabildo, acudió prontamente al frustrado socorro. Nos narra en su Noticia verdadera del muy famoso rescate del Niño Avilés: »Doy fe que a hora de medianoche entró a la ciudad, con grande vocerío, un negro llamado Marcos Fogón, forzudo mollete que tenía de oficio bajar cocos en el palmar de Boca Cangrejos […].«100

Mit wortgetreuen oder fiktiven Zitaten aus apokryphen Dokumenten, oft als kaum merklicher Einschub in den Text eingelassen, oszilliert der Roman zwischen Pastiche, Plagiat und Parodie. La noche oscura del Niño Avilés radikalisiert das Konzept

97

Rodríguez Juliá: 1991, 44. Julián Flores steht analog zu dem realen Soziologen und Pedreira-Kritiker Juan Flores. Flores’ Essay »The Insular Vision: Pedreira and the Puerto Rican Misère« (1993) widersetzt sich entschieden Pedreiras hispanozentrischer Sicht auf Puerto Rico. 98 Vgl. Rodríguez Juliá: 1991, 244, 264, 288. 99 Ingenschay: 2002b, S. 441. 100 Rodríguez Juliá: 1991, 6.

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der Historiographic Metafiction.101 Die permanente Spiegelung von Chronik, Fiktion und Metafiktion erzeugt eine »ludic plausibility«102. Es gibt zahlreiche Korrespondenzen zwischen Geschichte und Fiktion, d.h. die fiktiven Chroniken haben teils einen authentischen Hintergrund, wenn auch nicht unbedingt übereinstimmend in Raum und Zeit. Die historische Wirklichkeit löst sich auf in einem dissonanten Konzert der Stimmen und Diskurse und kulminiert in einem barocken Wechselspiel von engaño und desengaño. Aufgrund des verpassten kollektiven Widerstands – zumindest in der offiziellen Historiographie – ergreift Edgardo Rodríguez Juliá in der Fiktion eindeutig Partei für »la causa negra«103 der Cimarrones. Er weist ihnen eine Stimme und einen utopischen Ort, Nueva Venecia, zu. Diese Parteinahme entspricht dem für die nueva novela histórica charakteristischen Verfahren der sinnstiftenden Fiktion. Diese bedeutungsstiftende Fiktion zeige ich mittels verschiedener Lesarten der titelgebenden Stadt Nueva Venecia. 2.3.2 Nueva Venecia vs. Rom Gerade die reale europäische Lagunenstadt Venedig, eine Insel sui generis, mit ihrer einzigartigen geographischen Lage, auf Wasser erbaut, von Kanälen durchzogen, sozusagen eine Rhizom-Stadt ohne Wurzeln, hatte bis 1797 als Republik eine politische Sonderstellung. Sie wurde im 18. Jahrhundert im Gegensatz zu Rom als freie, libertine Stadt wahrgenommen. Venedig funktioniert bis heute »als gesellschaftlicher Raum völlig anders als die übrigen europäischen Städte«,104 denn die gewohnten räumlichen Verhältnisse werden auf den Kopf gestellt. Venedig ist die »Stadt des Karnevals – immer auch bewusste Inszenierung von Alterität«105. Venedig fungierte gerade im 18. Jahrhundert als entgrenzte Bühne, denn das ganze Jahr über konnten die Menschen in Venedig überall maskiert hingehen. Hinter der Maske vermischten sich Stände, Personen und Geschlechter. Venedig ist also eine Stadt, die eine andere Wirklichkeit zulässt. Amthor nennt sie eine »Heterotopie für die europäische Kultur« und Dieterle spricht von der »versunkenen Stadt«, die stets vom Verschwinden bedroht sei.106 Ähnlich verhält es sich mit Nueva Venecia, wobei bereits im Prolog der Crónica die Ambivalenz dieser Stadt hervorgehoben wird: »[…] ámbito de la exaltación religiosa y el desenfreno sensual, sitio de Dios y el demonio, encrucijada de Sodoma y Nueva Jerusalén. […] Aquel ámbito provoca asombro y espanto; su

101 Das Konzept der Historiographic Metafiction ist vergleichbar mit dem der nueva novela histórica, gemeint sind damit »novels that are intensely self-reflective but that also both re-introduce historical context into metafiction and problemitize the entire question of historical knowledge« (Hutcheon: 1987, 285f.). 102 Camayd-Freixas: 2001, 174. 103 Rodríguez Juliá: 1991, 44. 104 Amthor: 2009, 2. 105 Ebd. 106 Vgl. Dieterle: 1995.

274 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN signo es angelical y demoníaco. Quizás el olvido que lo borró de la historia pretendió aliviar nuestra conciencia, quitándole la tristeza de una visión tan magnífica como perturbadora.«107

Über die zentrale Vision, nämlich Nueva Venecia, gibt es zwei grundverschiedene Deutungen. Zum einen jene von Alejandro Cadalso, der darin eine »ciudad libertaria y utópica« sieht, »donde el Avilés pretendió fundar la libertad«108. Und zum anderen gibt es die Einschätzung des kreolischen Bürgertums, für die Nueva Venecia eine Utopie der Dekadenz ist, eine »ciudad maldita«109 : »[…] la ciudad de la prostitución y los extraños cultos dionisíacos, el Pandemónium de las herejías y exaltaciones demoníacas, zahúrda donde florecían ensueños y delirios, mercado de yerbas alucinógenas y comunidades imposibles.«110 Es ist ein alter Topos, dass die Stadt häufig im Kontext von Verderbnis steht.111 Erinnert sei nur an Babylon, das bekanntlich als Epitheton das sündhafte Wesen großer Städte (›Sündenbabel‹) repräsentiert. Erhalten habe sich die Erinnerung an diese vermeintlich »desaforada visión utópica«112 vor allem in seiner dunklen, dämonischen und alptraumhaften Gestalt als »ciudad luciferina«113 oder »muy maldita ciudad lacustre«114: »Lo cierto es que Nueva Venecia también desapareció de la memoria colectiva del pueblo, ya para siempre desterrada al olvido, convertido su recuerdo en pesadilla de la historia, borrada de libros y canciones su breve posadura en el tiempo. Nueva Venecia se convertía así en oscuro reverso de nuestra pacífica y respetable historia colonial. Era el miedo agazapado tanto en el colono como en el colonizado, el riesgo inherente a todo esfuerzo libertario, el peligro implícito en cualquier dominación.«115

Camayd-Freixas deutet Nueva Venecia als narrativierte Libido der Geschichte: »the purpose of this novel-city is the liberation of our repressed historical unconscious, to tell not the history of deeds but of desires undone.«116 Die Stadt liest sich als Palimpsest, deren ›ursprüngliches‹ Begehren, nämlich der Widerstand, unter dem Asphalt weiterlebt: »Nueva Venecia is the libidinal archaeology of modern metropolitan San Juan, an incisive commentary on the city’s contradictory fusion of discipline and desire, of Catholic repression

107 Rodríguez Juliá: 1991, x. 108 Ebd., xii. Anders formuliert: »La ciudad lacustre es la magnificencia del deseo, es la tierra prometida« (González Orozco: 1987, 126), vgl. auch González, Aníbal: 1986, 586. 109 Rodríguez Juliá: 1991, ix. Es wird gar von einer freimaurerhaften Ausgeburt, einem »engendro masónico« (ebd., xvi) gesprochen. 110 Ebd., xiii. 111 Vgl. Frenzel: 1999, 667. 112 Rodríguez Juliá: 1991, xv. 113 Ebd., xiv. 114 Ebd., xii. 115 Ebd., xiii, Herv. N.U. 116 Camayd-Freixas: 2001, 174.

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and sexual liberation. [...] Nueva Venecia must exist, still today, under the cobblestones, the asphalt, the concrete, for what it really is, the liminal, libidinal San Juna.«117

Für diese Lesart sprechen auch die zahlreichen Anachronismen durch die Überlagerung von altertümlicher Sprache und modernem Slang. Einerseits treffen wir auf die Rhetorik kolonialer Chroniken, andererseits finden sich wiederholt Ausdrücke und Redewendungen des puertoricanischen Straßenjargons des 20. Jahrhunderts wie »echar el bofe«, »galán/galano«, »darse un pase«,118 oder auch anachronistische Schimpfwörtern wie »¡hijo de puta!«, »¡cabronazo!«, »¡cara de culo!«119. Eine solche »Poetik des Vulgären«120 wird durch die karikatureske Verzerrung des pausenlosen Drogenrausches der Figuren noch gesteigert.121 Geschichte ist für Rodríguez Juliá auch ein kritischer Spiegel der Gegenwart. Die titelgebende Stadt Nueva Venecia steht nicht nur in Verbindung mit der konkreten Stadt Venedig und stellt somit einen Gegenentwurf zur Vatikanstadt Rom dar, sondern lässt sich zudem als Verknüpfung spezifischer Utopien bzw. Heterotopien lesen. Die Crónica verortet mit ihren angebotenen Heterotopien verschiedene imaginierte Gemeinschaften. Sie bietet literarische Verortungen sowohl für die schwarze Gemeinschaft (symbolisiert u.a. durch das reino africano oder durch Obatals ciudad de sol), für die spanische Gemeinschaft (symbolisiert u.a. durch Trespalacios ciudad de Dios), für die kreolische Gemeinschaft (das Arkadien des Pepe Díaz) als auch für die ›indigene‹ Gemeinschaft (symbolisiert durch »la indiana« im arkadischen Yyaloide im zweiten Teil der Chronik). 2.3.3 Nueva Venecia als Utopie und Heterotopie Michel Foucault definiert Utopien in »Des espaces autres« als grundsätzlich irreale Räume; in der Regel handelt es sich dabei um perfektionierte Gesellschaften.122 In Abgrenzung zur Utopie führt Foucault den Begriff der Heterotopie ein:

117 118 119 120 121

Ebd., 184-186. Vgl. González, Aníbal: 1986, 585. Ebd., 31. Gewecke: 1997, 13. Grotesk wirkt auch die Anordnung des Gebrauchs von Kondomen durch den Bischof Trespalacios beim Verkehr seiner Männer mit Prostituierten, auch wenn die Verwendung von Kondomen aus Tierdärmen, insbesondere aus Schafsdarm, zur Infektions- und Empfängnisverhütung zu jener Zeit durchaus üblich war. Da der Bischof das »santísimo tribunal de la inquisición venérea« (Rodríguez Juliá: 1991, 198) repräsentiert, lässt er zudem die Frauen auf Geschlechtskrankheiten untersuchen: »Hizo, el muy diablo, que cada una de las tres mujeres se abriera de coño sobre un banquillo que a tal propósito hizo colocar bajo el toldo de su tienda. [...] Don José ordenó colocar, frente a la casa de los placeres, unas muy grandes bandejas atiborradas de condones [...]. A mí me tocó comprobar la calidad de aquellos condones, y los probé sin reserva alguna, ya que eran de tripa de cordero, los más resistentes a la furia del loco amor« (ebd., 198f). 122 Vgl. Foucault: 1994, 755.

276 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN »Il y a […] des lieux réels, des lieux effectifs, des lieux qui sont dessinés dans l’institution même de la société, et qui sont des sortes de contre-emplacements, sortes d’utopies effectivement réalisées dans lesquelles […] tous les autres emplacements réels que l’on peut trouver à l’intérieur de la culture sont à la fois représentés, contestés et inversés, des sortes de lieux qui sont hors de tous les lieux, bien que pourtant ils soient effectivement localisables.«123

Heterotopien, so genannte »contre-espaces«, »lieux réels hors de tous les lieux«,124 sind real konstruierte, aber ausgegrenzte Gegenentwürfe inmitten einer gesellschaftlichen Ordnung. Eingebunden in den relationalen Raum macht die Heterotopie die Ordnung und Funktionsweise des umgebenden Raumes sichtbar und bewusst.125 Nueva Venecia ist solch eine textuelle Heterotopie, die den Blick auf die Abgründe der Geschichte freigibt: »Los distintos espacios narrativos se vuelven pesadillas de la Historia, momentos nocturnos, oníricos, saturninos, cuyas extrañas imágenes nos revelan paisajes jamás vistos de esa vigilia que llamamos Historia con h mayúscula.«126 Wenn die Gemeinschaft der Sans papiers, so Gisela Febel, aktuell »ein[en] Sammelraum für illegale oder halblegale Existenzen und vielkulturelle Einwanderer«127 bildet, so lässt sich Vergleichbares für die Cimarrones von Nueva Venecia sagen. Die ehemaligen Sklaven und andere von den Spaniern Marginalisierte bilden am Rande der urbanen Zone und des ökonomisch bestimmten Raumes »Gesellschaften ›an anderen Orten‹«128. Die Neubesetzung von Nicht-Orten zu Heterotopien, so die Hypothese von Febel,129 könne insbesondere von »zwangsweise kreolisierten ehemaligen Kolonisierten und [...] migrierenden Menschen« vorgenommen werden; haben sie doch »durch ihre historische Erfahrung des Identitätsverlustes einen gewissen ›Vorteil‹ bei der Bildung von lokalisierten Heterotopien, da sie – oft notgedrungen – bereit sind oder sein müssen, auf einer unsicheren Basis Kreolisierungen und Hybridformen zur Grundlage ihrer Existenz zu machen«130. Bedeutsam ist, dass die Ortung der ideellen Utopie als auch der realisierten Utopie, eben der

123 Ebd., 755f. 124 Foucault: 2005, 41. 125 So betonte schon Michel Foucault die Funktion des Raumes in seinem Konzept der Heterotopie: »La grande hantise qui a obsédé le XIXe siècle a été, on le sait, l’histoire. [...] L’époque actuelle serait peut-être plutôt l’époque de l’espace. Nous sommes à l’époque du simultané, nous sommes à l’époque de la juxtaposition, à l’époque du proche et du lointain, du côté à côté, du dispersé. Nous sommes à un moment où le monde s’éprouve […] moins comme une grande vie qui se développerait à travers le temps que comme un réseau qui relie des points et qui entrecroise son écheveau« (Foucault: 1994, 752). Der Text geht auf einen Vortrag von 1967 zurück, Foucault genehmigte die Veröffentlichung aber erst 1984. 126 Rodríguez Juliá: 2002b, 69, Herv. i.O. 127 Febel: 2009, 190. 128 Ebd. 129 »Der Raum des Nicht-Ortes wird umbesetzt zu einem heterotopen Ort, der subversive Qualitäten hat.« (Ebd.) 130 Ebd., 192.

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Heterotopie, mittels des Spiegels verläuft. Foucault zufolge ermöglicht der Spiegel den ›Schatten‹, das Nicht-Repräsentierte, das Nicht-Sichtbare freizulegen: »[…] et je crois qu’entre les utopies et ces emplacements absolument autres, ces hétérotopies, il y aurait sans doute une sorte d’expérience mixte, mitoyenne, qui serait le miroir. Le miroir, après tout, c’est une utopie, puisque c’est un lieu sans lieu. Dans le miroir, je me vois là où je ne suis pas, dans un espace irréel qui s’ouvre virtuellement derrière la surface, je suis là-bas, là où je ne suis pas, une sorte d’ombre qui me donne à moi-même ma propre visibilité, qui me permet de me regarder là où je suis absent: utopie du miroir. Mais c’est également une hétérotopie, dans la mesure où le miroir existe réellement, et où il a, sur la place que j’occupe, une sorte d’effet en retour […].«131

Aurea María Sotomayor charakterisiert Rodríguez Juliás Schreibweise auch als »escribir la mirada«, in Anlehnung an Foucaults Interpretation von Velázquez’ Las meninas.132 Die Thematisierung des Blicks, der Spiegelbilder, der Imitationen, hier allegorisch umgesetzt in Bildern reflektierender Luft- und Wasserräume, belebt von Engeln oder Dämonen, zielt auf die zentrale Frage, wie funktioniert Repräsentation. Weiteres Charakteristikum einer Heterotopie ist zudem deren Heterochronie, sprich die Akkumulation von Zeit133: »Les hétérotopies sont liées, le plus souvent, à des découpages du temps, c’est-à-dire qu’elles ouvrent sur ce qu’on pourrait appeler, par pure symétrie, des hétérochronies; l’hétérotopie se met à fonctionner à plein lorsque les hommes se trouvent dans une sorte de rupture absolue avec leur temps traditionnel […].«134 Utz Riese konkretisiert dies in der Formel: »Heterotopien sind Orte, deren Zeit verwirbelt.«135 Ein solch spezifischer Raumentwurf konkretisiert sich in La noche oscura del Niño Avilés in Wasser- oder Luftstädten (Lagunenstadt und Türme, die in den Himmel ragen), in den ciudades arcádicas oder in dem Garten von Yyaloide. Diese Orte werden erst durch den Text, also durch die Kraft des Imaginierens hervorgebracht. Im geheimen Tagebuch des Bischofs Trespalacios liest sich das wie folgt: »Y así digo que lo muy contrario a la ciudad es el exilio, pero, ¡a fe mía!, que éste también tiende a crear una ciudad en las nubes. En el exilio el espacio se hace muy reducido, pues el vagar no es sino la negación continua de un sitio único.«136 Diese Orte als Heterotopien lassen eine mögliche Vergangenheit zu. Wenn Kolonien einst als Kompensationsheterotopien der Zentren fungierten,137 so dient Nueva Venecia als Imaginarium des Widerstandes und ermöglicht die Wiedereinschreibung der Sklaven in die Geschichtsschreibung. Es ist eine Neuerzählung der Geschichte aus Sicht der Unterlegenen. Die identitätsstiftende Praxis des Fingierens oder man könnte auch sagen, die Wiederbelebung eines Imaginären, ist vom Autor bzw. vom

131 Foucault: 1994, 756. 132 Sotomayor: 1992. 133 Foucault (2005, 43-46) nennt als konkrete Heterotopien, die die Zeit immerfort anhäufen z.B. Friedhöfe, Bibliotheken, Archive und Museen. 134 Foucault: 1994, 759. 135 Riese: 1999, 9. 136 Rodríguez Juliá: 1991, 342. 137 Vgl. Foucault: 1994, 761.

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fingierten Herausgeber deutlich intendiert. Wiederkehrend ist von »una visión«,138 »el mito«,139 »una quimera«140 oder »sueño engañoso«141 die Rede. Ein Kritiker hält fest: »Rodríguez Juliá restores the documents which would correspond to the oral myths, legends, dreams, and pornographic nightmares which have never been part of official history.«142 Ganz ähnlich argumentiert Antonio Benítez Rojo, wenn er Nueva Venecia als »una confederación de estados cimarrones«143 charakterisiert: »Es precisamente la representación irrepresentable de esta ciudad ›otra‹, imaginada como una urbe barroca, laberíntica, promiscua, monstruosa, libre y cautiva, libertina y torturada, invisible y estante, fugitiva y ahí, lo que ha fundado el Niño Avilés con el nombre de Nueva Venecia.«144 Nueva Venecia dient dem nicht-dokumentierten Widerstand: »No exagero, en la última década del siglo XVIII ocurrieron rebeliones de esclavos y fugas masivas literalmente en casi todas las islas y costas de la zona. Se diría que hubo una descomunal conspiración, de la cual la Revolución Haitiana fue sólo una parte, la parte que triunfó visiblemente.«145 Rodríguez Juliá bewegt sich zwischen dem Anspruch einer neuen Geschichtsschreibung und dem Vorwurf einer neuen Mystifizierung, denn seine Crónica funktioniert als Literatur auf zweiter Stufe.146 Sie ist subversive Fortschreibung des überlieferten Textes Historia geográfica, civil y natural de la isla de San Juan Bautista de Puerto Rico (1788) von Iñigo Abbad y Lasierra. Diese Chronik, welche auf der Folie einer Ilustración católica entstand, gilt bis heute als einer der puertoricanischen Gründungstexte147 und unterliegt der Crónica de Nueva Venecia als Palimpsest. Rodríguez Juliás Chronik liest sich als sein paraphrasierender Gegenentwurf, als ein »acto de fundación del Otro«148. Die beiden Texte unterscheiden sich insbesondere in ihrer Wahrnehmungs- und Schreibweise: Abbads positivistische Historia sei eine »obra típica de su siglo [...] precisa y ordenada prosa neoclásica«, Rodríguez Juliás Text hingegen zeichne sich durch »el desfachatado y a ratos demencial barroquismo de su lenguaje«149 aus. Das Spannungsverhältnis, in dem beide Chroniken zueinander stehen, zeigt deutlich, dass Rodríguez Juliás Text nie eindeutig auf Vorgängiges rekurrieren kann. Einerseits muss stets gegen das Bestehende angeschrieben und andererseits muss gegen das Ausradierte etwas Neues gesetzt werden.

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Rodríguez Juliá: 1991, x. Ebd., xi Ebd., xv. Ebd., 5. Franco: 1989, 209. Benítez Rojo: 1989, 294. Ebd., 295, Herv. N.U. Ebd.: 1989, 294. Vgl. Genette: 1993. Vgl. Benítez Rojo: 1989, 277ff. Zwischen 1959 und 1979 wurde sie allein viermal neu aufgelegt, die aktuellste Ausgabe stammt von 2002. 148 Ebd., 281. 149 Ebd., 279f.

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Rodríguez Juliás literarische Fiktion eröffnet einen Raum, der es einer ›Geisteridentität‹150 überhaupt erst ermöglicht, sich zu situieren, denn »[p]roponer otra historia requiere documentos«151. Mit Geisteridentität ist hier Unterschiedliches gemeint: Zum einen die Sklaven als Subjekte und ihre Geschichte des Widerstands, über die es kaum schriftliche Quellen gibt, also wo eine problematische Zeugenschaft vorliegt, zum anderen aber auch die ›Zombies‹, die lebenden Toten, welche das Gegengewicht zu den entlaufenen, widerständigen Sklaven bilden. Unter ›Zombifikation‹ leiden die Sklaven, die ohnmächtig, ausgeliefert, widerstandslos und identifiziert mit der kolonialen Macht die Fremdherrschaft ertrugen. Edgardo Rodríguez Juliá sitiuert sein Schreiben in Crónica de Nueva Venecia zwischen Utopie und Heterotopie. Die Crónica verlagert dafür zunächst soziale Utopien des 20. Jahrhunderts in den historischen Kontext des ausgehenden 18. Jahrhunderts und füllt somit ein historisches Desiderat. Der Text bewirkt eine nachträgliche Anreicherung der Geschichte um Utopien, die zum damaligen Zeitpunkt nicht (sichtbar) bestanden. Es handelt sich um einen »roman à clef histórico-literario«152, denn die literarische Chronik setzt sich auseinander mit bedeutenden ›Klassikern‹ puertoricanischer Theoriebildung, wie Antonio S. Pedreiras Studie Insularismo. Ensayos de interpretación puertorriqueña (1934), Tomás Blancos Prontuario histórico de Puerto Rico (1935) oder Luis Palés Matos’ Tuntún de pasa y grifería (1937). Die Crónica de Nueva Venecia oszilliert zwischen Pedreiras Bekenntnis zur hispanidad als wesentliches Fundament puertoricanischer Identität153 und den Ideen von Palés Matos, einer der ersten Vertreter des Diepalismo154 und einer poesía negra in Lateinamerika.155 Auch die Würdigung afro-antillanischer Volkskultur bei der Herausbildung puertoricanischer Identität durch die Schriften von José Luis González (El país de cuatro pisos y otros ensayos, 1980)156 finden Eingang in Rodríguez Juliás Chronik.

150 Chamoiseau spricht in Ecrire en pays dominé (1997) von einer »existence-zombie« (183) oder auch von: »Le monde sécrète des boucles de temps immobile où des peuplades sont zombifiées« (155). 151 González, Rubén: 1987, 126. 152 González, Aníbal: 1986, 587, Herv. i.O. 153 Für Pedreira ist die Geschichte Puerto Ricos eigentlich eine rein spanische Geschichte in Übersee. Pedreiras Behauptung, Puerto Rico habe kein Mittelalter und keine Renaissance erlebt und die ersten drei Jahrhunderte der conquista seien blank centuries gewesen, hält der Soziologe Juan Flores für unhaltbar. Zudem orientiere sich Pedreira an dem eurozentristischen Konzept, die ›Zivilisation‹ beginne mit gedruckten Texten. Diesem Blick widersetzt sich Juan Flores Essay »The Insular Vision: Pedreira and the Puerto Rican Misère« (1993). 154 Der wesentliche Programmpunkt des Diepalismo (Poesie der ›Stotterer‹) besteht in der Erfindung und Anwendung onomatopoetischer Wörter und Lautkombinationen. 155 So bilden die fingierten Conferencias pronunciadas por Alejandro Cadalso en el Ateneo Puertorriqueño, del 4 al 10 de Enero de 1938 (so lautet der Untertitel von Rodríguez Juliás erstem Roman La renuncia del héroe Baltasar) auch eine Art mise en abyme der Position der generación del trenta wie sie bspw. in Pedreiras Hispanismus Ausdruck findet. 156 José Luis González setzt der offiziellen Geschichtsschreibung ›von oben‹ eine Interpretation ›von unten‹ entgegen, wobei er besonders dem afro-amerikanischen bzw. afro-

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Die vielfältigen Heterotopien, von Trespalacios’ ciudad de Dios bis hin zu Obatals reino africano, markieren dabei nur zwei Eckpunkte puertoricanischer Identitätsbildung.157 Aufgegriffen wird ebenfalls René Marqués’ Essay »El puertorriqueño dócil. Literatura y realidad psicológica« (1960), der die angebliche docilidad der Puertoricaner und deren Mangel an Selbstvertrauen als kollektiv-psychische Störung diagnostiziert.158 Dieses bereits von den Encyclopédisten und auch von Iñigo Abbad y Lasierra als »tropische Faulheit«159 diagnostizierte Stereotyp parodiert Rodríguez Juliá, indem er die »malditas costumbres de la pareza« mit Pepe Díaz’ Idee einer ciudad arcádica in Verbindung bringt: »Este follón pretende avivar en estos criollos el sueño de la ciudad arcádica, verdadero brebaje que les fortalece la flojera, matándoles la voluntad, haciéndolos indolentes, iracundos y tediosos.«160 Nueva Venecia stellt eine zentrale Utopie dar – »a Utopia glimpsed beyond the nightmare of an as yet unfinished modernity«161 –, doch sie wird nicht realisiert, sondern als visionäre Insel in Anlehnung an Thomas Morus’ karibisch verankertes Utopia (1516), das zwischen Europa und Amerika liegt, angedeutet. Denn mit der Entdeckung der Neuen Welt ereignete sich auch die Erfindung einer neuen Gesellschaft. Sozialen Missständen setzte Morus eine detaillierte Fiktion einer gerechteren, besseren, menschlicheren Gesellschaft entgegen, eine Art »kommunistische UrUtopie«162. In La noche oscura del Niño Avilés ist konkret von Nueva Atlántida163 die

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antillanischen Beitrag zur Herausbildung der puertoricanischen Identität den ihm gebührenden Platz zuweist. Es muss festgehalten werden, dass bspw. der Begriff mulato, welcher für Kuba sehr geläufig ist, in Puerto Rico kaum Anwendung findet. Selbst negro wird häufig ersetzt durch den Euphemismus moreno oder trigueño. Camayd-Freixas (2001, 182) führt das auf das starke »whitening« des nationalen Bewusstseins zurück. Der Begriff der docilidad wurde erstmalig von Pedreira in seinem Buch Insularismo: Ensayos de interpretación puertorriqueña (1934) eingeführt. In dem Eintrag »Caraibes ou Cannibales« in Diderots/d’Alemberts Encyclopédie liest man, die Kariben seien »en général tristes, rêveurs & paresseux, mais d’une bonne constitution, vivant communément un siècle« (Diderot/d’Alembert: 1751-72). Abbad y Lasiera definiert die ›charakterlichen Laster‹ der Indios wie folgt: »La corta cantidad y poca sustancia de los alimentos que usaban, la facilidad que tenían de adquirirlos sin trabajo, el calor excesivo del clima y la falta de cuadrúpedos para ejercitarse en la caza, los constituían flojos, indolentes, enemigos de toda fatiga y de una aversión extremada a todo trabajo; circunstancias que podemos considerar como características de estos isleños. Todo lo que no era satisfacer el hambre ó diverstirse en el baile, caza ó pesca, lo miraban con indiferencia« (2002, 86f, Orthographie i.O.). Und weiter schreibt er im Kapitel »Carácter y diferentes castas de los habitantes de la isla de San Juan de Puerto-Rico«: »el calor del clima los hace indolentes y desidiosos; la fertilidad del país que les facilita los medios de alimentarse los hace desinteresados y hospitalarios con los forasteros; la soledad en que viven en sus casas de campo los acostumbra al silencio y cavilación« (2002, 496). Rodríguez Juliá: 1991, 387, Herv. i.O. Franco: 1989, 212. Traub: 2009, 133.

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Rede; wobei es sicher kein Zufall ist, dass Nueva Atlántida und Niño Avilés mit denselben Buchstaben beginnen. Doch erst einmal treffen wir auf eine Reihe von Heterotopien, die zusammen verschiedene Anteile der auf Transkulturalität basierenden puertoricanischen Identität repräsentieren. Die jeweiligen Heterotopien zielen darauf ab – ähnlich wie Glissants vision prophétique du passé – neben religiösen Verheißungen afrikanische und kreolische Elemente zurückzuerlangen oder hervorzuheben.164 Heterotopien üben ihre Funktion jeweils in Bezug zum übrigen Raum aus. Sie stehen in direktem Austausch mit dem umgebenden Raum, der präsent bleibt, während er in der Utopie verschwindet oder selbst unwirklich wird. 2.3.3.1 Reino africano Im ersten Band der Crónica de Nueva Venecia wird der Leser mit der Ausgestaltung des reino africano vertraut gemacht. Das reino de las quimbambas, welches eine »región secreta«165 dieses Reiches ist, und in welches der Chronist El Renegado von Mitume geführt wird, ähnelt einem sexuellen Eldorado, »verdadero Pandemónium«166, eine Art quartier maudit. Dort regiert ein vorchristliches, vom Gedanken der Sünde befreites Hetärentum. Wie im klassischen Reisebericht erfährt der ›weiße‹ kreolische Mann – denn ein solcher ist El Renegado, weist er doch immer wieder darauf hin, dass er mit seiner hellen Haut ein Sonderling unter den Schwarzen sei (»soy de raza blanca«167) – die Fremde über die Begegnung mit exotischen, schwarzen, wilden und vulgären Frauen, die ihm zur Kurtisane werden. Die Sexualisierung der Fremde, die sich bereits mit dem Beginn des Zeitalters der Entdeckungen als koloniale Traditionslinie herausgebildet hat, in der sich die Vorstellungen vom fremden Raum und vom fremden weiblichen Körper überlagern und in welcher der Reisende (hier der Chronist) ein sexualisiertes Verhältnis zum Raum hat, findet sich auch hier. Spannend ist die Ausgestaltung dieses sexuellen Eldorados als viereckiger Platz mit vier Türmen, die wie Rampen in den Himmel ragen. Um einen Eindruck dieser utopischen Welt zu geben, sei eine längere Textstelle beispielhaft zitiert: »De repente nos encontramos en una plaza iluminada por la alta luna. Cuatro altísimas torres se levantaban a cada lado del cuadrángulo, que éstas se comunicaban por medio de estrechos

163 Rodríguez Juliá: 1991, 410. Der Name referriert natürlich auf Bacons Nova Atlantis (1624), dem Tommaso Campanellas Staatsutopie La città del sole (1602) vorangegangen war. 164 Vgl. González, Aníbal: 1986, 586f. 165 Rodríguez Juliá: 1991, 100. 166 Ebd., 120. 167 Ebd., 45. Einer kurzweiligen ›ethnischen‹ Transformation unterliegt El Renegado in seiner Funktion als Botschafter auf dem Weg zum Mitume, um einen Waffenstillstand zwischen den beiden schwarzen Rebellenführern auszuhandeln. Zunächst von Obatal und später in Yyaloide von der Reina de Africa wird er mit viel Schmuck ausgestattet, der als Insigniumn seiner Macht gelten soll, die er selbst aber eher als Flitterkram wahrnimmt: »me convertía en negro paruro, palabra que en la isla de Martinica significa moreno muy galano y flamboyanto« (ebd., 169).

282 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN puentes, allá, en lo más encumbrado. […] Allí cuando las otras torres terminaban fatigosas su ascensión. Tenía su zócalo el edificio del profeta. A este nido de águilas, ya que no cueva de Leviatán aéreo, se llegaba, me explicó Mitume, cruzando por los arcos construidos desde las azoteas de las torres, verdaderas rampas de los cielos. Según Mitume, en aquella torre vivía y reinaba la corte de Obatal, círculo de reyes y reinas de Africa lejana. Las otras cuatro torres eran los habitáculos de molongos y guardias bravos. […] estas torres que recordaban las de Babel antigua. Aquel recinto quizás pertenecía a pesadilla de la historia; pero lo más extraño era que desde el sitio donde yo estaba podía verse la luna llena, por lo cual era evidente que las torres estaban en este mundo, localizadas allá en la más alta de las muchas plazas que hay en esta fortaleza de San Felipe de Morro. Pero todos estos pensamientos me parecían desatinados, pues bien recordaba haber bajado y no subido, que las rampas y túneles subterráneos gravitaban más hacia el centro mismo del infierno que hacia las regiones etéreas.«168

Merkwürdig mutet die Erklärung Mitumes an, dass die Türme von einem magischen, blinden Ochsen getragen werden: »[...] el buey ciego sostenía todo el edificio oculto de los negros. [...] la ceguera del buey sostenía las cuatro torres gigantescas, y también las rampas y puentes allá en lo alto de los cielos.«169 Die zentrale Figur, Obatal, und seine neuafrikanische Utopie, der labyrinthische Turm von Babel, symbolisieren die schwarze Gemeinschaft. Durch den Chronisten El Renegado erfahren wir mehr über Obatals konkrete Vision: »Obatal tuvo visión postrera: Allá, a lo lejos, sería fundada gran ciudad lacustre que secaría los pantanos. Y ese poblado sería otra pesadilla de la muy veleidosa libertad… […] Obatal fue siempre musarañero de torres y ciudades fantásticas, porque también les toca a los poderosos inmortalizar sus hechos y obras con grandes edificios y monumentos, cautivar en la opresiva morada ese precario aliento de los hombres. […] Y con este discurso rindo mi envío a Obatal, quien fue dueño magnífico y señor de las más aguerridas tropas negras que vieron los ojos del jodido orbe, y me refiero a los molongos, dignísimos hijos de Obataló y Ogún.«170

Obatal – oder auch Obatala genannt – wird hier ausdrücklich in die Tradition afrikanischer Gottheiten, die der Oríchas, gesetzt. Obataló ist der intelligenteste und kreativste der Oríchas. Obatal/a ist auch die Schöpfergottheit der Yoruba, sie verkörpert hohe ethische Werte wie Gerechtigkeit, Weisheit, Klugheit und Großmut. Ogún hingegen ist der Gott des Eisens, sprich des Krieges und Kampfes, und er ist der Waffenschmied der Oríchas, der Kraft und Stärke verleiht. Er steht für Gerechtigkeit; er wird gerufen, um Hindernisse aller Art aus dem Weg zu räumen.171 Die Freiheit kann für Obatal demzufolge nur über die Erinnerung an das afrikanische Erbe zurückerlangt werden: »No había fundado ciudad dorado, sino construido puente a los antiguos reinos de África.«172 Obatal hatte den Niño Avilés beim Sturz

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Ebd., Herv. N.U. Ebd., 111. Ebd., 274f. Vgl. www.orishanetwork.de und http://www.magierin-damona.eu/Weisse_Magie_Schrift stuecke/Voodoo-Grundlagen_Geschichte.html. 172 Rodríguez Juliá: 1991, 127.

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des Bischofs Larra zu Beginn der Geschichte erbeutet. Bereits eine Vision, die der Bischof Larra kurz vor seinem Tod hat, deutet die neue Utopie von Obatal an: »Construir la torre, hincar el aire, es alzar nuestros afanes hacia el mundo espeso. Así nos alejamos de Dios y el hombre. Pero la torre también es anhelo. De la torre sólo está cerca del Dios benigno ese inquieto afán de aliviar el cautiverio.«173 Zugleich wirft El Renegado Obatal vor, statt ein neues Edad del Oro zu begründen, Nekropolis, die Stadt der Toten, zu errichten: »Más que fundación de reino libre, celebraban aquellos prietos grandísima comunidad de muerte.«174 Und tatsächlich, der Sturz des Turmes, welcher von Obatal erbaut wurde, zeigt das Scheitern der Utopie, eine »ciudad del sol«175 zu gründen. Der letzte Kampf zwischen den Truppen des Bischofs Trespalacios und dem schwarzen Rebellenanführer Mitume endet in einem Massaker: »De aquellas pasiones sólo he quedado yo, en el centro de este campo cubierto de cañones rotos, mosquetes a medio disparar, esas picas ensangrentadas, hombres perseguidos por el estruendo, muertos aún sorprendidos por el vacío.«176 Das Scheitern der afrikanischen Utopie erklärt Edgardo Rodríguez Juliá im Interview mit der starken Traumatisierung und der amputierten Memoria: »El resentimiento como resultado de la humillación que implica la pérdida de la memoria, y la extremosa explotación del cuerpo en tanto conversión en objeto (esclavitud), sólo produce efímeros, casi ›orgásmicos‹, espacios de libertad.«177 Ferner bleibt fragwürdig, ob eine Überwindung des babylonischen Schicksals der Sprachen- und Kulturenvielfalt und eine Rückkehr zum paradiesischen Ursprung eines authentischen ›schwarzen‹ Seins möglich und wünschenswert wäre. Festgehalten werden kann, dass die alte Ordnung nach dem Sturz des neuen Turmes von Babel sich nicht genauso wieder herstellen lässt. El reino negro geistert als apokrypher Ort durch die offizielle Geschichtsschreibung. Was bleibt, sind die Geister der Toten – »¡inquietud de muertos es la memoria!«178 –, die Trespalacios unermüdlich heimsuchen. So steht der letzte Teil des ersten Bandes unter dem Vorzeichen eines erbitterten Exorzismus seitens der katholischen Kirche.179 2.3.3.2 Ciudad de Dios Die Eroberung von Puerto Rico, der Krieg gegen die Schwarzen und die nachfolgenden Teufelsaustreibungen werden als legitimes Mittel erachtet, um den europäischchristlichen Missionsgedanken durchzusetzen. Insbesondere der Bischof Trespalacios

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Ebd., 40. Ebd., 128. Ebd., 302. Ebd. Ortega/Rodríguez Juliá: 1991, 156. Rodríguez Juliá: 1991, 302. Im Rahmen unterschiedlichster Obsessionen bereiten die Eroberer auch ihre eigene Eliminierung vor. Zu diesem Ergebnis kommt Guido Rings (2005) in seiner Studie über ambigue Darstellungen von Konquistadoren im neueren spanischen und lateinamerikanischen Roman, in der er nachweist, wie die Eroberer einerseits als Täter und andererseits als Opfer ihrer Habgier und ihrer eigenen Triebe und Obsessionen ihr zivilisatorisches Überlegenheitsdenken selbst destabilisieren.

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mit seinen Truppen symbolisiert die religiöse, spanische Gesellschaftsschicht. Seine ciudad de Dios, New Jerusalem, ist eine hispanische, mediävale, christliche Utopie, nach der es notwendig sei, die Civitas Diaboli zu durchqueren, um schließlich die Stadt der Götter zu erreichen. Eine solche Weltsicht rechtfertige auch Blutvergießen: »Dispensa para avivar o matar la esperanza a sangre y fuego [...].«180 Auch wenn Trespalacios diese Utopie im Himmel lokalisiert, so darf sie sich dennoch nicht wie Obatals Turm materialisieren, denn eine solche Vergegenständlichung wie bei Campanella, Morus oder Bacon sei hochmütig, da sie eine Gleichstellung von Mensch und Gott impliziere. Die Civitas Dei repräsentiere vielmehr eine »[…] ciudad ligera que trepada allá en las nubes es construida con la espesa maldad de los hombres. Esta ciudad de Dios está extendida a lo largo de la humana, aunque también aseguro que se oculta mucho a nuestra vista. Eso es así por esa neblina de maldad que se anida en la voluntad de los hombres, verdadero manto de oscuridad que oculta muy impíamente esta luz que hoy contemplo desde el mesetón del Morro. […] Esta es mi ruta, esta es mi esperanza, que la tierra prometida donde se construirá la ciudad celestial es afán incesante. A fe mía que este anhelo nunca debe alcanzar su espacio definitivo; fijar la esperanza en murado recinto es matarla, que esto hacen las utopías de aquellos impíos tratadistas como Campanella, Tomás de Moro y Bacón.«181

Trespalacios erkennt, dass eine verwirklichte Utopie den Glauben an Gott als obsolet erscheinen lassen würde. Denn nur innerhalb eines wohlgeordneten Universums, das den Menschen unten und Gott oben verortet und den Mensch erst nach der Mühsal seines irdischen Daseins ins göttliche Paradies emporhebt, bleibt die Kirche als Autorität unangetastet. 2.3.3.3 Arcadia jíbara Eine weitere Utopie ist die der ciudades arcádicas bzw. der Arcadia jíbara des Pepe Díaz und seiner Anhänger. Es handelt sich um eine Utopie der Kreolen, welche innerhalb eines »Fragmento de un testimonio anónimo de aquella época, donde se habla de los desafueros de Pepe Díaz«182 Erwähnung findet. Der Mythos Arkadien zielt auf die vollkommene Harmonie von Mensch und Natur. Arkadien wurde gerade zur Barockzeit zu einem Ort des Goldenen Zeitalters erklärt, wo die Menschen unbelastet von mühsamer Arbeit und gesellschaftlichem Anpassungsdruck in einer idyllischen Natur als zufriedene Hirten lebten: »Como la naturaleza es tan abundante, estos criollos se conforman con sobrevivir de los pocos alimentos que cultivan. La tierra nunca los obligó al comercio, tampoco a la fabricación. Si alguna inquietud hay en el criollo, le pertenece al negro que trajo para socorrerle la vagancia. Apenas inventa, aunque es muy dado a topar con un conocimiento rudimentario de la flora, siempre descubriendo en las plantas propiedades más embriagantes que útiles. Aseguro que todo ello hace que el hombre de estas tierras intente restaurar tiempos muy lejanos. Querer la

180 Rodríguez Juliá: 1991, 134. 181 Ebd., 328f. 182 Ebd., 353.

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edad de oro, exaltar de nuevo la arcadia en esta naturaleza magnífica y exuberante, es desatenderse de la maldad, no encarar la extrañeza del mundo, sobre todo, es resentir el estado. Y es que estos criollos no toleran gobierno, ¡ese triste remedio y resultado de aquel mazo de Caín! Pero no conozco gente que más se mate entre sí, que siempre tienen la navaja dispuesta a lo peor. Todos estos vicios encarna el tal Pepe Díaz. […] ¡En él existe aquella añoranza!, la de fundar comunidades libres allá en los montes, ciudades arcádicas rodeadas de escasos cultivos y mucho contrabando, donde la familia y el compadrazgo valen más que la ciudadanía.«183

Die Rückkehr des Goldenen Zeitalters ist hier nicht die Rückkehr zu den afrikanischen Wurzeln, sondern die Abkehr von jeder Form von Staatlichkeit, von religiösen oder gesellschaftlichen Zwängen sowie die Hinwendung zu prämodernen Lebensformen. Es geht um die Suche nach essentialistischen und unberührten Enklaven der Selbstbestimmung. Für den Bischof Trespalacios ist Pepe Díaz’ Wunsch, eine ciudad arcádica zu entwerfen, nichts weiter als ein Rückfall in das Bronzezeitalter: »Sin la ciudad política los hombres serían menos que bestias, ello porque el libertinaje los devolvería a la naturaleza, estancia donde fundarían la discordia y restaurarían la edad de bronce, época aquella en que los hombres prevalecieron por la fuerza.« 184 Nachdem der Bischof die schwarzen Truppen besiegt hat, nimmt er sich schließlich der Kreolen an, um auch ihre Ideen von »colonias libres, ajenas al muy santo y político gobierno de Cristo, única y verdadera lealtad de la Corona de España en estas tierras«185 auszulöschen. Auf einen Garten Eden im Diesseits zu hoffen, ist für Trespalacios Erbsünde: »Y así el pensamiento utópico es la nostalgia arcádica más la experiencia del pecado original, la historia y el estado secular.«186 2.3.3.4 Yyaloide Der »jardín de Yyaloide, tierra de dioses benignos«187, welcher von El Renegado und seiner Reina de África auf dem Weg zu Mitumes Camp im ersten Teil der Crónica durchquert wird, verweist auf sumpfiges, von Wasser umspültes Land: »Me aseguró que Yyaloide quiere decir, en lengua africana, mujer jefe, y esto yo lo interpreté como reina, pues cierto era que mi prieta reinaba en la lejana África. También me dijo que aquel vergel era la tierra de las aguas dulces.«188 Yyaloide ist ein »jardín del olvido«, ein »paraíso fuera del tiempo«189 . So wie der Ochse mit der unsichtbaren Stadt der Türme verbunden ist, so steht das Land von Yyaloide mit Mato, einer gezähmten Seekuh in Verbindung (Kap. XXIII), die eine Inkarnation des rey de África ist.190 Aufklärerische Vernunftprinzipien werden durch solch karnevalesken Mesalliancen völlig gesprengt. Dies mündet in ein fantastisch-groteskes Ambiente, in einen pesa-

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Ebd., Herv. N.U. Ebd., 334, Herv. N.U. Vgl. ebd., 349. Ebd., 350. Ebd., 193. Ebd., 168. Ebd., 182. Ebd., 205. Bischof Larra wird zu Beginn auch als »manatí varado en arena« bzw. »ballena extraviada« (ebd., 11) beschrieben.

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dilla de lo racional. Dieser afrikanische König sei früher der Mann der Reina de África gewesen, er habe sich aber das Leben genommen, »para lograr la libertad ansiada; es creencia de los Ibos que en la muerte hacen travesía de regreso a las tierras de África«191. El Renegado beschreibt die Reina de África als »mi dulce etíope«, »mi chula«,192 »mi negra, flor del trópico, reina de toda África y gobernadora del pequeño vergel de Yyaloide«193, »mi diabilla de caramelo«, »mi valiente bruja«194. Die erotische Begegnung mit einer geheimnisvollen Frau, die dazu dient, dem Reisenden ein Gefühl von Aufnahme in der Fremde zu vermitteln, gehört sicherlich zu den meist zitierten Topoi in der von Männern geschriebenen Reiseliteratur. Ein solch romantisiertes, sexualisiertes Begegnungsmotiv zwischen den Geschlechtern und ›Rassen‹ findet sich auch in der Crónica, doch es führt nie zu einer bleibenden Verbindung zwischen weißem Mann und schwarzer Frau. Im zweiten Teil der Crónica repräsentiert Yyaloide wiederum eine Art Garten Eden in den Sumpfgebieten in der Nähe der entstehenden Stadt San Juan. Diesmal ist es der Niño Avilés, der diese Gegend auf seiner voyage philosophique durchquert. Das titelgebende Yyaloide fungiert wiederum als Metapher des Paradieses, verknüpft mit den Verlockungen des Ewig-Weiblichen, verkörpert durch eine »indigena«, was den männlichen Protagonisten Niño Avilés – dies erinnert deutlich an die Insel der Sirenen der Odyssee – fast von seiner Weiterreise abhält. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die Utopie Nueva Venecia wird nicht realisiert, sondern löst sich stattdessen in verschiedenen Heterotopien auf. Dieser Differenzierungsprozess im ästhetischen Bereich löst die utopischen Hoffnungen ab. Es handelt sich folglich nicht um eine bloße Verwirklichung einer Utopie, sondern um ihre verzerrte und veränderte Verwirklichung: die ästhetische Utopie kann nur als Entfaltung von Heterotopien erfolgen. Die Crónica de Nueva Venecia formuliert aber nicht nur diverse Heterotopien, sondern mittels Nueva Venecia drückt sie auch eine Versinnbildlichung des verpassten Widerstandes aus. Dieser kann erst durch das Verfahren der Allegorie erzählt werden, denn die Allegorie visualisiert eine Idee, etwas, das empirisch nicht notwendigerweise existiert oder nachweisbar ist. Da die Geschichte von Puerto Rico nur verfälscht oder sehr fragmentiert vorliegt, ist Edgardo Rodríguez Juliá auf das Verfahren allegorischer Rede angewiesen, denn sie stiftet Erinnerungsräume.195 Seine Erzählweise kann keine ›realistische‹, sondern notwendigerweise nur eine allegorische sein, »porque sí es una búsqueda de unos orígenes siempre escamoteados por las potencias hegemónicas.«196

191 192 193 194 195 196

Ebd., 204. Ebd., 203. Ebd., 206. Ebd., 208. Vgl. Kurz: 1988, 42. Ortega/Rodríguez Juliá: 1991, 157.

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2.3.4 Die Crónica als gedächtnisbildende Allegorie Viele Kritiker lesen die Crónica de Nueva Venecia als Allegorie: González nennt sie »una alegoría de la cultura puertorriqueña«197 und für Benítez Rojo fungiert sie als »texto fundacional de la historia patria de la isla«198. Um zu verstehen, warum sich eine allegorische Lesart in besonderer Weise anbietet, möchte ich zunächst auf Peter Bürgers Überlegungen zum Verfahren der Allegorie zurückgreifen: »Der Allegoriker reißt ein Element aus seiner Totalität des Lebenszusammenhangs heraus. Er isoliert es, beraubt es seiner Funktion. Die Allegorie ist daher wesenhaft Bruchstück und steht damit im Gegensatz zum organischen Symbol. Der Allegoriker fügt die so isolierten Realitätsfragmente zusammen und stiftet dadurch Sinn. Dieser ist gesetzter Sinn, er ergibt sich nicht aus dem ursprünglichen Kontext der Fragmente.«199

Für Bürger ist die Tätigkeit des Allegorikers in Anlehnung an Walter Benjamin Ausdruck der Melancholie. Benjamin rehabilitierte mit seiner Studie Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928) den Allegoriebegriff zu Beginn des 20. Jahrhunderts als eine Art master trope (post)moderner Vervielfältigung von Sinn und Repräsentation.200 Er rekurriert dafür auf die Barockepoche, in der die Allegorik stilbildend wirkte; im Gegensatz zur Klassik, der die Kunst des Symbols zu Eigen war.201 Der symbolischen Vorstellung von Geschlossenheit und Totalität setzt Benjamin ein allegorisches Denken der Differenz entgegen, das sich in Bildern von Verfall, Ruinen und Zerstörung manifestiert.202 Die Abwertung des Barock durch eine an klassischen Idealen orientierte Literaturwissenschaft macht diesen für Benjamin attraktiv. Denn dadurch stehe das barocke Trauerspiel quer zu jenen bürgerlichen Kulturgütern, von denen Benjamin in der siebten These seines Essays Über den Begriff der Geschichte behauptet, dass keines von ihnen jemals als »ein Dokument der Kultur« fungieren kann, »ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozeß der Überlieferung nicht«203. Benjamin, der in Lateinamerika intensiv rezipiert wird, fordert von der Historiographie »die Geschichte gegen den Strich zu bürsten«204 , denn »erst der erlösten Menschheit [fällt] ihre Vergangenheit vollauf zu. Das will sagen: erst der erlösten Menschheit ist ihre Vergangenheit in jedem ihrer Momente zitierbar geworden.«205

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González, Aníbal: 1986, 583. Benítez Rojo: 1989, 589. Bürger: 1992, 116; siehe auch Jauss: 1990, 166-188. Vgl. Bürger: 1992, 116, vertiefend Drügh: 2000, 281 sowie 2007, 155. Vgl. Benjamin: 1978a, 340ff. Das Symbol überspiele die semiotische Kluft, indem es versucht, die Sache in einem ist-Zustand darzustellen. Die Allegorie will stattdessen nur anzeigen, bedeuten. Vgl. auch Drügh: 2000, 323ff sowie 2007, 157. Benjamin: 1978b, 696. Ebd., 697. Ebd., 694.

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Für einen solch katastrophischen Blick auf die Geschichte bietet sich die allegorische Struktur in besonderer Weise an, denn sie bedient sich grundsätzlich der Polysemie: »Die Allegorie ist also ein Text mit zwei Bedeutungen, eine Anders-Rede. [...] eine Verschiedenrede. [...] Die Allegorie sagt etwas direkt und etwas anderes indirekt. Dieses gibt sie zu verstehen. Sie ist also ein indirekter Sprechakt.«206 Bei der Allegorie bleiben zwei Bedeutungen, ihr buchstäblicher Sinn und ihr Hintersinn, nebeneinander stehen, ohne ineinander aufzugehen, ohne identisch zu sein: »Bei der Metapher liegt eine Bedeutungsverschmelzung vor, bei der Allegorie eher ein Bedeutungssprung.«207 Die Allegorie erfordert einen Gedankensprung, eine Sinnübertragung vom gesagten Bedeutenden zum gemeinten Bedeuteten, wobei zwischen Zeichen und Bezeichnetem immer eine Lücke klafft. Der damit einhergehende potenzielle »Verstoß gegen das Ideal rhetorischer Klarheit«, anders formuliert das »Dunkle der Allegorie«, wird in der Nachfolge von Goethes Symbolästhetik zumeist selten problematisch gesehen.208 Doch für die antillanische Literatur, insgesamt für postkoloniale Literaturen, bietet sich die Methode der andeutenden Allegorie besonders an. Das der Allegorie inhärente »Sinnbegehren«209 (und nicht nur bloße Sinnbeliebigkeit) zielt darauf ab, die Unverfügbarkeit des Darzustellenden, also die Wiedereinschreibung des Verdrängten, Vergessenen und Zerbrochenen literaturästhetisch zu fassen. Die Allegorie erfüllt eine gedächtnisbildende Funktion und konstituiert Geschichtsbewusstsein wie Gerhard Kurz schreibt: »Nach der rhetorischen Gedächtnislehre fungieren allegorische Bilder als Merkbilder.«210 Allegorien dienen jedoch nicht nur als Gedächtnisstütze, sondern können auch Schlüssel zu Bereichen verborgenen Wissens sein: »Diese Redestrategie kann ein Mittel sein, sich gegen Macht zu schützen, sie kann aber auch eingesetzt werden, um Wissen – und auch Macht selbst – als Geheimnis zu schützen.«211 Die prekäre puertoricanische, insgesamt die antillanische Subjektposition, kann sich nicht auf verbürgte historische Erzählungen berufen, daher fungiert die Allegorie als Gedächtnispraxis. Diese Methode, historisches Erleben durch Bilder für Erfahrenes im Gedächtnis zu behalten, erfordert Kreativität, denn alle Bilder für Erlebtes müssen neu erfunden werden. Heinz Drügh macht hinsichtlich der Möglichkeit einer allegorischen Rettung212 auf ein Paradoxon aufmerksam:

206 Kurz: 1988, 31-35. 207 Ebd., 33. Das Dictionnaire de rhétorique (1992, 42) definiert die Allegorie als »une figure macrostructurale de type complexe« und Metaphern als »figures microstructurales«. 208 Freytag: 1992, S. 331f. Goethe zufolge ist die Allegorie ein konventionelles Zeichen, das insofern mechanisch funktioniert, als seine Anwendung überindividuell durch normative Rhetorik sowie durch literarische Traditionsketten geregelt wird. 209 Gemeint ist hier Doppeltes: einerseits das barocke Trauerspiel, vor allem die Allegorie gegen die Klassifizierung zu retten, andererseits aber auch die Opfer der Geschichte im Gedenken zu retten, vgl. Drügh: 2000, 284 und 315f, Herv. i.O. 210 Kurz: 1988, 53. 211 Ebd., 39. 212 Vgl. Drügh: 2000, 285, Herv. i.O.

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»Ausgerechnet mit der Allegorie, einer Figur, die nach Benjamins Interpretation wie keine andere die ontologische Entleerung der Welt, Sinnverlust und Zerstörung anzeigt, betreibt Benjamin die figurale Strategie eines sinnerhaltenden, überliefernden Unternehmens wie der Erinnerung an die eigene Kindheit (und im übrigen auch des Eingedenkens an die Opfer der Geschichte in den Thesen Über den Begriff der Geschichte).«213

Der Konflikt um Sinnauflösung und -stiftung steht bei der Beschäftigung mit der Allegorie im Mittelpunkt. Folgt man den Überlegungen von Heinz Drügh, geht es jedoch bei der Allegorie weder um bloße Zersetzung von Sinn noch um eine »Regelkunst«, die eine übertragene Bedeutung mehr oder weniger mechanisch mit einem Ensemble von stereotyp verwendeten Sprachzeichen verklammere und dabei wie ein Fixierbad für sprachlichen Sinn funktioniere.214 Drügh argumentiert dahingehend, dass das Allegorische im Literarischen gerade aufgrund seiner Ambivalenz, d.h. seiner Unentscheidbarkeit zwischen zwei oder mehreren gleichberechtigten Sinnentwürfen, eine bevorzugte Heimstatt fände.215 2.3.4.1 Niño Avilés oder Der Engel der Erinnerung Leitmotiv der fingierten Chronik La noche oscura del Niño Avilés ist, wie bereits erwähnt, José Campeches Gemälde. Mit seinem Text beabsichtigt Rodríguez Juliá nach eigener Aussage den melancholischen Blick des Kindes literarisch zu interpretieren.216 Er deutet diese Melancholie mit Benjamins Geschichtsverständnis vom Trümmerhaufen, von der »barocken, weltlichen Exposition der Geschichte als Leidensgeschichte der Welt« 217, die nur in den Stationen ihres Verfalls bedeutend sei – versinnbildlicht in Paul Klees Bild Angelus novus: »Esa mirada es la del Mesías como arquetipo, pariente lejana de la del ›ángel‹ de Walter Benjamin, su comentario del Angelus Novus de Paul Klee. Es la mirada de quien obligado a la ›salvación‹ tiende su mirada compungida sobre el desorden del mundo y la crueldad de la historia.«218 Benjamin erläutert in seiner neunten geschichtsphilosophischen These Klees Bild mit Blick auf die Katastrophenerfahrung des 20. Jahrhunderts dahingehend, dass der Engel »wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen [möchte]«, da er das Antlitz der Vergangenheit zugewendet habe.219

213 214 215 216 217 218 219

Ebd., Herv. i.O. Vgl. ebd., 8. Vgl. ebd., 17. Vgl. Ortega/Rodríguez Juliá: 1991, 153; Sancholuz/Rodríguez Juliá: 2007, 170. Benjamin: 1978a, 343. Ortega/Rodríguez Juliá: 1991, 153. Benjamin: 1978b, 697.

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Abb. 4 Paul Klee: Angelus Novus (1920) Abb. 5 José Campeche: El Niño Juan Pantaleón Avilés de Luna Alvarado (1808)

Doch er wird vom Fortschreiten der Zeit, welche in der modernen Geschichtsauffassung die Erwartung einer sukzessiven Verbesserung der Verhältnisse impliziert, daran gehindert die »unterdrückte Vergangenheit«220 heraufzuholen: »Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«221

Klees Engelbild und Campeches Kinderbild ist gemeinsam, dass beide Figuren einen übergroßen Kopf im Verhältnis zum rudimentären Körper und weit geöffnete Augen haben. Doch wo bei Klee knospende Arme und Finger zu sehen sind, die erst noch zu ausgeprägten Engelsflügeln werden sollen, sind bei Campeche fehlende Gliedmaßen, dafür aber flügelartige Kissen zu erkennen, in die der Junge eingebettet ist. Die Flügel des Niño Avilés, Ausdruck der Unabhängigkeit von irdischen Bindungen, sind missgebildet – zumindest wenn man ihn sich so vorstellt wie es Campeches Bild auf dem Umschlag suggeriert. Rodríguez Juliá spricht wie Voltaire oder Benjamin von der Geschichte als Alptraum: »Cándido de Voltaire es la crónica de una pesadilla que hemos sufrido desde el dieciocho, pero de la que aún no hemos despertado.«222 Rubén González

220 Ebd., 703. 221 Ebd., 697f. Rodríguez Juliá stellt Benjamins Geschichtsbegriff auch als Motto seiner Essaysammlung Caribeños (2002) voran. 222 Ortega/Rodríguez Juliá: 1991, 157.

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Orozco nennt die Crónica eine »educación no sentimental«223. Da dem Niño Avilés die Arme fehlen, kann sich in ihnen auch kein Sturm verfangen und ihn fortreißen (zudem ist er in den Kissen fixiert). Das erlaubt ihm, vor dem Trümmerhaufen der Geschichte »im Eingedenken«224 inne zu halten. Benjamin spricht in seinen geschichtsphilosophischen Thesen auch von einer »messianischen Stillstellung des Geschehens, anders gesagt, einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit«225. Den melancholischen Blick des Kindes interpretiert Rodríguez Juliá einerseits als anrührende und stille Metapher des Leidens, hinter dem die individuelle kindliche Persönlichkeit verschwindet.226 Dieses Leiden steht in Verbindung mit dem Volk – »that pain of memory manifested as a painful mourning makes El Niño Avilés an emblem of the people«227 –, der Maler José Campeche bildete sonst das koloniale Establishment ab. Andererseits sind die Augen innerhalb des gefesselten Körpers Übermittler des Leids und somit auch Ausdruck von Freiheit.228 Doch der Betrachter von Campeches Bild trifft nicht bloß auf kindliche Unschuld, sondern auf etwas Monströses, etwas, was zugleich Mitleid und Neugierde weckt. Der Junge personalisiert das Schicksal der puertoricanischen Nation. Sein unvollständiger Körper repräsentiert eine unvollständige, verstümmelte Nation: »a yearning young man buried inside the body of a tadpole«229. Meines Erachtens versinnbildlicht das unheimliche Messias-Kind die Geburt der puertoricanischen Nation unter Einbeziehung des verdrängten Erbes von Sklaverei und Widerstand. Der Niño Avilés fungiert als weißer Dämon, »como maléfica ofrenda, negra hechicería«230, der die Weißen erschrecken und die Schwarzen zugleich von weißen Dämonen befreien soll. Theologische Diskurse um Erbsünde und Erlösung werden im Roman seitens der Opfer der Geschichte neu konnotiert. Die durch Missionierung und Kolonialisierung der Welt einhergegangene Transkulturation zeigt der Roman in alptraumhafter Weise. Obatal verspricht seinem Volk in einer Ansprache, laut dem Chronisten El Renegado, eine Art Katharsis durch den Niño Avilés:

223 González Orozco: 1997, 1. Diese Einschätzung bezieht sich auf all seine Chroniken. 224 Benjamin: 1978b, 704. Interessant ist, dass Fanon ebenfalls auf das Bild des Engels zurückgreift, um das (post-) koloniale Subjekt zu beschreiben: »individuals without an anchor, without horizon, colourless, stateless, rootless – a race of angels« (Fanon, zit. nach Hall: 1994, 395). 225 Benjamin: 1978b, 703. 226 Vgl. Rodríguez Juliá: 1986b, 118. 227 Soto-Crespo: 2002, 460. Rodríguez Juliá sagt über den Maler: »El atisbo del mundo marginal, del mundo negro en Campeche es insuficiente. Él pintaba la oficialidad« (Sancholuz/Rodríguez Juliá: 2007, 170), vgl. auch Camayd-Freixas: 2001, 179. 228 Vgl. Rodríguez Juliá: 1986b, 121. 229 Camayd-Freixas (2001, 183) deutet das Kind gar als eine »fiction of the muñocista commonwealth, that perpetual embryonic state of the nation, condemns him to endless atrophy and melancholy«. Denn Luis Muñoz Marín sei der ›Architekt‹ des Estado Libre Asociado gewesen. 230 Rodríguez Juliá: 1991, 69.

292 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN »Pues aseguró que aquel infante no era Papa Ogún, ni mucho menos, y sí demonio blanco que cual muñeco el Obispo Larra había hecho para asustar a los blancos. Y añadió que si el gran demonio blanco hubiese estado oculto en el infante Avilés, ya lo habría fulminado a él con su malévola y mágica potencia. También proclamó que a cada prieto le tocaba sacar los diablitos blancos de su corazón, añadiendo que sólo así el esclavo sería verdaderamente libre.«231

Ausdrücklich verweist Obatal hier darauf, dass der Niño Avilés nicht Papa Ogún sei, der Gott des Krieges und Kampfes, einer der maßgeblichen loa des Voodoo, wie bereits erwähnt. Das Kind sei vielmehr eine Art Racheengel, der »la gran batalla de la venganza africana [...] la gran batalla del continente de África contra el continente de Europa«232 ankündigt, wobei er unheilvoll ausschließlich für die Weißen ist: »El niño que sufre en la pintura de Campeche se convierte en la obra de Juliá [sic] en el niño que hace sufrir.«233 Der Niño Avilés wird in seiner Eigenschaft als Engel zum Grenzgänger, zum Über-Setzer, zum Überbringer eines anderen Imaginären. Der Engel ist in der Falte, in der Differenz, ein Vermittler, ein Ortloser, der hin- und herwandert. Diese Figur etabliert Möglichkeiten, die sich der offiziellen Geschichtsschreibung entgegensetzen. Durch seine Mittlerdienste greift er in den Gang der Geschichte ein. Und Engel verweisen auf das Problem der Repräsentation, denn sie markieren die Unvollständigkeit des Sichtbaren und Gegenwärtigen. Für Monika Schmitz-Emans weisen Engelsgestalten auf Abwesenheit, Entzug und Verlust hin und sie halten die Erinnerung an die Toten wach.234 In seiner Rolle als Bote des Verdrängten ist er eine ambivalente Figur, mal Engel, mal Dämon. Ist er Verkünder einer Utopie oder Übermittler einer Apokalypse? Gegenwärtiges und Abwesendes verknüpft sich mit dem Motiv des Engels. Das Verdrängte bekommt durch ihn eine phantomatische Präsenz. Der Niño Avilés ist jedenfalls keine eindeutige Lichtgestalt. 2.3.4.2 Niño Avilés: Allegorie der orfandad Edouard Glissant zufolge kennen die karibischen Gesellschaften keinen positiven Ursprungsmythos, der die Menschen in Raum und Zeit verortet.235 Denn die Antillaner haben weder von ihrem Land Besitz ergriffen, noch eine Datierung an seine Entdeckung geknüpft. Stattdessen verfügen sie über eine Ursprungserzählung, die sich auf die traumatischen Erfahrungen der Verschleppung und Sklaverei gründet. So wundert es nicht, dass die Crónica de Nueva Venecia als Ironisierung eines atavistischen Ursprungsmythos’, als Parodie des alttestamentarischen Exodus daher kommt. Der Niño Avilés wirkt wie Moses als Erlöser; doch er ist missgestaltet und somit quasi in seinen Fähigkeiten amputiert. Die Figur des Niño Avilés ist eine Ausgestaltung des Moses-Stoffes, in der sich grotesker Realismus mit barocker Eloquenz vereint.236

231 232 233 234 235 236

Ebd., 70. Ebd., 69. Muñoz Fernández: o. J., 5. Vgl. Schmitz-Emans: 2004, 27. Vgl. Glissant: 1997a, 147. Rodríguez Juliá verortet seine Schreibweise genau in diesem Spannungsfeld: »Si el realismo es mi tradición como escritor puertorriqueño, el barroco cubano ha sido una de mis

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In Anlehnung an Moses, der auf wunderbare Weise aus dem Nil errettet wurde, wird der Niño Avilés nach einem Schiffbruch am 9. Oktober 1772 als einziger Überlebender von einem gewissen Juan Avilés in einem Körbchen an der Küste von Puerto Rico, in Piñones, aufgefunden. Piñones, ein barrio de negros, ist aktuell auch als ein (sex)touristischer Ort bekannt.237 Ein weiterer Anachronismus zwischen Realität und Fiktion – das porträtierte Kind wurde 1802 geboren, der Niño Avilés hingegen wird schon 1772 gefunden – verweist auf die »incertidumbre en lo tocante a la edad del niño«, wie Rodríguez Juliá in Campeche o los diablejos de la melancolía notiert.238 Das Kind in der Chronik wird als dämonisch beschrieben; es stößt schrille, betäubende Schreie aus, verfügt angeblich über übernatürliche Kräfte, verspürt keinen Schmerz, noch blutet es bei Verletzungen:239 »los gritos del niño eran monstruosos«, »los ojos con sombra tan ominosa«, »ángel de las tinieblas«.240 Ihm wird gar der Schiffbruch zur Last gelegt: »Ya pronto se dijo que el infante del moisés era el mismísimo diablo y que justo por él había ocurrido el terrible naufragio.«241 Die Chronik ist nicht nur Metageschichte, sondern auch fantastische Erzählung. In der Umgebung des Niño Avilés kommt es zur Auflösung von Geschlechtergrenzen. So wird das Kind bspw. von einer bärtigen Nonne, »una monja con bigotes y otras hombrunas señas«242 , des Bischofs Larra beaufsichtigt. Der Chronist, der dies beschreibt, wird zudem Zeuge einer (alp)traumhaften Geschlechtertauschszenerie: »Cuando al fin se despejó tan cruel engaño, pronto descubrí, en un rincón del aposento, fiera comparsa de negros que tocaban muy frenéticamente los tronantes tambores. Los prietos estaban desnudos, y tenían las vergas muy erectas, como cuerda de violín, que para susto mío alzaban las enormes pijas hasta la altura de sus ojos, para luego tronar con ellas los cueros. ¡Pero grande portento siguió a tan desmesurada visión! Y era que los negros cambiaban de cuerpo y se convertían en prietas de muy sensuales carnes; pero estas mujeres deleitosas conservaban aún – ¡triste burla! – las vergas de los tamborileros, y pensé que eran hermafroditos, que así se llaman estos seres monstruosos nacidos con los dos sexos.«243

Gleichwohl bleibt es nicht bei der Auflösung von geschlechtlichen Grenzen, es spielen sich auch Tier-Mensch-Metamorphosen in der Umgebung des Niño Avilés ab. So beschreibt der Niño Pimentel in seinen Visionen die Verwandlung von Jungfrauen in Schweine:

237 238 239 240 241 242 243

principales influencias« (2002b, 72). Es wäre sicher lohnenswert – ist aber an dieser Stelle nicht zu leisten –, die Crónica im Kontext von Freuds Studie Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939) genauer zu untersuchen. Diesen Hinweis entnehme ich Camayd-Freixas: 2001, 185. Rodríguez Juliá: 1986b, 122. Rodríguez Juliá: 1991, 25. Ebd., 12f. Ebd., 12. Ebd., 24. Ebd., 25.

294 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN »Para espanto mío las doncellas convirtieron sus bellos rostros en hocicos de puercas, que al momento estaban vestidas con hábitos de monjas. Y estas puercas de muy rebajada condición se acostaron en la gran cama, abriendo sus patas al aire, mostrando sin mesura ni pudor sus peludas jaibas. El mancebo [niño Avilés, N.U.] se colocó entre ellas, y poniéndose de rodillas abrió su culo al aire. Luego las puercas volvieron a ser bellísimas vírgenes de mondas cabezas, y el mancebo volvíase puerco que parando el rabo mostraba el apestoso ojo.« 244

In den Visionen des Niño Pimentel, Chronist des Bischofs Larra, verkörpert das Kind Avilés die reine Apokalypse: »[...] un moisés tejido con carapachos de langostas, cangrejos y otros bichos de semejante especie. [...] este engendro vomitaba al aire reptiles con bocas en forma de largo fotuto, que tales primores chupaban al vuelo, por los aires, las engañosas margaritas. También venían muy voladores, sobre tantas miserias, unas enormes orejas que chillaban al aire gritos apenas soportables. Sonaban címbalos y tambores unas ratas grises tan grandes como los enanos, a la verdad muy coquetas y aspaventosas las malditas, pues en vez de rabos lucían el muy vistoso plumaje del pavo real.«245

Die Parallelisierung der Exodus-Geschichte, welche im Alten Testament Befreiung vom ägyptischen Joch, die Flucht aus der Sklaverei und den Weg in die (geistige) Freiheit markiert, liegt auf der Hand. In dieser Weise lässt sich auch das bereits im Titel auftauchende Motiv der Nacht interpretieren. Der Titel La noche oscura del Niño Avilés spielt auf Juan de la Cruz’ Gedicht »La noche oscura del alma« (1618) an, welches er nach erlebter Folter niederschrieb.246 Darin schildert er das Trachten der Seele nach der Vereinigung mit Gott, die sie durch Entmachtung der Sinne und des Verstandes – parallel zu Jesus’ Kreuzigung und Auferstehung – erreicht. Der Bezug zu La noche oscura del Niño Avilés ist m.E. ein doppelter: Zum einen verweist der Titel auf den in der Crónica ausphantasierten Widerstand (die Auferstehung) nach erlebter Versklavung als Akt der Transformation. Rodriguez Juliás Buchtitel ist dann eine Metapher für den »oscurantismo de la larga noche colonial«247 . Zum anderen kann damit auch die ciudad de Dios gemeint sein, die nur nach erlebter Dunkelheit erreicht werden kann wie Trespalacios behauptet: »Para llegar a la ciudad de Dios, recinto tan luminoso allá encumbrado en las más altas bóvedas y esferas, hay que cruzar los predios de Satanás, y esta ruta es la noche oscura del alma, dolor necesario que nos conduce al Padre. Pero no confundas la ciudad de Dios con el Paraíso, ni te turbes pensando que es la Iglesia de Cristo aquí en la tierra [...] la ciudad de Dios es un espacio perfecto que anhelamos acá abajo en la ciudad humana.«248

244 Ebd., 39. 245 Ebd., 49. 246 Juan de la Cruz (1542-1591) war einer der wichtigsten Kirchenlehrer der mystischen Theologie. 247 San José Vázquez: 2008, 275. 248 Rodríguez Juliá: 1991, 133, Herv. N.U.

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Moses muss jedenfalls erkennen, dass er eigentlich ein Anderer ist. Er wächst zwar als Ägypter auf, doch er begreift schließlich, dass er Israelit ist. Zudem ist der Niño Avilés wie Moses ein Freiheitskämpfer. Beide sind Entwurzelte und von fraglicher Herkunft und daher in einer sozial schwachen Stellung.249 Das Motiv der unbekannten Herkunft mit seinen typischen Zügen der Aussetzung, des verborgenen Aufwachsens in der Fremde und der späteren Wiedererkennung/Identifizierung findet sich in abgewandelter Form in der Crónica. Da nach europäischen Maßstäben Identität auch an den Namen geknüpft ist, verdeutlicht diese Figur, in welchem Maße Identität ein Konstrukt und als solches fragil ist. Diese Figur repräsentiert die im Dunklen verbleibenden Ursprünge der Findelkind-Existenz: »Este nombre [infante Avilés, N.U.] tuvo porque desconocíamos los apellidos de sus padres, pero bien conocido era el de su ya notorio rescatador, el Juan Avilés mentao, vecino milagrero al servicio de la infamia, padre espurio del huérfano universal.«250 Die Allegorie der Orfandad verweist auf Transformation und Bruch traditioneller Identitäts- und Geschichtskonstruktionen. Die eigentliche Genealogie des Kindes bleibt rätselhaft. Er taucht nach einem Schiffbruch auf einer Insel auf, gründet Nueva Venecia, eine vom Zentrum verwaiste Stadt der Cimarrones, eine Stadt, die schließlich wieder aus der offiziellen Geschichtsschreibung verschwindet und nur in apokryphen Textfragementen bzw. in einem apokryphem Bild überdauert. Nueva Venecia bildet keine langfristig erfolgreiche Utopie, sondern eine Ellipse. Der Vorgängertext zur Chronik, La renuncia del héroe Baltasar, deutet bereits durch seinen Titel in verschlüsselter Form auf diesen Verzicht. Die geschichtliche Abwesenheit von Nueva Venecia zeigt sich in Rodríguez Juliás Crónica besonders durch eine Poetik des Aufschubs. Mit Hilfe des zweiten Teils der Chronik, El camino de Yyaloide, lässt sich diese Poetik genauer zeigen; dies ist Thema des folgenden Kapitels. 2.3.5 Nueva Venecia: Ellipse und Exodus Der zweite Teil der Chronik, El camino de Yyaloide, umgeht den Gründungsakt erneut. Er führt den plot nicht wie erwartet weiter, sondern lenkt die Ereignisse in analeptischer Weise zur Kindheit und Jugend des Niño Avilés. Rodríguez Juliá erzählt in drei Kapiteln von der »Formación del Niño Avilés«, von seiner »Viaje menino«, wo sich der Niño Avilés in »la indiana«,251 Tochter von Arcadio, ein »anciano ciego«,252

249 In Frenzels Motive der Weltliteratur lesen wir unter dem Stichwort »Die unbekannte Herkunft«: »Gewißheit über die Herkunft einer Person ist sowohl ein Komponente von deren Selbstbewusstsein als auch von ihrem sozialen Status. Sie schafft Zugehörigkeitsgefühl und seelische Heimat und verleiht Rechte und Pflichten in der Umwelt. Das Fehlen dieser Gewißheit verursacht psychischen Schaden und möglicherweise soziale Minderwertigkeit. [...] Die Funktion des Motivs, den Helden zu einer bestimmten Aufgabe zu legitimieren, hat im Bereich der frühen Mythen genealogische Bedeutung: Dem Eroberer, Staatengründer und Religionsstifter, von dem man nur sein Werk kennt, wird eine Jugendgeschichte angedichtet, die ihn als Kind besonderer Eltern, vor allem eines göttlichen Vaters, und damit als zu Großtaten bestimmt ausweist« (Frenzel: 1999, 340ff). 250 Rodríguez Juliá: 1991, 13, Herv. N.U. 251 Rodríguez Juliá: 1994a, 87, 103, 113.

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verliebt und schließlich in »El Tarot« von der Rückkehr des Niño Avilés nach San Juan, wo er von Trespalacios als gran conquistador gefeiert wird. Dieser letzte Teil berichtet von der Konfrontation zwischen den widerständigen Kräften des Niño Avilés mit den machterhaltenden Kräften Trespalacios. Es ist keine wirklich auflösende Analepse, die das zunächst lückenhaft dargestellte Ereignis nachträglich so vervollständigt, dass das bislang Erzählte in einem neuen Licht erscheint. Es handelt sich eher um eine labyrinthische Rückwendung, die mehr Fragen als Antworten aufwirft. So tauchen zahlreiche intratextuelle Transformationen vom ersten zum zweiten Teil der Crónica auf: War Silvestre Andiono Campeche in La noche oscura del Niño Avilés noch der Neffe des bekannten Malers, so ist er in El camino de Yyaloide ein »hermano y discípulo del maestro mulato«253 . Die Ländereien Yyaloide, die El Renegado dank der Reina de África in La noche oscura del Niño Avilés erkundet, werden in El camino de Yyaloide zu Mangrovenwäldern und Lagunen, die der Niño Avilés auf seiner voyage philosophique durchquert. Auffällig sind auch die zahlreichen Namensvariationen bzw. Errata: Mitume wird zu Mitumo, Trespalacios y Verdeja wird zu Trespalacios y Verdejo und der Bischof Larra wird zu Lara.254 Insbesondere haben wir es mit neuem Quellenmaterial zu tun. Neben dem bereits bekannten Tagebuch des Bischofs Trespalacios und Graciáns Chroniken taucht erstmals die Stimme des Niño Avilés in Form seines »diario de navegación« und seiner »bitácora« auf. Diese Textsammlung, »esta colección de crónicas y miniaturas que nos narran la educación del Avilés«,255 bilden das zentrale Thema von El camino de Yyaloide. Neben dem bereits bekannten Archivar aus La noche oscura del Niño Avilés, Don José Pedreira Murillo, findet ein weiterer Archivar Erwähnung, dem die Wiederentdeckung eben dieser Zeugnisse zu verdanken sei: »Este capítulo oculto de nuestra historia – recientemente desenterrado del olvido por nuestro archivero municipal, Don Eleuterio Fernández Vargas – nos sitúa unos sucesos que el mismo Obispo Trespalacios quiso olvidar.«256 Da es aber keinen Prolog gibt, bleibt unklar, wer hier erzählt. Ist es erneut der fingierte Herausgeber Alejandro Cadalso? Wer ist der letztliche ›Herausgeber‹ und übergeordnete Erzähler? Es könnte auch ein gewisser Alejandro Juliá Marín sein, der sich fortwährend über Fußnoten im zweiten Teil der Crónica einbringt. Sein Name wird durch die Initialen A. J. M. angedeutet. Als Anagramm gelesen, könnten die Initialen auch auf den realen Literaturwissenschaftler José Antonio Maravall hindeuten. Die indirekte Nennung Maravalls würde jedenfalls Rodríguez Juliás Nähe zu Cervantes unterstreichen, denn von Maravall liegt seit 1976 eine Studie zu Utopía y contrautopía en el ›Quijote‹ vor, die das Kippen der Utopie in die Kontra-Utopie zum Thema hat. Die veränderte Textgestalt der Crónica erinnert in ihren Ungenauigkeiten, Errata und ihren eventuellen Eingriffen fremder Hand stark an Quijote. Auch in Cervantes’ Werk gibt es keine eindeutig verlässliche Textgrundlage. Außerdem wird die Fehlbarkeit utopischer Ideen von Rodríguez Juliá auf textueller Ebene ironisiert. Der Niño Avilés erscheint

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Ebd., 87. Ebd., 11. Vgl. ebd., 78 und 96. Ebd., 10. Ebd., 11.

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eher als Don Quijote-Figur, denn als erobernder Held oder mythischer Erlöser. So kommt der Niño Avilés ironischerweise nicht wie Kolumbus mit drei Segelschiffen daher, sondern mit »trece chalupas«257. Und statt sich über den Atlantik zu bewegen, navigiert er mittels Kanu durch insulare Küstenregionen: »Fue así que navegamos muchas horas en grande oscuridad, tanta que resultaba muy difícil reconocer las propias manos, contemplar los más íntimos pensamientos.«258 In seinem Bordtagebuch finden sich deutliche Anspielungen auf Kolumbus, Hernán Cortés und den Pizarro-Clan: »Yo, explorador de caños por encomienda de su Excelencia el Obispo Trespalacios, reconozco en mí el asombro que asaltó a Cortés cuando llegó a la ciudad flotante de Tenoquitlán, el lento pasmo que entristecía a los marinos de Colón, la muy eufórica sorpresa que cautivó a Pizarro cuando descubrió las arcas del imperio Inca.«259 Niño Avilés’ Idee, sich in die Tradition der Conquistadoren zu stellen, wird von dem Chronisten Gracián belächelt: »el desaforado del Niño piensa que este viaje de mierda es la más grande ocasión que han conocido los siglos, desde que Hernán Pizarro conquistó la ciudad colgante de Cuzco.«260 Oder an anderer Stelle vermerkt Gracián: »su vocación de explorador de caños era miniatura de aquella curiosidad que impulsó a Pizarro a la conquista del reino de Cuzco y a Cortés a la furiosa guerra contra los habitantes del país azteca.«261 Er nennt ihn herablassend »verdadero Colón fallido«, »Cortés de chacota« oder »nuestro pequeño Pizarro«.262 Weder ist der Nino Avilés im Auftrag der Kirche unterwegs um neues Land zu entdecken, noch sind die »tierras vírgenes«263 unentdeckt, handelt es sich doch um den Garten »donde Don José Lara cultivó las semillas traídas de las otras latitudes americanas«.264 Die Illusion unbekanntes Land zu entdecken, sei insbesondere der aufklärerischen Erziehung des Niño Avilés geschuldet, »de concebir toda realidad como sujeta a la voluntad«. 265 Die immer wieder aufgeschobene Gründung Nueva Venecias steht im zweiten Teil der Crónica vor allem im Kontext eines Herrschaftsdiskurses, denn – so der Obispo Trespalacios –, der Niño Avilés solle sich früh daran gewöhnen, »a gobernar sobre el espacio, camino seguro para tener poder sobre los hombres«266. Rodríguez Juliá schreibt in El camino de Yyaloide keine optimistische Befreiungsgeschichte, sondern zeigt die Grenzen aufgeklärter Utopien und damit einer modernidad ilustrada. Der Niño Avilés verändert sich als Reisender nicht wirklich. Seine Suche nach dem verlorenen Paradies kippt bloß ins Romantische. Zahlreich sind die Anspielungen in El camino de Yyaloide fernerhin auf die Odyssee. Im Bordbuch des Niño Avilés lesen wir: »Si este viaje no ha sido menos

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Rodríguez Juliá: 1991, 3. Ebd. Rodríguez Juliá: 1994a, 93f. Ebd., 97. Ebd., 90. Ebd., 105. Ebd., 98. Ebd. Ebd. Die Erziehung des Niño Avilés erinnert an Rousseaus Bildungsideal, welches er in Émile ou de l’éducation (1762) entwirft. 266 Rodríguez Juliá: 1994a, 45.

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tortuoso que el de Ulises, tampoco resultan extraños a él los rigores del sitio de Troya.«267 Er bricht mit 17 Jahren – im selben Alter wie Odysseus’ Sohn Telemachos – zu seiner »viaje menino«268 auf. Begleitet wird er dabei von dem Kreolen und Ruderer Pedro, seinem schwarzem Freund und Diener Melodía und den beiden Sklaven Marcos und Simón. Die Reise liest sich wie eine puertoricanische Version von Vergils Aeneis. Erzählt die Aeneis einen der Gründungsmythen des Römischen Reiches, so erzählt Rodríguez Juliás Pseudochronik wortreich die Abwesenheit eines puertoricanischen Gründungsmythos’. Interessant ist die philanthropisch-religiös-europäisch und zugleich ›indianisch‹ ausgerichtete Erziehung des Niño Avilés, »el hermanito guare del Buen Jesús«269. Es handle sich um »una muy delicada mistura [sic] de los rigores filosóficos de la vieja Europa y los exuberantes primores de la muy caprichosa estancia indiana«, so Don Rafael Más Callejas, »consejero del Obispo Trespalacios«.270 Der Chronist Don Rafael Más Callejas fungiert als Gegenstück zur ›versoffenen‹ Stimme Graciáns, dem bisherigen offiziellen Chronisten Trespalacios: »A Don Rafael Más le debemos las crónicas oficiales de la formación del Avilés; por lo visto Trespalacios no quiso encomendárselas al estilo borrachín y descuidado de su secretario Gracián, aunque los testimonios de éste nos servirán para conocer algunos pormenores íntimos de aquella infancia aparatosa.«271 Seine Beobachtungen tauchen fragmentartig im ersten Kapitel auf, eingeleitet bspw. durch »según las palabras de Don Rafael Más Callejas«272 oder »para Don Rafael Más Callejas se trata«.273 Neben dem Bischof Trespalacios erscheint »en segundo plano« noch Don Valentín González als »tutor de cámara del Nino Avilés«.274 Er ist maßgeblich für die Vermittlung der Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch zuständig. Auch ihn hören wir im ersten Kapitel von El camino de Yyaloide im Sinne von »Escuchamos las quejas de Don Valentín«275 oder »Don Valentín nos relata«276 regelmäßig als Erzählstimme. Neben dem Studium der biblischen Sprachen wird der Nino Avilés im Reiten, Tanzen, Flötenspiel, Fechten und barocker Musik geschult; insbesondere die Musik des Veneziers Vivaldi findet mit einem Augenzwinkern an Carpentiers Concierto barroco Erwähnung. Bereichert wird seine musikalische ›Ausbildung‹ jedoch durch seine nächtlichen heimlichen Exkursionen in die »barrios de Cangrejos y Piñones«,277 die er zusammen mit seinem Diener »el negrito Melodía«278 unternimmt: »Avilés gustaba de escaparse con Melodía y visitar los toques de tambores de Cangrejos y Piñones. La música africana lo

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Ebd., 157. Vgl. ebd., 51ff. Ebd., 9, Herv. i.O. Ebd., 11, Herv. i.O. Ebd., 12, Herv. N.U. Ebd., 11. Ebd., 19. Ebd., 12. Ebd., 31. Ebd., 33. Ebd., 29. Ebd., 23.

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atraía. Trespalacios pensaba que esta música primitiva dañaría el oído del alumno.«279 Melodía ist weniger Diener des Niño Avilés als »su amigo fraternal de toda la vida, [...] esclavo del Obispo Trespalacios, consejero y lugarteniente de Avilés en la futura fundación de Nueva Venecia«280. So erzählen die beiden Sklaven, Marcos und sein Sohn Simón, während der »viaje filosófico del Niño Avilés«281 durch trübe Gewässer »un cuento tan triste como la vida«282. Gerade die Entfernung zur Stadt San Juan, Sitz der kolonialen Einrichtungen, scheint das Sprechen der Marginalisierten zu ermöglichen. Bemerkenswert sind zunächst die biblische Namensgebung der beiden Sklaven und ihre besondere Verwandtschaftsbeziehung, denn spiegelbildlich wird zum Niño Avilés und seinem ›Vater‹ Trespalacios eine subalterne Vater-Sohn-Beziehung eingeführt. Der Vater Marcos verweist auf Markus, auf den Schreiber eines der Evangelien. Zugleich fungiert Markus als Patron Venedigs283 und wird ikonographisch gemeinsam mit einem geflügelten Löwen (Markuslöwe) dargestellt. Dieser betont die Kraft der Auferstehung und Todesüberwindung. Marcos verkündet nicht Jesus’ Evangelium, sondern erzählt dem Niño Avilés die Geschichte des Sklaven namens Mitumo, der eine ciudad lacustre für sein ›Volk‹ erbauen ließ, die aber schließlich zerstört wurde: »Según él aquellos zocos eran el basamento de una ciudad lacustre de negros que otrora se construyó en esa laguna. Y el fundador de aquella colonia de negros cimarrones fue un caudillo de nombre Mitumo, o algo así, que ya se me ha olvidado aquel nombre extraño en lengua de África. [...] Sus hombres estaban muy confundidos por la estancia que el negro había escogido para fundar la ciudad donde serían libres. Y le preguntaron cómo era posible establecer viviendo sobre el cieno de aquellas aguas. Mitumo, que era negro de mucho ingenio y visión, les aseguró que el mangle rojo daría gruesos troncos que hundirían en el babote, y que sobre estos zocos construiría habitáculos hechos de yaguas, matojos y caña cimarrona, pues allende de aquellos solitarios parajes crecían muchos tipos de yerbas acuáticas y abundaban los cocales. Desde aquel día todos vivieron contentos en el trabajo de construir ciudad tan extraña. Y pronto se alzaron sobre las aguas aquellas viviendas que también poblarían el fondo de la laguna, pues allí yacían invertidas para asombro de todos y gran fama de Mitumo. La noticia de la fundación se extendió por todas las haciendas, y en las noches de poca luna los negros se aventuraban a escapar de los barracones para alcanzar ciudad de tan grande fama; seducidos por el reino africano anhelaban las aguas donde los hombres serían libres. Y por así decirlo la ciudad lacustre se convirtió como en la tierra prometida.«284

Die zentrale Stadtgründung wird hier nicht mehr in Verbindung mit dem Niño Avilés gebracht, sondern noch weiter in die mündliche Vergangenheit zurückverlegt und zudem als eine Tat Mitumos ausgegeben. Jenseits der fingierten textuellen Chro-

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Ebd., 29. Ebd., 21. Ebd., 80. Ebd., 68. Das bekannte Bauwerk im Herzen Venedigs, die Basilika St. Markus, war dem Evangelisten Markus geweiht. 284 Ebd., 68f.

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nik(en) tauchen andere Legenden und Mythen auf, die einen Diskurs ›von unten‹ einschieben. Die »ciudad lacustre de negros« wird darüber hinaus in Verbindung mit einer ganz anderen Legende gebracht, die Marcos’ Sohn, Simón, erzählt. Der Name Simon könnte auf Simon Zelotes, einer der zwölf Apostel Jesu, referieren. Sein Beiname Zelotes meint im Deutschen so viel wie ›der Eiferer‹; Gracián charakterisiert ihn auch als »el negrito más novelero que he conocido«285. Er erzählt zusammen mit seinem Vater die Geschichte von der Seeschlange in den Mangroven und der Reina de África, die die Gründerin der Seestadt gewesen sein soll; kolportiert wird diese Legende von Gracián: »Según Marcos aquel mangle era conocido como Lagunilla de Mato, tenía aquel nombre por una serpiente marina que allí habitaba. [...] El hijo de Marcos nos aseguró que el único ser que podía apaciguar al monstruo [...] era la Reina de África, una sirena prieta que por lo visto vivía con la cola enredada en las raíces del mangle. Según Simon [...] el monstruo marino era especie de ángel guardián para la reina. Y los tres negros nos aseguraron que por las noches la Reina de África llamaba con cánticos muy melodiosos a su Mato, que éste era el nombre de la serpiente. [...] desde el primer día mucho me extrañó que Marcos siempre cantara en lengua de África. Aquellas plegarias o cánticos los aprendieron, según Simón, de los antepasados, que éstos se los escucharon a la mismísima Reina de África. Marcos entonces nos contó que la sirena prieta había sido gobernadora de una ciudad lacustre fundada allí en el mangle por cimarrones. Como en toda mi puta vida jamás había tenido noticias de semejante ciudad o suceso, le pregunté en cuál de los caños quedaba la colonia aquella. Marcas echosé a reír, y me aseguró que la ciudad había sido destruida por Mato cuando uno de los cimarrones quiso probar la sabrosura que la Reina llevaba entre los muslos, en este caso aletas, que por lo oído el culebrón era más celoso que el mismísimo Nemo. Entonces le pregunté si aún quedaban en pie las ruinas de ciudad tan extraña. Me contestó que el tiempo y el mangle se habían tragado hasta sus cimientos. El Niño Avilés, que había escuchado aquella fabulación con gran interés, nos discutió que la serpiente no era sino un manatí, o vaca de mar, y luego nos explicó que tales ballenas gustan de internarse en los mangles desde las ensenadas, estuarios o bahías, siendo la cala de mar su aposento favorito.«286

Trotz des regen Interesses des Niño Avilés für »los embustes de Simón y [...] las supersticiones de Marcos«287 , so Gracián, hat der Niño Avilés umgehend eine ›wissenschaftliche‹ Erklärung für die Geschichten, die sich um die Lagunilla de Mato ranken; es ist sicher kein Zufall, dass diese Gegend Mato heißt, referiert doch der Name unmittelbar auf Palés Matos, einen zentralen Vertreter der poesía negra in Lateinamerika. Auf die Spitze getrieben wird der durch Marcos und Simón repräsentierte Négritude-Diskurs durch das Auftauchen eines echten ›Seeungeheuers‹, eines Hais, der dem Kreolen Pedro ein Bein abbeißt. Der Ruderer Pedro erliegt schließlich seinen Verletzungen und der Niño Avilés bleibt mit Gracián und seinen schwarzen Getreuen allein.288

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Ebd., 67. Ebd., 59f. Ebd., 98. Vgl. ebd., 62f.

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Statt die Reise mit der angekündigten Stadtgründung enden zu lassen, umgeht der Autor sie auch im zweiten Teil der Crónica. Nueva Venecia bleibt die nicht realisierte Utopie Puerto Ricos, sie ist Metapher des dauernden Exodus, des permanenten camino. Die historische Wahrheit dieser Heterotopie ist nur noch als Vision rekonstruierbar. Diese Vision wird durch die Vielzahl an Perspektiven der Chronisten fragmentiert und multipliziert. Die Gründungsfiguren der ciudad lacustre variieren (Mitumo, Niño Avilés, Reina de África) und ihre Zerstörung wird unterschiedlich und nicht abschließend erklärt. Der Autor nennt Nueva Venecia in seiner EssaySammlung Caribeños eine »diacronotopía«: »Desde que escribí La noche oscura del Niño Avilés […] me obsede la visión de una ciudad que transita, que transcurre casi secretamente a través de otra. Llamaré a esta imagen la diacronotopía: es el antiquísimo gueto, la ciudad fundada por el judío errante y todos los pobres de la tierra, espacios donde convergen no sólo convivencias dispares sino tiempos distintos.«289

Nueva Venecia repräsentiert eine diachronotopische Stadt, die am Ende des gesamten Zyklus vom Niño Avilés gegründet werden soll. Da der Zyklus bislang unvollendet ist, bleibt dieses visionäre Projekt offen. Soto-Crespo resümiert: »[…] his narrative is also an incomplete text, an unfinished chronicle […], that confirms rather than resolves the incompletion of the nation. […] La Noche oscura presents an incomplete state as an unfinished history.«290 Zugespitzt lässt sich formulieren, dass die Pseudochronik bewusst um ein Loch, um eine Ellipse, eben um die verpasste Rebellion, herum erzählt wird. Die analeptische Narration, das Erzählen von Ereignissen aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert, markiert ein bloßes Simulakrum. Selbst der Romantitel La noche oscura del Niño Avilés ist nur ein Untertitel, ein erster Teil von einem größeren Werk. Die Crónica kreist um ein Geheimnis, dessen Entschleierung die ›Authentizität‹ von Dokumenten, Persönlichkeiten und historischen Ereignissen in Frage stellt. Die Eigenheit einer erträumten Puertorriqueñidad, eines nationalen Identitätsdiskurses, kann schließlich nur als wechselseitige Konstruktion und Kontamination der Blicke verstanden werden. Rodríguez Juliá setzt dies narratologisch durch eine Montage von Zitaten und sich ergänzender und widersprechender Chroniken um. Er fängt Resonanzen offizieller Diskurse ein und kontrastiert sie mit mündlich überlieferten Geschichten. Die Erzählperspektive in der Crónica ist vielstimmig gestaltet, doch keiner der Erzähler scheint verlässlich zu sein. Nicht unerwähnt lassen möchte ich den Gender-Aspekt, denn mit Ausnahme mythologischer, erotisch aufgeladener Begegnungsmotive in Yyaloide des Chronisten El Renegado mit der Reina de África oder des Niño Avilés mit »la indiana« finden sich keine nennenswerten Frauengestalten. Die Crónica de Nueva Venecia verweist mit ihrer Repräsentation vielfältiger Gründungsväter einer verwundeten Nation auf den »desplome del mundo patriarcal«291 . Rodríguez Juliás Crónica ist vornehmlich eine Vater-Sohn-Geschichte bzw. die Geschichte eines verwaisten Kindes, welches unter

289 Rodríguez Juliá: 2002a, 63, Herv. i.O. 290 Soto-Crespo: 2002, 477f. 291 Caballero Wangüemert: 1992, 370.

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dem Einfluss von europäischen, weißen, philantropischen oder kirchlichen Vaterfiguren (Bischöfe und Lehrer) und afro-antillanischen schwarzen ›Vätern‹ (Mitume/Mitumo und Obatal) oder ›Brüdern‹ (Melodía und Simón) aufwächst. Wir haben es anders als bei Glissant, der die Rolle des Maître auf einen gelegentlichen Auftritt beschränkt, ohne ihn je als Erzähler einzusetzen, bei Rodríguez Juliás Crónica in der Mehrzahl mit fingierten Texten von spanischen oder kreolischen, insbesondere von weißen und katholischen Chronisten zu tun. Das Scheitern der Utopien, sein »antiutopismo ilustrado«292 , deutet letztlich aber auch auf die Verabschiedung eines ›authentischen‹ Ursprungs puertoricanischer Kultur hin. Seine Schreibweise zielt auf die Erkenntnis ab, dass kulturelle Identität durch Aneignung und kulturelle Transferprozesse entsteht.eshalb inszeniert er in seinem historiographischen Diskurs den Einfluss der europäischen Aufklärung auf Puerto Rico vor allem als eine Ilustración católica. Rodríguez Juliá betont so die Eigenwilligkeit einer modernidad hispanoamericana, die eng mit esoterischen und eschatologischen Dimensionen verknüpft ist. Die Folge von Rodríguez Juliás Schreib- bzw. Erzählweise ist eine unentwegte Zirkulation des Erzählstandortes und eine Verunsicherung des Wissens; eine solche Erzählweise unterläuft jeden konventionellen Totalitäts- oder Wahrheitsanspruch. Dies erinnert an Sarduys elliptische Konstruktionen, die eine epistemische Instabilität zeigen.293 Nueva Venecia ist eine Heterotopie der Abwesenheit und entwickelt dennoch Referentialität. Rodríguez Juliás hochgradig intertextuelle Schreibweise, die immer neue Referenzen und Verknüpfungen innerhalb der Weltliteraturen herstellt, nennt Rubén González Orozco schier überwältigend.294 Aníbal Gonzalez meint, La noche oscura del Niño Avilés »produce una ›novela total‹ y su parodia a la misma vez«295. César Aira wertet Rodríguez Juliás Technik als narative »autoabsorción« und »autodevoración«, denn die Chronik »pas[a] al pasado del pasado, la genealogía de la genealogía, la explicación de la explicación« und bürstet so die offizielle puertoricanische Geschichtsschreibung unentwegt gegen den Strich.296 Interessant ist Airas Vergleich der innerkaribischen Historiographie, in der die puertoricanische Geschichtsschreibung als besonders marginal erscheine, womit ich beim Ausganspunkt meiner Argumentation, Puerto Rico sei »el tercer mundo del tercer mundo«, angelangt bin: »Lo que pasa es la trivialidad puertorriqueña, la incapacidad de Puerto Rico de tomarse en serio su historia. Los países del Caribe son un muestrario de actitudes al respecto: Cuba se toma demasiado en serio su historia […]; Haití, lo mismo pero en el vacío: una tragedia fantasmal, desplazada, de inviabilidad nacional; Dominicana: la seriedad paradójica de la insignificancia. Puerto Rico: la banalidad.«297

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San José Vázquez: 2008, 274. Vgl. dazu das Kapitel »Barocke Physik: Elliptische Konstruktionen (Severo Sarduy)«. Vgl. González Orozco: 1997, 114. González, Aníbal: 1986, 590. Aira: 1997, 30. Ebd.

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Airas bilanziert Rodríguez Juliás Narrativierung von Geschichte als halluzinatorischen Akt (»el alma nacional, alucinación de la esencia«298). Dies erinnert an Reinaldo Arenas’ mundo alucinante. Jenseits einer der Boom-Literatur zugedachten unveränderlichen lateinamerikanischen Essenz wird bei Arenas und Rodríguez Juliá jeglicher Realitäts- und Authentizitätsanspruch ad absurdum geführt. Airas Einschätzung von Rodríguez Juliás Roman endet mit den Worten: »Puerto Rico, suma de trivialidades gastronómicas, ebrias, sexuales, demonológicas, un hinchado complejo barroco a punto de estallar, Obispo-Orbe, haciendo presión contra la superficie de la historia.«299 Die von Rodríguez Juliá fingierten Sklavenaufstände sind nachträgliche utopische Gründungsmythen, die die historische Leerstelle zu füllen versuchen: »Estas novelas no son históricas. Son fundaciones utópicas que disfrazan de historicismo su textualidad. […] la historicidad se convierte en falsificación.«300 Die Crónica de Nueva Venecia pokert mit einer von Historismus getarnten wortgewaltigen und wuchernden Textualität. Rodríguez Juliás Spiel mit den literarischen Möglichkeiten der historischen Rede dient einer substituierenden Darstellung der aus der offiziellen Historiographie exilierten afro-puertoricanischen Memoria. Die Frage nach dem Volk, dem »hijo del pueblo« stellt sich wiederkehrend in der Crónica, changierend zwischen Négritude-Gemeinschaften und einem vom jíbarismo geprägten Arkadien. Doch sowohl der ausschließlich auf Afrika ausgerichtete mythologische Diskurs als auch der nationale Diskurs, der Identität im Sinne einer hispanophilen Puertorriqueñadad, lehnt Rodríguez Juliá ab. Die ›Geburt‹ puertoricanischer Nationalität kommt als Abfolge gescheiterter Utopien (négritude, jíbarismo) daher. 2.3.6 Die Crónica als superbarockes Textgewebe Wie ich gezeigt habe, handelt es sich bei der Crónica um »una utopía del supersincretismo generalizado«301. Sie situiert sich dabei nicht nur entlang diachroner Einflüsse, wie die bereits angesprochene subversive Überschreibung des überlieferten Textes Historia geográfica, civil y natural de la isla de San Juan Bautista de Puerto Rico (1788) von Iñigo Abbad y Lasierra, sondern ist auch auf synchroner Ebene hochgradig intertextuell. Antonio Benítez Rojo hält in seiner Studie La isla que se repite fest, Nueva Venecia sei »una suma de ciudades transgresoras« und La noche oscura del Niño Avilés insgesamt sei »una suma totalizadora del neobarroco«, denn die wichtigsten Vertreter des Neobarock fänden Eingang in den Roman: »[…] Lezama Lima, Sarduy, Arenas, García Márquez, Carpentier, Sánchez, Guillén, Ortiz, todos ahí revueltos con desmesurados negros y negras, con arcaísmos, neologismos y anacronismos, con el Bosco, Sade, Rasputín, Bataille, Artaud, Buñuel, Fellini, la pintura surrealista y la del nuevo expresionismo: visiones del exceso, la construcción superbarroco de la libido ›algo más‹.«302

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Ebd., 31. Ebd., 32. Rodríguez Juliá: 2002b, 69. Benítez Rojo: 1989, 285. Ebd., 286.

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Fernando Ortiz illustrierte schon in seiner Historia de una pelea cubana contra los demonios (1959), welche im Kuba des 17. Jahrhunderts spielt, dass die okzidentale Kultur die afrikanische Kultur hinsichtlich ihrer Irrationalität bei weitem übertreffe.303 La noche oscura del Niño Avilés nimmt zudem deutlich Bezug auf Carpentiers haitianische Chronik El reino de este mundo (1949) und die dort entfalteten Verfahren des real maravilloso. Dies zeigt sich bereits in den Überschriften einzelner Kapitel: »De las cosas maravillosas ... (XVI), De las extrañezas ... (XVII), De las cosas terribles y telúricas ... (XVIII), ... la batalla de los prodigios (XXXII und XXXIII), De los prodigios ... (XXXVIII), Donde se cuentan las maravillas ... (XLIII).«304 Bei Rod-ríguez Juliá handelt es sich aber um ein alptraumhaftes real maravilloso. Die kriegerischen Auseinandersetzungen werden immer wieder in übertriebener Weise angekündigt als »la más furiosa batalla que ha conocido este Mar Caribe«305 . Absurd wirken im Kontext der brutalen Kampfszenen die ebenso zahlreichen sinnlichen Ausschweifungen. Die Verschmelzung der vielen gewaltsamen und sinnlichen Eindrücke beherrscht das barocke Textgewebe: So dreht sich auf der einen Seite bei dem Figurenpaar Trespalacios und seinem Chronisten Gracián alles um das leibliche Wohl und auf der anderen Seite, vertreten durch El Renegado und seine afrikanische Königin, kreist alles um erotische und sexuelle Begierden. Die Bilder erotischer Leidenschaft und sexueller Obsessionen lassen sich als Wiederaneignung eines sich selbst entfremdeten, versklavten und ausgelöschten Körpers deuten. »[L]a erotomanía« stehe, wie Rodríguez Juliá selbst sagt, im Zusammenhang mit einer »recuperación de un cuerpo casi borrado por la explotación esclavista.«306 Die Liebesgeschichte zwischen El Renegado und der Reina de África erinnert an die erotische Begegnung zwischen dem Ich-Erzähler und Rosario in Alejo Carpentiers Roman Los pasos perdidos. Liest man diesen Roman als moderne Nacherzählung und Variante des El Dorado-Mythos, als Suche nach dem irdischen Paradies, nach dem »mundo del Génesis«,307 in dem Zeit und Raum überwunden werden, so repräsentiert die dortige Dschungelstadt Manoa eine vergleichbare Utopie wie Nueva Venecia. Genau wie bei Rodríguez Juliá bleibt bei Carpentier offen, ob die Zeitreise des Ich-Erzählers, der auf der Suche nach unbekannten, indianischen Musikinstrumenten im Urwald des Orinoco ist, nur ein Produkt seiner Einbildungskraft ist. Schon zu Beginn von Carpentiers Roman unternimmt der zivilisationsmüde Protagonist immer in der Nacht »raros viajes por los meandros de una ciudad invisible para

303 Der Untertitel ist äußerst aufschlussreich: Relato documentado y glosa folclorista y casi teológica de la terrible contienda que, a fines del siglo XVII y junto a una boca de los infiernos, fue librada en la villa de San Juan de los Remedios por un iquisidor codicioso, una negra esclava, un rey embrujado y gran copia de piratas, contrabandistas, mercaderes, hateros, alcaldes, capitanes, clérigos, energúmenos y miles de diablos al mando de Lucifer. 304 Rodríguez Juliá: 1991, 424-427. 305 Ebd., 199. 306 Ortega/Rodríguez Juliá: 1991, 155. Rubén González Orozco (1997, 8) spricht von einer »erótica que quiere redimir al cuerpo ajado«. 307 Carpentier: 1991, 318.

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él, ciudad dentro de la ciudad«308. Auch in der geordneten Welt der modernen Zivilisation gibt es Elemente des Chaotischen. Am Ende des Romans kann Carpentiers Protagonist, der eigentlich nur noch einmal abschließend in die moderne Welt zurückkehren wollte, den mythischen Ort im Dschungel nicht mehr finden. Eingang findet auch García Márquez’ Roman Cien años de soledad (1967), welcher mit seiner Familiensaga der Buendías und dem von ihnen gegründeten Dorf Macondo zum Inbegriff des realismo mágico wurde.309 Ein Leitmotiv des Buches – Macondo als ciudad de los espejos – ist aufschlussreich: Wie in der Crónica geht es um die wechselseitige Konstruktion der Blicke. Rodríguez Juliás unsichtbare Stadt erinnert außerdem an Euclides da Cunhas Werk Os Sertões (1902) und Maria Vargas Llosas Roman La guerra del fin del mundo (1981), welche beide die Stadtgründung Canudos und seine Zerstörung literarisieren. Antônio Maciel, genannt der Conselheiro, gründete im ausgehenden 19. Jahrhundert im Nordosten Brasiliens, im Sertão, einen Freistaat. Er installierte ein quasikommunistisches Sozialsystem, in dem gemeinsam gewirtschaftet wurde und religiöse Aktivitäten eine große Bedeutung hatten. Canudos als Ort des Widerstandes schien die junge brasilianische Republik (welche sich am Vorbild der Republik der Französischen Revolution orientierte) zu gefährden und wurde in einer großangelegten Militäraktion 1897 völlig ausgelöscht. Dieser historische Freistaat ist wie das imaginierte Nueva Venecia Ort einer klassenlosen Gesellschaft (Gütergemeinschaft und soziale Gleichheit), in dem Randfiguren der Gesellschaft, sozial Deklassierte – verarmte Bauern, entlaufene Sklaven und vertriebene Indios – zusammenkommen.310 Rodríguez Juliá setzt der realen Geschichte Puerto Ricos mit ihren zahlreichen kolonialen Gründungsvätern eine Heterotopie entgegen und benutzt dafür das Genre der Chronik. Ein missgebildetes Kind, ein »elephant man«311, wird zum Verkünder dieser Heterotopie. Gerade das Bild des stark missgebildeten Niño Avilés, der ohne Arme zur Welt gekommen ist, entspricht barocken Neigungen zum Monströsen und Wunderbaren; dieses Kind ist Dämon und Engel zugleich, sein Bild kippt »del encanto al espanto«312 , vermeintliche Identität schlägt ins Monströse um. Rubén Ríos Ávila deutet in La raza cómica. Del sujeto en Puerto Rico (2002) diesen Umschwung als

308 Ebd., 131. 309 Wie Katharina von Schütz (2003, 80f.) resümiert, hat sich die Forschung ohne Erfolg um eine Abgrenzung der beiden Konzepte realismo mágico (García Márquez) und real maravilloso bemüht, so dass die beiden Begriffe häufig austauschbar sind. Festhalten lässt sich, dass es sich um einen Entwurf einer ›anderen‹ Wirklichkeit handelt, die eine vermeintliche Eigenart des Kontinents impliziert. 310 Rubén González (1997, 77) sieht auch eine Verwandtschaft zwischen La noche oscura und Der Name der Rose von Umberto Eco. Rodríguez Juliá erfindet den Historiker und Herausgeber der Chronik, Alejando Cadalso. Eco gibt sich als Übersetzer eines Manuskripts aus. 311 Benítez Rojo: 1989, 282. 312 Van Haesendonck: 2008, 30.

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Pathologisierung des Narziss-Mythos’, denn dem puertoricanischen Narziss gelingt bei seiner Identitätssuche nur ein sehr getrübter Blick in den Spiegel.313 Auch die historische Katastrophe (Deportation, Versklavung, Tötung) – gar von Apokalypse ist die Rede314 – wird in barocker Manier geschildert: »La noche oscura del Niño Avilés es una interrogación, a través del espectáculo barroco, por el rostro: la identidad es lo que motiva a esta novela de aventuras, violencia y demencia. […] explora el teatro de la historia caribeña, como el espectáculo de una pesadilla.«315 Die Crónica befördert eine selektive auf die Apokalypse fixierte Bibellektüre. Rodríguez Juliá situiert sich in der Tradition des »barroco cubano«316 , denn gerade das Barock hält er für geeignet, Gewalt und Komik zusammen laufen zu lassen: »El barroco produjo libros crueles y a la vez cómicos; la gnosis del contrarreformismo es recalar en las miserias y exaltaciones del cuerpo, [...].«317 La noche oscura del Niño Avilés bezeuge mithilfe der Parodie »este entusiasmo con la violencia del barroco contrarreformista«318. Das stilistische Mittel der Parodie ist nötig, um einen »espacio utópico de la pesadilla«319 zu konstruieren. Und weiter: »[…] el espacio narrativo tendrá que ser de congregación y celebración de todas nuestras voces; la historia colonial nos obliga a la carnavalización del lenguaje, esa aceptación de la comparsa a la vez que fijamos la emblemática del disfraz.«320 Das Barock mit seinem hohen Grad an Verkleidung, Tarnung, Karnevalisierung und Fiktionalität bietet sich für eine Geschichte mit vielen Leerstellen in besonderer Weise an. Rodríguez Juliás neobarocken Strategien, sprich seine Faszination für Simulationen, Allegorien, Metaphern und Heterotopien lässt eine andere Form der Moderne aufscheinen, die ein mythisch-historisches Bild von Puerto Rico im Sinne des Glissant’schen prophetischen Mythos’ entwirft. In diesem Sinne liest sich La noche oscura del Niño Avilés als exzentrische Anekdote einer Gegenwelt. Puerto Rico ist hier vor allem Nueva Venecia, »donde el mesianismo de los negros sublevados busca fundar un mejor mundo. Toda esa historicidad es una indagación por la cultura plural y el sincretismo festivo y vital«321 . Die Konstruktion einer solchen Geschichte »pasa por la imaginación: la misma historia, tal como es cronicada aquí, es una invención de la novela, y, por lo tanto, la ficción produce el canon de la historia. La identidad es ese conflicto de credos, lenguas y deseos, esa lucha contra los poderes humanos y divinos, ese espectáculo de la razón y sus monstruos.«322 Ziel ist es, so Julio Ortega, »reescribir la historicidad, no la histo-

313 »La escritura es en Puerto Rico de una manera fundacional el espejo de Narciso« (Ríos Ávila: 2002, 206). 314 Vgl. Ortega: 1991, 65. 315 Ortega: 1991, 64f. 316 Rodríguez Juliá: 2002b, 72. 317 Ebd., 68. 318 Ebd. 319 Ebd., 69. 320 Ebd., 73. 321 Ortega: 1991, 64. 322 Ebd.

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ria, y de reconstruir nuestra relación con el imaginario social de Puerto Rico«323. Das Spannungsverhältnis von Realität und Fiktion zeigt sich bspw. in der karnevalesken Transformation der Hauptstadt San Juan in ein »reino negro«324, in eine »ciudad rebelde«325 . Im ausgehenden 18. Jahrhundert war dies eine wichtige militärische Bastion; im Roman hingegen taucht die Stadt als ein Ort zeremonieller/ritueller Handlungen auf: »Las celebraciones de los negros se convirtieron en la mejor defensa de la ciudad. Aquellos ritos, danzas, incesantes toques de tambor perseguían cruelmente a las tropas invasoras. […] La fuerza de aquel reino fundado sobre el mito de un regreso a las tierras de los antepasados, mantuvo la enorme marcha de hombres y mujeres, sus ojos encendidos de orgullo por un 326 pasado que precariamente renacía.«

Liest man die zeitgenössischen Schilderungen der Journalistin Françoise Barthélemy anlässlich der Feierlichkeiten am 25. Juli (dem Tag der nordamerikanischen Invasion) am Ende des 20. Jahrhunderts, so drängt sich der Eindruck auf, dass Rodríguez Juliá schlicht die aktuelle puertoricanische Realität beschreibt: »Chaque année, dans le village côtier de Loyza, peuplé jadis d’esclaves noirs, les habitants célèbrent le 25 juillet les fêtes de l’apôtre saint Jacques. Joutes musicales, bruyants défilés de voitures, processions évocatrices d’un carnaval. Les principaux acteurs en sont les vejigantes. Le visage recouvert d’un masque aux couleurs vives taillé dans l’écorce de noix de coco, vêtues de larges tuniques à manches larges qui les font ressembler à des chauves-souris, ces figures grotesques dansent sur le roulement des tambours de la bomba et de la plena. Elles représentent, dit la légende, le Diable, mais aussi les maures qui combattirent en Espagne. Leurs cornes, leurs yeux, tous ces éléments viennent de la religion yoruba. Saint Jacques est le patron de Loyza, mais du secteur aisé mediana alta.«327

Immer wieder tauchen in La noche oscura del Niño Avilés Analogien von Kampf und Karneval auf, bspw. »aquel suceso tan singular que parecía más séquito de carnestolendas que batalla...«, »esa extraña embarcación más parece torre marina que nave de guerra«328 oder »esa batalla que es carnaval del infierno, ya que no pesadilla del mismísimo Lucifer«329. Der Erzähltext fungiert als ein Pastiche, als ein barocker Karneval von Bildern, der über groteske und perverse Färbungen zugleich das afrokaribische Kulturerbe einzubeziehen versucht. Die fiktionale Dimension des Textes, gerade die Beschreibung des Deliriums in Bildern ekstatischer Zustände ausschweifender Gewalt, Lust und Völlerei dient dazu, die Realitäts- und Rationalitätsebene zu überschreiten. El Renegado berichtet: »pien-

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Ortega/Rodríguez Juliá: 1991, 149. Rodríguez Juliá: 1991, 43. Ebd., 44. Ebd., 43f. Barthélemy: 1995. Rodríguez Juliá: 1991, 242. Ebd., 244.

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so que esta evocación es fiel emblema del deseo negro de remontar vuelo hacia la libertad de su pasado en el grande continente de África«330. Das zeremonielle Wiederbeleben der Ahnen zielt einerseits darauf, »unir la alegría a la memoria«331, und andererseits dient es der »restauración de la dignidad de todo un pueblo, ni más ni menos, expulsado cruel y salvajemente de su muy lejana África por la pólvora europea«332. Die zeremonielle Initiation zeichnet sich dadurch aus, dass nur junge Menschen, die so wenig wie möglich durch Sklaverei geprägt sind, als neue Königinnen und Könige herangezogen werden, und dass ein Teil der Menschen unter dem Kommando von Obatal gewissermaßen ›geopfert‹ wird. Letzteres dient Obatals uneingeschränktem Herrschaftsanspruch und führt dazu, dass »la celebración [convertía] en tragedia dolorosa«333 . El Renegado berichtet: »Pronto avivé la oreja y me enteré de que los viejos escogerían – según sus mejores recuerdos, que éstos se remontaban a los antiguos viajes que sus antepasados hicieron desde África – para reyes y reinas aquellos mozos y doncellas que por su tronco dinástico merecieran tal autoridad. [...] Fíjense ustedes que aquella era la más grande celebración desde que Obatal se hizo dueño del poder, pues en ésta la gente de las distintas tribus de África aclamarían a sus reyes y reinas. […] En aquella plazoleta se anudarían lazos con la antiquísima tradición que la crueldad del blanco había destruido. Y el ausente Obatal consideró que la grande multitud desluciría celebración tan solemne. [...] hasta pocos días antes habían sido esclavos, y ahora eran hombres, y hasta reyes y reinas. Así se reconoció la autoridad de la tradición, y no la fuerza del poder, porque éste residía en el caudillo Obatal, quien estaba ausente de allí, de tan majestuosa ceremonia, por su condición plebeya. [...] Es prudente señalar que los dominios les fueron otorgados a los más jóvenes; ello fue así porque aquellos reinos, que se hacían todos libres, debían tener el menor rastro de esclavitud. Los mozos eran los que por menos tiempo habían sufrido el duro trato de la esclavitud; a ellos les tocaba el grande honor de hacer perdurar la libertad futura. Los viejos ya estaban muy cansados por la vida esclava, y jamás habrían podido conducir, ajenos como estaban a la libertad, el gobierno de un reino.«334

Diese Textstelle verdeutlicht eindringlich die Ambivalenz des Befreiungsversuchs: Einerseits bleibt die Cimarron-Gesellschaft durch die anhaltende Gewalt mit der Vergangenheit verstrickt, andererseits ist sie aber auch durch die Umwandlung ehemaliger Sklaven in Menschen, gar in Könige, deutlich auf die Zukunft gerichtet. Doch schon hier wird von dem »intento de libertad«335 und der »ilusión de libertad«336 gesprochen, da die Freiheit von Anfang an von der spanischen Flotte bedroht ist. Obatal verwandelt sich indessen vom Freiheitskämpfer zum Diktator: »Obatal […] era el vivo emblema del poder convertido en tiranía, del esfuerzo convertido en abandono. A la verdad que tantos gustos y placeres lo habían engordado mucho, y

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Ebd., 45. Ebd., 50. Ebd., 51. Ebd. Ebd., 50-53. Ebd., 53. Ebd., 54.

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mostrábase canoso de cabellos y ramplón de gestos.«337 Bezeichnend bei der Zeremonie sind auch die ›Pausen‹, sozusagen die Ellipsen des Trommlers: »Por momentos el viejo titubeaba, y no sabía si dar el golpe en uno u otro tambor, pues la memoria le fallaba. [...] También hubo momentos en que su memoria como que se quedó en blanco.«338 Die Crónica ist ›superbarock‹ auf mindestens zwei Ebenen: Einerseits aufgrund ihrer Vielzahl intertextueller Referenzen, andererseits aufgrund ihrer barocken Themen wie Karnevalisierung, Mesallianzen von Mensch und Tier, der Engführung von Wunderbarem und Monströsem mittels des Niño Avilés oder auch aufgrund der unentwegten ›Täuschungen‹, dem Zusammenlaufen von Fiktion und Fakten. Wie im »Prólogo« angekündigt, fungiert die Crónica als Eintritt ins unendliche Palimpsest.

337 Ebd., 121. 338 Ebd., 52.

3 Jean-Claude Fignolé: Spiralisme und Chaos »Toutes les histoires sont venues échouer sur le côté de cette île […].« EMILE OLLIVIER: MILLE EAUX, 1999 »L’Apocalypse a déjà eu lieu tant de fois […] dans cette île.« YANICK LAHENS: LA COULEUR DE L’AUBE, 2008 »Découvrir que l’on s’est trompé sur un pays est presque aussi douloureux que de se sentir trahi par un proche. Le choc est encore plus violent dans le cas d’une île comme Haïti, élue par l’histoire première République noire.« FABIENNE KANOR: D’EAUX DOUCES, 2004

3.1 H AITI – VON DER ERSTEN › SCHWARZEN R EPUBLIK ‹ ZUM » PAYS NAUFRAGÉ « Durch das verheerende Erdbeben vom 12. Januar 2010 wurde Haiti kurzzeitig von der Weltöffentlichkeit wahrgenommen. Seitdem ist die Internationale Gemeinschaft gefordert, einen gigantischen Neuaufbau für ein schwer traumatisiertes Land in Angriff zu nehmen. Gerade die Geschichte Haitis sagt viel darüber aus, warum das Land dieser Naturgewalt so ausgeliefert war. Andrea Böhm kommt in Die Zeit zu dem Schluss: »[…] mit den Millionen Francs, die dem Land über Jahrzehnte von den ehemaligen Kolonialherren als ›Entschädigung‹ abgepresst wurde, könnte man einen guten Teil des Wiederaufbaus finanzieren. Haiti ist mit einem Schuldenstrick um den Hals geboren, den es fast 200 Jahre lang nicht hat abstreifen können. Das vor allem erklärt seinen Zustand vor und nach dem Beben.«1

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Böhm: 2010, 1.

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Haitis Geschichte ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich, widersprüchlich, beeindruckend und erschreckend. In topographischer Hinsicht teilt sich Haiti mit der Dominikanischen Republik die Insel Hispaniola und weist somit – wenn auch auf nationaler Ebene stark geleugnet – vielfältige ethnische und kulturelle Gemeinsamkeiten mit dem spanischsprachigen Teil der Insel auf. Gemeinsam ist der zweigeteilten Insel, so Ulrich Fleischmann, dass »Zucker und Sklaverei auf auffällige Weise aus der Literatur ausgeschlossen [sind]: Beide Nationen dissoziieren ihr Selbstbild von dieser historischen Realität und ziehen es vor, sich an andere Selbstbilder, die der französischen Aufklärung oder der spanischen Kultur, zu halten«2. Diese ›Selbsterfindung‹ von fiktiver, nachträglicher und von Europa herangetragener Kulturalität, bei gleichzeitiger weitgehender Verdrängung der afrikanischen Vergangenheit und des Erbes der Sklaverei, ist problematisch und gefährlich, da sie in Selbsthass umschlagen kann, wie die dortigen aufeinander folgenden Diktaturen mit ihren Massakern an der eigenen Bevölkerung, die so genannten ›ethnischen Säuberungen‹ bezeugen.3 Die Halbinsel Haiti stand aber vor allem am Anfang multipler weltweiter Dekolonisationsbewegungen und wurde dafür mit Embargos und Militärinterventionen hart abgestraft. Es war das erste Land Lateinamerikas, das sich aus der europäischen Kolonialherrschaft löste und die Lancierung des Gleichheitsgedankens auf Sklavenhaltergesellschaften anwendete: »Première révolte d’esclaves qui ait aboutie dans l’histoire moderne et qui ait montré à la modernité ses propres contradictions, première république noire du monde et premier pays du Tiers-Monde avant la lettre«,4 wie es die haitianische Autorin Yanick Lahens formuliert und deshalb betont: »Haïti n’est pas une périphérie. Son histoire fait d’elle un centre.«5 Für Hans-Jürgen Lüsebrink stellt die Haitianische Revolution gar das zweite, einschneidende historische Ereignis nach der Conquista dar.6 Im Vergleich zu den anderen frankophonen Inseln Martinique und Guadeloupe zeigt sich einen deutliche »déphasage«7 der Dekolonialisierung. Die Haitianische Revolution war zentraler Impulsgeber der lateinamerikanischen Geschichte und ist im Kontext der späteren nordamerikanischen Unabhängigkeitskriege sowie der Mexikanischen und der Kubanischen Revolution als großes Umbruchserlebnis zu sehen. Doch, so Lüsebrink, »die Geschichtsschreibung scheint hier paradoxerweise kolonialen Diskursstrukturen zu folgen, die die französischsprachige Karibik einer völlig anderen, autonomen kulturellen Logik verhaftet sieht und sie […] nicht zu Lateinamerika hinzurechnet.«8 Die Französische Revolution brachte in Frankreich das Ancien Régime zum Einsturz. Die Destabilisierung der Metropole zitterte nach in den Kolonien, konzentrierte

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Fleischmann: 1993, 128. Vgl. ebd., 128. Die Zeit vom 16. Jahrhundert bis zur Haitianischen Revolution wird in der dominikanischen Geschichtsschreibung mit den Worten miseria oder decadencia bezeichnet; erst dann scheint eine eigene Zeitrechnung einzusetzen, die aber nicht weniger von Gewalt und Fremdherrschaft geprägt ist, vgl. Fleischmann: 1993, 112; Ludwig: 2008, 44ff. Lahens/Ette: 2002, 230. Lahens: 2010. Vgl. Lüsebrink: 1994, 158. Vertiefend zur Revolution in Haiti vgl. Quintern: 2004. Jonassaint: 2005, 109. Lüsebrink: 1994, 150.

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sich hier erneut, angestoßen durch Ideen, die auch die koloniale, überseeische Wirklichkeit veränderten. Haiti wurde zum Multiplikator eines diskontinuierlichen Revolutionsprojekts in seinen außereuropäischen Verzweigungen.9 Haitis Sklaven forderten 1804 nicht nur bürgerliche Rechte der Französischen Revolution ein, eben die Universalisierung der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789 – das Kernstück der Revolution in der überseeischen Sklavenhaltergesellschaft war der Erlass zur Abschaffung zur Sklaverei –, sondern machten auch bürgerliche Enteignung zum virulenten Thema. Sie opponierten gegen Plantagenwirtschaft und damit gegen das dominierende Wirtschaftssystem des aufgeklärten 18. Jahrhunderts. Die Westhälfte der Insel Hispaniola, die von 1697 bis 1804 als französische Kolonie den Namen Saint-Domingue trug, gehörte im 18. Jahrhundert zur reichsten Kolonie Frankreichs.10 La perle des Antilles sicherte ein Drittel von Frankreichs Außenhandel – »le Koweit du siècle de Voltaire«11. Als zynische Gegenleistung für die Anerkennung der Unabhängigkeit Haitis im Jahr 1825 verlangte Frankreich jahrzehntelang hohe Entschädigungszahlungen für ehemalige Plantagenbesitzer; Frankreich bürdete Haiti damit eine hohe Hypothek auf. Die Haitianer gerieten so früh in eine Schuldenfalle. Dieser Entschädigungsanspruch seitens der ›enteigneten‹ Sklavenhalter, der die Ausbeutung der schwarzen Unterschichten auf eine neue kapitalistische Grundlage stellte, ist einer der Hauptgründe für die anhaltende ökonomische Unterentwicklung.12 Nicht zu vergessen ist auch der desolate Zustand der Insel nach dem 12jährigen Unabhängigkeitskampf (1792-1804), welcher rund 100 000 Menschen das Leben kostete und eine verwüstete Infrastruktur hinterließ. Die Wirtschaft, die bis dahin ausschließlich auf den Export ausgerichtet war, war durch den Krieg zum Erliegen gebracht. Dazu kam 1844 die Abspaltung des Ostteils der Insel (der späteren Dominikanischen Republik), die massive politische Isolation bzw. die dauernde Bedrohung von außen aus Angst vor kriegerischer Wiedervereinnahmung, sowie die diversen neokolonialistischen Bestrebungen der Großmächte Frankreich und den USA, die in der us-amerikanischen Besatzung Haitis von 1915-1934 gipfelte.13 Neben dramatischen Naturkatastrophen behinderten diese politischen Interventionen den schwierigen Emanzipationsprozess Haitis. Dubois fasst zusammen: »Haïti peut

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In der Folge unterstützte Haiti auch Venezuela, Peru und Kolumbien bei ihrem Unabhängigkeitskampf unter Revolutionsführern wie Bolívar und Miranda. Etymologisch hat die Insel eine bemerkenswerte Um- und Neubenennung erfahren: Zunächst hieß sie in der Sprache der Arawaks Ayiti (»le pays montagneux«), ab 1492 Hispaniola, während der spanischen Kolonisierung Santo-Domingo und während der französischen Kolonisierung Saint-Domingue, bis sie mit der Unabhängigkeit wieder ihren ursprünglichen Namen annahm und seitdem als Republik Haïti bekannt ist. Dass man mit Haiti als Staatsnamen eine alte indianische Bezeichnung wählte, war von hoher symbolischer Bedeutung. Nesbitt: 2006, 655. Vgl. ebd., 655; Dubois: 2005, 407. Métellus hält in seinem Essay Haïti, une nation pathétique fest: »Il faut bien voir dans l’occupation d’Haïti de 1915 à 1934 un acte de banditisme international au moins aussi odieux que celui que commirent les conquistadores espagnols de 1492 à 1503« (Métellus: 1987, 43).

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exister comme un grand village de marrons, un quilombo ou un palenque. Il n’est pas question de l’accepter dans le concert des nations. […] Ce pont qui n’existe pas entre Haïti et l’extérieur est le lieu de ›la faillite de l’État‹.«14 Die Diskrepanz zwischen stolzer, revolutionärer Selbstbefreiung einer traumatisierten »population transplantée«15 und anhaltender faktischer Abhängigkeit ist offenbar. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den pays domtomisés und Haiti, so lässt sich festhalten, ist die grundsätzlich unterschiedliche politische Geschichte: Haiti wurde am 1. Januar 1804 unabhängig, auf Martinique und Guadeloupe wurde die Sklaverei erst 1848 offiziell abgeschafft, dann blieb die politische und wirtschaftliche Zugehörigkeit zu Frankreich bis hin zur Départementalisation 1946 und darüber hinaus. Würde man die beiden Regionen in Analogie zu Glissants romanesker Saga über aufständische und angepasste Sklaven stellen, so repräsentiert Haiti die anhaltende Marronnage und Martinique/Guadeloupe eine noch immer in neo-kolonialen Strukturen verhaftete Region: »Etre descendant d’esclave en Haïti, c’est en quelque sorte descendre de Boukman, de Dessalines, sinon de ces milliers d’hommes qui arrachèrent de leur main une étoile au sein des cieux coloniaux, et conquirent dans la lutte leur liberté. En Martinique, en raison d’un destin différent, l’identité est moins claire à ce propos, et l’accès à la citoyenneté française en 1848 et les statuts successifs de département, puis de région française et européenne rendent probablement difficile l’idée d’une émancipation totale à l’égard de la métropole esclavagiste des premiers temps.«16

Obgleich mit Maximilien Laroche einzuwenden ist, ob der Marron für Haiti nicht eine »figure dépassée« sei, denn der einstige Guerillero habe sich dort schon 1804 in einen »homme d’état« gewandelt;17 der Marron sei nur eine Übergangsfigur gewesen. Aktuell ist Haiti im Gegensatz zu allen anderen Inseln der Karibik kein touristisches Urlaubsziel. Seit dem Erdbeben 2010 ist sie ein Katastrophengebiet. Zuvor war es bereits ein Land in einer extrem angespannten Sicherheits- und Versorgungslage: Armut, Massenarbeitslosigkeit, fehlende Infrastruktur und institutionelle Strukturen, hohe Inflation und Auslandsverschuldung sowie Korruption bilden den alltäglichen Nährboden für Gewalt. Es ist ein Land, welches den größten Teil seiner Geschichte

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Casimir: 2005, 12-15. Dalembert: 1998, 42. Degoul: 2004, o.S. Vgl. Laroche: 1988, 185. Am Beispiel von Werken von Glissant, Chamoiseau und Confiant zeigt Burton in Le roman marron (1997), dass gerade für Chamoiseau und Confiant weniger die ›große‹ als die intraurbane Marronnage von Bedeutung ist: »›petits‹ marrons qui s’obstinent à ›tourner‹ autour de la plantation [...] enfin quimboiseurs, séanciers et autres ›mentors‹ qui, eux aussi, habitent les interfaces entre les mornes et la plaine« (ebd., 17). James Arnold spricht davon, dass es am Vorabend der Französischen Revolution 282 Marrons im Vergleich zu 68 396 Sklaven auf Martinique gegeben habe; 1815 hingegen habe es keine Ansiedlungen von Marrons mehr gegeben. Arnold kommt zu dem Schluss, dass gerade aufgrund des Mangels der Marron eine solch zentrale Figur in der martinikanischen Literatur sei, vgl. Arnold: 2006, 645.

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unter Gewaltherrschern und Kleptokraten unterschiedlichster Couleur und Ideologie leidet, ein Land zwischen Heldenverehrung und Hoffnungslosigkeit, zwischen Aufklärung und Voodoo. Haiti, aufgebaut auf der traumatischen Erfahrung der Sklaverei, changiert unaufhörlich zwischen Utopie und beunruhigender Heterotopie. Einerseits war Haiti erste ›schwarze‹ Republik, andererseits verdichten sich hier Diktaturen, Staatsstreiche und Papadokratien. Totalitarismen wie das Massaker von 1937,18 der Duvaliérisme,19 die Massenemigration und der anhaltende Exodus haitianischer Intellektueller20 sind Ausdruck davon: »Un haut niveau de résistance culturelle au lourd héritage de l’esclavage et de la colonisation«21 steht kontrastiv zu dem Versagen, republikanische und demokratische Strukturen aufzubauen. Daher charakterisierte René Depestre Haiti bereits weit vor dem katastrophalen Erdbeben als »une parenthèse vide, sur les plans politiques, des institutions civiques, du droit«22. Der Ballast der überdimensionalen Auslandsschulden, zusammen mit einer kaum vorhande-

18 Der gewaltsamen Verschleppung und Versklavung folgte im frühen 20. Jahrhundert die Migration in die wohlhabendere Dominikanische Republik. Dort wurden die Einwander aus Haiti jedoch nicht nur rassistisch diskriminiert, sondern auch Opfer brutaler Pogrome. Der dominikanische Diktator Trujillo ließ im Oktober 1937 in einer groß angelegten Militär- und Polizeiaktion die Grenzregion zu der Republik Haiti von illegalen Einwanderern ›dominikanisieren‹. Schätzungen zufolge wurden 42.000 Haitianer ermordet – alle, denen die erneute Migration, in diesem Fall die rechtzeitige Rückkehr nach Haiti, nicht gelang. Die Haitianer nennen das Massaker »les Vêpres Dominicaines« und die Dominikaner »l’Opération Persil«. Das Massaker basierte auf der Leugnung ethnischer Kollektivität, denn die Menschen der Insel Hispaniola hatten sich und ihre Kultur während der Jahrhunderte so vermischt, dass sich die Schergen Trujillos einer ›linguistischen Methode‹ bedienten: Kriterium für Leben oder Tod war die Aussprache des Wortes perejil (Petersilie), vgl. Fleischmann: 1993, 124 u. Arnold: 2006, 649. Wurde das Wort mit einem kreolischen Akzent ausgesprochen, das heißt, wurde das rollende r durch ein w und das j durch ein g ersetzt, bedeutete das den Tod. Eine minimale linguistische Differenz, das Phantasma einer reinen Muttersprache, entschied über Leben und Tod. Die Ablehnung der afrikanischen Vergangenheit und die gewaltvollen Homogenisierungsstrategien gipfelten in Selbstvernichtung, denn Trujillo versuchte in den Massakern die schwarze Kultur zu liquidieren, der sein Land selbst angehört. Der Ausschluss des haitianischen Elements steht symbolisch für das afrikanische Element. Zur literarischen Erinnerung an das Massaker von 1937 entlang hispano-, franko- und anglophoner Texte vgl. Graziadei: 2014. 19 Duvaliérisme meint die Familiendiktatur der Duvaliers (1957-1986). In dieser Zeit flohen haitianische Oppositionelle zu Tausenden vor dem Terrorregime des Diktators François Duvalier (Papa Doc) und seines Sohnes Jean-Claude Duvalier (Baby Doc). 20 Zum Exodus vgl. Louis-Philippe Dalemberts preisgekrönten Roman L’Autre face de la mer (1998). Dieser Roman beschreibt gewaltsam erzwungene und (vermeintlich) freiwillige Migrationen des 20. Jahrhunderts. In Einschüben, die das gesamte Buch durchziehen, wird auf einer zweiten Ebene ohne jede Interpunktion die qualvolle Überfahrt eines Sklavenschiffes von Afrika nach Saint Domingue geschildert. Dieser Subtext verweist auf die tieferliegenden Ursachen der Gewalt, die die haitianische Gesellschaft bis heute prägt. 21 Depestre: 2004. 22 Depestre: 2000, 6.

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nen Infrastruktur und einem hohen Maß an Korruption führten in der Vergangenheit immer wieder zur Auflösung staatlicher Strukturen. Will man die aktuelle Geschichte Haitis verstehen, so macht es Sinn, sich mit den historischen Wurzeln Haitis auseinander zu setzen. 3.1.1 Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Haitianischen Revolution »Können historische Erzählungen eine Ereignislogik darstellen, die in der Welt, in der diese Erzählungen stattfinden, als undenkbar gilt? Wie schreibt man eine Geschichte des Unmöglichen?«23 Mit diesem Versagen der Kategorien konfrontiert uns Michel-Rolph Trouillot in seinen Überlegungen zur Bagatellisierung der Haitianischen Revolution. Die Stimme der Subalternen in den kolonialen Archiven zu finden, ist problematisch, so Trouillot in Silencing the Past: Power and the Production of History (1995), denn die Geschichtsschreibung muss dafür ihre eigenen Produktionsbedingungen hinterfragen. Die Haitianische Revolution sprengte zu ihrer Zeit den Begriffsrahmen, denn die Vorstellung vom ›Schwarzen‹ war schlicht unvereinbar mit der Idee einer ›Sklavenrepublik‹. Daher fordert Françoise Vergès, die Querverbindungen zwischen dem Kolonialen und dem Nationalen zu thematisieren statt die Kolonialgeschichte als eine Geschichte in ›Übersee‹ zu verhandeln: »Die Ordnung des Diskurses und seines Schweigens strukturiert das historische Feld, so z.B. das Schweigen über die Revolution in Haiti in den historischen Berichten des 18. Jahrhunderts.«24 Sklaven als Akteure der Weltgeschichte anzuerkennen, verlangt nach einem anderen Geschichtsverständnis, nach einem Blick, in denen Sklaverei oder Rassismus weit mehr sind »als störende Fußnoten in der narrativen Ordnung [des Westens]«25. Als Konsequenz hält Trouillot fest: »Die undenkbare Revolution wurde zu einem Nichtereignis.«26 Zu Haitis Staatsgründung durch ehemalige Sklaven und Sklavinnen gibt es bis heute keine Parallele. Der Diskurs hing der Praxis hinterher, denn »[m]an muss sich vor Augen führen, dass die wichtigsten Glaubenssätze der politischen Philosophie, die zwischen 1791 und 1804 in Saint-Domingue/Haiti realisiert wurden, von der Weltöffentlichkeit erst nach dem Zweiten Weltkrieg anerkannt wurden. Bei Ausbruch der haitianischen Revolution wären nach heutigen Standards lediglich fünf Prozent der Weltbevölkerung von 800 Millionen Menschen als ›frei‹ anzusehen gewesen.«27

Die Unsichtbarkeit der Haitianischen Revolution in den westlichen Geschichtsbüchern oder ihre Bagatellisierung zu einer schlichten Revolte, Rebellion oder einem

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Trouillot: 2004, 182. Vergès: 2006. Trouillot: 2004, 195. Ebd., 191. Ebd., 188. Die Vereinigten Staaten und der Vatikan erkannten die Unabhängigkeit Haitis erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an.

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Aufstand prangert Trouillot an.28 Angesichts der Tatsache, dass Frankreich mehr Soldaten in Saint-Domingue als später in Waterloo verlor, betont die Radikalität der Revolution. Umso größer ist das Erstaunen über das anhaltende Schweigen in der Weltgeschichte zu diesem außerordentlichen Ereignis.29 Carolyn Fick spricht in The Making of Haiti von »one of the great revolutions of the modern world […] on the one hand, specifically and uniquely Caribbean and, on the other, an integral part of the history of Western civilization«30. Trouillot verweist jedoch nachdrücklich auf die Leerstelle in der westlichen Geschichtsschreibung, die zu einem Verschweigen und zur Unsichtbarkeit des Widerstandes von Sklaven geführt habe.31 Sybille Fischer analysiert in Modernity Disavowed die Ausblendung der Sklaverei und ihrer konsequenten Bekämpfung (besonders sichtbar in der Haitianischen Revolution) als konstitutives Element der europäischen Moderne.32 Eine solche Kritik an der Moderne und die Hervorhebung der von den Sklaven selbst erkämpften Abolition stellt auch den so genannten Schoelcherisme, also die Vorstellung, dass die Abschaffung der Sklaverei allein von der abolitionistischen Bewegung im Mutterland ausging, in Frage. Nick Nesbitt charakterisiert Haiti als Gegenmoderne und proklamiert die Insel als eine Art Heterotopie, als einen verleugneten Teil der ›Ersten Welt‹: »Haïti a toujours été perçue dans l’Occident moderne comme un manque, une pure négativité faite de la violence, destruction, pauvreté, blocage politique, dictature, exploitation. Le parfait champ d’épandage de nos défauts et de nos échecs inavoués, en somme: comme si tout cela n’existait que sur ce Continent noir du Nouveau Monde. […] il y a aujourd’hui dans le monde plus de travailleurs esclavagisés (au moins vingt-sept millions) que jamais dans l’histoire hu-

28 Vgl. ebd., 192f. 29 Vgl. zwei Studien, die Napoleon im Kontext von Genozid und Kolonialismus gegenlesen: Le Crime de Napoléon (2005) von Claude Ribbe und Napoléon, l’esclavage et les colonies (2006) von Pierre Branda und Thierry Lentz. Neben geschickten militärischen Operationen und einer britischen Seeblockade darf die damalige Gelbfieber-Epidemie nicht unterschätzt werden, die den Interventionstruppen von Napoleon auf Haiti schwer zu schaffen machten. 30 Fick: 1990, 1. 31 Hans Christoph Buch hält anlässlich des 2008 in Port-au-Prince durchgeführten Literaturfestivals Étonannts voyageurs, bei dem sich Schriftsteller aus Haiti und anderen Karibikstaaten mit Autoren aus Europa und Nordamerika trafen, in der FAZ fest: »Trotz des Elends und der Instabilität, die Haitis Hauptstadt zur Hochburg der Drogenmafia und die Slums zu No-go-Areas werden ließen, ist Port-au-Prince neben Havanna die wichtigste Kulturmetropole der Karibik und blickt auf eine stolze Geschichte zurück. Die zweitälteste Republik der Neuen Welt hat sich aus eigener Kraft von der französischen Kolonialherrschaft befreit, und anders als in Nord- oder Südamerika waren es nicht revoltierende Kolonialherren, sondern aufständische Sklaven, die gegen die Elite der napoleonischen Armee ihre Unabhängigkeit erkämpften und mit der Staatsgründung besiegelten: Ein welthistorisches Ereignis, vergleichbar Napoleons Niederlage in Russland, das von eurozentrischen Historikern bis heute totgeschwiegen wird.« 32 Fischer: 2004.

318 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN maine. La Révolution haïtienne exige de nous que nous mettions en cause le système de notre propre existence, dès lors qu’il laisse exister cet esclavage.«33

Maximilien Laroche unterstreicht die mit Haiti verbundene Gegen-Geschichte: »Or l’histoire d’Haïti, pour les Haïtiens, est une contre-Histoire, une Histoire qui se fait, en même temps, parallèlement et contre une autre Histoire: celle de la France colonisatrice, de l’Europe esclavagiste et de l’Occident impérialiste.«34 René Depestre beschreibt indessen die aktuelle Situation Haitis als einen »appel au secours«, als ein »spectacle désolant d’un mini-État-zombie à l’abandon«35. Die außergewöhnliche Geschichte Haitis lasse sich mittlerweile nicht mehr als identitäres Modell generieren, denn sie sei zu einem »jacobinisme-noir-à-l’haïtienne«36 und zu einer unabgeschlossenen Staatsbildung degeneriert. Jean-Claude Fignolé spricht von einem »pays naufragé«37 und die internationale Staatengemeinschaft von einem »État en faillite«.38 Die der Französischen Revolution selbst inhärenten ideologischen Widersprüche (Terror und Vernichtung von Besitz) wurden von der Haitianischen Revolution übernommen: »Contrairement à l’idéologie de la Révolution française, que les droits de l’homme et du citoyen, le code civil, la civilité démocratique, la souveraineté populaire, la laïcité, l’autonomie de l’individu dans la liberté, permutèrent en valeurs républicaines, notre négritude jacobine s’empêtra dans les pires excès de la violence politique pour rien. En Haïti, le Grand Mécanisme denté de l’histoire accommoda de façon récurrente les structures coloniales de la terreur aux institutions et aux mentalités de la société ›nationale’ haïtienne. […] La proclamation d’indépendance de 1804 est aujourd’hui immobilisée dans un désert de sens et de valeur.«39

Zu der Schlussfolgerung, dass »schöne Bilder« zur Identitätsbildung langfristig nicht ausreichten, kam Depestre bereits 1980 in seinem Essay Bonjour et adieu à la négritude: »[…] fille ainée de la décolonisation, première république noire des temps modernes, le pays ou la négritude s’est mise debout pour la première fois! Ces belles images qui tout au début du XIXe siècle étaient admirablement vraies ne peuvent plus conditionner l’idée que les Haïtiens

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Nesbitt: 2006, 654-664. Laroche: 1988, 39. Depestre: 2004. Ebd. Vgl. C.L.R. James’ frühes Referenzwerk The Black Jacobins: Toussaint-Louverture and the San Domingo Revolution (1938), welches zeigt, dass bereits im 18. Jahrhundert wirtschaftliche Prozesse und politische Mobilisierung den Atlantik in beide Richtungen überquerten. 37 Gyssels/Fignolé: 2008a. Für Depestre ist es »un pays profondément zombifié« (2000, 6). 38 Vgl. Casimir: 2005, 11. 39 Depestre: 2004.

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se font d’eux-mêmes et de la place de leur nation dans le monde. […] le beau rêve de jadis s’est changé en un cauchemar.«40

Die Unabhängigkeit Haitis wird bis heute häufig als ein Sieg der ›Rasse‹ gefeiert und bleibt damit in überkommenen rassistischen Denkmustern verstrickt. Susan BuckMorss warnt in Hegel, Haiti, and Universal History (2009) vor einer Idealisierung der Akteure der Haitianischen Revolution.41 Denn angesichts bürgerkriegsähnlicher Zustände und der Besatzung durch fremde Kolonialmächte kamen die progressiven Vorstellungen von universeller Freiheit und Gleichheit sehr schnell in Konflikt mit der Staatsdoktrin Haitis, die Schwarzsein als übergeordnete Identität proklamierte und somit die Diversität der Bürger/innen negiert(e). In Haiti traf und trifft man auf eine Form totalitärer Négritude, die sich in ihrem Staatsverständnis durch ein sehr maskulines Bekenntnis zu Schwarzsein sowie militärischer Stärke widerspiegelt und die sich zusätzlich in der Figur des Vaters, des guten Patriarchen als ›Retter der Nation‹ materialisiert: »L’omniprésence dans les mentalités haïtiennes des options de la prétendue ›race‹, et de l’improbable religion, devait occuper dans la société les rôles qui reviennent à l’Etat, au droit, à la laïcisation du savoir et des comportements, comme aux libres initiatives de l’économie marchande. Tout l’héritage politique de libération d’Haïti s’est ainsi congelé jusqu’à 2004 dans une figure tragiquement légendaire: première république noire des temps modernes, berceau historique de la négritude, qui a continué, jusqu’au ›prophétisme‹ défaillant du président Aristide, à conditionner négativement l’idée que les Haïtiens se font d’eux-mêmes.«42

Festzuhalten bleibt ein Paradoxon: Haiti verfügt weit ausgeprägter als die französischsprachigen DOMs über ein kulturelles Hinterland, sprich über Heldengeschichten und einen von Widerstand und Selbstbefreiung geprägten Gründungsmythos. Bereits Glissant diagnostizierte für die Antillen, mit Ausnahme von Haiti, das Fehlen populärer Helden wie Toussaint Louverture, Dessalines, Pétion, Christophe. Doch statt daraus einen »complexe de Toussaint«43 abzuleiten, überträgt Glissant die Figur Louverture als historisches Phänomen auf alle antillanischen Widerständler ohne Namen: »Toussaint Louverture est un marronneur, de la même espèce, j’allais dire de la même race, que le plus obscur et le plus méconnu des Nègres marrons [...]. Il s’agit du même phénomène historique. […] Il faut ici reconnaître le phénomène historique. [...] nos héros par force sont d’abord ceux d’autrui.«44 Während Glissant haitianische Marron-Figuren für die Karibik verallgemeinert, treffen wir in Haiti auf eine Überfülle an diskursiven Heldenkonstruktionen. Selbst haitianische Politiker stilisieren sich selbstverständlich als Erben ehemaliger Revolutionäre: »De nombreux Haïtiens [...] se considèrent comme moun pam’ (homme lige) d’un des héros de la Révolution

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Depestre: 1980, 163, Herv. N.U. Vgl. Buck-Morss: 2009, 146f. Depestre: 2004. Glissant: 1997a, 231. Ebd., 233f, Herv. i.O.

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[...]. Jean-Bertrand Aristide se déclarait le successeur de Jean-Jacques Dessalines.«45 Wir haben es mit Bildern eines »bon patriarche« zu tun, der im Gewand eines »père suprême« daher komme.46 Für Hoffmann ist diese Art von unreflektierter, anachronistisch anmutender Nachfolge, oder anders formuliert, die Fixierung auf einen exklusiv männlichen und gewaltvollen mythe fondateur einer der Gründe für die anhaltende Diktatur auf Haiti: »L’histoire en Haïti est stationnaire, les idéologies politiques aussi. La sagesse des nations n’a pas toujours raison d’affirmer que ceux qui oublient leur histoire sont condamnés à la revivre. Pas les Haïtiens, en tout cas, qui – justement parce qu’ils sont au contraire incapables de l’oublier – la revivent indéfiniment, non pas dans ses admirables aspects universalistes, hélas, mais dans ses lamentables querelles entre factions prédatrices.«47

Wir treffen also auf ein spezifisches Missverhältnis von Gedenken und Schweigen. Es gibt einerseits ein Übermaß an Erinnerung und eine Idealisierung heldenhafter Identifikationsfiguren bzw. Väterfiguren im Innern Haitis und andererseits ein markantes Verschweigen der haitianischen Revolutionsgeschichte außerhalb der Insel. Gedenken und Schweigen lassen sich freilich nicht bloß auf die Dichotomie ›innen/außen‹ reduzieren, denn auf literarischer Ebene unterlag die Fiktionalisierung der Haitianischen Revolution einer ungeheuren historischen Dynamik, und rief ein »weltliterarisches Echo auf mehreren Kontinenten, bei einer Vielzahl von Autoren und in einer historischen Langzeitwirkung«48 hervor. Diese auffällige Diskrepanz zwischen Historiographie und Literatur hängt damit zusammen, dass die Haitianische Revolution mit anderen Narrationsmustern operiert. Da schriftliche Quellen weitestgehend fehlen oder nur die europäische Sicht der Ereignisse wiedergeben, kommt der Fiktion als Mittel der historischen Erkenntnis eine zentrale Rolle bei der Aufarbeitung der lateinamerikanisch-karibischen Geschichte zu. Brigitte Kleine diagnostiziert zudem einen Niedergang der haitianischen Revolution als mythe fondateur in der Gegenwartsliteratur. Sie führt den Rückgang des Revolutionsthemas darauf zurück, dass es eng an einen Etat-nation gebunden sei, und in Zeiten eines universellen Postnationalismus nähme die Bindungskraft nationaler Narrative deutlich ab.49 Mir scheint, dass Kleines Analyse vor allem genderbedingt ist, denn ihr untersuchtes Textkorpus besteht ausschließlich aus Romanen von Frauen: Marie Chauvet, Edwidge Danticat und Yanick Lahens. Wie wir bei Gisèle Pineau sehen, geht es bei Autorinnen weniger um männliche Heldenkonstruktionen als um Heilungsnarrative, die sich aus gelingenden weiblichen Beziehungsnetzen generieren. Ich kann Kleines Beobachtung auch aus einem anderen Grund nicht gänzlich teilen. Zahlreiche Romane, wie auch die von Jean-Claude Fignolé, rekurrieren noch immer auf diesen machtvollen mythe fondateur, nur tun sie dies nicht unbedingt in

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Hoffmann: 2008, 19. Laroche: 1988, 164. Hoffmann: 2008, 19f. Lüsebrink: 1994, 152. Vgl. Kleine: 2008, 222.

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inhaltlicher und expliziter Weise. Vielmehr zeige sich eine Tendenz, so Rachel Douglas, ästhetische Revolutionen in literarischen Texten in Form einer écriture quantique50 zu performieren: »Instead of glorifying Haiti’s revolutionary past and its long-dead revolutionaries, the tendency today is for Haitians writers to perform ›revolutions‹ in their own literary work, often through the pervasive use of formal innovations.«51 Autonomie wird durch ästhetisch anspruchsvolle Literatur vorgeführt. Wir haben es mit einer engagierten, hyperbolischen, sowohl graphisch als auch linguistisch aufgeladenen Literatur zu tun, die den Leser im Sinne von Umberto Ecos »offenem Kunstwerk« in kreativer Weise mit einschließt und dynamisiert.52 Frankétienne schreibt einleitend zu seiner Spirale Ultravocal: »Le poète, prisonnier de son délire. Et surtout, vous lecteur, complice du jeu terrible de l’écriture; vous dont la participation conditionne l’existence du livre. La production littéraire ne vaut que par la lecture créatrice, celle qui a pour tâche d’agencer, à travers une relative ambiguïté, les divers éléments structuraux de l’ouvrage. […] L’œuvre n’appartient à personne; elle appartient à tout le monde.«53

Jean-Claude Fignolé verweist nicht bloß auf Gründungsmythen des Widerstands, sondern inszeniert, wie ich anhand von Aube tranquille zeigen werde, auch Mythen europäischer Gewalt und erweitert damit das thematische Feld der Geschichte(n). Im Unterschied zur Geschichte der französischsprachigen Überseedepartements wie Martinique und Guadeloupe geht es bei der literarischen Beschäftigung mit Haiti jenseits der traumatischen Erfahrung von Verschleppung und Versklavung immer auch um den massiven Widerstand dagegen und das anhaltende Scheitern der Utopie. Gerade die Thematisierung des Scheiterns eines emanzipativen Revolutionsprojekts verbindet haitianische Literatur mit der neobarocken Literatur des Kubaners Reinaldo Arenas oder des Puerto Ricaners Edgardo Rodríguez Juliá, eben ausdrücklich auch mit dem lateinamerikanischen champ littéraire: »Haïti ne regarde que vers la Méditerranée américaine et tourne le dos à l’Atlantique, à l’Europe et à l’Afrique«, resümiert die Linguistin Hazaël-Massieux.54 Geschichtliche Absurdität, politischwirtschaftliche Isolation, Gewalt und Terror, häufig in einer fantastischen, grotesken, barocken, nonsensartigen Schreibweise sind der haitianischen Literatur stärker zu Eigen als Kreolisierung und den damit verbundenen Humanitätsentwürfen. 3.1.2 Bossales/Créoles Die Erfahrung der Kreolisierung verlief auf Haiti gänzlich anders als auf den anderen französischsprachigen Antillen, denn die Halbinsel verstand sich explizit als ›schwarze‹ Republik. Die Akteure der Revolution waren die Bossales und eben keine

50 Vgl. dazu das Kap. 3.2.2. 51 Douglas: 2008, 59. Douglas weist ihre These anhand verschiedener Texte von Frankétienne nach. 52 Vgl. Frankétienne/Chemla/Pujol: 1998, 115. 53 Frankétienne: 2004, 11f. 54 Hazaël-Massieux: 1992, 22.

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Créoles (im Sinne von in den Kolonien geborene Europäer oder Afrikaner). Es war eine gewaltvolle Négritude-Bewegung avant la lettre. Nicht zufällig nimmt Césaire Haiti in seinem berühmten Cahier als Referenzpunkt: »Haïti, ou la négritude se mit debout pour la première fois et dit qu’elle croyait à son humanité […].«55 Die Revolution wurde maßgeblich von einer exogenen Bevölkerung angeführt, eine Art Afrika im Exil, für die das zu erkämpfende Territorium keinesfalls ihr pays natal darstellte, so dass Laurent Dubois gar von einer afrikanischen Revolution spricht.56 SaintDomingue war eine der letzten Kolonien in der Neuen Welt, denn ›erst‹ um 1725 entwickelte sich die dortige Plantagenökonomie in vollem Umfang. Franck Degoul bilanziert, dass bei der Ausrufung der Unabhängigkeit 1804 auf Haiti mindestens die Hälfte der Sklaven noch in Afrika geboren worden waren und als freie Menschen gelebt hatten: »Cette masse de ›Bossales‹, oppossée aux ›Créoles‹ constituera précisément la majeure partie de la paysannerie haïtienne. En outre, à cette opposition Bossales/Créoles s’en ajoute une seconde, de type socio-économique et socio-raciale: l’opposition Nègres/Mulâtres, qui recoupe dès le départ l’opposition campagne/ville.«57

Bis heute ist diese ethnisch-rassistische Teilung der Gesellschaft in Bossales/Créoles in gewisser Weise noch sichtbar, wobei man heute eher zwischen Schwarzen und Mulatten unterscheidet; Kreolen sind mittlerweile alle. Die heutige Spaltung in der Gesellschaft steht in Verbindung mit der Hautfarbe. Mehr als 90 % der ›schwarzen‹ Bevölkerung lebt auf dem Land, sie sprechen fast ausnahmslos Kreol und orientieren sich noch immer stark an einem mythischen Afrika, sich äußernd in der allgegenwärtigen Praxis des Voudou. In der Stadt hingegen, wo die Mehrzahl der Mulatten lebt, orientiert sich das Wertesystem verstärkt an Europa. Zwei gegenläufige Kulturen ha-

55 Césaire: 1983, 24. Césaires maßgebliche Beschäftigung mit Haiti spiegelt sich in zahlreichen seiner Texte wider, so z.B. sein Essay Toussaint Louverture. La Révolution française et le problème colonial (1961/62) oder sein Theaterstück La Tragédie du roi Christophe (1963), welches die historische Person Henri Christophe, einen der Generäle des Sklavenaufstands Ende des 18. Jahrhunderts in Haiti, als Ausgangspunkt hat. Nach der Gefangennahme und Ermordung des revolutionären Führers Toussaint Louverture durch die Franzosen hatte dessen Stellvertreter Jean-Jacques Dessaline 1804 die Unabhängigkeit von Haiti proklamiert. Nach dessen Tod teilte sich das Land in eine Republik im Süden und das Königreich Henri Christophes im Norden der Insel. Dessen Ziel war ein wehrhafter Staat, stark genug, die Unabhängigkeit gegen die mit der Rückeroberung der Kolonie liebäugelnden Franzosen zu verteidigen. Weil er glaubte, das Europa nur einen König ernstnähme, hatte er sich krönen lassen und seinen Offizieren Adelstitel verliehen. Er versuchte ein höfisches Leben zu etablieren, was ihm jedoch keine internationale Anerkennung, sondern nur den Spott der Europäer einbrachte. Zu selben Zeit, in der Césaire Toussaint Louverture publizierte, erschien auch Glissants Theaterstück Monsieur Toussaint (1961). 56 Vgl. Dubois: 2005, 28. 57 Degoul: 2004, 8. Depestre definiert Bossale als »part de l’héritage africain qui aurait échappé au processus de créolité (métissage afro-français) propre à la culture d’Haïti« (Depestre: 2004).

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ben sich auf diese Weise herausgebildet: eine intellektuelle, urbane, französisch geprägte Kultur der Elite steht einer oral und rural geprägten Kultur der kreyòl sprechenden Mehrheit gegenüber. Die politische Dekolonialisierung Haitis ist folglich keinesfalls mit einer linguistischen, sprich kulturellen Dekolonialisierung einhergegangen. Die Tatsache, Französisch zu beherrschen (Französisch als Sprache der Vernunft, der Logik, der Wissenschaft und der Philosophie) markiert bis heute ein nicht zu unterschätzendes kulturelles Kapital. Juristisch ist Haiti ein zweisprachiges Land, aber in sozialer Hinsicht, aufgrund der starken Diglossie von Französisch und Kreol, ist die Insel faktisch einsprachig. Degoul verweist darauf, dass »la paysannerie haïtienne, d’origine bossale, est, depuis son émergence, fondamentalement structurée en société ›à tendance égalitaire‹, par la fait même de sa constitution historique en rapport à l’épisode de l’esclavage.«58 Nach Degoul ist die rurale Gesellschaft der ehemaligen Bossales daher eher horizontal, nicht-hierarchisch strukturiert und sie misstraut massiv staatlichen Institutionen. Darüber hinaus gibt es eine weitere ›ethnische‹ Spannung, die sich an Abstufungen der Hautfarbe festmacht, eine Spannung zwischen der schwarzen politischen Elite und der so genannten ›Mulattenbourgeoisie‹, die auf wirtschaftlichem Gebiet die Fäden in der Hand hält. Sourieau/Balutansky sprechen von den anciens libres, gebildete Mulatten (Nachkommen von weißen Pflanzern und Sklavinnen) und schwarzen Offizieren, welche nach der Revolution auf den Plantagen als Verwalter bzw. Besitzer blieben und den nouveaux libres, die Mehrheit der Schwarzen.59 Somit standen sich von Anfang an neue Eliten gegenüber: Jene, die das Erbe der vertriebenen weißen Zuckerbarone reetablieren und jene Kleinbauern, die die Rückkehr kolonialer Arbeitsverhältnisse nicht akzeptieren wollten. Sozial wie kulturell unterschieden sich die neuen ›mulattischen bzw. schwarzen‹ Eliten maßgeblich von der neuen ›schwarzen‹ Unterschicht der Bossales, die sich aus verschiedensten afrikanischen Ethnien zusammensetzten. Im Gegensatz zu den Oberschichten, die sich des Französischen bedienten, sprachen die Bossales Kreol. Toussaint Louvertures Vision vom reichen afro-karibischen Modellstaat zerbrach indessen nicht nur an diesem Gegensatz, sondern auch an der von Anfang an bestehenden Blockadepolitik gegen Haiti, um weitere Aufstände auf den Nachbarinseln zu unterbinden. Diglossie und fehlende Bildung errichteten eine unüberwindliche kulturelle Barriere zwischen Eliten und Kleinbauern, zwischen der ›Mulattenbourgeoisie‹, welche sich mehrheitlich aus frankophonen Kreolen zusammensetzt, und den kreolophonen Haitianern, die sich bis heute erhalten hat. Freilich anders als in den frankophonen DOMs (Martinique und Guadeloupe) hat Kreol eine außergewöhnliche Bedeutung im Ausbildungssystem inne, die ich nicht unerwähnt lassen möchte. Bereits seit den 1970er Jahren gibt es eine einheitliche Orthographie. Auch Schulbücher und Abschlussexamen auf Kreol gehören zum Alltag. Viele haitianische Schriftsteller publizieren sowohl in Kreol als auch in Französisch. 60

58 Degoul: 2004, 7f. 59 Vgl. Sourieau/Balutansky: 2004, 14. 60 Konkret zur Verwendung der beiden Sprachen vgl. Mezilas: 2008.

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3.2 » ESTHÉTIQUE DU DÉLABREMENT «: Z UM HAITIANISCHEN CHAMP LITTÉRAIRE Während der fast 30-jährigen Herrschaft des Duvalier-Clans in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verließen viele bedeutende Schriftsteller Haiti. Zahlreich sind die haitianischen Autorinnen und Autoren, die in Frankreich publizieren und die mittlerweile Teil des champ littéraire francoparisien sind. Die bekanntesten Autoren, die aus dem französischen Exil schreiben, sind sicherlich Jean Métellus, René Depestre61 und Louis-Philippe Dalembert. Andere wie Dany Laferrière, Émile Ollivier, Joël Des Rosiers, Stanley Péan oder Marie-Célie Agnant leben und arbeiten in Québec und nutzen vorrangig das dortige sowie das französische Verlagssystem. Einige dieser Autor/innen haben mittlerweile Aufnahme in Anthologien frankokanadischer Literatur gefunden62 und gestalten nachhaltig die Literaturproduktion ihrer Exilländer mit, vor allem dann, wenn aus dem vorläufigen Exil eine definitive Emigration wird. In Haiti verbliebene Autoren wie Frankétienne, Jean-Claude Fignolé, Yanick Lahens, Lyonel und Evelyne Trouillot oder Gary Victor arbeiten teils im Kontext lokaler Vertriebswege und/oder international vernetzter Verlage.63 Die Mehrzahl der Publikationen verläuft also über Montréal oder Paris, vereinzelt greifen die Autoren auf Verlage in Port-au-Prince zurück.64 Gemeinsame Editionen zwischen Haiti, Montreal und/oder Paris sind keine Ausnahme. Autorinnen wie Yolande Degand, Edwidge Danticat oder Anne-Christine d’Adesky, die in den USA aufwuchsen, publizieren auf Englisch; Danticats Erzählungen Krik? Krak! (1995) liegen inzwischen auf Kreol vor und werden auch über ein Verlagshaus in Port-au-Prince vertrieben.65 Angesichts der weitläufigen Diaspora findet sich haitianische Literatur in der

61 Depestre lebte, bevor er nach Frankreich ging, fast 20 Jahre auf Kuba (1959-1978). 62 Vgl. z.B. Peter Klaus’ Anthologie Conteurs franco-canadiens (2000). 63 Wie z.B. Vents d’Ailleurs, Actes Sud, Hoebeke, L’Harmattan, Le Serpent à plumes oder Ibis Rouge. Letzterer, ein spezieller Verlag und Vertrieb für Literatur aus Guyane, Guadeloupe, Martinique und La Réunion. Yanick Lahens wurde 2009 für ihren Roman La couleur de l’aube mit dem Prix RFO geehrt. Es ist bereits die vierte Auszeichnung, die 2009 an einen haitianischen Schriftsteller vergeben wurde: Dany Laferrières Roman L’énigme du retour wurde mit dem Prix Médicis ausgezeichnet und Lyonel Trouillot erhielt für seinen Roman Yanvalou pour Charlie den Prix Wepler. Die in New York lebende haitianische Schriftstellerin Edwidge Danticat wurde zudem mit dem Genius Award zur McArthurStipendiatin ernannt. Julia Borst widmet sich in ihrer Dissertation Geschichten der Zer/Verstörung. Zur Fiktionalisierung der traumatischen Gewalterfahrung der Post-Duvalier-Ära im zeitgenössischen haitianischen Roman am Beispiel von Lyonel Trouillot und Yanick Lahens (eingereicht 2013) zwei namhaften Autoren, deren Lebensmittelpunkt in Haiti selbst liegt. 64 Wie z.B. Éditions Mémoire, Éditions Fardin, Deschamps, Presses Nationales d’Haïti, Imprimerie Gaston, Imprimerie des Antilles, Spirale, Productions Caliban. 65 Der Titel Krik? Krak! verweist auf die übliche Anfangsfloskel zwischen Erzähler und Publikum, also auf die (nicht nur) haitianische Tradition des Geschichtenerzählens. Der haitianische Schriftsteller und Jurist Georges Sylvain hatte bereits 1901, ebenfalls unter dem Titel Cric? Crac?, Fontaines Fabeln ins Kreolische übertragen. Der Untertitel Fables de La

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ganzen Welt. Es ist eine »littérature en migration«66, die weit über den nationalen Kontext hinausweist. Aufgrund Haitis singulärer Geschichte kann die haitianische Literatur auf eine lange Tradition zurückblicken und sollte im Kontext ihrer revolutionären Entstehungsgeschichte gewürdigt werden. Haitianische Literatur gehört zweifellos zu den ältesten der so genannten frankophonen Literaturen, »[…] qui résonne encore d’un long cri: un cri poussé par le premier esclave vendu et estampé, un cri prolongé par les révoltés de 1789 et hurlé par les troupes de Toussaint-Louverture, un cri qui dénie justement toute appartenance à la France.«67 Wenn man bedenkt, dass die gesamte weiße Bildungselite nach 1804 entweder vertrieben wurde oder umgekommen war und die überwältigende Mehrheit der schwarzen Bevölkerung Analphabeten waren, entstand diese erste schwarze, ›indigene‹ Literatur verhältnismäßig schnell: »En effet, pendant plus de 150 ans, les Haïtiens ont été les seuls noirs à produire en langue européenne une littérature nationale [...].«68 Sourieau/Balutansky sprechen zudem von einer »besetzten« Literatur (»écrire en pays assiégé«); das Bild der Besatzung verweist auf Blockade, Widerstand und Isolation und damit auf die schwierige politische Lage Haitis im Zusammenspiel der Nationen.69 Lyonel Trouillot spricht mit Blick auf die haitianische Literatur der 1990er Jahre von einer »esthétique du délabrement«70, die über kein kollektives Subjekt mehr verfüge. Das kollektive Subjekt tritt in Zeiten von Globalisierung und Hybridisierung, vor allem unter den Bedingungen der Diaspora, zunehmend in die Sphäre der Erinnerung und Geschichte ein. Daran schließt sich die grundlegende Frage an, welche Formen von Identitäts- und Subjektkonstitutionen in Gegenwart und Zukunft gesichert werden können. Wir treffen zum einen auf den Versuch verlorengegangene afro-karibische Kultur zu archivieren – damit ist immer eine Trauerarbeit verbunden. Zum anderen geht es um das Postulat einer globalen Transkulturalität. Globalisierung wäre dann weniger bloße Verwestlichung als eine Form der Komplexitätssteigerung. Festhalten lässt sich: Es gibt eine nationale Literatur und eine weitläufig disseminierte haitianische Literatur, häufig auf ein »Haïti imaginaire«71 und nicht selten auf

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Fontaine racontées par un montagnard haïtien et transcrites en vers créoles ist aufschlussreich, denn Sylvains Fabeln sind in einen lokalen Kontext eingebunden. Dalembert: 1998, 40. Einen guten Überblick über aktuelle Strömungen haitianischer Literatur gibt Libète: A Haiti Anthology (1999) von Arthur/Dash sowie folgende Untersuchungen: Chemla: 2003a, Sourieau/Balutansky: 2004, Spear: 2007, Hoffmann/Gewecke/ Fleischmann: 2008, Chemla/Costantini: 2007, vgl. ferner die Homepage von Yves Chemla: http://homepage.mac.com/chemla/ARTICLES/listhaiti.html. Chemla: 1997. Jonassaint: 2005, 109. Sourieau/Balutansky: 2004. Trouillot: 1998, 22. Kennzeichnend für diese Entwicklung des Zerfalls, der Subjekt- und Referenzlosigkeit steht u.a. der Gedichtband Itinéraire zéro (1995) von Farah-Martine Lhérisson. Trouillot wertet die haitianische Literatur, insbesondere die Werke der 1990er Jahre in der Editions Mémoire, als »un monstre muet, un parler sans propos, quelque chose comme un post-modernisme qui n’aurait pas les moyens« (ebd., 25). Dash: 1998a, 46.

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die mythenstiftende Kraft der Revolution rekurrierend. Es handelt sich um eine im besten Sinne ›glokale‹ Literatur, die von Anfang an in zwei Sprachen, Kreol und Französisch, produziert wurde und die mittlerweile selbst im Englischen und Spanischen zu Hause ist.72 Die haitianische Literatur in ihren mannigfaltigen kulturellen und sprachlichen Spannungsfeldern verortet sich zweifellos im Kontext einer neuen migratorischen und diasporischen littérature-monde. Haitianische Literatur verweist aber auch deutlich auf die Grenzen modischer, postkolonialer Hybriditäts- und Humanitätsentwürfe, denn Haiti befindet sich seit mehr als 200 Jahren im Prozess der Dekolonialisierung. 3.2.1 »Poétique de la schizophrénie« 73 Das Werk des exemplarisch ausgewählten haitianischen Autors Jean-Claude Fignolé lässt sich innerhalb lateinamerikanischer Spannungsfelder und neobarocker Diskurse verorten. Ein Kritiker hält überschwänglich zu ihm fest: »le baroquisme est le glutamate de sa cuisine de merveilleux. Fignolé est un gourmet du mot et de la phrase.«74 Bei Fignolé treffen wir weder auf Heilsversprechen (Pineau) noch auf neue Humanitätsentwürfe (Glissant). Gerade die sich seit der Revolution fortsetzende Gewalt, sich manifestierend in diversen diktatorischen Systemen, führe vielmehr zu einer, so Fignolé, repetitiven und barocken »Poétique de la schizophrénie«. Die karibische bzw. diasporische Literatur der Karibik sei eine ›schizoide‹ Literatur: »[…] notre Etre profond nous échappe, les exigences de l’Histoire ont déterminé dans l’aire caribéenne une personnalité schizophrénique qui s’éprouve et s’exalte dans la création. L’art collectivement vécu comme une façon autre d’être au monde. Il en est résulté un sens du tour et du détour par lequel nous marronnons avec délices et notre être et notre réel. Barroco. Une manière autre aussi de voir le monde. De parler les autres. […] Il n’est vraie parole en Caraïbe que la schizophrénie.«75

Fignolés Poetik trifft sich mit Deleuzes/Guattaris kulturspezifischen Überlegungen zur Konstruktion ›normaler‹ und ›schizophrener‹ Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft, wobei insbesondere die Analyse des ›Schizo‹ die Mechanismen der Gesellschaft erhelle, die ihn ausstoße:

72 Micheline Dussecks Roman Ecos del Caribe (1996) wäre dafür ein Beispiel. Dusseck exilierte 1967 nach Spanien. Wie Pineaus Texte greift auch der Roman Ecos del Caribe weibliche Lebenswelten auf. Julia Borst (2014) zeigt durch die Zusammenschau der Romane von Lyonel Trouillot (französischsprachiger haitianischer Autor aus der Karibik) und Edwidge Danticat (englischsprachige Vertreterin aus der Diaspora, häufig schon dem nordamerikanischen Literaturraum zugeordnet), dass beträchtliche Ähnlichkeiten in der Gewalterinnerung erkennbar sind. 73 Ein Extrakt dieser Überlegungen ist auf Französisch unter dem Titel erschienen: »›Il n’est vraie parole en Caraïbe que la schizophrénie.‹ Autour du Spiralisme« (Ueckmann: 2012a). 74 Bernard: 2003, 217. 75 Fignolé: o.J., 2.

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»Combien le problème de la littérature est mal posé, à partir de l’idéologie qu’elle porte ou de la récupération qu’un ordre social en opère. […] C’est cela le style, ou plutôt l’absence de style, l’asyntaxie, l’agrammaticalité: moment où le langage ne se définit plus par ce qu’il dit, encore moins par ce qui le rend signifiant, mais par ce qui le fait couler, fluer et éclater – le désir. Car la littérature est tout à fait comme la schizophrénie: un processus et non pas un but, une production et non pas une expression.«76

Glissant beschreibt den Zustand von Martinique ebenfalls als den einer kollektiven Neurose. Doch mir scheint, dass Fignolés Anamnese der haitianischen Schizophrenie noch etwas anderes meint: Haiti ist dahingehend ›schizophren‹, dass der Revolutionsbegriff grundsätzlich positiv konnotiert sei. Man verbindet damit einen progressiven Humanismus, vor allem dann, wenn bürgerliche Rechte und Menschenwürde von ehemaligen Sklaven eingefordert werden. Doch dieser genuin haitianische mythe fondateur ist kontaminiert durch die seit 200 Jahren anhaltenden Diktaturen. Ein Schlüsselwerk zum Verständnis haitianischer Literatur ist das 800 Seiten umfassende experimentelle Faksimile L’Oiseau schizophone des haitianischen Autors Frankétienne.77 Daher soll es vor der Beschäftigung mit Fignolés Werk Erwähnung

76 Deleuze/Guattari: 1994, 158f. Vergleichbar mit dem haitianischen Konzept einer »Poétique de la schizophrénie« ist sicherlich Raphaël Confiants »Kakophonie«: »Le roman créole sera cacophonique ou il ne sera pas! [...] Le terme qui convient est bel et bien cacophonique car dans polyphonique, il y a de l’ordre, de l’harmonie. La polyphonie n’est qu’une juxtaposition de voix ou alors un entremêlement fixé à l’avance. On est toujours dans le cartésianisme, il n’y a pas de dérapage possible, de folie, démesure« (Confiant: 1994b, 334). 77 Frankétienne wurde 1936 auf Haiti geboren. Als vielseitiger Künstler ist er auch als Schauspieler, Maler und Lehrer tätig. Er gilt als einer der großen karibischen Autoren französischer Sprache; so ist das berühmte Manifest L’Eloge de la Créolité u.a. Frankétyèn (so sein Name auf Kreol) gewidmet. Sein bekanntester Roman Dézafi erschien 1975 zunächst auf Kreol und erst 1979 unter dem veränderten französischen Titel Les Affres d’un défi. Der Text inszeniert ein an Sprichwörtern, Metaphern, Sprachspielen und Doppeldeutigkeiten reiches Kreol, um die Kreativität und Literaturfähigkeit der Sprache zu vermitteln. Ohne hier weiter auf das Werk einzugehen, scheint mir erwähnenswert, dass der Roman ohne einen zentralen Protagonisten auskommt, dafür aber ein großes Netz von Gestalten und Motiven eröffnet; eine Erzählstruktur wie wir sie auch von Glissant kennen. Das umfangreiche literarische Werk von Frankétienne umfasst mehr als 30 Titel, u.a. eine ganze Reihe von Texten, die die Genre-Bezeichnung »Spirale« tragen und in Port-au-Prince erscheinen. Den bereits üppigen Text L’Oiseau schizophone hat er spiralförmig in weiteren Bänden disseminiert unter dem Titel Métamorphoses de l’Oiseau schizophone. L’Oiseau schizophone handelt vordergründig von dem ins Gefängnis verbannten Schriftsteller Philémond Théophile, genannt Prédilhomme. Ihm wird vorgeworfen, seine »esthétique du chaos absolu« und seine »théorie sur la lumière des catastrophes« führten unausweichlich in ein »sida culturel« (1998, 17). Zu Frankétiennes spiralistischem Text H’éros-chimères hält Chemla fest: »La schizophonie, c’est enfin le fait d’intégrer cette idée qu’il y a une affinité entre le chaos et le vide, entre le trop plein et le trop évidé. C’est la langue en situation de chaos et de vide idéologique. Par là, on voit que la schizophonie n’est pas propre à Haïti. Comme le

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finden. Frankétiennes Werk sei, so Dominique Chancé, »médusé par la dictature«78 und befände sich an der Grenze der Lesbarkeit wie folgendes Zitat exemplarisch zeigt: »Bracadam ragadam un chemin de ramdam sur macadam sonore aux cris d’ayibobo locodop blogodop des tombeaux houngalo jivaro bololo macumba boulouloum en roulement d’aphorismes sur la peau des tambours à ne plus s’évanouir […].«79 Mit dieser Schreibweise nimmt Frankétienne auch eine Wiedereinschreibung marginalisierter Kulturtechniken von Rhythmus und Gesang vor. Es scheint, als könnte man den Text eher trommeln als lesen. La notion de »ayibobo« stellt zudem eine Verbindung zu afro-karibischen Glaubensrichtungen, zum Voudou und der damit zusammenhängenden zyklischen Auffassung von Zeitlichkeit her. Mit Ay bobo werden die Loas innerhalb von Voudouzeremonien gerufen oder gepriesen.80 Jenseits dieser rhythmisierten écriture fällt auf, dass die Typographie unaufhörlich durch Überschriften und Bilder fragmentiert wird. Auch wenn Frankétiennes literarische Arbeit stark an dadaistische/surrealistische Artikulationen europäischer Autoren erinnert (›aufgesprengte‹ Typographie, Aufwertung des Unbewussten, Rausch- und Traumerlebnisse als Quelle künstlerischer Eingebung, écriture automatique), so wird durch sie ein anderer historischer Hintergrund aufgerufen. Avantgardebewegungen entstehen immer in Zeiten politischer und sozialer Unruhen. Die europäischen Avantgarden sind eine Kritik an der Moderne. In Europa setzte diese Kritik mit den durch die beiden Weltkriege ausgelösten Zivilisationsbrüchen ein. In der Neuen Welt indessen haben diese Brüche in Form von Kolonialisierung, Eroberung, Gewalt und Unterwerfung eine viel längere Geschichte. Die Geschichte Haitis ist folglich eine Metapher für eine viel globalere Chaos-Erfahrung, die der Okzident unaufhörlich zu verbergen sucht. Es darf nicht vergessen werden, dass Deportation, Versklavung und Krieg die wichtigsten Gemeinschaftserfahrungen der haitianischen Gründergesellschaft waren; die sozialen Gruppen, aus der sie sich zusammensetzte, waren ansonsten außerordentlich heterogen.

dit Frankétienne, ›Haïti est une référence du monde, une image agrandie du malaise mondial‹« (Chemla: 2003b). 78 Chancé: 2007, 27. 79 Frankétienne: 1998, 775. 80 Vgl. den Band Ay BoBo – Afro-Karibische Religionen (1996) von Kremser. Für diesen Hinweis danke ich Bastienne Schulz.

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Abb. 6 Frankétienne: L’Oiseau schizophone, 1998

Der politischen Gewalt wird auf literarischer Ebene Dezentrierung, Dehierarchisierung, Destruktion sowie Brüche in der Textlogik, Neologismen, Onomatopoesie, Collage, Montage, Simultaneität und Zufallsprinzip in einem »délire intensément lucide, marqué par les brûlures des mots incandescents«81 entgegengesetzt: »Une révolution langagière en profondeur. Un incendie de paradoxes. Une spirale enflammée 81 Frankétienne: 1998, 11.

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de violence et d’horreur.«82 Das schizophone Sprechen/Schreiben fungiert als contrepouvoir. Mit Blick auf den Carpentier’schen réalisme merveilleux kann man schlussfolgern, die Allegorie des Zombies ersetzt in haitianischer Literatur zunehmend das Wunderbare. Wir haben es eher mit einem vaudou merveilleux zu tun. Sourieau/ Balutansky erläutern den historischen Kontext der Angst vor zombification und die damit verbundene Todesnähe: »A partir des premières révoltes d’esclaves jusqu’aux dictatures les plus récentes, des règnes de terreur qui n’en finissent pas ont emmuré la conscience nationale dans le silence. Et cette terreur, tel un code génétique irréparable et aux effets continus, incite une peur et une méfiance perpétuelles. C’est pourquoi la figure du zombi est une métaphore puissante pour traduire la réalité de servitude et de misère – telle une condition de mort-vivant – qu’a connue ce pays d’un bout à l’autre de son histoire. La peur de la ›zombification‹ est bien réelle dans le contexte politique et économique de toute l’histoire d’Haïti.«83

Frankétienne imaginiert Haiti als endlose Gewaltherrschaft, als jahrhundertlangen Alptraum, gar als »verhinderten Orgasmus«: »Un orgasme bloqué. Une angoissante agonie suspendue aux aiguilles d’une horloge détraquée. Un piège déconcertant dans l’entassement visqueux du temps et les trébuchements de la conscience.«84 Frankétienne charakterisiert seine Eröffnungsspirale L’Oiseau schizophone als »une peinture brutale et baroque«85 oder als »le dire absolu. Le livre monstrueux de nos malheurs, de nos folies et de nos catastrophes«86. Es sei eine karibische Version der Odyssee: »L’odyssée d’une Humanité engrossée de grouillements tellurique et embarquée dans les transes d’un accouchement laborieux dont l’issue demeure imprévisible.«87 Frankétienne verweist auf einen alternativen Humanitätsbegriff – das Bild von der Karibik als Laboratorium taucht erneut auf –, der die Kehrseite der Moderne in barocker Manier als Initialwirbel inszeniert. Außerdem träumt er von einem »psykinérama«, einem Kino der Träume und Seelen, »ce qui permettra la matérialisation automatique des éléments imaginaires«88. »Hauptgedanke ist«, so Ralph Ludwig, »dass Herrschaft in der Moderne – anders als zu Kolonialzeiten – in einer sehr viel subtileren als der körperlichen und materiellen Unterdrückung besteht, nämlich in der Fremdüberformung des ›imaginaire‹.«89

82 Ebd. 83 Sourieau/Balutansky: 2004, 13. Bekannte literarische Beispiele für dé/zombification sind bspw. Le Mât de cocagne (1975/1979) und Hadriana dans tous mes rêves (1988) von Depestre oder Dézafi (1975) von Frankétienne. 84 Frankétienne: 1998, 745. L’Oiseau schizophone erschien 1993 zunächst in einem kleinen haitianischen Verlag, 1998 dann in einem französischen Verlag. Vergleichbares gilt für den Roman D’une Bouche ovale. Deuxième mouvement des métamorphoses de l’oiseau schizophone (Port-au-Prince 1996/Châteauneuf-le-Rouge 2006). 85 Frankétienne: 1998, 11. 86 Ebd. 87 Ebd. 88 Ebd., 7. 89 Ludwig: 2008, 153.

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Daher zielt Frankétiennes literarische Arbeit ebenso wie die von Chamoiseau, Glissant u.v.a. auf eine Dekolonialisierung des Imaginären. Auch Jean-Claude Fignolé zeigt durch seine Literatur wie die Dehumanisierung durch Deportation und Sklaverei bis heute bei den Opfern fortwirkt: »Je voulais montrer aussi que des milliers d’Africains, transplantés sur une terre inconnue, confrontés à l’univers esclavagiste, cruellement opprimés et terrorisés, épousant la logique des oppresseurs, se commettront à se venger en utilisant leurs méthodes et en peaufinant parfois les pratiques de barbarie.«90

Die traumatische Geschichte, das ›zombifizierte‹ imaginaire, wird mittels Literatur erinnert und eventuell sogar transformiert. 3.2.2 Spiralisme und écriture quantique Zusammen mit den beiden Autoren Frankétienne und René Philoctète begründete Jean-Claude Fignolé Mitte der 1960er Jahre die literarische Bewegung Spiralisme, die in Zeiten der Duvalier-Diktatur der haitianischen Literatur de l’intérieur eine grundlegend neue Richtung gab.91 Diese Bewegung setzte einen Kontrapunkt zu dem während der späten 1920er bis 1940er Jahre auf Haiti dominierenden Indigénisme.92 Indigénisme stand im Kontext einer nationalen Identitätsbildung und fungierte als haitianische Variante der Négritude. Insbesondere auf politischer Ebene verstand sich diese Bewegung als Ausdruck einer Protesthaltung gegen die us-amerikanische Aggression, denn von 1925 bis 1934 – ein Jahrhundert nach der Unabhängigkeit von Frankreich – wurde Haiti erneut von den USA besetzt. Der Spiralisme verstand sich als insulares Gegengewicht und außerdem im internationalen Kontext, so Fignolé in einem Interview, als ein deutlicher Kontrapunkt zu Nouveau Roman und Tel Quel, die in Frankreich den Tod des Subjekts zu einer Zeit proklamierten, in der die Ränder anfingen, ihre Stimme zu erheben und sich als Sub-

90 Gyssels/Fignolé: 2008a. 91 Glover untersucht in Haiti unbound (2010) fünf spiralistische Romane: Mûr à crever, Ultravocal und Les Affres d’un défi von Frankétienne, Les Possédes de la pleine lune und Aube tranquille von Fignolé sowie Le Peuple des terres mêlées von Philoctète. 92 Der Anthropologe und Schriftsteller Jean Price-Mars (Ainsi parla l’oncle, 1928) gilt als Begründer des haitianischen Indigenismus, in der Voudou, die kreolische Sprache und die auf Kreol tradierte mündliche Volkskultur im Zentrum stehen. Ausdruck fand diese Bewegung insbesondere in Zeitschriften wie Nouvelle Ronde (1925), La Trouée (1927) und La Revue Indigène (1927-28), später Les Griots (1938-1940). Auf einen größeren Kontext bezogen meint Indigenismus eine Bewegung, die in Mexiko (seit der Revolution von 1910) und anderen lateinamerikanischen Staaten aus einer intellektuellen Strömung zur Bewahrung und Förderung ›indigener‹ Traditionen entstand. Insbesondere der Roman Gouveneurs de la rosée (1944) von Jacques Roumain hat zum internationalen Erfolg der haitianischen Literatur entscheidend beigetragen.

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jekte überhaupt erst einmal zu etablieren.93 Als in Frankreich das bürgerliche Subjekt zu Grabe getragen wurde, war das subalterne, postkoloniale Subjekt in Haiti und anderswo verstärkt dabei in die Weltkultur einzutreten. Le point zéro war für Frankreich und Haiti keinesfalls derselbe. Frankétienne betont die kreative, chaotische und suchende Zielrichtung des Spiralisme: »[…] faire éclater ce corset [le corset duvaliérien qui se réclamait du nationalisme et de l’africanité], ce ghetto de l’Indigénisme, partir à la recherche de l’identité haïtienne […]. Quand on parle de quête d’identité, on oublie que la quête implique une recherche, une création. […] Les indigénistes sont des passéistes. […] je refuse que mon écriture soit enfermée dans un certain provincialisme.«94

Das Zitat verdeutlicht die suchende, konstruktivistische Dimension von Identität als spiralistisches Ziel. Statt Definitionen und Labelling stehen Prozesse des Fragens, Zweifelns und Suchens im Mittelpunkt. Philippe Bernard betont daher die Unklassifizierbarkeit des Spiralisme, seine ›schizophone‹ Vielstimmigkeit, seinen antiideologischen, ›deduvalisierenden‹ Zuschnitt und den Zusammenhang zwischen Spirale und Chaos: »[…] le spiralisme est un mouvement, est mouvement, comment le figer? […] le spiralisme est un ›état d’esprit‹, une sorte de rébellion totale contre toute tentation d’enfermement, une folie revendiquée ›sans alexitère connu‹, un cri poussé par une voix multiple, chœur schizophonique né sous le fer rouge de l’angoisse sous Duvalier […]. La Spirale se doit d’épouser la forme du Chaos, suivant le syllogisme tronqué: Haïti est le chaos absolu, or le chaos est éternel, donc… Ce mouvement éjacule des œuvres non raisonnées par un calcul idéologique […]. 95

Spiralisme steht in Bezug zum Chaos-Begriff der griechischen Mythologie, der den Zustand vor der Weltwerdung, also dem Kosmos (dem griechischen Begriff für Ordnung) beschreibt. Spiralisme wäre demnach »une tentative qui reprend les gestes originels d’avant-le-monde«96, eine Art Ordnungsgröße in der wirbelsturmartigen und opaken Geschichte der Antillen, eine ästhetische Form für das unsichtbare, chaotische Universum neben dem geordneten Kosmos.97 So trägt eine von Frankétiennes letzten Spiralen den programmatischen Titel Galaxie Chaos-Babel (2006). Aus dem Zusammenwirken von Kreis und fortlaufender, aszendenter Linie ergibt sich die typisch barocke Kunstform der Spirale. Sie ist nicht-linear, kreist konstant um sich selbst, schließt sich dabei aber nicht selbst ein wie der Kreis. Somit ist die

93 Gyssels/Fignolé: 2008a. Fignolé wertet hier die Zielsetzung des Nouveau Roman wie folgt: »C’était nous condamner à ne pas être.« 94 Frankétienne/Chemla/Pujol: 1998, 115. 95 Bernard: 1998, 109. 96 Dorismond/Calixte: 2008. 97 Frankétienne verortet seine ausufernde Literatur im Kontext der Glissant’schen Chaosmonde: »Le caractère volumineux de mes ouvrages est lié à l’esthétique de la multipolarité et de la pluridimensionnalité. C’est quelque part l’expression du Chaos-Monde comme le laisse entendre mon ami l’écrivain Edouard Glissant« (Dorismond/Calixte: 2008).

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Spirale trotz aller Wiederholungsmuster ihre eigene Überschreitung. Frankétienne favorisiert statt Roman die Genre-Bezeichnung »Spirale«, die er seit 1972, dem Erscheinungsjahr seines Textes Ultravocal, entwickelt und wie folgt umschreibt: »Massif montagneux à plusieurs versants, la Spirale constitue un continuum spatio-temporel dont les éléments d’appartenance sont susceptibles de permutation, de translation, d’extrapolation. Plans mobiles. Axes variables. [...] la pagination ne sert que de système de repérage; elle ne définit pas l’ordre de la lecture. Le titre n’est qu’un indice problématique à résonances multiples.«98

Das spiralistische Universum ist eines ohne Zentrum, feste Perspektive und Kohärenz, »impliquant des mutations, des métamorphoses à travers un mouvement complexe et infini«, so Frankétienne.99 Le pays natal erweist sich sowohl in der spiralistischen Insel-Literatur als auch in der haitianischen Literatur der Diaspora als ein Land von unüberwindlicher Opazität und Chaos. Der barocke Landschaftsraum mit ihren Naturgewalten dient Frankétienne als Ausgangspunkt einer spezifischen Ästhetik und Selbstinszenierung: »D’une inflexion plus souple, j’aiguillonne le vent, je ramasse mes tempêtes, je transfère mes brûlures, mes virgules, mes voyelles insidieuses, à mes tatouages d’écorché vif, […]. Je m’habille d’outreterre et d’outrevoix, toute la mer bue en sacrifice, tout le sable avalé en pénitence pour éteindre mes déserts, l’éjaculation du vent et la danse des cyclones.«100

Wenn die Figuren wie Rhizom oder Ellipse auch nicht die gleiche Bedeutung wie Spirale implizieren, so sind sie durchaus verwandt. Die Spirale rekurriert ebenfalls auf naturwissenschaftliches Weltwissen (Biologie, Astronomie, Geometrie), das auf die literarische Tätigkeit übertragen wird. Die Spirale ist eine geometrische Figur, die sowohl horizontal als auch vertikal verlaufen kann. So gibt es ebene Spiralen (Rille einer Schallplatte) oder auch dreidimensionale Spiralen mit Tiefenstruktur (Schraube). Beiden Figuren ist gemein, dass sie sich vergrößern, also dynamisch sind. Auch in der Natur taucht die Spiralform immer wieder auf: In Muscheln, Schnecken, dem Fruchtstand von Pflanzen, z.B. Sonnenblumen und den Zapfen der Nadelbäume.101

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Frankétienne: 2004, 11f. Ultravocal wurde 1972 zunächst von französischen Verlagen ignoriert und erschien mehr als 30 Jahre später in dem kleinen Pariser Verlag Hoebeke. 99 Dorismond/Calixte/Frankétienne: 2008. 100 Frankétienne: 1998, 125. 101 Ein schönes literarisches Beispiel gibt Alejo Carpentier in El siglo de las luces, wo der Protagonist Esteban über Muscheln und andere ›Spiralen‹ philosophiert: »Fijación de desarrollos lineales, volutas legisladas, arquitecturas cónicas de una maravillosa precisión, equilibrios de volúmenes, arabescos tangibles que intuían todos los barroquismos por venir. Contemplando un caracol – uno solo – pensaba Esteban en la presencia de la Espiral durante milenios y milenios, ante la cotidiana mirada de pueblos pescadores, aún incapaces de entenderla ni de percibir siquiera la realidad de su presencia. Meditaba acerca de la poma del erizo, la hélice del muergo, las estrías de la venera jacobita, asombrándose ante aquella Ciencia de la Formas desplegada durante tantísimo tiempo frente a una

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Die DNS-Moleküle sind Spiralen, Wasser strömt in Spiralen, Luft bewegt sich in Spiralen als Wind, deutlich wird dies in Windhosen und Tornados. Auch die Hochund Tiefdruckgebiete sind spiralförmig. Die Wege aller Himmelskörper, von kleinsten Gesteinsbrocken bis hin zu Planeten, Sonnensystemen, Galaxien und Sternennebeln, wahrscheinlich des Universums selbst, verlaufen spiralförmig, in einer räumlichen Ellipse oder einem räumlichen Kreis, immer in einem Raum-Zeit-Kontinuum. Die Spirale als alltägliche Erscheinungsform entspricht realen, aber eben komplexen, irregulären, wirbelartigen Erfahrungen. Im Laufe seiner literarischen Tätigkeit entwickelte Frankétienne die Figur der Spirale weiter zur literarischen Quanten-Ästhetik wie in seinem Prolog zu L’Oiseau schizophone zu lesen ist: »L’esthétique spiraliste m’a conduit progressivement à l’élaboration de l’écriture quantique.«102 Quantentheorie, der Bereich der Physik, der sich mit dem Verhalten und der Wechselwirkung kleinster Teilchen befasst, wird hier als maßgebliche Referenz für eine spiralförmige Ästhetik herangezogen.103 Spiralisme bedient sich einer geometrischen Form, um sich mit Geschichte und Gegenwart auf der Ebene der Epistemologie und ihrer Darstellungsverfahren auseinander zu setzen. Glover resümiert in »Écrire la schizophrénie« die spiralistische Ästhetik als ein Darstellungsversuch einer von Fragmentierung durchsetzten Gesellschaft: »Les spiralistes exigent […] que le lecteur respecte et accepte la réalité déconcertante de ces êtres opaques et incohérents. Leurs œuvres présentent […] une multiplicité de personnages doublés, zombifiés, schizophrènes et autrement fracturés, fournissant au lecteur une vision réaliste des luttes particulières dans lesquelles doit s’engager l’individu en Haïti.«104

Die politische Isolation Haitis, die Abwesenheit theoretischer Manifeste zum Spiralisme und seine häufig kritisierte Ungenauigkeit und die ungenügende Distribution und Rezeption über die Zentren wie Frankreich und die USA haben zu seiner mangelnden Popularität im antillanischen Raum und darüber hinaus geführt. »[D]ismissed by the academic machine«105 findet dieser insulare und unter diktatorischen Konditionen entstandene Diskurs nicht annähernd die Aufmerksamkeit anderer literarischer Mainstream-Diskurse der Karibik wie Antillanité, Créolité oder Créolisation. Es gibt unterschiedliche Erklärungen dafür: Glover meint, geographische, vor allem politische Randständigkeit, zusätzlich zu einer vagen Theorie habe zu einer »near-exclusion of Spiralisme from consideration by many theorists of Francophone

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humanidad aún sin ojos para pensarla. ¿Qué habrá en torno mío que esté ya definido, inscrito, presente, y que aún no pueda entender? ¿Qué signo, qué mensaje, qué advertencia, en los rizos de la achicoria, el alfabeto de los musgos, la geometría de la pomarrosa? Mirar un caracol. Uno solo. Tedeum« (Carpentier: 2008, 390). Frankétienne: 1998, 9. Die Quantenphysik untersucht Phänomene, die nicht kontinuierlich ablaufen, sondern nur in bestimmten Portionen auftreten – den so genannten ›Quanten‹. Außerdem ist keine sinnvolle Unterscheidung zwischen Teilchen und Wellen möglich, da das gleiche Objekt sich je nach Art der Untersuchung entweder als Welle oder als Teilchen verhält. Glover: 2011, 85. Glover: 2004, 233.

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Caribbean literature«106 geführt. Diese Diskursignorierung ist einerseits dem Umstand geschuldet, dass die Begründer des Spiralisme nicht den Glissant’schen oder Chamoiseau’schen Rezeptionsweg über Frankreich und die USA verfolgt haben. Andererseits stehen die haitianischen Autoren gerade der Créolite äußerst kritisch gegenüber; kaum ein haitianischer Autor referiere oder zitiere die Autoren rund um die Éloge de la Créolité. Jean Jonassaint spricht gar von einer »quasi-silence«107 seitens der haitianischen Intelligentsia im Innern und einer Distanzierung seitens der haitianischen Exil-Autoren. Denn, so wendet der Linguist und Schriftsteller Gérard Étienne ein, die Kreolisten hätten eben nicht mit kreolischer Literatur den Prix Goncourt gewonnen. Für ihn ist die Bewegung der Créolité bloß eine Strategie, »pour mettre le colonisateur dans sa poche et pour neutraliser les pulsions nationalistes d’une avantgarde intellectuelle«108 . Und Jean Métellus erklärt 2004: »Pour moi ces concepts ne correspondent pas du tout au statut du nègre dans le monde. Ce qui est valable pour le nègre, c’est la négritude. […] Je me sens beaucoup plus nègre qu’antillais ou créole.«109 Die kritische Haltung haitianischer Autoren wertet Kreolität vor allem als ein martinikanisches Anliegen sowie als eine Bewegung, die das Werk Césaires fälschlicherweise einzig an der Négritude messe und dabei seine ästhetische Créolité avant la lettre völlig außer Acht lasse.110 Eine glaubwürdige parole antillaise sei immer zugleich nègre und créole, in diesem Sinne sei Césaire der maßgebliche »fondateur d’une poéthique«111. Es darf nicht vergessen werden, dass die Haitianer rund 150 Jahre die einzigen Schwarzen waren, die in einer europäischen Sprache nationale Literatur produziert haben; erst mit den afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen im 20. Jahrhundert kann man dies für den afrikanischen Kontinent sagen. Haiti sei somit das Gegenbeispiel par excellence für den Anachronismus eines »nouvel indigénisme créolitaire«112 . Außerdem darf nicht vergessen werden, dass indigene Konzepte wie eine so genannte Haïtianité durch die pervertierte Duvalier’sche Doktrin und sein ›Black Power‹-Regime sowie der zunehmenden Diasporisierung der haitianischen Literatur mittlerweile sehr problematisch sind. Um dem Ghetto einer ausschließlich kreolophonen Gesellschaft zu entkommen, kann nur ein echter Bilinguismus (Kreol und Französisch) helfen. Zurückkommend auf den Spiralisme lässt sich sagen: Er zielt auf eine spezifische Werkästhetik und versteht sich weniger als eine ethnische oder/und sozio-politische Bewegung.113 Der Wert des Spiralisme bemisst sich ausdrücklich an der schriftstellerischen Praxis und weniger an der Theorie. Tatsächlich haben wir es mit einer be-

106 Ebd., 235. So wird stets auf das Fehlen eines spiralistischen Manifestes hingewiesen. Der Spiralisme manifestiert sich bewusst vor allem auf literarischer Ebene. 107 Vgl. Jonassaint: 2005, 96. 108 Étienne, zit. nach: Jonassaint: 2005, 93. 109 Métellus, zit. nach: Naudillon: 2004, 147. Vgl. ferner Tontongi: 2003. 110 Vgl. Depestre: 1994, 165. 111 Jonassaint: 2005, 103, Herv. i.O. 112 Jonassaint: 2005, 113. 113 Vgl. Glover: 2004, 239.

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merkenswerten Literaturproduktion zu tun, »counting almost ten thousand pages of text written in both French and Creole«114 , aber eben mit keinerlei Manifesten. Es ist kein Zufall, dass gerade die drei Begründer und Produzenten des Spiralisme, Philoctète, Frankétienne und Fignolé, trotz Duvalier-Diktatur auf der Insel geblieben sind, was zur Folge hatte, dass »[…] the Spiralists have long been isolated, on a very physical level, from the literary ›mainstream‹ of the West Indies. Their texts, only some of which are published and circulated outside of Haiti, are difficult to procure – thus costly – and have barely been commented on.«115 Wenn auch außerhalb von Haiti kaum wahrgenommen, so erfährt der Spiralisme auf der Halbinsel durchaus seine Wertschätzung. Das hängt vor allem mit der subalternen Praxis der Autoren zusammen, zahlreiche Werke in Kreol zu verfassen oder/und sie als Hörbücher der analphabetischen Bevölkerung zukommen zu lassen.116 So berichtet Frankétienne in einem Interview von einer Begegnung mit einer Frau, die ihn erkannte und ihm auf Kreol eine Textstelle aus einem seiner Bücher zitierte: »Je me suis trouvé sidéré et rempli de joie. Voilà une paysanne analphabète me reconnaît. C’est la plus belle chose qui puisse m’arriver.«117 Spiralisme ist gerade wegen der politischen Umstände Ausdruck eines lokalen Widerstands mittels Ästhetik: »c’est une rébellion contre toute tentative d’enfermement, une folie revendiquée quand la dégradation des conditions de prises de parole prend le nom de normalité.«118 Zugleich ist Spiralisme nicht nur ein insularer Diskurs, sondern partizipiert trotz Blockadepolitik auf imaginärer Ebene an universellen Fragestellungen; Frankétienne bedient sich hier der Metapher der Bulimie: »J’ai fait tous les voyages [imaginaires] parce que l’enfermement était systématique en Haïti. Il y avait cette boulimie de posséder tout ce qui existait sur la planète, de l’intérioriser, de le bouffer.«119 Frankétienne betont die Beweglichkeit und damit Lebendigkeit der spiralistischen Denkfigur, sprich die Abwesenheit des Todes: »Dans le domaine de la création littéraire et artistique, la spirale apparaît comme l’esthétique du chaos, du métissage, de la complexité et de la diversité dans l’unité. L’œuvre cesse d’être linéaire pour devenir une combinaison de structures en perpétuel mouvement interactif. C’est la dynamique de l’imprévisible, de l’inattendu, de l’opacité, de l’incertitude et du hasard obscurément labyrinthique et mystérieux, avec une pluridimensionnalité époustouflante où s’amalgament le réel, le social, l’imaginaire, le fictif, l’historique, le poétique, le théâtral, le mystique, l’aléatoire et le fantasmagorique, le tout imbriqué, enchevêtré, entrelacé dans une texture chaotique babélienne infinie. Toute la vie, axée sur la mise en forme de l’énergie, est

114 Ebd., 233. 115 Ebd., 234. 116 Mehr als die Hälfte der Bevölkerung sind Analphabeten, vgl. die Zahlen im Unesco Statistical Yearboook von 2006, ist http://www.dst.dk/asp2xml/puk/udgivelser/get_file.asp? id=12429&sid=19iuk. 117 Frankétienne/Chemla/Pujol: 1998, 117. 118 Chemla: 2003b. 119 Frankétienne/Chemla/Pujol: 1998, 116.

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chaotique. Seule la mort ne l’est pas. Car la mort est plate, atone, monotone et figée dans le non-être.«120

Die gerade Linie verkörpert den Tod, die spiralförmige Struktur hingegen das Leben. Künstlerische Kreativität und Offenheit wird hier in Bachtin’scher Manier der physischen und geistigen Einengung entgegengesetzt. Die Literatur als eine Art Katharsis zu sehen, die polyvalent und chaotisch operiert, setzt den Spiralisme deutlich in die Nähe zu Glissant. Das obige Zitat könnte auch von Glissant kommen, denn die Figur der Spirale charakterisiert auch seine Schreibweise.121 Die spiralistische Ästhetik überschreitet den lokalen und geopolitischen Rahmen Haitis, sie steht analog zu Glissants Konzept einer Chaos-monde. Beide versuchen dem Geschichtstrauma narrativ zu begegnen bzw. es mittels einer ausufernden, komplexen, ineinander verschachtelten/gefalteten, turbulenten Narration zu kompensieren. Wie eine solch spiralistische, verflüssigte Narration konkret aussehen kann, werde ich nun am Beispiel eines exemplarischen Romans des haitianischen Autors Jean-Claude Fignolé zeigen.

3.3 V ERFLÜSSIGTE N ARRATION

BEI

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Jean-Claude Fignolé (geb. 1941 in Jérémie/Haiti) studierte Rechts-, Agrar- und Wirtschaftswissenschaften. Seit den 1980er Jahren hat er sich nicht nur einen Namen als Autor, Literaturkritiker und Journalist gemacht, sondern tritt auch durch gezielte Investitionen in den haitianischen Tourismus und seit 2007 als Bürgermeister der kleinen Kommune Les Abricots hervor. Er unterstützt die Einwohner im Bereich Bildung, Gesundheit, Straßenbau und Landwirtschaft, um der massiven Landflucht in Haiti entgegenzuwirken. Drei seiner Romane behandeln die Haitianische Revolution als zentrales Thema: Aube tranquille (1990), Moi, Toussaint Louverture...avec la plume complice de l’auteur (2004) und Une Heure pour l’éternité (2008). Letzterer ist gewissermaßen der Folgeroman zu Moi, Toussaint Louverture. Nachdem Fignolé zunächst dem Widerständler Toussaint Louverture eine Stimme gegeben hat, wechselt er mit Une Heure pour l’éternité die Erzählperspektive und lässt Louvertures Gegner sprechen:

120 Dorismond/Calixte: 2008. 121 Dominique Chancé verwendet genau dieses Konzept für Glissants literarische Technik: »Elle [la spirale, N.U.] figure à la fois l’enroulement étouffant, le retour des mêmes questions dans un monde insulaire, aussi étroit qu’une ›calebasse‹ où le ressassement est presque obsessionnel, sur l’Histoire, le pére, les difficultés d’une identité à trouver. La spirale est le maelström glissantien dans lequel on plonge et s’engouffre, elle est angoissante, comme le ›trou de nuit‹. Mais elle avance en même temps. […] La spirale est une figure synthétique et contradictoire qui permet de rendre compte à la fois de l’insularité, des révolutions, des obsessions, des mouvements convulsifs de l’Histoire et des rythmes cosmiques, de l’enroulement de la vague, des lunaisons, du retour à la fois terrifiant et rassurant des cyclones« (Chancé: 2001, 253).

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General Charles Victor-Emmanuel Leclerc.122 Im Fokus meiner Analyse steht jedoch sein Roman Aube tranquille, denn er illustriert in besonderer Weise Fignolés spiralartige Schreibweise und führt zwei bislang vernachlässigte Themen ein: weibliche Mittäterschaft am Kolonialismus und die versklavte Frau als allegorischer, transgenerationeller Gedächtnisort in der Literatur. 3.3.1 Aube tranquille: Oralität über dem Atlantik Anhand der Familiengeschichte einer französischen Ordensschwester, Sœur Thérèse, erzählt Fignolé mittels vielfacher Anachronien die Verquickung europäischer und außereuropäischer Geschichte. Sein Roman gleicht im Aufbau einer narrativen Doppelhelix, in der die Handlungsfäden entlang diachroner und synchroner Zeitstränge und Geographien wie zwei umeinanderlaufende, komplementäre DNA-Einzelstränge konsequent ineinander verwebt sind. In diesem Textgewebe gibt es keine Über- und Unterordnung von einzelnen Erzählsträngen. Es handelt sich vielmehr um eine von zahlreichen Analepsen, Prolepsen und Ellipsen durchzogene Spirale, die die unheilvolle Familiengeschichte schweizerischer bzw. französischer Plantagenbesitzer in Saint-Domingue/Haiti aufwickelt und sich damit, anders als Glissants Familiensaga, vor allem der Täterseite zuwendet. Fignolé versucht in die Haut des Gegners zu schlüpfen, um die Mechanismen der Gewalttätigkeit von innen her zu entschlüsseln. Es ist die Geschichte einer Familie »de la fatalité inexorable qui entraîne les Biemme à la violence et à la destruction«123 . Die Täter fallen schließlich ihrer eigenen Ausbeutungspraxis und der ihr inhärenten Gewalt selbst zum Opfer. Fignolés Dezentrierung von Geschichte zeigt sich auf narrativer Ebene in der Verabschiedung einer hierarchisierten Erzählung. Die Geschichten lassen sich nicht mehr klar einer Erzählung ersten oder zweiten Grades zuordnen. Die Rahmengeschichte – sofern man angesichts der helixartigen Verwicklungen überhaupt von extra- und intradiegetischer Erzählung sprechen kann – spielt sich bezeichnenderweise während einer Atlantiküberquerung in einem Flugzeug ab. Ein Strang der Erzählung ist in der Gegenwart angesiedelt. Während des Flugs nach Port-au-Prince hört Schwester Thérèse, alias Sonja Schpeerbach Biemme de Valembrun Lebrun, eine Kassette, die ihr ihre Mutter vor dem Abflug anvertraut hat. Fignolé erzeugt so ein intermediales Erzählen. Schwester Thérèse berichtet in Aube tranquille »je branche ma mère en plein ciel«124 . Sie erfährt mittels technisch konservierter Oralität die Geschichte ihrer Familie, in deren Zentrum weniger der Baron Schpeerbach als seine Frau namens Sonja Biemme de Valembrun Lebrun steht: »[…] ceci est la transcription sur bande magnétique d’un récit consigné dans les mémoires du baron de Schpeerbach, Suisse alémanique, naturalisé français, propriétaire à Saint-Domingue,

122 Jener wurde in die Kolonie entsandt, um den Aufstand niederzuschlagen. Ihm gelang es tatsächlich Louverture gefangen zu nehmen, letztlich aber konnte der Aufstand nicht mehr eingedämmt werden und führte 1804 zur Unabhängigkeit Haitis; Leclerc selbst erlag dem Gelbfieber. 123 Fignolé: 1990, 69. 124 Ebd., 13.

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ancienne colonie française actuellement république de Haïti, du quartier des Abricots dépendant de la paroisse de Dalmarie, cinq mille carreaux de bois, de forêts, de plaines, de rivières et de coteaux, mille deux cents têtes de bœufs, cinq cents de chevaux pur-sang de race anglaise, trois cents d’esclaves, deux mille quintaux de sucre l’an, marié à Sonja de Valembrun Lebrun, paix à son âme, mémoires expédiés de sa retraite de Strasbourg par le baron, peu de temps avant sa mort survenue le 8 novembre 1805, pour servir à l’édification de son fils Loïc Wolf Klaus de Schpeerbach […].«125

Betreut wird Schwester Thérèse während des Flugs von einer senegalesischen Stewardess, die ebenfalls den Namen Sonja trägt: »une hôtesse philosophant en plein ciel, citant Hegel, Heidegger avec la même aisance qu’elle eût parlé d’une chasse à l’antilope«126 . Der Leser wird somit von Anfang an mit einer Namensverdreifachung konfrontiert; zwei der Sonjas sind Europäerinnen, jedoch in verschiedenen Jahrhunderten angesiedelt, die dritte Sonja ist Afrikanerin. Schwester Thérèse ist Bretonin, »tradi-tion d’une famille de corsaires«127 und die letzte ihrer adeligen Linie. Während des Flugs erfährt sie die grausame Eroberungs- und Kolonialgeschichte ihrer Familie. Als Gründungsmythen der Gewalt werden zwei Spuren gelegt: Die eine Spur der Familie Biemme führt zurück bis zu einem Ahnen namens Loïc Biemme de Valembrun Lebrun, der zusammen mit Olaff dem Schweden, einem Nachfahren von Wilhelm dem Eroberer, die Bretagne plünderte und brandschatzte. Jener Olaff bittet im Augenblick seines Todes Loïc Biemme, seine spätere Tochter einmal Sonja im Andenken an seine Mutter zu nennen: »[…] Biemme je t’ai choisi pour allumer mon lit de feuilles sèches, apporte la torche et n’oublie pas de composer ma saga […] je ne veux pas d’héritiers mâles, les dieux m’obligeront à les dresser pour la guerre, donne-moi une fille, Biemme, appelle-la Sonja, qu’elle soit toutes les filles de ta famille en souvenir de ma mère, elle s’est laissée de mourir de chagrin quand, fils unique, je partis courir le monde et l’aventure.«128

Dieser erste Gründungsmythos erklärt auf ›wunderbare Weise‹ die Gewaltbereitschaft seitens der Frauen in der Familie Biemme. Der zweite Gründungsmythos referiert auf das Jahr 1491, also auf eine Zeit kurz vor der Entdeckung Amerikas und damit vor Einführung einer neuen Welt- und Wirtschaftsordnung. Seit dieser Zeit laste ein Fluch auf der Familie, sich symbolisierend in einer mittelalterlichen Maske aus Messing. Es wird erzählt, dass Erwan Biemme 1491 ein Massaker, »un combat sans grandeur«129 , an einer Familie von Bohémiens im Finistère in der Bretagne verübt und sich dabei in den Besitz einer Maske gebracht habe: »un superbe et curieux masque en laiton, exacte réplique d’une vieille assommée du pommeau de la rapière

125 126 127 128 129

Ebd. Ebd., 92. Ebd., 62. Ebd., 52f. Ebd., 71.

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puis éventrée par Erwan avec une allégresse barbare.«130 Diese Maske entwickelt daraufhin ein Eigenleben, indem sie ihren neuen Besitzer durch Lachen verhöhnt, ihn sodann verflucht und seine Burg zum Einsturz bringt, in deren Trümmern Erwan Biemme schließlich begraben wird: — hi! hi! hi! — qui a ri? — personne — hi! hi! hi! Erwan leva la tête, son regard buta contre les yeux vides du masque accroché au mur d’en face, un rire aigrelet de petite vieille le nargua — sorcellerie! il tire l’épée, pâle, effroyablement pâle, le signe avant-coureur de la colère proverbiale des Biemme, il avance vers le rire sardonique, les râclements [sic] de gorge crèvent le mur, effrontés — assez! le rire cessa sous l’injonction, l’éclair de la mort fulgura, un bruit de fer et de feu mêlés déchira l’air — maudits soient les Biemme! que le fer et le feu brisent leur destinée de génération en génération jusqu’à ce qu’ils disparaissent dans l’horreur! maudits! maudits! le mur fracassé s’écroule sur Erwan, entraînant dans sa chute le plafond et une aile de l’immense salle de garde […] il y avait une sorte d’ironie dans le silence tranquille des lieux131

Das Motiv des Lachens mit seiner destabilisierenden Funktion taucht regelmäßig im Roman auf, bis hin zur finalen Katharsis, die ebenfalls von einem Lachen begleitet wird. Darauf gehe ich später noch genauer ein. Schwester Thérèse wird ausdrücklich mit dem Teil ihrer Familiengeschichte konfrontiert, welcher sich im 18. Jahrhundert vor und während der Haitianischen Revolution abgespielt hat. Sie erfährt durch die Sprachaufnahme ihrer Mutter, dass ihr Vorfahre, der schweizerische Baron Wolf von Schpeerbach, eine Plantage auf Haiti um 1775 unterhielt, und dass ihn unentwegt sein schlechtes Gewissen quälte. Anhand der Figur des Barons illustriert Fignolé die Dialektik zwischen aufklärerischem bzw. christlichem Gedankengut und wirtschaftlicher Ausbeutungspraxis des 18. Jahrhunderts. Der Bezug zwischen Diskurs und sozialer Praxis erweist sich als arbiträr. Die Rechtfertigungsmodelle für Erkundung und Besiedlung der Neuen Welt waren häufig als Erschließung des irdischen Paradieses und zum Teil als Erfüllung biblischer Verheißungen angelegt. Doch die Middle Passage und die merkantile/koloniale Situation erwiesen sich als unvereinbar mit solchen Beteuerungen. Ein Dialog zwischen ihm

130 Ebd. Erwan Biemme wird gar als Rivale zu Gilles de Rais charakterisiert, ein bekannter französischer Heerführer und Serienmörder des 15. Jahrhunderts: »… la réputation sinistre du château fort des Biemme rivalisait à une époque avec celle du manoir de Gilles de Rais, l’antre du diable et le diable en la personne d’Erwan Biemme terrorisait le Finistère, excursant parfois en Anjou et en Vendée, couvrant des lieues et des lieues en des cavalcades épiques, razziant tout au passage.« (Ebd., 70) 131 Ebd., 72f.

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und seiner materialistischen Ehefrau gibt über die Trennung zwischen Diskurs und sozialer Praxis Aufschluss: — nous avons enfanté un monde barbare, tôt ou tard il nous faudra payer, le jour où le châtiment de Dieu s’abattra — Wolf! de grâce, ne juge donc pas notre monde à travers une conscience pastorale, tu te culpabilises à longueur de journée, tu n’as pas inventé l’esclavage, non! — j’aide à le perpétuer et c’est pire que de l’avoir inventé, en accord avec les règlements coloniaux je viens de couper le pied droit à un esclave marron que la maréchaussée a rattrapé et ramené, ma conscience m’interdit de le faire mais l’ordre de notre monde m’y a forcé — et tu t’en veux d’avoir accepté la loi et l’ordre? — non! je m’en veux de m’être dit: si tu ne le fais pas, Wolf, bientôt, suivant le mauvais exemple et certains de l’impunité, les autres esclaves marronneront, ruinant tes intérêts — il n’y a pas de doute, où est le problème? — avoir sacrifié ma conscience et les principes de charité chrétienne à mes intérêts, ce n’est point lâcheté mais égoïsme — connais-tu d’autres moyens de réussite? Wolf! tu n’es pas fait pour ce monde-là132

Stets zerrissen zwischen Anspruch und Wirklichkeit bleibt Wolf von Schpeerbach in der kapitalistischen Logik verhaftet. Besonders deutlich wird dies nach Ausbruch der Haitianischen Revolution, wo der Baron versucht sein Kapital nach Europa zu transferieren: »[…] je continuai ma route sur la Suisse, revoir ma famille, placer mon argent dans leurs entreprises d’horlogerie et de fromagerie, j’avais pu sauver une assez jolie somme de la débâcle, ajoutée à mes économies elle totalise un juteux capital qui permettra aux Schpeerbach en agrandissant leurs usines de prendre la tête de l’industrie horlogère européenne […].«133

Auffällig in dem Roman ist vor allem die gewaltvolle Rolle von Sonja Biemme, die eine besondere Grausamkeit gegenüber den Sklaven an den Tag legt. Ihr Verhalten steht einerseits im Kontext mit der weit vorgelagerten Geschichte um Loïc Biemme de Valembrun Lebrun und Olaff dem Schweden. Andererseits hängt es auch mit ihrer unmöglichen Liebe zu Salomon, Sklave und möglicher Halbbruder ihres Mannes, zusammen: »Sonja serait cruelle par besoin d’assouvir dans le sang son amour des Nègres.«134 Wolf erzählt von der Geschichte seiner Geburt und gemeinsamen Kindheit mit Salomon, die als ›Milchbrüder‹ von derselben schwarzen Frau, Saintmilia, großgezogen wurden: »[…] j’avais confié ma femme à celui que, loin des préjugés idiots d’une société idiote, je peux considérer maintenant comme mon frère, mon frère de lait, ma mère ne s’était pas relevée de ses couches, cinq jours après ma naissance elle mourut, mon père eut beau chercher il ne trouva pas de nourrice blanche dans les environs, en désespoir de cause il se résigna à me confier à

132 Ebd., 85. 133 Ebd., 175. 134 Ebd., 66.

342 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN Saintmilia qui avait accouché quinze jours auparavent d’un garçon dont on ignorait le géniteur, certains prétendent que Salomon eût pu être le fils du commandeur Zaka, de l’ancien gérant Arétiste ou de mon père lui-même […] mais à aucun moment Zaka n’en revendiqua la paternité, beaucoup plus tard, d’autres racontars courront quand un certain Agénor, libre de la paroisse Dalmarie, pêcheur de son état, commencera à fréquenter, les nuits de pleine lune, la case de Saintmilia […].«135

Doch die brüderliche Beziehung ist von Anfang an durch die Sklaverei kontaminiert: —Wolf, tu es le petit maître et maman m’a raconté que tu as le droit de me rosser, je ne suis pas autorisé à te remettre ›les coups‹ — même si je veux te tuer — tu as tous les droits même celui de me tuer — alors avance ton cou et donne moi un coutelas, je te coupe la tête — oui maître Il avait hésité, une lueur de panique dans les yeux, pourtant il me tendit le coupe-gorge — ne sois pas stupide, Salomon, j’ai voulu plaisanter — comment peux-tu plaisanter sur des choses pareiles, petit maître?136

Sonja Biemme und Salomon verbindet später eine besondere Beziehung, denn sie empfinden gegenseitiges Begehren, ein Gefühl, welches in einer zutiefst rassistischen Gesellschaft eine undenkbare Kategorie darstellt. Fignolé lotet hier das Thema der Liebe zur Täterin aus, wenn Salomons Mutter, Saintmilia, ungläubig fragt: »pourquoi mon fils aurait-il aimé celle qui était la pire ennemi parmi les ennemis?«137 Sonja lässt Salomon schließlich töten, Saintmilia verflucht daraufhin den Ort: »à jamais maudite, cette habitation qui a bu le sang de mon fils, maudite, jusqu’à ce que je revienne laver son corps dans mes larmes et aviver mes yeux d’un espoir nouveau.«138 Wolf kehrt 1792 nach Europa zurück, u.a. um seinen Sohn zu finden, und stirbt dort 1805. Seine Frau Sonja Biemme tritt die Flucht nach vorn an und agiert zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Ericq als Sklavenhändlerin.139 In Europa schließt sich eine weitere Kreisbewegung des Romans. Wolfs Sohn, Klaus (mit vollem Namen Loïc Wolf Klaus Biemme de Valembrun Lebrun), steht namentlich in der Genealogie des ›ersten Plünderers‹, Loïc Biemme de Valembrun Lebrun. Klaus ist während der Revolution vermutlich einer der königstreuen Widerständler gegen das Revolutionsregime. Es wird vermutet, dass er den Chouans beigetreten sein soll.140 Rund 200 Jahre später erreicht Schwester Thérèse in umgekehrter Richtung Portau-Prince, seit der Atlantiküberquerung um ihre Familiengeschichte wissend. Doch statt um Vergebung zu bitten, wie man es von einer Ordensschwester erwarten wür-

135 136 137 138 139 140

Ebd., 126. Ebd., 126f. Ebd., 198. Ebd., 213. Vgl. ebd., 160. Vgl. ebd., 176, 182 u. 186.

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de, geht es ihr um Vergeltung. In einem Gespräch während des Flugs zwischen den beiden antagonistisch angelegten Sonjas (schwarz und weiß) erfährt der Leser: — j’ai appris à haïr les Nègres dans la bibliothèque du château familial […] — dans ce cas, ma sœur, pourquoi allez-vous en mission en Haïti, c’est un pays de Nègres? — je relève un défi, nous avons une vengeance à accomplir là-bas — sœur Thérèse, c’est vous qui parlez de vengeance? — cela vous surprend? — oui! j’attendais des paroles de charité et de pardon141

Angekommen auf Haiti, trifft Schwester Thérèse in einem Krankenhaus auf eine sehr alte, vermeintlich verrückte Frau namens Saintmilia, die ihren Mann Agénor getötet haben soll. Es kommt in Form eines verflüssigten, nicht ausdrücklich markierten, wirbelartigen Dialogs, in der Saintmilia mit Nachdruck ihren afrikanischen Namen einfordert, Ti Mèmè N’kedi, zu einer offenen Auseinandersetzung zwischen den Frauen: »[…] tu parles quand les autres se taisent, mais oui parce que depuis ton retour j’ai rompu le pacte de silence, ma mémoire débroussaille les chemins de la haine et je dis malheur à toi, tu me menaces, Saintmilia? sœur Thérèse, je m’appelle Ti Mèmè N’kedi, cesse de caricaturer mon nom, tu te rebelles alors que les autres obéissent au doigt et à l’œil, certainement depuis deux siècles je suis libre, j’apprends à maudire, pas à me soumettre, l’une de nous est de trop dans cet hospice, Saintmilia, mon fils a conquis ce pays, sœur Thérèse, tu mens, il a accaparé l’habitation de mon grand-père, face à face les droits et les prétentions, les années ont planté le décor, la sueur et le sang des hommes aussi […].«142

Saintmilia rächt schließlich den Tod ihres Sohnes Salomon über den Tod von Schwester Thérèse, welche bei einem Brand ums Leben kommt. Der Roman endet mit einem kathartischen Lachen seitens Saintmilia alias Ti Mèmè N’kedi und mit einem deutlichen Rückbezug auf Afrika: »[…] toutes les odeurs de péchés, de vols, de viols, de crimes, d’assassinats, pendues au cou des siècles, enfoncées dans la gorge de l’histoire, toutes les odeurs fulgurent, explosent, la dernière joie de Saintmilia comme si le soleil éclatait, Salomon émerge de sa nuit, le passé aussitôt modulé en notes de lumière, le silence claque, total, effrayant, étonnée de cette audace la vie s’arrête, le monde entier cesse d’exister, alors monte son rire, arpèges égrenés au visage d’un soleil rajeuni, sur le rire une double plainte d’agonie, deux âmes se sont rencontrées qui cherchaient la paix, puis comme surmontant sa propre plainte, entre les Pater et les Ave précipités des nonnes, la voix éblouie de Ti Mèmè N’kedi — Salomon, finie notre histoire, fini le temps où les temps de ma folie étaient ceux de l’histoire puis, venu du cœur profond de la terre, en écho à sa voix, un concert de joie, harmonie d’espérances enfouies depuis des siècles dans tous les puits de malheur, affluant à des espaces

141 Ebd., 82. 142 Ebd., 171. Der Name Ti Mèmè N’kedi, so Saintmilia, gibt ihre wahre Identität preis: »restituée à mon identité et à ma source« (ebd., 209).

344 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN de liberté, réconciliées avec le rêve et le miracle, dansant dans la tête de Toukouma et des chefs de l’armée des ombres, tourbillonnant, enflant, trouant le ciel d’une haute colonne de cris et de chants en marche vers l’orient, enfin mais enfin la route balisée d’étoiles qui conduit à notre mémoire, continent de brousse et de savane, de forêts et de déserts, de lacs et de fleurs, paysages d’aube tranquille qui sont la vie et d’où vient le soleil au commencement était l’Afrique.«143

Die wieder gewonnene Erinnerung und die Vergeltung an den Täter/innen, welche durch den Feuertod von Schwester Thérèse markiert wird, ermöglichen schließlich einen Übergang von der Dunkelheit zum Licht. Schwester Thérèse war von Anfang an des Romans dazu verdammt »au nom de la famille à payer huit siècles de crimes«144 . Die in dem obigen Zitat erwähnte Figur Toukouma steht in einer besonderen Beziehung zu Saintmilia. Toukoumas Geschichte zeigt einen wichtigen Wendepunkt des Geschehens an, der speziell als ›Kipp-Punkt‹ markiert ist: In dem wie ein einziger Satz dahinfließenden Roman gibt es nur einen einzigen Punkt und der taucht exakt in ihrer Geschichte auf.145 Weil diese Textstelle so wichtig ist, sei die Passage zitiert; Wolf von Schpeerbach erzählt folgende Begebenheit: »[…] Toukouma, âgée de douze ans, avait été prêtée par ta mère à Suzanne Bonbon pour aider son personnel domestique à l’occasion d’un bal, elle la garda une semaine, […] Suzanne en était si entichée qu’elle l’autorisa à dormir dans la chambrette jouxtant la cuisine, la dernière nuit, l’entendant crier elle accourut et la découvrit inanimée, baignant dans son sang, avec une cruauté inouïe Bonbon l’avait défoncée, creusant entre ses jambes un cratère de feu, se défendant elle l’avait mordu à la joue droite, lui laissant cette boursouflure mal cicatrisée qu’il couvre instinctivement de sa main quand on la regarde, la morsure le rendit fou, il frappa si sauvageusement Toukouma qu’il lui brisa l’os du bassin, détruisant en elle toute espérance d’enfantement […] la science de Saintmilia la remit debout sur ses pieds, Maïté m’a raconté que le jour où elle a mis ses pas dans ceux de la guérisseuse, elles sont tombées dans les bras l’une de l’autre, pleurant à chaudes larmes. Toukouma jura qu’elle se vengerait, chaque année, à la date du viol, son ventre enfle, interroge-la, elle te répond invariablement: je suis enceinte de la mort de Bonbon […] le viol accouché de la mort, […] les Nègres un jour ou l’autre auront raison de se venger, et ce jour-là malheur à nous […] il faut avoir peur maintenant de son ombre […].«146

Toukouma, eine Sklavin der Biemme, die auf einer Nachbarplantage von dem Besitzer grausam vergewaltigt wird und von da an alljährlich Rache verübt, wird hier in Szene gesetzt. Genau in der Mitte des Romans markiert dieser Punkt den Wechsel vom Leiden zum Widerstand. Die Spirale der Gegengewalt nimmt von da an beachtlich zu.

143 144 145 146

Ebd., 217, Herv. N.U. Ebd., 10. Vgl. ebd., 111. Ebd., 110f.

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3.3.2 Saintmilia oder »dans le labyrinthe des siècles« Die Figur der Saintmilia fungiert nicht nur innerhalb dieses Romans wie ein Scharnier zwischen den Jahrhunderten und den verschiedenen Ereignissen, sondern auch wie ein Scharnier zwischen zwei Romanen. Sein erster Roman Les Possédés de la pleine lune (1987) ist der Vorgängerroman zu Aube tranquille.147 Fignolés Romane sind partiell untereinander durch die Wiederkehr von Figuren intratextuell verwoben und ergeben ein größeres Gesamtkunstwerk. Saintmilia und Agénor, das mythische Protagonisten-Paar aus Les Possédés de la pleine lune (1987), und deren gemeinsamer Sohn Salomon sowie der Fisch Miyan! Miyan! und die junge Violetta tauchen in Aube tranquille erneut auf. Sie werden dort aber nur als eine der »histoires déjetées de l’histoire«148, als ein Bruchstück der Geschichte kurz erwähnt. Saintmilia hingegen, welche das afrikanische Erbe der Geschichte Haitis verkörpert, »cette Afrique mythique«149 , ist in Aube tranquille Antagonistin der beiden weiblichen Protagonistinnen Sonja Biemme (18. Jahrhundert) und Schwester Thérèse (20. Jahrhundert), welche zusammen das europäische Erbe generieren. In Les Possédés de la pleine lune verliert Saintmilia ihren Mann Agénor, in Aube tranquille verliert sie ihren Sohn Salomon. Wie Glissants Mycéa verfällt sie durch diesen doppelten Verlust dem ›Wahnsinn‹.150 Fignolés erster Roman, Les Possédés de la pleine lune, schließt mit dem Satz: »A travers toi [Saintmilia, N.U.], sans que tu le saches, toutes nos histoires de femmes blessées par l’amour, blessées dans l’amour, continuent. Dans la solitude et dans la folie. Continuent.«151 Der zweite Roman, Aube tranquille, setzt wieder mit der ›zombihaften‹ Figur der Saintmilia ein und endet mit einem vergleichbaren Satz: »… il pleut, soleil souffreteux, reste de larmes que les femmes de ton pays versent depuis des siècles sur l’amour, nos malheurs communs…«152. Saintmilia ist die zentrale zwischen den Zeiten changierende Figur: »[…] l’écho d’un cri indifférencié dans le temps, charge émotionnelle dangereusement contaminée par la folie, elle n’est plus la vie, elle n’est qu’un fantôme dans l’attente d’une vengeance qui la rendra enfin à la paix, à la vérité de sa folie […].153 Sie taucht als Figur des 18. Jahrhunderts und der Gegenwart auf und personifiziert eine kosmische Ordnung und eine moralische Autorität. Wie in einem Zirkelschluss beginnt und endet der Roman Aube tranquille mit dieser Figur. Während Schwester Thérèse mittels Flugzeug durch den Raum reist, reist Saintmilia als Wiedergängerin vor allem durch die Zeit: »je reviens d’un voyage dans l’espace alors qu’elle [Saintmilia] revient d’un long voyage dans le temps, nous entrons chacune dans notre dimension [...] l’heure de la vengeance

147 Philippe Bernard (2003, 237 u. 293) zufolge handelt es sich um die ersten beiden Bände einer Trilogie, deren dritter Teil La Cendre du matin bislang von den Editions du Seuil abgelehnt wurde, Bernard verfüge freilich über das Manuskript. Die zentrale Figur Saintmilia rekurriere auf eine Frau, die Fignolé in seiner Jugend gekannt habe. 148 Fignolé: 1990, 126. 149 Ebd., 102. 150 Vgl. dazu das Kapitel zu Glissant. 151 Fignolé: 1987, 215. 152 Fignolé: 1990, 214. 153 Ebd., 102.

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sonne, qui annonce leur temps de liberté, la tempête gronde, Rameau s’illusionne, Les Indes galantes, une fête perpétuelle?«154 Und an anderer Stelle: »[…] je ne m’appelle pas Saintmilia, je viens de très loin, survolant les siècles, j’ai vu la chute de Ségou, j’ai chanté dans les jardins d’Ife, j’ai bu l’alcool de feu des Yorubas […].«155 Zwischen Schwester Thérèse und Saintmilia handelt es sich um eine spannungsreiche Beziehung vom Typ maîtresse/esclave. Diese aktuelle Beziehung ist eine Wiederholung des rassistischen Rollenmodells aus der Zeit der Sklaverei, eine Neuauflage der vorangegangenen Beziehung zwischen Sonja Biemme und Saintmilia. Beide bleiben durch die Geschichte »dans le labyrinthe des siècles«156 unheilvoll miteinander ver-strickt: »Saintmilia et moi choisirions de ne plus être l’une et l’autre brisées, pour des raisons différentes, de la même souffrance, ni confondues dans la même volonté d’anéantissement«.157 Saintmilia ist eine mythologische Figur, die sich durch verschiedenen Zeiten und Räume (Afrika und Karibik) bewegt. Schenkt man Philippe Bernards Behauptung »Haïti est le pays du voyage immobile«158 Glauben, so verkörpert Saintmilia das aufgezwungene Mutterland. Neben ihr gibt es überdies zahlreiche Referenzen auf historische und aktuelle Figuren wie Toussaint Louverture, Bona-parte, Chateaubriand, Rameau, Marivaux, Voltaire, Sékou Touré, de Gaulle, Duvalier oder Senghor, so dass auch auf der faktischen Ebene die Jahrhunderte und insbesondere verschiedene imaginaire durchschritten und aufgerufen werden. Der Roman changiert unaufhörlich zwischen Fakt und Fiktion. Das spiralförmige Ineinandergreifen der verschiedenen Zeitebenen relativiert schließlich jegliche Chronologie. Das Fehlen von Interpunktion und Kapiteleinteilungen entspricht diesem relativitätstheoretischen Chaos auf stilistischer Ebene. 3.3.3 »Un réel double, triple, multiple«: Traum und Narrativität Bereits der Titel, Aube tranquille, verweist auf eine Zone des Dazwischen, »une zone d’ombre«159, denn die Morgendämmerung ist der Übergangsmoment zwischen Nacht und Tag. Der Titel lässt sich in vielfacher Weise deuten: Als Hinweis auf das dem Tag Vorgängige, eben die Dunkelheit, als Verabschiedung der Nacht, als Ausdruck der Hoffnung auf einen neuen Anfang, auf Erleuchtung, sprich Aufklärung der bislang verdunkelten Geschichte und auch als Ruhe vor dem Sturm, wenn Wolf von Schpeerbach, der Plantagenbesitzer, erzählt: »j’ai hâte [...] de retrouver ma maison, les aubes tranquilles qui baignent mon habitation dans une lumière sereine, la grande paix des crépuscules violets sur les bois de Lonmon.«160 Zweifellos geht es Fignolé um die Dialektik von Licht und Dunkelheit, von bekannter und unbekannter Geschichte und um die Verflechtung von Zentrum und Peripherie. Er verwebt dafür

154 155 156 157 158 159 160

Ebd., 48. Ebd., 199. Ebd., 194. Ebd., 192. Bernard: 2003, 313. Fignolé: 1990, 85. Ebd., 150.

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Raum und Zeit: Auf geographischer Ebene umfasst die Spirale Europa (Schweden, Frankreich/Bretagne, Schweiz), Afrika (Senegal) und die Karibik (Haiti). Neben der geographisch groß angelegten Rhizomatik arbeitet Fignolé mit der Technik des zeitlichen Ineinandergreifens von Vergangenheit und Gegenwart durch verschiedene, sich überlagernde Erzählstimmen. Weitläufige Dialogpassagen, die der Bedeutung oraler Kommunikation auf den Antillen nachkommt, wechseln sich mit Erzählpassagen ab. Unterschiedliche Stimmen werden so zu Gehör gebracht. Es gibt die Stimmen aus dem 18. Jahrhundert oder aus einer noch weiter zurückliegenden Zeit: Baron Wolf de Schpeerbach, Sonja Biemme de Valembrun Lebrun, Cécile (»la petite négresse«161 des Barons), Erwan Biemme aus dem 15. Jahrhundert etc. und jene aus der Gegenwart: Schwester Thérèse und andere Ordensschwestern sowie Sonja, die afrikanische Stewardess und natürlich Saintmilia. Die komplizierte Montage von unterschiedlichen Erzählinstanzen verweist darauf, dass das Subalterne, mangels verbürgter Geschichte und aufgrund der Überlagerung der Geschichte durch die Täterstimmen, hermeneutisch letztlich nur schwer verfügbar ist: »Un réel double, triple, multiple [...] n’est que la métamorphose d’une réalité devenue fantasmatique par le jeu de l’écriture.«162 Eine maßgebliche Form von Oralität ist die mündliche Erzählung der Geschichte mittels Kassette. Schwester Thérèses Mutter hat die Chronik des Barons von Schpeerbach für ihre Tochter mittels Tonträger wieder vermündlicht. Das gesprochene Wort steht folglich im Zentrum der Erzählung.163 Ein solcher Erzählstil würdigt eigentlich die Bedeutsamkeit des gesprochenen Wortes für die kreolophone frankokaribische Gesellschaft.164 Durch die Einbeziehung eines fiktiven Testimonios und der Tonbandaufnahmen integriert Fignolé bewusst Elemente der Oral History. Doch warum tut er dies ausdrücklich für die Täterseite? Ist es eine Provokation wie bei Jonathan Littells Roman Les bienveillantes oder Imre Kertész’ Detektivgeschichte? Mir scheint es auch im Zusammenhang mit dem besonderen Dilemma der Kreolen der Karibik zu stehen. Als Nachkommen von weißen und schwarzen Vorfahren, von Tätern und Opfern sind sie dauernden Loyalitätskonflikten ausgesetzt. Gesteigert wird der Grad der Oralität durch die Tatsache, dass der Autor gewissermaßen nur der Chronist, der Sekretär eines kollektiven Gedächtnis ist, denn Fignolé selbst hat die

161 Ebd., 49. 162 Gyssels/Fignolé: 2008a. 163 Dieser Kunstgriff erinnert an Simone Schwarz-Barts Theaterstück Ton beau capitaine (1987), das zur Hälfte von einer Frau als sprechendes Subjekt (»la voix«) dominiert wird. Schwarz-Bart fiktionalisiert einen Dialog zwischen einem Ehepaar, wobei die Frau aufgrund der geographischen Distanz zu ihrem Mann ausschließlich mittels Tonbandaufnahmen in Kontakt mit ihm tritt: »Allô, allô Wilnor, Wilnor Baptiste, dès que tu entendras cette voix, tu sauras que c’est Marie-Ange qui te parle. […] J’ai tant de choses à te dire que ma langue en est tout sèche. […] Ta femme en cassette« (Schwarz-Bart: 1987, 13-20). Marie-Ange adressiert ihre Rede an die »oreilles délicates« ihres Mannes. 164 Auch Edwidge Danticats bekannter Roman Breath, Eyes, Memory (1994) wertet die mündliche Kommunikation durch den Einsatz des Tonträgers auf. Hier dient die Kassette als Kommunikationsmittel zwischen der Mutter der Protagonistin und ihrer analphabetischen Familie auf Haiti.

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Geschichte von einer Freundin seiner Mutter erzählt bekommen, wie er in einem Interview erwähnt: »Une amie de ma mère, en visite aux Abricots, qui avait lu Les Possédés de la pleine lune me dit qu’elle avait une histoire pour moi. Elle la tenait de ses parents. C’était une histoire de famille qui se transmettait de génération en génération depuis la période coloniale. Cette femme me racontait les avanies et les souffrances endurées par les esclaves de l’habitation du colon Spechbach du fait des pulsions de cruauté de l’épouse du planteur. Les Noirs ont fini par se révolter contre elle.«165

Die Chronik wird stets durch weitere Sprecher und Sprecherinnen erweitert, dabei greifen reale oder geträumte Dialoge unentwegt ineinander. Fignolé erzeugt ein polyphones, kollektives Erzählen, »qui éveillent tant d’échos«166 . Der Aufbau der Spirale erinnert an eine Art Trance, ein Delirium oder einen Alptraum, denn es gibt weder Interpunktion noch Groß- und Kleinschreibung. Fignolé erwähnt, dass er den Text »dans un état d’excitation proche de la transe«167 verfasst habe. Auf formaler, syntaktischer Ebene fehlen räumliche und zeitliche Grenzen, im Text tauchen ausschließlich Frage- und Ausrufezeichen sowie Kommata auf. Es gibt wie bereits erwähnt nur einen einzigen Punkt in dem rund 200-seitigen Roman. Eine wirbelartige, verwirrende, fließende Überlagerung von Orten, Zeiten und Handlungen ist konstitutiv für den Roman. Montageartig werden Szenen aus unterschiedlichen Kontexten zusammengesetzt, so dass die Lektüre beim Leser einen dauernden Zustand der Desorientierung hervorruft, oder positiver formuliert, der Roman ermöglicht »une lecture plurielle«168. Die folgende Textstelle zeigt dies exemplarisch. Zunächst erfährt der Leser Fragmente über die Jugend von Schwester Thérèse, nämlich die Entscheidung der Mutter, ihre Tochter Sonja in ein Kloster zu geben, woraufhin sich Sonja vor Kummer völlig in sich zurückzieht. Anschließend fließt der Text weiter in die Gegenwart, zur Geschichte zwischen den beiden Sonjas (Schwester Thérèse und Sonja, die Stewardess), die sich während des Flugs nach Haiti ereignet, um anschließend – nur durch einen Absatz markiert – wieder ins 18. Jahrhundert zurück zu springen, um eine Passage des Ehepaars Baron Wolf von Schpeerbach und seiner Frau Sonja Biemme aus der weiblichen Ich-Perspektive zu erzählen. Wir haben es folglich mit drei verschiedenen je zu tun (Schwester Thérèse, alias Sonja als Kind sowie Sonja Biemme aus dem 18. Jahrhundert und Sonja die senegalesische Stewardess): Je pleurais, tournant, tournant, tournoyant, mon ours en peluche dans les bras, mon amour, mon seul amour, lentement, très lentement, puis vite, plus vite, prise de plus en plus vite dans un tourbillon qui m’entraînait au plus profond d’un trou noir — coucou! je suis revenue, tu vois, je n’ai pas été longue avec le personnel de navigation, je leur demandais les instructions pour la suite du vol — le temps de me faire mal, toi aussi tu as meurtri mon ours en peluche

165 166 167 168

Gyssels/Fignolé: 2008a. Fignolé: 1990, 189. Gyssels/Fignolé: 2008a. Ebd.

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— quel ours en peluche? de quoi parles-tu? il me regarde du haut de sa pitié, croyant accomplir avec dévouement son devoir de mari, il veille en fait sur le cadavre de son amour, il ne le sait pas, le saurait-il qu’il n’en éprouverait aucun chagrin, il est trop futile ou trop lâche pour en souffrir — que nous est-il arrivé, Sonja? — tu me le demandes à moi! — oui, à toi! à qui d’autre voudrais-tu que je — à ton ombre, Wolf169

Fignolés Schreibweise inszeniert durch fließende Verzahnung verschiedener Stimmen eine Gleichzeitigkeit traumartiger Fokalisierungen. Wie im Traum haben die einzelnen Figuren keine klare, abgrenzbare Identität. Ein weiteres Beispiel zeigt sein spiralförmiges Erzählen. So setzt Fignolé die Totenwache für die gefolterte Sklavin Carmen und deren mythische Rückkehr über den Atlantik nach Guinea in Analogie zur Afrikaüberquerung des Flugzeugs; die beiden Passagen sind nur durch einen Absatz getrennt: qu’y a-t-il? quels sont ces cris? — ils ont libéré l’âme de Carmen, elle est retournée en Afrique — ne dis pas de sottises, elle marine dans le saloir — c’eût été horrible et monstrueux, tu n’as pas pensé vraiment… — non seulement je l’ai pensé mais encore j’ai donné l’ordre que son cadavre, découpé en quartiers et salé… — j’ai recommandé qu’il fût remis à ses frères de race — quoi? tu as osé m’humilier! — je t’ai préservée d’ajouter à une injustice monstrueuse une inutile cruauté, les Noirs ont veillé le corps selon le rite de leur vodou, maintenant que le cri a libéré l’âme, elle a entamé pour leur peuple le long voyage de l’espoir, survolant les siècles, enfantant la vie elle vient à moi, […] elle traverse mon réveil […] — café, ma sœur ? […] — j’ai dormi […] — nous survolons l’Afrique, ma sœur, appréciez la courbe grise du ciel, couleur des cendres de nos morts, martyrs d’une cause qui ne cessera jamais d’en être une […] Carmen danse son retour, chez elle dans la forêt profonde tout commence et tout finit dans les danses, la carlingue mugit, la voix de brousse d’un continent à la mémoire éclatée, son peuple dilaté, essaimé au gré des convoitises, reconquiert son passé170

Wie in dieser Textpassage angedeutet, können die erzählten Geschichten auch als Traum während des Flugs über den Atlantik gelesen werden. Wiederholt taucht das Begriffsfeld des Traums auf: »l’hôtesse a allongé la main, me croyant endormie«171, »sentiment du néant entre deux rêves de vie«172 , »comme un rêve informulé, mons-

169 170 171 172

Fignolé: 1990, 75f. Ebd., 26-28 Ebd., 13. Ebd., 74.

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trueux«173, »nous réveiller l’une et l’autre de ce cauchemar«174 , »une étrange fantasmogorie«175. Dem Unbewussten wird Vorrang vor dem Bewusstsein eingeräumt. Der Traum sprengt auch die engen Grenzen des insularen Raums. Das Flugzeug repräsentiert dabei eine transitorische Heterotopie, ein entwurzeltes Raum-Zeit-Kontinuum. Es bietet eine moderne Form der Atlantiküberquerung, die jedoch als Subtext unmittelbar die Middle Passage aufruft. Himmel und Meer als deterritorialisierte Orte werden beide mit Gewalt in Verbindung gebracht: la double violence du ciel et de l’océan [...] — Sonja, l’avion cahote — rassure-toi! Nous avons plongé dans un trou d’air, c’est bientôt passé — désagréable sensation, mon ventre est remonté jusqu’à ma poitrine, j’ai cru m’évanouir — la turbulence de l’air a plaqué l’avion dans le vide, il a été comme aspiré, nous avons brusquement dégringolé d’une centaine de pieds176

Bereits zu Beginn des Romans erfahren wir, dass der Vater von Schwester Thérèse bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen ist: »père éclaté en plein vol, [...] papa à jamais scellé dans un cercueil vide, papa dispersé aux quatre coins des vents«177 . Auch ihr wird das Flugzeug zum Verhängnis: »Un avion est mon bourreau«178, bemerkt Schwester Thérèse. Schließlich avanciert die Flugreise zu einer karnevalesken Performance, die etablierte Ordnungssysteme dehierarchisiert: l’avion tangue, une trépidation forcenée comme s’il était pris de folie, je suffoque de saisissement — mon Dien, que se passe-t-il? — ne vous affolez pas, sœur Thérèse, gardez votre calme le grotesque d’une musique m’envahit, […] — j’ai cru mourir, qu’est-ce que c’est? — le carnaval, sœur Thérèse, nous sommes entrées dans l’espace aérien haïtien, le commandant vous a réservé une surprise en relayant à votre intention une radio locale — c’est dingue, la musique haïtienne — aussi dingue que le jazz ou le reggae, porteuse de la créativité de toute une race — la musique haïtienne de carnaval? celle que j’entends maintenant? — absolument, écoutez la trompette improviser, elle est l’âme de dizaines de milliers de personnes, elles vivent et dansent dans les rues, rythment la passion, l’allégresse, la folie — la folie? — la folie de vivre, une espèce de revanche contre la médiocrité de leur existence, elles se défoulent de mille et une frustrations l’avion se déhanche, la musique a tourné son sang, il cacarde, les passagers se lèvent tous à la

173 174 175 176 177 178

Ebd., 134. Ebd., 103. Ebd., 189. Ebd., 135. Ebd., 15. Ebd., 189.

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fois, piaffent, bras ouverts au-dessus de leurs têtes, le jeu magique des pieds, ils gigotent, sautent, crient, se bousculent, laissez-frapper, échangent leurs rires et leurs visages, nous sommes des masques fous, secoués de l’exubérance d’un peuple qui a choisi d’oublier sa 179 misère

Das Flugzeug fungiert nicht nur als eine Allegorie für Modernität, sondern insbesondere als eine Art Dritter Raum afro-antillanischer Kulturpraktiken (Musik, Karneval). Das kulturelle Kapital der Haitianer liegt in der Fähigkeit zu komischer Verfremdung eines tragischen Alltags. Subalterne Identitätspraktiken ergreifen schließlich alle Passagiere, Opfer wie Täter und es kommt zu einem temporären freien Spiel der Beziehungen. Im Karneval vermischt sich Kulturelles zu einem hybriden Gemenge, sich in einem Moment des Übergangs manifestierend, im Zwischenraum von Besitzenden und Besitzlosen, von Alter und Neuer Welt, jenseits der üblichen Dichotomien. Durch das Aufeinandertreffen der beiden Sonjas kommt es zudem zu einer spezifischen Dynamik innerhalb dieses mobilen Gehäuses. Das Transportvehikel avanciert zu einem Ort der Begegnung und der Offenbarung, zu einem lieu de merveille. Die Doppelung ist maßgeblich: Schwester Thérèse/Sonja verkörpert die Täterseite und die afrikanische Stewardess Sonja, »fille d’un chauffeur à l’ambassade de Suède à Dakar«180 , repräsentiert die Opferseite: »Sonja! Sonja! doublement survivante«181. Beide kommen als Nachfahren bzw. Überlebende einer »apocalypse de la violence et de la terreur«182 daher. In einer Kreisbewegung werden auch die Kontinente Afrika und Europa zueinander in Beziehung gesetzt, denn ursprünglich kam die europäische Gewalt aus Schweden – ich rekurriere hier auf die Geschichte um Olaff dem Schweden, einem Nachfahren von Wilhelm dem Eroberer. Sonja, die Stewardess, ist bezeichnenderweise Tochter eines Chauffeurs, der in der schwedischen Botschaft in Dakar arbeitet. Schwester Thérèse sinniert während des Flugs über die gemeinsame Geschichte: »Nous portons le même nom, nous connaissons les mêmes gens, peut-être avons-nous les mêmes passions et qui sait? la même âme, la mienne a parcouru une prodigieuse distance pour venir mourir en Afrique blanche ou noire, quelle différence si notre vie a fait d’un avion le point de rencontre des races au-dessus d’un continent qui est, […] le berceau de la race humaine?«183

Vermutlich haben beide sogar eine gemeinsame Weggefährtin, Carmenta: — pourquoi m’as-tu appelée Carmenta? — à cause de ton extraordinaire ressemblance avec une fille que j’ai connue au couvent en France

179 180 181 182 183

Ebd., 152. Ebd., 50. Ebd., 51. Ebd., 48. Ebd., 51.

352 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN — moi aussi, j’ai connu une Carmenta, je l’avais rencontrée à Tanger, il y a trois ans, au cours de mes vacances — elle était noire? — non! très brune de peau, originaire, je crois de Valence mais elle avait vécu longtemps au Maroc, tiens! je me rappelle, elle m’a raconté avoir été au couvent en France — alors c’est elle, n’as-tu pas remarqué que vous vous ressemblez?184

Fignolé verzahnt also nicht nur drei differente Sonjas miteinander, sondern verknüpft sie mittels äußerer Ähnlichkeit noch mit einem anderen weiblichen Trio: Carmen, Carmenta und Cécile. Carmen ist die von Sonja Biemme gefolterte und ermordete Sklavin, Carmenta ist die potenzielle gemeinsame Bekannte der beiden Sonjas aus dem 20. Jahrhundert und Cécile ist die Geliebte von Wolf von Schpeerbach. Carmenta und die afrikanische Sonja werden ferner gar als »jumelles« vorgestellt, obgleich Carmenta »était brune [...] sur un visage de Blanc«185. Also nicht nur die Jahrhunderte und die Geographien, sondern selbst die Hautfarben der Figuren kippen in dem Roman ineinander. Fignolés innovativen Narrationsverfahren wie der beständige Wechsel von Erzählperspektive und Zeitebene sowie die Multiplizierung der Figuren auf der Ebene von Vergangenheit und Gegenwart fordern dem Leser ein hohes intellektuelles Engagement ab. Aus der Perspektive des Black Atlantic und der ihm unterliegenden prozessualen Konzeption von Kultur liegt der Wert von Fignolés Roman gerade in der befremdlichen, für den postkolonialen Diskurs aber durchaus typischen Unübersichtlichkeit seiner textimmanenten Allianzenbildung. 3.3.4 Jenseits der Indes galantes Fignolés Roman Aube tranquille liest sich wie eine Abwärtsspirale in den Abgrund der Sklaverei und als Gegenstück zu der im Roman wiederholt erwähnten Ballettoper Les Indes galantes (1735) von Rameau, in der exotische Länder zum Schauplatz tropischer Sinnlichkeit werden und die dort lebenden ›Wilden‹ und deren Liebespotenzial im Mittelpunkt des Geschehens stehen.186 Bei Rameau entmachtet die Liebe jederzeit und überall den Krieg und die Gewalt, er imaginiert die Neue Welt als eine Kolonie der Liebe.187 Fignolés Roman Aube tranquille konfrontiert den Leser indessen mit grausamer Kolonialgeschichte, die sich ausnahmslos auf alle Beziehungen zerstörerisch auswirkt. Wolf von Schpeerbach erzählt: »j’étais les Indes laborieuses, sauvages, cruelles, dans mon pays l’amour n’est jamais galants, il est toujours un rapport de forces«188 . So sagt Sonja Biemme zu ihrem Mann: »je suis l’épouse d’un destin, Wolf, pas d’un homme, ne l’oublie pas.«189 200 Jahre später fragt Schwester Thérèse ihre Oberin mit vorgetäuschter Naivität:

184 185 186 187

Ebd., 50. Ebd. Vgl. ebd., 48. Ein Spanier und ein Franzose buhlen um die Gunst der schönen Häuptlingstochter Zima, die am Ende jedoch lieber einem Jüngling aus ihrem Stamm den Vorzug gibt. 188 Ebd., 47. 189 Ebd., 165.

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[…] ma mère, pensez-vous que de Gaulle avait des négriers dans sa famille? — bien sûr, quel Français, quel Anglais, quel Espagnol n’est lui-même négrier, de nos jours encore l’Europe se construit sur la sueur et le sang des Nègres — le regrettez-vous? — qu’est-ce qui vous le fait penser? j’aime trop les Nègres (et ma présence en Haïti en est la preuve) pour ne pas reconnaître qu’ils ont été utiles, nécessaires même au progrès du capitalisme et de la civilisation occidentale, n’est-ce pas dans les colonies que nous avons expérimenté racisme et fascisme?190

Statt, wie zu erwarten, mit anthropologischen und moralischen Argumente ökonomische Interessen zu überblenden, benennt Fignolé hier durch die Stimme der Oberin die ambivalenten und paradoxen Interdependenzen des westlichen Modernisierungsprozesses. Dreieckshandel, Sklaverei und Plantagenökonomie waren für die Europäer der damaligen Zeit eine ebenso hocheffiziente wie wenig beachtete Maschinerie. Nicht bloß Frühaufklärer wie Rameau oder Marivaux, auch der aufklärerische Diskurs von Voltaire und Rousseau finden als Hintergrundfolie in Fignolés Roman Erwähnung.191 Salomon wird als gebildeter Mulatte gezeigt: »Salomon lui est un Nègre de génie, à l’esprit inventif et aux doigts habiles [...] Salomon est vraiment un Nègre spécial […] il lit Voltaire et Rousseau, invente des machines, […] sensible, intelligent, curieux de tout, même des choses de la marine.«192 So beschließt Salomon erst als freier Mensch eine Familie zu gründen, denn »je n’ai pas le droit de transmettre mes chaînes en héritage à mes enfants, je fonderai une famille quand, nés de père et de mère libres, mes fils ne seront la propriété d’aucun maître«193. Aube tranquille ist vergleichbar mit Les Indes galantes ein »univers de sens«194, aber eben jenseits aller Romantik und jeder Form von Exotismus. Der Roman integriert und illustriert, anders als theoretische Diskurse, die menschlichen, individuellen Verstrickungen sowohl auf Opfer- als auch auf Täterebene. Zentrales Thema, wenn auch sehr verhüllt beschrieben, ist die unmögliche Liebe zwischen ›schwarz‹ und ›weiß‹. Auf doppelter Ebene lässt Fignolé die Liebe misslingen: Im 18. Jahrhundert scheitert die Liebe zwischen Sonja Biemme und Salomon aufgrund der gesellschaftlich legitimierten Sklaverei195 und in der Gegenwart scheitert die angedeutete homosexuelle Liebe zwischen der weißen Sœur Thérèse und der schwarzen Stewardess Sonja, aufgrund des anhaltenden und verinnerlichten Rassismus. Den Abschied beschreibt Schwester Thérèse wie folgt:

190 191 192 193 194 195

Ebd., 106f. Ebd., 45-48, 127. Ebd., 202f. Ebd., 175. Gyssels/Fignolé: 2008a. »Salomon […] sait qu’un Noir ne touche pas à une Blanche, […] Salomon n’est pas un homme, il est la propriété de votre mari« (Fignolé: 1990, 173). Sonja Biemme wird davon heimgesucht: »tu as fait mourir Salomon et toi chaque nuit tu meurs d’amour, tu meurs de lui« (ebd., 191).

354 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN »[…] nous avons fait ensemble, sans que tu le saches, le plus beau voyage, je t’ai aimée avec la complicité des nuages, confondant le bleu de ta calotte et l’azur du ciel, nous deux soudées dans l’intimité du plaisir que nous explorerons bien un jour, l’heure est venue de la séparation, je n’ai jamais su dire adieu, bon séjour, merci, un simple mot, j’eusse voulu t’embrasser devant les passagers choqués, indignés, je n’ai pas osé lui tendre la main, d’une pression des doigts crier le chagrin de la perdre, l’ai-je jamais possédée? elle n’a plus ses gants et sa main noire tache sa robe du sang séché du Biemme, je m’enfouis […].«196

In beiden Epochen verraten die Europäerinnen ihre Gefühle zu einem Sklaven bzw. zu einer Afrikanerin zugunsten gesellschaftlicher Rassismen und Sexismen. Fignolé vermeidet es, ausschließlich ökonomische Beweggründe für die traumatische Geschichte verantwortlich zu machen und zeigt widersprüchliche Machtverhältnisse als heterogene Vermischung unterschiedlicher Einflüsse. Er will das Individuelle in Verbindung mit dem Kollektiven, die »passions humaines dans la conduite des événements«197 erfassen und benennen. Im Zentrum der gesamten Arbeit steht wiederholt die Frage, in welcher Weise – trotz der kolonial erzwungenen multiethnischen Gesellschaft – die Literaturen der Karibik und ihrer Diaspora narrative Möglichkeiten einer neuen Menschlichkeit generieren. Legt man den Fokus speziell auf Haiti, zeigt sich der Sonderstatus dieser Halbinsel, der sich bis in aktuelle Diskurse um ästhetische Kreolisierungen generiert. Das spezifisch haitianische Spiralisme-Konzept hat längst nicht in gleichem Maße wie bspw. Glissants Créolisation und die damit verbundenen Humanitätsentwürfe Aufnahme in den akademischen Diskurs gefunden. Dabei bietet sich die Literatur Haitis in besonderer Weise an, narrative Verfahren zu zeigen, wie historisch erlebtem Chaos und Leid mittels literarischer Kreativität Ausdruck verliehen werden kann. Besonders auffällig in Fignolés Roman ist die Abwesenheit männlicher Figuren im 20. Jahrhundert. Gibt es zu Anfang der Geschichte noch Verweise auf gewalttätige Männer wie Loïc Biemme de Valembrun Lebrun, Olaff dem Schweden oder Erwan Biemme so taucht mit dem Baron Wolf von Schpeerbach im 18. Jahrhundert ein in sich zerrissener Männertyp auf.198 Er ist stets selbstkritisch, zweifelnd, im besten Sinne aufgeklärt und dennoch Nutznießer der Plantagenökonomie. Im 20. Jahrhundert liegt der Fokus zweifellos auf den weiblichen Figuren: Neben der zentralen Figur Saintmilia gibt es die drei Sonjas, ferner Cécile, Carmen und Carmenta, außerdem tradiert und konserviert Schwester Thérèses Mutter die eigene Familiengeschichte mittels Kassette. Insbesondere die Mitwirkung von weißen Frauen an den Gewalt- und Besitzverhältnissen thematisiert der Roman. Frauen wie Sonja Biemme de Valembrun Lebrun oder ihre Nachfahrin Schwester Thérèse sind nicht nur ver-

196 Fignolé: 1990, 154. 197 Gyssels/Fignolé: 2008a. 198 »la folie de Sonja – l’idée qu’elle était folle s’imposait à moi au fil des jours – me désespérait, je réprouvait ses instincts sanguinaires qui inventaient des tortures d’une cruauté inouïe […] (je me demandais comment elles pouvaient être le fait d’une femme, mon épouse) je me gardais d’intervenir, de m’y opposer, […] à chaque fois pourtant quelque chose en moi, blessé, me poussait à agir, mais un chagrin plus fort que le désespoir m’en empêchait […]« (Fignolé: 1990, 61).

J EAN -C LAUDE F IGNOLÉ : S PIRALISME UND C HAOS | 355

strickt in ein menschenverachtendes System, sondern sie steigen auch eigentätig ein, sie ernten Privilegien und fragwürdige Anerkennungen, sie profitieren von ihrer Rolle in einer rassistisch organisierten Gesellschaft. In Fignolés Roman sind Frauen alles andere als ein Opferkollektiv. Im Gegenteil, sie werden insbesondere durch ihre Beteiligungen an der Permanenz struktureller Gewalt, gar als unentbehrlicher ergänzender oder verstärkender Bestandteil des Systems vorgeführt. Die europäischen (weißen) Frauen sind keineswegs das Andere der patriarchalen Vernunft oder im Besitz einer geschlechtsspezifischen Moral, Sprache oder Denkweise, sondern sie sind Teil der Dominanzkultur. Verfügbarkeit und Entmachtung sind auf der Seite der Sklaven und Sklavinnen. Die eindeutige Unterscheidung von Opfern und Tätern bewegt sich auf der kulturellen bzw. ›rassischen‹ und nicht auf der Gender-Ebene. Fignolés Roman führt uns eindringlich vor Augen, dass Unterdrückungserfahrungen mehr mit der Hegemonie der westlichen und weißen Welt zu tun haben als mit männlicher Dominanz innerhalb der eigenen Kultur.

4 Édouard Glissant: Créolisation und Geschichtstrauma »Ainsi ces histoires cassées avaient-elles chassé l’Histoire de son pupitre.« ÉDOUARD GLISSANT: LA CASE DU COMMANDEUR, 1981 »[…] il y a un homme antillais à créer, et cette création dynamique est inscrite dans l’histoire.« FRANKÉTIENNE IN EINEM INTERVIEW, 1998

4.1 S ICH

EINSCHREIBEN IN EINE LITTÉRATURE - MONDE

Edouard Glissant ist einer der wichtigsten zeitgenössischen Autoren der lateinamerikanischen Literatur französischer Sprache und prägt als Romancier, Essayist, Lyriker, Dramatiker und Journalist die derzeitige Literaturlandschaft so nachhaltig wie vor ihm sicher nur Aimé Césaire. Bereits in seinem Essayband Le Discours antillais (1981) betont Glissant die Zugehörigkeit der Karibik zum amerikanischen Raum. Er lässt mit diesem Band sowohl den Diskurs der Négritude mit seiner Fokussierung auf Afrika und einer weltumspannenden Gemeinschaft der Menschen afrikanischer Herkunft hinter sich.1 Glissant insistiert auf der Besonderheit der antillanischen Situation. Sein Werk versteht sich zunächst als Illustration eines Discours antillais, der das Postulat einer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einheit und Unabhängigkeit des karibischen Raumes beinhaltet. Daraus leitet sich die Forderung nach der Abkehr Martiniques von der Anbindung an Frankreich als Département d’Outre-Mer ab.2 Die Anpassung an französische Normen oder die Ausflucht durch die mentale Reise ins Land der Vorfahren verhindere, dass sich die Antillaner an ihrem realen Ort situieren. Die mangelnde Auseinandersetzung mit dem eigenen Lebensraum und der eigenen Geschichte verleite sie dazu, sich weiter in neokoloniale Abhängigkeiten zu verstricken. Daher fordert Glissant: »L’idée de l’unité antillaise est une reconquête

1 2

Der Discours besteht aus einer Zusammenstellung von »repères«, von Artikeln, Vorträgen, Vorworten und Essays, die im Zeitraum zwischen 1962-1979 enstanden sind. Vgl. Krüger/Hillebrand/Struve: 2006.

358 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN

culturelle. Elle nous réinstalle dans la vérité de notre être, elle milite pour notre émancipation.«3 Bereits auf der Ebene von Glissants Biographie wird das dauernde Ineinandergreifen von Zentrum und Peripherie sichtbar.4 So betont er explizit seine Zugehörigkeit zum karibischen Raum und agiert zugleich als Intellektueller in den wirtschaftlich dominierenden Regionen (Europa/USA).5 Auch in intertextueller Hinsicht verortet sich Glissant zwischen antillanischer, amerikanischer und französischer Literatur- und Theorieproduktion. Saint-John Perse und William Faulkner bspw. haben seine Poetik maßgeblich geprägt: »[...] deux auteurs de Plantation, deux hommes à la limite d’une caste, en cet espace où elle s’effritera bientôt, deux békés en fait, mais si marginaux parmi leurs semblables, deux poètes en prise avec l’inlâchable question de la race et du rapport tumultueux avec une autre race, que

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Glissant: 1997a, 26. Glissant wurde 1928 im ländlichen St. Marie auf Martinique geboren und verbrachte seine Gymnasialzeit in der Hauptstadt Fort-de-France. Nach dem Abitur, 1946, studierte er in Paris Ethnologie, Geschichte und Philosophie. Er war Mitarbeiter bei verschiedenen Zeitschriften, u.a. Présence africaine und Les Lettres nouvelles. Sein politisches Engagement für die Unabhängigkeit der Karibik führte dazu, dass ihm unter de Gaulle der Aufenthalt auf Martinique untersagt und er nach Frankreich verbannt wurde. Zurückgekehrt, gründete er in den 1960er Jahren das Lehr- und Forschungszentrum Institut martiniquais d’études und die Zeitschrift Acoma. Glissant trat 1982 den Chefredakteurposten des Courrier de l’UNESCO an, der damals viele Schriftsteller/innen aus aller Welt beschäftigte. Zum Abschluss war Glissant 1989 u.a. in die Verhandlungen anlässlich der Auflösung der UdSSR eingebunden. Er lehrte dann in den USA, zunächst an der Louisiana State University in Baton Rouge und nahm ab den 1990er Jahren an der City University of New York (CUNY) eine Professur für Literatur wahr. Während seiner Zeit in Louisiana stieß er auf zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen der Karibik und dem Süden der USA, so sagte in einem Interview: »J’étais attiré par cette partie des Etats-Unis qui avait des points communs avec les Antilles, le peuplement africain, la langue créole, l’architecture, la structure économique de l’ancien système de plantation, la cuisine, la complicité en musique« (Glissant: 2006a, 10). Glissant verstand es zeitlebens, sich gezielt in politische Fragen einzumischen: Sei es sein Engagement als Vizepräsident des Internationalen Schriftsteller-Parlaments, welches ab 1994 mit dem Programm »Städte der Zuflucht« für verfolgte Autor/innen hervorgetreten ist, sei es seine Gründung des Institut du Tout-Monde im Jahre 2006 in Paris (Mémoires des esclavages. La fondation d’un Centre national pour la mémoire des esclavages et de leurs abolitions, 2007) oder auch die beiden mit Patrick Chamoiseau verfassten Pamphlete Quand les murs tombent. L’identité nationale hors-la-loi? (2007) und L’Intraitable beauté du monde: Adresse à Barack Obama, 2009). Mit Obama sei nicht nur kulturelle Mehrfachzugehörigkeit endlich als Identitätsmuster in das Bewusstsein der USA eingezogen, er habe auch den cri du monde gehört, »la voix des peuples et le chant joyeux ou meurtri des pays« (ebd., 4). Glissant starb am 3. Februar 2011 in Paris im Alter von 82 Jahren. Ausführlicher zu Glissants Biographie vgl. Dash: 1995, 6-25. »Glissant veut créer une appartenance non pas à la France en tant que centre des D.O.M.T.O.M., mais au monde, où le centre est partout, donc nulle part en particulier« (Hess: 2006, 266).

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les vôtres ont longtemps dominée; […] Saint-John Perse: les Antillais – les créoles vus en tant qu’ils sont nègres – et les Békés (les créoles vus en tant qu’ils sont blancs); Faulkner: le Nord – ›soi-disant protecteur‹ des nègres – et les ›white Southeners‹ (les Blancs) […].«6

Für seine philosophisch-theoretischen Reflexionen spielen u.a. die Schriften von Félix Guattari und Gilles Deleuze eine zentrale Rolle. Schaut man sich seine letzten Romane an, gewinnt man den Eindruck, Glissant praktiziert zunehmend eine überhitzte Intertextualität.7 Allein in Sartorius springt er von Joël des Rosiers, Alexandre Pouchkine, Alexandre Dumas père, Aimé Césaire, Abdourahman Waberi, Arthur Rimbaud, Marguerite Yourcenar, Cheikh Anta Diop zu Leonardo Da Vinci oder Albrecht Dürer u.v.a. und sprengt so konventionelle Diskurse in alle Richtungen auf. Für Glissant besteht das höchste Projekt der Literatur in ihrer Anhäufung spezifischer lieux communs und deren Verknüpfung zu einer »pensée-monde«.8 Glissants Werk entziehe sich dem Versuch einer bündigen Zusammenfassung, denn seine poetischen Leitbegriffe der Opazität und Akkumulation prägen maßgeblich seine Schreibweise, wie Ralph Ludwig treffend formuliert.9 Die Verbindung von literarischen und literaturkritischen Arbeiten ist im akademischen Diskurs in Frankreich häufig zu beobachten, doch bei Glissant fällt bereits die Grenzziehung zwischen den einzelnen Textgattungen schwer, auch wenn sich die Werke zunächst typologisch in roman, poésie und poétique aufteilen lassen. Seine »textes marrons, rétifs à l’enfermement dans un genre«10 sind von generischen Grenzüberschreitungen in besonderer Weise geprägt. Jede Form generischer Aufteilung innerhalb seines Werks ist eine provisorische, was seinen Texten nicht selten den Vorwurf einbringt, hermetisch und schwer zugänglich zu sein. So endet der Roman Mahagony (1987) mit einem Kapitel, welches den Titel »Le Tout-monde« trägt. Den späteren Roman Toutmonde (1993) schreibt Glissant in dem Traité du Tout-monde (1997)11 fort, während der Roman schon Textteile der Traktatesammlung vorwegnimmt und das Traktat Passagen umfasst, die mit Titeln seiner früheren Romane versehen sind. Glissant

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Glissant: 1996b, 11ff. In einem Interview sagt er, dass er sich besonders vielen karibischen Autoren verbunden fühle. Auch wenn sie alle in unterschiedlichen Sprachen schrieben, so gäbe es eine ähnliche literarische Ästhetik, »empruntée essentiellement à Faulkner: accumulation, listage, redondances, entassements, révélations différées. Tout cela constitue un langage, une manière de s’approprier les langues que nous avons tous en commun« (Glissant: 1999c, 2). 7 Für diesen und viele andere sehr wertvolle Hinweise danke ich Gisela Febel. 8 Vgl. Glissant: 1996b, 11. 9 Vgl. Ludwig: 2008, 115. 10 Joubert: 1999, 318. 11 Walter Benjamin charakterisiert das Traktat als eine prosaische Form in »Denkbruchstücken« und bringt es in die Nähe des Mosaiks: »Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an, umständlich geht es auf die Sache selbst zurück. Dies unablässige Atemholen ist die eigenste Daseinsform der Kontemplation. [...] Aus Einzelnem und Disparatem treten sie zusammen [...]« (Benjamin: 1978a, 208).

360 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN

entwirft ein kartographisches, hochgradig hybridisiertes, sprunghaftes, tendenziell unabschließbares Textgewebe.12 Seine Romane sind immer auch die literarische Umsetzung seiner unterschiedlichen Konzepte von Antillanité, Créolisation oder Opacité. In Dialog- und Erzählpassagen werden Stellen aus vorangegangenen Romanen, aber auch aus seinen Essays kommentiert, relativiert, kritisiert oder weitergeführt. Glissant setzt rhizomatisches Erzählen auf inter- und intratextueller Ebene gekonnt um, denn seine essayistischen Abhandlungen sind immer auch poetisch, und das romaneske Geschehen verknüpft er auf komplexe Weise mit philosophisch-theoretischen Reflexionen. Die Entwicklung von poetologischem Diskurs13 sowie erzählerischem und lyrischem Werk vollzieht sich bei Glissant stets als parallel verlaufender Prozess. Sein gesamtes Werk lässt sich mit den einflussreichen poststrukturalistischen Modellen der Rhizomatik und Nomadologie parallelisieren. Es kommt dem nahe, was Deleuze/Guattari in ihrem Werk Mille Plateaux als Rhizom-Buch bezeichnen: »Un livre-rhizome, et non plus dichotome, pivotant ou fasciculé. [...] On écrit l’histoire, mais on l’a toujours écrite du point de vue des sédentaires […]. Ce qui manque, c’est une Nomadologie, le contraire d’une histoire.«14 Deleuze/Guattari betonen die Bedeutung einer Wissenschaft der Nomaden, der Ortlosen. In ihrer Subjektkonstitution stehen die »lignes de fuite, des mouvements de déterritorialisation et de déstratification«15 des Individuums im Mittelpunkt. Sie bedienen sich dabei anderer Wissenschaften wie der Linguistik, der Genetik und der Chaosforschung, um sie im metaphorischen Gebrauch für ihr transdisziplinäres und transversales Denken fruchtbar zu machen. Diese Vorgehensweise spiegelt sich auch in Glissants Textgewebe wider. Gleichwohl ist festzustellen, dass seine Romane noch immer weit weniger Beachtung finden als seine Essays.16 Daher steht im Zentrum meiner Analyse sein erzählerisches Werk, welches acht Romane umfasst und sich über einen Erscheinungszeit-

12 Andrea Schwieger Hiepko betont Glissants archipelisches Denken: »Was als poetische Selbstvergewisserung eines Schriftstellers begann, entwickelte sich immer mehr zur Grundlage einer allgemeinen Poetik der Kultur, die jedoch sorgsam darauf bedacht ist, ihren ästhetischen Status nicht zugunsten einer systematischen Kulturtheorie aufzugeben« (Schwieger Hiepko: 2009, 18). 13 Dazu zählen: Soleil de la conscience. Poétique I (1956), L’Intention poétique. Poétique II (1969), Le Discours antillais (1981), Poétique de la Relation. Poétique III (1990), Introduction à une poétique du Divers (1996), Traité du Tout-monde. Poétique IV (1997), La Cohée du Lamentin. Poétique V (2005), Une Nouvelle région du monde. Esthétique I (2006), Mémoires des esclavages (2007), Philosophie de la Relation. Poésie en étendue (2009). Es lässt sich eine deutliche Zunahme der essayistischen Texte feststellen: Hatte Glissant zwischen 1956 und 1981 nur drei vorgelegt, so hat er von 1990 bis 2009 sieben Essays verfasst, die sein archipelisches Denken illustrieren. 14 Deleuze/Guatttari: 1980, 34. Ferner: »le livre n’est pas image du monde, suivant une croyance enracinée. Il fait rhizome avec le monde« (ebd., 18). 15 Ebd., 10. 16 So hält Lothar Baier bspw. fest: »Glissant genießt im französischen Sprachbereich und darüber hinaus eine merkwürdige Form von respektvoller, mit großzügiger Missachtung seines literarischen Werks untermischter Anerkennung.« (2000, 1)

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raum von fünf Jahrzehnten erstreckt. Sein Werk kann als eine postmoderne/postkoloniale Chronik der karibischen Gesellschaft gelesen werden. Steht in den früheren Romanen La Lézarde (1958), Le Quatrième siècle (1964), Malemort (1975), La Case du commandeur (1981) und Mahagony (1987) die antillanische Geschichte im Mittelpunkt, gehen die späteren Romane wie Tout-monde (1993), Sartorius. Le roman des Batoutos (1999) und Ormerod (2003) weit über den antillanischen Raum hinaus. Glissant verfolgt ein doppeltes Ziel, einerseits will er mit seinem Plädoyer für die Antillanité eine strategische, positive Ethnizität im Sinne Spivaks begründen,17 und andererseits beabsichtigt er, spätestens seit seiner Poétique de la Relation die Antillen kulturell anschlussfähig zu machen an eine globalisierte Welt, gar impulsgebend auf sie einzuwirken und Konzepte wie Tout-monde und Littérature-monde neu zu definieren.18 Er setzte dies zunächst in lyrischer, dann vor allem in literarischer und essayistischer Weise in einem dreistufigen Prozess um: Seine frühen Romane19 und Essays20 versuchen, antillanische Raum- und Zeiterfahrungen durch Verdunkelungen und Verästelungen hindurch festzuhalten, die mittels eines »discours éclaté«21 aus der Erinnerung gehoben werden. Sie sind Grundlage zur Schöpfung eines romanesken karibischen Universums, welches als kollektives, kulturelles Hinterland fungiert, um dem Gefühl der Leere und Entfremdung etwas entgegenzusetzen.22 Die ›Reiserouten‹ sind zunächst auf die insulare Binnenwanderung konzentriert. Erst in einem zweiten Schritt kommt zur Präsenz der vergangenen Geschichte, in einer auf Tiefe angelegten Diachronie des Inselraums, die synchrone Präsenz aller möglichen Relationen zur Welt hinzu. In Tout-Monde (1993) findet dies seinen ersten literarischen Ausdruck. Dieser Roman zeigt Créolisation auch als horizontales, synchrones Phänomen. Toutmonde ist wie eine Anthologie diverser Formen des Reisens und der Migration angelegt. Die Protagonisten durchstreifen von Martinique ausgehend den halben Erdball: Korsika, Ägypten, Algerien, Indochina und Senegal.23 Dieser Roman ist aber auch

17 Vgl. zu Spivak: Castro Varela/Dhawan: 2005, 127. 18 Wie Mathis-Moser und Mertz-Baumgartner (2007, 12) festhalten, geht es nicht nur um ein writing back der postkolonialen Literatur, sondern auch um ihr writing-in in die Literaturgeschichte. 19 La Lézarde, 1958, Le Quatrième siècle, 1964, Malemort, 1975, La Case du commandeur, 1981, Mahagony, 1987. 20 Soleil de la conscience. Poétique I, 1956, L’Intention poétique. Poétique II, 1969, Le Discours antillais, 1981. 21 Glissant: 1997a, 465. 22 Vgl. Blümig: 2004, 17. 23 In Tout-monde verlassen Mathieu Beluse (der Intellektuelle) und Raphaël Targin (der Hirte Thaël), zwei Protagonisten und Gegenspieler aus dem romanesken Universum Glissants, als Jugendliche die Insel nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Aufenthalt in Paris dient den beiden als Passage ihrer Ausbildung, als Drehscheibe für weitere Unternehmungen, nicht als letztes Ziel ihres Aufbruchs. Mathieu und Thaël lassen also die Achse Martinique-Paris hinter sich: Thaël wird Mitglied der französischen Armee, in der er am Indochina- und Algerienkrieg teilnimmt; er repräsentiert durchgängig den homme d’action; in La Lézarde hatte er bereits den Mord an Garin verübt. Mathieu als Intellektueller wird sich auf vielen Reisen der Pluralität der Kulturen zunehmend bewusst. Interessant ist, dass Mathieu zu-

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schon die literarisch-experimentelle Vorbereitung des dritten philosophischen Schrittes, in dem die karibische Erfahrung der Kreolisierung als Keimzelle einer unermessbaren Vielfalt von Varianten erscheint und das archipelische, vernetzte Denken zu einem globalen Prinzip ernannt wird: »Toute pensée archipélique est pensée du tremblement, de la non-présomption, mais aussi de l’ouverture et du partage.«24 Für Ulrich Fleischmann hat Glissant mit dieser zunehmenden Deterritorialisierung »seine literarische und philosophische Reise von der karibischen ›Prämoderne‹ zur universellen ›Postmoderne‹ vollzogen«25. Aus der Erfahrung der vermeintlichen Nonhistoire der Antillaner und aus der Analyse der Kreolisierungsprozesse gewinnt Glissant zunehmend eine Perspektive gegenwärtiger Entwicklungen von Kulturen angesichts einer Welt in Bewegung, ein Modell für vorgelebten Kulturkontakt von universaler Tragweite: »Ma proposition est qu’aujourd’hui le monde entier s’archipélise et se créolise.«26 Dabei geht sein Denken immer wieder von den Erfahrungen im kulturellen Mikrokosmos der eigenen Herkunft, den französischen Antillen, aus. Das prozesshafte und komplexe Zusammenleben der Inselbewohner steht im Gegensatz zu den westlichen Modellen von statischem System und linearer Entwicklung. Seine Konzepte der Rhizom-Identität und der Créolisation greifen über den antillanischen Raum hinaus und stellen Verbindungen zu anderen globalen Identitäten her; mittlerweile sind sie als »travelling concepts« auch in die westliche Welt migriert und archipelisieren die ursprünglichen Zentren.27 Der literarische Diskurs eilt gleichsam der

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nächst eben nicht nach Frankreich, sondern nach Italien, in so dezentralisierte Städte wie Genua und Vernazza, oder auch später nach Korsika reist: Genua repräsentiert »une des faces du Tout-monde, celle qui est et reste cachée« (Glissant: 1993, 65), denn die Stadt habe keine große Rolle in der europäischen Kolonialgeschichte gespielt. Ortner-Buchberger deutet Italien in Tout-monde als eine Referenz auf ein barockes imaginaire: »À cette qualité anti-assimilatrice de l’esthétique baroque correspond la version d’une Italie incapable de coloniser« (2005, 252). Die Mystifikation eines nicht-kriegerischen und dem Kolonialismus feindlich gegenüberstehenden Italiens geht mit einer Demystifikation Frankreichs einher. Ein weiterer topographischer Bezugspunkt jenseits französischer Assimilierungstendenzen ist für Mathieu Brasilien, denn dieses Land repräsentiert einen Raum der Hybridität und Heterogenität. Vgl. vertiefend zur Analyse von Tout-monde z.B. OrtnerBuchberger: 2004, Hess: 2006, Bung: 2007. Glissant: 1997b, 231. Auch Chamoiseau weitet das Kreolisierungskonzept vom konkreten antillanischen Schauplatz auf die ganze Welt aus: »Une grande Geste me semblait à nouveau envisageable: le chant narratif neuf (riche de toutes les épopées) fondateur du Lieu dans le total du monde (Chamoiseau: 1997a, 316). Mit Bibliques des derniers gestes kehrt erstmals ein Roman von Chamoiseau Martinique geographisch den Rücken und geht auf Weltreise. Sein Protagonist Balthazar ist darin ein großer Widerständler, der durch Zeit und Raum wandelt, um gegen wirtschaftliche Dominanz und kulturelle Assimilation über Bildung anzukämpfen. Fleischmann: 2002, 820. Glissant: 1997b, 194. » […] le continent Europe aujourd’hui manifestement s’archipélise: je vois l’île basque, l’île catalane, l’île bretonne, l’île alsacienne, etc. […] Je suis persuadé que cet archipel, en se réalisant en Europe, changera l’Europe, archipélisera l’Europe. […] il me semble que

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Wirklichkeit voraus, denn er erfasst die Karibik nicht mehr als Peripherie, sondern als ein eigenes Zentrum und öffnet sich von dieser Verwurzelung aus auf die Welt hin. Créolisation versteht sich als utopisches Projekt, basierend auf universellen, humanistischen, sprich kreolen Werten. Eine solche Universalität ist an Differenz, an Pluralität und an Alterität gebunden. Diese Spannung zwischen der Identitätssuche auf lokaler Ebene und dem globalen Kreolisierungsprozess zeigt sich in Glissants essayistischem Œuvre: Hält man die 1981 veröffentlichte Sammlung Le Discours antillais und die 1990 publizierte Poétique de la Relation gegeneinander, so zeigt sich eine deutliche Akzentverschiebung. In Le Discours antillais werden die auf den Plantagen entstandenen oralen Praktiken im Hinblick auf die Herausbildung einer antillanischen Schreibweise und Identität herangezogen, die der kulturellen Assimilation an Frankreich Einhalt gebieten sollen. Le Discours antillais zielt auf eine (Re-)Aktivierung des kollektiven Gedächtnisses und kommt einer gesellschaftlichen Anamnese gleich. In der Poétique de la Relation hingegen wird die Plantage zu einem der »ventres du monde«28, zu einem diasporischen Ort, wo experimentelle Praktiken entstanden sind. Die Erfahrung der Marginalität, Diaspora und Alterität wird hier zum Ausgangspunkt für ein neues Denken und Schreiben gemacht, welches auf die ganze Welt ausgreift. Ähnlich verhält es sich mit dem Aufkommen und der zunehmenden Wahrnehmung kompositer Kulturen, welche die atavistischen Kulturen herausfordern. So schreibt Glissant in Traité du Tout-monde: »Les cultures ataviques au contraire tendent à se décomposer, à se créoliser, c’est-à-dire à remettre en question (ou à défendre de manière dramatique) leur légitimité. Elles le font sous la pression de la créolisation généralisée dont nous avons dit que la totalité-terre est l’objet.«29 Kulturelle Vermischungen und Mobilität verlieren ihren Ausnahmecharakter und werden in einer schwindelerregenden Weise zum Normalzustand.30

4.2 L ITERATUR

ALS A NAMNESE DER KARIBISCHEN G ESELLSCHAFT

Kritiker weisen derweil darauf hin, dass Glissants Konzepte auf einem méta-récit der Moderne, dem des Emanzipationsdiskurses, basieren. Doch m.E. versteht Glissant Emanzipation nicht als Annäherung an ein europäisches Ideal von Vernunft durch Aufklärung, sondern als ein vernetztes Miteinander der Kulturen und verschiedener

cette archipélisation de la Caraïbe est l’archipélisation même du monde, dans laquelle les cultures du monde en contact les unes avec les autres, en répulsion, en harmonie, en attirance, en oppression, finalement se créolisent l’une l’autre« (Glissant: 1997e, 66f). 28 Glissant: 1990, 89. 29 Glissant: 1997b, 195. 30 Vgl. auch Bernd Schultes kulturanthropologische Überlegung zu kultureller Hybridität als ›Normalzustand‹, wobei auch er betont, dass ›Hybridität‹ nicht wirklich neu sei, sondern nur ein gewandeltes Bewusstsein wider spiegele (Schulte: 1997, 246).

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Denkweisen und Humanities verstanden.31 Ich werde zeigen, dass gerade seine romanesken Texte neben der emanzipatorischen Dimension grundlegende Ambivalenzen aufweisen, indem sie einerseits dem Erzählen von Widerstand und Befreiung immer auch die Unverfügbarkeit einer traumatischen Geschichte zur Seite stellen und andererseits – und hier treffen sich Glissants Überlegungen mit denen des Soziologen Zygmunt Bauman32 – die moralische Ambivalenz des Menschen in ästhetischer Weise vorführen. Glissant begründet einen Emanzipationsdiskurs, der Komplizenschaft und Opferdiskurs zusammendenkt. Sein Geschichtsverständnis nimmt Subjektgeschichte der Ränder, der Kolonisierten, in den Blick. Es geht bei Glissant um die Möglichkeiten von Literatur nach einem Nullpunkt, der sehr viel früher anzusetzen ist als jener der Shoa. Es geht ihm um das Schreiben über das Trauma von Deportation und Sklaverei und um das Schreiben nach dem Trauma, also um die Auseinandersetzung mit dem Ereignis und um den Prozess der Überlieferung, sprich den Darstellungsmöglichkeiten.33 Die Beschäftigung mit seinem Werk läuft für mich auf die Frage hinaus, die auch Judith Kasper in ihrer Arbeit zum Gedächtnisdiskurs in der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts umtreibt: Wie kann Sprache traumatische Momente als Spur in sich tragen, wo sich doch Sprache und Trauma geradezu gegenseitig ausschließen?34 Was passiert, wenn die Erzählbarkeit von Geschichte selbst in Frage gestellt ist? Wie kann historische Gewalterfahrung, die sich in einem transgenerationellen Trauma manifestiert, dargestellt werden? Die Antillaner/innen, so Glissants Diagnose, seien aufgrund eines durch die Kolonialisierung ausgelösten Traumas nicht oder nur sehr bedingt in der Lage, Dinge zu benennen. Glissant spricht von der »histoire subie comme cheminement d’une névrose«35, gar von einer »non-histoire« aufgrund der ausgelöschten Erinnerung: »Ce discontenu dans le continu, et l’impossibilité pour la conscience collective d’en faire le tour, caractérisent ce que j’appelle une non-histoire. Le facteur négatif de cette non-histoire est donc le raturage de la mémoire collective.«36 Das Glissant’sche Œuvre versucht, der von ihm diagnostizierten kollektiven Neurose der Antillaner, der

31 Vgl. Hofmann: 1994, 261. An anderer Stelle liest man von Glissants »mission de combattant« (Damato: 1999, 149). 32 Vgl. Baumans Postmoderne Ethik (1995). 33 Trauma bezeichnet eine »extreme Erfahrung psychischer, physischer oder sexueller Gewalt, die vom Einzelnen nicht sofort hinreichend verarbeitet werden kann und symptomatische Leiden nach sich zieht« (Eggers: 2001, 602). Im Kontext dieser Analyse ist wichtig, dass es sich um ein historisches und über die Generationen weitergegebenes, interpersonales Trauma handelt. 34 Vgl. Kasper: 2003, 290. 35 Glissant: 1997a, 229. 36 Ebd., 223f. Angesichts der Unruhen 2009 auf den französischen Antilleninseln diagnostizieren die Unterzeichner des Manifeste pour les ›produits‹ de haute nécessité die »absurdité coloniale qui nous a détournés de notre manger-pays, de notre environnement proche et de nos réalités culturelles, pour nous livrer sans pantalon et sans jardins-bokay aux modes alimentaires européens« (Manifeste: 2009, 5).

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»misère mentale«37, ausgelöst durch jahrhundertlange und anhaltende Enteignung, Entfremdung und Abhängigkeit, eine literarische Anamnese entgegenzusetzen wie er in Le Discours antillais betont: »Pour détrousser le chaos de l’histoire subie. Là aussi les techniques d’expression ne sont pas innocentes. Explorer ce chaos de la mémoire (offusquée, aliénée, ou réduite à un répertoire de repères naturels) ne peut se faire dans la ›clarté‹ de l’exposé consécutif. La production doit être productrice d’histoire, non en tant qu’elle déclenche un événement mais en tant qu’elle ressuscite à la conscience un pan tombé. L’exploration n’est pas analytique mais créatrice. L’exposé est tremblant de cette création, opaque de ce contenu contradictoire dont la convergence n’est pas donnée d’emblée.«38

Sein Werk kreist maßgeblich um die Frage: Wie kann nach der Apokalypse der Sklaverei, nach dieser »violence primordiale«39, eine neue Genese bzw. Genesis (Schöpfungsgeschichte) entstehen? Glissant spricht ausdrücklich nicht von einer Genesis, sondern von einer Digenesis, die aus dem dunklen Bauch des Sklavenschiffs hervorgegangen ist: »Cette ›origine‹ d’une nouvelle sorte, qui n’est pas une création du monde, je l’appelle une digenèse.«40 Das Besondere an seiner Literatur ist in meinen Augen der Umschwung von der Apokalypse zu einer digenèse mittels einer barocken Ästhetik der Sublimierung, Proliferation und imaginären Zeugenschaft. Für Glissant ist es die ästhetische Produktion, die Geschichte und Erinnerungskultur erst erfahrbar macht. Wie sieht demnach eine écriture aus, die angesichts einer traumatischen Geschichte nicht in Sprachlosigkeit und Schweigen erstarrt? Judith Kasper fragt in ihrer Studie Sprachen des Vergessens, ob ein Trauma überhaupt Teil des kulturellen Gedächtnis sein kann: »Die einzige Form der Präsenz ist seine Absenz – als Verletzung des Gedächtnisses. Ein Archiv, das tatsächlich in der Lage wäre, das Trauma zu speichern, könnte dies nur in der Durchbrechung des eigenen Funktionsmechanismus tun.«41 Für unseren Kontext bleibt zu fragen: Welche narrativen Strategien findet Glissant, um das scheinbar Uneinholbare der Geschichte dennoch zu überliefern? Wird es nicht gerade mittels eines délire verbal narrativ umgesetzt? Angesichts der ausgeprägt intratextuellen Vernetzung und seines zirkulären Systems von Verweisen und »échos inépuisables«42 gebe ich zunächst einen Überblick über zentrale, wiederkehrende Formen und Funktionen innovativer Erzählstrategien im Glissant’schen Werk. Im Anschluss lege ich den Schwerpunkt der Analyse auf

37 Glissant: 1997a, 362. Da die Verdrängung der eigenen Geschichte und die Assimilation an Frankreich für die Martinikaner so normal seien, spricht Glissant in zugespitzter Weise von einer »colonisation réussie« (ebd., 20). 38 Ebd., 345. 39 Vergès/Marimoutou: 2005, 14. In Ormerod verwendet er den Begriff der Apokalypse im Zusammenhang mit der antillanischen Geschichte: »un monstrueux raclement des plaques d’en dessous provoque [...] l’apocalypse qui engloutit ces terres et submerge la mer ellemême« (Glissant: 2003, 16). 40 Glissant: 1996b, 267. 41 Kasper: 2003, 289. 42 Glissant: 1999a, 71.

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den Roman La Case du commandeur, weil er repräsentativ für die früheren Romane steht; er rekonstruiert vorrangig in vertikaler, diachroner Weise antillanische Geschichte(n). Erweiternd beziehe ich mich zudem auf das »diptyque batouto«, welches Sartorius. Le Roman des Batoutos (1999) und Ormerod (2003) umfasst.43 Diese beiden zuletzt erschienenen romanesken Texte von Glissant schreiben sein philosophisches Konzept einer Pensée de la Trace in literaturästhetischer Weise fort. Die Romane nehmen die opake Spur von Odono, einem zentralen Thema in La Case du commandeur, erneut auf und verankern diese Schlüsselfigur(en) in Form einer Ethnofiktion44 noch umfassender in der Historie.

4.3 »U NE

ŒUVRE EN ARCHIPEL «:

N ARRATIVE S TRATEGIEN

4.3.1 Eine karibische Familiensaga post-1500 Im Zentrum meiner Analyse steht Glissants bislang achtbändige Saga der karibischen Gesellschaft. Ich spreche bewusst von einer »saga romanesque«45, denn das Glissant’sche Universum basiert auf Familiengeschichten und erschließt sich erst mit der Lektüre mehrerer Romane. Von La Lézarde (1958) bis Ormerod (2003) wird der Leser in ein Labyrinth von stark miteinander verflochtenen Geschichten geführt. Es entsteht ein erzählerisches Netz, dessen Aufhängung gewissermaßen miterzeugt werden muss. Mit seinem Romanerstling La Lézarde gelang Glissant 1958 nach einigen Veröffentlichungen von Gedichten der literarische Durchbruch. Der Roman ist ein deutliches Bekenntnis zur Antillanität und zur Unabhängigkeit Martiniques von Frankreich. Es ist die Geschichte einer Gruppe jugendlicher Aktivisten um Mathieu Béluse, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg für die Autonomie der Insel einsetzt. Neben Mathieu Béluse und Marie Celat (Mycéa) taucht ein weiteres Paar auf: der Hirte Thaël (Raphaël Targin) und Valérie. Die eigentliche Handlung umfasst die Planung und Ausführung eines Attentats: Garin, der renégat, der Vertreter der Zentralmacht, soll getötet werden. Die politische Protagonistengruppe beauftragt schließlich das nach Frankreich ausreisende Autoren-Ich, die Geschichte ihres Kampfes zu schreiben und diese in Frankreich mitzuteilen: »Dis que nous disions: là-bas le Centre, pour dire la France. Mais que nous voulons d’abord être en paix avec nous-

43 Mascarou: 2006, 178 u. 187. 44 Ich verwende den Begriff in Anlehnung an Martin Lienhard, der unter Ethnofiktion – in Abgrenzung zur Ethnographie und zum etno-testimonio – einen Text versteht, der darauf abzielt, »die Rede des Anderen künstlich und künstlerisch nachzuahmen, also einen fiktiven ethnischen Diskurs hervorzubringen« (Lienhard: 1989, 131). Lienhard resümiert drei Gemeinplätze der Ethnofiktion: Erstens der ungewohnte erzählerische Blickwinkel, der weitgehend der sprachlichen und weltanschaulichen Logik außereuropäischer Völker folgt, zweitens die Kritik an der westlichen Gesellschaft, insbesondere am Kolonialismus, und drittens die Darstellung einer Utopie. 45 Biondi: 1999, 133. Eine Saga ist immer genealogisch, sie befasst sich mit der Geschichte einer Familie und ist am historischen Geschehen der Zeit interessiert, vgl. Eco: 2005, 90.

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mêmes. Que le Centre, il est en nous, et que c’est là que nous l’avons cherché.«46 Die in die Textur eingewobenen Fäden, die wie der Flusslauf der Lézarde von Strudeln und zahlreichen détours geprägt sind,47 werden in den weiteren Romanen aufgegriffen und insbesondere in Le Quatrième siècle und La Case du commandeur in die »Mitan du temps«48, in die Zeit der ersten Deportierten, zurückverfolgt. Die Romane funktionieren wie eine Zeitmaschine, die verschiedene Zeitebenen spiralförmig miteinander verknüpft. Innerhalb seines rhizomatisch angelegten genealogischen Modells lässt Glissant die Figuren jenseits jeder Raum- und Zeitlogik miteinander kommunizieren. Die Texte folgen dabei keinem linearen, chronologischen Modell von Geschichte, sondern bilden ein weit verzweigtes, zyklisch verlaufendes Geflecht einzelner histoires, die jede für sich einen eigenen Plot haben, dabei aber intratextuell ineinander greifen. Joubert bezeichnet es als ein »œuvre en archipel« singulärer »île-texte[s]«49. Diese Metapher impliziert gleichzeitig Isolation und Verbundenheit mit einem Ganzen und entspricht Glissants Idee einer identitérelationelle. Die Erzähler sind vervielfacht – Figuren avancieren überdies zu Erzählern und Erzähler zu Figuren, so dass die Unterscheidung zwischen créateur und créature50 schwer fällt. Die Erzählstränge sind hochgradig verschachtelt, die Beziehungsgeflechte zwischen den Figuren nehmen von Werk zu Werk zu und multiplizieren so zunehmend die Erzählperspektiven. Handlungen werden unaufhörlich in Frage gestellt und neu interpretiert. Somit ist jedes Ende eines Romans nur ein vorläufiges, die Romane bleiben hypothesenhaft. Erst im Modus der Interrogation, indem er die eigene Aussage immer wieder in Frage stellt, schafft Glissant einen angemessenen Ausdruck des Unbegreiflichen von Verschiffung und Versklavung und den damit zusammenhängenden historischen Leerstellen und Brüchen. Der intratextuelle »Hybrid-Diskurs«51 eröffnet auf der Erzählebene einen Gedächtnisraum jenseits der offiziellen Historiographie. Die Performativität der Figuren und Erzähler markiert eine kreolische écriture, welche eine vollständigere Artikulation aller Geschichten, vor allem der bislang unterdrückten, zu vermitteln versucht. Geschichte (re)konstruiert sich – so Glissants durchgängige Methode – erst aus verschiedenen Erzählerstimmen. In Tout-monde bedient sich Glissant bspw. zahlreicher Digressionen: Mehrere Erzählerstimmen erläutern Schlüsselbegriffe seiner kulturtheoretischen Konzepte; es gibt eine Stimme der Antillaner, eine der Franzosen, eine der Italiener, der Afrikaner, der Ost-Europäer, eine der Frauen und Männer. Es tauchen wieder die bereits bekannten Figuren auf wie Mathieu Béluse, Raphaël Targin, Mycéa, der Quimboiseur Longoué oder die beiden Plantagenbesitzer La Roche und Senglis. Aber der Roman führt darüber hinaus auch neue Figuren ein, teils Familienmitglieder, teils Freunde, zu denen Glissant im Anhang Identifizierungshilfen

46 Glissant: 1997i, 227. 47 Vgl. Blümig: 2004, 142. 48 So heißt ein zentrales Kapitel in La Case du commandeur, welches einen Blick in den Abgrund der Sklaverei freigibt. 49 Vgl. Joubert: 1999, 317f. 50 Vgl. Glissant: 1997f, 28. 51 van Kempen: 2006, 167.

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gibt. Er vermischt autobiographische Fragmente mit Reisenotizen und philosophische mit poetologischen Überlegungen. Als Rahmen für seine karibische Chronik post-1500 wählt Glissant das Modell der Familiengeschichte(n) und greift damit bewusst eine Tradition epischer Heldenund Familiensagen auf. In seinen Romanen wird über ein verzweigtes Netz immer wiederkehrender Figuren die Geschichte mehrerer Familien und Generationen erzählt. Im Zentrum dieser Saga steht eine Doppel-Genealogie: Einerseits die Familien Béluse, die als Sklaven einen Teil des Plantagensystem bilden,52 und andererseits die Familien Longoué, die als Marrons und Quimboiseurs Leitfiguren des Widerstands sind und in den Wäldern leben.53 In einer mehrere hundert Jahre umfassenden Chronik schildert Glissant die getrennten und doch in enger Verbundenheit verlaufenden Wege der beiden Familien Béluse und Longoué. Die Verschlungenheit der Familien deutet sich gleich zu Beginn des Romans Le Quatrième siècle an: »c’est un Béluse mais c’est comme un Longoué.«54 Die Zweiteilung der Familienstammbäume, beginnend um das Jahr 1788 bzw. 1715, weicht zunehmend einem wuchernden, rhizomartigen Geflecht von Geschichten und Figuren, dessen Dichte Glissant mit jedem Roman anwachsen lässt; der kleine Inselraum scheint gar zunehmend überbevölkert.55 Beginnt Le Quatrième siècle noch mit der Ankunft der beiden Vorfahren der

52 Die Rolle des ersten Béluse, welcher 1788 auf die Antillen verschleppt wird, ist die wenig ehrenvolle eines nègre-étalon, eines Sklaven, welcher für den bel usage – daher der spätere Name Béluse – vorgesehen ist. Papa Longoué erzählt: »Parce qu’ils [les colons, N.U.] y tenaient, à leurs noms. Ils acceptaient bien que tu portes un nom, à condition qu’ils te le donnent. [...] Marie-Nathalie par exemple qui ne voulut jamais qu’on appelât l’homme autrement que Béluse [...]. Car elle savait que le nom était né de sa propre bonne humeur, du rire qui gonfla en elle et qu’elle eut tant de peine à refouler quand ce géreur déclara: ›C’est pour le bel usage, madame!‹« (Glissant: 1997c, 192). Die weißen Plantagenbesitzer benötigten nicht nur Arbeitskräfte für die Pflanzungen, sondern auch welche für die Fortpflanzung. Dieses Vorgehen war ›kostensparender‹ als neue Sklaven einzukaufen, denn Kinder konnte man schon ab vier Jahren als Sklaven einsetzen. Eine andere Namensdeutung von Béluse mit Blick auf die Sprache, die das Trauma verwindet, nimmt Fonkoua vor: »En jouant sur les noms des personnages, on peut dire [...] que l’invention d’un langage conduit l’écrivain martiniquais à faire du ›long oué‹ premier un ›bel usage‹ signifiant« (Foukoua: 1996, 41). Die Beherrschung des ›guten‹ Französisch, des ›bon usage‹, hat bis heute eine zentrale Funktion im Wertekatalog und in den damit zusammenhängenden Aufstiegsmöglichkeiten in der frankokaribischen Gesellschaft. Bei Glissant steht jedoch nicht der korrekte und gute Gebrauch, sondern der kreative und transformierende Gebrauch der Sprache im Vordergrund. 53 In dem Eintrag »Caraibes ou Cannibales« innerhalb von Diderots/d’Alemberts Encyclopédie liest man, dass die Kariben »coyent un premier homme nommé Longuo, qui descendit du ciel tout fait; & les premiers habitants de la terre, suivant eux, sortirent de son énorme nombril au moyen d’une incision« (Diderot/d’Alembert: 1751-72). Für diesen Hinweis danke ich Karen Struve. So wie ich Glissant einschätze, ist die Namensverwandtschaft zwischen Longuo/Longoué keine Zufälligkeit. 54 Glissant: 1997c, 13. 55 Vgl. Blümig: 2004, 146-152.

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Familien Longoué und Béluse im Jahr 1788, so taucht in dem »Essai de classification sur les relations entre les familles, Béluse, Targin, Longoué, Celat«, welcher in La Case du commandeur als Anhang auftaucht, ein möglicher dritter Vorfahre auf, eben jener Odono, der wohl schon um 1715 in die Karibik deportiert wurde.56 Abb. 7 Glissants Vorschlag einer »Datation« der beiden Familien Longoué und Béluse, aus: »Le Quatrième siècle« (1964)

56 Nur in Le Quatrième siècle (1964) und La Case du commandeur (1981) befinden sich die zwei hier abgebildeten Orientierungen. Die »Datation« ist dem Roman Le Quatrième siècle entnommen, Glissant: 1997c, 333f. Das »Essai de classification des relations entre les familles Béluse, Targin, Longoué, Celat« ist dem Anhang von La Case du commandeur entnommen. In den nachfolgenden Texten muss der Leser ohne eine solche Orientierungshilfe auskommen.

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Es gibt keine großartige Gestaltung der Charaktere, statt dessen einen zersprengten, unaufhörlichen Strudel von Figuren. Die Multiplizierung und Streuung der Protagonisten und Erzählinstanzen sowie Glissants Technik, die Urszenen des Romangeschehens immer wieder neu zu variieren, macht es dem Leser schwer, den Überblick zu wahren. Seine von Dekonstruktion, Ambivalenz, Fragmentierung, Wiederholung und Intertextualität gekennzeichnete Schreibweise widersetzt sich fortwährend einer abschließenden Interpretation, denn die Bedeutungen lassen sich nicht auf eine hermeneutische Interpretation reduzieren, die zu einem tieferen Sinn hinführt. Abb. 8 Glissants Vorschlag einer Genealogie, aus: »La Case du commandeur« (1981)

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Hilfreich ist in diesem Familiengeflecht, dass der Leser häufig auf Paare trifft wie bspw. Mathieu Béluse und Marie Celat bzw. Mathieu Béluse und Papa Longoué, die zueinander in einer spezifischen Relation stehen. Sie setzen sich in der Regel zusammen aus Nachfahren ehemaliger Plantagensklaven, die die französische Kultur und Geschichte weitestgehend als ihre eigene internalisiert haben und aus Nachfahren ehemaliger Marrons, die sich der französischen Kultur verweigert haben. Europa und Afrika erhalten so ihren realen Platz in der Geschichte der Antillaner.57 Europa vermittelt sich durch den logisch-rationalen Diskurs und die französische Geschichtsversion der Archive, mit dem sich Mathieu Béluse auseinandersetzt.58 Afrika, »le pays là-bas au-delà des eaux«59, taucht insbesondere über den assoziativen Diskurs des Marron und Quimboiseur auf, in dessen Linie Papa Longoué oder auch Mycéa steht. Glissants Ansatz entspricht nicht der Hegel’schen Dialektik von Herr und Knecht, sondern es geht um die Relation von Sklave und Marron. Es ist eine Reflektion über die eigene Community. Glissant denkt über dichotome Begriffe von Herr und Sklave hinaus und will so den Blick auf Strategien zur Subversion von Macht freigeben. Die Rolle des Maître wird bei Glissant auf einen gelegentlichen Auftritt beschränkt. Er wird damit in ähnlicher Weise marginalisiert wie der Kolonisierte/Versklavte im größten Teil der überlieferten Geschichte. Insbesondere wird der Maître an keiner Stelle zum Erzähler. Ein solches Fehlen kolonialer Protagonisten und Erzähler innerhalb der Figurenkonstellation im postkolonialen Roman ist ein wirkungsvolles Verfahren, westliche Diskurs-Dominanz zu unterlaufen. Glissants asymmetrische Dreieckskonstellation aus Maître, Sklave und Marron verzichtet also auf die üblichen Heldengeschichten von Eroberern und Herrschern und rückt stattdessen die Leidens- und Widerstandsgeschichten der Eroberten und Versklavten in den Vordergrund. Seine verzweigte Saga zeigt, wie das Leben in der Neuen Welt die Ankömmlinge in zwei Gruppen spaltete: Jene, die sich an das herrschende System anpassten, und jene, denen es nach der Ausschiffung gelang, in die Wälder zu fliehen. Beide Gruppen bleiben in der Saga verflochten und lassen sich nicht klar voneinander differenzieren. Die Ereignisse der Eroberung, maßgeblich die

57 Glissant wird nicht ganz zu Unrecht vorgeworfen, dass er sich vorwiegend auf die Relation schwarzer Antillaner zu Afrika beschränkt und damit die multiplen Einflüsse anderer Einwanderungsgruppen vernachlässigt. Vertreter des Créolité-Modells wie Chamoiseau oder Confiant gehen stärker auf die ethnische und kulturelle Vielfalt jenseits der Polarität Europa-Afrika ein. 58 Ist La Lézarde noch ein Roman der geschichtlichen Ermittlung mittels Archivarbeiten seitens des Historikers Mathieu, so stellt Le Quatrième siècle eher einen Roman des kollektiven Gedächtnisses dar, welcher verstärkt die Erzählungen des Quimboiseurs Papa Longoué in den Mittelpunkt rückt und der die Gefahr des Selbstverlustes durch die Verlockungen der westlichen Kultur klar benennt. In La Case du commandeur teilt uns der Erzähler mit, dass Mycéa sich bewusst ist, dass »les livres n’ont cessé de mentir pour le meilleur profit de ceux qui les produisirent« (Glissant: 1981, 34). Denn der Sieg der Literalität über die Oralität bringt zwar einen Zuwachs an abrufbarem Wissen, schadet jedoch dem eigenen Erinnerungsvermögen. 59 Glissant: 1997c, 68.

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lokale, subalterne Geschichte des Widerstands, werden bei Glissant polyperspektivisch (re)konstruiert. Widerständige Stimmen wie jene von Ozonzo, Papa Longoué, Liberté Longoué oder Mycéa – Figuren, auf die ich später noch genauer eingehen werde – destabilisieren die okzidentale Histoire totale maßgeblich. Glissant verdeutlicht die Komplexität einer kreolisierten Geschichtsentwicklung, die zwar von der Asymmetrie der Machtverteilung geprägt ist, deren Dynamik aber auch eigene Lebensformen wie die der Marrons, die eine Art Gegengesellschaft bilden, hervorbringt. Neben die »victimisation tragique« setzt Glissant bewusst die Figur des nègre marron als identitätsstiftenden »héros tutélaire«.60 Das herkömmliche kulturell verfügbare Repertoire von interpretativen Plots wird so gegen den Strich gebürstet. Glissant antillanisches imaginaire der Geschichts-Saga kann gelesen werden mit Foucaults strategisch-produktiver Machtvorstellung, wie er sie in seinem Spätwerk bspw. in Dispositive der Macht (1978) entwickelt hat. Foucaults Analyse des Verhältnisses von Wissen und Macht betont, dass Machtbeziehungen multipel, diskursiv und allen Arten von Beziehungen immanent sind und somit kursierendes Wissen durchziehen. Er spricht von der Macht als einer »Strategie ohne Stratege«61. Es gibt

60 Glissant: 1997a, 266. An anderer Stelle sagt er, dass »le Nègre marron est le seul vrai héros populaire des Antilles« (ebd., 180). Der nègre marron repräsentiert aufgrund seiner potenziellen Aufrechterhaltung der patrilinearen Linie einen sehr männlich codierten potenten Gegensatz zur ›weiblichen‹ Welt der Plantage, die aufgrund der Enteigung als »univers matrifocal et matrilinéaire« (Burton: 1997, 24) charakterisiert wird. 61 Foucault: 1978, 132. Foucaults Ansatz zielt auf einen depersonalisierten, netzartigen Machtbegriff, d.h. es gibt nicht auf der einen Seite die, die Macht haben und auf der anderen Seite die, die jenseits der Macht stehen. Sein Machtbegriff erodiert die moderne westliche Vorstellung des Entweder-Oder-Binarismus: »Bei der Macht handelt es sich in Wirklichkeit um Beziehungen, um ein mehr oder weniger organisiertes, mehr oder weniger pyramidalisiertes, mehr oder weniger koordiniertes Bündel von Beziehungen« (Foucault: 1978, 126). Sie ist das organisierende Prinzip von Beziehungen und Kräfteverhältnissen und wird unter Mitwirkung aller dieser Verbindungen reproduziert und modifiziert. Macht kann damit nicht ausschließlich als von einem Zentrum ausgehend gedacht werden, sondern wird lokal erzeugt über die ungleichen Kräfteverhältnisse, die sich in den Produktionsapparaten, Familien, sexuellen Beziehungen, Gruppen und Institutionen ausbilden. Diese Vielzahl der lokal erzeugten und instabilen Machtbeziehungen verknüpfen sich unentwegt. Statt von Herrschenden und Beherrschten zu sprechen, wird bei Foucault Macht also eher als ein sich selbst beständig erzeugendes, in internen Konfrontationen veränderndes und sich immer wieder neu ausbalancierendes System von Beziehungen und Kräften beschrieben. Nestor García Canclini übernimmt mit seiner Analyse der »schrägen Mächte bzw. querlaufenden Kräfte« (poderes oblicuos) Foucaults Machtkonzeption für Lateinamerika. Er betone, dass es zwar »vertikale und bipolare Machtverhältnisse […] zwischen den Zentren und Ländern der Peripherie und auch zwischen den Klassen innerhalb kapitalistisch organisierter Nationen« gibt, »[g]leichzeitig sind jedoch auch Prozesse der Zerstreuung und Vervielfältigung der Zentren zu beobachten« (Sieber: 2005, 114); all diese Verhältnisse geraten sich potenzierend und ›schräg‹ ineinander, vgl. García Canclini: 1989, 322-327.

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kein Subjekt der Machtausübung, sondern nur Individuen, denen bestimmte Positionen in den freilich ungleichen Verhältnissen zukommen. Weder Opfer noch Agenten können vollständig außerhalb ihres Operationsfeldes stehen, denn Macht zirkuliert. Foucaults Analyse eines relationalen Machtansatzes ist innerhalb der europäischen Moderne eine entscheidende Innovation, eröffnet sie doch einen Raum für abweichende Diskurse und potenziellen Widerstand. So zeichneten sich auch innerhalb der antillanischen Sklavengesellschaft hierarchische Gruppierungen ab. Ralph Ludwig spricht von drei Gruppen: den Haussklaven, den spezialisierten Arbeitern und den Feldsklaven; letztere bildeten mit Abstand die größte Gruppe.62 Für das Verständnis der Kreolisierungsprozesse sei aber insbesondere die Rolle der Haussklaven zentral gewesen, denn sie seien mehr als die anderen in Kontakt mit Kultur und Sprache der Kolonialherren gewesen und hätten diese Kenntnisse abends in die rue cases nègres getragen.63 Die Plantagenordnung war wie folgt ausdifferenziert: »An der obersten Stelle der Plantagenordnung steht der weiße Plantagenbesitzer, der aber oft die eigentlichen Verwaltungsarbeiten einem gérant überträgt, der ebenfalls aus der Kaste der Weißen, der békés stammt. Zwischen Sklaven und gérant steht der commandeur, der in der frühen Kolonialzeit ein (mittelloser) Weißer war, am Ende des 17. Jahrhunderts häufig schon ein Schwarzer ist.«64

In Glissants Familiensaga repräsentieren die unterschiedlichen Haltungen der Protagonisten zwei entgegengesetzte Strategien von bestmöglicher Anpassung und radikalem Widerstand, einen je spezifischen Umgang mit Fremdherrschaft und Gewalt. Die (Re)konstruktion einer estime de soi verläuft maßgeblich über die Herausstellung aller Arten von Widerstand und lokaler Überlebenstechniken wie Marronnage, Aufstände, Sabotage, politische Unabhängigkeitskämpfe bis hin zu autoaggressiven Handlungen wie Selbstmord und Kindstötung. Daher wundert es nicht, dass der Marron in Glissants Romanen eine bedeutende Rolle spielt. Er ist Fixpunkt imaginärer – stets unvollständiger – Genealogien, die von einem Buch zum anderen entfaltet und miteinander verknüpft werden. Bei Glissant ist der Marron eine der zentralen Figuren, er ist sozusagen »le super-male«65 und etabliert damit ein alternatives grand récit. Diese besondere Aufwertung des Marron hängt einerseits mit seiner früheren

62 Wole Soyinka meint, dass die Sklaverei ein Zustand sei, der keine Differenzierung zulasse, außer natürlich der in soziologische Einteilungen wie Haus- oder Feldsklave, vgl. Soyinka: 2000. 63 Vgl. Ludwig: 2008, 37. La Rue Cases-Nègres (1950) von Joseph Zobel gilt als einflussreicher Roman, der noch optimistisch von einer sozialen Integration durch Bildung ausging. Man-Louise aus Le Quatrième siècle ist eine Figur, die sich als Haussklavin zwischen der Welt der Plantagenbesitzer und jener der Feldsklaven bewegt. Auf sie komme ich später zurück. 64 Ludwig: 2008, 37. 65 Arnold: 1995, 27. Auch Chamoiseau hat mit seinem epischen Roman Biblique des derniers gestes (2002) dem Rebellen Balthazar Bodule-Jules eine Chiffre für den universellen Revolutionär geschaffen.

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kompletten Ausgrenzung und Furcht einflößenden und abwertenden Darstellung im offiziellen Diskurs zusammen.66 Andererseits mit der Tatsache, dass die Rolle des Mannes als Erzeuger und Vater von den Kolonialherren bereits besetzt war. Eudoxie, die in der unsicheren Genealogie von Odono steht, erzählt: »Le colon décide que c’est celui-là mon concubin, il attend le bénéfice de mon accouplage.«67 Der Roman Mahagony, der drei Widerstandsgeschichten über- und ineinanderfaltet, geht mit einer Allegorisierung des Marron einher; diese Figuren fungieren als Sinnbild für einen neuen antillanischen Emanzipationsdiskurs. Glissant praktiziert letztlich den von Foucault entworfenen »Aufstand der unterworfenen Wissensarten«68, indem er dem Nichtartikulierten zur Sprache verhilft bzw. vom Unsagbaren Zeugnis abzulegen versucht. Glissant erzählt die antillanische Geschichte zudem in zwei Richtungen als doppelte Diasporisierung nach: Einerseits imaginiert er literarisch die Geschichte der Traite und Marronnage, andererseits referiert sein Werk auf eine zweite Diaspora, sprich die erneute Dispersion der Antillaner seit Mitte des 20. Jahrhunderts. Gerade sein Roman Tout-monde erzählt von Migration in umgekehrter Richtung, wenn die Romangestalten von den Antillen ausgehend durch die Welt irren, sei es um im Zweiten Weltkrieg in Europa oder in Kolonialkriegen in Indochina oder Algerien für das Hexagon zu kämpfen. Einzelne brechen auch aufgrund von besseren Ausbildungsmöglichkeiten in die Welt auf, jenseits der beengten geographischen Möglichkeiten der Insel. Blümig bilanziert: »Mit Tout-monde wendet sich Glissant den Reisenden und ihren Abenteuern in der Welt zu. Man könnte meinen, dass mit Glissants Schritt in die Welt das Thema des nègre marron obsolet geworden ist, doch das Verlassen der Insel stellt eine weitere, moderne Variation des ›Marronierens‹ dar.«69 Doch diese Reisen sind nicht zwangsläufig analog mit der Erfahrung der Toutmonde, denn letztere ist auch mit der Erfahrung des Abgrundes der Sklaverei verbunden; sie wird zur Voraussetzung, um ans Licht einer Tout-monde zu gelangen.70 Am Ende des Romans Tout-monde scheint das Herumirren in der Welt Mathieu freilich nicht weitergebracht zu haben: Er wird bei seiner retour au pays natal von zwei Kleinkriminellen erstochen; die von Longoué für Mathieu angekündigte »blessure inconnue«71 erhält damit eine banale Dimension. Damit beschert Glissant seinem

66 Glissant schreibt in La Cohée du Lamentin (2005, 85): »Le marronnage est une opposition sociale, politique et culturelle, que les historiens colonialistes refusent le plus souvent de considérer comme telle.« 67 Glissant: 1997f, 46. 68 Foucault: 1978, 60. 69 Blümig: 2004, 160. 70 In einem Gespräch zwischen Mathieu und Longoué heißt es: »– Tout ça pour prétendre, demanda plaisamment Mathieu, – il voulait faire diversion, que je vais voyager dans le monde? – Mais le monde n’est pas le Tout-monde, dit Longoué. […] – Ce n’est pas la dernière fois, chanta Longoué, que vous montez dans l’obscur. Attendez donc. Vous le rencontrerez sur toutes les routes, venant repartant. Et si vous ne gravissez pas dans l’obscur, alors vous n’entrerez pas dans la lumière du Tout-monde« (Glissant: 1993, 208). 71 Glissant: 1993, 209.

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Helden ein völlig unheldenhaftes, wenig sakrales Ende und bricht in ironischer Weise das Topos einer versöhnlichen Rückkehr.72 Festzuhalten bleibt: Glissants Familienstammbäume müssen horizontal als Rhizome oder Karten gelesen werden, in denen alle auftauchenden Figuren potenziell, jenseits von Raum und Zeit, in Beziehung zu allen anderen treten können. Tote, Geister, Phantome, Wiedergänger sind genauso Teil des Figurenensembles wie die Lebenden. Figuren der Diaspora und jene, die auf den Inseln geblieben sind, gehören derselben Gemeinschaft an. Selbst Landschaftsmetaphern verdichten und multiplizieren sich wie bspw. in Mahagony: »Nous méditons ensemble ce mahagony, multiplié en tant d’arbres dans tant de pays du monde.«73 Mit Hilfe zyklischer und anachronischer Erzählverfahren (proleptischer und analeptischer Art) inszeniert Glissant eine schwindelerregende Akkumulation und Zirkularität von Raum und Zeit. Durch diese spatiale und temporale Akkumulation wird Vergangenheit in die Gegenwart projiziert und aktualisiert. Dieses »nicht-lineare Verhältnis zu Zeit und Weg«74 etabliert eine kritische, transversale, kreole, relationale Gegengeschichte der Moderne. Seine karibische Saga bildet eine Art Gründungsgeschichte der Vernichtung und des Überlebens und dem damit verknüpften Chaos. 4.3.2 Écriture am Nullpunkt Glissants Protagonisten und Protagonistinnen begeben sich in Form eines »as-iftestimony«75 auf eine schmerzvolle Identitätssuche zwischen Fügung und Weigerung, zwischen Schweigen und Schreien. Dieses Schreiben auf der Schwelle nennt Glissant Poétique. In einem Interview beschreibt Glissant sein ästhetisches Ringen als ein suchendes Sagen der Wahrheit, das in Anlehnung an Adorno nach der Barbarei der Moderne – die nicht erst mit der Shoa einsetzte76 – immer nur eine herantastende Bemühung sein kann: »Il [le poète, N.U.] resurgit en cri tandis que le romancier resurgit en structure. Le cri est plus difficile car, s’il est toujours possible d’améliorer la structure, quand le cri est là, il est bel et bien là. C’est pour cette raison que Rimbaud, après avoir poussé le cri, n’a pas pu continuer. En ce qui me concerne, il m’est devenu possible aujourd’hui de structurer le cri ou de crier la

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Vgl. Blümig: 2004, 167-170. Glissant: 1997f, 193. Ludwig: 2008, 77. Broeck (2005, 100) verwendet diesen Begriff, um das von Toni Morrison angewendete Erzählverfahren in Beloved zu benennen. 76 Es sind nicht bloß »die mit Schrecken besetzten Zäsuren der jüngsten Geschichte« (Weigel: 1999, 52), die die Problematik der Historiographie aufzeigen. Nicht erst der Holocaust stellt einen so genannten Nullpunkt in der Geschichte, eine fundamentale Zäsur dar, und hat die Vorstellung vom teleologischen Fortschreiten der Geschichte ad absurdum geführt. Denn nicht erst in Auschwitz wurde sichtbar, dass technischer Fortschritt mit dem größtmöglichen Rückschritt in die Barbarei einhergehen kann.

376 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN structure. [...] Autrement dit, aujourd’hui il n’y a plus de poète ni de romancier, il y a des poétiques.«77

Le cri steht stellvertretend für die subjektive Artikulation des Schmerzes: »le cri ouvre une absence tapageuse.«78 Die Äußerung von etwas Unverfügbarem, das als unbeantwortbare Frage nach dem Sinn einen Bestandteil der Existenz bildet, kann gerade in der Literatur, insgesamt in der Kunst, Ausdruck finden. Glissant beschreibt dies wie folgt: »Quitter le cri, forger la parole. Ce n’est pas renoncer à l’imaginaire ni aux puissances souterraines, c’est armer une durée nouvelle, ancrée aux émergences des peuples.«79 Dass der Schrei zur Sprache wird, ist die zentrale Aussage, die hier von besonderem Interesse ist. Den Schrei der mundtot gemachten Subjekte des Kolonialismus in eine Sprache zu überführen, die dessen Intensität bewahrt und ihren von Gewalt geprägten Ursprung nicht zu verdecken versucht, ist eines der wichtigen Anliegen des Autors. Denn der Schrei ist das der Sprache Vorgängige. Le cri wird zur écriture, crier wird zu créer.80 In Mahagony erzählt Mathieu: »je retrouverais enfin cette ligne de terre rouge et cet emmêlement d’un cri et d’une écriture.«81 Der Schrei als Symbol von Mündlichkeit findet Eingang in die Schrift, und beide Kommunikationsformen durchdringen sich gegenseitig. In der analphabetisierten Sklavenhaltergesellschaft geht es gerade darum, den oralen Spuren, aus dem die gesamte Geschichte der Plantagengesellschaft besteht, in der Schrift Dauer zu verleihen. In écriture ist der Schrei, der cri, sowohl im Schrift- als auch im Lautbild enthalten und damit in ihn eingeschrieben. An diesem Knotenpunkt lässt sich Glissants Poetik mit seiner Forderung nach einem neuen imaginaire mit Roland Barthes’ Begriffen der Schreibweise und des Nullpunkts, welche er in Le Degré zéro de l’écriture (1953) einführt, verknüpfen.82 Barthes verweist in seiner Aufsatzsammlung auf die formale Bedingtheit des Schreibens: Man kann nur schreiben, was die Sprache zulässt. Barthes verbindet sein écriture-Konzept ausdrücklich mit einem ethischen und engagierten Anspruch, wenn er

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Glissant: 2007a, 83. Glissant: 2006b, 200, Herv. i.O. Glissant: 1997a, 28, Herv. i.O. Schon in Le Discours antillais schreibt Glissant: »Chanter l’histoire: impénétrable incomprise. […] il reste à crier le pays dans son histoire vraie« (1997a, 20). Daniel Maximin spricht mit Blick auf den »esclave-musicien« ebenfalls von der Umwandlung des Schreis in Kreativität: »En l’esclave-musicien, le musicien libère l’esclave. Non pour crier, mais pour créer« (Maximin: 2006, 41). So habe sich eine spezifische Ästhetik entwickelt: »Et par ce passage du cri au chant, de la chaîne à la danse, l’artiste, esclave de la loi de réalité, improvise un art dont la nouveauté esthétique a pour fonction de donner forme possible à l’espoir, en manifestant à sa communauté par l’exemple de son engagement éthique, à l’instar de l’esclave enfui en marronnage, la possibilité d’émergence, entre doute et croyance, des genèses nocturnes renaissantes au son du tambour-Ka« (ebd., 41f). 81 Glissant: 1997f, 25. 82 Diese Überlegungen zur postkolonialen, kritischen Erweiterung des Barthes’schen écriture-Begriffs verdanke ich vor allem Struve: 2009, 283-293; vgl. ferner Febel/Struve/ Ueckmann: 2007.

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davon spricht: »qu’il n’y a pas de Littérature sans une Morale du langage.«83 Es gibt für ihn keine Literatur ohne eine bestimmte Moral der sprachlichen Ausdrucksweise: »[…] l’écriture est une fonction: elle est le rapport entre la création et la société, elle est le langage littéraire transformé par sa destination sociale, elle est la forme saisie dans son intention humaine et liée ainsi aux grandes crises de l’Histoire. […] l’écriture est donc essentiellement la morale de la forme, c’est le choix de l’aire sociale au sein de laquelle l’écrivain décide de situer la Nature de son langage.«84

Barthes postuliere diese »éthique de l’écriture«85 als Antwort auf den Sartre’schen inhaltsbezogenen Engagementbegriff von Literatur.86 Barthes’ Überlegungen stehen im Zusammenhang mit tatsächlichen formal-ästhetischen Neuanfängen der Literatur und beziehen sich dafür konkret auf die Jahre um 1850, auf einen Zeitpunkt, an dem die bürgerliche Ideologie selbst aufgehört habe, universell zu sein und von da an die gesamte bürgerliche Literatur von Flaubert bis heute zu einer Problematik der Sprache geworden sei.87 Für Barthes ist Schreiben ein bedeutungsbildender Akt, der seine eigenen Entstehungsbedingungen und den Zeichencharakter des Werkes reflektiert: »La modernité commence avec la recherche d’une Littérature impossible.«88 Barthes spricht bezeichnenderweise von der écriture zu Krisenzeiten der Histoire, denn die écriture habe die Möglichkeit, die große Geschichte (»l’Histoire totale«) in Frage zu

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Barthes: 1993a, 141. Ebd., 147. Ebd., 184. Der Aufsatz »Qu’est-ce que l’écriture?« in Le Degré zéro de l’écriture ist Barthes’ direkte Reaktion auf Sartres bekanntes Essay »Qu’est-ce que la littérature?«. 87 Vgl. ebd., 169-171. Barthes’ ethisch aufgeladener Écriture-Begriff und seine Ausrichtung auf die Geschichte ist ein anderer als jener, der von der französischen Autorin Cécile Wajsbrot scharf kritisiert wird. Wajsbrot distanziert sich in ihrem Essay Pour la littérature von einem (post)strukturalistischen Écriture-Konzept, welches nur um sich selbst kreise: »L’écriture, par nature, est impuissance« (Wajsbrot: 1999, 11), sie sei narzistisch und bedeutungslos, sie habe eine Affinität zur reinen Beschreibung und zur Oberflächlichkeit. Für Frankreich führt sie den Aufschwung des Écriture-Begriffs seit der Nachkriegszeit auf das Verschweigen des Vichy-Traumas zurück: »Notre scène originelle, c’est Vichy, et comme toute scène originelle, elle gît dans la pénombre d’un inconscient qui ne demande qu’à l’oublier. Le refoulement a pris toute la place et sous couvert de théorie littéraire, l’écriture s’est substituée à la littérature – sous prétexte d’intelligence.« (Ebd., 27) Im Zeichen von ›Vichy‹ habe, so Wajsbrot, die Zeit der Nachforschungen in der französischen Literatur gerade erst begonnen. Die Themen von Deportation und erzwungener Migration tauchen sowohl in europäischer Literatur (wie bei Wajsbrot), aber eben auch im postkolonialen und außereuropäischen Kontext auf. Ein literarischer Text ist für Wajsbrot nur einer »où l’expérience humaine s’est déposée« und der über eine »vision du monde« verfügt (ebd., 34 und 59). Zum Konzept der Écriture vgl. auch die Überlegungen von Margot Brink und Christiane Solte-Gresser (2004) als Schreibweise jenseits der Grenzen von Philosophie und Literatur. 88 Barthes: 1993a, 159.

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stellen,89 was schließlich zu einer Zersplitterung in histoires und écritures und damit zu einschneidenden Änderungen im Bewusstsein der Menschen führe: »L’unité de l’écriture classique, homogène pendant des siècles, la pluralité des écritures modernes, multipliées depuis cent ans jusqu’à la limite même du fait littéraire, cette espèce d’éclatement de l’écriture française correspond bien à une grande crise de l’Histoire totale, visible d’une manière beaucoup plus confuse dans l’Histoire littéraire proprement dite.« 90

Es gibt weder die eine histoire noch die eine singuläre écriture. In vergleichbarer Weise wie Barthes sucht Glissant in einer écriture am Nullpunkt eine contrepoétique und zugleich eine programmatische Zukunftsperspektive auszumachen, welche sich innerhalb des transkulturellen und postkolonialen Raumes der Karibik verortet. Auch für Alfonso de Toro bildet »der gegenwärtige Augenblick die Startbasis, eine Art Nullpunkt des Aushandelns«91 von Geschichtsbildern. Der grundlegende Zweifel an einem feststehenden Sinn in den Geschichtsverläufen, der aufgedeckt und nachgezeichnet werden könnte, ist einem solchem Nullpunkt inhärent. Die Verabschiedung des einen herrschaftslegitimierenden Diskurses und eine Pluralisierung des Wissens sind die Folge. Dabei darf – wie bei den karibischen Gesellschaften – das Trauma der Entwurzelung, Deportation und Dehumanisierung nicht in ein ›Spiel‹ textueller Verweisungen und damit in einen bedeutungslosen Prozess der Signifikation münden. Seine Literatur bedient sich zwar mit der Überlagerung mehrerer erzählter Ebenen einer ähnlichen Erzählstrategie wie bspw. der Nouveau Roman, integriert aber gleichwohl kohärente histoires. Das Barthes’sche écriture-Konzept erfährt durch Autoren wie Glissant eine postkoloniale kritische Unterstützung und Erweiterung. Das Konzept der Écriture transculturelle92 verbindet das poststrukturalistische Konzept des Schreibens und der Pluralisierung von Sinn mit dem Verständnis von Transkulturalität und Hybridität, so Karen Struve: »Im Begriff der écriture transculturelle [...] vermögen sich beide Konzeptionen zu reflektieren und theoretisch zu befruchten. Die écriture bekommt demnach einen dezidiert kulturellen und postkolonialen Hintergrund. Sie erscheint im Sinne Barthes als eine engagierte Schreibweise, die sich im Prozess der Aktivierung der ›sozialen Energien‹ (Steven Greenblatt) befindet, die zwischen Sprache und Stil als ephemerer Ort der Freiheit funktioniert und im Sinne einer ›liberté souvenante‹ [Barthes, N.U.] nicht unabhängig von ihrem geschichtlichen Erbe gedacht und formuliert werden kann. Dies geht mit der Bachtin’schen Vorstellung der Polyphonie und

89 Vgl. Struve: 2009, 290. 90 Barthes: 1993a, 148f. Derrida spielt damit, gar nicht écriture, sondern nur lecture, nur Lesung zu sein. Er arbeite bloß bereits Vorhandenes heraus, ein Ungesagtes oder Ungedachtes, das im Text zwischen den Zeilen latent vorhanden sei, vgl. Gehring: 2004, 387. 91 Toro: 2002, 28. 92 Vgl. den Band Écritures transculturelles. Kulturelle Differenz und Geschlechterdifferenz im französischsprachigen Gegenwartsroman, wo wir auch die Metaphern der ›querenden Literaturen‹ oder der ›littératures transversales‹ einführen, vgl. Febel/Struve/Ueckmann: 2007, 26. Ein Konzept der écriture transculturelle beur entwickelt Struve: 2009, 283-315.

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Dialogizität des Wortes konform, welches Spuren vergangener Konnotationen in sich trägt und, obwohl es in seinen historischen Kontext eingebettet ist, dennoch Normen und Strukturen stören oder gar sprengen kann. Tritt nun das Attribut des Transkulturellen an die Seite der écriture, so vermag es im Sinne kultureller Hybridisierungen das Moment der Verhandlung und der Prozessualität und der glissements zu betonen. Doch anders als die poststrukturalistisch orientierten Textspiele der postmodernen Literatur, wird durch die Akzentuierung der postkolonialen Hybridität gerade das historische, gesellschaftliche, kulturelle und besonders politische Moment im écriture-Begriff wieder betont. […] Hier, nämlich in der postkolonialen Idee von Referenzialität, liegt der theoretische Unterschied zur postmodern(istisch)en Ausrichtung der écriture. Es geht um die engagierte, textuelle Gestaltung transkultureller Subjekte, aber nicht in erster Linie um die ›Auflösung der Subjektivität im Textexperiment‹ [Peter Zima].«93

Postkoloniale Ethik – die Präsenz historisch-verdrängter Erfahrung im Subjekt und im Diskurs – verknüpft Glissant zum einen konkret mit Verfahren einer postmodernen neobarocken Schreibweise. Seine Barockheit des Denkens – »décrire le réel non pas à plat, en aplatissant les plis, [...] mais au contraire à plier le réel, à l’entasser«94 – zeigt sich in der labyrinthischen Verflechtung von Geschichte(n), dem Gestus der Repetition, den opulenten Metaphern oder der Redevielfalt à la Bachtin. Im Insistieren auf den Prinzipien einer lateinamerikanischen neobarocken Ästhetik setzt Glissant ein weiteres Signal in seiner Abkehr von der kulturellen Vereinnahmung Martiniques durch Frankreich. Das Prinzip des Synkretismus, das dem Neobarroco entspricht – eine der zentralen literarischen Selbstverortungen Glissants – kann als Gegengewicht zu den zentralistischen und assimilierenden Tendenzen Frankreichs gelesen werden, das in seiner Selbstdarstellung unter dem Anspruch von clarté und pureté den Gestus der Imitation einfordert. Der Nachbarkontinent Lateinamerika konnotiert für Glissant – ähnlich wie Afrika – unbegrenzte räumliche Weite und kulturelle Vielfalt. Zum anderen knüpft Glissant an Techniken des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts an wie die Wiederkehr zentraler Figuren. Glissants Œuvre reagiert genau wie der realistisch/naturalistische Roman auf die Erfahrung einer großen gesellschaftlichen Veränderung mit dem Willen, die Ursachen gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten zu analysieren. Ästhetik und Engagement als Spielraum der Literatur führt Glissant zusammen. Er appelliert nachdrücklich an die Einbeziehung der Sklaverei in unsere Humanities und eine Korrektur auf symbolischer Ebene. Glissants Poetik zielt auf eine Änderung des »imaginaire des humanités«95, um dem Trauma der Geschichtslosigkeit der Sklavenzeit und dem »combat sans témoin«96 mit einer Ästhetik der imaginären Zeugenschaft nachträglich zu begegnen. Er erläutert während einer Table ronde: »[…] faut-il, pour le bien des consciences et des inconsciences des humanités d’aujourd’hui et pour notre futur, reconnaître l’esclavage comme un crime contre l’humanité? Faut-il que cette

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Struve: 2009, 291f. Glissant: 1997e, 70. Ebd., 71. Glissant: 1997a, 305.

380 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN reconnaissance prenne des formes solennelles? Je réponds: oui, il le faut, non pas par vengeance, non pas par revendication, mais parce qu’il faut raturer les non-dits et combler les pages blanches. Si nous voulons tous entrer dans l’histoire de notre Tout-Monde, il faut qu’aujourd’hui nous soyons tous d’accord.« 97

Doch in Abgrenzung zu aufklärerischen oder realistischen Tendenzen fühlt sich der Leser keineswegs durch die Lektüre der Glissant’schen Werke buchstäblich »éclairé«: »[…] il [le lecteur, N.U.] n’a pas l’impression d’y voir grand [sic] chose ou de comprendre, il est cependant touché. Il nous semble que c’est en effet une des caractéristiques des romans d’Édouard Glissant que l’aspect visuel y soit si peu développé. Si la terre est présente, c’est rarement comme paysage, si les personnages existent, ils n’ont pas de visage.«98

Seine Romane kommen eher wie ein Raunen eines »Bruit de l’Ailleurs«99 daher, die mit diversen Fluchtpunkten operieren: »A la croisée des vents, le bruit des voix accompagne les signes écrits.«100 Dabei kommt dem ›Lärm‹, dem ›Wind‹ und somit dem ›Hören‹ eine zentrale Bedeutung zu; die Kombination von Oralität und Schrift ist hier wegweisend. So endet bereits Le Discours antillais auf dem kursiviert gesetzten Wort »entendu«: »Si le lecteur a suivi cet ouvrage jusqu’à ce point, je souhaiterais qu’à travers l’enchevêtrement de mes approches du réel antillais il ait surpris ce ton qui monte de tant de lieux inaperçus: oui, qu’il l’ait entendu.«101 Glissant setzt einer angesichts von Verschleppung, Sklaverei und erzwungener Assimilation reaktiven, amputierten, prothesenhaften Identitätsstruktur ›hörbar‹ Neues entgegen. In Faulkner, Mississippi schreibt er: »Pour nous, gens de la Caraïbe, notre vision prophétique du passé nous fait entendre (›l’œil écoute‹) le cri que les femmes esclaves noires criaient entre elles: ›Manjé tè pa fè yich pou lesclavaj‹, ›Mange de la terre ne fais pas d’enfant pour l’esclavage‹ […]«.102 Glissant gelingt es mittels seiner Schreibweise, »cet emmêlement d’un cri et d’une écriture«103, die ungehörten Schreie und die verstummten Stimmen der Geschichte (»le cri et le murmure étouffés dans la nuit des cases«104 ) vernehmbar zu machen. In Tout-monde definiert »le poète« genau diese Aufgabe von Literatur: »accorder ensemble des rythmes qui ne sont jamais connus, comme de la mesure de la voix dans la démesure du tambour«105. Die Fiktion des Chronisten Glissant verspricht keine endgültige Aufklärung, denn die Nullpunkte der Geschichte sind eben nur bis zu einem gewissen Maße verfügbar. Für ihre Unver-

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Glissant in Chevrier: 1999b, 77. Chancé: 2001, 216. Glissant: 1981, 235. Glissant: 1997f, 176. Glissant: 1997a, 803. Glissant: 1996b, 115. Glissant: 1997f, 25. Ebd., 18. Glissant: 1993, 180.

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fügbarkeit erhebt Glissant das Recht auf Opazität, dem er selbst durch seine widerständige écriture nachkommt. 4.3.3 »La pensée de la Trace« oder Geschichtlichkeit der Spur – Sklaverei als lieu commun in einer Tout-monde Eine zentrale ordnende Größe in Glissants Werk ist die Geschichtlichkeit der Spur, da die Antillaner aufgrund ihrer Heterogenität bereits von Anfang an zersplittert waren: »cette population-ci n’a pas emportée avec elle ni continué collectivement les techniques d’existence ou de survie matérielles et spirituelles qu’elle avait pratiquées avant son transbord. Ces techniques ne subsistent qu’en traces, ou sous forme de pulsions ou d’élans.«106 In der kreolischen Primärbedeutung meint trace einen gewundenen Pfad durch den tropischen Wald; einzelne dieser traces waren geheime Wege der entlaufenen, aufständischen Sklaven, der nègres marrons.107 Die trace fungiert somit als konkretes lokales Konzept, um sich den unsicheren, multiplen, antillanischen Geschichtssplittern zu stellen.108 Für Glissant war die antillanische Bevölkerung gezwungen, sich »en un autre peuple« zu transformieren, und im Gegensatz zur jüdischen Diaspora, »qui maintient l’Être«109, konnten sie über kein einheitliches kulturelles Kapital verfügen. Nicht nur vielfältige afrikanische und europäische Sprachen stießen aufeinander, darüber hinaus prallte das afrikanische Stammessystem in gewaltvoller Weise auf die kolonialen Strukturen der Antillen. Diese erzwungene Akkulturation der Antillaner und die damit zusammenhängende identitäre Fragmentierung setzt Glissant in Analogie zur vorgefundenen Landschaft mit ihren Naturgewalten und entwickelt daraus eine spezifische Ästhetik: »le topic de nos littératures c’est la Brousse, la Jungle et le Tremblement de terre, c’est-à-dire quelque chose qui prolifère sur lui-même et qui est fait de ruptures, de tensions, d’explosions, d’éruptions.«110 Für die Literatur des Südens konstatiert er gar: »nos poétiques seront d’une démesure de la démesure.«111 Historische Leerstellen, über die nur noch vereinzelte Spuren Zeugnis ablegen, stehen kontrastiv zu einem barocken, spannungsvollen Landschaftsraum. In Glissants Roman Sartoris heißt es: »Ton écriture est la brousse où tu suis obscurément la trace.«112 Und in Ormerod lesen wir: »Il nous faut regarder partout alentour, dans les recoins des temps, soulever les forets des traces et les sables des Salines pour surprendre ce qui s’agite dessous.«113 Oder: »L’écriture est une trace dans les Bois.«114 In Traité du

106 Glissant: 1997a, 42, Herv. N.U. 107 Diesen Hinweis verdanke ich Ralph Ludwig, vgl. Ludwig: 2008, 77. Confiant erläutert in seinem Dictionnaire créole martiniquais-français (2007, 1337), dass trasé (tracer) auch im Sinne von s’enfouir verwendet wird. 108 Elke Richter bereitet derzeit eine Habilitationsprojekt vor zum Thema Auf Spuren-Suche: Von Lebens-Zeichen in der Literatur. 109 Glissant: 1997a, 42, Herv. i.O. 110 Glissant: 1997e, 69. 111 Glissant: 2005a, 97. 112 Glissant: 1999a, 348. 113 Glissant: 2003, 49.

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Tout-monde verbindet Glissant das archipelische Denken mit der Metapher der trace, welche die Diversität zusammenhält. Das Denken der Spur steht dabei dem systemischen Denken gegenüber: »Que la pensée de la trace s’appose, par opposition à la pensée de système, comme une errance qui oriente. Nous connaissons que la trace est ce qui nous met, nous tous, d’où que venus, en Relation.«115 In La Cohée du Lamentin (2005) spricht er von einer »pratique de la Trace«, die trotz massiver Gewalterfahrung der deportierten Afrikaner/innen bis heute fortdauere: »[…] même là où ils furent exterminés, les Amérindiens ont maintenu secrètement une présence qui s’exercera au niveau de l’inconscient collectif. Même déportés sans aucun recours, sans langages ni dieux ni outils, les Africains ont maintenu une présence de l’ancien pays, qui entrera en composition de valeurs imprévues. De tels procédés relèvent d’une pratique de la Trace comme composante, qu’il faut retrouver en soi, et accorder à des nouveaux usages. Le caractère tremblant, fragile et impérieux de la Trace, explique comment l’inattendu survient dans nos sociétés. […] Cet impact sur les identités a été souvent invisible, mais profond et durable.«116

Die trace zeugt von Präsenz, sie ist historisch referenzialisierbar, und insofern sie sich mit neuen Gebräuchen verbindet, lässt sie unvorhergesehene, unerwartete, bislang unsichtbare Werte aufscheinen, die Dauer und Tiefe verleihen. Die Digenèse fällt sozusagen nur bedingt in das »trou sans fond«117 der Deportation und Sklaverei, denn Erfahrungsspuren können ausgemacht werden. Das Denken der Spur dient maßgeblich dazu, sich dem Denken der Apokalypse zu widersetzen. Interssant ist Alain Mascarous Hinweis auf die Polysemie der Spur bei Glissant: »[…] la trace menace et sacre, accuse l’esclavage évadé et signe sa libération, décèle son marronnage et défie la Traite. L’oblitération renforce son secret et, paradoxalement, on dévoile la lisibilité. De surface, elle renvoie à l’extrême profondeur. Extérieure, elle indique le caché. Elle manifeste à la fois une blessure et sa cicatrice.«118

Mascarous Verweis auf den Doppelcharakter der Spur als »blessure« (»profondeur«) und »cicatrice« (»surface«) verweist auf die Kluft zwischen Realem und Symbolischem, zwischen Signifikat und Signifikant. »Man kann die Wunde darstellen, aber eine dargestellte Wunde ist keine Wunde. Sie bereitet keine wirklichen Schmerzen.«119 Die Spur vermittelt daher nur ein unsicheres Wissen; Glissant nennt es »la

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Ebd., 112. Glissant: 1997b, 18, Herv. i.O. Glissant: 2005a, 84, Herv. i.O. Glissant: 1981, 123. Mascarou: 2006, 182. Sick: 2007, 152. Nach Assmann entzieht sich das Trauma grundsätzlich der Worte: »Worte nehmen das Trauma nicht in sich auf. Weil sie allen gehören, geht nichts Unvergleichliches, Spezifisches, Einmaliges in sie ein, und schon gar nicht die Einmaligkeit eines anhaltenden Schreckens. Und doch bedarf das Trauma der Worte. […] Worte […] entbehren der Schärfe, sie ätzen nicht, wie es jene Erinnerung tut, die nicht aufhört, weh-

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pensée du Tremblement«120 oder wie im obigen Zitat: »Le caractère tremblant, fragile et impérieux de la Trace.« Die Spur, so Glissant, »suppose et porte non pas la pensée de l’être mais la divagation de l’existant«121, sie ermögliche »être soi dérivé à l’autre«122. In seiner Introduction à une Poétique du Divers hält er fest: »La pensée de la trace promet ainsi alliance loin des systèmes, elle réfute possession, elle donne sur ces temps diffractés que les humanités d’aujourd’hui multiplient entre elles, par heurts et merveilles.«123 Neben der Spur werden die Ellipsen gewissermaßen zum Movens der erzählten Geschichte: »l’ellipse comme fécondité. [...] La Tragique reste ›en suspension‹ dans l’air du temps.«124 Glissant zeigt, inwiefern jede Darstellung eine unsichtbare Seite beinhaltet und auf das hinweist, was sie ausklammert. Für Ze’ev Levy ist dies die Funktion der Spur in der Philosophie: »Ein Sein, das eine Spur hinterlassen hat, ist kein Nichts (non-être), da man ja kraft der Spur sich seiner Abwesenheit oder seines Verschwundenseins bewusst wird.«125 Als Figur der Abwesenheit dient die Spur einer (Re)konstruktion, die in besonderem Maße vom Interpreten abhängt. Die Spur wird erst im Akt der Entdeckung hervorgebracht. Die Spur »[stellt] […] einen Wink der Vergangenheit in der Gegenwart dar, aber es handelt sich ausdrücklich um eine Vergangenheit, die in die Gegenwart nur als Spur eingedrungen ist«126. Dieses Konzept des Spurdenkens nennt Sybille Krämer das »Entzugsparadigma«, wobei die Spur zur »Chiffre für die Unmöglichkeit von sicherem Wissen und definiter Erkenntnis [wird]«127. In Glissants Roman Mahagony erzählt Mathieu von dem Widerhall eines solch unsicheren Wissens: »Expérience combien trouble que de retrouver dans les pages d’un livre l’écho canalisé de ce qu’on a vécu, dont on a seulement ressenti le tremblement sans avoir eu à le nommer davantage.«128 Glissant kommt mit seiner Vielzahl an Erzählungen der Polysemie des Spurkonzepts entgegen, denn Spuren werden erst durch Interpretation(en) hervorgebracht und somit nachträglich als Zeichen lesbar.129

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zutun. Worte können diese körperliche Gedächtnis-Wunde nicht repräsentieren. Sprache verhält sich dem Trauma gegenüber ambivalent: es gibt das magische, das ästhetische, das therapeutische Wort, das wirksam und lebenswichtig ist, weil es den Schrecken bannt, und es gibt das blasse, verallgemeinernde und trivialisierende Wort, das die leere Hülse des Schreckens ist« (Assmann: 1999, 259f). Glissant: 2005a, 12. Glissant: 1996a, 69. Ebd., 70. Ebd., 71. Glissant: 1997a, 254. Levy: 2007, 146. Lyotard spricht in einem anderen Kontext davon, dass »es keine Stille [gibt], die sich nicht als solche Gehör verschafft, also irgendeinen Lärm macht« (Lyotard: 1988, 207). Levy: 2007, 151f. Krämer: 2007b, 157, Herv. i.O. Glissant: 1997f, 17. Vgl. Krämer: 2007a, 17.

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Die Spuren verweisen bei Glissant, wie ich im Folgenden nachweisen möchte, auf den nachträglich imaginär zu konstruierenden lieu commun der Sklavenhaltergesellschaft. Dieser lieu commun ist ambivalent, da er bei Glissant stets ein zusammengesetzter Gemeinplatz ist. Hier treffen sich Glissants Überlegungen mit denen Derridas zur différance. Die Infragestellung jeglicher Festschreibung von eindeutiger Sinngebung ist auch der différance in Derridas Denken der Dekonstruktion inhärent: »Die différance ist der nicht-volle, nicht-einfache Ursprung der Differenzen. Folglich kommt ihr der Name ›Ursprung‹ nicht mehr zu.«130 In De la Grammatologie hatte Derrida bereits den Spurbegriff im Zusammenhang mit dem Entrücken eines eindeutigen Ursprungs eingeführt: »La trace n’est pas seulement la disparition de l’origine, elle veut dire ici […] que l’origine n’a même pas disparu, qu’elle n’a jamais été constituée qu’en retour par une non-origine, la trace, qui devient ainsi l’origine de l’origine. Dès lors, pour arracher le concept de trace au schéma classique qui la fait dériver d’une présence ou d’une non-trace originaire et qui en ferait une marque empirique, il faut bien parler de trace originaire ou d’archi-trace. Et pourtant nous savons que ce concept détruit son nom et que, si tout commence par la trace, il n’y a surtout pas de trace originaire. Nous devons alors situer, comme un simple moment du discours, […].«131

Dadurch, dass Derrida den »halben Neologismus«132 différance als absichtlich falsche Variante des französischen Wortes différence schuf, verweist das Theorem auf Erschütterung und Irritation, auf ein Beben des Diskurses, der nicht in Polaritäten wie das Ich/das Andere, Subjekt/Objekt, Mann/Frau, schwarz/weiß aufteilbar ist. Der daraus resultierende Bedeutungsüberschuss, der mittels binärer Differenzierungen nicht erfasst werden kann, verweist auf eine Ethik der Präsenz, die als Spur bzw. Phantom ›herumspukt‹. Das Verschwiegene drücke sich in Form von Erinnerungsspuren aus, in denen die ›Lücke im Aussprechbaren‹ kenntlich wird, als Schweigen oder aber als phantomatische Besetzungen, so Sigrid Weigel.133 Sie schreibt: »Mit der ihm eigenen Nachträglichkeit umschreibt [das Trauma] im gegenwärtigen philosophischen und kulturtheoretischen Diskurs die Spuren, die solche Ereignisse, die nicht in das subjektive oder historische Wissen integriert werden können, in der Sprache hinterlassen haben.«134 Die ›fremde‹, gar ›phantomatische‹ Sprache findet bei Glissant Eingang in das Französische und drückt eine fragmentierte, vulnerable Subjektivität aus.135 Die Aneignung der Sprache des Anderen beinhaltet einen Moment des Widerstandes und betont zugleich eine Differenz.136

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Derrida: 2004, 123. Derrida: 2002, 90. Gehring: 2004, 381. Vgl. Weigel: 1999, 68. Ebd., 51, Herv. N.U. Myriam Louviot hält fest, dass Fragmentierung nicht unbedingt ein Zeichen sei für »la perte d’une totalité réelle qui aurait existé, mais peut aussi souligner le caractère artficiel d’une telle unité« (Louviot: 2005, 491). 136 In seinem autobiographischen Essay Le Monolinguisme de l’autre ou la prothèse de l’origine dekonstruiert Derrida die Vorstellung von Einsprachigkeit, denn er sieht jeden

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Anders als bei Derrida, der die Zeichennatur der Welt absolut setzt und dabei die Nicht-Kongruenz von Text und Bedeutung in den Vordergrund stellt (die unaufhörliche Verschiebung von Bedeutung), verweisen die Spuren bei Glissant auf einen konkreten lieu commun, insbesondere auf die Sklavenhaltergesellschaft. Glissants litera-

Sprachgebrauch eingebettet in Bezüge zu anderen Sprachen. Er reflektiert die Problematik, nur eine, überdies fremde Sprache für seinen ›Multilinguismus‹ zu haben: »›Oui, je n’ai qu’une langue et ce n’est pas la mienne‹« (Derrida: 1996, 14, Herv. i.O.) und beschreibt den dauernden Widerhall des Anderen im Eigenen: »Ma langue [...] c’est la langue de l’autre. […] Cette structure d’aliénation sans aliénation, cette aliénation inaliénable n’est pas seulement l’origine de notre responsabilité, elle structure le propre et la probriété de la langue. Elle institue le phénomène du s’entendre-parler pour vouloir-dire. Mais il faut dire ici le phénomene comme phantasme. Référons-nous pour l’instant à l’affinité sémantique et étymologique qui associe le phantasme au phainesthai, à la phénoménalité, mais aussi à la spectralité du phénomène. Phantasma, c’est aussi le fantôme, le double ou le revenant. Nous y sommes« (ebd., 47f). Obwohl Derrida einsprachig frankophon ist, ist das Französische nicht seine Muttersprache; er steht zu ihr im Verhältnis der extéritorité. Aufgewachsen als franko-algerischer Jude, war er in den für ihn wichtigen Sprachen, dem Hebräischen und dem Arabischen, gleichermaßen ›sprachlos‹. Das Gefühl für die Fragilität, Unkalkulierbarkeit und Performativität der Sprache(n) ist charakteristisch für sein Denken und für den ethischen Impuls seiner Philosophie. Es wird selten berücksichtigt, dass Derridas Sprachphilosophie auch in den Erfahrungen wurzelt, die er als algerischer Jude machte und seiner Entfremdung von den ›jüdischen Sprachen‹, vom Judeo-Arabischen und vom Hebräischen. Derridas besondere Art zu denken geht speziell auch auf seine maghrebinischen Erfahrungen und seiner sich selbst zugewiesenen Unkenntnis des Hebräischen zurück. Derrida umschreibt in Le Monolinguisme de l’autre sein Verhältnis zur französischen Sprache, vermittelt über Literatur und Philosophie, mit folgenden Worten: »[....] phrases qu’il fallait à la fois s’appropier, domestiquer, amadouer, c’est-à-dire aimer en enflammant, brûler (l’amadou n’est jamais loin) peut-être détruire, en tout cas marquer, transformer, tailler, entailler, forger, greffer au feu, faire venir autrement, autrement dit, à soi en soi« (ebd., 84, Herv. i.O.). Einer Sprache kommt im kulturellen Feld immer die Aufgabe der Übersetzung zu: Eine Übersetzung, die nicht nur zwischen Sprachen, sondern auch zwischen Kulturen, Nationen, politischen Identitäten vermittelt. So gibt es für Derrida keine muttersprachliche Identität – »l’Un d’une langue [...] n’est jamais déterminé« (ebd., 55) –, stattdessen geht es immer wieder um die Öffnung des Eigenen für das Fremde, des Selbst für das Andere und zwar aus der fundamentalen Einsicht heraus, dass das Eigene selbst nur das angeeignete Andere ist: »[...] la seule langue que je parle n’est pas la mienne [...]« (ebd., 18, Herv. i.O.). Das Fremdmachen der eigenen Sprache soll als Chance begriffen werden: »[…] cette étrange référence à un ›ailleurs‹ dont le lieu et la langue m’étaient à moi-même inconnus ou interdits, comme si j’essayais de traduire dans la seule langue et dans la seule culture franco-occidentale dont je dispose […], comme si j’essayais de traduire dans ma ›monolangue‹ une parole que je ne connaissais pas encore, comme si je tissais encore quelque voile à l’envers […] et comme si les points de passage nécessaires de ce tissage à l’envers étaient des lieux de transcendance, donc d’un ›ailleur‹ absolu […]« (ebd., 131f., Herv. i.O.).

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rische Spuren kommen dem »epistemologische[n] Doppelleben der Spur«137 nach, indem sie gleichzeitig eine Entzugs- und eine Indizienperspektive eröffnen, also Aufschluss über Absenz und Präsenz, über Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit zugleich, geben. Die historische Leerstelle Sklaverei wird über die Spur angezeigt und wahrnehmbar, denn Spuren sind Doppelzeichen. Indem mittels Spuren immer nur ein Bruchteil vergangenen Sinns restituiert werden kann, knüpfen Spuren die Erinnerung unauflösbar an das Vergessen. Die Spur stellt sich als fortbestehende Präsenz eines Restes dar. »Spuren eröffnen«, wie Aleida Assmann hervorhebt, »einen grundsätzlich anderen Zugang zur Vergangenheit als Texte, weil sie die nichtsprachlichen Artikulationen einer vergangenen Kultur – die Ruinen und Relikte, die Fragmente und Scherben – ebenso wie die Überreste mündlicher Tradition mit einbeziehen.«138 In Verknüpfung mit Barthes’ ethisch aufgeladenem écriture-Begriff verweist Glissants »pensée de la Trace« darauf, Spuren von Abwesendem zu nutzen, um sie zu geschichtlich Anwesendem zu machen. Hier unterscheiden sich Glissants und Derridas Spurkonzepte, denn bei Derrida wird die Spur zum Symbol der Abwesenheit von Referenz außerhalb der Sprache. Bei Glissant hingegen wird die Spur zum Movens imaginärer Zeugenschaft. Die Spur wandelt sich von einer Denkfigur der historischen Bruchstücke zu einer Form des »partage«; so lesen wir in Traité du Tout-monde: »Nous devinons que nous suivons une trace. […] la trace fut vécue par quelques-uns, là-bas, si loin si près, ici-là, sur la face cachée de la terre, comme l’un des lieux de la survie. Par exemple, pour les descendants des Africains déportés en esclavage dans ce qu’on appela bientôt le Nouveau monde, elle fut le plus souvent le seul recours possible. […] Ces Africains traités dans les Amériques portèrent avec eux, par-delà les Eaux Immenses, la trace de leurs dieux, de leurs coutumes, de leurs langages. […] Les langues créoles sont des traces, frayées dans la baille de la Caraïbe ou de l’océan Indien. La musique de jazz est une trace recomposée, qui a couru le monde. […] La pensée de la trace permet d’aller au loin des étranglements de système. […] Elle est l’errance violente de la pensée qu’on partage.«139

Spuren können in Glissants Werk Namen, Gegenstände, nicht-verbale Zeichen wie Einritzungen in Bäume der nègres marrons, die »parole sur des parchemins déchirés, sur des chiffons et des écorces«140 , kreolische Satzfragmente141 oder auch Symptome wie Wahnsinn oder Sprachamnesie sein. Gerade den Landschaftsräumen kommt bei der Spurensuche immer wieder eine Speicherfunktion zu: »c’est dans la matérialité

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Krämer: 2007b, 157, Herv. i.O. Assmann: 1999, 209. Glissant: 1997b, 18-20, Herv. i.O. Glissant: 1997f, 19. Wobei Glissant dem Kreol gerade in Le Discours antillais kritisch gegenübersteht, da es seiner Ansicht nach weniger kreative Ausdrucksmöglichkeiten und globale Verbindungen erlaubt. Denn für Glissant entwickelt sich das gesprochene Alltags-Kreol zusehends zu einer »langue ›vide‹ [...] langue des délires du substitution et de l’auto-agression« (Glissant: 1997a, 299).

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même de la terre que s’est réfugiée la trace.«142 Es gibt eine Materialität der Gedächtniszeichen, eine Art stoffliche Einschreibung, so dass erst durch die konkrete materielle Verankerung das Immaterielle des Gedächtnisses hervorgebracht wird. Nur in ihrer Materialität ist die Spur eine Spur. Das Land selbst wird bei Glissant zur parole. Hier möchte ich erneut Überlegungen von Judith Kasper zu Trauma und Eingedenken aus ihrer Studie Sprachen des Vergessens für Glissants Werk fruchtbar machen. Kasper weist darauf hin, dass es Formen des Eingedenkens gibt, die jenseits institutionalisierter Formen von Gedenken und Trauer verlaufen und die mit einer ›Verletzung‹ der Materie einhergehen;143 gerade die Einritzungen von Spuren in Bäume lassen sich als eine solche ›Verletzung‹ lesen. Indizien lassen sich außerdem erst durch absichtsvolle Ermittlungsarbeiten deuten, ihre Bedeutung wird durch Interpretation hervorgebracht; daher sind Spuren stets polysemisch.144 Zersplitterte »Identitätsrinden«145 oder Piktogramme wie das »kwamé d’Oko« (»trois traits de silex sur la roche«)146 verweisen auf die Anwesenheit der verdrängten, abwesenden Geschichte der Sklaven auf den Antillen und setzen dem poststrukturalistischen Verlust der Referenzgarantie der Zeichen eine unhintergehbare Größe nicht-diskursiver Praktiken, wie die materielle Aneignung von Mensch und Land, entgegen. Der von Glissant inszenierte Graphismus markiert eine Spur im Imaginären. Bei ihm geht es nicht um ein beliebiges textuelles Verweisspiel, sondern um die Präsenz kollektiver Erfahrung von Verlust und Trauer. Hier stellt sich die Frage: Wie ist die Präsenz des Subjekts oder der Geschichte überhaupt bei einem Ereignis denkbar, das fast alles auslöscht? Die Realität der Sklaverei kann nur bedingt bezeugt werden.147 Der Prozess der De-Subjektivierung entzieht sich weitestgehend jeder Zeugenschaft wie Judith Kasper betont:

142 Chancé: 2002, 162. Der Begriff der trace findet sich bereits in Glissants stark vegetationsmetaphorisch geprägten theoretischen Text Le Discours antillais. Dort heißt es: »Notre paysage est son propre monument, la trace qu’il signifie est repérable par-dessous. C’est tout histoire« (Glissant: 1997a, 32). Und in seinem späteren Roman Mahagony schreibt er: »Parfois nous perdons la trace. Parfois elle se dédouble. Le plus souvent elle se perd dans une touffaille de végétation où nous enfonçons nos corps, plus roides que nos esprits« (Glissant: 1997f, 193). 143 Vgl. Kasper: 2003, 287. 144 Vgl. Krämer: 2007b, 159. 145 In Mahagony sieht der Erzähler »ces écorces gravées qui jadis avaient représenté à gros traits les négres marrons et qui paraissaient si stupidement imitées des masques africains. Nos cartes de non-identité« (Glissant: 1997f, 62). 146 Glissant: 1999a, 66. »Qu’est-ce qu’un kwamé…, demanda-t-elle. – Cest la marque des Batoutos… – Qu’est-ce qu’un Batouto…, soupira-t-elle. – C’est le peuple que vous ne voyez pas… – Les Marrons sont des Batoutos…, murmura-t-elle avec provocation. – Ils le sont peut-être, et ils ne le sont pas…« (Glissant: 2003, 200f.) 147 Der Mikrohistoriker Michael Zeuske hält dagegen, dass die Archivdimension viel zu häufig unterschätzt und vernachlässigt werde, denn »trotz vieler neuer Ansätze und Theorien einer ›Geschichte ohne klassisches Archiv‹ finden sich die meisten und besten Quellen für eine Geschichte der Versklavten […] auch und gerade [in den] Basisquellen einer Akteurs-Geschichte der Sklavinnen und Sklaven sowie ihrer Körper immer noch auf Papier

388 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN »weil dort, wo die Vernichtung ist, kein Zeuge überleben kann. Und doch gibt es den Tod und die Vernichtung als unleugbare Realität. Diese Realität kann – so unleugbar sie auch sein mag – nicht bezeugt werden. Die Vernichtung fällt in ein unzeugbares Vergessen, für das allein der tote Zeuge zeugen könnte. Für die Zeugenschaft muß dies bedeuten, daß ihre Unmöglichkeit irreduzibler Bestandteil ihrer Definition ist.« 148

Die Literatur bietet indessen Möglichkeiten dieses unzeugbare Vergessen einzukreisen. Kasper spricht sogar davon, dass das Unsagbare das Schreiben erst hervorbringe, auch wenn es selbst von der Schrift unerreichbar bleibe.149 Gerade das Spurenlesen als die »Kunst des (intelligenten) Vermutens«, wo aus »dem Sichtbaren Unsichtbares erschlossen [wird]«, führt hier zu neuem Wissen.150 Die Begriffe détour und trace sind bei Glissant eng miteinander verschränkt. Beide verweisen auf die antillanische Landschaft, welche als Gedächtnisspeicher fungiert. Trace meint zugleich Weg und Erinnerung: »La pensée archipélique convient à l’allure de nos mondes. Elle en emprunte l’ambigu, le fragile, le dérivé. Elle consent à la pratique du détour, qui n’est ni fuite, ni renoncement. Elle reconnaît la portée des imaginaires de la Trace, qu’elle ratifie.« 151 Neben dem Denken der Spur sind weitere von Glissant verwendete Metaphern sentier, sillon, entassement oder jene der Spirale (»la montée en spirale«152 , »Ce retour en spirale ne peut que donner vertige«153 ), des von Fels zu Fels springen (»Nous sautons nous ravageons la roche nous sommes les casseurs de roches du temps.«154)

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in den Archiven« (Zeuske: o.J., 31). Sein Überblick über unzählige Notariatsprotokolle, Taufscheine, Polizeiakten, Listen von Plantagenfriedhöfen und Gefängnissen, Dokumente über Verkauf, Vererbung oder Freikauf von Sklavinnen und Sklaven geben eindrucksvoll Aufschluss über die Geschichte der Sklaverei, auch wenn er einräumt, dass es sich dabei im Wesentlichen um Dokumente von Kolonialbürokratien, Versklavern und dem in ihrem Sinne agierenden Staat handelt. Diese Archive bedürfen also unbedingt einer postkolonialen Kritik. Kasper: 2003, 147. Vgl. ebd., 229. Krämer: 2007a, 21. Glissant: 1997b, 31. Glissant: 1997a, 256. Ebd., 260, Herv. i.O. Glissant: 1981, 143, Herv. i.O. Die Termini roche und marron tauchen in Tout-monde auch im Namen des aus Peru stammenden Jorge Felipe de Rocamarron auf. Er ist eine analoge Figur zu Papa Longoué: »En bordure de la mangrove du Lamentin, Mathieu Béluse rencontra les Rocamarron. […] Le vieux corps qui se dressa de l’ombre de cette pièce ressemblait tellement à papa Longoué, sauf qu’il avait tout d’un Indien caraïbe. Il paraissait si fortement capable de prévoir l’avenir et de vous dire en quelle manière vous porteriez vos blessures et vos calamités« (Glissant: 1993, 515). Wobei Rocamarron, anders als Longoué, der die Verbindung zu Afrika verkörpert, eine gemischte, europäischsüdamerikanisch geprägte Figur darstellt. Longoué kündigt Mathieu »à la fin des fins« ein Treffen mit »une personne, est-ce une femme un homme un vieux corps un enfant« (ebd., 209) an, wobei es sich um die Familie Rocamarron handelt. Doch Rocamarrons

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oder des »enroulé«155 . Es handelt sich um Bilder, die alle im Kontext einer neobarocken Ästhetik gelesen werden können. Die Natur liefert Glissant Erzählstrategien (Fluss, Sturm, Baum, von Stein zu Stein etc.). Die Landschaft fungiert nicht nur als Inspirationsquelle, sondern gibt auch die Funktionsweise der Texte vor.156 So ist der Handlungsverlauf von La Lézarde dem Bild des Flusses nachempfunden. Der Erzähler, der die Geschehnisse aufschreiben soll, benutzt den Fluss als poetische Anleitung, wie die Figur Thaël es ihm nahegelegt hatte: »Fais-le comme une rivière. Lent. Comme la Lézarde. Avec des bonds et des détours, des pauses, des coulées, tu ramasses la terre peu à peu. Comme ça, oui, tu ramasses la terre tout autour. Petit à petit. Comme une rivière avec ses secrets, et tu tombes dans la mer tranquille.«157 Die Naturmetaphern stehen hier in Verbindung mit der parole. Glissant favorisiert eine Erzählweise, die maßgeblich von Strudeln und détours geprägt und somit in der Lage ist, das »désiré historique«158 aufzuspüren: »Écrire c’est vraiment dire: s’épandre au monde sans se disperser ni s’y diluer, et sans craindre d’y exercer ces pouvoirs de l’oralité qui conviennent tant à la diversité de toutes choses, la répétition, le ressassement, la parole circulaire, le cri en spirale, les cassures de la voix.«159 Häufig wird das Ergebnis eines Erzählstranges genannt, bevor die Genese bekannt ist. Oder die einzelnen Figuren kommunizieren über Räume und Zeiten hinweg, was eine fiktive Gleichzeitigkeit der Erzählebenen erzeugt. Glissant umschreibt das antillanische imaginaire mit dezentrierenden Begriffen wie errance, imprévisibilité, opacité, démesure, pensée archipélique, kulminierend in der Idee der Chaos-monde, die Raum lässt für le Divers. Die Befreiung von einem Sinn (»l’Un«) und der Einbruch der Vielfalt von Sinngebung (»le Divers«) vollziehen und verdichten sich bei Glissant gleichermaßen.160 Die Vielfalt ersetzt die große Erzählung, die Diversität in sich selbst ist die Identität der Antillaner.161 Die Chaosmonde verweist nicht nur auf Künftiges, sondern auch auf die Abgründe der Sklaverei als reale Chaos-Erfahrung. Innerhalb dieses Strudels lässt sich Glissants Hinwendung zum lieu commun (vs. lieu d’origine) als Fluchtpunkt verstehen. Gerade in

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Lehren erweisen sich schließlich als Phrasen eines alten Mannes – »la démence de cette conversation vous sautait à la tête« – (ebd., 556), die vom Lärm der nahen Autobahn absorbiert werden: »Mais la démence grandissait du simple fait que vous pouviez pencher la tête et entendre les rafales de voitures sur ce qu’ils appelaient l’autoroute, […]« (ebd.). Die Zeit der ›großen Taten‹ und ›großen Visionen‹ scheint vorbei. Glissant: 1997a, 256, Herv. i.O. Vgl. Blümig: 2004, 18. Glissant: 1997i, 226. Glissant: 1997a, 255, Herv. i.O. Glissant: 1997b, 121. Nichts desto weniger finden wir bei Glissant auch sehr positivistisch anmutende Begrifflichkeiten, wenn man sich nur einmal das Inhaltsverzeichnis von La Case du commandeur anschaut: »Registre des tourments«, »Actes de guerre«, »Inventaire des outils« (1981, 253). Vgl. dazu Glissants Überlegungen zu »la pensée de l’Un« und »la pensée du Divers« in La Cohée du Lamentin: »La pensée du Divers interroge l’effroi né des métamorphoses et des créolisations […]« (Glissant: 2005a, 245). Vgl. Febel: 2006b, 75 u. 80.

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Traité du Tout-monde nimmt Glissant diesen Begriff emphatisch auf: »Le lieu commun […] nous protège contre l’égarement, face au tout nouveau.«162 Der lieu commun verschafft Orientierung in der Chaos-monde: »Les lieux communs pour nous ne sont pas des évidences éculées mais des endroits où les poétiques et les imaginaires se rencontrent sans le savoir. Et il me semble que la littérature et la poétique aujourd’hui sont la recherche de ces endroits-là. Qu’essayons nous de faire par-là? Nous essayons de constituer une continuité, une trame, un tissu de la totalité-monde qui ne peut être qu’opaque.«163

Ein konkreter Gemeinplatz ist für Glissant die Sklaverei als »crime fondateur«164 in den beiden Amerikas und in der Karibik: Zum einen verweist dieser Gemeinplatz auf die Geschichte der afrikanischen Diaspora, und zum anderen repräsentiert er einen aktuellen Ort, da es immer noch in vielen Ländern Sklaverei und Menschenhandel gibt. Der lieu commun hat sich in Glissants Literatur vervielfacht, ist nicht mehr einfach lokalisierbar, sondern allgegenwärtig. Er entzieht sich einer abschließenden Fixierung. Solch ein konkreter lieu commun ist wichtig, um der Differenzen nivellierenden Globalisierung Kräfte entgegenzusetzen. Tout-monde und mondialité sind gewissermaßen Gegenbegriffe zu »Tout-Empire«165 und mondialisation: »La mondialisation, conçue comme non-lieu, [...] mènerait à une dilution standardisée.«166 Anders als Frantz Fanon, der sich eher gegen historische Determiniertheit wendet,167 insistiert Glissant auf der Notwendigkeit, der Sklaverei ihren historischen Platz zu geben, wobei er immer wieder den Widerstand gegen die Sklaverei hervorhebt: »Fanon dit qu’il ne veut pas être esclave de l’esclavage. Cela sous-entend pour moi qu’on ne saurait se contenter d’ignorer le phénomène historique de l’esclavage; qu’il faut ne pas en subir de manière pulsionnelle le trauma persistant. Le dépassement est exploration projective. L’esclave est d’abord celui qui ne sait pas. L’esclave de l’esclavage est celui qui ne veut pas savoir.«168

Erinnerung ist Teil der Relation, dementsprechend betont Glissant die Bedeutung der kollektiven mémoire als Voraussetzung der Tout-monde: »Les terres vierges qu’il y a sur la Terre ne sont plus géographiques, elles sont mentales et spirituelles.«169

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Glissant: 1997b, 171; ebenso Glissant: 1997e, 70. Glissant: 1997e, 70. Glissant in Chevrier: 1999b, 79. Glissant: 2005a, 162. Glissant: 1997b, 192. »Je n’ai pas le droit de me laisser engluer par les surdéterminations du passé. Je ne suis pas esclave de l’esclavage qui déshumanisa mes pères« (Fanon: 1971, 186). 168 Glissant: 1997a, 221. 169 Glissant: 1997e, 65. So erließ das französische Parlament am 10. Mai 2001 ein Gesetz, das die Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einstuft. Im Frühjahr 1999 war dem bereits der Beschluss eines Gesetzes der französischen Nationalversammlung vorausgegangen, welches einen Gedenktag an die Sklaverei vorsieht und diese zum

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Die Erfahrung der Sklaverei als »fait social total«170 verbindet Glissants in seinen Werken, wie bereits gesagt, konkret mit Landschaften. Besondere Erwähnung findet dabei der Wald: »La forêt est le dernier argument du Mythe dans son écho actuel de littérature. […] La forêt du marronnage fut ainsi le premier obstacle que l’esclave en fuite opposait à la transparence du colon. Il n’y pas de chemin évident, pas de ligne, dans ce touffu.«171 Die Geschichte der Ebene, in welcher Béké und Sklave lebten, muss für Glissant mit der Geschichte der Berge, der Wälder, wo Marron und Quimboiseur lebten, im kollektiven Gedächtnis der Antillaner zusammen geführt werden, um neue Zukunftsperspektiven zu eröffnen. Die Berge sind wie Zeugen der eigenen, nicht wahrgenommenen antillanischen Geschichte der Marrons, die eine Distanz zur offiziellen französischen Geschichtsversion schaffen. Aus der Verbindung von Berg und Ebene – Marron und Sklave – erwächst die eigentliche Stärke der Antillaner. Eine neue konstruktive Beziehung zum Land, das ihnen durch Verschleppung sowie durch die Arbeits- und Lebensbedingungen zuvor als feindlich erscheinen musste, würde gegen weitere Enteignung und Ausbeutung schützen: »Quand on ne maîtrise pas, qu’on ne fréquente pas librement son espace, qu’entre le paysage et vous il existe toute une série de barrières qui sont celles de la dépossession et de l’exploitation, la relation au paysage est évidemment limitée et garrottée. Par conséquent, libérer la relation au paysage par l’acte poétique, par le dire poétique, est faire œuvre de libération.«172

Der Erzähler in Le Quatrième siècle erinnert an die andere Zeitrechnung der Antillaner und erläutert so zugleich den Romantitel. Im »vierten Jahrhundert« nach der Kolonialisierung Martiniques durch Frankreich wendet er sich der schmerzvollen Vergangenheit der noch sehr ›jungen‹ antillanischen Gesellschaft zu; kaum vierhundert Jahre alt. Raumkonstellationen wie Meer, Küste, Wald und Boden bringt Glissant in Verbindung mit zeitlichen Einteilungen, die quer zur französischen Geschichtsschreibung verlaufen: »›La mer qu’on traverse c’est un siècle.‹ Oui, un siècle. Et la côte où tu débarques, aveuglé, sans âme ni voix est un siècle. Et la forêt, entretenu dans sa force jusqu’à ce jour de ton marronnage […] est un siècle. Et la terre, peu à peu aplatie, dénudée, où celui qui descendait des

Pflichtpensum des Geschichtsunterrichts erhebt (vgl. Baer: 1999, 52). Seit 2005 liegt der Bericht des Comité pour la mémoire de l’esclavage vor und Édouard Glissant bekam den Auftrag ein Centre national pour la mémoire des esclavages et de leurs abolitions aufzubauen, vgl. Mémoires des esclavages (2007) von Glissant. 170 In Erweiterung an Émile Durkheims Begriff des »fait social«, der jenseits individueller Determiniertheiten auf eine Gruppe bewusst oder unbewusst einwirkt. Vgl. Fonkoua: 2002, 174ff. 171 Glissant: 1997a, 260, Herv. i.O. 172 Glissant: 2007a, 78. Unter dem Begriff der »dépossession« fasst Glissant das Ergebnis einer Reihe kontinuierlicher Entfremdungsprozesse (der kolonisierte insulare Raum sowie die fremdbestimmte Geschichte und der durch den Kolonialdiskurs produzierte schizoide Geisteszustand) zusammen, die die gesamte antillanische Gesellschaft betreffen, vgl. Glissant: 1997a, 95-139.

392 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN hauts et celui qui patientait dans les fonds se rencontrèrent pour un même sarclage, est un siècle. Non pas enrubannés dans l’artifice savant du tricentenaire, mais noués au sang méconnu, à la souffrance sans voix, à la mort sans écho. Étalés entre le pays infini et ce pays-ci qu’il fallait nommer, découvrir, porter; enfouis dans ces quatre fois cent ans eux-mêmes perdus dans le temps sans parole, ou – ce qui revient au même – dans cette barrique où la bête immémoriale peu à peu s’était faite poussière puis néant.«173

Mit dem Ausspruch »La mer qu’on traverse c’est un siècle« wird die übliche Redensart »Ce nègre-là, c’est un siècle!«174 um eine raumphilosophische, diasporische Dimension erweitert. Er stellt zudem über die Figur des Quimboiseur, der hier als Erzählinstanz die Vermessung der Welt über spezifische Jahrhunderte vornimmt, die Gültigkeit von Archiven und historischen Datierungen in Frage. Für den Quimboiseur Papa Longoué multipliziert sich das Trauma über die Jahrhunderte und lässt sich – wenn überhaupt – über die Landschaft und die Imagination nachvollziehen. Glissants Chronik karibischer Geschichte basiert nicht unbedingt auf konkreten, faktualen Spuren, stattdessen legt Glissant als literarischer Chronist Spuren, die er unentwegt zerlegt, verschiebt, disseminiert. So löst er seinen eigenen Anspruch nach Achtung der Undurchdringlichkeit einer opaken Geschichte ein. 4.3.4 Wiederholungskunst und Akkumulation Wiederholung als Echoeffekt ist ein maßgebliches neobarockes Strukturelement der Glissant’schen Romane.175 Es handelt sich um eine zirkuläre Narration von Erzählfragmenten, die ihre Struktur durch die Verknüpfung wiederkehrender Themen, Motive und Figuren erhält. Wiederholung und Akkumulation dienen der Annäherung an die diskontinuierliche, fragmentierte und wechselvolle »anti-Histoire«176. Die Wiederholungstechnik fungiert als narratives Verfahren, Verdrängtes in Erinnerung zu rufen und ihm zu einer neuen Präsenz zu verhelfen.177 Es ist, wie Glissant in Toutmonde schreibt, ein Weg, »de refuser, par un vertige de multiplication, la mort«178. Die Erzähltechniken der répétition bzw. reprise stehen im Kontext einer von Opazität geprägten Spurensuche und nicht im Kontext eines simplen retour, wie Glissant schreibt: »Effort ›intellectuel‹, avec ses poussées de répétition (la répétition est un rythme), ses moments contradictoires, ses imperfections nécessaires, ses exigences d’une formulation à limite schématisée, très souvent obscurcie par son objet même. Car la tentative d’approcher une réalité

173 Glissant: 1997c, 309f, Herv. N.U. In dem Roman Sartorius unterscheidet der kollektive Erzähler wie folgt: »temps du pays d’avant et temps du passage, temps des plantations et temps de la colonisation toute moderne et technique« (Glissant: 1999a, 61). 174 Glissant: 1997c, 309. 175 Umberto Eco fasst Serialität, Wiederholung (»Ästhetik der Reihe«) und Polyzentrik als »neobarocke Ästhetik« zusammen (Eco: 2005, 106f). 176 Glissant: 1997a, 263. 177 Vgl. Damato: 1999, 150f. und Kasper: 2003, 300. 178 Glissant: 1993, 187.

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tant de fois occultée ne s’ordonne pas tout de suite autour d’une série de clarté. Nous réclamons le droit à l’opacité. […] l’élan des peuples néantisés qui opposent aujourd’hui à l’universel de la transparence, imposé par l’Occident, une multiplicité sourde du Divers. […] L’intention en ce travail fut d’accumuler à tous les niveaux. L’accumulation est la technique la plus appropriée de dévoilement d’une réalité qui elle-même s’éparpille. […] Le répété de ces idées ne fait pas la parole plus claire, au contraire il opacifie peut-être.«179

Seine Wiederholungskunst bringt Glissant hier mit dem musikalischen Prinzip der Variation in Verbindung (»la répétition est un rythme«). Die Technik der Collage fungiert als eine Art Ordnungsgröße in der wirbelsturmartigen und opaken Geschichte der Antillen. Als ›Historiker‹ verweist Glissant auf die spezifische Konstitutionsweise einer zersplitterten Geschichte durch Wiederholung und Variation. Seine Art zu erzählen nimmt auch orale Traditionen auf. Er zitiert nicht wortgenau, was bereits gesagt wurde, sondern es entstehen immer wieder – mit geringfügigen Abweichungen – neue Erzählungen. Die Rhythmisierung der Texte mittels Reiteration akkumuliert das bislang Verdrängte und Vergessene durch Mehrfachthematisierungen aus unterschiedlichen Perspektiven. Aus dem Spannungsverhältnis zwischen Provisorium und Wiederholung entstehen mannigfache literarische Kompositionen, eine Art Bedeutungsüberschuss. Die Wiederholung des nur scheinbar Identischen erzeugt différance. Die Häufigkeit, mit der Glissant ein und dasselbe Ereignis umkreist, verleiht dem Ereignis Gewicht. So wird in Mahagony die Marronnage von drei Figuren, deren Erlebnisse zeitlich weit auseinanderliegen, rhizomatisch ineinandergeschichtet. Der Roman Mahagony verweist schon im Titel auf den Ebenholzbaum, also auf die Wälder, in denen sich die nègres marrons versteckten. Außerdem stelle der Titel das Silbenmaterial für die Namen der drei Protagonisten zur Verfügung: Gani, Maho und Mani.180 Die Spitznamen der drei Hauptfiguren generieren sich somit aus der Vegetation; der Rückgriff auf die Natur verleiht ihnen eine historische Verankerung. Die drei Männer – »la triple unité de cette histoire«181 – verkörpern »la même figure de la même force«182 wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten im 19. und 20. Jahrhundert. Auch Mathieu erzählt von einem kollektiv gestammelten Schrei, von einem transgenerationellen Schrei im Mahlstrom der Geschichte: »J’entendais le cri balbutié par de lointains parents rameutés sur cette terre comme un troupeau rétif, et j’entendais le cri rentré dans la poitrine de Liberté Longoué. Il m’était réservé de connaître bien plus tard le cri de cet autre revenant, […] et que tous alentour avaient nommé Gani. Et de savoir que ce fut même cri.«183 Als eine Art spirituelles Medium ist auch die Figur des Papa Longoué angelegt. In seiner barrique befindet sich die akkumulierte Zeit wie wir in Tout-monde erfahren: »[…] il soupesait la barrique et […] il décomptait combien de processions de temps avaient enfourné et concassé dedans: le temps du bateau négrier, (qui avait noyé tous les temps d’avant

179 180 181 182 183

Glissant: 1997a, 14-17. Vgl. Blümig: 2004, 154ff. Glissant: 1997f, 27. Ebd., 20. Ebd., 19.

394 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN dans sa soute à grande odeur, le temps d’Habitation […] le temps de l’enfant Gani qui avait marronné […] la barrique n’était pleine que de l’odeur des temps qui tourbillonnaient devant lui […].«184

In Glissants Romanen dominieren Wiederholungsfiguren, Rückbezüge, Verweise, Überschneidungen, Umarbeitungen und Ineinanderfaltungen von Ereignissen und Figuren, in denen sich eine verausgabende, unabschließbare Anamnese des »refoulé historique«185 literarisch manifestiert. In Mahagony teilt sich Marie Celat sogar einen Traum mit dem Verwalter: »Mais comment je rêve avec la tête du géreur, dites-moi, d’où vient je rêve?«186 Dieser Traum der Marronnage wird von fast allen auftretenden Personen in Mahagony geteilt: »Gani confie son rêve à Tani qui le rapporte à Eudoxie qui le conte à la veillée. Le rêve est embelli de place en place, d’âge en âge.«187 Der »mémoire historique [...] raturée«188 wird durch eine rituelle Technik des Erinnerns entgegengewirkt. Dieses Vorgehen lässt sich, um einen Begriff Ottmar Ettes zu bemühen, als »Transtemporalität« fassen: »Transtemporale Prozesse oder Strukturierungen beziehen sich […] auf ein unablässiges Queren unterschiedlicher Zeitebenen, wobei ein derartiges Verweben von Zeiten eine höchst eigene Zeitlichkeit schafft, die in ihrer Transtemporalität gerade auch transkulturelle oder translinguale Phänomene stark in den Vordergrund rückt.«189 Der auch als psychopathologisches Phänomen diagnostizierte Wiederholungs- oder Reinszenierungszwang findet bei Glissant seinen narrativen Ausdruck. Dieses Vorgehen ermöglicht, des Traumas zu gedenken und die Wunde(n) zu artikulieren. Da es ein bewusster, gewollter Bewältigungsversuch ist, der über die neurotische, zwanghafte Wiederholung hinausgeht, kann er durchaus einer nachhaltigen und tragfähigen Identifikation dienen. Mit der Wiederholung erhält man eine Figur, die sowohl Identität als auch Differenz beinhaltet. Eine solch akkumulierende Poetik, welche Vergangenheit und Gegenwart zusammenführt bzw. die Ineinanderfaltung von Räumen, Zeiten, Ereignissen und Figuren zeigt, nenne ich eine barocke Ästhetik. Im Bereich der Ethnologie waren inszenierte Traumata oder Wunden schon immer Gegenstand der Initiation und damit der Identitätsbildung: »Daß man aus der Zuordnung zu einer Gemeinschaft [...] mit Hilfe von überwundenen oder auch nur vermiedenen Verletzungen eigene Identität gewinnt, stellt das Grundmuster der Initiation dar.«190 Die Initiation hinterlässt in Form von Narben einen unwiderruflichen Rest, der Körper selbst trägt auf sich die Spur der Erinnerung. Wobei nicht vergessen werden darf, dass archaische Initiationsriten zum Zweck einer nachhaltigen Identitätsformung eingesetzt werden; die Körperschrift des Traumas hingegen zerstört die

184 185 186 187 188 189 190

Glissant: 1993, 129. Glissant: 1997a, 229. Glissant: 1997f, 132. Ebd., 164. Glissant: 1997a, 227. Ette: 2005a, 22. Sick: 2007, 166.

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Möglichkeit einer Identitätsbildung. Die Grenzen zwischen Initiation und Trauma sind dabei sicherlich nicht immer klar umrissen. Geht man davon aus, dass die Wunde der Initiation auch zum Leben befähigen und dem Initianten Aufnahme in die Gesellschaft gewähren soll, so dient Glissants literarische Traumaannäherung durch Wiederholungskunst der antillanischen Identitätsbildung. Das wiederholte Erzählen poliert die Erinnerungen regelrecht, und die stabilisierende Kraft verlagert sich so allmählich vom Affekt in die sprachliche Formel.191 Über einen schmerzhaften Prozess der langwierigen und identitätsstiftenden Erinnerungsarbeit soll die nötige integrale Selbstkonstitution aufgebaut werden, um schließlich politisch und kulturell den Akt der Selbstbefreiung zu wagen. 4.3.5 Das literarische Subjekt: »cette obscurité difficile de nous« – Intersubjektivität und chorales Erzählen Je ist bei Glissant eine Stimme unter vielen. Wie in vielen postkolonialen Texten schwingt das kollektive nous stets spürbar mit.192 Identität kann nur in der Interaktion mit einem sozialen Umfeld konstruiert und stabilisiert werden. So setzt bspw. La Case du commandeur unmittelbar mit der Problematisierung des nous im Kontext des Kapitels »Trace du temps d’avant« ein: »Pythagore Celat [père de Mycéa, N.U.] claironnait tout un bruit à propos de ›nous‹, sans qu’un quelconque devine ce que cela voulait dire. Nous qui ne devions peut-être jamais former, final de compte, ce corps unique par quoi nous commencerions d’entrer dans notre empan de terre ou dans la mer violette alentour […] ou dans ces prolongements qui pour nous trament l’au-loin du monde, qui avions de si folles manières de paraître disséminés; qui roulions nos moi l’un contre l’autre sans jamais en venir à entabler dans cette ceinture d’îles […] ne disons pas même une ombre, comme d’une brousse qui aurait découpé dans l’air l’absence et la nuit où elle dérive, nous éprouvions pourtant que de ce nous le tas déborderait, qu’une énergie sans fond le limerait, que les moi se noueraient comme des cordes, aussi mal amarrées que les dernières cannes de fin de jour, quand le soleil tombe dans l’exténuement du corps […]. Et pourtant chaque moi, devenant je ou il sur l’humide éclat du jour, s’emprisonnait dans un opaque mal assuré, comme d’une île qui se serait enfoncée en des lointains évasifs. [...] l’absence de moi me renferme en moi […].«193

Der Erzähler spricht hier von »nos moi« und »que les moi se noueraient comme des cordes«, doch es ist eine approximative Kollektivität. Das Selbst ist stets »un moi tari«194 . Ein solches Kollektiv von »non-nous-encore« bzw. »non-nous-encore-maisdéjà«195 ist aufgrund der Geschichte von Verschleppung, Sklaverei und anhaltender Machtlosigkeit und Ausflucht unentwegt von Selbstauflösung und Selbstverlust bedroht:

191 192 193 194 195

Vgl. Assmann: 1999, 263. Vgl. Ormerod: 1994, 193; Richter: 2008, 153. Glissant: 1981, 15f., Herv. i.O. Ebd., 16, Herv. i.O. Ebd., 231.

396 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN »[…] autant de moi chahutés sur les mornes et les volcans, sur les souches enracinées dans l’océan. [...] Nous débordons de tant de moi solitaires en un seul nous taraudé de savoirs flous.«196 »Nous, qui avec tant d’impatience rassemblons ces moi disjoints; dans les retournements turbulents où cahoter à grands bras, piochant aussi le temps qui tombe et monte sans répit; acharnés à contenir la part inquiète de chaque corps dans cette obscurité difficile de nous.«197

Auf narratologischer Ebene zeigt sich die provisorische, auseinandergerissene Kollektivität durch eine Häufung von Intersubjektivitäten. Gemeint ist damit eine in Glissants Romanwerk häufig anzutreffende Identifizierung von zwei oder mehreren Personen wie wir es auch in Mahagony gesehen haben. So identifiziert sich bspw. Anastasie, eine Figur aus Tout-monde, mit den Erfahrungen von Mycéa und kommt zu der Überzeugung: »Mycéa, c’est moi. Oui, on peut dire que c’est moi.«198 Anastasie erzählt ihre Geschichte wiederum einem Mann, der Autor eines Buches ist, dessen Protagonistin Mycéa ist und welches Anastasie gelesen hat. Glissant inszeniert hier ein doppeltes Sprechen/Erzählen von Geschichte aus weiblicher Perspektive, indem die Zeitebenen und die Figuren einander überlagern. Die Aktualisierung ungleichzeitiger Erfahrungen zeugt von dem konstanten Versuch der Saga eine kollektive Erinnerung herzustellen. Glissant multipliziert die Geschichte, indem er sie innerhalb der Grenzen des Inselraumes übereinander schichtet, so dass die vermeintliche Geschichtslosigkeit der Antillen und die Begrenztheit des Raumes in extremer Konzentration akkumuliert werden.199 Der Roman Mahagony legt dafür palimpsestartig die drei Zeitachsen 1831, 1935 und 1979 übereinander. Glissant graviert die Geschichte in zirkulärer und zeitübergreifender Weise in die Natur ein. Die Landschaft wird zum Palimpsest, das Rhizom bekommt durch die Verwobenheit der Geschichte(n) eine historische Vertiefung.200 So erzählt Mathieu gleich zu Beginn des Romans von dem Zusammenfallen von Raum und Zeit und von den Wunden und Narben, die mit dieser besonderen Geschichte einhergehen: »Un arbre est tout un pays, et si nous demandons quel est ce pays, aussitôt nous plongeons à l’obscur indéracinable du temps, que nous peinons à débroussailler, nous blessant aux branches, gardant sur nos jambes et nos bras des cicatrices ineffaçables.«201 Die Verdichtung des Raumes geht mit einer Vernetzung mehrerer historischer Epochen sowie der Multiplikation von Einzelereignissen und Romanfiguren einher. Die Geschichte um den letzten Marron Mani, welcher in den 1980er Jahren in die Wälder flieht, wird ebenfalls gedoppelt, denn zur gleichen Zeit wird auf Martinique ein gewisser Marny gesucht, der angeblich einen Mord verübt haben soll:

196 197 198 199 200 201

Ebd., 19, Herv. N.U. Ebd., 239, Herv. N.U. Glissant: 1993, 228. Zur Verdichtung von Raum und Geschichte vgl. Blümig: 2004, 155. Vgl. ebd., 17. Glissant: 1997f, 13.

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»L’actualité de Marny refoulait au plus fond l’obscurité de Mani. […] Trenelle était désert, le Pavé était désert, la foule unanime bouillonnait à la sortie de la ville, à l’endroit même où Marny avait été abattu sans sommation, après qu’il eut levé les mains. Mani est entré abattu seul dans ce désert, simplement parce qu’il estimait qu’il devait essayer encore. C’est là qu’il a disparu pour toujours.«202

Und weiter: »Peut-être pense-t-il [Maho] à sa dérive, parallèle de celle de Marny. […] Mani en descendant vers le sud a trouvé moyen de brouiller sa piste. D’abord, il a suivi la trace de Marny, son commensal public.«203 Bleiben wir bei der Häufung des Buchstabens ›M‹, so ist augenfällig, dass auch drei der vier Geliebten Mathieus einen Namen haben, der mit ›M‹ beginnt: Myrta, Margarita und Mycéa. Außerdem heißt Mathieus Mutter Marie-Rose, eine Verdrehung des Schiffsnamens von 1788 (Rose-Marie), mit denen der erste Longoué und der erste Béluse nach Martinique verschifft wurden. Nicht nur Schauplätze und Ereignisse werden diachronisch geschichtet, selbst Namen oder auch nur einzelne Buchstaben rekurrieren unentwegt und verleihen dem Erzählwerk Tiefe und synchrone Ausdehnung.204 Verdichtungen dieser Art prägen das gesamte Romanwerk. So lässt Glissant in dem Roman Malemort (1975) drei einfache Männer aus dem Volk, Dlan Médellus Silacier, zu einer Person verschmelzen. Die Namensschichtung deutet bereits an, dass sie ein Kollektiv repräsentieren. In Ormerod erfährt der Leser, dass diese Einheit im Kontext einer unterbrochenen Genealogie steht: »Ces trois-là faisaient un seul corps indissocié sans ascendant ni descendant.«205 Chancé wendet ein, dass ein solches Kollektiv »porte en triomphe un zombi«, »une communauté zombifiée, c’est ce qu’est devenue la Martinique«206. Sind es in Malemort noch drei unterschiedlich klingende Namen, so finden wir in Sartorius fast durchgängig nur noch ähnlich klingende Namen mit einer auffälligen Häufung des Buchstabens ›O‹: Oko, Onkoloo, Okoo, Odono, Odonoo, Okombo, Onoko, Batoutoo, Mahinondoo. Die Kleinheit des Inselraumes und dessen Geschichtslosigkeit wird durch Akkumulation der Namen und selbst der Buchstaben kompensiert.207 Ferner hybridisiert Glissant unentwegt imaginäre und reale Figuren; besonders deutlich wird dies an der Figur des Mathieu Béluse. So gibt es Mathieu, den Vater (geb. 1891) und Mathieu, den Sohn (geb. 1926), der gleiche Name wird also mehreren Figuren zugeeignet. Außerdem war Mathieu Glissants ursprünglicher Taufname208 und ist zugleich der Name einer seiner Söhne, was Chancé konstatieren lässt:

202 203 204 205 206

Ebd., 158. Ebd., 190. Vgl. Blümig: 2004, 17. Glissant: 2003, 67. Chancé: 2003, 119. Malemort ähnelt einer Autopsie »d’une société zombifié et totalement sous l’emprise du ›délire verbal‹« (Chancé: 2002, 6). 207 Vgl. Blümig: 2004, 17. 208 In Traité du Tout-monde erfahren wir, dass Mathieu der Taufname von Glissant ist, und der Familienname Glissant führt in verdrehter Form zur Namensgebung der Plantage des Béké Senglis (Senglis ist die Besitzung, wohin der erste Béluse nach seiner Ankunft auf Martinique verkauft wird): »Mathieu me fut consigné à baptême […] abandonné ensuite

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»[…] le Nom-du-Père a traversé l’État civil et la littérature, pour fonder une paternité. Faut-il se demander qui est Mathieu Béluse ou qui est Mathieu Glissant vis-àvis d’Édouard Glissant?«209 Zweifellos geht Glissant in seinem Werk weit über eine Gleichsetzung von Autor und Figur bzw. Erzähler als alter Ego des Autors hinaus. Glissant bezeichnet sich selbst nicht als Autor, sondern wie in Mahagony als »celui qui commente« oder »signataire de ce récit«210 . Er behauptet, dass eine klare Trennung von Informant, Chronist, Figur und Autor unmöglich sei. Glissant ist eine Art Therapeut, der déparleur, der die anderen »compagnons de fiction«211 zu Wort kommen lässt, denn das Erzählen von Geschichte obliegt einem wuchernden Kollektiv. Von seinen Figuren, konkret von Mathieu, wird er als »notre commun narrateur«212 bezeichnet: »il commente le tout-monde. Parce que son nom est à l’envers de celui du colon Senglis, il croit qu’il a une obligation.«213 In Mahagony wechselt die narrative Position unaufhörlich und der Text fungiert als Echoraum anderer Stimmen: »Mais ce qui parle, c’est l’écho infinissable de ces voix.«214 Die Pluralisierung der Geschichten und Romanfiguren verlauft analog zur Pluralisierung der Erzählinstanzen.215 Vor allem lässt Glissant nicht nur den Intellektuellen Mathieu oder den Quimboiseur Longoué sprechen, sondern wie in Malemort mittels der dreifachen Schichtung von Dlan Médellus Silacier, auch das einfache Volk.216 Das Sprechen dieser Figuren ähnelt einem Stottern, dem délire verbal, wie es Silaciers hoffnungslose, kreisende Suchbewegung am Ende des Romans ausdrückt:

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210 211 212 213 214 215 216

dans la coutume et les affairements d’enfance, repris par moi (ou par un personnage exigeant, ce Béluse) dans l’imaginaire, et il s’est greffé, pour finir ou pour recommencer, en Mathieu Glissant. [...] J’ai supposé naguère que le nom de Glissant, sans doute octroyé comme la plupart des patronymes antillais, était l’envers insolent d’un nom de colon, Senglis par conséquent. L’envers des noms signifie. [...] Je m’appelle Glissant depuis à peu près l’âge de neuf ans, quand mon père me ›reconnut‹« (1997b, 77). Glissant ist »Sohn eines Plantagenverwalters, eines stolzen, wiewohl mit der kolonialen Ordnung im Konsens lebenden Mannes« (Ludwig: 2008, 115). Erst im Alter von neun Jahren wird Edouard Glissant von seinem Vater als Sohn anerkannt und trägt seitdem dieses Patronym, dem er durch sein literarisches Werk Dauer und Bedeutung verliehen hat. Die ersten neun Lebensjahre trug er den Namen seiner Mutter, Mathieu Godard, vgl. Chancé: 2009, 15. Chancé: 2001, 228. Chancé kommt zu der Hypothese, »que l’écrivain, ayant reconnu en lui le manque du symbolique, est celui qui désire la loi symbolique tout en la sachant inaccessible. Il ne l’atteint que dans l’imaginaire, dans une ambiguïté qui fait sa fortune et sa folie […]« (Chancé: 2003, 292). Glissant: 1997f, 175. Ebd., 59. Ebd., 59. Ebd., 184. Ebd., 176. Vgl. Blümig: 2004, 157. »Peut-être avec Dlan Médellus Silacier fouiller l’ingrat langage à venir?« (Glissant: 1997g, 162).

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»La foule des mots défila devant lui. Il voyait les mots en terre, les mots de roc, les mots papier. Lanmisè [la misère] vint et grandit. Un seul grand mot. Lanmisè se transforma. Lanmisè devint lanmin longé [la main tendu]. Silacier entassait les mots. Il n’y eut plus qu’un trou devant lui. Un trou blanc où tout se perdait. Il vit les jours passés tomber dans le trou. Ils disparurent.«217

Glissants Vorgehen der unentwegten Zirkulation des Erzählstandortes unterläuft jeden konventionellen Totalitäts- oder Wahrheitsanspruch. Einem Vorwort vergleichbar ergreift Glissants Protagonist Mathieu in Mahagony einleitend das Wort und setzt sich selbst als Erzählinstanz. Mathieu widersetzt sich als Figur, zu der er in den Romanen des»chroniqueur« bzw. »auteur accablé d’un avenir dont il avait mémoire«218 geworden sei. Stattdessen fordert er Autorschaft und die Rolle des »révélateur« für sich ein: »Donnant raison au chroniqueur qui m’avait choisi comme guide de son exploration, je me libérais de sa quête et me précipitais dans la confusion ardente de cette terre pour y chercher – y supposer – lumière et transparence; […]. Puisque j’étais le fil, je pouvais aussi bien devenir le révélateur, et nul besoin de chroniqueur pour ce travail.«219

Mathieus Ziel ist es, die Geschichte der drei Marrons zu verfassen und ihre Verflechtungen mit der bisherigen Geschichte und ihre Präsenz in der antillanischen Landschaft aufzudecken. Es geht ihm dabei um eine Auffüllung des Desiderats, welches der »chroniqueur« bislang unbeachtet gelassen hatte. Mathieu beschwert sich gar darüber, »un complice dans l’univers imposant de la fiction«220 zu sein und sagt: »C’était difficile de cesser d’être créature; beaucoup plus encore que d’entreprendre de créer dans une direction nouvelle.«221 In der Folge fungieren neben Mathieu jedoch auch andere Protagonisten als Erzählinstanzen und geben diese kontinuierlich untereinander weiter: Mycéa an Ida, Ida an Mathieu, Mathieu an Glissant. So sagt Mycéa: »Je ne suis pas constituée pour connaître l’histoire de Mani: C’est une affaire des jeunes d’aujourd’hui. C’est pourquoi ce qui suit ne peut être étudié que par ma fille Ida.«222 In dieser cliffhangerTechnik übergibt Ida das folgende Kapitel an ihren Vater als weiteren Berichterstatter: »Il me semble que ce qui s’ensuit ne saurait être résumé que par mon père Mathieu.«223 Schließlich übergibt Mathieu Béluse in einer Kreisbewegung wieder an Edouard Glissant: »Ce qui suit ne saurait être que commentaire de mon auteur. Je lui laissa la place, je lui laisse.«224 Am Ende ist die reale Autorschaft von der fiktiven

217 218 219 220 221 222 223 224

Glissant: 1997g, 231f. Glissant: 1997f, 19. Ebd., 20. Ebd., 59. Ebd., 59. Ebd., 144. Ebd., 162. Ebd., 174.

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nicht mehr unterscheidbar und in einer Art Epilog widmet Mathieu den Roman seinem ›Autor‹ und ›Biographen‹: »Parfois nous perdons la trace. Parfois elle se dédouble. Le plus souvent elle se perd dans une touffaille de végétation ou nous enfonçons nos corps, plus roides que nos esprits. Ainsi ai-je couru la courbe de ce récit aux voix mêlées. Je le dévoue à mon auteur et biographe, qui n’y retrouvera pas sa manière. […] Je me suis arraché de la raide figure qu’il m’avait faite auprès de ceux qui nous connaissent; ainsi ai-je à mon tour fait de lui, donnant donnant, l’objet lointain de ma recherche.«225

Das Epische schöpft aus dem Erzählten, der Erfahrung, die die Erzähler gemacht haben, und aus den Geschichten, die sie gehört haben. Es entspringt somit dem Oralen und ist in seiner Struktur von diesem geprägt. Die vielgestaltigen Fragmente erzählter Geschichten treten an allen Enden aus der Erzählung heraus und bilden neue Geschichten (Rizome). Durch diese Art von Polyphonie und relativer Autonomisierung der Stimmen entgeht die Autorposition der Vereinnahmung durch eine einzelne Figur und es entsteht ein chorales Erzählen: »L’œuvre fraie donc son chemin entre toutes les voix possibles, entre les figures fondatrices, empruntant à la femme sa voyance, à l’homme son entêtement et sa logique, aux déparleurs la flamboyance, au marron ses formules lapidaires, au quimboiseur ses incantations, au conteur son souffle. L’auteur n’est pas du côté du marron ou du quimboiseur, il est l’amarreur de toutes les paroles.«226

Glissants Rhizom-Buch hat keinen Autor im herkömmlichen Sinne, sondern einen »amarreur de toutes les paroles« oder schlicht einen »signataire de ce récit«227 von kollektiven Aussageketten. Die damit einhergehende Redevielfalt konvergierender, konkurrierender, divergierender Stimmen verweist auf Bachtins Verständnis von Hybridität, die er in Die Ästhetik des Wortes wie folgt beschreibt: »Was ist Hybridisierung? Sie ist die Vermischung zweier sozialer Sprachen innerhalb einer einzigen Äußerung, das Aufeinandertreffen zweier verschiedener, durch die Epoche oder die soziale Differenzierung (oder sowohl durch diese als auch durch jene) geschiedener sprachlicher Bewußtseine in der Arena der Äußerung. Eine solche Vermischung zweier Sprachen innerhalb einer Äußerung im Roman ist ein beabsichtigtes künstlerisches Verfahren.«228

Bachtin geht es um ein Aufeinandertreffen und eine Vermischung zweier Sprachen, die direkt an »Bewußtseine«, also an Weltwahrnehmungen gekoppelt sind. Der metaphorische Ausdruck der »Arena der Äußerung« verweist auf die hierarchischen Beziehungsverhältnisse, in denen Sprachen und – wenn man das Konzept ausweitet – Kulturen zueinander stehen. Bachtins Überlegungen, die er an Rabelais, d.h. an einer

225 226 227 228

Ebd., 193, Herv. N.U. Chancé: 2001, 225. Glissant: 1997f, 175. Bachtin: 2006 [1934/35], 244.

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barocken Textstruktur, nachweist, dienen mir zum Verständnis von Glissants Texten insofern, als dass in ihnen auch die Problematik der Speicherung und Reaktivierung zurückliegender sozialer Sprachen und Kulturen einfließt, die in der vermeintlich einheitlichen französischen Sprache sichtbar werden. Die Polyphonie der Glissant’schen Romane äußert sich im choralen Erzählen, welches vielfältige Einzelstimmen umfasst. Dieses nous beruht auf Kommunikation, Dialog, Relation sowie auf ähnlichen Differenzerfahrungen. Glissant betont so eine kollektive Dimension und hebt auf einen Gemeinschaftsbegriff ab, der einen ähnlichen Erfahrungshintergrund aufweist. Phänomene von Fragmentarisierung und Diskontinuität werden so zur Grundlage einer neuen Einheitserfahrung – basierend auf Diversität – innerhalb der antillanischen Diaspora.

4.4 D OPPELUNGEN UND S UPPLEMENTARITÄT IN L A C ASE DU COMMANDEUR , S ARTORIUS UND O RMEROD Der Roman La Case du commandeur rollt die Geschichte seiner Protagonistin Mycéa auf und stellt damit einen Seitenarm der Familie Longoué in den Mittelpunkt. Mycéas ver-rücktes Verhalten ist undurchsichtig, bis man in der aufgeschobenen Bedeutung des Romans ihre Motive erahnt. Der Text zeichnet zunächst die Geschichte von fünf Generationen bis hin zu den ersten deportierten Ankömmlingen auf der Insel nach, wobei sich der Name Odono als Leitmotiv durch den gesamten Text zieht. Odono ist das Wort, welches konkret bei Mycéas Geburt in vielfältiger Weise als Ruf, Laut, fleischliche Masse oder Schrei auftaucht: »cet appel bourré de mort d’âme«229 oder »(à peine un mot: un son) [...] allusion à un rare événement? [...] la trace de quelque chose, tas hurlant de viande à vif, qui se fût appelé Odono?«230 Oder: »Odono est un cri de malfini tragique dans ta tête. La lampée de sons où un zombi a bu ton âme.«231 Wie wir erst im Laufe der Geschichte erfahren, handelt es sich bei Odono um zwei verschleppte Afrikaner, die um 1715 nach Martinique kamen. Schließlich kehrt La Case du commandeur – aufgeladen mit gewaltvollen Momenten der Vergangenheit – in Form einer Kreisstruktur in die Gegenwart zurück und zeigt Mycéas Wahnsinn im Kontext der latenten Schizophrenie der antillanischen Gesellschaft.232 Mycéas Symptome werden rückführbar auf eine spezifische

229 Glissant: 1981, 19. 230 Ebd., 17. 231 Ebd., 18. Ein »malfini« ist, wie wir aus den Anmerkungen (ebd., 247) erfahren, ein »grand oiseau des bords de mer. Disparaît.« 232 Ein Meilenstein der karibischen Literatur ist Jean Rhys’ Roman Wide Sargasso Sea (1966), der ebenfalls eine verrückte Frau in den Mittelpunkt rückt. Dieser Roman ging der gynokritischen Forschung wie Madwomen in the Attic (Gilbert/Gubar: 1979) in postkolonialer Weise voraus. Rhys erzählt die dem Referenzwerk – Charlotte Brontës Jane Eyre (1847) – zeitlich vorgelagerte Handlung, nämlich die Lebensgeschichte einer jungen kreolischen Frau in einer Post-Sklavenhaltergesellschaft. Wide Sargossa Sea ist sozusagen der nachträgliche Hypotext zu Jane Eyre. Die zu einer stimmlosen, tierischen Gestalt degradierte erste Ehefrau Rochesters, Bertha Mason, fungiert in Rhys’ Roman über weite

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Geschichte und damit decodierbar.233 Am Ende zeigt sich, dass Mycéa über ein besonderes Bewusstsein für die antillanische Wirklichkeit verfügt und keinem pathologischen Verhalten unterliegt. Vielmehr entwickelt ihr Körper eine Art Symptom, wo keine erzählbare Erinnerung vorliegt, wo sich in der Erzählung eine Lücke auftut. Der Roman beginnt und endet jeweils mit einem fingierten Auszug aus dem Quotidien des Antilles vom 4. und vom 13. September 1978. Zu Beginn wird auf die verwirrte Marie Celat hingewiesen, die in der Stadt herumirrt, und am Ende wird die Gründung eines psychiatrischen Hospitals mit französischen Spezialisten auf Martinique angekündigt, denn die Probleme seien dort wie in Frankreich scheinbar dieselben.234 Statt einzelne Personen als verrückt zu klassifizieren, verweist Glissants literarische Anamnese der antillanischen Gesellschaft auf den Zusammenhang von Wahnsinn und verbalem Delirium mit dem kollektiven, aber verdrängten Trauma und verweigert sich somit der offiziellen Geschichts- und Identitätskonstruktion durch Europa und seinem psychiatrisierenden Blick. Es geht somit auch um die Frage, ob westlich geprägte Psychologie und Psychoanalyse überhaupt sinnvolle Antworten auf Symptome der Kolonialgeschichte geben kann, wie es Glissants Roman La Case du commandeur kritisch hinterfragt. Offen bleibt zunächst, ob Mycéas Wahnsinn im Kontext des Todes ihrer beiden Söhne steht – von denen einer wiederum den Namen Odono trägt –, oder ob es ihr Blick in den Abgrund der Geschichte der Sklaverei ist, der eng mit der Frage nach der Identität von Odono verknüpft ist, der sie verrückt werden lässt. Beide Ereignisse hängen augenfällig zusammen und halten die Fäden der Geschichte auf formaler und inhaltlicher Ebene zusammen: »Quand elle restait ainsi prostrée, demandant à chacun: As-tu vu Odono? – nous étions quelques-uns à deviner qu’elle ne cherchait pas là son dernier-né, mais le premier d’une lignée sans déroulement, venu tout adulte depuis combien de temps dans le pays, et dont la trace s’était perdue hormis pour quelques tourmentés, dont elle était.« 235

Odonos Spur hat sich über die Jahrhunderte verloren, der Name wird zum Inbegriff der verlorenen Memoria, zur unbestimmbaren Leerstelle.236 Diese Leerstelle, die

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Passagen als Erzählstimme. Wahnsinn wird hier als ein Symptom patriarchaler und kolonialer Unterdrückung aufgedeckt und dem subalternen Subjekt wird eine Stimme zugestanden. In Le Discours antillais hält Glissant fest: »le délire verbal n’est pas la ›maladie‹ de quelques-uns, c’est la tentation de tous« (1997a, 625). Im weiteren Kontext ist selbstverständlich auf Fanons Analyse Peau noir, masques blancs (1952) und Albert Memmis Studie Portrait du colonisé. Portrait du colonisateur (1957) hinzuweisen, die bereits vor mehr als 50 Jahren festhielten, dass der Kolonialismus als solcher ›verrückt‹ sei und die darin verstrickten Subjekte ›verrückt‹ mache. Vgl. die Studie zu Colonial Madness. Psychiatry in French North Africa (2007) von Richard Keller. Vgl. Glissant: 1981, 243. Ebd., 224. Loichot deutet die Präsenz des Wortes no in Odono als Hinweis auf die vernichtete Genealogie und die phonetische Ähnlichkeit mit dem englischen Ausdruck »I don’t know«

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dauernde Frage nach Odono, zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman. In La Case du commandeur erfahren wir undeutlich, dass Odono nicht nur für die beiden ersten Ankömmlinge steht, sondern in opaker Weise auch auf die afrikanischen Vorfahren in Guinea und Kongo referiert. Pythagore, der Vater von Mycéa, erzählt seiner Frau Cinna Chimène: »[…] le conte d’Ozonzo était le déguisement d’une histoire plus ancienne. Ayiti n’était pas la terre première; cette terre où, dit-il, tous les gens étaient Odono. Cinna Chimène demanda quelle terre, il répondit la Guinée le Congo. Cinna Chimène demanda quel Odono, il répondit Odono que je ne sais pas.«237

Odono repräsentiert »le souvenir impossible […] d’une catastrophe dont le mot Odono résumait l’écume frêle et révocable«238 . Die beiden zuletzt erschienenen Romane von Glissant, Sartorius (1999) und Ormerod (2003), nehmen die opake Spur von Odono erneut auf und verankern diese Schlüsselfigur noch universaler in der Historie. In Sartorius heißt es, Odono habe keine Spur, keinen Namen hinterlassen – »il n’a pas gravé son kwamé sur une roche de rivière ni sur une rose de sable«239 –, aber seine Präsenz wirke dennoch fort: »Aucune marque, sinon au travers du tourment de quelques navrés, dont Marie Celat sans doute, qui surent lire l’absence enracinée de ce peuple et l’œuvre sans repère d’Odono«240 . Das Wort Odono ist somit mehrspurig angelegt, es verweist auf das pays d’avant und zugleich auf die neue Existenz der Afrikaner in der Neuen Welt. Marie Celat steht in Kontakt mit dem Wissen um Odono, doch sie wird vorübergehend in die Psychiatrie gebracht. Während dieser Fahrt hat sie Zeit, die Landschaft wahrzunehmen, die als Spur auf die gewaltvolle Vergangenheit verweist: »Même du fond du cocon blanc qu’était l’ambulance Marie Celat sentit, plus qu’elle ne le vit, l’endroit où la route plongeait (montant cependant) aux vertiges sans fond de la forêt et dans son humidité primordiale: dans cela qui s’est noué, a traversé notre corps avec l’épais tumulte d’une cavalerie. C’est la Trace du Temps d’Avant, dit-elle […].«241

La Case du commandeur ist, wie bereits erwähnt, spiralförmig aufgebaut, beginnend und endend mit Mycéas angeblicher Un-Vernunft. Der ver-rückte Diskurs der Protagonistin ist nur zu verstehen, wenn man ihre Genealogie aufrollt. Dementsprechend

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verweist für sie auf den unbestimmbaren Ursprung, vgl. Loichot: 2007, 46. Lohnend wäre sicherlich auch die gedoppelten bzw. vervielfachten Odono-Figuren mit Bezug zum Voudou, konkret zum Marassa (d.h. Zwillings)-Motiv genauer zu untersuchen, vgl. Laroche: 1988. Glissant: 1981, 81. In Tout-monde heißt es ganz ähnlich: »Toute la confrérie des Celat, si loin avant dans le temps, Augustus, Ozonzo, Pythagore, qui avaient si longtemps crié Odono, Odono! Mais ils ne pouvaient pas dire qui c’était« (Glissant: 1993, 152). Glissant: 1981, 44. Glissant: 1999a, 41. Ebd., 43. Glissant: 1981, 227, Herv. N.U.

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verharrt die Erzählung einen Moment bei Mycéas Eltern, Pythagore Celat und Cinna Chimène, um dann zu den vorangegangenen Generationen vorzudringen: Ozonzo Celat und Efraïse Anathème (Großeltern), Augustus Celat und Adeline Alphonsine (Urgroßeltern), Anatolie Celat und Liberté Longoué (Ururgroßeltern). Letztere war die Tochter des Marron und Quimboiseur Melchior Longoué, geboren gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Ihr Mann Anatolie steht in der ungesicherten Genealogie von Odono. Die Glissant’sche Ahnenforschung zielt weniger darauf ab, die genauen Verwandtschaftsverhältnisse zu klären (ein unmögliches Unternehmen, da man stets auf ungeklärte Vaterschaften, verwaiste Kinder oder auf Figuren ohne oder fragmentierte bzw. pervertierte Namen stößt), als die verworrenen Erinnerungsfetzen Mycéas in einer ›Anhäufung von Nacht‹ (»l’amas de nuit pèse et nous couvre«242) um das Wortfeld Odono zu umkreisen. Es handelt sich um eine fragmentarische Geschichte der Störfälle der Genealogie, eine Geschichte der Überlebenden, zu der jede der fünf Generationen einen Teil beiträgt bzw. freilegt, andere Teile bleiben verdunkelt. Dieses Erzählverfahren erinnert an den Aufbau einer russischen MatrioschkaPuppe, bei der seriell von der einen auf die nächstkleinere Puppe verwiesen wird, bis am Ende nur noch eine winzige, leere Puppe übrig bleibt, die sich nicht öffnen lässt. Die Leere am Ende der Glissant’schen Dissemination verlangt nach einer Informationsergänzung, nach einem Supplement.243 Das Denken einer unaufhebbaren Präsenz des Anderen im Eigenen und umgekehrt gibt die Idee des Ursprungs preis und begründet ein stets in Bewegung befindliches Denken der Hybridität. Die Beobachtung, dass ein Supplement auf die Leere folgt – bei Glissant ein ausuferndes Sprechen oder nennen wir es das Barocke seiner Erzählweise –, lässt sich bekanntlich nicht nur für seine Schreibweise konstatieren.244 Am Anfang der Genealogie bzw. am Ort des fehlenden Ursprungs steht bei ihm nicht die Leere, sondern ein doppelter Ursprung, gar eine »procession des dédoublés«245. Damit ist dem Werk eine uneinholbare Polysemie inhärent, die der Autorität einer ethischen Präsenz untersteht, nämlich dem lieu

242 Ebd., 18. 243 Diese Überlegungen basieren auf der Derrida’schen Logik der »Supplementarität«, d.h. der Ergänzung, die für das Fehlen des Ursprungs oder Zentrums eintritt, wie er sie in De la Grammatologie (1967) und später in Le Monolinguisme de l’autre ou la prothèse d’origine (1996) entwickelt. Bei Derrida ist das Bedeuten einem Spiel der Ersetzungen ausgesetzt, das der Kontrolle durch Intention und Sinn nicht mehr unterliegt: »Mais le supplément supplée. Il ne s’ajoute que pour remplacer. Il intervient ou s’insinue à-laplace-de; s’il comble, c’est comme on comble un vide. S’il représente et fait image, c’est par le défaut antérieur d’une présence. […] sa place est assignée dans la structure par la marque d’un vide. Quelque part, quelque chose ne peut se remplir de soi-même, […]« (Derrida: 2002, 208, Herv. i.O.). Vgl. das Kap. »Ce dangereux supplément…«, in: ebd., 203-234. Mieke Bal bezeichnet Derrida gar als »barocke[n] Denker« (2006, 226). 244 Die Schwierigkeit, nicht darstellen zu können und doch darstellen zu müssen, schreibt sich in jede sprachliche Beschäftigung mit traumatischen Erfahrungen ein. So verweist Weigel hinsichtlich der Nachgeschichte von Nazismus und Shoah darauf, dass trotz des Problems der Undarstellbarkeit eine zunehmende Proliferation von Erinnerungstexten und -diskursen vorliegt, vgl. Weigel: 1999, 71. 245 So heißt ein Unterkapitel in La Case du commandeur, vgl. Glissant: 1981, 171-187.

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commun der Sklaverei. Er stellt damit die Nichthintergehbarkeit bestimmter Erinnerungsspuren bzw. konkreter historischer Ereignisse in den Vordergrund, ohne diese von ihm gelegten Spuren finalisierend festzuschreiben. 4.4.1 Familiengenealogien im Kontext von Tod und Überleben Glissant gestaltet sein Romanwerk, wie bereits angesprochen, mittels einer doppelten Genealogie, wobei die Figuren zueinander im Modus der Relation, analog zu seinem Postulat »toute identité s’étend dans un rapport à l’Autre«246. Von besonderer Bedeutung ist die Wahlverwandtschaft zwischen Papa Longoué und Mathieu Béluse. Wie wir in Le Quatrième siècle erfahren, sind die Longoué, diese »espèce aussi rare« und ihr »unique héritier«247 vom Verschwinden bedroht, so dass Papa Longoué sein über Jahrhunderte tradiertes Wissen, welches er über seine Mutter Stéfanise in Form des Monologs248 übermittelt bekam, schließlich einem Béluse anvertraut: »C’était donc la destinée des Longoué, de toujours souffrir pour perpétuer la famille. Peut-être qu’une espèce aussi rare ne se reproduisait pas comme ça, hein? […] Car les Longoué seuls s’en tenaient à l’unique héritier, parfois accompagné d’un frère ou d’une sœur façonnés à seule fin d’étayer le travail de celui-là, qui avait été choisi pour perpétuer. C’est qu’il se trouvait chez les Longoué précisément un héritage à transmettre, pour lequel celui qui était appelé devait d’abord être jugé capable. […] La compensation était qu’on vivait vieux chez les Longoué; […].«249

246 Glissant: 1990, 23. 247 Glissant: 1997c, 230. 248 Aufschlussreich ist die Erzählung von Papa Longoués Sozialisation durch seine Mutter Stéfanise und seinen abwesenden Vater Apostrophe, daher sei hier eine längere Passage zitiert: »Mais elle avait retrouvé pour lui la pratique du monologue chère aux Longoué, et sans le regarder commentait à voix haute chaque geste qu’elle faisait, décrivait chaque endroit. À lui, dérivant autour d’elle, de retenir ce qu’il pourrait. […] Et ainsi commença pour papa Longoué, encore enfant, et même, à peine dressé sur ses jambes, l’histoire douloureuse qui devait être à jamais la sienne. Car il souffrit toute sa vie de peiner après une connaissance pour laquelle il était appelé, qu’il méritait certes de posséder, mais qui le fuyait sans relâche ou plutôt le laissait sans cesse insatisfait: peut-être parce que la connaissance ne suffisait plus, peut-être parce qu’il s’était essoufflé à courir derrière Stéfanise, et peut-être précisément parce que Stéfanise, malgré sa lumière, n’était pas celle (une femme) qu’il fallait pour transmettre la connaissance« (Glissant: 1997c, 238). Stéfanise Béluse hatte als eine Art Wiedergutmachung für das Verbrechen ihres Vaters Anne Béluse – jener hatte aus Eifersucht Liberté Longoué getötet – einen Longoué aufgesucht und geheiratet. 249 Glissant: 1997c, 230. 1935 kommt es zu einer ersten Begegnung zwischen Papa Longoué (*1872) und Mathieu Béluse (*1926). In der Folge entwickelt sich eine intensive mehrjährige Beziehung zwischen den beiden, so dass nach Longoués Tod im Jahr 1945 das Wissen des Quimboiseur in Kombination mit dem okzidentalen Wissen (Bücher und Archive) durch Mathieu weiterlebt. Da Papa Longoués eigener Sohn Ti-René 1915 im Ersten Weltkrieg fällt, bleibt der Quimboiseur ohne Nachkommen. Nicht zufällig lässt

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Für Papa Longoué wird Mathieu Béluse, aufgrund des Todes seines eigenen Sohnes Ti-René Longoué während des I. Welkrieges, zum »descendant élu«250. Glissants doppelte Genealogie wird hier in versöhnlicher Weise zusammengeführt, und es entsteht eine neue dialogische Situation: »Les Longoué ne pourraient plus veiller dans la forêt: la race allait s’éteindre. Car l’ancêtre avait engendré Melchior et Liberté le fils, et Melchior avait engendré Apostrophe et Liberté la fille, et Apostrophe avait engendré papa Longoué, et papa Longoué avait engendré Ti-René, lequel avait engendré la mort subite. Mais ce n’était pas tant la mort. C’était qu’il fallait disposer d’un descendant, choisi, élu. Un jeune plant par lequel vous avez des racines dans la terre du futur. C’était cela. […] Il n’y avait plus que ce Mathieu – ce Béluse. Oui. Le premier Béluse engendra Anne, celui-là qui avait tué Liberté le fils. Et Anne engendra Saint-Yves et Stéfanise, celle-là qui vécut avec Apostrophe, le fils du frère de l’homme que son père avait tué. Et Saint-Yves engendra Zéphirin. Et Zéphirin engendra Mathieu qui alla à la guerre sur l’autre bord en même temps que Ti-René; mais il en revint, lui Mathieu. Et il engendra Mathieu le fils qui était présentement prés de papa Longoué (pour lui poser des questions sans fin), comme son propre petit-fils aurait pu se trouver là aussi (»ah! lui aussi«!) si Ti-René son fils, vagabond sans attaches, n’avait pas été tué à la grande guerre de l’autre côté des eaux. Voilà ce qu’on pouvait dire: que les Béluse avaient toujours suivi les Longoué au long du temps, comme pour les rattraper.«251

Auch wenn mit Longoués Tod das Aussterben der afrikanischen Kultur (auf den Antillen) und das Ende einer widerständigen Genealogie markiert wird, so bleibt als Vermächtnis seine Fähigkeit, Vermischungen und Synkretismen hervorzubringen. Papa Longoué weiß, dass er den eher auf Linearität und Chronologie ausgerichteten Mathieu – ein alter Ego des Autors – verändert und ihn so zur Weitergabe des kollektiven Gedächtnisses befähigt. Papa Longoué repräsentiert einen symbolischen, geistigen Vater für Mathieu. Jede der beiden Figuren, ob Quimboiseur oder Historiker, trägt auf ihre Weise dazu bei, die Erinnerung lebendig zu erhalten und Bezüge zur Gegenwart herzustellen.252 Über diese versöhnliche Wahlverwandtschaft zwi-

Glissant seinen ›Helden‹ Papa Longoué in dem politisch entscheidenden Jahr 1945 sterben, denn dies ist das Jahr, in dem sich die Martinikaner für die Départementalisation aussprachen. Glissant war gegen die damit einhergehende kulturelle und politische Assimilation und gründete zusammen mit Paul Niger die Front Antillo-Guyanais. 250 Ebd., 314. 251 Ebd., 19. 252 In Ormerod gibt es eine Szene zwischen drei Männern, Apocal, Godby (»le poète«) und Lavineret (»un historien«), welche die (Un-)Sagbarkeit des historischen Diskurses unterstreicht: »Mais il y a des archives..., dit l’historien, vous ne pouvez pas grand-chose contre ça… […] Des documents incontestables, des chiffres, des rapports, des mémoires de l’époque, il ne sert à rien de duper les gens avec des chimères… – […] Les documents ne ravivent pas la connaissance, peut-être bien au contraire, nous savons qu’ils sont là, nous laissons faire. Il faut réallumer ce flambeau qui brûle dans des souterrains et le dresser haut dans la nuit de nos mémoires. Je rêve Rabot [bataille de Rabot], pour tous ceux qui

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schen ›Vater‹ und ›Sohn‹ hinaus verweist auch der Name Papa Longoué auf die Verständigung von Gegensätzen: »papa qui signifie la tendresse et la bonté, Longoué qui est la rage et la violence.«253 Die geistige Vater- und Sohnschaft ersetzt bewusst die biologische Vaterschaft, welche häufig im Kontext von Gewalt stand.254 So entsteht jenseits der Pervertierung von Vaterschaft und Generationenfolge durch die Sklaverei eine neue Form des Fathering. Man könnte schlussfolgern, Glissant überschreite durch die Betonung einer spirituellen bzw. metaphorischen Familienkonzeption die biologische Familienvorstellung mit ihren klaren Unterscheidungen von zugehörig/nicht zugehörig. Die Bindung zwischen Papa Longoué und Mathieu Béluse signalisiert neue, flexible Zusammenschlüsse. Edouard Glissant setzt sich zudem über die Figur des Mathieu und mittels der nachträglichen Vater-Sohn-Beziehung in die Tradition einer widerständigen Genealogie, anstatt dem Modell des nègre-étalon, welcher für den bel usage auf der Plantage missbraucht wurde, verhaftet zu bleiben. Insgesamt ist die Wiederaneignung von Vaterschaft ein durchgängiges Thema der »Kinder des Zorns«255 . Der Schriftsteller (Glissant) und der Historiker (Béluse) setzen die Erzählung der unmöglichen Geschichte vielstimmig fort. Der Literatur kommt die Funktion der Sublimierung und Trauerarbeit der vorenthaltenen Vaterschaft zu, oder wie Dominique Chancé schreibt: »d’interroger, de regretter, de scruter le vide laissé par ce père absent«256. Innerhalb der karibischen Gesellschaft kann der symbolischen Ordnung im Namendes-Vaters nur sehr bedingt nachgekommen werden. Die den Sklaven aufgezwungenen Namen der Plantagenbesitzer und die Selbstbesitzlosigkeit veranlasst Glissant von einem »instinct de l’illégitimité«257 zu sprechen.

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s’écrient dans le souterrain. [...] – Mais la bataille de Rabot ne s’est pas passée comme ça…, dit l’historien, c’est faux!… - Non, vrai et vrai…, dit Godby le poète. Ils abordent les trois au même impossible, qu’ils ne nomment pas« (Glissant: 2003, 151). Glissant: 1997c, 21, Herv. i.O. Die Zugehörigkeit zu einer Familie kann streng genommen nur über die weibliche Linie garantiert werden, da ein Mann – schon gar nicht in Sklavenhaltergesellschaften – nicht sicher sein kann, ob er tatsächlich der biologische Vater seiner Kinder ist. Dominique Chancé charakterisiert Glissant als einen Fils de Lear bzw. »fils de l’ire« (2003b, 7), »fils d’un père impossible dont on ne peut hériter, puisqu’il s’est destitué comme père ou parce qu’il a été mis dans l’incapacité d’assumer la paternité. Les fils d’un tel père sont en demeure de refonder pour eux-mêmes la paternité, ses symboles, la filiation« (ebd., 19). Ebd., 20. Chancé definiert »le vide provoqué«, welches »un désordre irréparable [...] dans le monde symbolique«(Chancé: 2003a, 870) als das eigentlich Barocke in der Karibik hinterlasse. Glissant: 1997b, 78. Maryse Condés Familiensaga La Migration des cœurs (1995), die als intertextuelle Replik auf Emily Brontës Roman Wuthering Heights angelegt ist, erzählt die Geschichte des Findelkinds Razyé. Die Hauptfigur bewegt sich zwischen zwei Geschwisterpaaren, den Mulatten Justin und Cathy Gagneur sowie Aymeric und Irmine de Linsseuil, die zu den béké gehören. Nachdem Cathy, Razyés Geliebte, sich für einen Weißen entscheidet, um dadurch in die führende Gesellschaftsschicht der béké aufzusteigen, entwickelt sich eine Geschichte von Rache und Vergeltung seitens Razyé. Ähnlich

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Die Schlüsselszene in Le Quatrième siècle, in der sich zwei versklavte Männer bei der Ankunft des Schiffes in der Neuen Welt 1788 auf Leben und Tod bekämpfen, wird durch den Fortlauf der Geschichte in kreolisierender Weise transformiert: Nicht nur, dass Papa Longoué und Mathieu Béluse eine Vater-Sohn ähnliche Verbindung vier Generationen später in der Mitte des 20. Jahrhunderts eingehen, auch zeigt sich, dass bereits Papa Longoué einer Verbindung der beiden Familien Longoué und Béluse entstammt, denn seine Mutter Stéfanise war eine Béluse.258 Die Verbindung von Papa Longoués Eltern war eine Art Wiedergutmachung für ein Verbrechen: 1831 hatte ein Familienmitglied der Béluse einen Longoué aus Eifersucht getötet. Auch Mathieus Verbindung mit Mycéa repräsentiert eine solchen Prozess der Relation, denn sie gehört zu den »Longoué d’en bas«. Bei der ersten Begegnung von Mathieu und Mycéa erwähnt der Erzähler diese Zugehörigkeit: »Pressentant peut-être qu’en elle étaient préservés l’entêtement, les forces, la voyance des Longoué. Mais il [Mathieu, N.U.] ne savait pas, ou plutôt, il avait oublié, que les Celat étaient les Longoué d’en bas.«259 Mathieu und Mycéa, die 1946 heiraten, versuchen als Nachfahren ehemaliger Sklaven bzw. Marrons aus der erlittenen Vergangenheit (»histoire subie«) mit ihren diskontinuierlichen Geschichtsbrocken eine aktiv erlebte Geschichte zu machen. Mit der Generation von Mathieu und Mycéa verbindet sich europäischschriftliche und afrikanisch-mündliche Welthaltung. Glissant stellt neben Mycéa, eine eher passive Figur des Leidens und der Trauer, die aktiv orientierte Figur des Mathieu, der die Geschichte erforscht, aufdeckt, ergründet und projiziert. Die ›erlittene‹ Vergangenheit wird als Vision entworfen und leitet so einen schmerzhaften, aber bewussten Identifikationsprozess ein. Wurde mit dem Roman Le Quatrième siècle die Urszene der doppelten Genealogie von Longoué und Béluse gegen Ende des 18. Jahrhunderts situiert, so rekurriert Glissant in La Case du commandeur auf eine noch weiter zurückliegende und sehr aufschlussreiche Doppelung. Der ›Urkonflikt‹ zwischen den Familien Béluse und Longoué wird von Glissant in der Zeitspirale noch weiter zurückgedreht. Wir erfahren in diesem Roman, dass es bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts zwei Männer mit dem lautmalerischen Namen Odono gab, der eine Krieger, der andere Hirte, die auf die Antillen deportiert wurden. Der eine soll den anderen varraten und verkauft haben: »Et ils s’étaient secrètement donné, les deux jeunes hommes, le même nom: Odono; et ils avaient publiquement reconnu qu’ils étaient frères. […] Mais la bête soudain de l’envie et de la

wie bei Glissant, werden bei Condé große Teile des Romans aus der Sicht eines Kollektivs von Marginalisierten, aus der Sicht der Dienstboten, erzählt. Innerhalb dieses Kollektivs dominieren aber die Frauenstimmen, denen es obliegt die 100 Jahre Erzählzeit im Stile der Oral History wiederzugeben. Die fortschreitende Créolisation der karibischen Gesellschaft demonstriert Condé mittels ihres Protagonisten, der mit beiden Frauenfiguren, mit der Mulattin Cathy und der Weißen Irmine, Kinder zeugt. Im Gegensatz zu Glissant migrieren die Figuren in diesem Roman von Condé ausschließlich innerhalb des karibischen Archipels. 258 Vgl. Glissant: 1997c, 20. 259 Ebd., 308.

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jalousie avait mordu dans leurs chairs. […] Odono vendit Odono. Un frère trafiqua son frère pour le déportage. […] à l’heure de ce four nul ne pouvait préciser lequel alimentait ainsi de sa viande la fabrique de fumée. Si c’était le trahissant ou le trahi? Qu’il ne le dirait pas et qu’il consentirait seulement à reconnaître qu’Odono était là pour agoniser.«260

Eine Anspielung auf die Geschichte der rivalisierenden Brüder, Kain und Abel, ist offensichtlich. Die Undurchdringlichkeit der Ereignisse und der Mangel an Zeugenschaft lassen aus der Geschichte um Odono nachträglich eine »Legende« werden, wonach Odono in einer Version als Marron und in einer anderen als Sklave auftaucht. Odono ist Verräter und Verratener, Bruder und Feind, Täter und Opfer, Toter und Überlebender zugleich. Eine solche digenèse bestreitet die Abwesenheit eines eindeutigen, rekonstruierbaren Ursprungs. Sie kreist statt dessen um den »trou du passé«261, welcher letztlich unergründlich bleibt. Außerdem illustriert Glissants Kunstgriff die moralische Ambivalenz des Menschen. Das folgende Zitat illustriert die Uneindeutigkeit und das daraus resultierende Wuchern, die Proliferation der Erzählung und die Multiplikation der Figuren: »Tous demandant sans arrêt qui donc, qui ça donc avait laissé dans ce charbon ses os-de-cuisse noircis? Le trahissant ou le trahi? Que la légende mûrit comme un balan de piment en touffe; qu’elle éclate dans la branche où la nuit monte et s’installe, qu’elle descend en lumière audessus de la mare, qu’elle tombe en éclats dans une source où les chiens vont boire, qu’elle multiplie Odono dans le cœur de ceux qui marchent sans savoir, mangent sans penser, boivent sans avoir soif. Qu’elle devient Odono qui meurt et Odono qui va survivre […].« 262

Genau an diesem Punkt in Aas Rede bricht die Erzählung im Zentrum des Romans zusammen; von da an scheint die Vervielfachung der »légende«, die »procession des dédoublés«, so der Titel des nachfolgenden Kapitels, nicht mehr enden zu wollen. Odono verschmilzt mit der Figur namens Aa (»Aa qui s’était choisi le premier nom par rang d’ordre dans la langue des déporteurs«263 ). Die Figur Aa könnte den Beginn einer (okzidentalen) Syntax verkörpern, davor liegt nur der Laut Odono. Aa, der ebenfalls von einem Freund verraten worden war, erzählt die ›Gründungsgeschichte‹ der Odonos, aber er wendet sich dabei nicht an seine Folterer, sondern nach innen bzw. an die »seigneurs des bois«: »Criant (dans sa tête) que le vent de la falaise résonnerait dans chaque coin de cette terre et reviendrait toutes les dix générations hanter les arbres et les gens. [...] Disant que ce qu’il confiait là, il l’avouait aux seigneurs des bois qui du haut de leurs feuillages roux et mauves se penchaient sur sa mort […].«264

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Glissant: 1981, 166. Ebd., 126. Ebd., 166f, Herv. N.U. Ebd., 167. Ebd., 165.

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Die Herren des Waldes referieren auf den ersten Genozid in der Karibik, auf die ausgelöschte ›indigene‹ Bevölkerung, von denen berichtet wird, dass sie den Tod dem Überleben in Versklavung vorgezogen hätten: »[…] les vieux chefs indiens […] avaient commandé à leur peuple de prendre le chemin de cette falaise. Puis il [Aa] se tut […] car il voyait le peuple des vieux chefs indiens avancer vers la falaise. Les femmes, portant les enfants, qui continuaient simplement à marcher dans l’air au-dessus du rocher blanc d’écume et qui tombaient par grappes […] les anciens, la tête voilée de feuillages épais, qui avaient renoncé à vois une dernière fois le soleil rouge au couchant, les chefs ensuite, la face au contraire levée pour une suprême malédiction, et le vieillard, l’ancêtre qui désormais s’étendrait sur son peuple englouti comme une couverture éternelle contre les pluies et la fureur des tempêtes, lui le dernier, les poings levés de chaque côté de la tête.« 265

Die ›indigene‹ Gemeinschaft wählte – folgt man dem Roman – den Tod statt wie die deportierten Afrikaner und Afrikanerinnen die ›Anpassung‹ und damit den ›Verrat‹. Glissant variiert zudem ein weiteres Mal durch die Doppelung handlungstragender Figuren die Urszene des Verrats zwischen zwei Männern. Odono und Aa überlagern sich; Aa wird schließlich zu einem Schrei der Qual, der von seinen Folterknechten grausam durch eine in den Mund geschobene Fackel ermordet wird: »Et […] se postant [l’un des bourreaux] devant l’enfumé, le regardant droit dans les yeux ou dans ce qu’on pouvait deviner être les yeux, et décidant joyeusement: ›Allons, c’est assez, mettons fin à ces discours enflammés‹, il lui planta un brandon dans la bouche.«266 Aas »discours enflammés« werden mit Gewalt erstickt.267 Das zentrale Kapitel »Actes de guerre« des mittleren Teils »Mitan du temps« von La Case du commandeur, in dem der Leser bis zu den beiden Odonos, bis zur »folie du cyclone«268 , zurückgeführt wird, zielt jedoch nicht auf eine kathartische Auflösung der Problematik enteigneter Subjekte. Vielmehr kollabiert der Text an dieser wichtigen Stelle.269 Die Konstruktion der mehrfach gestaffelten Generations- und Er-

265 Ebd., 163-165, Herv. N.U. 266 Ebd., 167. 267 Diese Szene erinnert nicht zufällig an Chamoiseaus Roman Solibo magnifique, in dem der titelgebende Protagonist an einer »égorgette de la parole« (eine Art Spracherstickungstod) stirbt. Beide Romane nehmen die Forderung nach einer Präsenz der Stimme (parole) der Subalternen in der Geschichte auf. Solibo gibt sein Wissen an die Landschaft weiter, denn sein Kadaver verwest an einem öffentlichen Ort, sprich, seine Fähigkeiten kompostieren sich im Boden. 268 Glissant: 1981, 17. 269 Der Roman Malemort kreist ähnlich wie La Case du commandeur um einen spezifischen narrativen Kern. Im Epizentrum von Malemort, Kapitel »Tombé lévé (1788-1974)«, tauchen zahlreiche anonyme Opfer überlieferter Marronnage auf, alle sind anonymisiert: »des marrons«, l’homme la femme«, »l’enfant« (Glissant: 1997g, 117-136). Das Kapitel verfügt mit ganz geringfügigen Ausnahmen weder über Groß- und Kleinschreibung noch über Interpunktion. Durch die Raffung der erzählten Zeit (fast 200 Jahre, von der Ankunft des ersten Longoué/Béluse auf den Antillen 1788 bis zum Jahr der Niederschrift des Romans 1974) auf eine stark verkürzte, ineinander fließende Erzählzeit (20 Seiten), erzielt

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zählebenen bricht in diesem Teil zusammen. Der gesamte mittlere Teil »Mitan du temps« ist von einem starken Zersetzungsprozess durchzogen, was sich an den fragmentierten Namen (»Aa«, »Bb«) oder der völligen Anonymität einzelner Figuren zeigt (»la femme sans nom«, »n’importe quel colon«, »l’homme«, »la femme déjà ridée«, »la fille«, »Soldat«, »Chinois«, »Saint-Assez«). Glissant geht es um mythologische Spuren, um die ersten Deportierten, die ersten vergewaltigten Frauen, die ersten Marrons.270 Der Text löst sich im Zentrum des »Auge des Zyklons« gewissermaßen selbst auf: »Le cyclone du temps noué là dans son fond: où il s’est passé quelque chose que nous rejetons avec fureur loin de nos têtes, mais qui retombe dans nos poitrines, nous ravage de son cri.«271 Ein rhizomorphes System ohne Zentrum entsteht, ein Netz, das von keiner anderen Struktur zusammengehalten wird als von der fortgesetzten Erzählung. »C’est dire […] que l’origine, dans cette histoire, et dans ce lieu, ne fut pas création, mais destruction, éclatement.«272 Die Nähe zum Epizentrum des Traumas lässt die Erzählung zusammenbrechen und eine »procession des dédoublés« wuchern; »le trou blanc du temps et l’absence blême d’un parler«273 generiert unaufhörlich Signifikanten »de cette histoire éternellement inachevée«274. Zudem spricht Glissant mittels der beiden Odonos ein Tabu anti-rassistischer Gutwilligkeit an, indem er den transatlantischen Sklavenhandel von Anfang an auch als eine kollaborative Unternehmung inszeniert. Der Glissant’sche Kunstgriff, zwei Männer, Verräter und Verratener, als erste Ankömmlinge zu setzen, markiert die grundlegende Ambivalenz zwischen Gut und Böse, Wissen und Nicht-Wissen in der Geschichte. Glissant setzt so die »ideale Falte« (Deleuze) bzw. »Zwiefalt« (Heidegger) als ein in sich verzweigtes Spiel von Ver- und Enthüllung auf literarästhetische Weise gekonnt um. Hier beginnt die Sinndispersion und irreduzible Polysemie der Texte, die nicht hermeneutisch oder finalisierend aufgelöst werden können. Unlösbar ist damit auch die Aufgabe, die von den Texten praktizierte dissémination zu präsentieren. Doppelung – Odono verkörpert Opfer- und Komplizenschaft zugleich275 –

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Glissant eine markante Beschleunigung des Erzähltempos. Der Leser wird so in den Strudel der Ereignisse hineingezogen. Es gibt beim Lesen aufgrund der fehlenden Interpunktion keinen Moment des Ausharrens, des Verweilens oder des Luftholens. Dem Leser ergeht es wie den drei Marrons auf der Flucht: »[...] ils restèrent là un moment à se reposer si c’était se reposer que d’écouter tout ce qui était dehors alentours [...]« (ebd., 118). In Ormerod geht es erneut um die Ambivalenz des ersten Täters und Opfers, »celui-ci« vs »celui-là«, »le premier conquistador« vs »le premier Indien en quelque sorte« (Glissant: 2003, 51-56). Daher trägt Kolumbus bei Glissant den Namen Cristóbal Colón (ebd.). Glissant: 1981, 137. In Ormerod erwähnt der Erzähler, dass Photographien »ne prennent pas les cyclones, vous fixez les ravages et les dévastations mais la puissance et l’énergie de ce cyclone où est-elle, ni la moindre petite tempête ni les tremblements de terre« (Glissant: 2003, 105, Herv. i.O.). Chancé: 2001, 181. Glissant: 1997g, 71. Glissant: 1981, 110. Sigrid Weigel weist darauf hin, dass sich die Eindringlichkeit des Traumabegriffs bislang vor allem aus der Opferperspektive speist, doch traumatische Erlebnisse sind nicht nur auf Seiten der Überlebenden gespeichert, sondern zeugen sich auch auf Seiten der Täter

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steht am chronologischen Anfang der karibischen Chronik und wird in die doppelte Genealogie von Longoué und Béluse, in die Doppelstrategie von Widerstand und Anpassung, überführt. In Le Quatrième siècle lesen wir: »que Béluse ait pu vivre mort-né sur la propriété Senglis, alors que Longoué s’en était allé loin de la Côte, dans la forêt sur les mornes.«276 Glissant als literarischer Chronist vermeidet so, die Perspektive der Opfer absolut zu setzen und koloniale Herrschaftsgeschichte lediglich zu negieren.277 Eine Rückwendung zu einer afrikanischen Vorgeschichte ist für Glissant ebenfalls keine Lösung. Die Ankunft der Sklaven in der Neuen Welt markiert für ihn nicht Endpunkt einer Geschichte, sondern deren Anfang. Er kritisiert einen Umgang mit der Vergangenheit, der die Gegenwart nur als Endpunkt einer kausal verknüpften Vergangenheit begreifen kann und den Menschen so an eine unveränderliche Vergangenheit kettet. Für Glissant ist Geschichtsschreibung eine Frage der Erinnerung und der bewussten Perspektivenwahl, denn es macht einen Unterschied, ob die Nachfahren von Sklaven sich als Opfer oder Überlebende der Geschichte begreifen. Glissant wendet sich gegen einen Umgang mit der karibischen Geschichte, der aus dem Bedürfnis nach Identitätsstabilisierung ethnische Unterschiede und Opfer-Täter-Differenzierungen fortschreibt. Gegen eine nostalgische Sehnsucht nach einer eindeutigen Herkunftskultur setzt Glissant das Gewicht auf ein in der Gegenwart wirksame hybrides Erbe. Ohne den fundamentalen Gegensatz zwischen Herrschern und Beherrschten abzumildern, zeigt Glissants Erzählgebäude Räume des Übergangs und der Durchlässigkeit. Odono ist darüber hinaus die Figur, mit Hilfe derer der Erzähler eine Stimme findet, die das Unglaubliche zu vermitteln versucht: Tod und Überleben. Was Giorgio Agamben im Anschluss an Adorno, Lyotard u.a. hinsichtlich der Unmöglichkeit der Zeugenschaft über die Shoah formuliert hat, lässt sich auch für die Sklavengesellschaft konstatieren. Für Agamben ist die Shoah

und ihrer Nachgeborenen fort, wie die Nachgeschichte von Auschwitz zeigt (vgl. Weigel: 1999, 58). Diese Beobachtung lässt sich zweifellos auch auf den antillanischen Raum anwenden und findet bei Glissant seinen Ausdruck. Glissant entgeht durch den Kunstgriff der Doppelung einer Remythisierung einer ererbten Opferposition. Denn aus einer ausschließlichen Fixierung in der Opferposition erwächst eine nicht unproblematische Imagination von Reinheit. 276 Glissant: 1997c, 43. So stellt Glissant die kapriziöse Mulattin Hernancia als Persönlichkeit dar, die sich in ihrer Rolle als Lieblingsmätresse des Plantagenbesitzers zahlreicher Privilegien erfreut. Die Geschichte vom ersten schwarzen Aufseher in den Plantagen, der sich mit den Werten des Besitzers identifiziert und seine eigenen Leute malträtiert, durchbricht auch die Vorstellung von einer einfachen Zuordnung in ein Lager der ›guten Schwarzen‹ und der ›bösen Weißen‹. Zudem spart Glissant auch anhand der Figur von Mycéa den Anteil nicht aus, den die Afrikaner selbst – aufgrund innerer oder äußerer Zwänge – an ihrem Leid hatten: »Et un jour elle cria que nous avions depuis toujours tué nos enfants, que les mères les étouffaient à la naissance, que les frères trafiquaient les frères« (Glissant: 1981, 224). 277 Blümig (2004, 145) hält ferner fest: »Der Verrat bildet das Bindeglied zwischen Afrika und den Antillen und fungiert als Brücke über das ›grand trou que le temps a sauté d’un seul coup‹.«

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»[…] in doppeltem Sinn ein Ereignis ohne Zeugen: Es ist ebenso unmöglich, aus dem Inneren her davon Zeugnis abzulegen – denn es ist nicht möglich, aus dem Innern des Todes Zeugnis abzulegen, es gibt keine Stimme für das Verschwinden der Stimme – wie von außen her – denn der outsider ist per definitionem vom Ereignis ausgeschlossen.«278

Nach Agamben »sind die Zeugen von Auschwitz weder die Toten noch die Überlebenden, weder die Untergegangenen noch die Geretteten, sondern das, was als Rest zwischen ihnen bleibt«279. Man kann nur von den Umständen sprechen, die den Untergang herstell(t)en. »Nur die Toten könnten lückenlos bezeugen. […] Nur die Toten könnten vollständig berichten. Doch sie haben eben keine Stimme«, so Peter Herr in seiner Reflexion zu filmischen ›Holocaustkomödien‹.280 In diesem Sinne versucht Glissant in seinem Romanwerk über die Doppelung der Figuren und die Multiplizierung der Geschichte(n) und Erzählinstanzen der Undarstellbarkeit der Sklavengesellschaft gerecht zu werden und aus dem non-lieu einen lieu commun zu machen. Glissant erfindet Anspielungen auf ein Denkbares, das nicht dargestellt werden kann. In seinem späteren Roman Sartorius von 1999 taucht der Name Odono zu Beginn ausschließlich in doppelter Nennung auf: »La répétition traditionnelle Odono Odono […] correspondait à la pratique d’hésitation et de suspens.«281 Er wird sogar noch weiter um die weibliche – phonetisch gleichklingende – Form, Odonoo, erweitert.282 Verweist der Name Odono in La Case du commandeur ausdrücklich auf zwei Sklaven, die um 1715 auf die Antillen verschleppt wurden, so taucht in Sartorius Odono als Gott und als Mitglied eines allgegenwärtigen Kollektivs auf, also erneut in einer weiteren Doppelfunktion. In Ormerod (2003) schließlich taucht Odono in der angehängten fiktiven »Datation« als erster Vertreter der Batoutos auf, einer imaginären Gemeinschaft auf den Antillen um 1540.283 Einen weiteren conte, neben den Geschichten um Odono, stellt das kreolische, gewaltvolle und opake Märchen vom »poisson-chambre« dar, welches der Sklave Ozonzo in La Case du commandeur immer wieder seiner Adoptivtochter Cinna Chimène erzählt. Es lässt sich ebenfalls als eine der vielgestaltigen antillanischen ›Nullpunkte‹ interpretieren.284 Der riesige und groteske Zimmer-Fisch erinnert an Leviathan, ein Seeungeheuer der jüdisch-christlichen Mythologie, welches in der Regel als Allegorie für die vernichtende Kraft des Meeres steht. In dem kreolischen

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Agamben: 2003, 31. Ebd., 143. Herr: 2007, 231. Glissant: 1999a, 40. Vgl. ebd., 39. Glissant: 2003, 362. So beginnt Glissants Datierung mit dem Eintrag »Fin du Crétacé: Formation géologique de l’Archipel« und springt dann unmittelbar zur Eroberung und dem Sklavenhandel»1492-1502: Débarquements de Cristobál [sic] Colón, 1510-1860: Traite des Africains, légale et clandestine, 1540 environ: Odono, premier Batouto aux Antilles […]« (ebd.). 284 Verkörpert der ›mythe‹ die eine Ursprungserzählung eines Volkes, die mit Hilfe von Daten genau zu verorten ist, so kann der ›conte‹ auf verschiedene Weise erzählt werden, da er mündlich überliefert wird.

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Märchen begegnen wir hingegen einem ›zivilisierten‹ Ungeheuer, welches über unterschiedliche Zimmer in seinem Innern verfügt, die metaphorisch für die Zusammensetzung der antillanischen Plantagengesellschaft stehen: »Dans le poisson il y avait une grande grande chambre avec tout le détail de la richesse […]. Qui l’eût cru? Nul n’eût cru. C’était le poisson-chambre. Chambre n’est pas pour dormir, mais pour faire la literie, pas pour mettre la robe de nuit, pas pour mener la rêverie. Chambre est pour compter l’argenterie et ordonner tout le profit. […] Eh bien bon, la trappe que tu vois au fond, elle te jette dans le plus bas, où même ces flambeaux-là sont comme la fleur de l’aveuglement. On a mis là tous ceux qui sont marqués pour le déportage. Qui a mis là? Le poisson-chambre a mis là. Écoute si madame la nuit croise ses bras pour crier qu’il y a mentir? La nuit ne crie pas.«285

Celina Martins deutet den Bauch des »poisson-chambre« als Allegorie des allesverschlingenden und pervertierenden kolonialen Systems, welches Unterdrücker und Unterdrückte in Automaten verwandelt: »Tous deux participent à un système infernal qui les asservit et les rend méprisables: le colon […] et le noir humilié […] sont avalés par le ventre dévorateur de l’expérience coloniale.«286 Der Zimmer-Fisch, der auf den Abgrund zusteuert, ist das trostlose Gegenstück zur Arche Noah, welche die Sintflut überwindet und Rettung bringt. Für Glissant stellen die kreolischen Märchen der Antillen den Mythos der Schöpfung in Frage: »Les contes créoles des Antilles, par exemple, mettent en question ou en vertige le mythe de la Création. On y voit un dieu tâtonnant s’y reprendre à plusieurs fois pour créer l’Antillais, selon le temps que ce dieu laisse dans son four cosmique la boue dont il veut faire un être: trop brûlé, ou pas assez, ou trop peu cuit. L’idée du conte est de contester ainsi l’absolu et le sacré de toute genèse. Ou au moins de ne pas lier une pensée de l’absolu ou du sacré à ce commencement mythique.«287

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Glissants karibische Saga bildet eine Art Gründungsgeschichte der Vernichtung und des Überlebens und dem damit verknüpften Chaos. Die Identitätssplitterung wird in ihren Fragmenten vorgeführt und gleichzeitig durch das weitverzweigte, rhizomatische Familienmodell kompensiert. Familienmodelle verknüpfen unausweichlich Fragen nach Herkunft, Verortung und Bedingtheit miteinander. Valérie Loichot nennt es eine »Familiengrammatik«: »Glissant’s fiction invents a genealogical grammar in which familial roles are redistributed: fathers and masters are deauthorized, daughters name or create their own parents, women escape forced maternity conflated with economic breeding and violent

285 Glissant: 1981, 64. Es wird deutlich, dass Glissant seinen Erzählstil dem jeweils Sprechenden, hier der Sprechweise des kreolischen Erzählers, anpasst. Zahlreiche Wortwiederholungen und Redewendungen (z.B. »Qui l’eût cru? Nul n’eût cru.«), wie sie für das mündliche Sprechen charakteristisch sind und das märchenhafte, kreolische FrageAntwort-Spiel zeugen davon. 286 Martins: 2005, 170. 287 Glissant: 1996b, 266f.

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sexuality by claiming narrative agency.«288 Glissants genealogisches Modell unterstreicht trotz aller Diskontinuitäten und Umkehrungen eine graduelle Zusammengehörigkeit und Kontinuität. Durch die Engführung der beiden Familien Béluse und Longoué markiert er zudem eine familienübergreifende Kreolisierung zwischen Überlebenstechniken der Deportierten. 4.4.2 Trauma und Opazität Glissant spricht in seiner Poétique de la Relation von einer »esthétique de la turbulence«289 , die mit der Unerzählbarkeit und Unbearbeitbarkeit von Traumata einhergeht. Trauma meint, so Kasper, »eine Verwundung des Gedächtnisses, eine unheilbare Lücke«290 , »eine uneinholbare Lücke, […] eine nicht zu reparierende Zerstörung«291 Das Trauma markiere das Nicht-Darstellbare, das die Ursache dieser Verwundung sein mag und es sei aus der Sprache, aus dem Bewusstsein weitgehend ausgeschlossen.292 Ein Kennzeichen des Traumas scheint geradezu im ständigen Bedeutungsaufschub zu liegen. Hier zeigen sich Übereinstimmungen mit Derridas Begriff der différance, der die beiden Bedeutungen von ›Differenz‹ und ›Verschiebung/Aufschub‹ umfasst. Das Trauma ist einerseits unfassbarer Bestandteil des Unbewussten – es lässt sich nicht bewusst erinnern – und andererseits macht es sich dauernd im Individuum bemerkbar. Kasper schreibt weiter: »Das Trauma ist jene Größe, die jenseits jeder Form der Repräsentation und jeder Form von Gedächtnisarbeit (Bewältigem, Trauern, Durcharbeiten etc.) liegt.«293 Das Trauma schreibe sich aber über den Körper dauerhaft ein wie Aleida Assmann formuliert: »Wenn der Affekt ein zuträgliches Maß übersteigt und in einen Exzeß umschlägt, dann stabilisiert er Erinnerungen nicht mehr, sondern zerschlägt sie. Das ist beim Trauma der Fall, das den Körper unmittelbar zur Prägefläche macht und die Erfahrung damit der sprachlichen und deutenden Bearbeitung entzieht. Trauma, das ist die Unmöglichkeit der Narration. Trauma und Symbol stehen sich in gegenseitiger Ausschließlichkeit gegenüber; physische Wucht und konstruktiver Sinn scheinen die Pole zu sein, zwischen denen sich unsere Erinnerungen bewegen.«294

Das Trauma widersetze sich der Integration des Gewesenen in einen kontinuierlichen Sinnzusammenhang.295 Während die Verarbeitung individueller Traumata sich in der Psychoanalyse zum Ziel setzt, die Wunde zu schließen und den mit dem Trauma ein-

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Loichot: 2007, 37. Glissant: 1990, 169. Kasper: 2003, 288. Ebd., 147. Vgl. ebd. Ebd. Assmann: 1999, 264. Aleida Assmann unterstreicht die Widersprüchlichkeit der latenten Präsenz einer kontinuitätszerstörenden Erfahrung: »Das Trauma kann man […] als eine dauerhafte Körperschrift bezeichnen, die der Erinnerung entgegengesetzt ist« (ebd., 247). 295 Vgl. Kasper: 2003, 288.

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hergegehender Wiederholungszwang zu beenden, besteht der Appellcharakter eines historisch-kollektiven Traumas darin, die Wunde offen zu halten, um ein Eingedenken für nachfolgende Generationen zu gewährleisten. Alfonso de Toro stellt Stuart Halls Konzept vom »Denken auf der Grenze«296 den für unseren Kontext hilfreichen Begriff der »Verwindung« zur Seite, um die postmoderne/postkoloniale Arbeit einer kritischen Erinnerung, réécriture und Re-Lektüre des modernen europäischen Denkens zu markieren.297 Verwindung steht im Kontext von und zugleich in Differenz zu psychoanalytischen Ansätzen – Freud unterscheidet zwischen Wiederholung, Erinnerung und Durcharbeitung –, aber eine endgültige, heilende Überwindung ist fraglich und in der Kulturanalyse, etwa Glissants, bewusst nicht gewollt. Die interdisziplinäre Reise des Trauma-Begriffs von einem klinischen Konzept in die Kulturgeschichte eröffnet neue Perspektiven, denn, »[…] über den Begriff des Traumas [rückt] das Unzugängliche und Uneinholbare der ›eigenen‹ Geschichte in den Blick, das, was in das subjektive und historische Wissen nicht integrierbar ist: als ob geschichtliche ›Erfahrung‹, gar die Referenz auf ›Authentisches‹ so in den Diskurs wiedereingeführt und an einem Ort aufgesucht werden kann, an dem die Brüche und Aporien des Verstehens, der Repräsentation, der Mitteilbarkeit und der Referentialität, die im Zusammenhang poststrukturalistischer Bedeutungstheorie verhandelt wurden, sich nicht erledigt haben, sondern gerade (wieder) akut werden. Insofern könnte das Versprechen des TraumaBegriffs auch damit zusammenhängen, daß sich über ihn poststrukturalistisches Denken mit Politik und Ethik verknüpfen läßt.« 298

Die hier vorgenommene Übertragung ursprünglich psychopathologischer Begriffe in kulturelle Deutungsmuster wird in der psychologischen Fachwelt teils scharf kritisiert, was kurz erläutert werden soll. Beanstandet wird, dass die therapeutische Zielsetzung von Linderung und Heilung zuweilen in ihr Gegenteil verkehrt wird, indem immer wieder die Unverfügbarkeit traumatischer Erlebnisse konstatiert wird und so das Trauma als »heiliger Gegenstand und Objekt quasireligiöser, intellektueller Huldigung«299 fungiert. Weiterhin wird kritisiert, dass die Kulturwissenschaft nicht von individuell erlebter Gewalterfahrung und seelischer Verletzung ausgeht, sondern einen Trauma-Begriff verwendet, der mit »eine[r] latente[n] Auratisierung von mentaler Verletzung, mithin Gewalt verbunden ist«300. Indem ferner über jede individuelle Erfahrung hinaus ein »traumatischer Kern am Nabel aller Identitätssysteme«301 nahe gelegt wird, verkomme das Trauma zu einer abstrakten Basiserfahrung, die allen

296 Im englischen Original heißt der Aufsatz »When was ›the post-colonial‹? Thinking at the limit«, vgl. Hall: 1997. 297 Vgl. Toro: 1995b, 136f., Sieber: 2005, 12 und 71. 298 Bronfen/Erdle/Weigel: 1999, vii. 299 Weilnböck: 2007, 27. Weinberg merkt an, dass aus psychoanalytischer Sicht die Frage nach Heilbarkeit eines Traumas sehr nahe liegt, bei der Betrachtung des Traumas als kulturellem Deutungsmuster hingegen geht es vielmehr um die Funktion des Traumas innerhalb einer ›Ökonomie der Kultur‹, vgl. Weinberg: 1999, 173. 300 Weilnböck: 2007, 12. 301 Bronfen, zit. nach: Weilnböck: 2007, 11.

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Menschen zu Eigen sei. Dies befördere eine »postmoderne Ontologisierung des Traumas«302 , in der das Trauma in problematischer Weise ästhetisiert würde. Hier lässt sich gegenhalten, dass Psychoanalyse und Kulturanalyse im Hinblick auf Traumabearbeitung nicht die gleiche Zielsetzung haben. Die Anwendung des Trauma-Begriffs in der Kulturanalyse lässt einen anderen Blick auf Moderne zu und rückt, wie Bronfen u.a. im obigen Zitat erläutern, »das Unzugängliche und Uneinholbare in den Blick«. Brüchige, marginale und verdrängte Erinnerungen lassen sich in der Tat nicht ohne weiteres in eine geschlossene Erzählung überführen, sondern verlangen in besonderer Weise nach einer Auseinandersetzung auf der formalästhetischen Ebene. Ein kollektives Trauma entzieht sich einer vollständigen Historisierung und Symbolisierung, d.h. einer vollkommenen Verfüg- und Erschließbarkeit. Ein vornehmlich in der Tradition der Aufklärung stehender Geschichts- und Analysebegriff, dessen Ziel es wäre, alles gänzlich zu verstehen,303 greift hier zu kurz. Die Rede vom Trauma verweist, so Weigel, auf eine »Sprache der Erinnerung, die sich auf ein vergessenes Ereignis bezieht, das in ihr verborgen und verschlossen bleibt, während sich deren Ökonomie und Bewegungen doch weiterhin von ihm herschreiben und fortzeugen«304. Judith Kasper hält in ihrer Studie zur Gedächtnisforschung Sprachen des Vergessens (2003) fest, dass das Vergessen keine direkte Entsprechung in der Sprache habe und daher nur über den Umweg der Erinnerung thematisiert werden könne; es manifestiere sich als Schatten im Text, der das rational geprägte Erinnerungsprojekt kontaminiere.305 Übertragen wir dies auf die Ästhetik Glissants: Innerhalb des verfügbaren Wissens kann sich das Trauma der Deportation und Sklaverei – auch mangels gesicherter empirischer Forschung ist das Ausmaß des Verbrechens nicht abschließend quantifizierbar, denn es gibt keine genaue Zahl der Opfer des transatlantischen Sklavenhandels – bloß durch Opakes, Lücken, Risse, Spalten, Brüche, Falten oder Leerstellen als Erschütterung bzw. Verletzung des Diskurses äußern. Glissant formuliert in Ormerod: »la langue du récit hésite au bord de ses obscurités.«306 Eine solche »pensée du Tremblement«307 ermöglicht einen graduellen, unsicheren Zugang zu traumatischer Geschichte. Es geht ausdrücklich um Annäherungen an die Vergangenheit in Form vielfältiger »contes opaques«, »bribes de prophéties« und »relents balbutiés de savoir«.308 Glissants Literatur beabsichtigt nicht das Trauma schlicht unverfügbar zu lassen, wie es die Psychoanalyse den Kulturwissenschaften vorwirft. Es geht ihm

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Weilnböck: 2007, 19. Vgl. ebd., 8 u. 52. Weigel: 1999, 51f. Vgl. Kasper: 2003, 14f. und 19. Glissant: 2003, 95. Glissant: 2005a, 12. Bereits Lyotard kollektivierte und nobiliterte den Trauma-Begriff, um eine ›Krise der Repräsentation‹ zu signalisieren: »Er [Lyotard] ist ein Anwalt des Traumas als unbefriedetes Vergessen, weil er davon ausgeht, daß nur in dieser Form eine stabile Kontinuierung des Holocaust im kulturellen Gedächtnis geleistet werden kann« (Assmann: 1999, 262). 308 Glissant: 1997f, 60.

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vielmehr um das Recht auf Opazität angesichts einer undurchdringlichen, teils unsichtbaren und unbestimmten Geschichte. Sein Werk verortet sich zweifellos in dem Spannungsfeld von Orientierungsleistung und Unverfügbarkeitserfahrung. Hier erinnern wir uns an Lyotards Konzept des Widerstreits, demzufolge heterogene Diskurse grundsätzlich gleichberechtigt und legitimiert sein sollten.309 Das zielt nicht auf die Abschaffung von Referenz, sondern zunächst auf Öffnung, Pluralität und Diskursgerechtigkeit von Stimme(n) und Gegenstimme(n). Eine Verständigung darüber, dass Kultur und Wissen stets zirkulieren und keinen festen Eigentümer haben, führe dazu, dass die subalternen Stimmen aufgewertet würden. Das Ende der jeweils einen großen Erzählung eröffnet die Möglichkeit einer Vielfalt heterogener Geschichtskonstruktionen, Gedächtnisse und Lebensweisen, denn, so Glissant in seiner Schrift Une nouvelle région du monde: »Le monde est inextricable, mais nous apprenons de plus en plus à vivre et à penser cet inextricable.«310 Erst wenn alle »non-dits de nos histoires soient conjurés […] nous entrions, tous ensemble et libérés, dans le Tout-monde.«311 Voraussetzung dafür ist für Glissant, dass die Sklaverei als Verbrechen gegen die Menschlichkeit benannt und erinnert wird. Glissants zirkuläres Verfahren versteht sich als Kontrapunkt zur gradlinigen, kontinuierlichen Bewegung in der Welt, wie es die okzidentalen Kulturen entworfen haben. Letzteres fasst er unter den Begriff des »nomadisme en flèche«: »[…] il ne s’agira plus d’élargir le Lieu qui vous est donné et de constituer un Territoire de cet élargissement; il s’agira selon moi de mener le monde au Lieu où l’on est, tout en y restant, au monde. Il ne s’agit donc plus d’un mouvement uniligne, d’un nomadisme en flèche; il s’agit d’un mouvement circulaire dans lequel sont impliqués à la fois les Lieux du monde qui ont tenté de se constituer en Territoire et les Territoires du monde qui tentent aujourd’hui de se constituer en véritables Lieux.«312

Die steten Dekonstruktionsbewegungen setzt Glissant literarisch durch unentwegte Figuren-, Raum- und Zeitdoppelungen um. Auf diese Weise gelingt ihm die Integration von Brüchen und der verdrängten, verschütteten Stimmen in das Kontinuum der Narrativität sowie – wenn auch fragmentiert – die Darstellung der verschwiegenen Vergangenheit in französischer Sprache. Interessant ist, dass das Gedächtnis, vor allem das Gegengedächtnis und die Erfahrungen der bislang ausgeschlossenen Menschen aufgewertet werden. Glissants Zielsetzung ist in diesem zentralen Punkt ambivalent. Einerseits betont er die Bedeu-

309 Lyotard betont zu Beginn seines Essays Der Widerstreit: »Im Unterschied zu einem Rechtsstreit (litige) wäre ein Widerstreit (différend) ein Konfliktfall zwischen (wenigstens zwei) Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt. Die Legitimität der einen Argumentation schlösse nicht auch ein, dass die andere nicht legitim ist. […] Der Titel des Buches legt […] nahe, dass eine universale Urteilsregel in bezug auf ungleichartige Diskursarten im allgemeinen fehlt« (Lyotard: 1989, 9). 310 Glissant: 2006b, 209. 311 Ebd., 201, Herv. i.O. 312 Glissant: 1997e, 65f.

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tung der Erinnerung: »c’est la mémoire qui nous sauvera de la névrose«313 , und er appelliert daran, die »traces latentes« aufzustöbern: »Parce que la mémoire historique fut trop souvent raturée, l’écrivain antillais doit ›fouiller‹ cette mémoire, à partir de traces parfois latentes qu’il a repérées dans le réel.«314 Andererseits weiß er um die Undurchdringlichkeit der Geschichte. Glissant umschreibt das Unsagbare, Unerzählbare und unterstreicht so die zentrale Wirksamkeit von Literatur, allgemein von Kunst, in besonderer Weise. Wie auch Michel Le Bris anmerkt, »[…] [p]arce que son propos [de l’écrivain, N.U.] est de tenter de dire l’indicible – sinon, pourquoi diable aurions-nous besoin de littérature? Tout serait dit, depuis longtemps, nul besoin de faire tant d’histoires! Mais voilà: n’en déplaise aux maîtres penseurs, tout n’est pas signes et système de signes.«315 Durch seine performative Erzählweise verweist Glissant auf die innere Brüchigkeit und Gespaltenheit seiner imaginären Anti-Genealogien.316 Sabine Broeck hat in Anlehnung an Hortense Spillers speziell für Toni Morrisons preisgekrönten Roman Beloved, aber durchaus verallgemeinerbar für die African-American Community festgehalten, dass sie sich »anstelle einer patriarchalischen ungebrochenen genealogischen Linie […] nur eines Erbes von Brüchen, Verlusten, Abwesenheiten und Zerstörungen der Generationenabfolge gewiss sein kann«317 . Beloved biete eigentlich – wenn auch von den Kritiker/innen viel zu häufig übersehen – gerade keine kathartische Narration an: »The novel does not produce cathartic narrative text about the murder which ultimately could be integrated into Sethe’s recollections, her ›story‹.«318 An anderer Stelle präzisiert Broeck: »Die Passsagen in Beloved, die direkt auf das Trauma des Sklavenhandels eingehen, bleiben Sprachfragmente, die eher einem betäubten und bereits in sich zusammenfallenden Sprechchor ähneln als der kunstvollen narrativen Logik, die den Roman ansonsten charakterisiert.«319 Die Syntax sei zusammengebrochen, das Wortregister sei reduziert auf verzweifelte Wiederholungen, der Roman zeige den »verheerenden Verlust an menschlichem Leben gerade in der Entgleisung und im Verlust der Erzählbarkeit«320. Vergleichbare narrative Lücken oder Exzesse lassen sich für Glissants Schreibweise konstatieren, so dass sich beachtliche Parallelen innerhalb der Postplantation Literature auftun. Ob Morrsion oder Glissant, diese Romane funktionieren gerade in der Fuge der Untrennbarkeit der beiden Konzepte von verfügbarer und unverfügbarer Erinnerung. Die Texte sorgen für eine partielle Verfügbarkeit der Erinnerung, jedoch nicht, ohne die Verdrängung und Dis-Integration traumatischer Erfahrungen zu markieren. Diese Beobachtung lässt sich ganz grundsätzlich auf die psychoanalytische Arbeit ausweiten, die bekanntlich auf dem schmalen Grad zwischen Vergessenem/Verdrängtem

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Glissant, zit. n.: Chancé: 2001, 158. Glissant: 1997a, 227f. Le Bris: 2007, 46. In Anlehnung an Deleuze/Guattari: »Le rhizome est une anti-généalogie« (1980, 18 u. 32). Broeck: 2005, 105. Vgl. auch Struve: 2009, 307f. Broeck: 2006b, S. 211, Herv. i.O. Broeck: 2013a, 52. Ebd.

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und Erinnertem operiert. Bettina Rabelhofer weist in ihrem Aufsatz »Erzählen in der Psychoanalyse« auf die Ähnlichkeit zwischen Psychoanalyse und Literaturwissenschaften hin: »Dort, wo die Erzählung aufhört, enden wohl auch Kohärenz und Kontinuität des sich selbst gewissen Subjekts. Den Brüchen in der Erzählung entspricht das Fehlen einer kognitiv stabilisierenden Geschichte; […]. Krankheit und Leiden entstehen dort, wo die eigene Geschichte ins Unverstandene ausfasert, keine Erzählung die Wundränder der versehrten Psyche salbt, Narration wirkt der Zerklüftung des Selbst entgegen, inadäquate Berichterstattung über sich selbst verweist auf Abgründe und Risse, auf ›Fremdkörper‹ [Breuer/Freud] in der seelischen Organisation, […].«

Die Protagonistin Marie Celat aus La Case du commandeur ist, wie bereits erwähnt, »si véhémentement atteinte de cela«321. Schon in ihrem Nachnamen klingt die Analogie phonetisch an: Dieses Stammeln von einem cela verweist auf etwas Abwesendes, was dennoch präsent ist, aber nicht benannt werden kann. Das Konzept der Performativität schreibt symbolischen Handlungen eine selbstbezügliche Konstitutionsleistung zu, die das, was sie bezeichnen, zugleich hervorbringen. Entsprechend fasse ich Glissants Literatur als performativen Prozess auf, der erst durch Artikulation Geschichte erzeugt. So wird in dem epischen Roman Le Quatrième siècle jede eindeutige Zeitebene aufgegeben. Der Roman behandelt eine Zeitspanne von 1788 bis 1946, wobei Gegenwart als ein »passé qui continue«322 definiert wird: »Le présent est une feuille jaunie sur la tige du passé.«323 Genau wie La Case du commandeur verläuft dieser Roman in einem Zirkelschluss. Er beginnt und endet in der Mitte des 20. Jahrhunderts und führt spiralförmig in die weit zurückliegende Vergangenheit zurück.324 Glissants Infragestellung von herkömmlichen Datierungen durch seine Erfindung einer Geschichte spiegelt sich in Le Quatrième siècle mittels der Aufhebung von semantischer Kohärenz und Interpunktion wider: »[…] parce que le pays est à Béluse autant qu’à Longoué nous ne parlons jamais de Béluse il savait Béluse il savait ce qui était arrivé au-delà des eaux et ainsi le pays était avec lui partagé entre lui et Longoué jusqu’à ce jour où nous avons regardé toi et moi l’écume à la surface du temps, moi un jeune que tu prends encore pour un enfant et toi un débris un bout d’écorce que je prends toujours pour la science et la connaissance oui malgré les livres que je prends pour celui qui sait et qui dispose; mais voilà, tu es seul tu as fait ton marché tu es le Béluse des Longoué toute l’écume de la mer et du temps est montée à ta bouche ô papa […].«325

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Glissant: 1981, 226. Glissant: 1997c, 258. Ebd., 259. Mathieu wirft Papa Longoué vor: »Est-ce que tu ne peux pas proclamer les dates l’une après l’autre, – et finir de tourner, en avant en arrière? Tu tourbillonnes comme la poussière de Fonds-Brûlé, ho?« (Ebd., 245) 325 Ebd., 69.

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Glissants Respekt vor dem »tourbillon de mort«326, der eine Zerstörung von Generationen zur Folge hat, ist im Text verschriftlicht. Mittels literarischer Verfahren des Aufschubs, der Zersetzung oder gar durch den völligen Zusammenbruch des Narrativs schreiben seine Romane gegen sich selbst und verhindern so gezielt, das Trauma der Sklaverei abschließend zu erzählen.327 Das problematische Moment der traditionellen Geschichtsschreibung ergibt sich nicht allein dadurch, dass sie sich der Mittel der Narration bedient, sondern dass sie diese Funktionsweise wieder verschleiert und durch die Errichtung einer kohärenten Ordnung eine objektive Autorität behauptet. Erzählen ist für Glissant als »chroniqueur« gleichbedeutend mit »descendre en spirale, le plus à fond possible«328. Seine literarische Geschichtsschreibung geht immer auch von der Uneinholbarkeit und Unverfügbarkeit des eigenen Materials aus. Da all seine Texte die Deportation und Sklaverei thematisieren, bleiben auch sie nicht vom Sturm der Geschichte, »au maelström de notre temps passé«329, verschont. Der Glaube daran – wie Sabine Broeck mit Blick auf die Rezeption von Beloved festhält – »dass die ›gelungene‹ Erinnerung alle Wunden heilt, dass sie […] quasi Subjekte hervorbringt, die sich der Agens ihrer eigenen Wirklichkeit bemächtigen können, ohne von einer unterdrückerischen Vergangenheit ständig eingeholt zu werden«330, ist äußerst fragwürdig. Es bleibt immer ein Teil, der sich der Erzählbarkeit entzieht, ein abgespaltener Rest, der nur umkreist, aber nicht therapeutisch ›durchgearbeitet‹ werden kann. Als Leser/in wird man so in den Drehschwindel der Geschichte mit hineingezogen. 4.4.3 Telescoping von Erinnerung An der Schlüsselfigur der Mycéa mit ihrer nachträglichen Symptombildung zeigt Glissant eine transgenerationelle Traumatisierung und das Fortwirken der Deportation und Sklaverei im Unbewussten der antillanischen Gesellschaft. Das Trauma ist in ihr präsent, sie verkörpert es. Mycéa ist in La Case du commandeur diejenige, die in den historischen Abgrund (»le cataclysme primordial dont nous étions issus«331) hineinsieht, an dessen Rand sich der mittlere Teil des Romans unter der Überschrift »Mitan du temps« wie ein leeres Zirkelzentrum heranwagt. Sigrid Weigel nennt in Anlehnung an Haydée Faimberg diese Ineinanderrückung der Generationen »Télescopage im Unbewußten«332. Das Telescoping von Erinnerung, welche die Verfehlungen und Verluste der vorangegangenen Generationen und deren Trauer- und

326 Ebd., 68. 327 Deborah Hess spricht von der »effritement de la narration«, die die Unmöglichkeit eines »récit suivi« der antillanischen Geschichte verdeutlicht, vgl. Hess: 2006, 260. 328 Glissant: 1997f, 165. 329 Ebd., 19. 330 Broeck: 2005, 101. 331 Glissant: 1981, 30. 332 Weigel: 1999. Als Télescopage bezeichnete man die Form der teleskopartig ineinander geschobenen Waggons bei den Eisenbahnunfällen des 19. Jahrhunderts. An die Stelle der Waggons sei nun das Unbewusste getreten. Ein solches Konzept nimmt die nachträglichen »Spätschäden« (ebd., 66) in den Blick.

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Schuldabwehr einbezieht, überschreitet individuelle Biographien und projiziert eine »inter-personale Überschreitung der individuellen Symptome und die Übertragung der psychischen Umarbeitung verkapselter Erinnerungsspuren […] in die Dimension der Generationenfolge«333 . Das Telescoping als Weitertragen von unabgeschlossenen Erinnerungen in einer transgenerationellen Verschränkung, wie es bei Mycéa vorliegt, insgesamt die Anwendung psychoanalytischer Erkenntnisse auf das Glissant’sche Erzählverfahren, rechtfertigt einmal mehr, bei seinen Romanen von einer literarischen Form der Anamnese zu sprechen. Glissant selbst spricht von »contamination«334 der Generationen durch den Druck der Vorgeschichte, unter der Frauen und Kinder stärker leiden als andere. Mycéa als mythische Figur erinnert an Klees Bild vom Angelus novus und Benjamins Betrachtung vom »Engel der Geschichte« in seinen geschichtstheoretischen Thesen, in denen er eine Geschichte der Opfer und nicht der Sieger einklagt. 335 Dieser »Engel« wendet sich der Vergangenheit zu und erblickt dabei nur die Stationen der Zivilisationsbrüche, was einen beschädigten Geschichtsbegriff zur Folge hat. Geschichte ist bei Benjamin keine Kette von Begebenheiten, als Kontinuum betrachtet, sondern eine Ansammlung von Katastrophen unter Wahrnehmung der Trümmer. Benjamin datiert Geschichte nicht mehr nach Siegen und Entdeckungen, sondern nach Niederlagen und Verletzungen und fordert eine Geschichtsschreibung des Eingedenkens.336 Zu dem Ergebnis, dass Glissant eine ähnliche Rückwärtsbewegung wie Benjamin vornimmt, kommt auch Jean-Pol Madou: »Pour Glissant comme pour Walter Benjamin, il ne saurait y avoir d’avenir que si l’on libère le passé des mensonges de l’Histoire, que si l’on réveille les morts du sommeil des idéologies, que si l’on rassemble tous les vaincus de l’Histoire, afin de rendre la parole à ces milliers de voix anonymes dont le cri fut étouffé. Aussi l’Ange de l’Histoire – l’Angelus Novus de Benjamin – tourne-t-il résolument le dos à l’avenir, et le visage tourné vers le passé fixe-t-il en une vision extatique l’histoire comme un seul et unique événement. Il ne la voit plus comme une chaîne d’événements (comme le verrait Mathieu Béluse), mais comme un tout instantané, comme s’il n’y avait jamais eu qu’une seule et unique catastrophe dont les ruines déboulent à ses pieds (comme le verrait Papa Longoué).«337

Während der Historiker Mathieu Béluse den logisch-rationalen Diskurs und das okzidentale Wissen verkörpert (mittels Bücher, Archive) und sich selbst als »un personnage de livre«338 definiert – was er faktisch als eine Glissant’sche Figur auch ist –,

333 Ebd., 65. 334 Glissant: 1996b, 90, Herv. i.O. 335 Vgl. zu Benjamins Auseinandersetzung mit Geschichte und Gedenken auch das Kapitel zu dem puertoricanischen Schriftsteller Edgardo Rodríguez Juliá, in dem das Thema des Angelus novus ebenfalls eine zentrale Rolle spielt. 336 »Walter Benjamin hat der Geschichtswissenschaft als angeblich nicht interpretierender, objektiver Darstellung der Ereignisse der Vergangenheit mißtraut und ihr seinen Begriff des Eingedenkens entgegengesetzt« (Körner: 1992, 147). 337 Madou: 1992, 289. 338 Glissant: 1997f, 164.

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stehen Figuren wie Mycéa, »double féminin de Mathieu«,339 und Papa Longoué für den subalternen, verdrängten Diskurs, der sich der offiziellen Historiographie mit ihrer Einseitigkeit und Abgeschlossenheit widersetzen. Der Historiker Mathieu Béluse sucht immer wieder die Nähe zu Papa Longoué, um sich die Vergangenheit erzählen zu lassen.340 Dabei alterniert die mündliche, unchronologische, mythische Vergangenheitswahrnehmung von Papa Longoué mit dem analytischen Geschichtsverständnis von Mathieu und kulminiert in einer hybridisierten Schreibweise: »le bruit des voix accompagne les signes écrits«341 . In dem Nebeneinander der Stimmen und in der Collage der diversen histoires, ob mündlich überliefert oder schriftlich fixiert, ergibt sich schließlich ein breit gefächertes Bild von antillanischer Geschichte. 4.4.4 Gegenderte Traumadiskurse: Mycéa – eine karibische Antigone Glissant nimmt innerhalb seiner Saga eine klare Gender-Aufteilung vor: Frauen und Männer manifestieren weitgehend unterschiedliche Emanzipations- bzw. Traumadiskurse, die erst in der Korrelation Möglichkeiten bieten, in den Abgrund zu schauen und das Trauma zu verwinden, um so Gegenwart und Zukunft zu gestalten: »Aucun personnage ne peut, à lui seul, découvrir et dire le mystère.«342 In der Mehrzahl obliegt es den Frauen, für die Opfer- bzw. Überlebensgeschichte einzustehen. Besondere Bedeutung kommt dem Schlüsselpaar Mathieu Béluse und Marie Celat in der karibischen Familiensaga zu. Mycéa ist keine Figur, die am Fortschrittskonzept der Emanzipation teilhat (wie Mathieu als Intellektueller, Historiker und Forscher), sondern erinnert mit ihrer rückwärtsgewandten, trauernden Haltung eher an die Figur der Antigone.343 Mycéa verbleibt im Schmerz, im Zustand des Schreis und einer gewissen Sprachlosigkeit, eines Deliriums; ihr verrücktes ›Stammeln‹ wird von der Außenwelt nicht verstanden und hat die Einweisung in die Psychiatrie zur Folge. Vergleichbar mit Antigone wendet sich Mycéa dem Gewesenen und den Toten zu. Die männlichen Figuren hingegen streben nach Abschließen der Geschichte mit Blick in Richtung Aufbruch und Neubeginn:

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Charpentier: 1992, 275. Insbesondere in Le Quatrième siècle und Tout-monde. Glissant: 1997f, 176. Chancé: 2001, 223. Sigrid Weigel konstatiert insgesamt einen genderspezifischen Geschichtsumgang: »Während sie [Antigone] sich dem Gewesenen und den Opfern der Geschichte zuwendet, ist er [Kreon] damit beschäftigt, die Ordnung seiner Stadt bzw. seines Staates [...] neu aufzubauen. Während sie mit der Trauer beschäftigt ist, ist seine Arbeit als Wiederaufbau bzw. Gründungsarbeit zu verstehen. In ihren ungleichzeitigen Blicken auf die Geschichte, an der sie beide teilhaben, kommt auch eine je unterschiedliche Bezugnahme auf die Körper [...] zum Ausdruck. [...]. Während Antigone sich dem toten Leib ihres Bruders zuwendet, unterwirft Kreon die Toten einer Symbolisierung, indem er sie in Freund und Feind unterteilt und aus dieser Unterscheidung Gesetz und Ordnung seiner Herrschaft über die Stadt ableitet« (Weigel: 1990, 10).

424 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN »Marie Celat s’était donc arrêtée au bord de ce gouffre où nous avons jeté tant de roches, dessouchées du temps. Peut-être regarda-t-elle plus loin qu’aucun de nous dans le gouffre. […] la guerre finissant levait un balan d’air, un désir fou de quitter tout et de voler là-bas: oublions que le trou d’ici n’était pas comblé. Nous pensions avoir besoin d’oxygène, nous avions manque de terre.«344

Mycéa steht in Verbindung mit der »terre«, wohingegen die männlichen Figuren (angezeigt durch das kollektive nous durch Begriffe wie »quitter«, »voler«, »air« oder »oxygène« charakterisiert werden. Mycéa bleibt schließlich als Einzige auf der Insel; ihre maßgebliche Erfahrung ist weder das Schreiben noch das Reisen, sondern der Verlust ihrer beiden Söhne Patrice und Odono. Mycéa formuliert ihren Schmerz über deren Tod wie folgt: »Vous allez dire que je parle toujours d’Odono, comme si Patrice n’avait pas existé. Je ne suis pas une mère dénaturée. Quand une femme a deux garçons, qui décèdent l’un après l’autre au même âge, à la même distance qu’elle a mise pour les faire, vous ne pouvez pas demander qu’elle pense aux deux en même temps. C’est demander trop. Je pense au dernier parti, peutêtre ça camoufle l’autre.«345

Hinter dem einen Schmerz liegt ein weiterer Schmerz, eine ganze Kette von Schmerz und Trauer, die bis in den Abgrund der Sklaverei hineinreicht. Die Figur der Mycéa ist stark markiert von der Erfahrung des Todes und der Enteignung; an ihr lassen sich Spuren des Abgrunds bis in die Gegenwart hinein nachzeichnen: »Le trajet difficile de Mycéa Celat révèle que la violence coloniale subsiste encore de nos jours sous des formes plus souterraines et néfastes.«346 Statt zur Auswanderung rät Mycéa zur schmerzvollen Konfrontation mit der eigenen erlittenen Geschichte, denn: »A quoi bon regarder dans un salon, si tu ne sais pas regarder dans la nuit?« 347 In Tout-monde erfährt der Leser, dass sie das Erbe der barrique trägt, die die Familie Longoué seit Beginn der Chronik begleitet. Vor seinem Tod warnt Papa Longoué, der eigentliche Verwalter der barrique, Mycéa vor der Bürde: »Cette charge-là

344 Glissant: 1981, 171. 345 Ebd., 133. Simasotchi-Bronès schreibt: »sous le désespoir de la mère qui a perdu son enfant, se cache la douleur d’un être qui ne maîtrise pas sa généalogie« (2004, 319). 346 Martins: 2005, 170. Die Verknüpfung der Figur der Mycéa mit dem lieu commun der Sklaverei lässt Glissants verrückte Frau zudem in einem ganz anderen Licht als bspw. André Bretons Nadja (1928) erscheinen. Gilt bei Breton Wahnsinn als Verwirklichung surrealistischer Ziele, sprich der Rückverwandlung von Kultur in Natur, die mit einer IchSchwächung einhergeht, bezweckt Glissants Rückbildung des Bewusstseins mittels Mycéa eine Stärkung des ausradierten kollektiven antillanischen Gedächtnisses. Während bei Glissant das Unbewusste Aufschluss über die Stellung des Menschen in seiner realen Umgebung gewährt, gilt es den Surrealisten als idealisierter Zustand der Freiheit, Glückseligkeit und des Libertären, dessen Macht auf die Wirklichkeit ausgedehnt werden soll. Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit der Menschen, verknüpft mit einer inneren Tiefe des Subjekts, sollen bei Glissant auf- und nicht abgebaut werden. 347 Glissant: 1981, 187.

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est lourde à porter. Marie Celat, prenez garde. Ce que je vous consigne là, c’est l’entrée du Trou-bouillon et le tambour battant de nuit, ô Mycéa.«348 Sie wirkt in ihrer Uneindeutigkeit, Eigensinnigkeit und Unbezwinglichkeit auf ihre Umwelt sehr beunruhigend Es ist von ihrer »disposition […] ›baroque‹ de ses nattes, pointant comme des flammèches sur le crâne«, oder von einem »enfant opiniâtre« die Rede, gipfelnd in der Feststellung: »Qu’on pût être de manière si manifeste doué pour les humanités en même temps que si imparablement sauvage, l’offusquait.«349 Die Figur der Mycéa ist durchweg metaphorisch: »c’est la manifestation d’une douleur qui remonte loin dans l’imaginaire antillais«350, wie Stefanie Bung festhält. Sei es als eine vom Benjamin’schen Engel der Geschichte Fortgerisse, als eine karibische Antigone oder in biblischer Anspielung als »la Négresse des Négresses«, »la Marie des Négresses«.351 Sie ist eine kollektive Figur des Schmerzes und der Trauer. Der Tod von Mycéas Söhnen Patrice352 und Odono erinnert somit auch an das kollektive Trauma der Kindstötung während der Sklaverei. Mycéa steht als Stellvertreterin für den abgespaltenen Schmerz, denn »elle est porteuse d’une mémoire collective avortée.«353 Sie ist Symptomträgerin einer kranken, traumatisierten und sich selbst entfremdeten Gesellschaft, die nur im ver-rückten Diskurs authentisch ist. Durch die Analogiesetzung von Mycéa mit Antigone oder Maria, durch den möglichen Rückgriff auf den Mythos bzw. die Bibel, entrückt Mycéa einmal mehr der konkreten raum-zeitlichen Verortung. Diese Überdeterminierung des Einzelnen in Form einer »mémoire exemplaire« (Todorov) ist – folgt man Gisela Febel in »Poetische Zeugenschaft und Gewalt der Sprache« – der Preis für die nachträgliche literarische Zeugenschaft.354 Was in La Case du commandeur zunächst als individueller Wahnsinn definiert wird, enthüllt vielmehr die »Trace du Temps d’Avant«, das Trauma der Sklaverei, das sich, da es nicht bewusst verfügbar ist, in Mycéas Körper eingeschrieben hat. Indem Glissant das bislang Nichtartikulierte freilegt – die Gründe ihres Wahnsinns –, wird Mycéa zum Ort der Äußerung der verdrängten Geschichte, zum Gegenstand eines kollektiven Gedächtnisses: »Marie Celat […] supporta ce que tout

348 349 350 351 352

Glissant: 1993, 129. Glissant: 1981,47f. Bung: 2007, 156. Glissant: 1981, 82. Patrice verweist zudem auf den kongolesischen Politiker und Intellektuellen Patrice Lumumba. 353 Bung: 2007, 156. 354 Vgl. Febel: 2004, 162. Zur »mémoire littérale« vs. »mémoire exemplaire«: »Das wörtliche Gedächtnis verlangt, alles Individuelle einzeln zu erinnern und gleicht einer Rückwendung in die Vergangenheit. Es ist tendenziell rekonstruktiv. Das Exemplarische wendet sich der Gegenwart und der Zukunft zu. […] Aber Todorov signalisiere auch den hohen Preis des exemplarischen Erinnerns: Es ist das Opfer des singulären und individuellen Leidens, das nunmehr grundsätzlich nicht mehr als Einzelnes erinnerbar ist. Durch die Erinnerung als ›Exemple‹ kann das Opfer des Widerstreits individuell keine Gerechtigkeit mehr erfahren, die Gerechtigkeit kann aber, so die Hoffung Todorovs, als kollektive wieder hergestellt werden« (ebd.).

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le monde supporte.«355 Sie sagt von sich: »Au fond c’est maintenant que je suis tombée hébétée. Je pose zéro et je retiens tout. Trois verbes que nous vénérons: avoir savoir pouvoir. Le verbe vivre n’est plus conjugué, il a conjugué le verbe bomber.«356 Leben wird hier durch ›schweifen/wölben‹ ersetzt. Mycéa ist eine Art »déparleur«, eine Figur, die die Zustände, die allgemein anerkannt sind, als verrückt entlarvt.357 Sie ist die in der Literatur häufig bemühte Närrin, die in Wirklichkeit über ein weit klareres Bewusstsein verfügt als ihre scheinbar normale Umwelt. Zusammen mit Chérubin – einem ebenfalls angeblich Geisteskranken, dessen Leiden an der martinikanischen Gesellschaft sich in seiner zerstückelten Sprache manifestiert358 – befindet sich Mycéa schließlich in der Psychiatrie. Als Kollektiv formulieren sie: »Nous avons entendu ce Bruit de l’Ailleurs, feuilleté toi et moi l’Inventaire le Reliquaire. Nous avons couru ce Chemin des Engagés, dévalé le Registre des Tourments ho il reste à épeler le Traité du Déparler.«359 Mit Ausnahme des »Traité du Déparler«, welches noch zu »buchstabieren« sei, wiederholt diese Sequenz in unsortierter Weise einzelne Überschriften des Romans La Case du commandeur: »Bruit de l’Ailleurs«, »Inventaire«, »Reliquaire«, »Chemin des Engagés«, »Registre des Tourments«. Mycéa verkörpert das Trauma, denn sie gehöre zu den Menschen »doués pour le malheur«360 und Mathieu steht für die intellektuelle Erfassung des Traumas, wozu seine Arbeit im/am Archiv und seine errance in der Tout-monde gehört: »Il reste que Mathieu produisait en idées ou en mots ce que Mycéa gardait au plus intouchable d’elle-même et défoulait par bouffées en grands balans de vie exagérée. La remontée dans cela qui s’était perdu: comment une population avait été forgée, à douloureuses calées de Nègres raflés et vendus, traités nus sans une arme sans un outil à emporter; comment, venue de tant d’endroits divers et tombée là (ici) par les obligations du marchandage et du profit […].«361

Mycéa, »véhémentement atteinte de cela«362, ist der Schlüssel zum Verständnis des Landes, sie ist seine wesentliche Verkörperung: »l’incarnation d’une antillanité profonde et ›baroque‹, ›sauvage‹«363. Der Erzähler sagt in Tout-monde über diese Figur:

355 Glissant: 1981, 237. 356 Ebd., 238. 357 Vgl. Blümig: 2004, 137. Das Verb ›déparler‹ kommt aus dem Kreol und umfasst drei Bedeutungen: »délirer, divaguer; raconter les atrocités commises, avant de mourir et enfin, se contredire« (Ludwig: 1990, 106). 358 »Disant que: Non-nous-encore n’avons pas fini avec ces bêtes regardez […] la bêtelongue qui non-nous-encore fuit et poursuit tss tss elle a vagabondé parmi combien de mangoustes maintenant elle a cinéma sans payer pour regarder non-nous-encore déambuler tss tss il faut crier tss tss devant tes pieds pour écarter la profondeur de l’éternitude pour décombler ces créations de diablerie tss tss non-nous-encore passons le temps à courir devant les cornes la branche la nuit la gueule […]« (Glissant: 1981, 230f.). 359 Glissant: 1981, 235. 360 Vgl. ebd., 224. 361 Ebd., 188. 362 Ebd., 226. 363 Chancé: 2002, 156.

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»Elle est comme pour dire le secret et la clé des mystères du pays. Elle a connu tous les malheurs et approché toutes les vérités, comme une Inspirée.«364 Das Emanzipatorische, das Aufklärerische, die Theoretisierung und damit auch das sich dem Trauma Entziehende obliegt eher Mathieu. Bei Mycéa verläuft die Erinnerung weniger über Sprache als über Korporalität: »[E]lle descendait avec les noyés dans ce bleu où pas une fente ne s’ouvrait«, sagt der Erzähler in La Case du commandeur über sie.365 Auch bei Glissant treffen wir also auf Vorstellungen, wo sich Raum, Geschichte und weiblicher Körper aufs Engste überlagern. Indem Mycéa eine Einheit bildet mit den Gefolterten und Ertränkten, jenseits von Worten und Bewusstsein, wird erneut der Gewaltdiskurs über den Körper der Frau erzählt und verhandelt. So vollzieht sich eine Territorialisierung des Weiblichen als auch eine Mystifizierung der Insel. Die Frau wird zur Trägerin einer Erinnerung an die Wunden der Vergangenheit. In Sartorius heißt es: »Les femmes de nos pays gardent le privilège d’un savoir antérieur, qu’elles cachent le plus souvent.«366 Glissant weist Mycéa eine besondere Weisheit zu, denn ihr Verhalten verspricht Heilung und Neuverwurzelung. Aufschlussreich sind hier die beiden Kapitel »La descente« und »Remontée« in Mahagony. Nach dem Abstieg erlebt Mycéa den Wiederaufstieg. Dieser steht im Kontext ihrer Ablehnung jeglicher errance jenseits der Insel;367 sie verfällt weder der Faszination der Wälder noch der des Meeres oder der Ferne, im Gegensatz zu Mathieu und Thaël. Letztere versuchen durch Verlassen der Insel dem existentiellen Wirbel zu entkommen.368 Myceá entwickelt einen Blick für die kleinen Dinge des Lebens, indem sie sich nicht den großen Bäumen (wie in Mahagony die drei Marrons), den großen Taten und Narrativen der Geschichte zuwendet (»Les grands plants m’ont dévastée«369 ), sondern den kleinen Gräsern. Ihre Geste, den Pflanzen nachzugehen, hat dabei große Wirkung auf ihren emotionalen Zustand: »Le vertige l’avait quittée, faisant place à un clair étonnement. La lumière qui tombait sur la plante, comme filtrée par ses doigts, venait de nulle part. […] C’est ainsi que, depuis si longtemps qu’elle vivait à l’ordinaire, travaillant comme chacun et fréquentant qui en valait la peine, pour la première fois elle revint à elle-même. […] Il y avait dans l’air une légèreté d’herbage, qui contrastait pour elle avec le sentiment de sa densité toute nouvelle. […] ›J’étais bien loin, bien loin, il faut rentrer maintenant.‹«370

364 Glissant: 1993, 13. 365 Glissant: 1981, 195. »Plutôt que de parler – de théoriser à la façon de Mathieu, de raconter comme Longoué, de décrire à la manière du narrateur – Marie Celat littéralement ›plonge‹, car sa vision est d’abord d’eau de mer, de fond d’océan« (Chancé: 2002, 157f.). 366 Glissant: 1999a, 53. 367 Mycéa verlässt die Insel nur in ihrer Phantasie. Sie bereist imaginär die Orte, von denen aus Mathieu ihr Briefe schreibt. 368 In »La descente« heißt es: »L’homme balance dans le vide, il hésite entre la mer et le mont« (Glissant: 1997f, 80). Vgl. ferner Blümig: 2004, 17. 369 Glissant: 1997f, 137. 370 Ebd., 181f.

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Klarheit und Transparenz stellen sich bei Mycéa ein und lassen sie nach dem schwindelerregenden Abstieg, nach dem Wirbel aus Depression und Ohnmacht, endlich zu sich selbst kommen. Während Mycéa also am Ende von Mahagony eine Verankerung im antillanischen Raum durch aktive Transkulturation vornimmt, versetzt Glissant seine anderen Protagonisten mit seinem späteren Roman Tout-monde in den Taumel einer entgrenzten Welt. Sie werden gewissermaßen in die Welt hinausgeschleudert. Dass eine Verbindung zwischen dem Wirbel und dem geschichtlichen Abgrund besteht, veranschaulicht das Wortspiel, das »tourbillon« in Tout-monde oder Ormerod zu »Trou-bouillon«371 werden lässt. Und Blümig hält fest: »Der Wirbel ist ein ständiger Begleiter der Glissant’schen Romane.«372 Die zentripetalen und zentrifugalen Kräfte werden in Glissants Werk von den einzelnen Protagonisten, wie bereits gezeigt, zumeist in konventioneller Weise repräsentiert: Frauenfiguren wie Mycéa und ihre Tochter Ida verkörpern eher die Zentripetalkraft, die Möglichkeit des Bleibens, Männerfiguren wie Mathieu und Thaël unterliegen der Zentrifugalkraft, der globalen errance, des grande Drive. Doch Glissant führt nicht nur die Dichotomie von Verräter und Verratenem sowie von »ceux qui refusèrent« und »ceux qui acceptèrent«373 in seinem Werk wieder zusammen, sondern verknüpft über die Relation auch den männlichen und weiblichen Diskurs. Die Trennung von Mycéa und Mathieu markiert keine durchweg tragische Entwicklung in Glissants Werk. Der Abstand ermöglicht erst die Relation, »une relation qui assume l’opacité, l’écart«374, wie wir in Mahagony erfahren. Auch wenn Mathieu und Mycéa verheiratet und Eltern einer Tochter sind, lebt die Familie in einer Art familiären Diaspora.375 Gleichwohl zeigt sich, dass die gemeinsame Tochter Ida dem elterlichen Schwindelgefühl, ausgelöst durch die traumatische Vergangenheit, entgeht und sogar »entre en bonheur«376. Ida wird von der Großmutter mütterlicherseits aufgezogen, so dass die Eltern das Trauma nur mittelbar, in abgeschwächter Form an sie weitergeben; Simasotchi-Bronès spricht bei Ida von einem »mémoire autre, moins douloureuse, plus distanciée«377 . Ida sagt von sich selbst: »j’ai dérivé dans la douceur«378 und vermeidet es bewusst, mit ihrer Mutter hinabzusteigen:

371 Glissant: 1993, 129, 215 und 2003, 193. 372 Blümig: 2004, 136. Zu Glissants Denkbildern Rhizom, Wirbelwind und Archipel vgl. Kuhn: 2009. 373 Glissant: 1997c, 66. 374 Vgl. Chancé: 2001, 224. 375 Chancé deutet diese Situation als Bindungslosigkeit: »Mathieu, géniteur d’Ida, est-il un père à venir, un père possible, ou est-il définitivement un fils solitaire et errant, sans repères, dans le ›Maelström‹? […] les personnages apparaissent davantage comme des individus opaques et solitaires. […] L’inquiétude, l’errance des personnages ne laissent plus aucune chance aux liens sociaux et affectifs. […] Il ne saurait être question, dès lors, ni de paternité, ni de loi symbolique; chacun dérive, solitaire, et disparaît. […] l’histoire et ses béances ont creusé une fracture inexorable entre l’homme et la femme […]« (Chancé: 2003, 280ff). 376 Glissant: 1997f, 146. 377 Simasotchi-Bronès: 2004, 316. 378 Glissant: 1997f, 161.

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»Mais je vous dit, Mycéa, je ne peux pas descendre avec vous, il y vient trop pour moi, seulement alentour seulement là tout près seulement en tendant la main.«379 Die Präposi-tionen »alentour« und »près« sowie das dreifache »seulement« markieren das bedachte Umkreisen des Abgrunds, ein détour, für den Ida sich entscheidet, um nicht zu scheitern. Dessen ungeachtet zeichnet Ida den dauernden Wechsel von »révolte répression, révolte répression, déportation exécution«380 in der Geschichte der Antillen nach. Sie bemüht sich, die Spuren der gewaltvollen Geschichte zu transponieren, indem sie es sich bezeichnenderweise zur Aufgabe gemacht hat, Nachforschungen »sur les révoltes d’habitants au XIXe siècle«381 im Norden der Insel anzustellen. Sie sagt im Anschluss: »Voici comment je quitte cette histoire [...]. Mon instruction est terminée.«382 Ida hat als Kind von Mycéa und Mathieu sowohl die emotionale als auch die intellektuelle Fähigkeit ausgebildet, mit dem Trauma umzugehen. Ida trifft schließlich auf einen Mann mit dem verheißungsvollen Namen Félicité Bienvenu und seine Schwester Idylle, mit denen sie fortan auf dem Land leben will. Félicités maßgeblichste Eigenschaft neben Klugheit, Entschlossenheit, Bedachtheit und Weitsicht ist, dass er weiß, »ce qu’il vaut véritablement«383. Félicité Bienvenu repräsentiert Gelassenheit, Ruhe und Verwurzelung mit seinem Land. Er wirkt nach all den Bildern des Schwindels, der Zyklone und der diversen Turbulenzen – sowohl der historischen als auch der geographischen – wie eine Insel im Sturm, ein Fels in der Brandung. Seine hingebungsvolle Liebe zu Ida (»il m’a dit tout uni, comme un caïmitier laisse goutter le lait de ses caïmites: ›Ida, Ida, je vous aime abandonnément‹«384) lässt sie sanftmütig werden. Der Erzähler Mathieu erwähnt in Mahagony, dass seine Tochter, nach allem, was man so erzählt, wieder Bäuerin geworden sei.385 Eine solche Tätigkeit verweist auf eine neue produktive Aneignung sowie lebensspendende Bearbeitung des Bodens und damit eine Neuverwurzelung im Land der Diaspora. Durch Ida drückt sich eine neue Nähe zur antillanischen Landschaft aus. Die überzogene Namensgebung indessen, Félicité und Idylle Bienvenu, markieren, dass Glissant den Candide’schen Rückzug auf das Land als Zukunftsmodell nur augenzwinkernd vorschlägt. 4.4.5 Im Namen des Sohnes, des Vaters oder der Mutter? Welche Bedeutung haben die zahlreichen signifikanten Namen im Spannungsfeld zwischen kolonialer Gewalt und emanzipatorischem Gestus? Die Spuren der Männer als Erzeuger oder Begründer einer neuen Genealogie verlieren sich zumeist in Glissants Romanwerk. Der Marron verschwindet in den Wäldern und hat schließlich im 20. Jahrhundert keine Nachfahren mehr, oder sie reisen wie Mathieu und Thaël in

379 380 381 382 383 384 385

Ebd., 159. Ebd. Ebd. Ebd., 162. Ebd. Ebd., 163. Vgl. Glissant: 1997f, 174.

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eine Welt jenseits der Antillen. So wundert es nicht, dass die Genealogien, obwohl sie ihren Ausgang mit Männerfiguren, den ›pères débarqués‹ (Odono-Odono, Longoué, Béluse) genommen haben, in der Regel bei Frauenfiguren enden. Die letzte Trägerin des Namens Béluse ist eine Frau, es ist Marie Celats und Mathieu Béluses Tochter Ida Béluse. Mycéa ist schließlich eine der letzten Figuren, die den Namen Celat trägt, denn die beiden Söhne von Mycéa, Patrice und Odono Celat, sterben in jungen Jahren386 und werden selbst nicht Vater. Deren eigener Vater ist unbekannt; wir erfahren von Mycéa nur: »je ne me rappelle pas même le nom de l’homme avec qui j’ai procréé les deux garçons. [...] Comme si mes garçons étaient enfants de zombie? Mais non.«387 Mycéas Mutter, Cinna Chimène, ist eine Waise, so dass Mycéa ohne klare Vergangenheit und ohne männliche Nachkommenschaft in einer Art Antigenealogie verhaftet ist. Auch der Quimboiseur Papa Longoué bleibt ohne Nachkommenschaft, da sein Sohn Ti-René im Ersten Weltkrieg fällt; die patrilineare Linie endet hier bzw. wird auf neue, selbstgewählte Allianzen hin transformiert, wie es die Wahlverwandtschaft zwischen Papa Longoué und Mathieu Béluse nahelegt. Diese Beobachtung zur Bedeutung der Frauenfiguren in Glissants Werk ist wichtig, läge doch sonst der Schluss nahe, die Frauen fungieren bloß als »a sexualized tool, a grammatical hyphen«388 zwischen den Männern. Nur zu Beginn der Familiensaga, wo die Geschichte der zwei Brüder namens Odono und deren Rivalität wegen einer Frau beschrieben werden, besetzt die weibliche Figur eine Nebenrolle. Im Laufe der Romansaga nehmen Frauenfiguren wie Mycéa, Cinna Chimène, Liberté Longoué oder Hermancia einen aktiven Platz in der Gegenwart und Zukunft des PostPlantagen-Familienrhizoms. Interessanterweise gibt es eine Frau aus der ungesicherten Linie von Odono/ Anatolie, die denselben Vornamen in weiblicher Form trägt wie Longoués Sohn, Ti-Renée Celat. Doch weder ihre genauen Lebensdaten noch ihre Geschichte werden überliefert, nur ihr Nachname Celat steht in Verbindung mit Odono und Marie

386 Bezeichnenderweise ertrinkt Myceás Sohn Odono, dessen Name schon früh zu Donou wurde – »ce qui fait qu’on oublia l’étrangeté d’origine« (Glissant: 1981, 219) – beim Tauchen. Glissant diagnostiziert für die Antillaner ein »traumatisme de la mer« (Glissant: 1997e, 73). Donou hat wie Mycéa eine enge Verbindung zum Meer, »il se plaisait dans la mer pour y rêver […] Il fréquentait la mer pour les dessous ombreux, quand Marie Celat y supposait surtout l’étendue semée de terres. La même force les poussait« (ebd.). Mycéas Kinder sterben »on peut dire de ce qui faisait l’essentiel de notre commun loisir« (ebd., 223); Odono kommt beim Tauchen und Patrice bei einem Motorradunfall ums Leben. Die von Frankreich importierte Freizeitwelt fordert ihren Tribut. Der Roman La Case du commandeur erzählt einen doppelten Zirkelschluss: Zum einen die Geschichte von Marie Celat, die mit ihrem vermeintlichen Wahnsinn einsetzt und endet. Zum anderen verschränkt sich die Geschichte an den Odono-Figuren, es gibt einen erst- und einen letztgenannten Odono. Beide Figuren stehen in Kontakt mit dem Atlantik: Die deportierten Odonos am Anfang und Odono Celat, der Sohn von Mycéa, der am Ende im Meer verschwindet. 387 Glissant: 1997f, 137. 388 Loichot: 2007, 48. »The original father is therefore a figure indefinitely echoing in an empty and unknown structure« (Ebd., 47).

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Celat.389 All diese genealogischen Beobachtungen lassen Dominique Chancé zu dem Schluss kommen: »Le système de la paternité et des noms paternels semble s’épuiser, malgré l’effort à fonder et à engendrer des noms dont le texte fait preuve.«390 Die Abwesenheit des Vaters erzeugt den Wunsch einer Symbolisierung »autour du Nomdu-père et un désir d’errance, entre jubilation baroque et mélancolie«391. Statt sich mit dem Béké zu identifizieren (Identifikation mit dem Aggressor), bietet Glissant den Marron (exemplarisch Papa Longoué) bzw. den Historiker (exemplarisch Mathieu Béluse) zur Identifizierung an, um so zur Konstitution kollektiver antillanischer Identität jenseits der Selbstverlorenheit, Gedächtnislosigkeit und Fremdbestimmtheit beizutragen. Wobei Glissant selbst den Marron fragmentiert, indem er Odono als doppelten, ambivalenten Ursprungsvater setzt. Odono ist nicht nur Vorfahre des ersten Marrons, sondern zugleich auch der Andere: »Odono is no longer the betrayer or the betrayed. Odono incorporates all the Names of the Fathers, all the unknown.«392 Glissant produziert einen literarischen Helden-Diskurs und zugleich seine kritische Hinterfragung. Der Name entspringt hier einem poetischen Prozess und weniger familialen (europäischen) Gesetzen. Es ist tendenziell sogar eher der Name der Mutter, der sich tradiert. In La Case du commandeur und anderen Romanen werden die vielgestaltigen genealogischen Versatzstücke insbesondere über den gleichen Familiennamen zusammengehalten, wobei dieser jedoch nur bedingt identitätsstiftend wirkt, wurde er doch meist durch Fremdherrschaft oktroyiert. Der Ursprung ist durchgängig problematisch, entweder ist er völlig unbekannt oder er steht im Zusammenhang mit Enteignung wie bspw. die Namensgebung durch den Plantagenbesitzer: »Nombre de personnages n’ont pas de nom, pas de naissance, pas d’origine connus. Ils apparaissent, images parfaites de sujets sans histoires, d’êtres errants dont la conception renvoie à un autre temps, et à un autre lieu, inaccessibles. Les Antillais, à travers ces personnages, apparaissent comme coupés de leur préhistoire, orphelins par essence.«393

Selbst nach Abschaffung der Sklaverei bleibt der Erwerb eines eigenen Namens und der dazugehörigen Papiere widersprüchlich, denn die Subjektwerdung verläuft im Kontext der anhaltenden Namensgebung durch europäische Machthaber.394 Die Frei-

389 Vgl. das Schaubild aus La Case de commandeur. 390 Chancé: 2001, 220. »Les Longoué s’épuisent au fil de l’œuvre, comme s’ils ne devaient bientôt plus avoir de descendants« (Chancé: 2003, 277). 391 Chancé: 2002, 15. 392 Degras: 1989, 618. 393 Chancé: 2001, 177. 394 In Le Quatrième siècle (Kap. X) beschreibt/imaginiert Glissant eine historische Praxis hinsichtlich der willkürlichen Namensgebung für freigelassene Sklaven, z.B. »Tousseul« für jemanden, der »alleinstehend« ist. Oder sie bekamen weit abstrakter einen beliebigen Namen europäischer Provenienz, aus Enzyklopädien oder Textsammlungen, zugeteilt: »Quand ils [les deux commis, N.U.] eurent épuisé les prénoms, l’Antiquité, les phénomènes naturels [...], et encore les noms que portaient les gens de leur pays, dans un coin de Bigorre ou du Poitou [...] ils acceptèrent de questionner leurs clients, allant jusqu’à

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heit als Bürger erhalten die Sklaven nur um den Preis der gewaltsamen Benennung; dies markiert den Übergang von der direkten zur bürokratischen Herrschaft: »Der Beginn einer bürgerlichen Existenz rückt in die Nähe der Zwangstaufe, die gewöhnlich bei der Ankunft afrikanischer Sklaven abgehalten wurde«, wertet auch Marion Pausch.395 Interessanterweise wird über Mycéas Ururgroßvater (ein Nachfahre von Odono) erzählt: »Anatolie Celat il fut peut-être le premier de notre sorte à gagner, si c’est gagner, un nom de famille.«396 Er ist der erste Mann der Plantage, der eine Genealogie erschafft, eine Art karibischer Adam: »Anatolie né pa Adam, l’histoire d’Anatolie né pas l’histoire d’Église.«397 Anatolie Celat verfügt freilich nicht nur über einen Namen, sondern ist auch eine Art »semeur d’histoires«398 und ›Kindersäer‹. Der ›Stammvater‹ Anatolie durchstreift – nach Frauen Ausschau haltend – unentwegt den antillanischen Raum. So eignet er sich zunächst den Raum und schließlich seinen Namen an: »Où est passé cet Anatolie? Et qu’on répondait tout aussitôt avec des mines et des soupirs: par-ci, par-là.«399 Wobei Anatolie sich den Namen Celat nicht nur über seine flatterhafte errance und »cet appétit de bouger«400 zu Eigen macht. Er bekommt den Namen ferner von seinem Sohn, was eine Umkehrung der Urheberschaft impliziert und auf die Herkunftsproblematik hinweist. Hier ist es das Werk, der gezeugte Sohn, welches den Namen erst hervorbringt. Anatolies Geliebte Hermancia, Mulattin und Mutter seines Erstgeborenen, »le premier fruit de cette parole mise en commun ou débitée pan à pan«401, kommt das Privileg zu, ihren Sohn zu benennen: »Le colon fit à Hermancia la faveur de lui laisser choisir le nom qu’il inscrirait sur les registres de l’Habitation. Elle décida que le nouveau-né s’appellerait Ceci. […] elle fait la liaison entre

395 396 397 398 399

400 401

entériner des noms du cru: noms d’habitation ou de quartiers« (Glissant: 1997c, 206). Er erzählt die Anekdote, dass diese erfundene Szene mit den zwei französischen Beamten später Eingang in Geschichtsbücher fand: »Ils [die Beamten, N.U.] épuisaient tout le savoir occidental pour donner des noms à des esclaves nouvellement libérés. Et quelque temps après […] j’ai retrouvé un texte écrit par un savant en la matière et qui prenait comme référence sur cette question ce chapitre du Quatrième siècle que j’avais complètement imaginé et complètement inventé, et ce chapitre est devenu un élément d’illustration de la science« (Glissant: 1996a, 86f). Pausch: 1996, 244. Glissant: 1981, 109. Ebd., 110. Ebd., 116. Ebd., 109. Einen eigenen Namen zu haben und damit über eine eigene Geschichte zu verfügen, kommt einem Machtfaktor gleich. In Le Quatrième siècle heißt es: »Celui qui porte un nom est comme celui qui apprend à lire: s’il n’oublie pas le nom, l’histoire réelle du nom, et s’il ne désapprend pas de lire, il se hausse. Il se met à connaître une mère, un père, des enfants: il apprend à vouloir les défendre« (Glissant: 1997c, 208, Herv. i.O.). Glissant: 1981, 109. Ebd., 116.

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›par-ci par-là‹ et ›ceci cela‹, l’un pour signaler où était Anatolie quand on le cherchait, l’autre pour suggérer ce qu’il faisait. Et même quand, bien plus tard, il choisit de s’appeler Anatolie Celat, les commis d’état civil ne devinèrent pas d’où lui était venu ce caprice. On peut pourtant dire qu’il fut le premier homme à être baptisé par son descendant et à tenir son nom de celui qui en hériterait.«402

Diese Selbst(er)findung und Namensgebung verweist auf die Praxis, die am Radikalsten in Haiti stattgefunden hat, nämlich die Umwandlung von Sklaven in autonome Haitianer wie Maximilien Laroche erläutert: »Ce qu’effectivement les esclaves saint-dominguois ont réalisé en se transformant en Haïtiens et en se donnant une nouvelle mère-patrie à laquelle ils ont donné un nouveau nom comme pour mieux sanctionner cette double auto-création.«403 An anderer Stelle spricht Laroche von der »métamorphose du sujet«, ausgelöst durch die revolutionäre Erfahrung: »Un esclave se rend compte qu’il peut être maître.«404 Allen Frauen, mit denen Anatolie schläft und Kinder zeugt, vertraut er zudem Geschichtsfragmente (»étranges débris de conte«405) an. Er bringt sie für eine Generation einer gemeinsamen Identität näher, indem er bei jeder Begegnung eine Episode seines großen Märchens erzählt. Die Frauen als Geschichtsteilhaberinnen (»dépositaires de conte«, »partageuses d’histoires«406) versuchen »ce chant anatolien«407 zusammen zu setzen: »C’est que le chuchotis des cases transmit de nuit en nuit qu’Anatolie, si jeune, racontait à chacune de ses relations une partie d’une histoire dont il prévenait que la fin n’interviendrait qu’au jour où il ne serait plus capable de satisfaire à ses obligations. […] Elles établirent une confrérie où chacune était connue pour la part qui lui avait été contée. […] elles débitaient tour à tour leur part du conte. Elles ne disputaient pas de savoir laquelle était la préférée, cette question n’avait aucune importance; elles se battaient pour défendre une vérité simple: que chacune avait eu en partage l’épisode le plus important de cette histoire éternellement inachevée, celui qui tenait le plus de poids, et qui par conséquent supposait la plus intime confiance. Une telle société secrète était possible alors.«408

Anatolie vermittelt ein der Sklaverei vorgängiges Gedächtnis, das von den Frauen nicht kommentiert, sondern memoriert und rezitiert wird.409 Der Béké, der mit den gleichen Frauen schläft, erfährt ebenfalls in fragmentierter Form von den Geschich-

402 Ebd., 116f. Die Figur des Anatolie wird von Dominique Chancé als »géniteur prolixe dans un monde sans père, sans nom« (Chancé: 2003, 139) charakterisiert. 403 Laroche: 1988, 162, Herv. N.U. 404 Ebd., 195f. 405 Glissant: 1981, 113. 406 Ebd., 112. 407 Ebd., 110. 408 Ebd., 110. 409 Dieses Verfahren erinnert an die so genannten ›Songlines‹ der Gedächtnislandschaften der australischen Ureinwohner, wo jeder Einzelne und jede Gruppe nur Bruchstücke des Gesamtextes besitzen und behüten.

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ten der Geheimgesellschaft, aber es ist ihm unmöglich, diese zu decodieren und sinnvoll zusammen zu setzen. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, wie der Béké an die ›Geschichten von unten‹ gelangt. Hermancia erzählt ihm während der Vergewaltigung ein Fragment. Unterdessen er in sie eindringt, dringt sie mit Anatolies Geschichten in sein Ohr ein, woraufhin der Béké »sich vergiftet fühlt« und »verrückt« wird: »Un jour, qu’elle n’avait pu prendre à temps sous les cacos, elle décida cette chose inouïe, au lieu de rester là bien tranquille à attendre que ça finisse, de raconter, on dit même au moment pour le colon le plus frémissant, sa part d’histoire d’Anatolie. Ainsi confia-t-elle à ce colon ce que toutes les femmes à la ronde refusaient d’avouer aux hommes. Le maître n’entendit pas cette première confidence. Mais comme les autres partageuses d’histoire, au fur et à mesure qu’il les coursait »par-ci, par-là«, résolurent elles aussi de lui conter chacune son épisode, il se trouva intoxiqué de ce hachis de nouvelles, s’exaspéra de ces personnages dont il ne connaissait pas l’origine, le nom ni la destinée. Le manège de Hermancia stupéfia donc: non parce qu’elle avait fait confidence au colon mais parce qu’elle avait déclenché cette propagation d’histoires qu’on estimait perdues dans l’oreille bouarengue du Blanc. On peut dire pourtant qu’il en devint comme fou, et son épouse aussi.«410

Hermancia widersetzt sich dem Schweigen und spricht (»cette chose inouïe«), so kehrt sie den Kreislauf von Gewalt zwischen Mann und Frau, zwischen Béké und Sklavin um. Sie initiiert eine bedeutsame Wendung von sexueller zu ›textueller‹ Macht und entkommt auf diese Weise der Annullierung ihrer Identität. Es entsteht eine neue Dialektik, ein non-sens (durchaus auch als Nonsens zu verstehen) zwischen Béké und Sklave über den Körper der versklavten, vergewaltigten Frau; initiiert von der Seite der Unterdrückten. Das serielle Erzählen erinnert an Scheherazades dem Überleben geschuldeten Erzählungen von 1001 Nacht.411 Es handelt sich bei Anato lies contes nicht nur um ein codiertes Erzählen, was den Techniken der détour und dissémination folgt, sondern auch um ein geheimes Kommunikationsnetz, welches vom Unterdrücker nicht verstanden werden kann. Zudem weckt es ein für die Békés gefährliches Gemeinschaftsgefühl unter den Sklaven; hier sei nur daran erinnert, dass zur Zeit der Plantagenwirtschaft das Erzählen, die abendliche veillée, einen Akt der Opposition bedeutete. In La Case du commandeur ist bald die gesamte Habitation damit beschäftigt, »ce hachis de nouvelles«412 zu einem kohärenten Ganzen zusammenzusetzen. Die Frau des Plantagenbesitzers scheitert an dem Versuch einer Rekonstruktion dieser »étranges débris de conte.«413 »[C]e vent de mots«414 lässt sich eben nach den Regeln des Rationalismus durch Register, Auflistungen, Datierungen, Namensbeschriftungen, wie es die Frau des Plantagenbesitzers versucht, nicht disziplinieren

410 Glissant: 1981, 112. 411 Martins definiert Glissants ineinander verschachtelte Erzählweise auch als »effet Chahrazade« (2005, 159). 412 Glissant: 1981, 112. 413 Ebd., 113. 414 Ebd., 114.

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und inventarisieren, denn die antillanische Geschichte ist nicht einfach durch Daten und Fakten belegbar. Die colonne verliert bei dem Versuch, die Geschichtsfragmente zu ordnen, schließlich ebenfalls den Verstand; das Geschichtenrhizom hat die große Geschichte verdrängt: »Ainsi ces histoires cassées avaient-elles chassé l’Histoire de son pupitre. Elle [la colonne] n’éprouvait pas qu’elle enjolivait (ou dénaturait) ce que son époux avait déjà selon toute vraisemblance si mal entendu ou rapporté.«415 Das ausufernde und unendliche Erzählgeflecht zieht selbst die Täterseite mit hinein in den Strudel der Geschichte. Glissant verweist mit diesen Widerstandserzählungen nicht nur auf einen positiv besetzten Anteil kultureller Identität, sondern auch darauf, dass die europäischen Pflanzer in dem Maß, in dem sie unmittelbare Herrschaft über die Sklaven ausüben, auf ihre Weise selbst Gefangene der Sklavenherrschaft werden. Glissant vollführt mit Hilfe der Figur von Anatolie, um es mit Bhabha zu sagen, eine weitreichende Mimikry. Anatolie Celat zeugt zwischen seinem 13. und 15. Lebensjahr rund 35 Kinder, so dass Valérie Loichot ihn »the plantation unofficial (boy)patriarch«416 nennt. Er zeugt Kinder für die Zukunft und er stiftet eine gemeinschaftliche Vergangenheit über seine Geschichten; er verfährt genauso wie der Béké und stellt daher eine ernstzunehmende Konkurrenz für ihn dar. Doch Anatolie ist selbst noch ein Junge/Sohn als er zum Erzeuger/Vater von einer ganzen Kinderschar wird. Loichot wertet dies als symbolischen Vater- bzw. Tyrannenmord: »it is the revenge of a generation of sons against their fathers: a political and chronological inversion.«417 Auffällig ist in diesem Kontext, dass gerade die versklavten Frauen, »[c]ette confrérie des femmes«418 Geschichtsfragmente tradieren: »Une parole toute en femmes. Une oreille toute en hommes. Mais cette oreille n’entendait rien.«419 Wobei die Verkettung der einzelnen Bruchstücke durch die Sklavinnen eben nicht dem Erreichen einer Einheit geschuldet ist wie bei der colonne, sondern Opazität und Leerstellen bewusst zugelassen werden. Zudem sind es die Frauen, die Anatolies Geschichten Anfang und Ende setzen. Mit Liberté Longoués420 Auftauchen auf der Plantage versiegen Anatolies Geschichtsfetzen. Die Enkelin des Stammvaters der Longoué-Linie kommt ins Spiel, um den raconteur Anatolie »à la source de son histoire«421 zu geleiten: »L’histoire arrêta net. Liberté Longoué recomposa pour un long temps ce qui avait été séparé; nous donna un nous dont nous désespérions sans le savoir. La part qui tentait de deviner le conte rejoignit la part qui tentait de le raconter.«422

415 416 417 418 419 420

Ebd., 115. Loichot: 2007, 68. Ebd., 67. Glissant: 1981, 111. Ebd. Liberté wird sowohl als Männer- und Frauenname benutzt, so dass Melchior Longoué einen Bruder und eine Tochter mit diesem Namen hat: »Nous avions remarqué que Liberté n’était pas un nom, mais un souvenir [...] un programme: ›Liberté‹, dans la langue de ceux-là mêmes qui asservissaient en proclamant qu’ils libéraient […]« (ebd., 120). Liberté Longoué repräsentiert durch ihren Namen Freiheit und Marronnage. 421 Ebd., 119. 422 Ebd., 119f.

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Wir erfahren zudem, dass Anatolie die Geschichten von seiner Großmutter, einer Nachfahrin von Odono, vernommen hatte. Die Großmutter hat die Geschichten von Odono und Longoué miteinander verschlungen: »Anatolie stupéfié se souvint qu’il les avait entendus de la bouche d’Eudoxie, la manman de sa manman.«423 Interessant ist, dass insbesondere über das Hören an Geschichte(n) erinnert wird (»il les avait entendus«). Dem Akt des Sprechens und Zuhörens kommt somit eine zentrale Bedeutung zu. Auch Geräusche, Klagen, Laute, Stimmen rücken immer wieder ins Zentrum des Geschehens. Anatolie will vergessen, doch Liberté erwidert, dass »les femmes n’oubliaient pas«424 . Liberté selbst »n’était pas un nom, mais un souvenir.«425 Der Name schreibt aber auch den Figuren die vor ihnen liegenden Aufgaben vor. Der Namen legt seinen Träger fest und befähigt ihn, die übertragene Aufgabe zu erfüllen und damit seiner Bestimmung in der Gruppe gerecht zu werden. Frauenfiguren wie Liberté Longoué oder Mycéa vergessen nicht und führen zuweilen die Geschichte an ihren Ausgangspunkt zurück. Liberté Longoué erscheint in Anatolies Geschichten »comme un point c’est tout«426 und versetzt Anatolie gleichzeitig zurück in seine Kindheit. Kollektiver und individueller Ursprung wird somit analog gesetzt. Ferner wird auch der Bauch der Frau mit dem Bauch des Sklavenschiffs in Verbindung gebracht, und es entsteht erneut ein Bild des doppelten Ursprungs, welches Anfang und Abgrund zugleich umfasst: »C’est bien Liberté de Melchior qui enfonça ainsi Anatolie dans un état d’enfance qu’il n’avait jamais connu. Le ramena entre les cuisses de la femme pour le laisser là béant d’une innocence écarquillée. [...] Liberté voulut détailler le début et la fin, et l’agencement du tout. Anatolie avoua qu’il n’en savait rien. […] Liberté récita les pans de mots […]; les traces éparpillées de la langue ou plutôt des langues concentrées dans les soutes de la Rose-Marie et qui s’étaient volatilisées au vent d’ici. Anatolie n’avait aucun souvenir. Liberté lui montra le début et l’enchaînement de l’histoire rapiécée qu’il avait débitée avec tant de profit. Mais le début tombait dans un trou sans fond, où plus personne n’était visible.« 427

Der Kinderpatriarch kommt mittels Liberté wieder in Kontakt mit seinem Kindheitsstatus, er kehrt sogar in eine vorsprachliche Zeit zurück; in-fant verweist auf etymologischer Ebene auf jemanden, der nicht spricht. Der männliche Held endet demnach in der Regression und Liberté hat das letzte Wort, indem sie Anatolies Geschichtentrümmer in die weibliche Linie zurückzuführt. Die Figur der Liberté Longoué scheint Glissants eigene Textgrenzen in diskreter Weise feministisch zu überschreiten. Der Anfang steht erneut in Analogie mit einem »trou sans fond«; und abermals ist es eine Frau, die sich wie Mycéa am Rande des Abgrunds bewegt. Liberté dient ebenfalls als zeitübergreifender Echoraum für »les traces éparpillées de la langue ou plutôt des langues concentrées dans les soutes de la Rose-Marie et qui s’étaient volatilisées au vent d’ici«, wie es in dem oben erwähnten Zitat heißt.

423 424 425 426 427

Ebd., 123. Ebd., 126. Ebd., 120. Ebd., 121. Ebd., 121-123.

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Eine andere Frauengestalt, die im Kontext von Marronnage in Le Quatrième siècle auftaucht, ist Man-Louise. Sie bewegt sich als Sklavin zunächst zwischen der Welt der Plantagenbesitzer (sie arbeitet im Haus des Béké La Roche) und jener der Feldsklaven. Schließlich hilft sie dem ersten Longoué, in die Wälder zu entkommen und versorgt ihn dort mit Nahrung und lehrt ihn Kreol, »la parole nouvelle«428, so dass er mit den anderen Marrons kommunizieren kann. Diese Übermittlung von Wissen durch Frauen taucht auch im Kontext von Mycéa und ihrem Vater Pythagore auf, wenn die zehnjährige Tochter Mycéa ihrem 36-jährigen »ascendant« das Lesen beibringt: »Elle déposait un cahier sur la table du dedans, suçait le bout d’un crayon, murmurait avec application (enfant grandie de rien du tout, s’adressant à son ascendant, exagérait d’instinct la maladresse de ses mots, pour ne pas le gêner): ›Odono, Odono. Venez et s’il vous plaît. Je vais t’apprendre abcd.‹ Pythagore, qui à cette époque avait trente-six ans bien tombés, s’asseyait devant la page blanche, la tête en feu, les yeux écarquillés.«429

Wir haben es hier mit einer verdrehten Elternschaft, konkret mit einer Wissensvermittlung von der Tochter zum Vater zu tun. Mycéa redet ihren Vater und zugleich ihre Vorfahren mit den Worten »Odono, Odono« an und übernimmt so auf einer symbolischen Ebene Verantwortung für die gesamte männliche Linie. Als Tochter produziert Mycéa Genealogie, sie ›macht‹ ihren eigenen Vater; als Mutter bricht ihre Genealogie bei den Söhnen ab. Sie produziert und generiert Wissen (Produkte von Diskursen) statt Nachkommen (Produkte von Sexualität).430 Zurückkommend auf das Paar Man-Louise/Longoué ist ferner interessant, dass Longoué sein Wissen, sprich seine afrikanische Sprache, für sich behält: »En revanche, ce n’était pas nécessaire qu’elle connût ses mots à lui; et il n’était pas fâché d’assurer son prestige d’Africain, en partageant le moins possible sa science du pays d’au-delà les eaux.«431 Aus der Verbindung von Longoué und Man-Louise gehen die beiden Söhne Melchior und Liberté hervor. Melchior ist der Vater der bereits genannten Liberté Longoué, der späteren Frau von Anatolie Celat. Bemerkenswert ist bei der Geschichte um Longoué und Louise, die eine Art Adam und Eva innerhalb der Glissant’schen karibischen Schöpfungsgeschichte repräsentieren, dass die Na-

428 Glissant: 1997c, 110. 429 Glissant: 1981, 51f. 430 Ähnliches lässt sich für die Figur der Waise Cinna Chimène aufzeigen. Zunächst taucht sie als Adoptivtochter von Ozonzo auf, doch sie löst sich aus dieser Beziehung und wählt sich einen Vater: » [...] l’homme à qui elle donna pour la première fois ce nom. Papa, chanta-t-elle. Papa Longoué, dit l’homme. Ils commencèrent ainsi la longue parole qu’ils défileraient d’année en année à travers tant de descendants de plus en plus ignorants des mots vrais« (ebd., 75). Papa Lougoué nimmt für sie den Platz eines symbolischen Vaters ein. Bedeutsam ist, dass die Töchter wie Mycéa oder Cinna Chimène ausschließlich ihre Väter benennen, aber nie ihre Mütter. Über die männliche Linie der Marrons wird auch die Figur der Liberté Longoué charakterisiert, »Liberté de Melchior« (ebd., 121), eben als Vater-Töchter. 431 Glissant: 1997c, 110.

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mensgebung (wie in seinem gesamten Werk), d.h. die patro- bzw. metronymischen Ableitungen eine zentrale Rolle spielen. So wird der erste Longoué nur von Louise so genannt, alle anderen nennen ihn Monsieur-la-Pointe: »Elle ne prononçait jamais le nom en présence des autres, comme si elle voulait réserver ce privilège qu’elle s’était donné. Ainsi fut-il toute sa vie le premier des Longoué sans l’être nommément, […].«432 Die Namensgebung der beiden Söhne stellt jeweils eine Schlüsselszene dar. Der erstgeborene Sohn wird Melchior genannt in Anlehnung an die biblische Geschichte der drei Weisen aus dem Morgenland, von denen einer schwarz war. Louise hatte die Geschichte im Haus des Béké aufgeschnappt: »Quand leur fils fut là, elle [Louise, N.U.] affirma donc: ›Je veux lui donner un nom! C’est ce jour que j’attendais. Après ça, il n’y a pas d’autre jour!… Voilà. Ils répètent en bas une histoire de seigneurs qui vont adorer un Dieu. Des rois. Si tu voyais comment ils sont beaux quand on les raconte, avec les richesses! J’ai entendu les Messieurs. Alors, un des rois est tout noir, je ne sais pas s’ils l’appellent Melchior ou Balthazar? C’est l’un des deux.‹ Et lui [Longoué, N.U.], conciliant (qui n’avait d’abord pas voulu d’un nom qui venait de la plaine) décida que ce serait Melchior. Le nom était plus vraisemblable. Melchior.«433

Kulturelles europäisches Kapital, nämlich die Namensentleihung aus der Bibel, wird hier für den antillanischen Kontext in aufwertender Weise transformiert. Der Name macht aus dem migrant nu einen König. Neben der kreativen Weiterverwendung des Namens demonstriert diese Szene auch die Ungenauigkeit des mündlich überlieferten Materials. Der zweitgeborene Sohn trägt den symbolischen Namen Liberté. Er repräsentiert nicht nur Freiheit, sondern mit ihm ist die Ausrufung verbürgter Vaterschaft verbunden: »Longoué criant: ›Puisqu’ils ont proclamé Liberté-Égalité-Fraternité, moi je proclame Liberté-Égalité-Paternité! vous entendez tout le monde ici, son nom c’est Liberté‹, […].«434 Die Namensgebung bei Glissant zeigt eine deutliche Überdeterminierung des Individuellen und zielt auf eine symbolische Etablierung einer kollektiven Geschichte. In Le Discours antillais betont er die Bedeutung der eigenen Namensgebung und die kollektive Verantwortlichkeit, die mit dem Eigennamen verbunden ist: »Le Nom pour nous est d’abord collectif, n’est pas le signe d’un Je mais d’un Nous. […] sa force vient d’être choisi et non pas imposé. […] l’important est que je ne subisse pas mon nom, que je l’assume avec et dans ma communauté.« 435 Angesichts der Tatsache, dass die afrikanischen Sklaven als Verschleppte ja nicht nur ihrer Freiheit, sondern auch ihrer Herkunft, ihrer Namen und ihrer Sprache beraubt wurden, versucht Glissant, diese Auslöschung mittels Literatur zu kompensieren. Er gibt seinen Figuren – wenn auch stark fragmentiert – eine Genealogie, einen Namen und eine Stimme.

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Ebd., 112. Ebd., 110. Ebd., 143. Glissant: 1997a, 488.

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4.4.6 Ausblick: Das Diptychon »Le roman des Batoutos« – Spuren einer fantastischen Ethnologie »Et la liste des souffrants et des illuminés, nous les avons fréquentés tout du long, de Aa et de Pythagore à Marie Celat aux obscurs sans fond de la Case du commandeur, où la liste s’est ruinée, régénérée. Nos temps n’engendrent pas de lignée, ni nos terres n’ont érigé de centre, et de même nos listes n’honorent en rien les filiations et les générations. La femme ou l’homme ou la bête ou l’herbe qu’elles nomment apparaissent sans prémices ni héritage. Elles ont la terre et la poussière pour asile et ne fréquentent pas les grands éclats.« 436

Dieses Zitat, welches Glissants rhizomatische Digenese vor Augen führt, stammt aus seinem letztem Roman Ormerod und knüpft an La Case du commandeur an. Wird in La Case du commandeur der Kollaps beim Blick in den Abgrund der Geschichtstraumata beschrieben, so verfolgt Glissant mit seinem letzten Romanprojekt eine andere Zielrichtung. Er entwirft in seinem Diptychon, Sartorius. Le roman des Batoutos (1999) und Ormerod (2003), »une vision prophétique du passe«437. Bereits in Le Discours antillais hatte Glissant gefordert: »C’est en réinvestissant son passé que, dans nos pays, on échappe à l’ambigu traumatique des refus et des rejets inconscients.«438 In seiner Introduction à une Poétique du Divers präzisiert er seine Idee: »Le passé ne doit pas seulement être recomposé de manière objective […] par l’historien, il doit être aussi rêvé de manière prophétique, pour les gens, les communautés et les cultures dont le passé, justement, a été occulté.«439 Der von Glissant initiierte Mythos ist ein im progressiven Sinne mobilisierend wirkender. Er beschreibt sein letztes Romanprojekt als notwendigen prophetischen Mythos: »Le roman des Batoutos est une fable moderne de la non-domination. Bien que j’aie pris soin de situer assez précisément ce peuple dans le temps (l’an 500 avant notre ère) et dans l’espace (dans une région de l’Afrique centrale), les Batoutos sont avant tout un peuple mythique. Mais c’est un mythe dont le monde a besoin car les Batoutos incarnent un peuple qui n’a pas la prétention de s’ériger en modèle et qui va dans le monde non pas pour le posséder mais pour vivre ensemble avec les autres. Nous avons besoin d’un peuple de ce genre qui ne veut pas être un peuple conquérant, un peuple impérialiste et qui, par conséquent, nous protège contre les tentations de nous rendre trop visibles en imposant à d’autres peuples nos valeurs, nos manières d’être. C’est un mythe nécessaire à l’imaginaire en expansion de cette fin de millénaire, où tant de cultures se rencontrent et se transforment. La littérature telle que je la conçois et la pratique

436 Glissant: 2003, 68. 437 Glissant: 1997e, 69; Glissant: 2003, 150. Die Gabe, statt der Zukunft die Vergangenheit wahrzusagen, hat auch der Quimboiseur Papa Longoué. Der Name Batoutos verweist sicherlich auch auf den Goncourt gekrönten Roman Batoula. Véritable roman nègre (1921) des martinikanischen Autors René Maran. Und Ormerod erinnert an Derek Walcotts episches Gedicht Omeros (1990), wo es um die Atlantik-Überquerung von der Karibik nach Afrika, eben um einen voyage à l’envers, geht. Glissant ruft so schon durch die Titelgebung einen alternativen Kanon auf. 438 Glissant: 1997a, 156. 439 Glissant: 1996a, 86.

440 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN a pour fonction d’exprimer ce métissage, avec toutes ses joies, mais aussi ses dérélictions, ses massacres, ses génocides, ses contradictions ou ses banalisations.«440

Durch die ungewöhnliche Titelgebung des ersten Bandes, Sartorius. Le roman des Batoutos, unterminiert Glissant von vornherein die Gefahr, als Vertreter essentialistischer Positionen verdächtigt zu werden, denn der Name Sartorius referiert u.a. auf einen Freund des Autors, den damaligen Generalsekretär der Goethe-Institute, Joachim Sartorius. Glissant will »la relation personnelle avec la relation mythique«441 vernetzen; augenzwinkernd verrät er uns in einem Interview: »on peut arriver aux Batoutos par un détour. Sartorius c’est le détour.«442 Und statt eines afrozentristischen Rückgriffs beabsichtigt Glissant, ein anderes Afrika zu zeigen, jenes der Diaspora, »de l’en-aller. Non de la diaspora de la conquête mais celle de la souffrance, du malheur comme dans la traite négrière […] un pays d’errance«443. Der Romantitel markiert außerdem Glissants ausgreifendes Konzept der Relation. Neben dem nachträglichen Enracinement in Afrika – wäre hier nicht Jean-Claude Charles’ Oxymoron Enracinerrance angemessener – durch die Erfindung der Batoutos, referiert der Name Sartorius auch auf William Faulkners Werk Sartoris (1929), in der eine Familie, auf ihre aristokratischen Fundamente vertrauend, unaufhaltsam zugrunde geht. Faulkners postumer Roman Flags in the Dust (1973) wurde in einer stark gekürzten Fassung bereits 1929 unter dem Titel Sartoris publiziert. Es war Faulkners Auftakt zu einer großangelegten Südstaaten-Saga, die im imaginären Yoknapatawpha County (kurz Yocona) angesiedelt ist. Im Mittelpunkt steht die Familie Sartoris, deren dominierende Stellung von zwei Brüdern während des Bürgerkriegs begründet wurde. Nicht nur die Vornamen der beiden Brüder, sondern auch transgenerationelle Traumata vererben sich wie in Glissants karibischer Saga teleskopartig weiter. Faulkners komplexe und experimentelle Erzähltechnik, wie die sich wiederholende Zirkularität, die Sprünge in der Zeitebene, diese versetzte Schreibweise mit aufgeschobener Bedeutung sowie die Etablierung eines fiktiven Mikrokosmos, in dessen Zentrum die Bruder-Thematik steht, hat Glissant maßgeblich beeinflusst. Für Glissant legt Faulkner gewissermaßen ungewollt Zeugnis von der »filiation pervertie et de la légitimité atteinte«444 ab. Glissant sieht in dem tragischen Schicksal und dem unentwegten Taumel der Faulkner’schen Figuren das Erbe einer Gesellschaft, die auf dem Fundament des Sklavenhandels großgeworden ist: »[…] ce qui est fondé sur l’esclavage et l’oppression ne peut durer. [...] sans que Faulkner ait à le dire expressément, on voit comment jouent les effets de l’esclavage et de ses séquelles, ce qu’ils déterminent en solitude, angoisse, damnation, préjugés, aveuglement chez les anciens maîtres. Sous le convenu de cette société (la croyance sans nuance en la supériorité blanche), il y a cette faille, qui n’est intéressante qu’en ceci: elle mesure ce qu’il faudra de renversement dans les sensibilités avant que les nouveaux rapports, le nouveau vécu de la Relation, soient

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Glissant: 1999c, Herv. N.U. Glissant: 1999d. Ebd. Ebd. Glissant: 1996b, 110.

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rendus délibérés. Ce renversement, l’œuvre de Faulkner y travaille, non par leçon de morale, mais par changer nos poétiques.«445

Glissant präzisiert diese Poetiken, indem er den Begriff einer »écriture diffractée, qui projette vers des réponses sans cesse différées« einbringt oder von einer »écriture en différée«446 spricht: »L’œuvre de Faulkner m’a toujours paru être ainsi: une révélation différée […] qui engendre sa technique, non pas d’élucidation (psychologique, ni sociale, ni…), mais, en fin de compte, d’amassement d’un mystère et d’enroulement d’un vertige […].«447

Diese Poetik des Aufschubs, Enthüllens und Umkreisens macht Glissant für sein eigenes Werk fruchtbar. Im Zentrum von Faulkners Südstaaten-Familiensaga steht die Titelfigur Colonel Sartoris, eine Figur, die dem Urgroßvater des Autors, William Cuthbert Falkner nachempfunden ist. So wie der Schriftsteller Faulkner seinem Familiennamen das einst weggefallene ›u‹ wieder hinzufügt,448 so verliert in Glissants Sartorius eine Figur durch die Einwanderungsbehörde den Buchstaben ›u‹ in seinem Nachnamen und erhält in der Folge einen anglisierten Namen. Glissant schafft einen »nouveau William«449 : Le premier des fonctionnaires, il ne savait pas comment les désigner autrement, et c’était tout au début de ce parcours entre les grillages, n’avait pas même levé la tête vers lui. — Name? — Wilhelm Sartorius. — William Sartoris. O.K. Bill. Next! Et il lui épingla le papier au revers de sa veste. Je ne suppose pas que ce Sartoris-là, engendré par la rhétorique sommaire de l’Immigration, fut de la même sorte que ceux dont l’auteur de L’intrus écrivit l’histoire.450

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Ebd., 134. Ebd., 141. Ebd., 20. »[...] cette famille méritait d’être en quelque sorte ›transposée‹ ou sublimée par cette variante du nom, avec cet u gonflant d’épique nouveauté.« (Ebd., 52) 449 Glissant: 1999a, 269. 450 Ebd. L’intrus ist der französische Titel von Faulkners Roman Intruder in the Dust (1948). Hauptfigur des Buchs ist der eigenwillige, verschwiegene Außenseiter Lucas Beauchamp, Nachkomme eines Weißen und einer Sklavin, der des Mordes an einem Weißen verdächtigt wird. Im Laufe der Handlung stellt sich seine Unschuld heraus und der weiße Mob, der sich zusammengerottet hatte, um Lynchjustiz zu verüben, verläuft sich. Glissant deutet ihn als opake Figur: »Lucas n’est pas une victime, c’est l’Intrus, celui qui dérange l’ordre des choses. Ses silences n’ont finalement pas pour objet d’épaissir le mystère, mais bien de souligner ce qu’il oppose, lui Lucas, en opacité infranchissable, à toute tentative d’éclaircissement, d’aide, de compréhension, de rapprochement. La découpure en silhouette […] est la marque de Faulkner: ne pas prétendre pouvoir explorer là, du moins en profondeur« (Glissant: 1996b, 126). An anderer Stelle konstatiert er, dass Faulkner

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Glissants intellektuelle, intertextuelle Verortung zwischen den Kontinenten, zwischen den Geschichtsschreibungen, zwischen Opfer- und Komplizenschaft und seine Kunst der Redeführung findet hier schon durch die spezifische Titelgebung ihren Ausdruck. Das von Glissant imaginierte Volk der Batoutos ist bezeichnenderweise unsichtbar.451 Auch wenn der Name Batoutos reale Namen afrikanischer Völker wie Bantous, Batwas pygmées oder Batutsis evoziert, verkörpert der Name eine symbolische Synthese afrikanischer Völker, welche durch den Sklavenhandel zerstört und deportiert wurden. Der Kunstgriff der Verborgenheit der Batoutos verweist einerseits auf die verdrängte, ungesehene Geschichte der Völker ohne Geschichte und somit auf die Problematik der Erinnerung selbst. Glissant beschreibt mittels dieses unsichtbaren Volkes aber nicht nur die ungesehene Geschichte, sondern auch den noch immer nicht wahrgenommenen Alltag in Afrika und in der afrikanischen Diaspora.452 Indem Glissant zum Ethnologen seiner eigenen Community und ihrer Geschichte von Kreolisierung und Diversität wird, macht er beides ein Stück weit sichtbar. Andererseits kommt den Batoutos durch ihre Unsichtbarkeit, ihre Unverortbarkeit und damit auch Allgegenwärtigkeit eine Rolle zu, die auf mythischer Ebene, im Kontext des Imaginären, wirken soll: »c’est un peuple dont nous avons mythiquement besoin [...] chacun peut devenir ›Batouto‹«453 . Die Unverfügbarkeit traumatischer Geschichte findet hier ihren opaken Ausdruck in ihrer Unsichtbarkeit. Man könnte auch von einer fantastischen Ethnologie sprechen, wie es das den Roman einleitende Zitat von Gilles Deleuze nahelegt: »La santé comme littérature, comme écriture, consiste à inventer un peuple qui manque.«454 Die fiktiven Gestalten der Literatur fungieren als Schutz, denn die Batoutos stehen den Verschleppten und Versklavten wie eine Art Geheimbund tröstend zur Seite. Im kollektiven nous formuliert der Erzähler in Ormerod: »c’était là un autre de nos pouvoirs, d’entretenir ce que nous appelions la sécrétie, à vrai dire le talent de faire croire à des tréfonds et à des mystères cachés.«455 Sie begleiten den migrant nu als Schutzengel auf seinem traumatischen Weg in die Karibik. Glissant erschafft auf diese Weise eine begleitende Ursprungserzählung, die parallel zur Sklaverei noch eine andere Geschichte erzählt. Schließlich wird das Volk der Batoutos zum Träger der Botschaft eines Chaosmonde: »Nous parcourons d’esprit et de corps le monde [...]. Nous pressentons qu’il est divers, et un tout à la fois, contradictoire en lui-même et chaotique de toute la force de ses imprévus. Les

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sich stets zwischen dem »respect de l’opacité de l’Autre« und einem »système d’apartheid« (ebd., 93) bewegt. Chamoiseau nennt diese unsichtbaren Begleiter Mentohs und bei Confiant tauchen sie als Mentores auf. Glissant kritisiert, dass selbst das aktuelle Afrika weithin unsichtbar sei: »on ne voit pas l’Afrique. Elle est invisible. Pourtant, il y existe une vie normale, bien différente de la vision apocalyptique que l’on s’en fait« (ebd.). Glissant: 1999d. Glissant: 1999a, 11. Glissant: 2003, 200, Herv. i.O.

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Batoutos nous l’ont enseigné, c’était bien avant que nous les ayons reconnus. Un peuple qui vous apprend le monde n’a pas à paraître, c’eût été un régisseur.«456

In Ormerod erwähnt er die Produktivität dieses Chaos, »le tumulte fécond du Chaosmonde«457. Verortet werden die Batoutos in einer Gegend mit dem doppelten Namen Onkolo oder Onkoloo,458 ein mythischer Ort der »parole-palabre«459, in der Odono als »maître des voix«460 auftritt. Verwiesen wird so auf die Erzähllogik der afrikanischen palabre – das Ritualgespräch der Dorfältesten unter dem heiligen Baum, die Treffen sous l’arbre à palabre.461 In Ormerod sagt eine der Glissant’schen Figuren: »Je n’écris pas un livre, je palabre avec vous...«462 Die Heterotopie Onkolo/o etabliert eine nachträgliche Verankerung in einer Chaos-monde, einen positiv besetzten lieu commun jenseits der Sklaverei.463 Dem Genre der Ethnofiktion entsprechend, das sowohl aufklärerische als auch utopische Züge trägt, inszeniert Glissant in literarischer Weise eine für das Überleben der deportierten Afrikaner und ihrer Nachfahren bedeutungsvolle Utopie. Glissant interessiert das Volk der Batoutos als Instrument zur Schaffung eines alternativen, bislang ungehörten Diskurses über verdunkelte, aber vorhandene Wirklichkeiten und nicht bloß als Ausgangspunkt für intellektuelle Spekulationen über europäische Wirklichkeit wie es bspw. Montesquieus Briefroman Lettres persanes vorführt. Die augenfällige Häufung des Vokals O in Glissants Diptychon referiert homophonisch auf eau(x) und mahnt damit an die Middle Passage als zentralen lieu commun in der antillanischen Geschichte. Das O von Odono ist nicht nur Phonem, sondern auch ein Symbol des Einen, des Kreises, des Vollständigen, der Erde, der Weltschlange Uroboros, ein Zeichen für Anfang und Ende, welches unaufhörlich im Roman wuchert. Schon das Leitmotiv Odono beginnt und endet kreisförmig auf diesem Vokal. O wird zum Signifikat und erzeugt eine Kette von Signifikanten von Namen wie Oko, Onkolo/o, Odono/o, Okombo, Onoko, Mahinondoo, Batouto/o, etc.: Seuls les Batoutos ont usage de l’o… — Vous en avez mis du temps, avant d’en venir à vos constatations… Les trois zéros, 000, de l’an nouveau, vous auraient-ils réveillé l’humeur? L’o et le zéro ne se distinguent pas, ils montrent l’invisible…464

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Glissant: 1999a, 19. Glissant: 2003, 325. » […] selon que vous l’estimez au masculin ou au féminin« (Glissant: 1999a, 51). Vgl. Glissant: 1999a, 32f. Ebd., 53. Zur palabre-Praxis vgl. die Studie des kamerounischen Philosophen Jean-Godefroy Bidima: 1997. 462 Glissant: 2003, 137. 463 Der Verweis auf Cheikh Anta Diop (Glissant: 1999a, 70), implizit damit auf Studien wie Antériorité des Civilisations Nègres. Mythe ou vérité historique? (1963) oder L’Unité culturelle de l’Afrique noire (1960), lassen Glissants Onkolo/o als panafrikanische Ethnofiktion aufscheinen. 464 Glissant: 2003, 355.

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Doch in dem scheinbar perfekten Einen, dem O, öffnet sich ein anderes, unklares Zeichen, ein Abgrund: »Vous remarquez qu’il se trouve un très petit nombre de ces alphabets, si vous en exceptez les langues européennes, où la forme O, représentation unique du monde, et de la terre du moins autant que de l’univers peut-être, s’établit dans sa pureté, comme elle fait dans le cyrillique, le grec ancien ou l’oriya, ou encore le coréen et le birman. Hormis pour ces cas exemplaires, il s’y glisse toujours une béance, une fissure, un ajout, un redoublement qui pervertissent l’absolu de cette figure. De manière forte, les systèmes idéogrammatiques ignorent l’apparence du O, qui souvent s’ouvre aussi en U ou en W arrondi.«465

Demgemäß, so Glissant, gibt es zwei Ordnungen: »Celui qui consent à la pérennité du O, à son absolu, à l’unité impérative du Tout, et cet autre qui ruse avec lui par toutes sortes de diffèrements, ou qui adopte les formes par exemple du carré ou du rectangle ou du triangle, elles aussi fortement perverties, et bien moins impérieuses, […]. Ce monde est déjà ce que sera l’eau mêlée de la mare, imprévisible et multiple, libre à vous de le concevoir aussi comme l’O tyrannique et parfait qui en marquait le bord.« 466

Das Eine, das Klare, das Absolute bringt er auf ästhetische Weise in Kontakt mit dem Kantigen, Winkligen, Offenen, Unsichtbaren, Multiplen und Getrübtem: »l’eau mêlée de la mare«. Das daraus resultierende »O tyrannique« ist auch die barocke Figur, die unregelmäßige Perle, das trompe-l’œil gegenüber dem klassischen Einen. In Ormerod lesen wir von der subversiven, getrübten Tiefe des Ozeans, – »l’abîme et l’inconnu sont d’Océan«467 –, die Glissant mit einer barocken Ästhetik zu fassen sucht: »La mer Océan roule sa profondeur, où furent jetés les Africains enchaînés, et son étendue, dont l’inconnu terrifiait…« […] »Quand nous dérivons d’un continent à un autre, déportés ou transbahutés, sur le chemin nous enfantons des archipels…« […] »Les marginaux ne sont plus en marge, expression et visitation sont installées au plein de cet abîme et de cet inconnu…« […] »Vous nous criez baroques, c’est la poussée à l’infini 468 de l’étendue qui recouvre l’abîme…«

Die barocke Ausdehnung (»l’étendue«) steht in Analogie mit dem Abgrund (»l’abîme«) der Geschichte. Glissant hat in diesem Textteil bewusst eine halbe Seite

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Glissant: 1999a, 349. Ebd., 350. Glissant: 2003, 221. Ebd., Herv. i.O.

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frei gelassen und am Ende immer Auslassungszeichen gesetzt. Eine solch typographische Gestaltung in Form weit eingerückter Satzanfänge und unbeendeter Sätze versucht das Unsagbare durch Eingeständnis des Defizits, der blancs durch Andeutungen und Auslassungen darzustellen. Wenn Glissant schreibt, dass die Karibik »est semée de signes de piste sous-marins«469 , so meint er damit zahlreiche Spuren von Tod und Überleben, von Anpassung und Widerstand. Glissants letzter Roman, Ormerod, situiert sich auf der Folie von »deux prétextes«470, die insbesondere das Thema Widerstand fokussieren: Der eine Prätext behandelt den Sklavenaufstand auf St. Lucia 1793 gegen die englische Kolonialmacht unter der Führung von Flore Gaillard. Glissant stellt damit dem haitianischen Widerstandskämpfer Toussaint Louverture eine négresse marronne in der Tradition von La mulâtresse Solitude aus Guadeloupe471 oder Cécile Fatiman aus Saint-Domingue zur Seite. Der zweite Prätext nimmt den pro-kommunistischen Staatsstreich in Grenada 1983, der von den Vereinigten Staaten militärisch niedergeschlagen wurde, in den Blick. Nach der Ermordung des damaligen Premierministers von Grenada, Maurice Bishop, wurde im Verlauf einer us-amerikanischen Invasion unter der Führung von Ronald Reagan die Regierung gestürzt. Ormerod erzählt diese historisch weit auseinanderliegenden Ereignisse in achronischer und ausschweifender Weise, angereichert mit inneren und geographischen Reisen, welche den Leser von den Antillen über Afrika und Europa bis nach Australien führen. Es ist nahezu unmöglich ein Resümee des Romans zu geben, denn Glissant treibt hier erneut seine chaotische, turbulente und intertextuell überhitzte Schreibweise auf die Spitze; eine unendliche Anzahl historischer und fiktiver Figuren, teils aus vorangegangenen Romanen, werden miteinander korreliert. Sein Schreiben erinnert an das Aufeinandertreffen der Kontinentalplatten: »Il est dit, de science et prophétie certaines, que bientôt, demain, un monstrueux raclement des plaques d’en dessous provoque – comme une écriture cassée concassée qui d’elle-même s’emporte et se meurtrit – l’apocalypse qui engloutit ces terres et submerge la mer elle-même, dans une furie d’eau sans dimension ni intention, et de vent sans direction.«472

Die Gedächtnisspuren in Ormerod verweisen gleichzeitig in die Vergangenheit und in die Gegenwart: »Ils ne manquent pas de remonter cette ravine vers la source cachée de la mémoire, mais de redescendre aussitôt jusqu’aux multiples deltas d’aujourd’hui […].«473 Es ist bereits deutlich geworden, dass Glissants Roman Sartorius. Le roman des Batoutos über seinen spezifischen Titel Afrika mit den Südstaaten, allgemein mit Nordamerika, verknüpft. Der zweite Roman der Batoutos, Ormerod, stellt außerdem eine Verbindung von Amerika (Grenada) zu Australien her. Der Titel referiert auf eine australische Freundin von Glissant, auf die jamaikanisch-australische Literatur-

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Ebd.. Ebd., 11. Vgl. La Mulâtresse Solitude (1972) von André Schwarz-Bart. Glissant: 2003, 16, Herv. i.O. Ebd., 354.

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wissenschaftlerin Beverley Ormerod: »une fréquentation de littérature de notre poète et une amie aussi.«474 Sie avanciert somit, wie Glissant selbst, zu einer Grenzgängerin zwischen literarischer Figur und Literaturkritikerin. Vor allem hat Glissant ihren Namen als Romantitel aus folgendem Grund gewählt: »la sœur de cette dame était l’épouse d’un des conspirateurs«475 des granadischen Staatsstreichs von 1983: »Ormerod est le nom qui nous a rattachés à ce bouleversement silencieux d’archipel en danger.«476 Und weiter: »ce nom n’entretenait que des suppositions d’alliance avec les événements, il s’était dérivé vers l’Australie à la fois île archipel et continent […]. L’Australie audacieuse bouillonnante autour du désolé contrefort aborigène, […].«477 Ich deute den Titel als Signal für den sich rhizomatisch ausbreitenden weltweiten Widerstand. Wie bereits in Sartorius löst auch hier der Romantitel eine ganze Signifikantenkette aus. Beverley Ormerod »était pour nous le seul lien touchable concret avec ces événements de Grenade en 1983, il arrive ainsi qu’un nom grossisse en significations non pas importantes mais symboliques, dans une situation avec laquelle il n’a pourtant rien ou si peu à voir«478 . Glissant überzieht seine Tout-monde in diaund synchroner Weise mit einer widerständigen Kartographie, die die Kreolisierung und Relation verschiedenartiger Identitäten näher bestimmt. Er stellt neue Verknüpfungen zwischen Archipelen und Kontinenten her: »Sautez de roche en roche, d’île en île, de temps anciens en temps actuels et déjà futurs, courez au large et embrassez l’entour.«479 Statt einer Anhäufung von Details, um der Komplexität von Wirklichkeit Rechnung zu tragen, finden wir bei Glissant nur Splitter solcher Verfahrensweisen. Er wendet sich prägnanten, existentiellen philosophischen bzw. theologischen und literarischen Fragen zu, denen wiederkehrend von unterschiedlichen Stimmen in schwindelerregender Weise Ausdruck verliehen wird.

4.5 C HAOS - MONDE

ODER

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UNITE EXPLOSÉE «

Wie können die Nachfahren afrikanischer Sklaven ein Bewusstsein von Geschichte, von Herkunft und Kontinuität entwickeln? Zurückkommend auf diese eingangs gestellte Frage, lässt sich für Glissants Schaffen festhalten: Sein Respekt vor dem »tourbillon de mort«480, der eine Auslöschung von Generationen zur Folge hatte, ist im Text verschriftlicht. Schauen wir uns an, was Sabine Broeck für Morrisons Roman Beloved resümiert. Sie spricht von einem »nicht im closure des plot aufgehenden Exzess«481. Dieser Exzess äußere sich »durch literarische Verfahren der Spal-

474 475 476 477 478 479 480 481

Ebd., 140. Ebd. Ebd., 141. Ebd. Ebd., 204, Herv. N.U. Ebd., 13. Glissant: 1997c, 68. Beloved spalte sich in plot und einen Exzess/Rest jenseits des emplotments: »Der Kindsmord, das zweite Trauma [nach der Sklaverei, N.U.] und seine traumatischen Konse-

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tung, des Umkreisens, des Kollapses, der Fragmentierung, der Lacunae und des Verlierens, mit denen der Text gegen sich selbst schreibt«482 . Vergleichbares lässt sich für Glissants Schreibweise konstatieren, so dass sich denkwürdige narrative Parallelen innerhalb der Postplantation Literature auftun. Den Literaten kommt die kriminalistische Aufgabe zu, die zerstreuten, fragmentierten Teile zerstörter Genealogien wieder zusammenzuführen und ihre Anordnung zu bestimmen. Dieses Verfahren fungiert einerseits als bedeutungsstiftende Gedächtnis- und Trauerarbeit, andererseits aber verhindert eine solch ›exzessive‹, ›kollabierende‹ und ›löchrige‹ Schreibweise ganz bewusst, das Trauma der Sklaverei vernunftmäßig zugänglich zu machen und abschließend zu erzählen. Glissants Romanen gelingt es die Orte der Exklusion und des Vergessens wieder in die Sprache einzuführen, allerdings in Form von Verstörungen. Trotz Inhaltsverzeichnissen oder Datierungen und Diagrammen im Anhang einzelner Werke suggerieren die Texte im Untergrund eine Chaos-monde. Glissants Ablehnung einer souveränen Ordnung kulminiert in einem produktiven Chaos-Begriff: »Ayons la force imaginaire et utopique de concevoir que ce chaos n’est pas le chaos apocalyptique des fins de monde. Le chaos est beau quand on en conçoit tous les éléments comme également nécessaires. Dans la rencontre des cultures du monde, il nous faut avoir la force imaginaire de concevoir toutes les cultures comme exerçant à la fois une action d’unité et de diversité libératrices.«483

Literarische Techniken wie Wiederholung, Fragmentierung, Verausgabung, Akkumulation, démesure oder Desindividuation seiner Figuren zugunsten eines exemplarischen Gedächtnisses prägen Glissants Werk. Insgesamt sind seine Figuren im Spannungsfeld von Marron und Sklave, von Opfer und Überlebender, von Verräter und Verratener konsequent allegorisch angelegt.484 Er erfindet im Sinne von Deleuze und Guattari eine komplexe rhizomatische und nomadologische Geschichtsschreibung und führt den vergessenen lieu commun der Sklaverei in die Sprache wieder ein. Die Geschichte der Antillen lässt sich nicht bloß aus F/Akten und Archiven rekonstruieren, ihre Übermittlung fordert die Imagination heraus. Die Geschichte der Überlebenden kann nur bedingt mit empirischem Material erfasst, sondern muss auch fiktional aufgefüllt werden und nimmt daher die Form

quenzen für die Mutter als Mörderin und das Kind als Opfer entziehen sich der Narrativisierung, bleiben als abzuspaltender Rest oder Exzess, der nur umkreist, aber nicht ›durchgearbeitet‹ werden kann […]. Das tote Baby wird von der Geschichte zweimal abgespalten – dies ist der traumatische Preis, den der plot für sein closure bezahlt. Die Existenz eines Narrativs, einer ›story‹ für Paul D, Sethe und Denver bedingt geradezu die Abwesenheit des Traumas des Kindes« (Broeck: 2005, 104). 482 Broeck: 2005, 103. 483 Glissant: 1996a, 71. 484 Kritisch anzumerken ist Glissants starke Fokussierung auf Europa und Afrika, was sich insbesondere daran zeigt, dass die ethnische und kulturelle Vielfalt der Karibik in seinem Werk stark auf diese zwei Pole eingegrenzt wird.

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einer Erzählung an. Historische Diskurse werden substituiert. Das geht über das Bewusstsein hinaus, dass Geschichte auch Narratologie ist, wie Gisela Febel erläutert: »Es geht um ein Fortschreiben der Figur des Unsagbaren mit immer neuen Stimmen, die sich zum Substitut der Verschwundenen machen, nicht um statische Empathie. Anders gesagt: In dieser Dichtung des Erhabenen geht es nicht mehr um die Begegnung mit dem Heiligen, dem Göttlichen oder der Natur, sondern um die Konfrontation mit dem Unmenschlichen, dem Unsagbaren der Katastrophen. Sie geschieht auch nicht mehr als einzelner Text, sondern in einem intertextuellen und transkulturellen Raum, einer mehr oder weniger geheimen Komplizität von Dichtern und Intellektuellen, Leserinnen und Lesern, Mutigen und Neugierigen, Überlebenden und Widerständigen, wie wir sie heute gerade in postkolonialen Gesellschaften in besonderem Maße finden.«485

Die literarische Technik des retour des personnages – bei Glissant aber auch die von Leitmotiven, Schlüsselbegriffen, Orten und Ereignissen – erinnert an den realistischen/naturalistischen Roman des 19. Jahrhunderts à la Balzac oder Zola. Der Comédie humaine oder dem Rougon-Macquart vergleichbar entwirft Glissant Geschichte als Genealogie. Nur verwendet er den Gattungsbegriff Roman keinesfalls als Synonym für eine wahrheitsgemäße Erfahrung des Wirklichen, die sich mimetisch abbilden ließe. Im Gegenteil, Glissant geht von der Destruktion des Realismus aus und erzeugt, ausgehend von Traumata und Verdrängtem, ein Substitut des Unerzählbaren, das gleichwohl historische Referenz herstellt.486 Ohne die notwendige Stabilität der Signifikate kann der Text nicht mehr zu einer Repräsentation der außertextuellen Welt werden. Glissants écriture ist eine subversive Form des Realismus. Er fragmentiert die Herrschaftsdiskurse der Histoire in viele Geschichten. Es gibt zudem bei Glissant keine postmoderne, sinnentleerte Suche frei schwebender Zeichen. Es geht ihm vielmehr in retrospektiver Hinsicht um die Unerzählbarkeit von Geschichte,

485 Febel: 2004, 173f. 486 Eine andere Form des Unerzählbaren wäre z.B. auch das Genre der Uchronie. Der Begriff geht zurück auf Charles Renouviers Werk von 1857 mit dem barocken Titel Uchronie. L’Utopie dans l’Histoire. Esquisse historique apocryphe de développement de la civilisation européenne tel qu’il n’a pas été, tel qu’il aurait pu être. Es handelt sich dabei um ein fiktives Manuskript aus dem 16. Jahrhundert, verfasst von einem Mönch, der darauf wartet, als Ketzer verbrannt zu werden. Dieser Mönch träumt von einem Europa ohne Inquisition, einem Christentum ohne römische Institutionen, einem Sieg der Philosophie über den christlichen Fanatismus. Was wäre geschehen, fragt er, wenn das Christentum nicht als weltliche Macht triumphiert hätte? Einschränkend bleibt anzumerken, dass Renouviers Uchronie, anders als Glissants Geschichtsmodell, von einer Realgeschichte und von Kausalbeziehungen in der Geschichte ausgeht. Auch wenn es sich bei beiden um eine Art Alternativgeschichte handelt, so geht es Renouvier um die Wirkung eines veränderten Faktums in der Geschichte und deren Folgen, also um Anstoßkausalität und Möglichkeitsräume. Glissant aber geht es konkret um verdrängte lieux communs und einen anderen Blick auf die westliche Moderne. Die verschiedenen Werke treffen sich aber an dem Punkt, wo beide die explosionsartigen Vervielfältigungen der Möglichkeiten und unablässigen Aufspaltungen der geschichtlichen Ereignisse literarisch inszenieren.

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um die Widersprüchlichkeiten des vorliegenden Materials, um das Chaos der Erinnerung und in prospektiver Hinsicht um die Multiplikation von kulturellen Kontakten im Kontext von Beschleunigung und Unvorhersehbarkeit. An die Stelle von Ganzheit, Einheit oder Totalität tritt bei Glissant eine Reflexion über das Fragment, die Grenze, die Differenz und die Absenz. Ferner sieht Glissant sich nicht als aufmerksamer Beobachter, von dem Balzac häufig spricht, sondern als Kommentator, der das Erzählte unaufhörlich in Frage stellt. Glissant geht weit über Balzacs Konzeption einer erklärbaren Welt, die sich in Geschichte verwandeln lässt, hinaus.487 Bei Glissant treffen wir auf eine Literaturkonzeption, die sich der Diskontinuitäten und Leerstellen von Geschichte bewusst ist, denn »[l]es terres vierges qu’il y a sur la Terre ne sont plus géographiques, elles sont mentales et spirituelles« schreibt Glissant.488 In einem Interview kommentiert Glissant selbst den Unterschied zwischen Balzacs und seiner Schreibweise: »Le monde balzacien, c’est un monde homogène [...]. Le monde de ce que j’écris est un monde exclusif, et la seule unité […] c’est l’équivalence entre les divers styles possibles, […] c’est-à-dire la totalité des langages qui expriment le Tout-monde. Il s’agit donc d’une unité explosée […].«489 Glissants Figuren haben in den einzelnen Werken gänzlich unterschiedliche Gewichtungen, vermeintlich einheitliche Ereignisse werden immer wieder aus multipler Sicht erzählt und dadurch unentwegt in Frage gestellt, quasi aufgesprengt. Er negiert logisch-räumlich-zeitliche Kausalität und eine Kohärenz der Figuren und Ereignisse. Die Aufgabe, das Unmögliche zu dichten und zu denken, stellt sich für Glissant nicht in der Weise, dass er sich anmaßen würde, die Deportation und die Sklaverei realistisch darzustellen. Er schreibt vielmehr über das komplizierte Verhältnis von Erzählungen und dem, was in ihnen Verschwiegenes zum Ausdruck kommt, über die sprechenden Zeichen und Bilder, die auf die Lücken, auf das Verschlossene verweisen. Er kommt dem Paradoxon nach, von dem Cécile Wajsbrot spricht, wenn sie die Literatur als ein Bezeugen des »son du silence« charakterisiert: »Ecrire, c’est savoir hériter, c’est-à-dire se situer dans une lignée, dans une chaîne d’événements, en l’occurrence, une succession de livres. Ecrire, c’est savoir se situer dans le temps biographique et le temps littéraire. Mais c’est aussi prendre la parole, rompre le silence et porter témoignage.«490 Glissant geht es um eine veränderte Historiographie, wobei er teleskopartig mehrere Zeit- und Raumebenen miteinander verschachtelt sowie Geschichten und Figuren rhizomatisch vernetzt. Aufgrund der Brüchigkeit, Zersplitterung, der Risse und Leerstellen der antillanischen Geschichte, eben aufgrund des Unvermögens, bestimmte Ereignisse empirisch nachzuweisen, werden die Lücken und Traumata des kollektiven Gedächtnisses in Glissants Literatur vor allem an ihrer Form gespiegelt. Es findet eine Verschiebung auf die Ebene der Darstellung statt; ihr kommt hier nicht

487 Bung hält fest: »Mais le fonctionnement à la Balzac n’est qu’apparent et mène sur une fausse piste: les différents fragments romanesques s’ajoutent les uns aux autres sans jamais former de monde cohérent« (Bung: 2007, 154). 488 Glissant: 1997e, 65. 489 Glissant, zit. nach Ludwig: 2008, 123. 490 Wajsbrot: 2008, 253.

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nur eine Funktion der ästhetischen Unterstützung des Inhalts, sondern auch die einer autonomen Bedeutungsproduktion zu. Glissant entfaltet literarisch-rhizomatische Ausdrucksformen der Ambivalenz, der Vielheit, der Kreolisierung und der Passagen. Die literarische Ästhetik bleibt vom Sturm der Geschichte nicht verschont. Glissants Texte haben nicht unbedingt Bewältigungscharakter, sie gehen über eine konsolatorische Funktion des Erzählens weit hinaus. Durch seine unabgeschlossene, offene Poetik gelingt es ihm, einen potenziellen Raum jenseits von Vernichtung und Tod zu begründen, einen Raum, der stärker von Fragen als von Antworten gekennzeichnet ist. Seine auf Fragmentcharakter und Mehrstimmigkeit aufbauende Poetik und seine ganz spezifische literarische Rhetorik, die jede logische, endgültige Sinnerschließung negiert, macht es Glissant überhaupt erst möglich, das Traumatische zu erzählen.

5 Gisèle Pineau: Créolisation und Migritude »Elles sont quatre. Angélique, Gisèle, Julia, Daisy. Quatre femmes enfermées entre les quatre murs d’une geôle noire. Elles se consolent l’une l’autre, pansent leurs plaies.« GISÈLE PINEAU: MES QUATRE FEMMES, 2007

5.1 W ANDERIN

ZWISCHEN DEN

W ELTEN

Gisèle Pineau ist in besonderer Weise eine Grenzgängerin zwischen den Kulturen. Verschiedene sprachliche und kulturelle Repertoires koexistieren in ihrer Literatur in exemplarischer Weise. Schaut man sich ihre Biographie an, fällt vor allem das beständige Hin- und Herpendeln zwischen Frankreich und Karibik ins Auge: Sie wurde 1956 in Paris als Tochter einer kinderreichen Einwandererfamilie aus Guadeloupe geboren. 1970 kehrte die Familie auf die Antillen zurück und lebte zunächst auf Martinique. Nach dem Abitur ging Pineau erneut für einige Jahre nach Frankreich, studierte französische Literatur und arbeitete als Krankenschwester. 1981 kehrte sie wieder nach Guadeloupe zurück, wo sie selbst nach ihren schriftstellerischen Erfolgen weiterhin als Krankenschwester in der Psychiatrie tätig war. Seit 2000 lebt die Autorin mit ihrer Familie in Paris. An Gisèle Pineaus Romanwerk lässt sich zeigen, wie Entstehungsorte von Texten aufgrund von Migration ihre scheinbare Selbstverständlichkeit verlieren und die Festlegung von kultureller Identität zunehmend fragwürdiger wird. Ottmar Ette umreißt dieses wechselseitige Durchdringen verschiedener Kulturen mit den heterotopischen Begriffen der Literatur in Bewegung und des ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz.1 In Abwandlung des Rimbaud’schen Paradigmas formuliert Ette: »Ici est un autre«2 und meint damit speziell die »Kinder der Migration«, die sich in einem »Echoraum von Vorfahren und Nachfahren«3 bewegen. »Denn die Kinder der Migration bewegen sich in einem raum-zeitlichen Vektorenfeld, in das

1 2 3

Ette: 2001 und 2005a. Ette: 2007a. Ebd., 3.

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die Raum-, Zeit- und Bewegungsstrukturen der Vorfahren hineinragen und vielfach gebrochene fraktale Muster bilden, die unter den eigenen Reisen stets andere Reisen vermuten lassen.«4 Ette konkretisiert diese Überlagerungen: »Die Kinder der Migration gehen nicht im Hier vollständig auf, sondern tragen jenes Dort in sich, das für die Eltern und deren Vorfahren das unhinterfragbare Hier einer wie auch immer bestimmten Heimat gewesen war. Etwas Unbenennbares ist allgegenwärtig. Die alten Fluchtwege und Migrationen sind transgenerationell gespeichert und bilden ein vektorielles (Familien-)Gedächtnis gerade dort, wo die Eltern ihre Kinder am neuen Hier ausrichten wollten. Doch dieses Hier ist ein anderes: Ici est un autre.«5

Das Leben ›nach‹ der Migration bewegt sich noch immer in deren Bannkreis.6 So stehen kulturelle Grenzzonen als Orte der Transgression und intensivierten Hybridisierung im Zentrum von Identitätskonstruktionen; die eine Geographie verweist auf eine andere, Orte auf Orte dahinter, Texte auf Texte dahinter. Selbst wenn Pineau vorwiegend in Frankreich aufgewachsen ist, schreiben sich ihre Texte nicht nur deutlich in das frankokaribische Literatursystem ein, sondern entwerfen auch das von Ette angesprochene vektorielle, auf multiplen Zeitebenen angesiedelte Familiengedächtnis.7

5.2 C RÉOLISATION

AU FÉMININ UND KREOLISCHES

E XIL

Pineaus erzählerisches Werk lässt sich als eine literarische Auseinandersetzung mit Négritude, Antillanité, Créolité und Créolisation verstehen.8 Auch wenn sie von sich selbst in bescheidener Weise behauptet: »[j]e ne suis pas un écrivain intellectuel, je suis une sensitive«9, werden in ihren fiktionalen Texten kulturtheoretische Implikationen wiederkehrend diskutiert. In meiner Lektüre ihrer Romane möchte ich diese Diskurse ausfindig machen. Ihre Romane fordern die Theorie und Literatur der »forgerons de la créolité«10 neu heraus; sie postuliert: »[i]l fallait aussi raconter les his-

4 5 6

Ebd. Ebd., 2, Herv. i.O. Nicht zuletzt zeigen sich die Spuren und Effekte kolonialer Geschichte auch in umgekehrter Richtung, sprich die Migration von Süd nach Nord (»We are here, because you were there«), vgl. Gutiérrez Rodríguez: 1999, 3. 7 Auch ihr Roman Fleur de Barbarie (2005) behandelt die innere Zerrissenheit eines zur Schriftstellerin heranreifenden Mädchens, das auf den Antillen geboren, aber in Frankreich in einer Pflegefamilie aufgewachsen ist. Dieser Text, genau wie ihr »récit« Mes quatre femmes (2007), müssen hier leider aus zeitlich-redaktionellen Gründen unbeachtet bleiben. 8 Vgl. Ludwig: 2008, 162. Neben Pineau gibt es zahlreiche weitere wichtige guadeloupische Autorinnen wie Michèle Lacrosil, Maryse Condé, Simone Schwarz-Bart, Gerty Dambury, Dany Bebel-Gisler oder Lucie Julia. 9 Pineau/Belugue: 1998/1999, 89. 10 Gyssels: 1998, 169.

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toires de l’exil créole.«11 Pineau steht damit im Kontext einer neuen afrikanischen Schriftstellergeneration, die in besonderer Weise von Migrations-, Reise- und Exilerfahrungen geprägt ist12 und deren Zugehörigkeiten raum- und generationsübergreifend vielfältig ausfallen. Chevrier hat dafür den Neologismus der Migritude geschaffen: »Contrairement à leurs aînés, la nouvelle génération d’écrivains africains est mue moins par la Négritude – le célèbre ›être-dans-le-monde-noir‹ – que par la ›migritude‹. Ce néologisme renvoie à la fois à la thématique de l’immigration, qui se trouve au cœur des récits africains contemporains, mais aussi au statut d’expatriés de la plupart de leurs producteurs [...].«13

Pineaus Personen sind häufig Grenzgängerinnen, unentwegt Reisende und wandernde Figuren. Sie thematisiert beständig Aufbruch, Ankunft, Verlust, Exil, Rückkehr und Wiederbegegnung. Prozesse der Deterritorialisierung und Reterritorialisierung lassen sich bei Pineau zunehmend als Geschichten des Empowerments lesen. Der mit den Transkulturationsprozessen und den Erfahrungen von Exterritorialität einhergehende zumeist schmerzhafte Kompetenzgewinn verleiht den Figuren ein größeres Maß an Selbstbewusstsein und Selbstbestimmtheit. Grundlage dafür ist jedoch, dass die Sprach- und Handlungsfähigkeit erhalten bleibt. Trotz vielschichtiger transkultureller Erfahrungen insistiert Pineau auf ihre Differenz als Schwarze Frau. Hier wird ein nicht aufhebbarer Rest des NichtAssimilierbaren innerhalb einer »culture métisse«14 erkennbar, denn Geschlecht und Hautfarbe waren ihre ersten Erfahrungen von Differenz. Doch sie schließt sich dabei nicht in einer Noiritude ein, sondern entwirft Bilder von kultureller Differenz und Geschlechterdifferenz on the move. Damit reagiert sie auf eine folgenreiche Leerstelle, denn Geschlechterdifferenz findet gerade in vielen theoretischen bzw. essayistischen Texten der Karibik keine explizite Erwähnung. Das symbolische Wissen (post)kolonialer Diskurse wird analysiert, als seien diese genderneutral. Weibliche Erfahrung und Handlungsmacht werden so negiert. Hingegen treffen wir im Kontext alternativer, kreoler Geschichtsschreibungsentwürfe häufig auf neue Meistererzählungen, Heldenkonstruktionen sowie stereotype Frauen- und Männerbilder. Odile Cazenave setzt sich in ihrem Buch Femmes rebelles. Naissance d’un nouveau roman africain au féminin deshalb zum Ziel »d’examiner (ou de réexaminer) les portraits stéréotypiques des femmes (exaltation de la beauté exotique conformément aux principes de la Négritude, la femme comme image de la mère Afrique, féconde et nourricière, la femme également comme prostituée et débauchée, victime des abus de la civilisation européenne).«15

11 Pineau: 1995b, 291. 12 Abdourahman Waberi bezeichnet die frankophon-afrikanischen Schriftsteller, die seit den 1990er Jahren schreiben, als »[l]es Enfants de la postcolonie ou une génération transcontinentale«, vgl. Waberi: 1998. Vgl. Cazenaves Studie zum »roman afro-parisien«: 2003a. 13 Chevrier: 2004, 96. Er entwirft auch den Begriff der »écrituresvagabondes« (ebd., 97). 14 Ebd., 97. 15 Cazenave: 1996, 21. Renée Larrier betont ebenfalls die Gleichsetzung von mère/terre bzw. »Mother=Mother Africa in ›master texts‹« (Larrier: 1997, 193).

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Für den ehemals kolonisierten Mann scheint es gleichfalls vornehmlich zwei Möglichkeiten zu geben: »that of the passive homosexual (Fanon’s impossible pédéraste) or the super-male (Césaire’s Rebel), since the position of real man is already occupied by the other of colonial domination.«16 So ist es nicht weiter erstaunlich, dass gerade die Marronnage omnipräsent ist im antillanischen Roman, sei es als historische Figur aus der Zeit der Sklaverei – der Marron als typischer Rebell –, sei es als Dissident des Zweiten Weltkrieges; obgleich eingewendet werden muss, dass es bei der Marronnage nicht nur um die Konstruktion von ›Helden‹ geht, sondern auch um die Darstellung subversiver Strategien, die vom Widerstand gegen den kolonialen Diskurs erzählen.17 Dennoch resümiert James Arnold: »It is finally the erotics of colonialism, which the polemicists of the créolité movement have taken over and written into their master narrative of Creole literature, that determines the symbolic geography of the repeating island.«18 Die Männer- und Frauenrollen wirken in mancher Hinsicht schematisch; so bilanzierte Ernest Pépin schon 1987 zur Gestaltung weiblicher Figuren in der karibischen Literatur: »L’écrivain antillais ne regarde pas la femme antillaise, il ne la contemple pas, craignant sans doute de tomber dans l’exotisme. Les Fidéline (Zobel), Ma Tine (Zobel), Mycéa (Glissant) n’ont pas véritablement de corps. Elles incarnent un type abstrait et désincarné. Il n’existe pas davantage une statuaire de la femme antillaise. Tout se passe comme si son trop plein d’existence engendrait un silence de la représentation.«19

Die afro-antillanischen Kulturtheoretiker und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts haben mit dieser Stereotypisierung bzw. Nicht-Beachtung von Frauen eine Tradition übernommen, die sich mindestens bis ins Zeitalter der Entdeckungen zurückverfolgen lässt. Sie knüpfen an der problematischen Parallelsetzung von Weiblichkeitsdiskurs und kolonialem Diskurs an, einem Diskurs, in dem sich Vorstellungen vom fremden Raum und vom weiblichen Körper aufs Engste überlagern. Frauen haben in kolonialen als auch postkolonialen Erzählungen häufig eine allegorische Funktion.20 Gewalt- und Machtdiskurse werden über den Körper der Frau in Form einer Territo-

16 Arnold: 1995, 27. Gerade die Verfasser des Éloge de la créolité verweisen emphatisch auf »l’opaque résistance des nègres marrons bandés dans leur refus. […] l’une des missions de cette écriture est de donner à voir les héros insignifiants, les héros anonymes, les oubliés de la Chronique coloniale, ceux qui ont mené une résistance tout en détour et en patience et qui ne correspondent en rien à l’imagerie du héros occidentalo-français« (Bernabé/ Chamoiseau/Confiant: 1989, 37-40). 17 Das ›Rebellentum‹ hat längst auch die schreibenden Frauen ergriffen, wie bspw. der Titel Femmes rebelles (1996) von Odile Cazenave nahelegt. 18 Arnold: 1995, 27. Der Begriff des ›repeating island‹ bezieht sich auf Antonio Benítez Rojos Essay La isla que se repite. El Caribe y la perspectiva posmoderna (1989). 19 Pépin: 1987, 193. 20 Der sexualisierte Raum, die entdeckte Landschaft, soll den Eroberern wie eine Frau zur Verfügung stehen. Die Feminisierung der Fremde ist bekanntlich konstitutiv für imperialistische Literatur: »The association of indigenous women with colonized land legitimated perceptions of both women and land as objects of colonization« (Blunt/Rose: 1994, 10).

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rialisierung des Weiblichen erzählt und verhandelt, und zwar von Autoren wie Autorinnen gleichermaßen, wenngleich mit Hilfe unterschiedlicher Erzählstrategien und Zielsetzungen. Arnold kritisiert insbesondere den Ausschluss des weiblichen Vermächtnisses bei den Autoren der frankokaribischen Gründungstexte. Gerade die einseitige Hervorhebung des männlichen conteur als Überlieferer von Geschichte und kollektivem Gedächtnis vernachlässige die Bedeutung der Frauen als Erzählerinnen: »On reading Bernabé, Chamoiseau, and Confiant, not to mention Glissant, we would be hard pressed to account for all those grandmothers or elderly aunts, those repositories of oral history, folk medicine, and stories of all sorts who have been credited by nearly all women writers in the Caribbean with stimulating their writing careers. None of these female figures of cultural transmission find their way into the history of oraliture that Chamoiseau and Confiant have constructed. Their place is occupied exclusively by the masculine figure of the conteur, who thus becomes the gendered ancestor of all creole culture.«21

Die Auslassung der Genderdifferenz bei den genannten Autoren findet hauptsächlich auf theoretischer, poetologischer Ebene statt. In der Literatur der Autoren sind Frauen als wichtige Gedächtnisträgerinnen präsent (wie Marie-Sophie Laborieux in Chamoiseaus Roman Texaco; Liberté Longoué oder Mycéa bei Glissant). Die Autoren partizipieren, indem sie außerhalb einer väterlichen und stabilen Ordnung schreiben,22 gewissermaßen unfreiwillig, sprich unbewusst doch an einem feministischen Diskurs. Dabei darf nicht vergessen werden, dass der antillanische Autor stets mit seiner eigenen ›verweiblichten Männlichkeit‹ zu kämpfen hat, ist doch die Rolle des männlichen Alpha-Tiers historisch durch den Europäer besetzt. Somit bleibt dem kolonisierten Mann nur die Rolle des (weiblich) Unterdrückten, worauf die Autoren mit einer »hypertrophic masculinity«23 reagieren. Laut Arnold ist der conteur eigentlich eine typische Uncle Tom-Figur,24 ein kastrierter Erzähler, denn »[t]he ›normal‹ position of masculinity having been occupied since the creation of Creole society on the habitation by the béké master, the position of the agonistic supermale dear to the négritude movement having been unmasked as an imaginary construct by Glissant and others, homosexuality having been denied by Fanon in the name of an nascent Antillean culture, the only position remaining to those who would declare themselves the heirs to the oraliturain [sic]

21 Arnold: 1995, 30, Herv. i.O. Eine Ausnahme bildet sicherlich Chamoiseaus Roman Texaco, in dem er eine weibliche Figur als Berichterstatterin einsetzt. Wie er in einem Interview mitgeteilt hat, basiert die Figur der Marie-Sophie Laborieux auf Erfahrungen mit seiner Mutter. Jene war seine eigentliche Informantin, was ihn zu dem Schluss kommen lässt: »mes romans étaient des romans féminins« (McCusker: 2000, 730). Außerdem gibt es bei ihm u.a. die Bewegung vom Land zur Stadt; dieser topographische Wechsel geht mit der Wendung vom marron zum conteur einher, vgl. Arnold: 1995, 38. 22 Valérie Loichot entlehnt hier Cixous’ Begriff der »männlichen Ökonomie«, vgl. Loichot: 2007, 75. 23 Loichot: 2007, 77. 24 Vgl. Ebd. 1995, 30f.

456 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN is that of castrated storyteller whose language remains obscure, muffled or screamed (read: hysterical), at all events turned away from the direct production of meaning.«25

Die Ignoranz gegenüber dem Wirken der Frauen führt Arnold u.a. darauf zurück, dass die frankophonen Schriftstellerinnen der Karibik »have a clear aversion to theorizing their project. […] The claim that the theorizing of literary activity is essentially a masculinist strategy«.26 Überdies würden die karibischen Autorinnen das Kreol weit weniger fetischisieren als ihre männlichen Kollegen, die Créolité vor allem an der tatsächlichen Verwendung des Kreols bemäßen.27 Arnolds vermutete Ausschlusskriterien treffen auf Pineau durchaus zu. Obwohl sie mit ihrem Buch Femmes des Antilles. Traces et voix (1998) Chamoiseaus und Confiants Sammlung Lettres créoles: Tracées antillaises et continentales de la littérature, 1635-1975 (1991) gebührend um die Stimmen der Frauen erweitert hat, liegt ihr ein theoriegesteuerter intellektueller Habitus fern. Die Abwendung vom Französischen als Literatursprache zugunsten des Kreols und die damit verbundene essentialistische Vorstellung einer identitätsstiftenden kreolischen Kultur sind ebensowenig ihr Ziel. Dennoch spielt das Kreol in ihrer Literatur eine zentrale Rolle, ihre Erzählweise ist der oralen Erzähltradition durchaus verpflichtet. Sie transformiert die französische Sprache selbstbewusst durch kreolische Ausdrücke und Lebenswelten (Savannen, Kleinbauernmilieu und Armenviertel) und verübt durch das Übereinanderlegen der beiden Sprachen in Form eines français créolisé eine kreative Sabotage der Kolonialsprache. Doch wie sie selbst sagt: »Si j’emploie des tournures créoles, ce n’est pas un parti pris lié à un quelconque manifeste mais le langage qui s’impose à la situation ou au personnage.«28 Die Verwendung des Kreols steht auch bei ihr als Mittel zur Wiedererlangung eines anderen Imaginären. Häufig werden die innerfamiliären Beziehungen und der Umgang der Eltern mit ihren Kindern sowohl in Kreol als auch in Französisch formuliert. So weist die Schwiegertochter ihre Schwiegermutter in La Grande drive des esprits mit den Worten zurecht: »Sé ti moun! Yo pas biswen a yen dot ki manjé, kaka, pisé, domi! Ces enfants-là sont bien, Man Nine. Ne casse pas ton cœur pour eux!«29 Immer wieder tauchen kreolische Kinderlieder auf, die nicht selten an Klagelieder erinnern: »Pitit dodo/Papa pa la/ Sé manman tou sèl/Ki dan lanbara/ Pitit dodo/Papa pa la/ Sé manman tou sèl/Ki dan lanmizè […]«30

Pineau verweist damit auf männliche Promiskuität und die zahlreichen, in Armut lebenden, ›sitzengelassenen‹ Mütter mit ihren ›Bastarden‹. Dieses Lied aus dem Mund

25 26 27 28 29 30

Ebd. 1995, 32, Herv. i.O. Ebd. 1995, 36. Vgl. ebd. 1995, 36. Pineau/Belugue: 1998/1999, 88. Pineau: 1993, 103. Vgl. ebd., 74f.

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einer alten Frau erinnert an den Kummer der Mütter, die ihre Kinder nicht vor Armut schützen konnten. Eine solch tiefsitzende Trauer durchzieht auch Myrtha in La Grande drive des esprits beim Tod ihres zweiten Kindes: »Deux petits mois de vie, et cette grande mort… En ce jour, il lui donnait à éprouver le désarmement de trois siècles de douleur. C’était bien là ce qu’elle ressentait, debout devant la fosse. Trois siècles de douleur, trois générations de douleur: l’enfantement, l’attachement et l’enterrement. Trois siècles de douleur […]«31 Die Textstelle erinnert an Mycéas ineinandergefaltete Trauer um ihre beiden Söhne. Für Pineau übermittelten sich Oralität und Kreol zudem nicht über einen abstrakten conteur, vielmehr empfing sie selbst als Kind im Pariser Exil, als Antillaise en métropole, prägende Eindrücke über die Heimat durch ihre Großmutter Man Ya, welche für Pineau eine Art Brücke zwischen Frankreich und Guadeloupe repräsentiert: »Vieille grosse négresse illettrée, qui pleurait et dépérissait parce qu’on l’avait charroyée dans ce pays français chargé de malédiction, si loin de sa Gaudeloupe. [...] Un pays où le Noir marchait parmi d’autres Noirs, fier. Aussi loin que je remonte, et sûrement grâce aux récits de ma grand-mère Man Ya, j’ai toujours eu envie de raconter des histoires, comme elle, et puis d’inventer, de créer des personnages pris dans les tourments de l’existence, de dire les petites misères et les grands sentiments, de mêler l’imaginaire au réel, de mettre face à face les évidences et la magie. Fascination d’un monde autre, puissant, invisible ou visible, tellement vivant dans les récits de Man Ya.«32

Die Großmutter in L’Exil selon Julia wirkt wie eine anachronistische Figur, denn sie trotzt jeglicher Assimilation und beweist »une fierté raciale et [...] une fidélité totale au pays natal.«33 Sie ist für Pineau bedeutsam als Verbindung zwischen den Generationen und sie fungiert als kollektives Gedächtnis: »[…] elle parlait son créole et on comprenait. Et dans ce petit appartement, il y avait tout le magico-religieux : les diablesses, les soukougnans, et aussi l’Histoire, elle parlait de l’esclavage… Elle avait hérité des histoires de sa mère, de sa grand-mère tandis que mes parents voulaient se débarrasser de ce passé un peu encombrant et ne répondaient pas à mes questions.«34

Die Überlieferung des Kreols und der damit zusammenhängenden Geschichte ist bei Gisèle Pineau eindeutig eine weibliche Tätigkeit. Im Unterschied zu vielen ihrer antillanischen Schriftstellerkollegen kann Pineau nicht auf eine (im geographischen Sinne) kreolische Kindheit zurückgreifen.35 In der Pariser Banlieue der 1960er Jahre

31 32 33 34 35

Ebd., 105, Herv. N.U. Pineau: 1995b, 290. Gyssels: 1998, 175. Pineau/Makward: 2003, 1203. In einem Interview betont sie: »Les écrivains de la Créolité [Confiant, Chamoiseau, Bernabé, Pépin] ont grandi là-bas, ont connu des jeux d’enfance et un environnement différents [...]. Dans mes romans, vous trouverez toujours un exilé« (Pineau/Anglade: 2003).

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war es ihre Hautfarbe, so schreibt sie in ihrem Essay »Ecrire en tant que Noire«, welche ihr ihre Differenz immer wieder schmerzhaft vor Augen führte: »La peau noire, laide, sale, sauvage est repoussante aux yeux des Blancs de mon enfance. Contrairement aux écrivains créoles de ma génération, je n’ai pas vécu une enfance antillaise sous les tropiques. J’ai connu la cité, ses alignements d’immeubles gris, la froidure des hivers de France, la neige, les manteaux de laine et l’indicible sentiment d’être exclue, inadaptée, déplacée dans cet environnement blanc-carré-policé. Seule noire... Bamboula! Négresse à plateau! Retourne dans ton pays! [...] Parfois la complicité d’un visage noir, frère, sœur (peu importe le pays d’origine), parent, toujours parent par la couleur.«36

Die kreolisch-magischen Geschichten der analphabetischen Großmutter ermöglichten Pineau, dem alltäglich erlebten Rassismus in Frankreich mit einer erträumten Gegenwelt zu begegnen und in Kontakt mit einem antillanischen Imaginären aufzuwachsen: »The stories rooted her identity.«37 Der von Man Ya vertretene magische Realismus ist eindeutig ein konstruktiver, »a source of healing and wisdom.«38 Diese Gegenwelt transportiert sich vor allem über das Kreol und die dunkle Hautfarbe, daher auch die von Pineau erwähnten Verwandtschaftsgefühle mit der afrikanischdiasporischen Community. Konsequent definiert sie sich als »femme noire créole«,39 denn es war gerade ihre Négritude, weniger ihre Antillanité oder Créolité, die für sie prägend war. Nachdem ihre ersten Romane das familiäre Leben in Frankreich (Un Papillon dans la cité, L’Exil selon Julia) oder in der Karibik (La Grande drive des esprits, L’Espérance-macadam) thematisieren, zeigt sich seit ihrem Roman L’Âme prêtée aux oiseaux eine Öffnung hin zu neuen Räumen. Sie zieht zunehmend Verbindungen zwischen den verschiedenen afrikanischen Diasporen, von Europa über die Antillen bis hin zu den USA (insbesondere erinnert sie an die antillanischen und afrikanischen Soldaten, die für die Befreiung Frankreichs gekämpft haben) und setzt damit die von Glissant skizzierte Tout-Monde oder sein »tableau de la diaspora«40 in literarischer Weise um. Das Umherirren der Protagonistin zeichnet die triangulären Beziehungen nach und führt sie von der Karibik über Europa nach Nordamerika. Das Verlassen des Archipels signalisiert auch den partiellen Ausbruch aus der »Plantation machine«41. Die Plantage wird zunehmend in Relation zu anderen Räumen gesetzt und so zu einem der multiplen »ventres du monde«42.

36 Pineau: 1995b, 289f. Sie sagt zu der damaligen Situation: »Il y avait très peu de Noirs dans les banlieues… et un racisme terrible, dont j’ai beaucoup souffert« (Pineau/Makward: 2003, 1203). 37 Suárez: 2001, 19. 38 Ormerod Noakes: 2003, 141. 39 Pineau: 1995b, 295. 40 Vgl. Glissant: 1997a, 809. 41 Loichot: 2007, 198. 42 Glissant: 1990, 89.

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5.3 »D E

LA BLESSURE À SA CICATRISATION , 43 DU CYCLONE À LA RECONSTRUCTION « : W EIBLICHE B EZIEHUNGSNETZE UND

H EILUNGSNARRATIVE Wie sieht eine Oraliture aus, die Frauenschicksale zum zentralen Thema hat und insbesondere die Stimmen der Erzählerinnen gestaltet? Findet Überlieferung oraler Traditionen nicht eher durch Frauen als durch den Chamoiseau’schen conteur/marqueur de paroles/guerrier de l’imaginaire statt?44 In Gisèle Pineaus Autofiktion L’Exil selon Julia verweist schon der Titel auf die wesentliche Quelle der parole, nämlich Julia alias Man Ya, die Großmutter. Der autodiegetischen Erzählerin Gisèle kommt lediglich die Rolle der Übersetzerin und Vermittlerin zu. In ihrer Einleitung zu dem Erinnerungsband Femmes des Antilles – welcher den programmatischen Untertitel Cent cinquante ans après l’abolition de l’esclavage trägt – gibt uns Pineau ein wichtiges Indiz für ihre Selbstpositionierung: »Et, petit à petit, de mère en fille, elles ont retrouvé les gestes de leur dignité.«45 Pineau knüpft in ihrem Romanwerk ein starkes matrilineares Band der Erinnerung zwischen den Generationen. Erfahrungen positiver Verbundenheit mit Frauen sind bei ihr Teil des sich entwickelnden weiblichen Selbst. Das ästhetische Universum ihrer Texte ist explizit frauenbezogen – »un tressage de voix féminines, mêlant la voix de l’aïeule, poteau-mitan de la famille matrifocale, et celle de la petite-fille«46 – und reiht sich damit in eine bekannte Tradition weiblicher afro-antillanischer Literatur ein wie Lydie Moudileno festhält: »[…] le rêve d’une ›remontée dans le cela qui [s’est] perdu‹ [Glissant] passe par des figures ancestrales féminines dépositaires d’une expérience et d’une sagesse indispensables.«47 Dabei geht es Pineau um die Rekonstruktion von Familienbanden über die

43 Diese Einschätzung von Pineaus Werk nehmen Pineau/Belugue (1998/1999, 88f.) in einem Interview mit der Autorin vor. 44 Chamoiseau versucht in Solibo magnifique, an die Stelle des aussterbenden traditionellen conteur den marqueur de paroles zu setzen. Gemeint ist damit ein Schreiber, der die Gedächtnisspuren sammelt. Zum guerrier de l’imaginaire vgl. Gyssels: 2008b. 45 Pineau: 1998, 12. 46 Gyssels: 1998, 182. 47 Moudileno: 2003, 1151. Bei anderen antillanischen Autoren und Autorinnen sind es ebenfalls häufig die mütterlichen Figuren, die ihr Wissen an die Mädchen weitergeben. Exemplarisch verweise ich auf die Reine sans nom in Simone Schwarz-Barts Roman Pluie et vent sur Télumée-Miracle (1972). In Maryse Condés Roman Moi, Tituba, sorcière… Noire de Salem (1986), welcher auf die Hexenprozese von Salem 1692 zurückgeht, wird die Protagonistin Tituba – Kind einer Vergewaltigung – ebenfalls von ihrer Mutter Man Abena und später von Man Yaya zur Rebellion ermutigt. Als Tituba sieben Jahre alt ist, widersetzt sich ihre Mutter einer Vergewaltigung, wofür sie mit dem Tode bestaft wird. Daraufhin wird Tituba von Man Yaya, einer alten Frau, aufgenommen und großgezogen. Diese verfügt über die Fähigkeit, mit den Verstorbenen, den invisibles, zu kommunizieren und sie weiht Tituba in die Heilkunst ein. Eine konstante matriarchale Linie taucht auch bei zahlreichen anderen Autoren auf: Ich verweise bspw. auf Man Tine, die Großmutter in Joseph

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weibliche Linie. In ihrem Œuvre gibt es, wie sie selbst sagt, eine sich wiederholende Konstante: »tout part d’une blessure. L’histoire se bâtit et se reconstruit à partir de là.«48 Pineau erzählt von den Traumatisierungen durch die Sklaverei und den daraus resultierenden, bis heute andauernden, psychischen Verstrickungen der Menschen. Sie beschreibt ihre Protagonisten und Protagonistinnen in einem Zustand der Ambivalenz zwischen Macht und Ohnmacht. In ihren mit einem Hang zum Tragischen versehenen Texten schildert sie neben Motiven wie Rassismus, Armut, zerstörte Familien, häusliche und sexuelle Gewalt häufig das Thema der ungesicherten Herkunft. So ist bspw. das Mädchen Glawdys in L’Espérance-macadam Kind einer kollektiven Vergewaltigung, an der alle ›Rassen‹ mitgewirkt haben: »Nègre, Indien, mulâtre, Blanc, chabin, Caraïbe et bata-coolie – ils étaient sept –, pas un ne fut épargné. [...] Certains disaient que les sept rois mages de l’abattoir avait [sic] mêlé leur sang pour qu’elle prenne une part égale de chacun, la meilleure. Négresse-noire à yeux verts, nez droit, épaisses lèvres pourpres et grands cheveux jaune paille bouclés, Glawdys déroutait tous ceux qui cherchaient à définir sa race.«49

Die Figur der Glawdys erinnert an die Geschichte der Gewaltakte, die das Verhältnis von Identität und Alterität in der Karibik wesentlich bestimmt haben. Sie verweist darauf, dass es primär eine von Grausamkeit und Gewalt geprägte Entwicklung war, die diese kulturelle Mischung hat entstehen lassen. Insofern problematisiert L’Espérance-macadam eine allzu idealisierende und emphatische Sicht von Kreolisierung. Die Heimatlosigkeit des einen Vergewaltigers (»Le septième mercenaire venait de nulle part, ou d’un ailleurs mal défini.«50) wird gar als »la racine unique originelle du mal«51 bewertet. Trotzdem bleibt aber anzumerken, dass Glawdys’ Äußeres (siehe obiges Zitat) zunächst etwas sehr Hoffnungsvolles und Lebendiges repräsentiert. Die Kreolisierung steht also auch im Kontext eines utopischen Gründungsgedankens von karibischer Identität. Doch Glawdys verliert recht bald durch mangelnde Zuwendung ihre Lebendigkeit und als Erwachsene ist sie schließlich »grise de haut en bas«52: »Pourtant, l’or de ses boucles reculait déjà. Par manque de soleil, sa chevelure brillait maintenant d’une manière chrysocale. À force de rester serré dans l’ombre de la case, le vert de ses yeux prit la couleur des mares glauques de Grande-Terre. Du pourpre, ses lèvres virèrent au bleu inquiétant des hauts-fonds. Même le noir d’ébène de sa peau s’altéra, devint terne et cendreux, perdit son beau moiré.«53

48 49 50 51 52 53

Zobels La Rue Cases-Nègres, die Mulattin Solitude bei André Schwarz-Bart, Siméa in Daniel Maximins L’Isolé soleil oder auch Frauenfiguren bei Glissant: Eudoxie, Liberté Longoué, Marie Celat. Pineau/Belugue: 1998/1999, 88. Pineau: 1995a, 57-61. Pineau: 1995a, 57. Ebd. Ebd., 68. Ebd., 63.

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Beständig thematisiert Pineau die Leiden und Hoffnungen der Mädchen und Frauen auf den Antillen. Ihr Werk bildet ein vielschichtiges Beziehungsnetz von Großmüttern, Müttern, Töchtern, Nichten, Tanten, Freundinnen, Ehefrauen und Geliebten: Von der Kindsmörderin gemäß der Maxime »Pas d’enfants à l’esclavage«54 über die Mütter, die den sexuellen Missbrauch ihrer Töchter durch den Vater billigend in Kauf nehmen, von den verlassenen Mädchen und Frauen bis hin zu Frauen, die kämpfend weibliche Enklaven bilden und denen es gelingt, sich und ihre (sozialen) Kinder vor Übergriffen zu retten. Françoise Simasotchi-Brones hält fest: »Il semble qu’à travers la femme, son corps et son esprit, parfois en souffrance, l’auteure guadeloupéenne questionne l’histoire et l’imaginaire de son peuple tout entier. […] les figures féminines dans ses romans vivent la violence au quotidien et parfois la répercutent entre elles ou sur leurs enfants. Leur corps souffrant est, explicitement ou non, métaphore, du pays luimême.«55

Die Überlagerung von Raum- und Weiblichkeitsdiskurs zeigt sich in Pineaus Werk exemplarisch. 5.3.1 Zwischen Geisterglauben und Vernunft: La Grande drive des esprits Pineaus erster Roman La Grande drive des esprits (1993), für den sie mit dem Prix Carbet, dem wichtigsten Preis für französischsprachige Literatur in der Karibik, ausgezeichnet wurde,56 erzählt von der schwierigen »retour au pays pas natal«57. Der

54 In L’Espérance-macadam schreibt Pineau: »Glawdys, la fille qui avait jeté son bébé au bas des Nèfles n’y avait jamais cru, au bonheur. Elle avait fait comme ces Négresses des premiers voyages qui tuaient leurs nouveau-nés pour pas qu’ils naissent dans l’esclavage, tombent pas dans les pattes des négriers. La fille avait juste tiré son petit de griffes de Babylone, de ses mensonges, ses rêves dorés, son espérance-macadam et ses résurrections, ses actes sur papier timbré, ses lois, ses lumières, ses bourses, allocations, subventions…« (ebd., 243). 55 Simasotchi-Brones: 2003. 56 Literarisch trat Pineau zunächst mit ihrer preisgekrönten Kurzgeschichte »Paroles de terre en larmes« hervor, die 1988 einer Anthologie ihren Namen geben sollte. Im Anschluss veröffentlichte sie 1992 den Jugendroman Un Papillon dans la cité, in dem ein Mädchen aus Guadeloupe in eine Pariser Hochhaussiedlung zieht, aus deren Trübseligkeit sie sich bei der Großmutter ihres Freundes zurückziehen kann. Diese Themen nimmt Pineau erneut in ihrer Autofiktion L’Exil selon Juli (1996) auf. Weiterhin wurde sie mit dem Grand Prix des Lectrices de Elle, dem Prix du Livre des französischen Auslandsrundfunks RFO, dem Prix Terre de France, dem Prix Rotary und dem Prix Amerigo Vespucci ausgezeichnet. Und sie war von 1999 bis 2005 Jurymitglied und -präsidentin des Prix du Livre Insulaire. 57 In L’Exil selon Julia gibt es ein Kapitel, welches den programmatischen Titel trägt »Les cinq plaies du retour au pays pas natal«. Pineau exemplifiziert auf diese Art die doppelte Diasporisierung. Als Französin kommt sie zurück nach Guadeloupe, in das Land ihrer El-

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Roman, welcher in zwei große Kapitel unterteilt ist, Le temps d’aller und Le temps de virer, thematisiert die Erfahrungen der Rückkehr in die fremde Heimat Guadeloupe.58 Er zeichnet in Form einer Familienchronik die Geschichte über fünf Generationen nach. Der Roman weist eine zirkuläre Struktur auf, er beginnt und endet mit der Geschichte von Léonce; hier liegt eine besondere narratologische Konstruktion vor: Zunächst erfahren wir etwas über sein Leben durch eine extradiegetische Instanz, erst im Laufe des Romans erzählt die zunehmend an der Geschichte beteiligte Ich-Erzählerin aus einer intradiegetischen bzw. personalen Perspektive seine Geschichte. Die höchst komplexe Struktur des Romans erfordert eine aufmerksame Leserin: der Wechsel von beteiligten und unbeteiligen Erzählinstanzen, von Reisebericht und Roman sowie der Wechsel zwischen Dialog und erzählerischem Rückblick geben dem Buch eine große narrative Dichte. Die Enthüllung der Vergangenheit über zahlreiche Umwege verleiht dem Roman Elemente einer Kriminalgeschichte. Einen solchen Umweg nimmt der Text auch zur Klärung der Erzählposition. So muss der Leser sich lange gedulden, um überhaupt zu erfahren, wer den Ich-Erzählmodus einnimmt. Erst im fünften Unterkapitel innerhalb von Le temps d’aller erfahren wir von einer jungen Frau, die 1960 nach Guadeloupe zurückkehrt, auf der Suche nach ihren Wurzeln, um dort für einen Bildband zu recherchieren: »J’étais une jeunesse de dix-sept ans en ce temps-là. Un frais baccalauréat placardé sur mon front. Une hésitation dans tout le corps me ballottant, au gré des heures, entre plusieurs routes d’avenir: littérature classique, ethnologie, sciences politiques… C’était les grandes vacances. Je promenais mon oisiveté dans toute la Guadeloupe […] et, au fond de l’esprit, un vaste projet d’album inédit sur les cases créoles. […] pour la postérité, je figeais sur la pellicule une somme de cases belles et laides, jeunes et vieilles, éventrées, décoiffées, peinturlurées comme manawa ou bien défraîchies et grises, abandonnées.«59

Was zunächst als Projekt für einen Bildband über antillanische Architektur und Volkskultur daherkommt, entwickelt sich im Laufe des Romans zu einem récittémoignage im Stil der Oral History, um eine subalterne Sicht offen zu legen. Das je verschwindet weitestgehend hinter dem zumeist im dramatischen Modus Erzählten, denn jenseits ihrer Begegnungen mit Menschen, die ihr ihre Geschichte übermitteln, erfahren wir wenig über die Herkunft der Ich-Erzählerin. Im Zentrum der Person steht ihr Beruf, die Photographie, und damit ein technisch und rational beherrschbarer Blick auf die Welt.60 Wir haben es folglich mit drei verschiedenen Medien zu tun: mit mündlicher Überlieferung, Schrift und Photographie. Die Personen bewegen sich zudem stets zwischen Geisterglauben und europäisch geprägter Vernunft. Die Welt ist von irrea-

tern, für jene war die karibische Insel aber eigentlich auch erzwungenes Exil nach der Verschleppung ihrer Vorfahren aus Afrika. 58 Das Wort ›drive‹ kommt aus dem Kreol und bedeutet »errer, aller de ci de là et rencontrer la chance aussi bien que le malheur, selon les jours« (Pineau/Anglade: 2003). 59 Pineau: 1993, 41. 60 Vgl. Blümig: 2004, 221.

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len Wesen bevölkert, die Toten sind in der Lage, Kontakt zu den Lebenden aufzunehmen, und die Magie, verwandt mit dem haitianischen Voudou, spielt eine wichtige Rolle. Es nimmt nicht weiter Wunder, dass die Photographin sich zunehmend mit einer Welt konfrontiert sieht, die nicht wirklich zu dokumentieren ist, denn wie soll man Geisteridentitäten ablichten: »Ses histoires [jene von Célestina, N.U.] de maléfices, malédiction et autres magies m’avaient repoussée dans des chemins où logique et raison mettaient ensemble le feu aux contes de sorcellerie.«61 Die magisch besetzte Weltsicht nimmt im Laufe des Romans zu, so dass sowohl die IchErzählerin als auch der Leser am Ende geneigt sind, die Verwünschungen, Flüche und Heimsuchungen der Protagonist/innen als Interpretationsmöglichkeit für ihr Handeln anzuerkennen: »Parce qu’elle avait été entraînée à donner une explication mystique à toute chose, elle ne pouvait résister à cette tradition. Quand sa manman mourut, je renonçai à lui parler logique et raison. Je ne contestai plus ses croyances. Je l’écoutai, tout simplement, curieuse de ces fables qui m’ouvraient des chemins insolites […].«62 Die Protagonist/innen in La Grande drive des esprits sind nicht Agenten ihres Lebens, sondern vielmehr schicksalsabhängige Marionetten, »keenly aware of the influence of the spirit world«63. Die Figuren tauchen weniger als Akteure oder Akteurinnen der Geschichte auf, sondern fungieren als Archivare von Geschichte, ob als Photographin oder Erzähler/innen. Zudem findet Glissants rhizomatisches Konzept der anti-genèse oder digenèse bei Pineau seinen literarischen Ausdruck, denn immer wieder wird die Geschichte in neuen Varianten und nicht-linear erzählt. Obgleich unentwegt neue Perspektiven eingenommen und die Geschichten auf diese Weise kontinuierlich hinterfragt werden, wird zugleich beharrlich der Wahrheitsgehalt der Geschichte hervorgehoben: »Peutêtre croyez-vous qu’il s’agit là d’affabulation et que cette scène hâtivement brossée ne reflète point la vérité vraie. C’est ainsi qu’on me l’a narrée. Soyez certains que pas une virgule, pas une parole, pas même une marinade n’a été retranchée ou apportée.«64 Die Reflexion über das Erzählen ist fester Bestandteil des Erzählens. Diese distanzschaffende Bewegung, dieses Sprechen auf zwei Erzählebenen – Metafiktion im klassischen Sinn – macht ein Sprechen überhaupt möglich. Der Bericht kann scheinbar besser durch eine konstruierte Distanz erfolgen. Zudem bittet die Erzählerin den Leser in konspirativer Manier um seine Verschwiegenheit: »Ce que je vais présentement vous narrer doit, à jamais, rester enfoui dans un pli de mémoire. Écoutez, mais ne rapportez point! Domptez vos langues! Cousez vos lèvres au fil de crin! Et si un jour, vous vous prenez à répéter cette triste histoire, ne donnez ni sa provenance ni son auteur. Sachez que je raconte pour éclairer mais, tout au fond, je ne veux croire. Cette variante de l’histoire me vient de Célestina.«65

61 62 63 64 65

Pineau: 1993, 174. Ebd., 183. Ormerod Noakes: 2003, 138. Pineau: 1993, 110. Ebd., 157.

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Unversehens trifft die junge Ich-Erzählerin bei ihrer Spurensuche auf Barnabé, eine alte Frau, die ihr ihre Geschichte erzählt, und später auf Célestina, Barnabés vermeintliche Enkeltochter, die der Ich-Erzählerin wiederum die Geschichte ihres Großvaters Sosthène und jene ihrer drei Geschwister, Paul, Célutta und Gerty, erzählt. Komplettiert wird der Roman mit den Erinnerungen von Léonce, Célestinas Vater: »J’ai écouté de longues heures ses récits hachés dans l’eau du souvenir. […] J’ai questionné encore et encore pour voir le temps passé à démêler ses fils.«66 Erinnernd an Aufnahmen in einem Familienalbum entsteht so ein komplexes Geflecht von Geschichten. Es werden Bilder aufgerufen, die unentwegt neue Deutungen erfahren. Dieses Vorgehen betont das fiktionale Element und den vorläufigen Charakter sowie die potenzielle Revidierbarkeit und Unvollständigkeit aller Beschreibungen, die jeder Geschichtsschreibung innewohnen und die zur Auflösung eines ›objektiven‹ Wahrheitsanspruches führen. Die Extraterritorialität der Ich-Erzählerin und die damit verbundene Beobachtungsgabe sowie ihr Zuhören und ihre emphatische Zeugenschaft lassen sie zu einer Art Treuhänderin der Erinnerung anderer werden. Eine solche Zeugnis-Literatur konserviert durch Aufzeichnungen und Photographien, obgleich die Gefahr des Missbrauchs direkt im Roman angesprochen wird. Eine der Figuren, France, die Enkeltochter von Léonce, die ihn um Hilfe bittet, moniert: »Tu passes ton temps à raconter ta pauvre vie à cette dame. Tu vois pas qu’elle te vole tes pensées. Elle te fait entrer dans ses appareils et, petit à petit, tu te vides de toi-même. […] Un jour, on verra ta photo dans un livre des Antilles qui voyagera dans le monde entier. […] Et ce sera tout toi, ta vie, un point c’est tout, toute ta définition.«67

Die problematische Einteilung intellektueller Tätigkeit steht hier zur Diskussion: Das ›Zentrum‹ erfindet, publiziert, fasst zusammen, macht Theorie und die ›Peripherie‹ führt die Produkte, die Rohstoffe zu, hier sind es eben Erzählungen und Bilder, die zu Büchern werden. So kommt es zu einer Zweiteilung von Wissen und Wissenschaft, von Feld und Forschung. Herausgeber/innen agieren in testimonialen Aufzeichnungen an einer sehr spezifischen machtvollen Schnittstelle, nämlich zwischen marginalisiertem Erzähler und privilegiertem Leser. In dem Zitat wird zudem das Problem des Blicks thematisiert, also die verkürzte Wahrnehmung durch die Linse einer Kamera, welche nur eine einzige Perspektive wiedergeben kann. Bemerkenswert ist, dass die Ich-Erzählerin im ersten Teil nur zweimal auftaucht, jeweils mit einer Datierung: 1960 und 1963, was dem Erzählten einen dokumentarischen Ton verleiht. Im zweiten Teil jedoch, in dem sich das Leben der Ich-Erzählerin zunehmend mit dem Leben der Romanfiguren verknüpft, taucht sie weit häufiger auf, was dazu führt, dass die Geschichte der Ich-Erzählerin und die ihr zugetragenen Geschichten sich zunehmend überblenden. Hier drängt sich die Frage auf, in welchem Verhältnis demnach die Literatur zu einer Geschichte steht, die zwischen einer fremden Historiographie und einer vom Vergessen bedrohten mündlichen Tradition und Mythologie selbst auf die Mittel der Fiktion angewiesen ist.

66 Ebd., 180. 67 Ebd., 209.

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Bei der Gestaltung der Personenkonstellation innerhalb des Romans nehmen wiederum großmütterliche Figuren einen zentralen Raum ein. Célestina ist besonders mit Ninette, der Mutter ihres Vaters Léonce verbunden, und Léonce ist mit der Mutter seines Vaters Sosthène verbunden, mit Octavie. Die beiden mütterlichen Figuren stehen in Konkurrenz zueinander: Ninette verkörpert ein Wunderheilerin und Octavie eine mit übersinnlichen Gaben ausgestattete Wiedergängerin, eine Art GeisterMatriarchin. So kommt Léonce mit übernatürlichen Fähigkeiten zur Welt, die er von seiner Großmutter Octavie geerbt hat. Jene erscheint ihm auch immer wieder in Krisensituationen als wohlgesonnener und zugleich mahnender Geist. Die Gabe ermöglicht ihm, mit den Verstorbenen in Kontakt zu treten und die Zukunft vorherzusehen: »Naître coiffé, c’est posséder illico un don surnaturel. C’est ouvrir la porte aux esprits qui rôdent au bordage de la terre. C’est commencer avec les défunts, écouter les paroles venues de l’autre monde, et voir au-delà du visible.«68 Seine Mutter Ninette will ihm diese Gabe vorenthalten, indem sie die Glückshaube kurz nach seiner Geburt zerstört, doch Octavie gibt sie ihm zurück, sofern er sich an bestimmte Regeln hält. Weiterhin fällt auf, dass die drei Personen, die der Ich-Erzählerin ihre Geschichte anvertrauen, alle körperlich und/oder seelisch behindert sind. Léonce hat einen Klumpfuß, der ihn schließlich scheitern lässt. Célestina beginnt zu stottern, als der Vater ihr seine Liebe entzieht: »Alors, elle [Célestina, N.U.] raconta. Tout. Sa petite enfance bénie entre père et mère. Le morne aux belles promesses. Les secrets de sa granman Ninette. La guerre arrivée comme une maladie. Et papa Léonce qui s’était levé un beau matin sans plus la voir, sans plus l’entendre, sans plus l’aimer. Elle en avait perdu le fil des paroles.«69

Die Kohärenz ihres Lebens wird durch diesen Verlust brüchig und ihre Stimme funktioniert nur noch zerstückelt. Die Destruktivität des Vaters, welche sich in Gleichgültigkeit und Schweigen ausdrückt, wird zur Autodestruktivität. Barnabé ihrerseits hat sowohl ihre Zwillingsschwester Boniface als auch ihre Tochter verloren und marroniert als tragische Einzelgängerin durch Guadeloupe. Indes bleibt unklar, ob ihre eigene Tochter oder ihre Nichte gestorben ist, was zur Folge hat, dass die spätere Frau von Léonce, Myrtha, auch die Tochter von Barnabé und damit eine andere sein könnte, nämlich Mirna. Mit dem Wissen um eine mögliche andere Herkunft wäre auch eine andere Zukunft möglich. So fragt Barnabé die Ich-Erzählerin, die sie mit ihrer Tochter Mirna verwechselt: »[…] si on t’avait donné ton nom de naissance, tu serais dans un autre demain, à profiter d’un meilleur pain […].«70 Ferner ist auffällig, dass mit diesen drei Figuren eine weibliche Genealogie etabliert wird. Obgleich Barnabé mit einem männlichen Vornamen ausgestattet ist, ist sie wie die beiden zentralen Großmütter, Octavie (Großmutter von Léonce, Mutter von Sosthène) und Ninette (Großmutter von Célestina, Mutter von Léonce), eine Schwarz-Bart’sche Reine sans nom, eine Art Wiedergängerin, und steht damit in der Tradition der noch nicht assimilierten, ›archaischen‹ Frauenfiguren.

68 Ebd., 11. 69 Ebd., 131. 70 Ebd., 76.

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Léonce repräsentiert eine außergewöhnliche Männerfigur im Werk von Pineau, denn er ist nicht nur das Gegenstück zu seinem aggressivem Vater Sosthène,71 sondern auch, mit seinem Zugang zum Übersinnlichen, seiner engen Verbundenheit zu seiner Großmutter Octavie und seiner selbstvergessenen Liebe zu seiner Frau Myrtha eine eher feminin skizzierte Figur: »this gift [of spiritual communication, N.U.] promises him an eternal openness to relationships in its powerful association with the feminine.«72 Außerdem ist er sehr stark mit seinem Land Guadeloupe verbunden, ausgedrückt durch seinen prachtvollen und ertragreichen Garten im ersten Teil des Romans. Neben der von Wirbelstürmen heimgesuchten Natur ist der Garten eines von Pineaus Schlüsselmotiven. Jeden Morgen frühstücken Myrtha und Léonce zunächst zusammen in ihrem wunderbaren Garten. Nicht nur in diesem Roman verläuft die Fruchtbarmachung des Gartens und die der Frauen parallel, was Gabriele Blümig dazu bringt, Pineaus Texte partiell im Kontext der »Metaphorik der Kolonialliteratur«73 zu verorten: »Interessanterweise fällt gerade Pineau als weibliche Autorin in den klischeehaften Beschreibungsmodus der Exoten zurück.«74 Pineaus Romane bleiben in der Schwebe zwischen kolonialer/exotistischer Bildwelt und postkolonialem Aufbegehren.75 Blümig sieht in ihnen »Zwitterwesen, die sich weder der postkolonialen noch der restaurativen Literatur mit kolonialem Impetus zuordnen lassen«76. Die daraus resultierenden instabilen Identitätskonzepte wertet sie letztlich dennoch als innovativ. Léonces Wunsch, für die Franzosen gegen Hitler-Deutschland in den Krieg zu ziehen, wird ihm aufgrund seines Klumpfußes verwehrt. Mit dieser Demütigung seiner Männlichkeit setzt bei Léonce eine dramatische Entfremdung von seinem Garten, diesem positiv besetzten antillanischen Raum, und seiner Familie ein. Versteht man ihn als vom Land entfremdet, könnte man ihn von da an als Exilant charakterisieren. Das Elend des Krieges findet seine Fortsetzung, indem es selbst für die NichtDabeigewesenen Einsamkeit und Rückzug nach sich zieht. Durch die Ablehnung als Soldat wendet er sich dem Alkohol zu, woraufhin ihm ›seine Gabe‹ von der verstorbenen Großmutter entzogen wird. Von da an überlässt er sich völlig seinem fatalistischen Glauben an die Macht der Geister, die ihn nun nicht mehr beschützen. Er vernachlässigt infolgedessen seine familiäre Verantwortlichkeit und verfällt in Selbstmitleid. Léonces Metamorphose vom starken, liebesfähigen und hart arbeitenden Mann zu einer gebrochenen und ruinierten Person unterstreicht die Zerstörung des Weiblichen in Léonce durch das männliche Prinzip, hier ausgedrückt durch den Krieg. Sein fatalistisches Verhalten wird zum Vorbild für Célestina, die alles, was

71 Vgl. Vitiello: 1997, 249. Pineau unterminiert diesen karibischen Macho-Diskurs auch dadurch, dass sie Sosthènes Existenz als ewiger Don Juan schlicht auf die Verfluchung durch eine mütterliche Figur zurückführt und ihn am Ende als abhängigen, schwächlichen Mann zeigt. Er erscheint somit als Marionette denn als autonom agierende Figur, vgl. dazu Thomas: 2003, 1134. 72 Thomas: 2003, 1136. 73 Blümig: 2004, 207. 74 Ebd., 209. 75 Vgl. ebd., 210. 76 Ebd., 215.

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geschieht, mit dem Wirken übernatürlicher Kräfte erklärt. Seine anderen Kinder verfallen der Reihe nach dem Wahnsinn, der Prostitution und dem Verbrechen. Somit erinnert der Roman an realistisch-naturalistische Postulate wie die Literaturwürdigkeit der unteren sozialen Schichten (»ce monde d’en bas«, »la vie des exclus des cités«, »le peuple misérable«77). La Grande drive des esprits könnte auch den Untertitel tragen »Aufstieg und Fall« oder »Glanz und Elend einer antillanischen Familie«.78 Treffen wir bei Émile Zola noch auf die Kopräsenz von sozialer Realität und Naturmythos, so stoßen wir bei Pineau hingegen auf das Zusammenwirken von realistischer und magisch-zerstörerischer Weltsicht und zugleich auf die Unvereinbarkeit von Realität und Darstellung. Pineaus Roman repräsentiert einen subversiven Diskurs zum Realismus, der gerade die Nicht-Transparenz von Wirklichkeit hervorhebt. Denn der »Anteil an Nichtsagbarem und Nichtdarstellbarem, der einer der Fakten ist, die Gewalt schafft, [durchkreuzt] jedes Bemühen um realitätstreue Dokumentation und Historisierung«, so Martina Kopf in ihrer Studie Trauma und Literatur.79 Daher verlange jede Darstellung von Gewalt und Trauma notwendigerweise bis zu einem gewissen Grad eine imaginäre und kreative Auseinandersetzung, um der Erstarrung und Einkapselung traumatischer Erfahrungen entgegenzuwirken.80 Die Fähigkeit zur Imagination und Narration begreift Kopf »als eigentliche Gegenkraft zum Zusammenbruch des Konstruktionsprozesses und der Auslöschung von Form und Struktur, wie sie die Traumaforschung beschreibt«81. Der Literatur kommt somit eine wichtige Rolle bei der Repräsentation traumatischer Ereignisse zu. 5.3.2 Transformation des Zyklons: L’Espérance-macadam »La Grande Drive c’était l’enracinement [...] se faire aimer des siens! L’Espérancemacadam qui arrive deux ans après, c’est le cri«82, so beschreibt Pineau rückblickend ihre literarische Entwicklung. Vergleicht man die beiden Romane, lässt sich eine Bewegung von einer tendenziellen littérature de témoignage zu einer littérature de révolte ausmachen. Diese Beobachtung will ich im Folgenden belegen. Ihr zweiter Roman mit dem verheißungsvollen Titel L’Espérance-macadam beschreibt die Lebensgeschichte der Protagonistin Éliette und zugleich die Geschichte des Viertels Savane-Mulet,83 welches von Joab, Éliettes Stiefvater, ursprünglich als Gartenlandschaft wirtschaftlich genutzt wurde. Im Laufe des Romans zerfällt es jedoch in zwei Teile: Ti-Ghetto und Quartier-Mêlo. Die zunächst paradiesisch-biblisch anmutende Genese von Savane-Mulet dient einer vorläufigen positiven Selbstveror-

77 So erfasst Abelin Fonkoué die Zielgruppe von Pineau, vgl. Fonkoué: 2006, 149f. 78 In einem Interview verweist Pineau selbst auf Zola als einen zentralen Autor für ihr Schreiben: »Les pauvres, la misère, Zola, c’était mon domaine [...] je parle des laissés– pour-compte […]« (Pineau/Makward: 2003, 1208). 79 Kopf: 2005, 53, Herv. i.O. 80 Vgl. ebd., 53. 81 Ebd. 82 Pineau/Makward: 2003, 1211f. 83 Dies erinnert an Chamoiseaus Roman Texaco (1992), in dessen Mittelpunkt die Gründerin des Stadtviertels Marie-Sophie Laborieux steht.

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tung und wirkt so dem erlittenen Raum- und Identitätsverlust entgegen. Der erfasste Raum und die erinnerte Geschichte/Zeit bilden die Koordinaten für die Inbesitznahme des entfremdeten Selbst. Die spätere Teilung von Savane-Mulet und die dortige alltägliche Gewalt und Armut zeigen aber auch die Schwierigkeit einer nachträglichen Verwurzelung. Savane-Mulet verkommt angesichts zuziehender Flüchtlinge zusehends zu einem Elendsviertel, und der Fluss wird zur Müllkippe. Verrohung und Abstumpfung der Menschen sind die Konsequenz. Wie in La Grande drive des esprits treffen wir in L’Espérance-macadam auf den Kontrast einer zunächst intakten, hyperbolischen Gartenlandschaft, »une sorte de marronnage horticole«,84 die zunehmend verwildert und verfällt. Für Sarah Philipps Casteel markiert der Garten bei Pineau einen ambivalenten, innovativen Ort, denn sie überschreite so »traditional New World pastoral [...] and [...] elaborate a new Caribbean pastoral that reimagines identity as conditioned by a dynamic interaction between place and displacement«85. In L’Espérance-macadam lässt Pineau aus der Sicht eines Kollektivs von Marginalisierten erzählen, und auf diese Weise eröffnet sich ein nahezu tragisches, vor allem von Gewalt geprägtes Mosaik von Frauenschicksalen. Der Leser ist nicht nur mit dem Lebensbericht Éliettes konfrontiert, sondern ebenso mit der Geschichte von Éliettes Mutter Séraphine, die in jungen Jahren den Verstand verliert, mit der Geschichte von Hortense, die von ihrem Mann Régis geschlagen und zuletzt ermordet wird, oder mit der Geschichte von der debilen Hermancia, die von einer Gruppe von Männern regelmäßig im Schlachthof vergewaltigt und schließlich geschwängert wird, oder jener von Glawdys, der Tochter von Hermancia, die von ihrer Mutter ausgesetzt und dann von ihrer Adoptivmutter misshandelt wird, und die später selbst wieder eine Tochter auf die Welt bringt, die sie aber nicht ernähren kann und tötet. Oder wir erfahren die Geschichte von Édith alias Sister Beloved, die in den Wäldern umkommt, oder jene von Rosette, die sich glücklich glaubt mit ihrer scheinbar heilen Familie und am Ende erkennen muss, dass sie sich durch ihre Realitätsferne zur Komplizin ihres Mannes Rosan gemacht hat, der seine Tochter Angela über viele Jahre missbraucht. Pineau schreibt: »Rosette avait rien vu, rien entendu [...] dans l’extase de son paradis, occupé à suspendre des étoiles au ciel.«86 Die meisten Gewalttaten wirken wie kollektive Verbrechen, denn Nachbarschaft oder Verwandte vermeiden es einzugreifen. Exemplarisch hierfür sei folgende Textstelle genannt: »Tout le monde entendait Régis donner des coups à l’Hortense avec, parfois, une vieille conque à lambi qui sonnait tocotoc tocotoc sur la tête de la malheureuse. C’était pas rare que du sang se mette à pisser sur les planches, tiqueter trois casseroles et rosir l’eau du seau. […], Hortense avait rêvé d’une autre vie, glorieuse auprès du gouverneur Régis, avec caresses, attentions et mots-doux, fleurs, sorbets et cocos à l’eau. […] Mais quand elle quémandait l’amour dans toute sa majesté, ses préludes, son apogée, son épilogue, le rustaud l’assommait d’un coup de poing

84 Simasotchi-Bronès: 2004, 59. Sie sieht in dem Motiv des Gartens in vielen antillanischen Romanen eine Aneignung des kreolischen Raums. 85 Casteel: 2003, 16. 86 Pineau: 1995a, 247.

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et puis la prenait sauvagement, à terre, parce qu’une femelle qui demande ces choses-là est d’une espèce trop chaleureuse.«87

Pineau verweist hier nicht nur auf das pathologische Verhalten der Männer, sondern auch auf das voyeuristisch-sadistische Verhalten der Umgebung. Anders als Reinaldo Arenas verzichtet sie auf humoristische Repräsentationsformen, d.h. auf eine karnevaleske Inszenierung des Schreckens, sondern erzählt vielmehr in einem minutiösen, fast schon naturalistisch-journalistisch anmutenden Ton. Die Frage nach der Darstellbarkeit von Gewalt durchzieht Pineaus gesamtes Romanwerk, denn das Erzählen von Gewalt stellt das Erzählen selbst in Frage. Das von Pineau umgesetzte chorale Erzählen – die Ich-Erzählerin wechselt mehrmals im Roman – verläuft fragmentarisch und zugleich aus subjektiver Sicht, im Stil der Oral History als auch durch einen übergeordneten Erzähler, wobei sich stets ein familiärer mit einem historischen Diskurs verwebt. Die Fächerung verschiedener Erzählstränge, die Multiplizierung der Erzählerstimmen und die Einbeziehung eines nicht immer ernst gemeinten réel merveilleux erschweren es der Leserschaft, den Überblick zu behalten. Der zirkulär, spiralförmig, mit zahlreichen Wiederholungen und Variationen aufgebaute Text beginnt und endet im Jahre 1988, dem Jahr, in dem der gewaltige Zyklon Hugo über Guadeloupe hinwegfegte. Verknüpft wird dieses Ereignis mit der traumatischen Erfahrung des Zyklons von 1928.88 Während der erste Zyklon Vergessen und Verstummen der Protagonistin mit sich brachte, geht mit dem zweiten Zyklon die Wiedergewinnung der dissoziierten Erinnerung und damit auch der eigenen Handlungs- und Ausdrucksfähigkeit einher. Der Zyklon steht stellvertretend – wie sich aber erst im Laufe der Lektüre erschließt – für den sexuellen Missbrauch der Väter an ihren Töchtern. Charakteristisch ist ein Erzählimpuls, der auf ein einziges Ereignis abzielt: Éliette wurde von ihrem Vater missbraucht, dieser zeugte später noch einen Sohn namens Rosan, der wiederum, einer Erbschuld gleich, seine Tochter Angela missbrauchte. Angela ist somit die Nichte von Éliette, und Rosan ist Éliettes Halbbruder. Angela und Éliette stehen also in derselben väterlichen Linie (Éliettes Vater, Ti-Siklòn, ist Angelas Großvater); als Zeichen seiner Schuld muss er mit einem abgeschnittenen Ohr leben. Angelas und Éliettes Geschichten werden zunächst inhaltlich und strukturell parallel geführt, bis sie sich schließlich überblenden. Beide Frauen vereint dasselbe Schicksal: inzestuöser Vater, abwesende Mutter, das Zusammenbrechen des Familiensystems und der Rückzug in die Sprachlosigkeit, denn der Missbrauch hat beiden die Stimme geraubt. Den Vergewaltigungen durch ihren

87 Ebd., 88f., Herv. N.U. Männliche Gewalt an Frauen sowie das Motiv des kollektiven Verbrechens und der damit zusammenhängenden sozialen Indifferenz tauchen bereits in La Grande drive des esprits auf: »Il riait, elle gémissait. Il criait, elle demandait pitié. Les clients se faisaient papier-soie transparent, sourds, muets, aveugles et perclus. Les chapeaux s’enfonçaient sur les têtes. Les têtes rentraient dans les épaules. Et les épaules couvaient l’œuf de lâcheté qui mûrit dans le pa mélé mwen!… Ne me mêle pas à ces histoires!« (Pineau: 1993, 184f). 88 Zur Naturkatastrophe als geschichtliche Spur in der Karibik vgl. Ludwig: 2014a und Febel: 2014.

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Vater begegnet Angela mit angehaltenem Atem, stillen Tränen und erstickten Schreien: »Elle poussa un râle qui ne l’arrêta pas. Il écrasa sa bouche. […] Elle voulut crier encore une fois, mais elle avait perdu la parole. […] Des pleurs sans paroles […]. Des petites larmes de sang et de mort. Pleurs sans paroles. […] ne pas crier. Juste baisser les paupières comme une morte dans son cercueil. Juste se mordre les lèvres.« 89

Dieser Zustand ist nicht nur vorübergehend, sondern bewirkt den jahrelangen Verlust der Stimme und des Lachens. Anstelle einer eigenen Stimme tauchen fremde Stimmen und Geschichten auf. Sowohl bei Angela als auch bei Éliette ist es die Stimme der Mutter, die die Tat leugnet und stattdessen ›Märchen‹ erfindet. Die contes von Rosette, Angelas Mutter, werden zum vorgefertigten Interpretationsmuster. Auch die Bibel, der Katechismus oder die Philosophie der Rastafari unterliegen dieser Funktion der Realitätsflucht. Rosette fordert von ihrer Tochter sogar, dass sie ihre selbst erdachten Märchen aufschreibt – »elle transforme ses contes en dictées«90 –, so dass es zu einer völligen Erstarrung der Rede kommt: »Rosette donnait à Angela une dictée de son invention, longue comme un conte. Elle avait toujours cette habitude de puiser dans ses rêves. Et Angela écrivait, docile, sur des feuilles volantes que sa manman rassemblait ensuite dans son armoire, sans jamais les relire […].«91 Das Schweigen wird von der Mutter an die Tochter bis zur Aphasie weitergetragen. Pineau klagt einen sinnentleerten, entfremdenden und betrügerischen Diskurs an, der letztlich zum Verstummen des Tatsächlichen beiträgt und die eigene Stimme unterdrückt. So muss sich Rosette nach der Aufdeckung des Verbrechens eingestehen: »Je sais plus quand Angela a perdu son rire comme on perd la parole. Enfermée dans un silence. Rien à dire. Jamais rien à raconter.«92 Nur die Multiplizierung der Perspektive und der Dialog zwischen den Figuren eröffnen schließlich eine neue Erzählweise, wie Christiane Ndiaye klar hervorhebt: »Tout est ›dictée‹: Sister Beloved, Mademoiselle Estelle, la catéchiste, Angela, Rosette, chacune reproduit et fait répéter, prendre en note le mot à mot d’un texte transmis de génération en génération, de maître en disciple, de pays en pays. Les formes (les textes) perdurent mais les voix se taisent. La problématique explorée à travers ces personnages de l’Espérance-macadam est donc manifestement celle de savoir comment échapper à toutes ces ›dictées‹, ce déjà-dit de la société, comment trouver un espace discursif où loger sa propre parole. La réponse est suggérée par la facture du roman lui-même et par le sort réservé aux personnages ›muets‹ du roman, Éliette et Angela. La narration du texte se caractérise par un glissement constant de la troisième à la première personne, permettant au lecteur d’entendre souvent ›directement‹ la parole du personnage qui s’échappe de l’anonymat de la narration omnisciente ›neutre‹: les récits, les voix se multiplient.«93

89 90 91 92 93

Pineau: 1995a, 215-224. Ndiaye: 2004, 5. Pineau: 1995a, 1999. Ebd., 245. Ndiaye: 2004, 5.

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Auf diese Weise gelingt es Pineau, Glissants Poétique de la relation literarisch umzusetzen, denn »relater est à la fois raconter et mettre en relation«94. Genau wie Angela hatte auch Éliette ihre Stimme und Lebendigkeit durch den Inzest verloren und bleibt zunächst angewiesen auf die Deutungen ihrer Mutter. Zu Beginn des Textes erfahren wir von der Protagonistin Éliette: »Toujours la voix de ma manman s’élevait pour couvrir d’autres sons qui perçaient fond en moi. Elle racontait comment, pour mes huit ans, le Cyclone de 1928 avait démembré la Guadeloupe, m’avait jeté cette poutre au beau mitan du ventre.«95 Untermauert wird die Stimme der Mutter mit ›realen‹ Zeitungsberichten über den Zyklon, die das Geschehene bezeugen sollen. Die Protagonistin versucht verzweifelt eine eigene Stimme zu entwickeln. Doch da Éliette eine eigene Erinnerung an die Ereignisse im Jahr 1928 fehlt, werden die Geschehnisse in der dritten Person erzählt: »Éliette avait huit ans. Le Cyclone l’avait rendue ainsi, lâche, indifférente, faible et molle. Elle avait gardé quelques rares souvenirs des événements. Avec le temps… Non, en vérité, Éliette ne se souvenait de rien. C’était sa manman qui lui racontait toujours la nuit où le Cyclone avait chaviré et pilé la Guadeloupe. Elle criait ce cauchemar: ›Le Passage de La Bête‹.«96

Die Multiplizierung der Erzählperspektive setzt Pineau auch im Kontext der Ver- und Enthüllung des Inzests ein, denn in der Folge wechselt die Erzählerstimme erneut, und die Stimme der Mutter Séraphine setzt ein. Es ist diese Stimme, die Éliette zeitlebens immer wieder von dieser Nacht erzählt und damit eine individuelle Erinnerung Éliettes unmöglich macht: »Elle disait: ›Éliette, ma fi, cette nuit-là où La Bête est passée, mon Dieu! personne ne l’attendait. Un cyclone d’une telle méchanceté, non, c’était pas permis. […] ›Éliette, ma fi, remercie Dieu, il nous a épargnées. Mille à deux mille pauvres gens sont morts dans des souffrances infernales. Et tant d’autres disparus. […] La Bête l’avait décoiffée [notre case] aux premières heures. Tu dormais, innocente. […] La Bête avait poussé notre case sur au moins cinquante pas. J’ai soulevé l’aile d’une planche, juste pour mieux voir. Et c’est à ce moment-là que la queue du cyclone a projeté une manman-poutre qui est venue se planter au mitan de ton ventre, pauvre… Je t’ai déjà dit que ton papa nous avait laissées, la veille du passage de La Bête.«97

La Bête und la poutre werden zum Synonym für den Missbrauch durch den Vater, der bezeichnenderweise auch Ti-Siklòn genannt wird.98 Dieses Ereignis repräsentiert den Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Éliettes ›Verletzung‹ kann durch eine Hebamme verarztet werden; Éliette überlebt, doch sie verliert für drei Jahre ihre Sprache und ihr Gedächtnis. Sie wird zunehmend zur Einzelgängerin, heiratet erst in

94 Ebd., 6, Herv. i.O. 95 Pineau: 1995a, 12. 96 Ebd., 125. 97 Ebd., 127-133. 98 Ebd., 239 und 288f.

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fortgeschrittenem Alter und bleibt kinderlos. Ihre Sterilität ist allumfassend, Gleichgültigkeit wird zu ihrer Lebensmaxime: »Je me mêlais de rien.«99 Der Verlust der Stimme, die Amnesie, die Unfruchtbarkeit und die zunehmende Indifferenz sind vordergründiger Ausdruck ihrer Traumatisierung. Denn eigentlich kreist der Text um Éliettes Hoffnung auf ein Kind und eine mögliche Heilung. Diese Hoffnung wird bereits durch den Titel fokussiert und am Ende des Romans auch durch die gelingende Tante-Nichte-Beziehung in Ermangelung einer funktionierenden Mutter-TochterBeziehung eingelöst. Angela hat zunächst die Übergriffe ihres Vaters wie Éliette stumm ertragen, doch als sie wegen ihm auch um ihre jüngere Schwester fürchten muss, bricht sie das Schweigen und zeigt ihn bei der Polizei an. Sie findet am Vorabend des Zyklons von 1988 Schutz bei ihrer Tante Éliette, die sie als ihre Tochter aufnimmt. Mit dieser Entscheidung nach Öffentlichkeit und juristischer Ahndung kommt für Éliette nach 60 Jahren die Erinnerung zurück, denn »[l]a parole de l’une aura délié le souvenir de l’autre«100. Die Stimme ihrer Mutter, die Stimme der Verdrängung und Verzerrung, wird durch eine Stimme der Erinnerung abgelöst: — À quoi bon haler tout ça au jour? Soixante ans de cela! lui souffla sa manman défunte. Oublie ce temps! Oublie, ma fille! — Au contraire, fais parler la mémoire soutireuse! lui lança une autre voix. Déterre le passé! Redescends dans ton âge! Déchire les voiles enfin... — Non! Éliette, retire ton corps de cette attrape! supplia Séraphine. — Il n’est plus temps de reculer. Allez, ouvre les yeux! lui intima l’autre voix sans visage. Alors, un morceau de la mémoire d’Éliette se détacha doucement des récifs de l’oubli, […]. Elle vit d’abord une enfant maigre courir et sauter derrière un grand Nègre […].101

Éliette muss ihr traumatisches Ereignis noch einmal durchleben. Diese Erfahrung ist zwar schmerzhaft, hat aber eine kathartische Wirkung. Erst nachdem sie den Inzest über Angela ein zweites Mal ›erlebt‹, kann sie dieses Erlebnis in ihre bewusste Erinnerung integrieren. Ihre daraus resultierende Handlungsfähigkeit zeigt sich darin, dass es ihr von nun an gelingt, Angela Fürsorge und Schutz zukommen zu lassen. Eine erste Chance, Fürsorge für jemand anders zu übernehmen, hatte Éliette aus Angst an sich vorbeiziehen lassen – mit fatalen Konsequenzen: Éliette gelingt es nicht, das ausgesetzte kleine Mädchen Glawdys, ›Bastard‹ einer kollektiven Vergewaltigung, zu sich zu nehmen. So wächst es in völliger Verwahrlosung auf und wird später zur Mörderin ihres eigenen Kindes. Bezeichnenderweise verfügt dieses Kind über keinen Namen und ist somit im Text nicht als Subjekt etabliert. Insgesamt gibt es im Text wenig Hinweise darauf, dass das Kind überhaupt lebt, es erscheint lediglich in Bezug zur Mutter. So entsteht der Eindruck, als ob das Töten des Kindes eine Gefahr für die Mutter darstellt, es wirkt wie ein erweiterter Selbstmord. Glawdys wird zwar zur Täterin, zugleich aber weist die Namenlosigkeit ihres Kindes auf den unmenschlichen Status der Sklaven in der kolonialen Gesellschaft hin. Der Mord ist die logische Konsequenz ihres bisherigen von Gewalt und Unmenschlichkeit gepräg-

99 Ebd., 35. 100 Vitiello: 1997, 260. 101 Pineau: 1995a, 232f.

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ten Lebens. Glawdys Lebensgeschichte ist gewissermaßen ein Gegenmodell zu Angelas Geschichte, denn Glawdys gehört zu den Frauen, die nicht mehr sprechen können. Als Kind wurde sie wie ein wildes Tier gehalten, so begann sie sich über Laute statt über Sprache mitzuteilen: »Comme chacun à Savane Mulet, Éliette l’entendait japper tout le jour. [...] L’enfant lutta, mordit, gémit. On dut la bâillonner, lui attacher les mains et les pieds, lui donner un remède calmant pour amollir sa rage.«102 Als Erwachsene kommuniziert sie mit niemandem mehr in Savane-Mulet (»La fille aux yeux gris ne dit rien à quiconque.«103). Einzig das Haus, das sie bewohnt, ›spricht‹, indem es seufzt und stöhnt: »Et des souffles se levaient. Des gémissements passaient la porte toujours entrebâillée.«104 Die Erinnerungen an den Schmerz sind hier schon nicht mehr dem Körper eingeschrieben, sondern noch weiter abgespalten und nur noch stellvertretend in der dinglichen Welt zu finden. Doch nicht nur Angela bekommt durch Éliettes Fürsorge eine zweite Chance, auch Éliette selbst kann sich endlich bewähren. Diese Begegnung und Interaktion bedeutet für beide die Befreiung vom »poison du secret«105 und damit Rettung, Trost und Heilung erlittener Wunden: »Vécue soixante ans avec un cyclone niché en dedans d’elle comme un serpent qui étouffait tous les bébés qu’elle aurait pu porter, tous les poupons à qui elle aurait aimé donner ses tétés à sucer. Un cyclone qui avait terrassé l’amour en elle. Une bête longue comme un ver solitaire et sournois qui lui avait mangé les entrailles et la cervelle. Elle serra plus fort la main d’Angela, son bébé Angela qu’elle avait attendu des temps et des temps. La destinée avait fait qu’elles avaient rencontré la même poutre avec son visage grimaçant, ses dents longues et voraces, ses yeux fous. Cyclone!«106

Der Zyklon von 1988 wird schließlich zu einer Art Reinigung: Éliette erfährt durch ihre Patentante Anoncia ihre wahre Geschichte, und Angela trotzt dem Sturm, indem sie seine destruktive Kraft für sich transformiert: »Le Cyclone ne terrifiait pas Angela. Elle l’espérait même, se figurant qu’il était un déchaînement envoyé par les cieux pour la débarrasser de son papa Rosan. […] Angela fit un vœu et demanda au cyclone de nettoyer son corps au plus profond, de la remettre tout entière comme avant, au temps de l’innocence.«107

Auch der Moloch namens Savane-Mulet wird durch den Zyklon zerstört, was einer tabula rasa gleichkommt, um anschließend einen Umgestaltungsprozess einzuleiten. Das Ende von L’Espérance-macadam verweist damit – zumindest für die beiden Protagonistinnen Angela und Éliette – auf eine hoffnungsvolle und geheilte Zukunft: »This harmonious parent-child relationship is presented as an essential factor in the

102 103 104 105 106 107

Ebd., 64-66. Ebd., 70. Ebd. Ebd., 293. Ebd., 280f. Ebd., 283f.

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healing of Caribbean Society.«108 Pineau operiert nicht nur in diesem Roman mit eindeutigen Kontrasten und »im Bannkreis von polarisierenden Extrempositionen«109. Joabs ursprüngliche Gartenlandschaft Savane-Mulet verwandelt sich in L’Espérancemacadam in ein Armenviertel, Léonces Garten in La Grande drive des esprits degeneriert genauso wie seine Familie.110 Die Mehrzahl der auftretenden Männer ist fortwährend von Verwilderung bedroht, denn sie sind zumeist Alkoholiker, Gammler, Heuchler, Lügner, im besten Fall Womanizer. Für Casteel steht das Gartennarrativ als Problematisierung der »male potency and its ability to bring about regeneration«111, denn sowohl die Hinzuziehenden nach Savane-Mulet als auch die Nachkommen von Léonce sind sozial inkompent: »Pineau’s botanical imagery also works to deflate the comparison of the garden to the female body and to expose the fertility motif as patriarchal and oppressive.«112 Durch die ge-genderte Landschaft, konkret die Analogiesetzung von Frauenkörper und Insel in L’Espérance-macadam – der Inzest vernichtet die Integrität des jungen Mädchens, der Zyklon verwüstet die Insel (»cette île violée saccagée«113), – geht es zudem nicht nur um eine individuelle Heilung, sondern nach den Erfahrungen von Sklaverei, Kolonialismus und Naturkatastrophen auch um eine kollektive Genesung. Vielleicht ist letzteres auch ein weiterer Unterschied zu den männlichen Verfechtern der Créolité-Bewegung; während es bei ihnen häufig um Befreiung geht, ist in Pineaus Romanen die Heilung durch konstruktive und gelingende Beziehungen zentrales Thema.114 Allerdings ist festzustellen, dass eine rein individuelle Behandlung oder ›Therapie‹ nicht genug sind: individuelle Heilung und gesellschaftliche ReIntegration müssen aufeinander bezogen und miteinander verknüpft werden. Éliettes und Angelas psychischen Probleme werden als Teil einer größeren sozialen Schieflage gesehen.

108 Ormerod Noakes: 2003, 149. Den Titel erläutert Pineau in verschiedenen Interviews: »Le ›macadam‹ est un plat martiniquais à base de riz, morue et sauce tomate. Le riz est cuit dans une grande quantité d’eau. Il gonfle jusqu’à faire une bouillie qui nourrira le plus grand nombre et en particulier les membres d’une famille dont les revenus sont modestes. Le macadam, c’est aussi la route... Dans ce roman, je parle des gens laissés au bord de la route, je parle de leur espérance« (Pineau/Anglade: 2003). »Le ›macadam‹ c’est surtout les gens laissés au bord de la route, les exclus de la société, mais aussi les plats des pauvres en Martinique« (Pineau/Makward: 2003, 1207). 109 Blümig: 2004, 222. 110 Vgl. Blümig: 2004, 212, 222. 111 Casteel: 2003, 20. 112 Ebd. 113 Pineau/Makward: 2003, 1210. 114 Gérard Étiennes Roman La femme muette (1983) inszeniert ebenfalls das Leben einer nach Montreal exilierten Haitianerin, die dort von ihrem Mann eingesperrt wird und verstummt. Erst durch die Beziehung zu einer anderen Frau gelingt es ihr, ihre Sprachlosigkeit zu überwinden. Vgl. ferner Étiennes Essay La femme noire dans le discours littéraire haïtien. Eléments d’anthroposémiologie (1998).

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5.3.3 Transatlantische Familienchronik: L’Âme prêtée aux oiseaux In einem Interview verrät Pineau ihre Beweggründe L’Âme prêtée aux oiseaux zu schreiben: »J’ai adoré écrire cette histoire! Je voulais écrire un roman d’amour pour ma mère. Quand j’étais enfant, ma mère lisait beaucoup de romans d’amour, des romans de gare. […] Je voulais que ce roman d’amour traverse les pays, les temps, les êtres. Je voulais un conte et beaucoup d’oiseaux… Dans ce roman, les êtres humains sont comme des oiseaux en cage. Les barreaux des cages, ce sont les préjugés qui nous privent de notre liberté d’aimer, d’aller vers les autres, de dépasser les clivages. J’ai construit L’Ame prêtée aux oiseaux par petites touches de couleurs, avec des petits morceaux de vie, des temps et des lieux différents, des rencontres et des séparations, des gens de couleur et de condition différentes […].«115

Wie bereits erwähnt, weitet sich in Pineaus drittem Roman das geographische Netz im Vergleich zu den vorangegangenen Texten aus. Die wiederkehrende und titelgebende Metapher der Vögel verweist auf Fragilität, Bewegung und Migration der aktuellen diasporischen communauté antillaise.116 Der Roman ist geprägt von zahlreichen Flucht- und Suchbewegungen der Protagonist/innen und verknüpft dementsprechend verschiedenste Schauplätze. So spielt die Handlung teils in der Karibik (Guadeloupe, Saint John), teils in Paris und teils in New York, wo schließlich alle Handlungsstränge zusammengeführt werden. Erneut haben wir es mit einer transkontinentalen Familienchronik zu tun, die sich über mehrere Generationen erstreckt und die von der Zeit der Sklaverei bis hin zur Gegenwart und ihren vielgestaltigen Migrationsbewegungen reicht. Französische Geschichte verknüpft sich mit antillanischer Genealogie zu einem fiktiven Netz, das an Glissants Idee einer Toutmonde erinnert. Heilung als Prozess einer kreativen Transformation durch Sprache und Narration sowie die Möglichkeit ein problematisches emotionales ›Erbe‹ zu überwinden, sind zentrales Anliegen auch in diesem Roman. Die Figuren werden nicht mehr vorrangig wie in L’Espérance-macadam als Überlebende skizziert, sondern verstärkt als Handelnde. Besonders auffällig ist hier die positive Gestaltung der männlichen Figuren, auf die ich später genauer eingehen werde. Gleichwohl zeigt Pineau für beide Geschlechter Wege auf, Elternschaft gelingen zu lassen. »[T]he phenomenon of deeply troubled early family relationships of which the adult is still the psychological prisoner«117 wird hier eindeutig durchbrochen. Im Zentrum stehen zunächst zwei Frauenfiguren, Lila und Sybille, und das Thema der Mutterschaft in all seinen Facetten. Die beiden ungleichen Frauen begegnen sich in den 1970er Jahren in Paris; Lila ist Französin und Sybille stammt aus Guadeloupe. Letztere findet zusammen mit ihrem kleinen Sohn Marcello Unterschlupf bei Lila. Der Roman beginnt und endet mit dem Tod von Lila. Sybille, die erzählende

115 Pineau/Anglade: 2003. 116 Ludwig deutet die Vögel auch als Sinnbild der gefangenen und befreiten Seele und Liebe, vgl. Ludwig: 2008, 162. 117 Ormerod Noakes: 2003, 148.

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Instanz, repräsentiert bei Lilas Begräbnis bezeichnenderweise »les parents et amis de la vie entière de Lila«118 , da sie durch ihr fast zwanzigjähriges Zusammenleben mit Lila zu ihrer Zeitzeugin wurde. Lila wird für Sybille zur nachträglichen »maman blanche«119 und zur zweiten Mutter für Marcello. Marcello ist für seine Mutter die Reinkarnation ihres bereits bei der Geburt verstorbenen jüngeren Bruders; für Lila repräsentiert er eine zweite Chance zur Bewährung, hatte sie doch einst ihren eigenen Sohn James-Lee direkt nach der Geburt dem Vater überlassen. Marcello wächst demnach wie Sybille mit zwei Müttern auf, eine schwarz und eine weiß. Sybille selbst wuchs gewissermaßen sogar bei drei Müttern auf, zunächst bis zu ihrem neunten Lebensjahr, 1963, bei ihrer leiblichen Mutter Noémie, die dem Wahnsinn verfiel und sie deswegen in die Obhut eines Ehepaars in Pointe-à-Pitre, Coraline et Judes, gab und schließlich findet sie als Erwachsene mit ihrem Sohn Zuflucht bei Lila. Marcello wächst indessen vaterlos auf, in dem Glauben, sein Vater sei vor seiner Geburt gestorben. Die Unkenntnis über den eigenen Vater betrifft auch Henry, Lilas große Liebe am Ende des Zweiten Weltkriegs. Er stammt aus Saint John120 und ist illegitimes Kind einer schwarzen Köchin und eines weißen Plantagenbesitzers. Besonders interessant ist, dass beide männlichen Figuren trotz des vorenthaltenen Vaters ihre Familienbeziehungen konstruktiv gestalten. Henry wird ein verantwortlicher Vater und Ehemann, und Marcello verlässt als junger Mann seine beiden Mütter in Frankreich, um auf Guadeloupe nach seinem Vater und seinen Geschwistern zu suchen, bei denen er schließlich Halt und Orientierung findet. Ein weiteres erzählstrategisches Mittel, das eine opake Lektüre generiert, ist das der mise en abyme. Hinsichtlich der Vaterlosigkeit und der doppelten Mutterschaft – auch Henry wächst vaterlos bei zwei Frauen unterschiedlichen Alters auf – gibt es eine klare Analogiesetzung zwischen Henry und Marcello. Ihre Suchbewegungen verlaufen jedoch konträr zueinander. Spannend ist in diesem Roman, dass Paris nur eine von vielen Stationen ist, welche die Protagonisten durchlaufen: ein Ort, der nur Durchgang und nicht Ziel ist. Henry verlässt die Karibik, verabschiedet sich von ›falschen‹ Geschichten (wie jene, dass Michael sein angeblicher Vater sei) und findet sein Glück schließlich in den USA: »À dix-huit ans, Henry s’était arraché au fantôme de Michael, avait tourné le dos à son île, à Jenny et à ce père inacceptable. [...] À vingt-deux ans, il avait opté pour la dissidence et le général de Gaulle.«121 Marcello hingegen verlässt Frankreich und reist nach Guadeloupe, das Land seiner Eltern, zurück. Insbesondere Henry repräsentiert neben Léonce (aus La Grande drive des esprits) durch seine emotionale und soziale ›Karriere‹ einen weiteren Ausnahme-Mann in Pineaus Romanwerk. Henry und Léonce sind eher feminine Figuren und markieren eine »gender identity on the move«122 . In Verbindung mit dem Romantitel ist Henry eine ›vogelfreie‹ Figur, die es geschafft hat, sich und seine Kinder in der Welt zu verorten:

118 Pineau: 1998, 19. 119 Ebd., 11. 120 Saint John gehört zur englischsprachigen Karibik, konkret zu den United States Virgin Islands; es handelt sich um ein nichtinkorporiertes us-amerikanisches Außengebiet. 121 Ebd., 134. 122 Vgl. Thomas: 2003, 1128.

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»He is portrayed not only as a survivor, but also as a warmhearted and understanding adult who is ultimately able to forgive both his mother and the fearful, defiant Lila. He refutes the Caribbean stereotype of paternal irresponsibility, effacing his own unhappy childhood experiences through his loving and communicative rapport with his son. He even turns to positive use his once-resented genetic inheritance, combining emotional fidelity and culinary talent, flourishing both as a restaurant owner and as steadfast husband and father.«123

Sehr viel ambivalenter skizziert Pineau die Figur der Lila. An ihr handelt Pineau vor allem das Thema des Zurückweichens vor der Gewalt bzw. vor dem Trauma der Anderen ab, denn Lila ist als Zeugin an der Judenverfolgung beteiligt. Im Sommer 1942 werden drei Kinder, vier Frauen (eine davon schwanger) und fünf Männer – vermutlich aufgrund des Verrats von Lilas deutschem Liebhaber Hans, der im August 1943 verschwindet – aus Lilas Wohnhaus abgeholt. Die Familien hatten sich dort neun Monate lang in einem Zwei-Zimmer-Appartement oberhalb von Lilas Wohnung versteckt. Diese Zeugenschaft erlebt Lila später als traumatische Erinnerung. Versinnbildlicht wird Lilas innerer Konflikt durch Alpträume und Geistergestalten, die sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Ihr schuldbehaftetes Wissen und ihre damalige Involviertheit vertraut sie der Ich-Erzählerin Sybille an, die 1976 zusammen mit ihrem einjährigen Sohn als erste Nachmieterin das ehemalige Versteck wieder als Wohnung beziehen darf. »›Après la guerre, tant que l’appartement est demeuré inoccupé au-dessus de ma tête, je les entendais, Billy. Tous, les hommes, les femmes et les enfants. Ils étaient revenus. Tu comprends pourquoi j’ai jamais voulu louer. C’était chez eux là-haut. La guerre était finie. Ils se retrouvaient pour danser et rire, boire, fumer, faire bamboche. Profiter de ce qui fait oublier ce qu’est la vie sur terre. Ils avaient plus à se cacher, à chuchoter, à marcher en chaussettes. Ils chantaient à tue-tête et buvaient jusqu’à perdre connaissance… […] Douze étoiles jaunes qui veulent pas monter au ciel […].‹«124

Die Beteiligung an einem Trauma, sei es als Opfer, Täter oder Zeuge, ruft bei allen eine Betroffenheit hervor, was nicht heißt, dass die Auswirkungen der Traumatisierung gleichartig sind. Bei Lila zeigt sich die Auswirkung in Form ihrer erstarrten und zerstückelten Rede: »Elle parlait comme si on lui dictait les mots. Les expulsait de la même façon qu’elle semblait se vomir, d’avoir été témoin de cette tragédie, impuissante, complice et peut-être aussi coupable. Les phrases étaient hachées, bancales, écartées comme autant de misérables dépouilles. Mais les mots, pièce après pièce, finissaient néanmoins par reconstituer le drame et les silhouettes des personnages d’antan, conférer un son aux cris muets des femmes et des enfants qui, les uns après les autres, avaient sombré dans le néant. […] Lila répétait plusieurs fois les mêmes bribes de phrases.«125

123 Ormerod Noakes: 2003, 146. 124 Pineau: 1998, 98f. 125 Ebd., 96f.

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Die stete Präsenz der Toten manifestiert sich im Romantext wie eine Heimkehr des Unheimlichen; der Schatten der Vergangenheit drängt unentwegt an die Oberfläche. Das Einbrechen der Toten in die Welt der Lebenden lässt die Rede von Lila ›humpeln‹ und führt zu einer ›Verunheimlichung‹ der Gegenwart. Die Untoten werden zum Symbol des Ausschlusses der Toten aus der Erinnerung. Es gibt noch eine weitere zentrale Begegnung und Entscheidung in Lilas Leben, bei der sie zurückgewichen ist und diesen Schritt im Nachhinein bereut hat. Während der Tage der Libération trifft sie auf Henry, der als Soldat für die Franzosen im Zweiten Weltkrieg gekämpft hat. Er will der Rassentrennung mittels Heirat und Kind ein Ende setzen und damit der Zurückweisung durch den weißen Vater seine Gleichwertigkeit entgegenhalten. Doch Lila bleibt Gefangene ihrer verinnerlichten rassistischen Vorurteile: »Elle avait parlé des problèmes que susciterait la naissance d’un enfant métis dans ce monde où les Noirs et les Blancs s’étaient toujours haïs. [...] cet enfant café au lait qu’elle aurait eu honte de présenter comme sorti de sa chair. [...] Elle jurait qu’elle aurait mieux fait de porter l’enfant d’un soldat d’Hitler plutôt que de se retrouver enceinte d’un Nègre.« 126

Zunächst versucht sie, das Kind abzutreiben, was nicht gelingt, daraufhin bringt sie es zur Welt, verstößt aber sowohl Henry als auch ihren kleinen Sohn James-Lee. Henry wandert 1946 mit seinem Sohn in die USA aus, eröffnet in Houston ein Restaurant namens The Kreyol Food, heiratet Lana, eine Mulattin aus Trinidad, zieht mit ihr nach New York und hat mit ihr noch drei weitere Kinder. Henrys Kochkunst steht in Verbindung mit seiner Mutter Jenny und Peggy Douglas, eben mit den beiden Frauen, die ihn aufgezogen haben und die als Köchinnen auf der Plantage seines Vaters arbeiteten. Sein Restaurant mit Innenhof, in dem unzählige Vögel frei leben – »un jardin du paradis en plein cœur de New York«127 – verweist auf das den gesamten Roman durchziehende Vogelmotiv. Zunächst sind es tote, eingetrocknete oder gefangene Vögel, die in Pineaus Roman rekurrierend auftauchen, stets im Kontext unmöglicher Liebe aufgrund von Rassendiskriminierung. Der Legende nach verwandelte Gott diese unterdrückte Liebe in die Seele eines Vogels. Im Laufe des Romans entfaltet sich diese ›Vogelseele‹ zunächst durch Henrys Befreiung der VolierenVögel der reichen weißen Familie Mac Dowell, dessen Haushalt seine Mutter führte. Jahre später folgt dann sein eigener Ausbruchsversuch, der ihn nach New York führt. Am Ende des Romans steht dann die Liebesbeziehung zwischen Henrys Sohn JamesLee und Lilas Ziehtochter Sybille, eine Beziehung zwischen zwei ›Kreolen‹. So schließt der Text, etwas kitschig anmutend, mit Sybilles liebevollen Gedanken an James-Lee, »son amour, qui saurait peut-être où trouver l’âme prêtée aux oiseaux«128. Lilas vorbehaltlose Aufnahme von Sybille und ihrem kleinen Sohn Marcello steht in enger Verbindung mit ihrem damaligen zweifachen Zögern bzw. Versagen. Sybille kommt aus Guadeloupe und hat ebenfalls mit ihrer Vergangenheit, ihren Phantomen, zu kämpfen. Sie wurde sehr früh Waise und wuchs bei Adoptiveltern auf. Li-

126 Ebd., 210-212. 127 Ebd., 206. 128 Ebd., 222.

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las nachträgliche Großherzigkeit gegenüber Sybille und Marcello erinnert an Éliettes Adoption von Angela in L’Espérance-macadam. Beide Frauen profitieren in unterschiedlicher Weise voneinander. Lila vertraut Sybille an: »[…] tu m’as rappelé Henry. La façon de glisser sur les rrr. Et puis, surtout, t’avais Marcello sur ton épaule, j’ai pas pu résister. Quand je vous ai vus, j’ai su que les fantômes vous ficheraient la paix. J’aurais parié ma vie là-dessus… […] Elle [Lila] répétait: […] Tu [Marcello] es noir, je suis blanche! Mais je suis ta maman quand même… Et on s’en fout des gens, pas vrai!«129

So endet der Roman für alle Protagonisten, ob Lila, Marcello, Henry, James-Lee oder Sybille, in einem mit dem Schicksal versöhnten Akt. Exemplarisch sei dafür Sybilles Selbsteinschätzung angeführt, so sagt sie am Ende des Romans von sich: »Les bras d’une mère... Noémie, Coraline ou Lila. Les bras d’un homme, ceux de James-Lee qui m’enveloppaient si bien à New York.«130 Sie ist ausgesöhnt mit ihren drei Müttern, und darüber hinaus gibt es sogar die liebevolle Gegenwart eines Mannes in ihrem Leben. Die Tatsache, dass gerade James-Lee, Lilas verleugneter Sohn, Sybilles Gefährte und Liebhaber wird, erweitert die Handlungsfäden um ein weiteres Element. Zudem führt es erneut die Bruder-Schwester-Thematik ein, denn Sybilles früher Verlust des ersehnten Bruders zieht sich leitmotivisch durch den Roman. Da Lila für Sybille auch als Mutter fungiert, und somit Sybille und James-Lee gewissermaßen Geschwister sein könnten, liest sich das Ende des Romans auch als ein moderner Liebesmythos. Geschwisterliebe in der Literatur ist zumeist Ausdruck der maximalen Vereinigung von Mann und Frau. Hinter dieser Beziehungsphantasie steht die Idee der Gleichwertigkeit, Solidarität und Machtlosigkeit, eine Liebe jenseits der sonst üblichen Jäger-Beute-Beziehung. Die sich anbahnende Liebesbeziehung zwischen Sybille und James-Lee steht im Kontrast zur vorangegangenen todbringenden Liebesbeziehung, sie stellt eine kreative Transformation eines problematischen Erbes dar. Sybilles Vater war auf mysteriöse Weise zusammen mit seiner Geliebten, Clothilde, beim Liebesakt ums Leben gekommen, woraufhin seine schwangere Frau Noémie ihr Kind verlor, eben Sybilles jüngeren Bruder. Kurze Zeit später verfiel Noémie dem Wahnsinn. Die exkursartig eingefügte Geschichte von Clothilde und ihrer Großtante Néhémie wirkt wie eine Parodie auf matriarchale Geisterwesen. Denn die Gabe der Wundertäterin Clothilde – durch Träume Geschehnisse vorherzusehen und zu beeinflussen – währt nur solange, wie sie auf ihr erotisches Begehren verzichtet. Als junges Mädchen wird sie von ihrer Mutter dazu angehalten, mit ihrer Gabe – »un capital à fort intérêt«131 – die gesamte Familie zu unterhalten. Da man ihr das Recht vorenthält, ein Mensch aus Fleisch und Blut zu sein, verweigert sie sich zunächst durch Schweigen und Gleichgültigkeit. Clothilde alias Ti Néné (in Erinnerung an ihre Großtante Néhémie, von der sie die Gabe geerbt haben soll) sieht sich zudem nicht als Heilige, denn sie ist befangen von Schuldgefühlen. Obwohl sie den Tod ihres Va-

129 Ebd., 103-108. 130 Ebd., 219. 131 Ebd.67.

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ters im Traum vorhergesehen hat, hat sie ihn nicht gewarnt, da sie prüfen wollte, ob Träume wirklich das Leben bestimmen.132 Später entscheidet sie sich, als Prostituierte und Parfumherstellerin ihr Dasein zu gestalten und parodiert so den Wunderglauben und ihre eigene Stellung als heilige, unantastbare Figur: »[…] en vérité elle était déjà lasse de vivre dans les rêves. […] elle souhaitait depuis longtemps descendre du socle où on l’avait fichée.« Die Verlockungen der »impureté humaine«133 zeigt Pineau gleich an zwei wundertätigen Frauen auf: Clothilde folgt gewissermaßen in exzentrischer Weise ihrer Großtante Néhémie, denn auch Néhémie verfiel kurz vor ihrem Tod, nach einem durch und durch spirituellen Leben, dem eigenen Begehren. Diesem Bedauern über die entgangenen Gefühle verleiht Pineau rhetorischen Nachdruck durch zahlreiche Anaphern; ein von ihr häufig eingesetztes Stilmittel: »Néhémie avait éprouvé pour la première fois le besoin d’amour et le sens du mot regret. Regret rosse, ruant et hurlant, déchaîné. Regret enragé, fielleux, […]. Regret qui l’avait étreine et secouée […]. Regret de n’avoir pas vécu au moins l’un de ces mystères d’amour rêvés et passionnés qu’elle avait élucidés et démêlés. Regret d’avoir toujours gardé son cœur au sec.« 134

Schließlich entdeckt Néhémie auf dem Totenbett die Wollust: »Cette heure ultime fut un enchantement, une apothéose, un avant-goût du paradies.«135 Insgesamt lässt sich festhalten, dass dieser Roman alles andere als ›sec‹ ist – Liebe und Erotik finden hier durchaus ihren Platz. Streckenweise ist er schon fast zu romantisch und liest sich wie eine Replik auf einen klassischen Liebesroman mit happy end. Er ist sicherlich auch eine Hommage an Pineaus eigene Mutter, von der sie sagt: »ma mère était une grande lectrice, même si elle ne lisait que des romans d’amour.«136 5.3.4 Familiengeheimnisse und doppeltes Sprechen: Chair piment Pineaus vierter Roman Chair piment (2002) nimmt vielfältige Themen und Erzählstrategien der vorangegangenen Werke auf. Zentrale Motive sind wiederum Sterilität, Betrug, Rivalität, Verfluchungen, Rache und Tod, aber auch Freundschaft und Heilungsversuche. Pineau greift zur Beschreibung erneut auf kriminalistische Erzählweisen zurück. Ihr auflösendes, analytisches Erzählen legt Spuren frei, wo Spuren verwischt wurden. Auch hier geht es um ein Familiengeheimnis und um die fatalen Konsequenzen des Verschweigens. Erst am Ende des Romans wird das zunächst lückenhaft dargestellte zentrale Ereignis – eine inzestuöse Liebe zwischen Bruder und Schwester – so vervollständigt, dass das bislang Erzählte in einem neuen Licht erscheint. Pineau produziert durch die Umstellung der Ereignisfolge und die analeptische Vorgehensweise Opazität. Der Leser wird gar auf eine falsche Fährte geführt, denn lange Zeit vermutet man, dass das zentrale Ereignis ein nächtlicher Brand am

132 133 134 135 136

Vgl. ebd., 75. Ebd., 64. Ebd., 62. Ebd. Pineau/Makward: 2003, 1203.

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11. September 1978 ist, bei dem die Schwester der Protagonistin ums Leben kommt. Doch das wirkliche Geheimnis liegt viel weiter zurück. Angesiedelt ist diese magisch-realistische Familienchronik über vier Generationen (erzählt wird eine Zeitspanne von 1870 bis zum 1. Jan. 2000), wiederum auf zwei Kontinenten: Schauplätze sind Frankreich und die Karibik, trostloser Pariser Banlieue und Piment, ein fiktiver Ort auf Guadeloupe, dem Pineau bewusst diesen ambivalenten Namen gibt: »J’ai choisi ce nom parce que dans ce roman, il y a le feu, la brûlure, la chair brûlée de Rosalia et la chair brûlante de Mina. Le feu extérieur et le feu intérieur. Le piment est à la fois brûlure et plaisir.«137 Das Wortfeld um »chair« herum eröffnet ebenfalls einen aufschlussreichen Metaphernkomplex, denn die Polysemie des Begriffs verweist auf Lust, sinnliche Begierden und im Kontext mit »piment« zugleich auf das Leid, welches daraus resultieren kann. Denn im Kern geht es um eine ungelebte Liebe, die über Generationen fatale Konsequenzen nach sich zieht. Wesentlich ist auch hier wieder das Thema der Heimkehr zur Insel; sie fungiert innerhalb der Geschichte als eine Art erlösende und befreiende ›Pilgerreise‹. Wie bereits Simone Schwarz-Bart in ihrem Roman Ti-Jean L’horizon (1979) über die populäre Figur des Ti-Jean und den Topos der Initiationsreise den historischen und mythologischen Ursprüngen ihrer Heimatinsel Guadeloupe nachzuspüren sucht, sollen hier alte Wunden und verdrängter Schmerz aufgedeckt werden und genesen. Es ist wie eine Rückkehr an den Ort des Geschehens, an den Tatort, an dem alles begann. Doch bei Pineau sucht man vergebens nach einer idealistischen Sicht auf ihren Herkunftsort, denn »[l]es souvenirs que Mina garde de sa terre natale sont ceux d’un univers en ruines«138 . Der Roman lässt sich auch als weiblicher Bildungsroman lesen, denn er skizziert den Weg einer »petite orpheline« zu einer »femme debout«139. Die Protagonistin, Mina Montério, kommt mit 14 Jahren – nach dem sukzessiven Tod ihrer Mutter, dann ihres Vaters und schließlich auch noch ihrer älteren Schwester Rosalia – als Waise in die Obhut ihrer ältesten Halbschwester Olga, die bereits in jungen Jahren mit ihrem Mann nach Frankreich ausgewandert war. Seit diesen traumatischen Ereignissen wird Mina von Rosalia, die ihr als brennender Geist erscheint, mehr als 20 Jahre lang heimgesucht. Mina sieht ihre verstorbene Schwester unentwegt im Zustand des Todes: »[n]attes en couronne de feu dressées sur la tête. Visage brûlé étonné. Peau grillée. Chemise de nuit en Nylon fondue dans ses chairs. Cris muets.«140 Insgesamt fühlt Mina sich wie ferngesteuert: »Elle se sentait habitée, c’était ça. Habitée par une voix, un souffle, un désir qui la terrifiaient et la dominaient tout en lui donnant un sentiment de puissance.«141 So entsteht der Eindruck eines Doppelwesens, das einen lebenden (Mina) und einen verstorbenen Geist (Rosalia) in sich trägt: »Et elle [Mina, N.U.], est-ce qu’elle était quelqu’un? Est-ce qu’on la considérait

137 138 139 140 141

Pineau/Anglade: 2003. Fonkoué: 2006, 150. Pineau: 2002, 309. Ebd., 13. Ebd., 56.

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comme une personne? Elle était invisible, juste un fantôme du genre de Rosalia.«142 Pineau inszeniert eine in sich aufgespaltene Figur und ein doppeltes Bewusstsein, also auch ein doppeltes Sprechen. Doch es gibt keinen Dialog zwischen den beiden ›Figuren‹, welcher über Worte kommuniziert wird, sondern ausschließlich einen Dialog über Gesten und Blicke: »Rosalia regardait Mina. Peut-être voulait-elle parler, mais n’avait jamais trop su, même de son vivant. Des flammèches jaillissaient de sa bouche et les mots qu’elle aurait pu crier brûlaient avant d’avoir eu le temps d’inventer le moindre son. Mots mort-nés et consumés qui partaient en fumée. […] Rosalia s’adossait à l’armoire pour la regarder faire ce que les hommes appelaient l’Amour […].« 143

Die Problematik Unsagbares zu artikulieren, umschreibt Glissant treffend mit dem Begriff des »délire verbal«144 : »Nous considérons comme relevant du délire verbal des manifestations déviantes – par référence à une norme qu’il s’agirait dès lors de définir – qui se limiteraient à la pratique du langage (écrit ou parlé).«145 Verbales Delirium ist für ihn eine der markantesten Konsequenzen einer schreckensreichen Vergangenheit. Denn den Sklaven war es untersagt, während der Arbeit auf der Plantage zu sprechen, also drückten sie sich teils über Schreie aus. Laute und Geräusche wurden so zu Merkmalen der Kreolsprache. Die vermeintlich antagonistischen Bilder von Erstarrung und Sprachlosigkeit einerseits und den Bildern von Feuer, Hitze und Leidenschaft andererseits, welche für beide Schwestern maßgeblich sind, können somit auch als ambivalente Metaphern dieses délire verbal gelesen werden. Wie in dem bereits erwähnten Zitat von Pineau gibt es ein äußeres Feuer (Rosalia) und ein inneres Feuer (Mina), welches sich nicht löschen lässt und stellvertretend eine noch freizulegende Geschichte repräsentiert. Das Unsagbare der Vergangenheit wird in Chair piment obsessiv sichtbar gemacht: »le récit de Pineau renonce au sens établi, à la transparence du signe, à une rationalité classique, attitudes toutes baroques«146. Vergangenheit und Gegenwart sind unauflösbar ineinander verschränkt. Rosalia fungiert als eine Art stiller Gedächtnisspeicher, denn sie verkörpert sprachlos (sie wird u.a. charakterisiert durch ihre »cris muets«147 ) die Erinnerung an ein Familienge-

142 Ebd., 92. 143 Ebd., 14-17, Herv. N.U. 144 Glissant: 1997a, 623ff. Für Glissant beweist die Tatsache, dass die kreolische Sprache bis heute über keine einheitliche Grammatik verfügt, die Strukturlosigkeit der martinikanischen Gesellschaft; ihr Umgang mit Sprache drücke ihr gestörtes Verhältnis zu sich selbst aus. 145 Ebd., 625. 146 Fonkuoé: 2006, 150f. 147 Pineau: 2002, 13. Selbst lebend verständigt sich Rosalia vorwiegend über Laute: »Rosalia [...] se tint debout seule sur ses deux jambes au lendemain de son troisième anniversaire, prononça ses premiers mots à six ans, se fit comprendre – un peu – à dix ans« (ebd., 28). Wenn sie von ihrer Halbschwester Olga misshandelt wird, schreit sie wie ein Tier: »Elle apprit à s’enfuir plus tard, vers sept ou huit ans, en poussant des cris de chiot« (ebd.). Im

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heimnis. »Le fantôme, das Gespenst, der Geist« repräsentiert, so der Psychoanalytiker Nicolas Abraham, »Geheimnisse, die innerhalb von Familien von einer Generation an die nächste unbewußt weitergegeben werden. Als Fremdkörper empfunden, bleiben sie einer psychischen Verarbeitung entzogen.«148 Das Phantom ist demzufolge nicht individueller, sondern familiärer Natur. Das erklärt auch, warum Mina ihre ältere Schwester – sie brachten sich gegenseitig zu Lebzeiten eine große Zärtlichkeit und Fürsorge entgegen – selbst als brennender Geist nicht unbedingt als Bedrohung erlebt: »Rosalia était sa compagne, son bâton de chagrin, son ombre, sa mémoire. Mais elle figurait aussi le mystère et la folie.«149 Rosalia hat eine Brückenfunktion, sie ist stummes Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Piment und Paris. Rosalia erinnert Mina daran, dass etwas nicht stimmt; das Phantom ist ihr Symptom. Minas Möglichkeit, jemanden zu sehen – bei gleichzeitiger Ungewissheit, ob es ihn denn als leibliche Präsenz gibt – ist einerseits gespenstisch, andererseits ist es eine Form der Zweisamkeit. Das Phantom ist eine Beziehungsfigur, die dem inneren Ausland von Minas Psyche entstammt. Zudem kommt Mina die innerfamiliäre Rolle zu, im Chaos sinnstiftend zu wirken: »Mina était le lien entre tous.«150 Und Rosalia ist dabei ihr Schutzengel über den Tod hinaus und bewahrt Mina sogar vor dem Tod, wie man am Ende des Romans erfährt: »Elle [Rosalia, N.U.] avait de la résistance. Elle aurait même pas dû naître… Mais elle est restée pour toi, tant qu’elle a pu. Pour te protéger... C’était sa mission sur terre...«151 Doch was ist denn nun das Geheimnis in Minas Familiengeschichte? Fortwährend arbeitet der Roman mit der Technik der aufgeschobenen Enthüllung, mit denen sich die Protagonistinnen unweigerlich auf eine verhüllte Wahrheit hinbewegen. Minas Großvater hatte neben seinen drei ehelichen Söhnen eine außereheliche Tochter, Suzon, und eben diese verliebt sich in einen seiner Söhne, Melchior, und es kommt zum unfreiwilligen Inzest. Als Melchior erfährt, dass Suzon seine Halbschwester ist, wendet er sich gezwungenermaßen von ihr ab. Als Folge der Zurückweisung durch Melchior lässt Suzon alle seine späteren Ehefrauen und die aus diesen Verbindungen kommenden Töchter ›verfluchen‹: Melchiors erste Frau Marie-Perle ertrinkt, aus dieser Verbindung stammt Olga, sie bleibt unfreiwillig zeitlebens kinderlos; Melchiors zweite Frau Médée kommt bei einem Autounfall ums Leben, Melchior selbst wird kurz darauf vom Blitz erschlagen. Ihre beiden Töchter sind eben-

148 149 150 151

Gegenzug ist Mina Rosalias Beschützerin, Lehrerin und später auch ihre Rächerin an Olga, indem sie mit deren Mann schläft. Die Beziehung zwischen den beiden Schwestern ist sehr respekt- und liebevoll. Rosalia erwartet Mina jeden Tag vor der Schule: »Rosalia avait la gorge sèche, les lèvres fendillées et l’estomac plein de vent. Cependant, elle souriait de toutes ses dents et son cœur battait la joie. Elle s’emparait du cartable, prenait la main de sa sœur dans la sienne et ne la lâchait plus jusqu’à la tête du morne Calvaire. Mina lui racontait sa journée. En écho, Rosalia tentait de reproduire les sons, avec application et grande ferveur« (ebd., 37, Herv. N.U.). Abraham: 1991, 691. Pineau: 2002, 77f. Ebd., 32. Ebd., 305.

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falls von diesem ›Fluch‹ betroffen: Rosalia ist von Geburt an behindert und kommt bei einem Feuer ums Leben, und Mina lebt, getrieben von sexueller Begierde, ohne Liebe und Beziehung. Der Sohn (bzw. alle, die mit ihm in näherem Kontakt stehen) muss hier für den Fehltritt seines Vaters zahlen: er muss auf seine eigentliche Liebe Suzon verzichten, verliert frühzeitig seine späteren Ehefrauen und kommt schließlich selbst auf tragische Weise ums Leben. Wie Pineau in einem Interview formuliert, setzt der Roman den verrückten Diskurs, wie er sich bei psychisch kranken Menschen manifestiert, in Szene. Die von außen unsichtbaren Phantome werden von ihr ernstgenommen und erhalten eine literarische Gestalt. Pineau kontrastiert dabei den europäisch-rationalen mit dem magisch-spirituellen Diskurs der Antillen: »Avec Chair Piment, je voulais que le monde de la psychiatrie, l’hôpital psychiatrique soit plus clairement visible. J’avais envie de mettre face à face les sorciers des Antilles et les psychiatres métropolitains, les croyances de chacun, les médicaments neuroleptiques des uns et les remèdes, potions, bains, prières etc... des autres. Souvent, nous recevons â l’hôpital des patients hallucinés. Certains entendent des voix qui peuvent venir de l’intérieur d’eux-mêmes et aussi de l’extérieur. Ils vous partent et soudain leur regard s’arrête sur un point derrière vous, au mur ou au plafond. Ils écoutent, rient, répondent, interpellent. . . Ou parfois, ils obéissent à ces voix et peuvent se suicider. IÏ faut apaiser ces patients car cet état mental est très angoissant. D’où viennent ces fantômes? Qui sont-ils?«152

Minas Strategie, ihrem Phantom und ihrer Angst Herr zu werden, ist ihre Promiskuität, welche nur bedingt Ausdruck einer selbstbestimmten Sexualität ist. Mina kann körperliche Befriedigung und unzählige sexuelle Handlungen zulassen, doch überdies vermeidet sie jede Art von Intimität mit Männern: »Un combat de corps auquel Mina se livrait sans peur. Elle s’ouvrait. Se cabrait. Se laissait tourner et retourner, pénétrer… En redemandait. Voulait les sentir, durs, en elle. Qui? Des hommes de passage ramassés sur le parking de la cité, entre deux voitures, ou détournés de leur train-train dans une allée du centre commercial. Des célibataires. Des jeunes, des vieux. Des pères de famille. Des bons maris. Des Noirs, des Blancs, des Arabes… Ils entraient en elle, gratis, tâtaient sa chair, goûtaient sa peau. Fallait qu’elle soit prise. Possédée. Traversée, sans paroles, par des sexes d’hommes.«153 »Elle avait seulement envie d’être prise, tout de suite, de se sentir chavirer, de perdre pied… Elle avait besoin de consoler la peine qu’elle portait en elle comme un enfant.«154

Mina ist nur vordergründig eine selbstbestimmte Frau, ihre sexuelle Verfügbarkeit verweist auf die gewaltvolle Geschichte der Sklaverei, die maßgeblich über den Kör-

152 Pineau/Anglade: 2003. 153 Pineau: 2002, 17. 154 Ebd., 97.

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per der Frau verlief. Vergewaltigung als Topos findet sich in zahlreichen Romanen antillanischer Schriftstellerinnen und findet auch in Chair piment sein Echo.155 Minas mangelnde Verortung zwischen den Welten, ihre fragmentierte und zerstörte Familie, ihr verwaistes Leben in der Diaspora, lässt sie wie eine Fahne im Wind wehen. Dieses Bild der Halt- und Bindungslosigkeit taucht gleich zu Beginn des Romans auf, als es um die Beschreibung ihres Pariser Wohnkomplexes geht, dessen Wohnungen sie als »cages à poules et clapiers à lapins«, in dem die draußen aufgehängte Wäsche »flottaient comme des drapeaux sans nation«156. Mina ist sicherlich eine der fremdartigsten Figuren in Pineaus Romanwerk; am ehesten lässt sie sich vergleichen mit der Figur der Sybille aus L’Âme prêtée aux oiseaux. Beide Figuren sind Migrantinnen und wollen zunächst nichts mit ihrer antillanischen Vorgeschichte zu tun haben. Sie sind Figuren der karibischen Diaspora, die durch die räumliche Versetzung auch jeglichen Zugang zu ihrer Vergangenheit verloren haben. Die Auflösung des emotionalen Knotens hängt indessen bei beiden mit der Hinwendung und Aufdeckung der verschleierten bzw. verschwiegenen Vergangenheit zusammen. Am Ende ist Mina durch die Enthüllung des Familiengeheimnisses, der Rückeinbindung in ihre noch bestehenden Familienverbindungen auf Guadeloupe, »ce pays de deuil«157, und die direkte Konfrontation mit ihren Ängsten befreit von den Verwünschungen und den familiären Verstrickungen, und es steht ihr offen, auf Guadeloupe zu bleiben oder nach Frankreich zurückzukehren. Abelin Fonkoué betont die Zwiespältigkeit dieses kreativen Wiederaneignungsprozesses: »L’héroïne [...] quitte Paris pour retrouver le bonheur dans la précarité des siens, dans les odeurs pestilentielles de son enfance, dans l’odeur de pain grillé qui lui a manqué depuis deux décennies.«158 Interessant ist dabei Minas ›penetrierende‹ Perspektive auf ihr pays natal: »Voilà, je rentre dans le pays, se dit-elle tandis que l’auto fendait à travers les champs. Je m’enfonce en lui, je le pénètre de la même manière que le sexe des

155 Maryse Condés Roman Moi, Tituba sorcière… setzt unmittelbar mit einer Vergewaltigungsszene auf einem Sklavenschiff ein: »Abena, ma mère, un marin anglais la viola sur le pont du Christ the King, un jour de 16** alors que le navire faisait voile vers la Barbade. C’est de cette agression que je suis née. De cet acte de haine et de mépris« (Condé: 1986, 13). Der Roman D’eaux douces (2004) der martinikanischen Autorin Fabienne Kanor inszeniert ebenfalls den viol initial auf den Sklavenschiffen als Subtext ihrer Geschichte. Wie Pineau verknüpft Kanor Sexualität, Weiblichkeit und Sklaverei als ein eng miteinander verknüftes champ de bataille. Ihre Protagonistin Frida, die über zahlreiche sexuelle Kontakte verfügt, kommt auch als Phantom daher: »Mon corps est celui d’un fantôme. Une zone de libre-échange qui n’habite nulle part, que les gens traversent sans s’apercevoir. Un corps courant d’air. Mon sexe appartient à tout le monde« (Kanor: 2004, 167). Die haitianische Autorin Kettly Price nimmt in ihrem Roman Fado (2008) die Themen Vergewaltigung, Prostitution, Kinderlosigkeit sowie das doppelte Sprechen der weiblichen Figur in Form der Aufspaltung der Protagonistin in Anaïse und Frida ebenfalls auf. 156 Pineau: 2002, 21. 157 Ebd., 236. 158 Fonkoué: 2006, 151.

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hommes dans mon ventre.«159 Mina und ihr weißer, französischer Begleiter Victor, ein enger Vertrauter aus Zeiten eines gemeinsamen Psychiatrieaufenthaltes, werden am Ende jedenfalls als »deux pèlerins, deux revenants«, vor allem aber als »deux convalescents«160 beschrieben, die beiden haben dabei den Blick auf das offene Meer gerichtet. Minas und Victors Beziehung ist nicht sexueller Natur und ihre Verbindung zielt nicht auf Nachkommenschaft.

5.4 W EIBLICHER K ÖRPER , G EWALT

UND

S PRACHE

Pineaus Frauenfiguren sind, wie ich gezeigt habe, zumeist Opfer männlicher Gewalt, wobei die Autorin es dennoch versteht, die Frauen mit Macht und Handlungsmöglichkeiten auszustatten. Das Aufzeigen matrilinearer Konstanten situiert Pineaus Romanwerk auch im Kontext einer Schwarz-Bart’schen Hommage à la femme noire (1989). Ein Ausgangspunkt für Pineaus Schreiben ist dabei ihre autobiographische, durchaus zwiespältige Erfahrung mit ihrer eigenen Großmutter, die die Rückkehr nach Guadeloupe zu ihrem gewalttätigen Ehemann dem Pariser Exil vorzog: »Pour quelle raison la femme noire qu’était ma grand-mère Man Ya voulut tant retourner auprès de son geôlier? A travers mes portraits de femmes, je crois que je ne cesse d’explorer les hypothétiques réponses de cette question post-MLF.«161 Pineau entwirft keine romantische (Groß-)Mutterschaft, sondern verweist stets auf die damit verbundene Ambivalenz, »its trials and pains as well as its privileges and rewards«162 . Ebenso reflektiert Pineau die problematische Täter-Opfer-Relation zwischen Männern und Frauen sowie zwischen Eltern und Kindern, insbesondere das Paradigma der vergewaltigten Weiblichkeit, im Kontext der traumatischen Geschichte wie sie in ihrem Essay »Ecrire en tant que Noire« ausführt: »Dire, fouiller, raconter encore et encore l’existence de ces femmes noires déchirées par les hommes, trompées, violées debout malgré tout, n’est ni vain ni obsolète. Ces femmes existent. Elles portent parfois des enfants qui sont là par la rage et la haine. […] Elles pansent chaque jour les plaies qu’ont laissées l’esclavage et les traumatismes de la traite des nègres. Les siècles défilent, la mémoire garde dans ses plis des maux qui ressemblent aujourd’hui à la folie ordinaire, à des tares congénitales, à des vices de vieux nègres… La douleur n’est jamais loin quand l’ongle effleure la peau.«163

In ihren Romanen steht der Zusammenhang geschichtlicher Gewaltstrukturen mit konkreter Gewalt an Frauen im Mittelpunkt, so dass die Darstellung des einen auch Aussagen über das andere enthält. Pineau versucht dabei aus der Opferperspektive zu schreiben und die Täterperspektive zu meiden (selbst Täter wie Rosan oder Täterinnen wie Glawdys werden ebenfalls als Opfer skizziert, denn einst waren sie die un-

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Pineau: 2002, 236. Ebd., 376f. Pineau: 1995b, 293. Larrier: 1997, 197. Pineau: 1995b, 292f.

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gewollten und ungeliebten Kinder), um die Opfer nicht ein weiteres Mal zu erniedrigen. Sie zeigt und analysiert in literarischer Weise die Interaktion von kolonialer Gewalt und das durch Gewalt bestimmte Genderverhältnis. Die kolonialisierte Frau wird bekanntlich in doppelter Weise zum Opfer: »Women in colonial societies were under a form of dual control composed of two intersecting systems of patriarchy, one indigenous, the other foreign and European.«164 Ernest Pépin analysiert diese doppelte Diskriminierung in »La femme antillaise et son corps« für den afro-karibischen Kontext in ähnlicher Weise: »Elle est à la fois la cible de l’homme noir, qui veut préserver en elle ce qui reste de sa virilité, et celle de l’homme blanc, qui raffermit au moyen de ses abus le sentiment de sa toute-puissance.«165 Pineau beschreibt genau diese ambivalente Position von Frauen in der Sklaverei: »Femmes, possédées et convoitées tout à la fois par les vaincus et les vainqueurs de ce temps de folie. Leurs corps servirent d’instrument pour consoler les uns et satisfaire les autres dans leurs besoins de chair. Elles soulevaient leurs jupes de grosse toile devant le plaisir féroce de Monsieur le Maître, les promesses sucrées d’un affranchissement et les rêves d’un enfant mulâtre […]. Ou bien elles offraient leurs cuisses à l’impérieuse mendicité de leurs compagnons de misère, des nègres sans pays qui s’en voulaient tellement d’avoir survécu à l’enfer de la traversée, et tournaient fous doucement et perdaient la raison, loin, si loin des rives de la terre d’Afrique.«166

Die kolonisierten Männer werden zu Ausbeutern ihrer Frauen und sind zugleich Opfer kolonialer Ausbeutung. Da sie als Kolonisierte kaum Chancen hatten, sich gegen die eigentlichen Ursachen ihrer Entrechtung zu wehren, bewiesen die Männer ihre vermeintliche Macht durch einen Akt der Verschiebung, wie die Ethnopsychologin Maya Nadig konstatiert: »Die Spannung zwischen Kolonisiertem und seinem Unterdrücker wird in die Beziehung zwischen den Geschlechtern hineingenommen und dort ausagiert.«167 Als Reaktion auf die Niederlage richteten die Männer die Gewalt gegen ihre Frauen. Indem die kolonisierten Männer ihre Frauen ausbeuteten, konnte die koloniale Situation kompensiert und somit aufrechterhalten werden. In diesem System kompensiert der Mann seine Entwertung durch die Kontrolle über die Frau. Die Nachwirkungen dieser Verschiebung bei den Männern vom Opfer zum Täter sind, so Pineau, bis heute wahrnehmbar: »[…] si l’homme fait le fanfaron c’est que ça l’aide à oublier qu’au temps de l’esclavage il a été dépouillé de sa dignité d’homme. […] Les femmes portaient les enfants mais lesquels, ceux engendrés par le maître? Alors les femmes ont pris l’habitude de composer avec les hommes. Elles savaient aussi que c’étaient dans leur regard, et seulement dans leur regard, qu’ils pouvaient se sentir des hommes. Ensuite les hommes ont imité le maître dans son droit d’avoir autant de femmes qu’il voulait. Tout cela est resté dans une espèce d’entente tacite, de non-dit qui

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Clancy-Smith: 1991, 269. Pépin: 1987, 184. Pineau: 1998b, 10. Nadig: 1986, 126f.

488 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN entretient le malaise, car les femmes, elles, se sentaient traîtresses à cause de leur ›connaissance‹ de l’homme blanc.« 168

Es verbietet sich, von weiblicher Mittäterschaft zu sprechen, denn die hier skizzierten Verhaltensweisen enteigneter Subjekte sind Ausdruck von Überlebensstrategien in einer menschenverachtenden, rassistischen und sexistischen Kolonialgesellschaft. Doch im Innern der Betroffenen fühlt es sich dennoch wie Mittäterschaft an. Pineau hält für die Frauen zur Zeit der Sklaverei fest: »elles étaient en quelque sorte un pont entre le monde des blancs et le monde des noirs«, was sie zu dem Schluss kommen lässt, »que la division homme/femme est pire que celle de la race«.169 Und für die Männer zur Zeit der Sklaverei konstatiert sie: »alors que sur la plantation c’était un manche de pioche, un outil, un reproducteur non considéré, il était complètement nié, privé du rôle de père«170, denn nach dem Code noir waren nicht nur die Sklavinnen, sondern auch deren Kinder stets Besitz der Sklavenhalter. Die versklavten Männer konnten sich so weder als Ehemänner noch als Väter definieren; diese Rollen waren vom maître besetzt. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass die Métissage konkret über den Körper der Frau verlief. Die Beziehung schwarzer Frauen zu weißen Männern innerhalb kolonialer Strukturen waren von einer großen Ambivalenz geprägt, denn »la femme esclave n’a pas craint de se prostituer au Blanc pour adoucir son sort et celui de ses enfants, pour qu’ils soient sauvés«171. Judith Lewis Hermann spricht hier von einem »schuldbehafteten Wissen« im Kontext von Extremsituationen.172 Pineau beschreibt es wie folgt: »Il y a donc une peine que les femmes n’en finissent pas de payer, une sorte de dette inscrite dans leur chair et leur mémoire, subie plus de cent cinquante ans après l’abolition de l’esclavage. C’est comme si elles avaient quelque chose à se faire pardonner alors qu’elles sont victimes au même titre que les hommes.«173 Um dem eigenen Leben und dem ihrer Kinder »un peu de blancheur«174 zu verleihen – Fanon nennt dies die »lactification« oder »blanchir la race«175 – griffen viele Frauen zu der Strategie der äußeren Unterwerfung. Pépin analysiert diese Strategie treffend: »Par son corps, la femme avait accès au maître, et pouvait espérer le piéger. Nous pouvons donc dire que, dès le départ, la femme pouvait avoir conscience de son corps comme unique possibilité de salut dans un système où la négation de l’être humain était la règle constitutive.«176

168 Pineau/Belugue: 1998/1999, 90. 169 Pineau/Makward: 2003, 1205. Auch Richard Burton kommt zu dem Schluss: »il y a au sein de la culture créole, un clivage fondamental qui n’est pas de race, et encore moins de classe, mais surtout de sexe« (Burton: 1997, 223). 170 Pineau/Makward: 2003, 1206. 171 Sempaire, zit. nach Pépin: 1987, 184. 172 Vgl. Judith Lewis Herman, zit. nach: Kopf: 2005, 52. 173 Pineau/Anglade: 2003. 174 Fanon: 1971, 34. 175 Ebd., 38. 176 Pépin: 1987, 185.

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Gisèle Pineau ist in besonderer Weise – durch ihre jahrelange Arbeit als Krankenschwester in der Psychiatrie – mit den Nachwirkungen von Deportation, Versklavung und Armut konfrontiert: »Les griffures de l’esclavage, la morsure des fers, les flagellations et les sévices de l’asservissement dans les champs de cannes ne sont jamais loin, à peine étouffés.«177 Im Vergleich zu afrikanischen Gegenwartsautorinnen ist jedenfalls auffällig, so Cazenave, dass bei vielen antillanischen Autorinnen Sexualität mehrheitlich mit Gewalt und Leid in Verbindung steht: »[…] quel que soit l’espace dans lequel évolue la protagoniste […] son malaise intérieur reste incommensurable, marqué dans son errance par l’impossibilité d’aimer et de goûter une sexualité heureuse. […] Le mal-être renvoie à un malaise ontologique et au traumatisme premier de l’amour nié, y compris du sein maternel, la mère rejetant l’enfant, parce que fruit d’un viol, d’un acte contre nature ou d’un inceste. La violence associée à la sexualité – abus sexuels et incestueux – renvoie métaphoriquement au viol premier de la femme antillaise.«178

In Anlehnung an Hannah Arendt (2006) lässt sich hier ein Gewaltbegriff zugrunde legen, der Gewalt als Ersatz von Macht versteht. Wir »[…] sollten wissen, daß jeder Machtverlust der Gewalt Tor und Tür öffnet, und sei es nur, weil Machthaber, die fühlen, daß die Macht ihren Händen entgleitet, der Versuchung, sie durch Gewalt zu ersetzen, nur sehr selten in der Geschichte haben widerstehen können.«179 Gewalt ist demnach der Versuch von Machterhalt. Für die vorliegende Untersuchung ist dieses Verständnis von Gewalt besonders hilfreich, da es die hier diskutierten, sehr heterogenen Gewaltphänomene wie Kolonisation, Krieg, Vergewaltigung oder Kindsmord auf einen Nenner bringt. Gewalt ist bei Arendt ein Instrument, das Macht ersetzt und die Macht damit zugleich sichert. Macht und Gewalt sind also grundsätzlich verschieden, denn Gewalt erzeugt in erster Linie Gehorsam und keine Macht: »Macht und Gewalt sind Gegensätze: wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden. Gewalt tritt auf den Plan, wo Macht in Gefahr ist; überläßt man sie den ihr selbst innewohnenden Gesetzen, so ist das Endziel, ihr Ziel und Ende, das Verschwinden von Macht.«180 In diesem Sinne haben weder die Kindsmörderin, noch der Vergewaltiger, noch der Kolonialist Macht über ihre Opfer, denn die Gewalt hat die Macht ersetzt. Ausgelöst wird der Machtverlust durch Gewalt, konkret durch den Fremdbesitz des Raums, die politische und ökonomische Abhängigkeit, die Fremdbestimmung der Geschichte, die Beeinträchtigung des kulturellen Schaffens und das Sprachenproblem, also die Exteriorität der französischen Sprache, bei gleichzeitigem Versiegen der kreolischen Stimme. Versteht man Sprache und literarische Tradition als Machtinstrumente, mit denen im Zuge der Kolonisation Konzepte von Wahrheit, Ordnung und Realität etabliert wurden, so ist es die Aufgabe postkolonialer Autor/innen wie Gisèle Pineau, das Französische als privilegierte Sprache in Frage zu stellen und es für neue Funktionen umzugestalten.

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Pineau: 1995b, 295. Cazenave: 2003b, 63. Arendt: 2006, 86. Ebd., 57.

490 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN

Pineau zeigt aber vor allem die weiblichen Opfer der Gewalt und deren Aufbrechen der Sprachlosigkeit, welche von der Gewalt ausgelöst wurde. Somit sind Pineaus Texte immer auch eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie über Gewalt erzählt werden kann. Sie löst dieses Problem über die Strategie, die gleiche Szene immer wieder aus einer anderen Perspektive zu erzählen, dabei stets die Perspektive der Opfer wahrend. In ihren Texten steht nicht die Tat, sondern der Erinnerungsprozess daran im Vordergrund. Vorrangiges Ziel ihres bisherigen Romanwerkes ist es, Frauen über einen Erinnerungs- und Heilungsprozess zu Subjekten der eigenen Geschichte werden zu lassen. Erinnerung und Heilung gehören bei Pineau eng zusammen. Ebenso sind Gewalt und Sprachlosigkeit miteinander verwoben. Die Erschaffung einer neuen Weiblichkeit hängt mit dem Durchbrechen des Schweigens, der Enthüllung von Familiengeheimnissen und mit dem Zurückverfolgen der Familiengeschichte über die weibliche Linie zusammen. Gewalterfahrung hat Célestina, Éliette und Angela die Stimme und teilweise das Gedächtnis geraubt. Pineaus Romanwerk kreist fortwährend um eine Leerstelle, oder wie Chevrier es formuliert »se construit autour de la figure du manque, de l’absence et de l’inaccompli«181. Dieser Mutismus führt zum Verzicht auf das Dasein in der Gegenwart. Es ist der Körper, der sich noch erinnert, in ihn sind die Ereignisse unleugbar eingeschrieben: Célestina stottert, Éliette ist sprachlos und unfruchtbar, Glawdys ist ›grau‹ und abgestumpft, Angela verliert ihr Kinderlachen, Mina ›verbrennt‹ innerlich und wirkt mit ihren zwanghaften unzähligen Sexualkontakten von ihrem Körper fremdbestimmt, Olga bleibt unfreiwillig kinderlos. Traumatische Erinnerungen widersetzen sich in der Regel einer Integration in Sprache und Erzählung und verweisen an die »Grenzen des Erzählbaren« und »[führen] uns den Widerstand vor, den das Geschehen narrativer Repräsentation entgegensetzt«182 . Traumatische Erfahrungen sind außerordentlich, weil sie sich nicht in vertraute Ordnungen integrieren lassen. Aber die Traumatheorie geht von der »Gegenwart eines Leidens aus, in dem der ursprüngliche Schmerz sich verändert hat und in Fragmenten, Symptomen, somatischen Erkrankungen fortbesteht«183. Der Körper erinnert und vermittelt den Schmerz über spezifische Widerstände und Symptomatiken, die erst abgelegt werden können, wenn die Frauen sich ihre Geschichte über Sprache und Beziehung wieder zu Eigen gemacht haben. Beide Bereiche sind gleichwertig, denn »[m]assive Gewalt sprengt nicht nur den Bezugsrahmen Sprache: Sie sprengt die Beziehung zur/zum Anderen und zu sich selbst, innerhalb derer dieser Bezugsrahmen Sinn macht. Eine heilende Erzählung kann nur innerhalb einer heilenden Beziehung entstehen.«184 Pineaus Schreiben lässt sich als Prozess der (Rück-) Aneignung verlorener Macht und als Integration traumatischer Erfahrungen ins individuelle sowie kollektive Gedächtnis beschreiben. Pineaus Frauenfiguren zeichnen sich durch ihren Wunsch aus

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Chevrier: 2003, 125. Kopf: 2005, 201. Ebd., 41, Herv. i.O. Ebd., 42f, Herv. i.O.

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»[…] de se libérer de l’enfermement mental dans lequel elles se trouvent. […] Aidées dans leur travail d’anamnèse par d’autres femmes, elles découvrent les événements marquants de leur enfance, elles remontent à la source des secrets de famille: toutes ces choses qu’elles portent en elle, sans les identifier, et qui, longtemps, ont empoisonné leur existence.«185

Die Ermunterung, überhaupt zu sprechen, geht dabei meist von einer anderen Frau aus. Aus dieser tiefen Verbundenheit schöpfen alle Beteiligten die Kraft, die es ihnen ermöglicht, Gewalterfahrung zu überleben und an den Katastrophen ihres Lebens nicht zu scheitern. Erst wenn das jeweilige Trauma der Vergangenheit aufgearbeitet und in die Lebenserzählung integriert worden ist, wenn also die Diskontinuitätserfahrung in narrative Kontinuität überführt ist, werden positive Identifikationen möglich, die auf zukünftiges Handeln zielen.186 Dieser kommunikative Prozess, in dem aktives, emphatisches Zuhören und Bezeugen – was nicht nur von den Protagonistinnen, sondern zugleich von den Rezipient/innen der Romane geleistet werden muss – von ebenso großem Gewicht sind wie das Erzählen selbst, wird von Pineau literarisch umgesetzt. Das Konzept, Frauen durch andere Frauen zum Sprechen zu ermutigen, damit sie sich ihre Geschichte aneignen können, wird bei ihr zum Programm. Es entsteht gewissermaßen ein transgenerationales Zwiegespräch unter Frauen. In Anlehnung an Minh-ha T. Trinh könnte man dies als konstruktiven Mother’s talk bezeichnen. Mother’s talk ermutige andere, sich auszudrücken und tradiere Geschichte, wobei dies eben nicht formelhaft, in diktierter Weise, erfolgen darf: »Mother always remembers. And what she remembers, she never forgets to weave with what her mother, her grandmother, her great-grandmother remembered.«187 Diese Sprache aber lässt sich nicht klar fassen, denn sie bewegt sich in keinem klaren System: »Mother’s talk is exasperating, nonsensical, at the same time as it is perilously clairvoyant and caringly farsighted.«188 Und weiter: »[…] Mother’s talk does not let itself be caught, for kindness belongs to no system; it stands at the limit of the tale’s moral. As she speaks, she crosses limits, she remembers the texture of memory and if she loses, she loses without losing. The loss of brain, for some, is the healing of an open wound, for others.«189 Nach Jacqueline de Weever wird in Black Women’s Fiction über eine Verbindung mit der Mutter zugleich eine Verbindung mit der von Sklaverei geprägten Vergangenheit hergestellt: »The identification between mother and daughter can illustrate the identification between a people and its past. The metaphor of motherhood makes this identification concrete and suggests that this relationship between a people and its past [...] bears within the possibilities of healing. […] The need for foremothers, for connections with a myth in which the female is

185 Simasotchi-Brones: 2003. 186 Im psychotherapeutischen Bereich hat sich mit der narrativen Traumatherapie eine vergleichbare Richtung entwickelt, die bspw. Bürgerkriegsflüchtlingen helfen soll aus »Fragmenten echte Erinnerungen zu machen« (Gründler: 2006, 66). 187 Trinh: 1997, 27. 188 Ebd., 28. 189 Ebd., 32.

492 | III Ä STHETISCHE H YBRIDISIERUNGEN valued and can pass on her sense of value to her daughters, is a vital necessity of life and literature.«190

Weever, die zwischen »archetypes of the nurturing mother and the destroying mother«191 unterscheidet, hebt deutlich hervor, dass nur eine nährende Mutterfigur heilend wirken kann. Die Konstellation von Opfer und Täter erhält mit dem Konzept der Zeugenschaft eine Erweiterung, die mit einem Ausstieg aus dem hermetischen Zirkel der Gewalt einhergehen kann. Damit ist einerseits das Bezeugen von Gewalt durch das Opfer gemeint, andererseits zielt es aber auch auf das nachträgliche emphatische und aktive Zuhören durch eine(n) Andere(n). Zeugenschaft wird nicht mehr im Widerspruch zu Fiktionalisierung begriffen, im Gegenteil: Imagination wird ein notwendiger und unerlässlicher Bestandteil einer Zeugenschaft.192 Entgegen Spivaks These: »If, in the context of colonial production, the subaltern has no history and cannot speak, the subaltern as female is even more deeply in shadow«193 treten Gisèle Pineaus Protagonistinnen aus dem Schatten heraus und verschaffen sich über das Schreiben nicht nur eine Stimme, sondern auch Gehör. Denn, wie auch Spivak betont, »Sprechen und Hören machen den Sprechakt erst vollständig«194 . Pineau kommt in ihrer Literatur dieser kommunikativen Transaktion überzeugend nach. Ihre Protagonistinnen werden durch Zeugenschaft zu Subjekten der eigenen Geschichte. Pineau reiht sich damit in eine Tradition der Femmes rebelles ein wie Alice Walker, Toni Morrison, Calixte Beyala, Mariama Bâ, Véronique Tadjo, Simone Schwarz-Bart oder Maryse Condé, und zugleich webt sie mit an dem sich erweiternden Geflecht ›schwarzer‹ Diaspora-Literatur und einem neuartigen Verständnis einer littérature-monde.

190 Weever: 1991, 161. Weever bezieht sich hier insbesondere auf die Beziehung zwischen Sethe und Beloved in Toni Morrisons Roman Beloved. 191 Ebd., 133. 192 Vgl. Kopf: 2005, 64-67. 193 Spivak: 1988, 287. 194 Spivak//Landry/Maclean: 2008, 127.

IV Resümee: Chaos-monde – vom Chaos zur Welt

1 Ausuferndes Erzählen und barockes Netz »Je reste convaincu – et c’est mon utopie – que si la littérature ne donne pas à manger à personne, elle permet d’apprendre à planter un champ de blé. Le pain viendra après. Malgré le reproche que l’on me fait d’un certain hermétisme, je reste convaincu qu’un texte littéraire est une petite étincelle qui permet de retrouver l’Autre, pas forcément le voisin, mais un autre quelconque sur la surface de la terre.« FRANKÉTIENNE IN EINEM INTERVIEW, 1998

1.1 V ON S PUREN

UND

N ARBEN

Le chaos devient monde kann man abschließend in Bezug auf das einleitende Kapitel formulieren und damit einen Rück- und Ausblick zum Wirken der karibischen Gegenwartsliteratur geben. Was die verschiedenen Romane zusammenhält, sind – neben dem Zeitraum der Entstehung und dem thematischen Bezug auf die Antillen – rekurrierende ästhetische Geschichts-, Kultur- und Identitätskonzepte. Den Ausgangspunkt der Arbeit bildete die Beobachtung, dass alle Romane in unterschiedlicher Intensität von der Schwierigkeit zeugen, ihre traumatischen Erfahrungen von Deportation, Sklaverei, Enteignung, Krieg und Gewalt in eine symbolische Ordnung und Genealogie zu reihen, von der sie mit ihrer ›Geschichte der Verlierer‹ und ihrer ›Antigenealogie‹ zunächst ausgeschlossen sind. Diese Verlusterfahrung wird häufig, so Simasotchi-Bronès, kompensiert über eine spezifische »humanité romanesque«, die mit grundsätzlichen narratologischen und poetologischen Infragestellungen verknüpft ist: »L’écriture romanesque prend en charge de promouvoir cette nouvelle forme de fondation qui passe par l’intégration du chaos premier. Se livrant à une vaste entreprise de symbolisation, c’est sous la forme mythique que le roman propose à sa communauté de concevoir la ›blessure symbolique‹ de l’esclavage. […] l’humanité romanesque développe des stratégies pour pallier le chaos douloureux de l’origine. Parmi elles, la filiation intentionnelle, et l’acceptation de

496 | IV R ESÜMEE : C HAOS - MONDE – VOM C HAOS ZUR W ELT l’incertitude qui, conçue comme une réelle richesse, libère de l’obsession de l’origine et de la race unique.«1

Die in den Romanen auftauchenden, unendlich vielen Fluchtlinien und Deterritorialisierungen demonstrieren die performative Kompetenz und die starke Beziehungsfähigkeit (Relation) einer fraktalen Kultur. Literatur fungiert hier als zentrales Medium der Bewahrung und Wiederherstellung von Kommunikation und Erinnerung. Die Autoren und Autorinnen setzen der von Glissant in Le Discours antillais diagnostizierten »société morbide«2 poetisches Potential und neue, postkoloniale Ausdruckstechniken im Zeichen von Kulturverflechtungen und mannigfaltigen Beziehungsmöglichkeiten entgegen. Häufig wird die antillanische Gesellschaft mit einem Identifikationsmanko bzw. einer Identitätszersplitterung konfrontiert, das zu kompensieren die Literatur sich zur Aufgabe macht. Das koloniale Trauma der Sklaverei und der Abgrund der Traite des nègres, eben die »Narben in der Erzählung«3 werden mittels einer spezifischen literarischen Ästhetik markiert und mitgedacht. Literatur fungiert hier als kulturelles Gedächtnis, in dem sich die Brüche, Leerstellen und Spuren der Vergangenheit einschreiben.4 Das Trauma der Entwurzelung, Deportation, Dehumanisierung und Kolonisierung mündet nicht in ein vermeintlich unschuldiges Spiel der Verweisungen. Derridas radikalen Gedanken, es gäbe kein Text-Äußeres (»Il n’y a pas de hors-texte«5) und keine Referentialität greift für postkoloniale Literaturen zu kurz. Gerade in den frankokaribischen Romanen kommt es zu keiner »Auflösung der Subjektivität im Textexperiment«6. Obgleich dieser Befund weit eingeschränkter für die Hispanokaribik gilt, die eher den postmodernen Zerfall des Subjekts mittels ironischer Verfahren illustriert wie wir insbesondere bei Reinaldo Arenas’ Romanen gesehen haben.7 Doch sowohl für die Franko- als auch Hispanokaribik lässt sich folgern: Wir begeg-

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Simasotchi-Bronès: 2004, 324. Glissant: 1997a, 286. Broeck spricht von den »visceral signs«: 1995, 127. Vgl. auch Struves Überlegungen zu »La poét(h)ique transculturelle de la littérature beur« (2010). Derrida: 2002, 227. Zima: 2001, ix. So auch das Ergebnis von Struve zu den Beur-Literaturen (Struve: 2009, 292). Schaut man sich karibisch-amerikanische Literatur des 21. Jahrhunderts an, treffen wir wie in Junot Díaz’ Familienroman The Brief Wondrous Life of Oscar Wao (2007) auf Trashkultur und magischen Realismus des dritten Jahrtausends, eine Art »Gabriel García Márquez auf Speed« (Seiler: 2009, 58). Junot Díaz, 1968 geboren in der Dominikanischen Republik, wanderte 1974 mit seiner Familie nach New Jersey aus. Díaz’ preisgekrönter Roman ist einerseits durch die allgegenwärtigen Massenmedien und seine trashkulturelle Immigrantensprache extrem gegenwartsbezogen, andererseits aber werden in Rückblenden stets neue historische Vertiefungen und damit neue Deutungs- und Bedeutungsflächen hinzugefügt; seitenlange Fußnoten erteilen Nachhilfe in karibischer Geschichte. Die temporale und spatiale Überlagerung von Geschichte(n) findet hier exemplarisch Ausdruck. Vertiefend dazu Graziadei: 2014.

A USUFERNDES E RZÄHLEN UND BAROCKES N ETZ

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nen hier einer anderen Dekonstruktion als jene von Derrida, denn wir haben es nicht mit einem souveränen, weißen, europäischen Subjekt zu tun. Im Unterschied zu poststrukturalistischen Ansätzen bleiben bei der postkolonialen Perspektive die kulturellen, sozialen wie historischen Entstehungsbedingungen von literarischen Werken maßgeblich berücksichtigt. So finden sich zahlreiche bereits in den Avantgarden erprobte Erzählstrategien, die über das re-writing und writing back auch in die postkolonialen Literaturen Eingang gefunden haben.8 Der haitianisch-kanadische Autor Émile Ollivier plädiert dafür, das seit den 1960er Jahren sich etablierende Postulat vom ›Tod des Subjekts‹ zu verabschieden und Raum zu schaffen für eine neue Subjektivität, die sich im Kontext von postkolonialer Geschichte erschließt: »le retour au sujet n’est pas un retour à cet ego souverain jouissant d’une sorte d’accès direct à l’absolu et à l’infini. […] il est un sujet limité […] dont la finitude constitue l’essence même et dont l’horizon s’inscrit dans l’Histoire et non dans l’Éternité. […] L’enjeu me semble en taille.«9 Ollivier schlägt einen »pacte narratif« vor, der von der Kunst des Erzählens getragen sei.10 Ein solches Literaturverständnis, das auch dem mündlichen Erzählen Raum verschafft, kollidiert mit dem Poststrukturalismus und seinem dominanten Textualismus, denn ein solcher hat die Einbindung einer so genannten Oraliture in die Konzepte von Weltliteratur eher verhindert. Regionale Wissensarchive, damit ist auch mündliches, rhythmisches, musikalisches, und anderes an den Körper gebundenes Wissen gemeint, verbinden sich in der Karibik interessanterweise mit westlich geprägten Natur- und Geisteswissenschaften (wie Chaos- und Traumaforschung, französische Philosophie/Poststrukturalismus) zu postmodernen, postkolonialen und medialen Diskursen. Die dieser Studie zugrundeliegenden travelling concepts (Barock/Neobarock, Hybridität/Kreolisierung und Trauma) bewegen sich über alle Disziplingrenzen hinweg und erzeugen eine produktive Diskursproliferation. Anhand meines Textkorpus zeigt sich eine spezifische Durchdringung von natur- und kulturwissenschaftlichen Diskursen. Severo Sarduy verbindet physikalisch-astronomisches Wissen in experimenteller Weise mit geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen. Antonio Benítez Rojo überführt Erkenntnisse aus der mathematisch fundierten Chaosforschung in den Bereich des Kulturellen. Seine Analyse von Textproduktion verweist auf andere Zeichensysteme (Ritus, Musik, Tanz etc.), in denen Gewalt und Unterdrückung gespeichert sind und so zugleich auf kreative Art sublimiert werden können. Musikologische Begriffe wie Polyrhythmus (Benítez Rojo), Kontrapunkt (Ortiz, Said) oder Interplay (Said) finden metaphorische Verwendung, um transkulturelle Phänomene zu beschreiben. Häufig bedienen sich die Autoren einer Terminologie, die von der Postmoderne ausgehend eigene Kategorien für die heutigen Verflechtungen der Weltkulturen und -literaturen aus der Perspektive der karibischen Geschichts- und Gewalterfahrung entwickelt. Glissant ersetzt augenzwinkernd die Mille Plateaux durch Mille Jungles/Mille Cyclones11 und setzt so ein philosophisches Konzept in direkte Beziehung zur Plantage; er ›erdet‹ und lokalisiert es auf diese Weise. Auch Severo Sarduy zeigt seine Vertrautheit mit post-

8 9 10 11

Vgl. Febel: 2012. Ollivier: 2000, 24. Ebd. Glissant: 2005a, 137.

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strukturalistischen Theoremen und karibischer/lateinamerikanischer Kulturtheorie, wenn er seine Literatur mit einem roman de la jungle, und sein Schreiben mit einem retour – pervers – au pays natal identifiziert. Créolisation und Chaos-monde sind neue Kulturkonzepte, die weit über ihren geographischen Raum Anwendung finden. In ihrer Anamnese bzw. Diagnose der Karibik treffen sich die verschiedenen Literaten. War Kreolisierung anfangs das Produkt von Sklaverei und Kolonialismus,12 so wurde sie schließlich subversiv umgeschrieben. Identitäre Fragmentierung und Vermischung werden aktuell zu einer Art Weltkultur, weit über die Karibik als Ort intensivierter Hybridisierung hinaus13 – wobei die Gefahr des Consuming the Caribbean in Form eines »theoretical piracy«14 nicht zu unterschätzen ist. Wir treffen ferner auf physikalische und kosmologische Parameter wie Spirale, Ellipse, Kepler’sche Gesetze, Chaos- und Quantentheorie oder biologistische Denkfiguren wie Hybridität, Kontamination oder Rhizomatik. Das Begriffsinventar naturwissenschaftlicher Forschungsrichtungen wird mittels metaphorischer Operationen in den Bereich der Geisteswissenschaft übertragen. Wissenschaft und Literatur(theorie) werden als zwei interagierende Systeme anerkannt. Man könnte von einer Versuchsanordnung sprechen, in der die karibische Textproduktion in Analogie tritt zu den mathematischen Lösungen des Problems der Berechnung nichtlinearer Systeme. Philologie trifft auf Chaosforschung, denn beide scheinen ein ähnliches Erkenntnisinteresse zu haben, eben Ordnung und Unordnung in komplexen Systemen entdecken und benennen zu können. Und beide Wissenschaften sind nicht frei von Mythologie. Die karibische Lebensrealität wird außerdem in Beziehung zur weltweiten Diaspora gesetzt. Bedeutungsvoll für die jüngeren Werke sind freilich ihre Abkehr von primär regional, ethnisch oder national begründeten Referenzmodellen und ihre internationale Orientierung in Richtung eines Tout-monde. Das lokale Konzept der Plantage wird mit dem des Black Atlantic und den damit in Verbindung stehenden Kulturräumen und Kontinenten erweitert. Die zunehmende Vernetzung der karibischen Literaturen mit dem Geschehen außerhalb des Archipels und die In-

12 Der brasilianische Soziologe und Antisemit Gilberto Freyre stellte bereits 1933 in seiner ›romantischen‹ Rassen-Theorie Casa Grande e Senzala (Herrenhaus und Sklavenhütte) die These auf, dass die Vergewaltigungspraktiken – er nennt es Promiskuität – der portugiesischen Kolonialherren gewissermaßen ein Geniestreich gewesen seien (vgl. Dewulf: 2004), da die Vermischung von schwarz und weiß maßgeblich eine neue Kultur in der Neuen Welt, eine Art ›Metarasse‹, ermöglicht habe. Freyre konzentrierte sich auf die Analyse der Haussklaverei und beschrieb euphemistisch die Rolle der Mulattinnen als ›Geliebte‹ und Kinderfrauen; die soziale und ökonomische Rolle der Plantagensklaverei ließ er außer Acht. In der »mulatologia« lag für ihn die Chance, kulturelle Differenzen zu überwinden. Machtverhältnisse und die von Asymmetrie gekennzeichnete Beziehung zwischen den Geschlechtern stellte er nicht in Frage, denn die Sklaverei wurde als notwendig im Zivilisierungsprojekt Brasiliens durch die Portugiesen angesehen. 13 Vgl. Müller/Ueckmann: 2013. 14 Sheller: 2008, 188.

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anspruchnahme einer höheren ästhetischen Relevanzebene bei der Ausgestaltung einer neuen Weltliteratur und Mondialité sind auffällig.15 Wie in der Arbeit weiterhin gezeigt wurde, unterliegen postmoderne Ambivalenzen und postkoloniale Ambitionen derselben Kritik an der Moderne aus unterschiedlicher Perspektive: Der postmoderne Diskurs dezentriert die Begriffsbildungen der Moderne von innen, eine ähnliche Kritik vollzieht sich über den postkolonialen Diskurs von außen. Postkoloniale Studien haben maßgeblich an der Erodierung von Gewissheiten über die Moderne beigetragen, denn die kolonialistische europäische Expansion wird nicht mehr nur als Ausbreitung der Moderne, sondern zunehmend auch als historische Bedingung derselben gesehen. Im kolonialen Expansionsprozess hat Europa erst ein Bewusstsein seiner selbst erlangt. Gerade Lateinamerikas »neue Kartographen«16 bemühen sich um Überwindung dichotomer Vorstellungen von rural-urban, modern-traditionell, okzidental-indigen, rational-mythisch, regionalistisch-avantgardistisch. Das Projekt der Moderne erscheint durch die Konfrontation mit außereuropäischen Überlegungen zur Moderne äußerst fragwürdig. Die Moderne wurde mit dem Modernisierungsprozess identifiziert, und dieser hat vor allem die Logik der Beherrschung von Natur und Menschen und damit eindeutig den Kolonialismus vorangetrieben. García Canclini leistet mit seiner doppelten Strategie des ›inhabit‹ (im Sinne von ›bewohnen‹ und zugleich ›aus der Gewohnheit reißen‹) eine nachhaltige Aufwertung hybrider kultureller Prozesse: Er ›bewohne‹ die westliche Moderne und er ›disseminiere‹ sie zugleich.17 Diese neue Argumentation erfordert, Modernität nicht mehr als Abfolge von ›traditionell‹ zu ›modern‹ zu denken, sondern auf einer synchronen Ebene die Hybridisierungen traditioneller und moderner Ausdrucksformen als Modernidad zu deuten. Und auf einer diachronen Ebene geht es darum, Moderne als ambivalenten Prozess mit seinen Ausblendungen und Abwertungen wahrzunehmen. Die Anerkennung multipler Logiken, einer Moderne im Plural, trägt der heutigen Komplexität von lateinamerikanischen und karibischen Gesellschaften in besonderer Weise Rechnung. »Das Zurückdrängen der diskursiven Hierarchie, die den Zentren die Bedeutungshoheit überließ, über das, was als modern und damit als Norm gilt, kann vielleicht als einer der wichtigsten Beiträge der lateinamerikanischen (Post)Moderne-Denker zur postkolonialen Kondition gelten«, resümiert Sieber.18 Die untersuchten Romane erzählen die miteinander verwobenen Geschichten der unterschiedlichen ›Lebensformen‹ der Moderne, insbesondere die Geschichten der Menschen, die an Europa als Sklaven- und Kolonialgesellschaften angeschlossen waren. Schon Walter Benjamin behauptete, dass jedes Dokument der Zivilisation auch ein Dokument der Barbarei sei. Yolaine Parisot schreibt: »De Walter Benjamin à Edouard Glissant, le tissage intertextuel transforme l’exil et la diaspora en modèles

15 Ette hält fest: »Im Horizont asymmetrischer Beziehungen auf der Ebene der Weltliteratur kommt der Dimension des migratorischen Schreibens eine fundamentale Bedeutung zu, insoweit sich ein solches Schreiben weder in National- noch schlicht in Weltliteratur verflüchtigt« (Ette: 2005c, 47). 16 Vgl. Sieber: 2005, 70f. 17 Vgl. Ebd., 117. 18 Ebd., 121.

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de ›créolisation‹ pour penser l’histoire et le monde.«19 Kolonialismus als Prozess wechselseitiger, wenngleich asymmetrischer Einflussnahme zu deuten, ermöglicht eine differenzierte Untersuchung; starre Oppositionen von Kolonisatoren/Kolonisierten bzw. Tätern/Opfern können aufgebrochen werden. So werden die Opfer auch als Überlebende gesehen. Unter den Bedingungen von Sklaverei und Kolonialismus (bereits rein physisch) zu überleben, ist eine Leistung, die agency voraussetzt und Beachtung verdient.20 Die Bezugnahme auf die koloniale Vergangenheit dient den Autoren wiederkehrend als Ansatzpunkt ihrer Reflexionen, doch unter dem Einfluss poststrukturalistischer und postkolonialer Fragestellungen hat sich der Bezugsrahmen dieser Selbstreflexion maßgeblich verändert. Edouard Glissant spricht aufgrund der fehlenden Memoria von einer kollektiven Neurose, von einer »société morbide« und der daraus resultierenden »non-productivité«21; Jean-Claude Fignolé spricht von einer »poétique de la schizophrénie«. Obgleich kulturelle Hybridität längst nicht mehr bloß als identitäre Spaltung, Verlusterfahrung und Entfremdung erlebt werden. Die pathologische Dimension, die sich bspw. in Begriffsfeldern äußert wie complexe d’infériorité (Frantz Fanon), docilidad (Antonio Pedreira, René Marqués) oder die von dépossession geprägte martinikanische Gesellschaft (Édouard Glissant), steht unverkennbar neben der künstlerischen Produktivität der karibischen Literatur. Die hier vorgestellten Autoren überwinden, ohne das Trauma zu leugnen, die Endgültigkeit dieser Perspektive. Elisabeth Arend wertet einen solch veränderten Umgang mit der Zerrissenheit als qualitativen Umschlag von der Moderne – sie stehe noch im Zeichen des Leidens – zur Postmoderne. Hier zeige sich die Auflösung der relation coloniale in die condition postcoloniale.22 Karibische Literatur bringt folglich unter Einsatz ihrer ästhetischen Möglichkeiten vernachlässigte, bislang ungehörte Stimmen ein. Sie unterläuft zudem rationale Narrative des wissenden (weißen, kolonialen) Subjekts, denn sie versteht sich als Ort der Erfahrung einer spezifischen différance. Alle traditionellen Kategorien wie Subjekt, Ort, Zeit, Ereignis unterliegen hier der Fragmentierung und Multiplizität, da eine von so weitreichenden Traumata gebrochene Geschichte eine Implosion des traditionellen Geschichtsbegriffs nach sich zieht. Die hiesigen Autoren widmen sich den Menschen, die kaum Spuren und eigene Aufzeichnungen hinterlassen haben wie Sklaven oder Marrons/Cimarrons. Die langanhaltende Verweigerung eines Zugangs zum Archiv, zur Schrift, wird in der karibischen Literatur kompensiert durch akkumuliertes Erzählen von Gegengeschichte mit dem Ziel der Geschichtswiedergewinnung und des Eingedenkens der Narben. Geschichte als Trauma wird (re)inszeniert. Gerade das Glissant’sche Textgewebe akkumuliert auf allen Ebenen, um so der historisch erlebten Enteignung durch eine netzartige Anhäufung von Geschichten und Stimmen entgegenzuwirken. Glissant schafft sich auf diese Weise ein eigenes Zentrum und öffnet sich von dieser imaginären Verwurzelung weiter auf die Welt. Die

19 Parisot: 2007, 221. 20 Vgl. Sheller: 2008, 7. 21 Glissant: 1997a, 285f. Benítez Rojo hingegen hebt insbesondere die hohe Produktivität der Plantage hervor, die mittlerweile auf kulturellem Gebiet Anwendung findet. 22 Vgl. Arend: 1998, 148.

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Abarbeitung an der kolonialen und von Sklaverei geprägten Vorgeschichte ist nötig, um der vermeintlichen Non-histoire, sprich der Auslöschung des kollektiven Gedächtnisses in der Karibik eine kulturelle Selbstreflexion entgegenzusetzen. Historisches Bewusstsein steht für Glissant in unmittelbarer Verbindung mit politischer, zukunftsorientierter Handlungsfähigkeit.23 Ziel ist es, ein kollektives Gedächtnis des Unrechts und Widerstands zu gewinnen. In einem Cross-Reading von radikal entgegengesetzten Teilen der Karibik, wie die Literatur Haitis und die der französischen Überseegebiete Martinique und Guadeloupe oder wie jene Kubas und Puerto Ricos zeigen sich unterschiedliche Dimensionen von Transkulturalität. Eines meiner Hauptziele war es, den Konnex zwischen hispano- und frankokaribischer Postplantagen-Literatur genauer zu beleuchten, um eine alternative, transatlantische Literaturgeschichte zu erarbeiten, die über nationale Literaturgeschichten und eine allzu optimistische multikulturelle Supplementierung weit hinaus geht. Es geht um transculturación in Gesellschaften, deren Ursprung mit der Plantagenwirtschaft zusammenfällt und um die Einschreibung karibischer Kultur(theorie) in die Globalisierungsgeschichte mit dem Ziel diese postkolonial umzuschreiben. Eine der zentralen Fragen ist im Anschluss an Mimi Sheller: »How was Europe transformed by its traffic with the Caribbean?«24 Denn auch der Westen ist postkolonial und ›hybrid‹; dabei sei an Halls Gedanken erinnert, der sagt, der Westen sei »ein historisches und kein geographisches Konstrukt«25. Karibische Literatur füllt ein Vakuum an Identitäts- und Geschichtsbewusstsein, das der koloniale Prozess hinterlassen hat. Sie ist eine Art Avantgarde, insofern sie neue Erfahrungswelten erschließt und verdrängte Geschichte wie Deportation und Sklaverei überhaupt erst zum Gegenstand historischer Reflexion macht. Das häufig erzählende Kollektiv entwirft reflexions- und handlungsfähige Subjekte mit einer eigenen Geschichte, wobei Geschichte als fragmentierte und traumatisch erlebte Geschichte und nicht als geschlossene Genealogie daherkommt. Diese autoreferentielle Ästhetik signalisiert ein Geschichtsverständnis, das nicht auf eine referentielle Darstellung und abschließende Interpretation des Vergangenen, sondern auf dessen permanente Vergegenwärtigung abzielt. So geht es Glissant weniger um materielle, referentielle Spuren, sondern vielmehr um einen »vent de mots, venu par bouffées des cases et des champs«26. Die vielfach anzutreffende proliferierende Schreibweise zeigt sich im mehrfachen Ansetzen der Enthüllung. Was Glissant für Faulkner festhält, er habe eine eigenwillige Variante des Sprechens auf dem Grat des Unbenennbaren, trifft auch auf ihn selbst und andere karibische Autoren zu.27

23 Zu diesem Ergebnis kommt auch Ulrike Erichsen in ihrer Studie über die anglophone Karibik Geschichtsverarbeitung und kulturelle Selbstreflexion (2001). 24 Sheller: 2008, 5. 25 Hall: 1994, 138. 26 Glissant: 1981, 114. 27 Vgl. Glissant: 1997j, 123. Wobei gerade Glissant konsequent von der Perspektive der Sklavenhütte und nicht von jener des Herrenhauses aus erzählt. Bei Faulkner gibt es zudem keine Figur wie den Marron.

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1.2 P OSTKOLONIALE S TRATEGIEN DER E RINNERUNG : K REOLISIERUNG UND N EOBAROCK Die Autoren variieren freilich in ihren Bewältigungsstrategien der historischen, transgenerationell weitergetragenen Traumata. Auf der einen Seite steht Glissant mit seiner postnégritude-Philosophie, sprich seinem positiv konnotierten universellen Kreolisierungsmodell (aber auch mit dem verratenen Verräter Odono am ›Anfang‹) – welches ich als fortschrittliches, emanzipatives Kulturkonzept lese. Und auf der anderen Seite stehen neobarocke Konzepte, die stärker die Absurdität menschlichen Handels und eine grundsätzliche Desillusionierung illustrieren. Damit einhergehende karnevaleske Bedeutungsverschiebungen stellen den Un-Sinn der Geschichte sowie die Unfassbarkeit und Unbestimmtheit der ›Geschichte von unten‹ dar. Ironie, Humor, Übertreibung und Karnevalisierung sind gerade in den hispanokaribischen Romanen zentrale stilistische Merkmale, die dazu dienen, sich von kränkenden Erfahrungen zu distanzieren. Das Burleske und Parodistische sind aber nicht nur postmoderne Strategien der Destabilisierung des herrschenden Diskurses, sondern greifen auch auf ganz eigene hispanische Literaturtraditionen zurück, von Cervantes bis Borges lassen sich zahlreiche Beispiele aufführen. Die Absurdität im neobarocken Diskurs äußert sich durch einen maßlosen réalisme merveilleux, eine massive Verneinung progressiver Fortschrittsgeschichte und eine grundsätzliche Infragestellung humanistischer Tendenzen in der Geschichte. Der katastrophisch-negativistische Gestus steht konträr zum humanistischen Glissant’schen Kreolisierungskonzept. Verknüpfen lassen sich neobarocke und kreolisierte Schreibweisen mit Blick auf ihre gemeinsame Infragestellung eines Kulturbegriffs, der nicht auf der Vorstellung einer geschlossenen Einheit und einer linearen Geschichte beruht. Die karibischen Kulturen und Literaturen sind barock im Sinne eines »contact proliférant des ›natures‹ diversifiées« wie Glissant sagt und er resümiert, »qu’il y a une ›naturalisation‹ du baroque, non plus seulement comme art et style, mais comme manière de vivre l’unitédiversité du monde«.28 Doch kann man die Literatur der Karibik auf Neobarock im Sinne von »Ausufern«, »Wuchern« und »déparler« begrenzen? Gerade die Werke von Glissant zeigen immer auch die ›klassische‹ Komponente. So wahrt die Identitätssuche häufig einen Wirklichkeitsbezug und knüpft an das klassisch-schriftliteratursprachliche Erbe der Gattungstraditionen auf der ästhetischen Ebene an. In den Werken zeigt sich, dass die barocke Antithese die klassische These durchaus impliziert.29 Es hat sich hingegen gezeigt, dass Kreolisierung für die beiden behandelten hispanokaribischen Autoren (Arenas und Rodríguez Juliá) kaum eine Rolle spielt. Insgesamt gewinnt man den Eindruck, dass sich der Kreolisierungsbegriff in der spanischsprachigen Karibik bisher nicht durchsetzen konnte, obgleich auch diese aus einer Post-Sklavenhaltergesellschaft hervorgegangen ist. Eine übertrieben optimistische Vision eines kreolisierten (weltweiten) Kulturmodells wird in der Hispanokaribik häufig gebrochen durch »Poetiken der Kontamination« wie wir sie explizit bei

28 Glissant: 1990, 93f. 29 Ich danke Ralph Ludwig und Gisela Febel für die zahlreichen Gespräche zu diesem Themenkomplex, der an anderer Stelle vertieft werden soll.

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Edgardo Rodríguez Juliá finden: »[A]ls […] desublimiertes textuelles Gestaltungsmittel verliert die Kontamination etwas von der Sympathie, die sie erregt, wenn sie homogenisierende Diskurse destabilisiert.«30 Diese basurización, wie Isabel Exner im Anschluss an Rocío Silva Santisteban sie nennt, verweist m.E. nicht nur auf »quasi-naturalistische Registrierung realer und aktueller Mißstände«31, sondern auch auf die mit der hegemonialen Geschichte einhergegangene ›Vermüllung‹ der Relation, auf bestehende Exklusionspraktiken und damit auf »das schmutzige ›andere‹ der Gesellschaft«32, das nicht einfach in einer (verkürzt verstandenen) Kreolisierung aufgeht: »Was die Kritik despojo genannt hat – das Vernachlässigte, vermeintlich Störende, Unreine – untergräbt prozessual die homogenisierenden Erzählungen von Gesellschaft und Nation und macht neue symbolische Topographien der Kultur notwendig.«33 Vergleichbar spricht Lyonel Trouillot mit Blick auf Haiti der 1990er Jahre von einer »esthétique du délabrement«34, von einer Entwicklung des Zerfalls, der Subjekt- und Referenzlosigkeit. Die damit zusammenhängende Distanznahme vieler haitianischer Autoren gegenüber Konzepten wie Créolité/Créolisation hängt selbstverständlich auch mit der spezifischen haitianischen Geschichte zusammen, erste Schwarze Republik gewesen zu sein, eine in Lebenspraxis umgesetzte Négritude avant la lettre. Bei der heterogenen Geschichte des karibischen Raumes ist es generell fraglich, ob man ein pankaribisches Konzept finden kann, das für alle Inseln (einschließlich ihrer Diaspora) gilt und ob das das Ziel meiner Untersuchung sein kann. Vielmehr gilt es, die diagnostizierte Komplexität der Geschichte und Gegenwart auf jeder Ebene auszuhalten. Für die beiden hispanokaribischen Autoren Arenas und Rodríguez Juliá lässt sich zweierlei resümieren: Zum einen gehört die reescritura eines etablierten literarischen Modells zu ihrer favorisierten Ausdrucksform. Zum anderen handelt es sich nicht zufällig bei den von ihnen gewählten Hypotexten um religiöse Schriften. Edgardo Rodríguez Juliá entwirft mit seiner Crónica de Nueva Venecia einen apokryphen Bibeltext. Reinaldo Arenas bedient sich in El mundo alucinante der Memoiren eines Mönchs als Palimpsest. Diese religiösen Referenzen verdeutlichen die Eigenwilligkeit einer modernidad hispanoamericana, die eng mit esoterischen und eschatologischen Dimensionen verknüpft ist und eine mit Gott einhergehende Ilustración darstellt. Daher thematisieren beide Autoren Kirchenväter, sei es der Fray Servando bei Arenas oder der Obispo Trespalacios bei Rodríguez Juliá. Ihre neobarocke Schreibweise vernetzt und gestaltet das croisement multipler Geschichtsepochen und Geschichten. Der Neobarock ist kein Imitat des europäischen Barock, sondern eine eigene Verarbeitung des kolonial Herangetragenen, was sich auf unvorhersehbare

30 Exner: 2012, 188. Gerade mit Blick auf Krankheiten ruft »Kontamination« nichts Optimistisches hervor, auch wenn es die Widerstandskraft stärke, wie die Einleitung zum gleichnamigen Band betont: »Les contaminations de toutes sortes, par des virus, des parasites ou des bactéries, favorisées par la densité des peuplements, ont cependant le résultat contradictoire qu’elles renforcent les populations concernées.« (Albizu/Birrer/Burkhardt: 2012). 31 Exner: 2012, 188. 32 Ebd., 190. 33 Ebd., 185. 34 Trouillot: 1998, 22.

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Weise durch zunehmende Relativierung europäischer Leitbilder bzw. deren Transformation oder Überformung mit dem bereits Vorhandenen vermischt hat. Barock wird in Lateinamerika als Ausdruck einer ›Mestizisierung‹ der Kultur aufgefasst. Im Unterschied zum europäischen Barock definiert sich das amerikanische Barock grundsätzlich als transkulturelle Synthese. In den Texten werden neue Verweisungszusammenhänge, neue Bezüge auch jenseits von Europa hergestellt: Reinaldo Arenas beruft sich in El mundo alucinante auf autobiographische und historische Texte des mexikanischen Mönchs Fray Servando Teresa de Mier (1763-1827) und in La loma del ángel auf den Klassiker der kubanischen Literatur des 19. Jahrhunderts (Cecilia Valdés). Edgardo Rodríguez Juliá arbeitet mit spanischen Chroniken des 18. Jahrhunderts, die als Palimpsest seinem eigenen Romanzyklus unterliegen. Doch statt auf eine chronologische Anordnung treffen wir bei der Crónica de Nueva Venecia auf multiple intertextuelle Bezüge. Diese ständig ›überhitzte‹ Verweisungsstruktur referiert auf die Teilhabe an Diskursen und verfolgt das Ziel, Gegengeschichte sichtbar zu machen. Eine solche Weltliteratur schreibt die historische Expansion europäischen Wissens in konterhegemonialer Weise zurück. Die Allegorisierung puertoricanischer Geschichte in Form von Heterotopien wie Nueva Venecia als Sinnbild des Sklavenwiderstands verläuft über die ironische und distanzierte Rhetorik der Chronisten. Die polyphone Erzählperspektive vermittelt eine fundamentale Ambiguität. Die Fragmentierung von Ort, Zeit und Handlung nimmt chaotisch anmutende Dimensionen an. Kreolisierung und Neobarock markieren beide eine kulturelle ›Neurose‹ bzw. eine historische Wunde und ein widerständiges Welterklärungsmodell. Oder wie Lezama Lima sagt, wir treffen hier auf eine »kreative Pathologie«. Das literarische Schaffen der karibischen Autorinnen und Autoren schreibt sich in einen pathologischen und poetologischen Diskurs ein. So können Traumata und machtbesetzte Marginalisierungen der Geschichte als Spuren oder Narben in den aktuellen Diskurs in Form einer postkolonialen Kritik am historischen Erbe einbezogen werden. Diese Literatur dient somit als »interaktives Speichermedium von Lebenswissen«35 und vermag zugleich neue Lebensmodelle basierend auf kultureller und sexueller Differenz zu antizipieren und prospektiv zu gestalten. Sie fungiert im Sinne von Ottmar Ette einerseits als »Überlebenswissen« und andererseits als »Zusammenlebenswissen«.36

1.3 I N

DER

S CHWEBE –

ZWISCHEN I NSEL UND

T OUT - MONDE

Die literarästhetische Untersuchung der verschiedenen Romane basierte auf zwei Reflexionsachsen, changierend zwischen einer nachträglichen, fiktiven identitären Verankerung und einer auf eine Tout-Monde ausgerichtete Kreolisierung, in der das kol-

35 Ette: 2007, 24. 36 Ebd., 18 und 26. So zielten, laut Ette, schon Balzacs oder Zolas Romanprojekte auf eine »Simulation von Leben im Laborbereich der Literatur« (ebd., 20), die zu einer konkreten Veränderung der Lebenspraxis dienen sollten. Selbst Aristoteles’ Katharsis-Begriff verweise auf das durch Literatur in Szene gesetzte (Über-)Lebenswissen.

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lektive Subjekt zunehmend in die Sphäre der Erinnerung und Geschichte eintritt. Daran schloss sich die zentrale Frage an, wie unter den Bedingungen der Diaspora die Kontinuität der eigenen Geschichte, wie Identitäts- und Subjektkonstitution in der Zukunft gesichert werden kann. Wir treffen auf den Versuch verlorengegangene bzw. unterdrückte afro-karibische Kultur zu archivieren – »en s’appuyant sur des traces souvent fugaces, comme la tradition orale, les rituels et la mémoire inscrite dans des paysages et des lieux«37. Diese Rekonstruktionsarbeit verbindet sich mit dem Postulat einer kreolisierten und zugleich auf Differenz und Opazität respektierenden Welt. Die Wurzel-Identität weicht der Rhizom-Identität. Globalisierung wäre dann weniger als Verwestlichung und vielmehr als Vernetzungschaos gegenwärtiger Entwicklungen zu betrachten. Bleibt man in der Glissant’schen Terminologie, lassen sich einerseits Zersetzungstendenzen der atavistischen Kulturen durch den Kontakt mit kompositen Kulturen erkennen und andererseits Wiederaneignungstendenzen bei den kompositen Kulturen durch die ›Mythen‹ atavistischer Kulturen; wenngleich die Entfremdung des kolonisierten Subjekts nicht durch nachträgliche Verwurzelung im Sinne atavistischer Kulturen ›kuriert‹ werden kann: »[…] les cultures ataviques, même dans leur lieu d’origine, en Europe par exemple, tendent à se décomposer, à devenir composites, et à emprunter aux cultures composites les plus spectaculaires de leurs moyens et de leurs composantes. Mais, par un mouvement inverse, les cultures composites tendent à une sorte de nostalgie de la réalité atavique, c’est-à-dire qu’elles tendent à revendiquer une légitimation de leurs données d’existence.«38

Die Konstruktion von Identität über Poetik ist das Paradigma, mit dem gerade die frankokaribische Literatur spätestens ab den 1930er Jahren mit Césaires Cahier d’un retour au pays natal eingesetzt hat, und das die Négritude, Antillanité, Créolité und Créolisation geprägt hat. Gerade die frankokaribischen Romane situieren sich zwischen identitärer Créolité und dezentrierender Créolisation. Die Protagonisten bewegen sich permanent am Rande des Abgrunds und schwanken zwischen einer nach Originärem suchenden und einer ausufernden Identität. In den ausgewählten Texten gibt es neben der Dezentrierung immer auch eine Sehnsucht nach einer stabilen Iden-

37 Lüsebrink: 2000, 227. Bei der Einbeziehung oraler Erzähltraditionen geht es um die im weitesten Sinne medientheoretische Fragestellung von Oralität und Literalität. Die mediale Differenz zwischen verschiedenen Kulturen und Sprachen, die Unterscheidung von schriftlichen und nicht-schriftlichen Völkern bildet seit dem späten 16. Jahrhundert eine der wichtigsten europäisch-kolonialen Differenz- und Hierarchiebildungen zwischen Eigenem und Fremdem. Gerade auch die lateinamerikanische Diskussion um die Frage, wie sich postkoloniale Literatur zu ihren medialen Bedingungen verhält, ist aufschlussreich. Das Ineinandergreifen der verschiedenen Medien im Konzert postkolonialer Kulturphänomene lässt sich hier auch als Überwindung des europäischen Mediums der Schrift interpretieren. Ein vergleichender Blick auf konkurrierende mediale Praktiken zur Analyse der spezifischen Position von Literatur im Kontext kolonialer Diskurse wäre interessant, aber leider im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten. Vgl. dazu Febel/Ueckmann: 2014. 38 Glissant: 1999b, 49.

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tität.39 Lüsebrink spricht von einer doppelten Bewegung, dem »repli sur soi, sur la culture locale et ses codes« und der »ouverture au monde, à travers l’intertextualité et les traces d’une histoire interculturelle et plurielle«.40 Sowohl die Négritude als auch die Antillanité, Créolité und Créolisation repräsentieren jeweils zu ihrer Zeit nicht nur einen literarischen Stil, sondern auch eine programmatische Philosophie. Jede versucht, auf ihre Weise, das Problem des Identitätsdefizits konstruktiv zu beantworten und beschreibt ihr jeweiliges literarisches Schaffen als dessen fiktionale Kompensation, eine Art narratives Empowerment. Die Négritude ermöglicht über die Projektion eines mythischen Afrikabildes eine nachträgliche Indigenisierung und Aufwertung und Würdigung des Schwarzen Subjekts. Sie versuchte noch die klassischen Erzählverfahren und Episteme auf einen neuen Gegenstand anzuwenden, sozusagen nachträglich eine afrikanische bzw. karibische Großerzählung als Eigenbeschreibung zu verfassen. Die Antillanité fügt dem Subjektbewusstsein die Beschreibung der Enteignungsmechanismen hinzu und integriert die Erfahrung von Verschleppung und Versklavung. Die Créolité weist auf das Problem der Diglossie hin und macht mit ihrem bekannten Manifest für eine Aufwertung des Kreolischen und dem Postulieren einer kreolisierten Literatur, deren Ausgangspunkt die Allgegenwart der Plantage und nicht mehr Afrika ist, einen Vorschlag zu deren Überwindung. All diese Konzepte lassen sich als stolze Selbstverortung lesen; die Antillen behaupten sich als gleichberechtigt neben den großen Kontinenten. Die Créolisation schließlich greift das Thema der weltweiten Diaspora auf, überwindet westliches ›Wurzeldenken‹ und respektiert die ›Geschichtslosigkeit am Anfang‹, den traumatischen ›Nullpunkt‹. Wir haben es also nicht bloß mit postmodernen Erzählverfahren, sondern konkret mit postkolonialen Verfahren zu tun, die ohne Abgrenzung zum Vorangegangenen auskommen müssen. Der Platz ist leer, ein retour ist unmöglich. Die Literatur der Karibik bewegt sich aktuell im Spannungsfeld zwischen Differenzierung und Uniformierung, zwischen Créolisation und Créolité, zwischen Toutmonde und Insel, zwischen einer transterritorialen und einer insularen Epistemologie. Die Nachfahren der migrants nus stehen vor dem Paradox, sich in einem Raum verorten zu müssen, der ihnen aufgezwungen wurde. Die literarische Arbeit legt Zeugnis von diesem Prozess der Wiederaneignung ab. Dazu kommt die Tatsache, dass man es in der Karibik häufig mit multiplen Herkünften jenseits herkömmlicher Dichotomien wie Herr/Knecht, Schwarz/Weiß oder Opfer/Täter zu tun hat. Die Frage nach dem Antillanischen, welche häufig eine Frage des Afrikanischen, wird in eine universelle Frage nach den Verflechtungen und Relationen einer Tout-monde situiert. Bei allen Begriffsmetaphern geht es um eine nachträgliche identitäre Verortung des postkolonialen, hybriden Subjekts. Négritude, Antillanité und Créolité versuchen das postkoloniale Subjekt noch zu lokalisieren und auf einen, wenn auch mythischen, Ursprung zurückzuführen. Insbesondere nationalistische Formeln wie Puertorriqueñidad, Cubanidad, etc. sind obsolet geworden und werden von Begriffen kultureller Pluralität ersetzt, die von der Vorstellung einer essentiellen Otredad wegführen.

39 Auch Struve kommt in ihrer Analyse der littérature beur zu diesem Ergebnis, vgl. Struve: 2009, 43. 40 Lüsebrink: 2000, 232.

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Anti-essentialistische Hybriditätsentwürfe wie die von Glissant (Créolisation) oder Canclini (Hibridación) stehen im Kontext von Delokalisierung und Globalisierung. Identitätsstiftende Angebote changieren zwischen dekonstruktivistischer Auflösung und ›mythischer‹ (Re-)Essenzialisierung. Entgrenzungsstrategien wechseln sich ab mit Rückzugsbewegungen in das Lokale; der diagnostizierte Identitätsverlust wird nicht selten durch lokale Verankerungen kompensiert.41 Innerhalb des Spannungsfeldes von Verortung und Dezentrierung lässt sich im Laufe der Jahre eine Schwerpunktverlagerung feststellen. Viele der hier behandelten Autor/innen wie Glissant, Fignolé oder Pineau dehnen den Raum, in dem ihre Romane spielen, kontinuierlich aus und vertiefen ihn zugleich. Die Autoren beginnen ihre schriftstellerische Laufbahn mit Werken aus ihrem Nahbereich (Pineau: Pariser Banlieue, Glissant: Martinique, Fignolé: Haiti) und multiplizieren dann zunehmend die Orte. Gleichzeitig treffen wir auf eine Wiederinbesitznahme der Landschaft bspw. mittels der wirtschaftlichen Nutzung des Gartens. So erscheinen Glissants weibliche Figuren Mycéa und Ida schließlich in einer gewissen Harmonie mit dem Landschaftsraum. Sie scheinen nach dem jahrhundertlangen diasporischen Umherirren endlich angekommen zu sein. Gerade bei Pineau wird dann schon mal aus dem eigenen Garten ein temporäres Paradies auf Erden. Die Bearbeitung des eigenen kreolischen Gartens, der zur vorübergehenden Verwurzelung im Leben und zu einer früchtetragenden Existenz beiträgt, stelle einen Gegenentwurf dar zur entfremdeten und menschenverachtenden Arbeit auf den Zuckerrohrfeldern.42

1.4 G ENDER

UND

G EWALT

Gerade mit Blick auf die Romane von Gisèle Pineau wird deutlich, dass symbolisches Wissen postkolonialer Diskurse häufig so analysiert wird, als seien diese genderneutral. Dabei treffen wir im Kontext alternativer, kreoler Geschichtsschreibungsentwürfe vielfach auf neue Meistererzählungen, auf Heldenkonstruktionen sowie stereotype Frauen- und Männerbilder. Das Mitdenken der Kategorie Geschlecht ist unbedingt notwendig, denn es ermöglicht eine doppelte Analyse. So können sowohl koloniale Machtbeziehungen als auch intra(post)koloniale Unterdrückungs- und Ausbeutungsverhältnisse in den Blick genommen werden. Sich zu artikulieren bedeutet für Schriftstellerinnen immer gegen zwei Herrschaftsdiskurse, gegen eine doppelte Marginalisierung anzuschreiben. In dieser Arbeit wurden die Herrschaftsbeziehungen zwischen den Geschlechtern speziell am Romanwerk von Gisèle Pineau untersucht. Indem sie die Erfahrungen von Frauen in den Vordergrund stellt, wird die doppelte Markierung des Körpers – geschlechtlich und ›rassisch‹ – von ihr hervorgehoben. In Pineaus Romanen entsteht ein anderes Geflecht als es die Éloge de la créolité verheißt, eines, das auch Opfer des Kolonialismus als Täter beschreibt und das die Verstrickungen der Kolonisierten, die Verschiebungen von Ohnmacht angesichts kolonialer Macht in Gewaltstrategien, die vornehmlich auf der Mann-Frau-Ebene und Eltern-Kind-Ebene ausgetragen werden, literarisch umsetzt. In ihrer Literatur

41 Vgl. Blümig: 2004, 17. 42 Vgl. ebd., 274.

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wird deutlich, dass die Spannung zwischen den ehemals Kolonisierten und ihren Unterdrückern bis heute auf der Gender-Ebene ausagiert wird. Die zahlreichen ›verrückten‹ Frauenfiguren bei Pineau (auch bei Glissant, Arenas und Fignolé) unterminieren den männlich geprägten Diskurs über die karibische Welt, indem sie tieferliegende Hierarchien von Macht und Ausbeutung aufzeigen. Die inkorporierte Gewalt der Pineau’schen Frauenfiguren, die sich im Kontext von weiblicher Sexualität und Körperlichkeit generiert, zeigt nicht nur das Scheitern von Liebesbeziehungen,43 sondern ermöglicht auch einen körperlichen Zugang zur eigenen, häufig traumatischen Geschichte. Von einer gendersensiblen und transkulturellen Perspektive aus wird sichtbar, dass der Körper nicht prädiskursiv erfahren, sondern von hegemonialen Interessen determiniert wird. Inhaltlich spannt sich in dieser Studie ein Bogen von tendenziell männlichen Themen wie Bruderverrat, Marronage und enteignete Vaterschaft bei Glissant, Eroberung und Widerstand bei Rodríguez Juliá, Infragestellung aufklärerischer und revolutionärer Fortschrittslogik bei Arenas und Fignolé bis bin zu Themen wie sexuelle und körperliche Gewalt gegenüber Frauen bei Pineau. Schaut man sich in einer querenden Lektüre die Objektivierung und Annullierung des weiblichen Körpers bei Glissant und Pineau an, kommt man zu augenfälligen Überschneidungen. Hierfür möchte ich abschließend zwei Textstellen exemplarisch nebeneinander stellen. Bei Glissant treffen wir in La Case du commandeur auf die namenlose Sklavin, die allen versklavten Männern ihren enteigneten Körper zur Verfügung stellt: »elle ravageait à sa manière son corps. Elle s’offrait de nuit à tous les esclaves du quartier des cases. […] Ils entraient furtifs, honteux de toucher cette allongée ouverte qui ne regardait même pas vers eux. […] C’était là un défilé de vingt ou cinquante par nuit. La femme écrasait ainsi le corps dont elle ne disposait pas. […] Elle essayait tous les hommes exerçables pour se dégager.44

Eine solche Verdinglichung des Körpers findet sich auch bei Pineaus Protagonistin Mina aus Chair piment: »Elle s’ouvrait. Se cabrait. Se laissait tourner et retourner, pénétrer… En redemandait. Voulait les sentir, durs, en elle. Qui? Des hommes de passage ramassés sur le parking de la cité, entre deux voitures, ou détournés de leur train-train dans une allée du centre commercial. Des célibataires. Des jeunes, des vieux. Des pères de famille. Des bons maris. Des Noirs, des Blancs, des

43 Das häufige Scheitern der Mann-Frau-Beziehungen bringt Simasotchi-Bronès zudem in Verbindung mit der enteigneten Vaterschaft in den Sklavenhaltergesellschaften: »La labilité du couple fonctionne comme une convention littéraire antillaise qui est corroborée par le motif de l’infériorité masculine. […] Il provient probablement d’un passif historique entre l’homme et la femme. La culpabilité de l’homme de n’avoir pu s’imposer entre le maître et la femme noire, et celle de la femme d’avoir été parfois l’instrument sexuel du Béké. […] Entre l’homme et la femme antillais, il y a le poids de l’histoire.« (Simasotchi-Bronès: 2004, 284-293) 44 Glissant: 1981, 155f.

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Arabes… Ils entraient en elle, gratis, tâtaient sa chair, goûtaient sa peau. Fallait qu’elle soit prise. Possédée. Traversée, sans paroles, par des sexes d’hommes.«45

Mina ist nur scheinbar eine selbstbestimmte Frau des 20. Jahrhunderts, ihre sexuelle Verfügbarkeit verweist auf die gewaltvolle Geschichte der Sklaverei und Kreolisierung, die maßgeblich über den Körper der Frau verlief. In Anlehnung an Glissant könnte man sagen: Maîtriser la mémoire (du corps) pour maîtriser l’histoire.46 Glissant ästhetisiert den Körper und die karibische Landschaft als Einschreibungsorte der »cicatrices ineffaçables« der gewaltvollen Geschichte: »[…] et si nous demandons quel est ce pays, aussitôt nous plongeons à l’obscur indéracinable du temps, que nous peinons à débroussailler, nous blessant aux branches, gardant sur nos jambes et nos bras des cicatrices ineffaçables.«47 Die Überlagerung von realen Naturereignissen (der Zyklon als Projektionsfläche für männliche ›Triebnatur‹ in L’Espérance-macadam) und persönlichen Traumata ist evident.48 Der weibliche Körper fungiert als Spurenträger und Einschreibungsort von traumatischen Erfahrungen, die sich dort schmerzhaft, dauerhaft, sichtbar und doch weitgehend unverfügbar eingeprägt haben. Die Entfesselung der ›Triebnatur‹ betrifft in Pineaus Romanen hauptsächlich die männlichen Figuren (z.B. Régis, Rosan oder Ti-Siklòn in L’Espérance-macadam). Von Wahnsinn, Angstzuständen, Mutismus, Kindsmord und Selbstmord sind hingegen durchgängig Frauen (Gerty in La Grande drive des esprits, Séraphine in L’Espérance-macadam, Noémie, Lila und Sybille in L’Âme prétée aux oiseaux, Mina in Chair piment) betroffen. Durch die Konzentration der Handlung auf die Toten und Abwesenden wie in L’Âme prétée aux oiseaux oder Chair piment leben diese auf unheimliche Weise die einzige Existenz aus, die ihnen zugestanden wird, nämlich in ihrer Abwesenheit auf das Anwesende zu verweisen. In diesem supplementären Dasein erhält das Abwesende eine subversive Bedeutung. Davon ausgehend, dass das Trauma sich auf der Ebene des Körpers einschreibt, lässt sich auch der literarische Text als Körper verstehen, auf dem das Unfassbare stellvertretend eingraviert ist. »Der Körper ist«, so Alfonso de Toro, »der Ort der Verdichtung von Erinnerung, Begehren, Sexualität, Macht. Die Spuren im Körper sind vielfältiger Natur und sprechen für sich, sie tragen Unterwerfung, Kolonialisierung und Dekolonialisierung in sich.«49 Der Körper fungiert als hybrides Konstrukt, er wird zum »Durchzugsort, Schnittpunkt und Ort des Aushandelns verschiedenster, z.T. widerstreitender Logiken«50. Indem man das Körpergedächtnis aktiviert, können solche Spuren freigelegt werden. Gerade Frauenfiguren illustrieren in allegorischer Form die spezifische Problematik nachkolonialer karibischer Gesellschaften. Nicht nur in Pineaus Literatur, auch in Glissants oder Fignolés Romanen oder auch in Arenas’ Neuschreibung des kubanischen Nationalmythos’ um die Mulattin Cecilia Valdés (als Sinnbild der transkultu-

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Pineau: 2002, 17. Vgl. Glissant in Chevrier 1999b, 56. Glissant: 1997f, 13. So auch Gabriele Blümigs Beobachtung (2004, 18) betreffend Maximins Romantrilogie. Toro: 2002, 49. Sieber: 2005, 202.

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rierten Gesellschaft Kubas), zeigt sich, dass die karibische Geschichte und der weibliche Körper auf sehr gewaltvolle Weise miteinander verknüpft sind und eine weibliche Allegorisierung der traumatischen Geschichte die Regel ist.

2 Narrative Herausforderungen

2.1 T RAUMA

UND

N ARRATION

Das Schreiben von Autoren wie Glissant, Rodríguez Juliá, Fignolé, Pineau oder Arenas fordert die narrative Theorie in besonderer Weise heraus, denn diese Romane können nicht in den bekannten narrativen Rastern erfasst werden. Was bedeuten Raum und Zeit, wenn die Kategorien dafür grundlegend gebrochen und unsicher sind? Der Versuch, Deportation, Sklaverei und Plantage narrativ zu erfassen, hat Konsequenzen nicht nur auf postkoloniale Inhalte, sondern erfordert neue narrative Strategien. Die von massiver Gewalt geprägte Transkulturation stellt eine beträchtliche Herausforderung an die narrative Repräsentation dar. Die Traumata der subalternen Geschichte tauchen als narrative Lücken und Risse oder in Form eines schwindelartigen Erzählens in den Romanen wieder auf. Sie stoßen dabei auf Möglichkeiten und Grenzen literarischer Sprache bei der Darstellung. Da sich das Thema der Deportation und der Versklavung herkömmlichen Erzählweisen entzieht, verlagert es sich von der rein inhaltlichen auch auf eine formalästhetische Ebene. Es gibt eine dauernde Spannung zwischen der Notwendigkeit und der Unmöglichkeit (und dem Wissen um die Nichtangemessenheit) der eigenen Darstellungsmittel. Eine solche Literatur muss in besonderem Maße ihre mimetischen und poetischen Möglichkeiten hinterfragen. Die hier ausgewählten Autor/innen zeichnen sich durch Originalität hinsichtlich der verwendeten narrativen Techniken aus, sei es Segmentierung der Erzählstruktur durch Montagetechniken, Auflösung einer einheitlichen Erzählerinstanz, wechselnde Fokalisierungen oder die Häufung von Anachronien. Die vielschichtigen Texte und ihre multiplen Erzähler/innen, das Spiel mit der Autorschaft und der Historiographie, was eine ›Authentizität‹ der Fiktion vorgibt wie bspw. bei Edgardo Rodríguez Juliá, konfrontieren die Leser unentwegt mit Fragen nach Autorschaft, Autorität und Wahrheit. Vielfach wird fragmentarisch aus der Sicht eines Kollektivs von Marginalisierten, aus subjektiver Sicht im Stil der Oral History erzählt. Die besonderen Erzählverfahren betreffen die oft instabilen, pluralen, teils ›magischen‹ Figuren und auch die Orte, die zwischen realen und imaginierten Welten changieren. Verdrängte traumatische Erinnerungen manifestieren sich bei den Figuren in ›pathologischem‹ Verhalten. Statt auf eine souveräne Rede trifft man auf eine Vielzahl von ›wahnsinnigen‹, unzuverlässigen Erzählern und Erzählerinnen. Die prekäre Erzählperspektive, die Fragmentierung der Sprache und des Erzählten, die häufige metaliterarische Reflexion, das chorale Erzählen, die hybriden und schwachen Erzählerfiguren, die

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gebrochenen, instabilen, doppelten oder pluralen Figuren, die neue Subjektpositionen (be)setzen, markieren für mich eine transkulturelle Ästhetik des Chaos. Durch die traumatischen Erfahrungen sind Vergangenheit und Gegenwart nicht einfach als Spielräume des Erzählens vorhanden, sondern müssen erst sprachlich hergestellt werden. Auf dem unsicheren Boden der Historie gilt es, aus zahllosen Fragmenten ein neues, tragfähiges Gerüst zu entwerfen. Gerade die karibische Literatur widerlegt die beharrliche Behauptung, dass sich das Trauma der Narration widersetze. Im Gegenteil, es wird in ausufernder, wuchernder, teils stotternder, atemloser Weise erzählt. Häufig haben die Romane epischen Charakter, sie umfassen nicht selten mehrhundertjährige Geschichtsabrisse. Eine solche Poétique de la démesure wirkt dem gestörten Raum- und Zeitverhältnis der Antillaner entgegen. Jeder einzelne Roman soll zu der Aufdeckung einer »trace de l’histoire« und zu der Nachverfolgung einer »tresse des histoires« beitragen, wie Chamoiseau im Interview betont.1 Doch das Vorhandene wird ununterbrochen auf seine Tragfähigkeit hin überprüft, was sich narrativ in der Konstruktion von Brüchen, dauerndem Perspektivenwechsel oder Ellipsen zeigt. Die fremdbestimmte Vergangenheit und die daraus resultierende Unsicherheit über die eigene Geschichte äußern sich in einer Ambivalenz des Erzählten. Dieses Geschichtsdefizit erzeugt einen fortwährenden Imaginationsüberschuss innerhalb der Romane. Schreiben wird zu einer Suche nach Mitteln und Formen, die sowohl Zugang zu einer unterdrückten Geschichte ermöglichen als auch die Auslöschung von Geschichte integrieren. Diese Suche nach historischer Wahrheit in einem narrativen Raum zeugt von der Schwierigkeit der Erzählbarkeit vernichteten Lebens und Überlebens. Ein solcher Ansatz ist sich der Notwendigkeit eines kreativen und imaginativen Moments bei der Rekonstruktion von Geschichte und Erinnerung bewusst.2 Die Traumata der Vergangenheit werden nicht vollständig in narratives Wissen überführt, denn es bleibt fragwürdig, inwiefern traumatisierende Ereignisse in eine Bewusstseinserzählung integriert werden können und damit kulturell repräsentierbar und verfügbar sind. Die Rede vom Trauma »trägt selbst Signaturen des Traumatischen«3, insofern man unter Trauma ein Zusammenspiel von gewaltsamer Erfahrung und deren nachträglicher Unverfügbarkeit versteht. Bereits der Aufbau der Romane ist charakteristisch: In der Regel gestalten sie sich in cercles oder spirales, zumeist in analeptischer Manier. Die verwendeten Strukturtechniken zielen auf nichtlinearen Handlungsaufbau und ständigen Perspektivenwechsel ab. Ist eine Gerade der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten, der sparsamste Aufwand an Strecke und Material, so referiert die Spirale auf Umweg, Materialverschwendung und Entfunktionalisierung. Dementsprechend verweisen die literarisch verschachtelten, zyklischen, spiralförmigen, elliptischen, barocken Geschichts-, Zeit- und Raumkonstruktionen durch unentwegtes Verweben von Zeiten und Räumen auf vergangene oder aktuelle Migrationsbewegungen und übermitteln so auch die Erfahrungen der vorangegangenen Generationen.4 Die Romane sind ge-

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McCusker: 2000, 725. Vgl. Achebe: 1988. Weigel: 1999, 51. Ette spricht von »grenzüberschreitende[r] Vektorisierung« (2005c, 47): »Wir wohnen einer generellen, auch nationalliterarische Strukturen erfassenden Vektorisierung aller (Raum-)

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kennzeichnet von zirkulären Bewegungen, von Momenten der Wiederholung (Glissant) und von gespenstischen Wiedergängern (Fignolé, Pineau, Arenas). Wiederholung und Akkumulation fungieren als narrative Techniken, um Vergessenes und Verdrängtes erneut in die Sprache einzuführen, aber in Form von produktivem Chaos und Verstörung. In vielen Texten, besonders bei Glissant, dominieren Wiederholungsfiguren, in denen sich eine verausgabende, unabschließbare Anamnese literarisch manifestiert.5 Der auch als psychopathologisches Phänomen diffamierte Wiederholungszwang bekommt hier sein Recht. Viele Geschichten, vordergründig situiert in alltäglichen Situationen, handeln von der phantomatischen Präsenz des Verdrängtem, von der gespenstischen Anwesenheit der Toten im weiteren Handeln der Figuren. Der Alltag ist durchdrungen von Momenten und Manifestationen einer anderen Dimension der Wirklichkeit. Die Lücken und Geheimnisse der Geschichte drücken sich aus durch Schweigen oder aber als phantomatische Besetzungen, die von der nachfolgenden Generation an die Stelle der verschwiegenen Familiengeheimnisse gesetzt werden.6 Die gespenstischen Stimmen formulieren eine Skepsis vor der Souveränität über den eigenen Text, über die eigene Subjektposition. Sie stellen die Vielschichtigkeit des Subjekts und seine offenen und geheimen Zustände dar und verweisen auf identitäre Uneindeutigkeiten. Die Gespenster wie die femmes fantômes bei Pineau oder Fignolé, die Verrückte bei Glissant, der Gefangene bei Arenas verweisen auf eine aus der Ordnung ausgeschlossene Dimension. Es sind Figuren des Todes und des Überlebens. Die Überlebenden haben einen hohen Preis bezahlt, denn die Romane thematisieren Prozesse psychischer Dissoziation, die sich als soziale Metapher für die beschädigte nachkoloniale karibische Gesellschaft begreifen lassen. Die Mehrzahl der Figuren stehen in einer Linie des unsicheren Erzählens: die wahnsinnige und allegorische Figur und Erzählerin Mycéa in Glissants Romanwerk, die gespaltene Figur Mina/Rosalia in Pineaus Chair piment oder die Wiedergängerin Saintmilia in Fignolés Aube tranquille; die ›brennende‹ Schwester Rosalia oder die Zeitreisende Saintmilia fungieren bei Pineau und Fignolé als Gedächtnisspuk eines latenten Vergessens. Hinter einem solchen Vorgehen steht die Frage nach dem Vermögen der Sprache. Wer oder was ist es, das spricht? Das Jenseits, die Psychiatrie, das Gefängnis wird zu einem kommunikationsgenerierenden Raum des dissoziierten Subjekts.7 Den Einbruch der Toten ins Diesseits bezeichne ich als gespenstische Rede. Indem die Geschichten der Toten in Narrationen

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Bezüge bei, auf die es literartheoretisch wie terminologisch zu reagieren gilt« (2005a, 19). Speziell zur Vektorisierung in der Karibik vgl. Ette: 2005b. Glissant Romane sind hochgradig intratextuell was den Grad an Interfiguralität angeht. Die retour des personnages dient aber anders als im Balzac’schen Roman weniger einer mimetischen Genealogie, sondern einer symbolischen Rekonstruktion, um bestimmte Typen wie den Marron hervorzuheben. Simasotchi-Bronès spricht dennoch von einer »création littéraire proche de la mimesis« (Simasotchi-Bronès: 2004, 8), die m.E. besonders der widerständigen Identitätssuche dient. Vgl. Kerpen: 2014. Die Studien von Foucault oder Deleuze/Guattari gehen konsequent von der Figur des Verrückten bzw. des von der Ordnung Ausgeschlossenen aus.

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bzw. Symbolisierungen auftauchen, inszeniert die karibische Literatur die Möglichkeit eines Denkens des Todes und des Überlebens.

2.2 Z ERSPLITTERTE W ELTEN 8 UND F AMILIENGENEALOGIEN Trotz der Auflösung einer zentrierten Erzählinstanz und der Pluralität der Referenzen, treffen wir in den hier untersuchten Romanen auf spezifische Gründungsmythen9 und Genealogien. Durch die von Jean-Claude Fignolé, Edouard Glissant, Gisèle Pineau oder Reinaldo Arenas produzierten weitläufigen, wenn auch instabilen Familiengeschichten entsteht eine große, sinnstiftende, subversive, bedeutungsvolle Erzählung der Deportation und Sklaverei.10 Wir haben es mit einer anderen Familienbande als García Márquez’ Clan der Buendías in Cien años de soledad oder Isabel Allendes patriarchal organisiertes Casa de los espíritus zu tun. Familie, Genealogie, Stammbaum sind als Übermittlungsinstanzen grundlegend fragmentiert; die Ordnung ist tiefgreifend gestört. So fungieren die karibischen Familiengeschichten nur bedingt als erzählerische Einheit, denn das große historische Ereignis der Sklaverei ist nur durch dünne Bänder verknüpft. Die Autoren fiktionalisieren diese Bänder und Fluchtlinien und erzählen sie in einer starken, sprich sich akkumulierenden und chaotischen Weise. Die vermeintliche Non-histoire der Karibik stellt sich bei ihnen als traumainduzierte Erinnerungslosigkeit dar. In Gisèle Pineaus Romanen werden traumatische Erfahrungen über gelingende weibliche Beziehungsgeflechte gelindert. Dies ist immer ein sozialer Prozess, wobei das Wissen um das eigene Trauma einer anderen Person bzw. der Leserschaft mitgeteilt wird. Daraus folgt eine gemeinsame Bearbeitung des Traumas, welches so in ein geteiltes Wissen überführt wird. Dieser partage, diese Anteilsnahme verläuft in der Regel über neue Allianzen; es entstehen flexible Wahlverwandtschaften. Das ›adoptierte Kind‹ taucht als Motiv wiederkehrend in den ausgewählten Romanen auf: sei es Angela aus L’Espérance-macadam, die von ihrer Tante aufgenommen wird oder die Antillanerin Sybille aus L’Âme prêtée aux oiseaux, die zusammen mit ihrem Sohn bei der Französin Lila in Paris Zuflucht findet. In Glissants Romansaga ist es schließlich die Figur des Mathieu Béluse, die dem ›Übervater‹ Papa Longoué den Sohn und kulturellen Erben ersetzt.11 Glissant inszeniert weitere Wahlverwandtschaften: Cinna Chimène ist Adoptivtochter des Sklaven Ozonzo; Mycéas und Mathieus Tochter Ida wächst bei der Großmutter heran. Octavie, Léonces Großmutter in Pineaus Roman La Grande drive des esprits behält mit ihrem Enkel eine enge Verbindung über den Tod hinaus. In Pineaus L’Exil selon Julia übermittelt die Großmutter das kulturelle Gedächtnis bis in die Pariser Ban-

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Zersplitterte Welten ist der deutsche Titel von Glissants Discours antillais. Dem Mythos ist es zu Eigen, dass er historische Ereignisse überformt, er komprimiert sie gewissermaßen. 10 Teils gibt es diese rhizomatische Familienmodell auch in Arenas’ Roman La loma del ángel, aber eben ad absurdum geführt. 11 Obwohl Papa Longoué schließlich Vater ohne Sohn ist, behält er diesen Gründernamen.

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lieue.12 Die Heilerin Saintmilia in Fignolés Roman Aube tranquille pflegt die vergewaltigte Toukouma und behandelt sie wie eine Tochter. In Rodríguez Juliás Chronik bewegt sich der schiffbrüchige Niño Avilés zwischen unterschiedlichsten Vaterfiguren, zwischen Bischöfen, philanthropischen Lehrern und Anführern von Abolitionsbewegungen. Dieser in vielen Texten entworfene »Transfamily Tree«13 festigt ein Familienbzw. Verwandtschaftsgefüge, welches nicht unbedingt auf gesicherte biologische Genealogien rückführbar ist. Statt Erbfolge stehen transversale und simultane Beziehungen im Mittelpunkt. Insbesondere Geschwisterbeziehungen nehmen einen dominanten Platz ein. Glissants Familiensaga basiert maßgeblich auf einer biblisch anmutenden Bruderthematik, konkret auf den beiden rivalisierenden Odonos. Pineaus Roman La Grande drive des esprits kreist gleich um mehrere Geschwisterkonstellationen: um die drei Geschwister, Paul, Célutta und Gerty und um die Zwillingsschwestern Barnabé und Boniface sowie deren Töchter Mirna und Myrtha. Bei Letzteren liegt ein doppelter, ambivalenter Ursprung vor, denn es bleibt unklar, welche der Schwestern welche Tochter zur Welt gebracht hat, so dass Mirna auch Myrtha sein könnte. Am Ende des Romans L’Espérance-macadam entdeckt die Protagonistin Éliette, dass ihr ehemaliger Nachbar Rosan eigentlich ihr Halbbruder ist. In Chair piment inszeniert Pineau eine Schwesternschaft, die selbst über den Tod hinaus Bestand hat. Im Zentrum steht die Beziehung zwischen Mina Montério und ihrer verstorbenen Schwester Rosalia; auf einer versteckteren Ebene handelt der Roman gar von einer inzestuösen Beziehung zwischen Bruder und Schwester. Arenas’ Roman La loma del ángel basiert mindestens auf zwei Geschwisterpaaren: Cecilia Valdés/ Leonardo Gamboa und Leonardo Gamboa/José Dolores Pimienta. Aus der inzestuösen Beziehung zwischen Cecilia und Leonardo geht eine illegitime Tochter hervor, die wiederum mit dem legitimen Sohn von Leonardo anbändelt. Das inzestuöse Beziehungsgeflecht setzt sich so unaufhörlich fort. Ein Bruderkonflikt taucht auch in Arenas’ Roman auf, wenn am Ende José Dolores Pimienta seinen (verheimlichten) Halbbruder Leonardo Gamboa tötet. Sowohl Villaverdes Roman Cecilia Valdés als auch Arenas’ Reescritura thematisieren den menschenverachtenden Ausschluss der Sklaven und Mulatten aus legitimen familiären Bindungen. Die verheimlichte Genealogie ist häufig sogar Auslöser der Narration. Außerdem bleibt zu bedenken, dass Mischehen zu einer Multiplizierung von Abstammungslinien führen, Inzest hingegen kehrt zum Ursprung zurück und repräsentiert quasi eine Antigenealogie.14 Die Romane unterstreichen die Tatsache, dass es in der karibischen Geschichte keine klare Chronologie, keine gesicherte Abfolge gibt. Stattdessen werden synchrone, rhizomatische, vorwärts- und rückwärtsgerichtete, zirkuläre und miteinander konkurrierende Herkünfte entworfen. An die Stelle einer gesicherten Filiation tritt die Proliferation, aufgrund derer sich eine Verknüpfung aller mit allen ergibt.

12 Simasotchi-Bronès (2004, 317) deutet die wiederkehrenden und omnipräsenten Großmütter in vielen antillanischen Romanen als Betonung der matrilinearen Linie, jenseits der historisch problematischen Beziehung zum Vater. 13 Loichot: 2007, 197. 14 Vgl. ebd., 34.

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Gerade Glissants karibische Chronik, aber auch die Romane von Fignolé und Pineau, lesen sich als Familiengenealogien, als transgenerationelles Netz allegorischer Gedächtnisfiguren. Auf die Zerstörung folgt eine bedingte, vorläufige Restitution der kulturellen (Sinn-)Ordnung. Den Autor/innen kommt die kriminalistische Aufgabe zu, die zerstreuten und fragmentierten Teile wieder zusammenzuführen und ihre Anordnung zu bestimmen. Dieses Verfahren fungiert als bedeutungsstiftende Gedächtnis- und Trauerarbeit, ohne das Trauma der Sklaverei abschließend zu erzählen. Besonders Glissants weitläufiges genealogisches Modell bietet sich als Konstruktionsrahmen für karibische Geschichte und den damit einhergegangenen Kreolisierungsprozessen an. Die Genealogie über unterschiedliche Familien legt eine Vorstellung von historischer Kontinuität nahe, indem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft über die Verwandtschaftsbeziehungen eng verknüpft und über eine transgenerationelle Familienkommunikation tradiert werden. Die Bezugnahme auf imaginäre familiäre Kollektive kompensiert gewissermaßen die Erfahrung des Verlusts. Dabei kommt es zu bemerkenswerten Umkehrungen in der Generationenabfolge. In Glissants Romanen generiert z.B. Mycéa Wissen an ihren Vater, wenn sie ihn lesen lehrt oder Anatolie Celat erhält erst durch seinen Sohn einen Eigennamen. Diese Praktiken der Selbstermächtigung verweisen auf die Transformation von Sklaven in Subjekte. Auch wenn am Ende sich die narrativen Subjekte, eingebunden in ein Netz genealogischer Bezüge, in der Diaspora zerstreuen, wirkt der narrative Rückgriff auf Familiengenealogien kohärenzstiftend. Die durch die historische Erfahrung erzeugte Identitätssplitterung wird in den Fragmenten vorgeführt und gleichzeitig durch das »enjeu généalogique«15 kompensiert. Familienmodelle verknüpfen unausweichlich Fragen nach Herkunft, Verortung und Bedingtheit miteinander. Ein genealogisches Modell unterstreicht Zusammengehörigkeit, Kollektivität und Kontinuität: »Générer un récit, c’est créer du sens et de la durée, c’est sortir du désordre, c’est également s’inscrire dans une généalogie. […] Derrière le chaos de la filiation de l’être créole, se pose forcément la question de l’affiliation.«16 Nur scheinbar gibt es bei Glissant eine Linearität, eine fortlaufende Genealogie der Familien- bzw. Geschichtskonstruktion: »[…] die exemplarischen Familien Longoué und Béluse [werden] über die Generationen immer stärker miteinander verwoben, bis schließlich ein Longoué sein über Jahrhunderte tradiertes Wissen einem Béluse anvertraut. […] die ursprüngliche Zweiteilung der Familienstammbäume [ist] einem wuchernden, rhizomartigen ›enchevêtrement‹ von Schicksalen und Geschichten gewichen, dessen Dichte Glissant mit jedem Roman wachsen lässt.«17

Statt Linearität gibt es zahllose Fluchtlinien und Allianzen. Mit Hilfe zyklischer und anachronischer Erzählverfahren (proleptischer und analeptischer Art) inszeniert Glis-

15 Simasotchi-Bronès: 2004, 265. 16 Ebd., 270f., Herv. N.U. 17 Blümig: 2004, 146f.

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sant eine schwindelerregende Akkumulation der Zeit.18 Eine solch akkumulierende Poetik, welche Vergangenheit und Gegenwart miteinander verwebt und somit die Unabgeschlossenheit und Persistenz der Vergangenheit zeigt, nenne ich ein barockes Netz. Traumatische Diskontinuitätserfahrungen werden partiell aufgehoben und in erzählbare Kontinuität überführt. Aber alle behandelten Romane, gerade auch jene von Glissant und Pineau, betonen, dass die Vergangenheit nicht in Isolation angeeignet werden kann, sondern einer sozialen Rahmung bedarf. Sich auf eine gemeinsame Vergangenheit berufen zu können, heißt nicht mehr isoliert zu sein, sondern einer Gemeinschaft anzugehören. Es ist eine polyphone Gemeinschaft, eine imagined community, wo der Leser aufgefordert ist, die Verwaisungen und Abspaltungen mitzudenken. Das Herumirren in der Welt bekommt bei Glissant eine Erdung, indem es historisch als »transverse produce of a singular historical trauma, the engaged knowledge of modernity floatingly rooted in the Atlantic’s submarine, exceptional, and alluvial grounds«19 kontextualisiert wird. Kreolisierung meint damit einerseits Bündelung des Disparaten und andererseits Diasporisierung des Insularen oder wie Glissant sagt, Kreolisierung »permits each to be both there and elsewhere, both rooted and open, both lost in the mountain and free under the sea, both settled and migratory«20. Diese spezifischen Familienrhizome müssen horizontal wie Karten gelesen werden, in denen alle auftauchenden Figuren potentiell, jenseits von Raum und Zeit, in Beziehung zu allen anderen treten können. Tote, Geister, Phantome, Wiedergänger sind genauso Teil des Figurenensembles wie die Lebenden. Figuren der Diaspora und jene, die auf den Inseln geblieben sind, gehören derselben Gemeinschaft an. Das chorale Erzählen umfasst vielfältige Einzelstimmen und im Gegensatz zur herkömmlichen (genetischen) Familie ist der Diaspora-Chor eine Gemeinschaft, die auf Kommunikation, ähnlichen Interessen, Zielen und Differenzerfahrungen beruht. Gemeinschaft meint nicht unbedingt Herkunftsgemeinschaft, sondern hebt ab auf ein Kollektiv, das einen ähnlichen Erfahrungshintergrund aufweist. Phänomene von Fragmentarisierung und Diskontinuität werden so zur Grundlage einer neuen Einheitserfahrung innerhalb der Diaspora. Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft (affiliation) ersetzt die Frage der Abstammung (filiation). Das »tableau de la diaspora«21 wird so neu und graduell positiv qua seiner Prozesshaftigkeit besetzt. Trotz aller Rhizomatik mit ihrem Prinzip der Heterogenität kommen die Romane also nicht ohne eine gewisse Kohärenz aus; dies wird über die Konnexion des Familienmodells, über eine »nouvelle famille romanesque«22 gesichert, wobei das Zen-

18 Für Ian Baucom läuft diese temporale Akkumulation auf eine Aktualisierung der Gegenwart hinaus, die auf eine kritische, transversale, kreole, relationale Gegengeschichte der Moderne verweist: »[…] in its refusal to progress, time accumulates both variously and unevenly: in the body, in architecture, in the law, in language, in rituals, customs, and ceremonies and […] in images« (Baucom: 2005, 325). 19 Ebd., 315. 20 Glissant: 1989, 561. 21 Glissant: 1997a, 708. 22 Simasotchi-Bronès: 2004, 315.

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trum des Familiensystems wie bei einem Rhizom überall und nirgends sein kann. Glissant bspw. inszeniert entlang einer Spur um Odono Themen wie Vater-, Bruderund Sohnschaft. Zentral ist dabei die geistige und emotionale Wahlverwandtschaft, die die biologische Verwandtschaft, welche nicht selten im Kontext von Gewalt stand, kompensiert. Der Rhizomatik entsprechend, die keinen Anfang, dafür aber zahlreiche Zugänge kennt, entsteht so eine neue Form des Fathering. Glissant zeigt durch die Engführung der beiden Familien Béluse und Longoué eine familienübergreifende Kreolisierung zwischen Überlebenstechniken der Deportierten. Er überführt die Dichotomie von Sklave und Marron mit Hilfe der Figur des Mathieu Béluse in eine neue kreolisierte Existenzform. Er betont das Disparate und Fragmentarische, ohne Einheit und Geschlossenheit vorzutäuschen. Gegen die zerstörten Verwandtschaftsverhältnisse durch Verschleppung und Versklavung setzt Glissant ein »récit aux voix mêlées«23, den vielstimmigen Chor der Diaspora. Selbst die Kleinfamilie Mathieu, Mycéa und Ida bleibt unter den Bedingungen der Diaspora miteinander in Verbindung. Sequenzen mit unterschiedlichen Erzählerfiguren – ähnlich den Themen einer Sinfonie – werden miteinander verwoben. Glissants rhizomatische Ästhetik und seine kollektiven Aussageverkettungen sind Ausdruck der antillanischen misère mentale und zugleich ein Heilungsversuch. Das imaginaire créole wird so um neue ›Ursprungserzählungen‹ jenseits der traumatischen Erfahrung von Verschleppung und Sklaverei erweitert.

23 Glissant: 1997f, 193.

Worte des Dankes

Ein besonderer Dank gilt meinen Gutachter/innen. Sie haben keine Mühen gescheut, sich lustvoll, wertschätzend, auch kritisch in den von mir weiter gedachten Discours antillais einzubringen. Ausdrücklicher Dank geht an Prof. Dr. Gisela Febel, mit der mich eine langjährige intensive und produktive Beziehung verbindet. Sie hat diese Arbeit mit großem persönlichen und professionellen Engagement begleitet. Mein Dank geht auch an Prof. Dr. Sabine Schlickers aus der Hispanistik für wertvolle Anregungen und schließlich an Prof. Dr. Ralph Ludwig, einer der Pioniere im Bereich der frankokaribischen Literaturen, für seine weitreichende und vertrauensvolle Unterstützung. Alle drei standen mir anregend, ermutigend und herausfordernd zur Seite. Zudem danke ich meiner Mentorin Prof. Dr. Flora Veit-Wild vom Seminar für Afrikawissenschaften an der HU Berlin, die meinen literaturwissenschaftlichen Blick über die Karibik hinaus gelenkt hat. Und ich danke meinen Wegbegleiterinnen und Kolleginnen der Bremer Universität, namentlich Prof. Dr. Sabine Broeck, Dr. Elke Richter, Dr. Ana Luengo und Dr. Karen Struve, für die aufwendigen Manuskriptkorrekturen und die vielen fruchtbaren Diskussionen im Rahmen von INPUTS (Institut für postkoloniale und transkulturelle Studien), das für mich im Laufe dieser Forschungsarbeit ein sehr wichtiger Denk- und Arbeitszusammenhang war. Ohne die vielfältigen Anregungen und kritischen Stellungnahmen wäre diese Arbeit eine andere geworden. Mein herzlicher Dank gilt auch Angela Hamilton, Martina Burtz, Anna Engfer, Peter Herr und María José Perez, Dr. Juan José Vélez, Petra Millies-Bald und Marie Jasser für wertvolle Korrekturlektüren. Marc Dauen danke ich für die sorgfältige und professionelle Layout-Gestaltung. Schließlich danke ich der Universität Bremen und dem INPUTS für die finanzielle Unterstützung bei der Publikation. * Ein ganz besonderer Dank geht an meine Schwester Elisabeth Wulff und an meine Freundin Jutta Böhlke. Danke für all das, was ich von euch lernen durfte. Ohne euch wäre ich eine andere geworden.

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Lettre Thomas Assheuer Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß Juli 2014, 274 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2759-6

Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2014, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel November 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0

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Lettre Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin Oktober 2014, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Heinz Sieburg (Hg.) Geschlecht in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen November 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8

Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie Dezember 2014, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0

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Lettre Angela Bandeili Ästhetische Erfahrung in der Literatur der 1970er Jahre Zur Poetologie des Raumes bei Rolf Dieter Brinkmann, Alexander Kluge und Peter Handke Oktober 2014, ca. 290 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2823-4

Christoph Grube Warum werden Autoren vergessen? Mechanismen literarischer Kanonisierung am Beispiel von Paul Heyse und Wilhelm Raabe Oktober 2014, ca. 270 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2852-4

Paul Fleming, Uwe Schütte (Hg.) Die Gegenwart erzählen Ulrich Peltzer und die Ästhetik des Politischen November 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2489-2

Leonhard Fuest Poetopharmaka Heilmittel und Gifte der Literatur Februar 2015, ca. 150 Seiten, kart., ca. 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2830-2

Carola Gruber Ereignisse in aller Kürze Narratologische Untersuchungen zur Ereignishaftigkeit in Kürzestprosa von Thomas Bernhard, Ror Wolf und Helmut Heißenbüttel Juli 2014, 340 Seiten, kart., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2433-5

Teresa Hiergeist Erlesene Erlebnisse Formen der Partizipation an narrativen Texten

Zoltán Kulcsár-Szabó, Csongor Lörincz (Hg.) Signaturen des Geschehens Ereignisse zwischen Öffentlichkeit und Latenz Juni 2014, 508 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2606-3

Claudia Liebrand, Rainer J. Kaus (Hg.) Interpretieren nach den »turns« Literaturtheoretische Revisionen August 2014, 246 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2514-1

Caroline Roeder (Hg.) Topographien der Kindheit Literarische, mediale und interdisziplinäre Perspektiven auf Orts- und Raumkonstruktionen August 2014, 402 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2564-6

Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.) Null, Nichts und Negation Becketts No-Thing November 2014, ca. 290 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2704-6

Sarina Schnatwinkel Das Nichts und der Schmerz Erzählen bei Bret Easton Ellis August 2014, 376 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2791-6

Gregor Schuhen (Hg.) Der verfasste Mann Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900 Juni 2014, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2793-0

Juli 2014, 422 Seiten, kart., 43,99 €, ISBN 978-3-8376-2820-3

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Gudrun Rath(Hg.)

Zombies Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2014

Mai 2014, 120 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2689-6 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften ­– die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Wenn die Toten zum Leben erwachen: Die Figur des Zombie ist nach wie vor populär. Aber was genau ist ein Zombie und woher rührt seine Faszinationskraft? Das aktuelle Heft der ZfK geht dem auf den Grund. Lust auf mehr? Die ZfK erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 15 Ausgaben vor. Die ZfK kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 25,00 € (international 30,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 4. Jahrgang, 2013, Heft 2

Dezember 2013, ca. 200 S., kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2375-8 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht.

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